FRANCO CARDINI
Europa und der Islam
Geschichte eines Mißverständnisses
Aus dem Italienischen
von Rita Seuß
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FRANCO CARDINI
Europa und der Islam
Geschichte eines Mißverständnisses
Aus dem Italienischen
von Rita Seuß
VERLAG C. H. BECK
MÜNCHEN
Titel der italienischen Originalausgabe: Europa e Islam. Storia di un Malinteso © Laterza, Rom-Bari 1999
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Cardini, Franco: Europa und der Islam: Geschichte eines Mißverständnisses /
Franco Cardini. Aus dem Ital. von Rita Seuß. –
München: Beck, 2000 (Europa bauen)
Einheitssacht.: Europa e islam (dt.)
ISBN 3 406 46387 8
Für die deutsche Übersetzung
© Verlag C. H. Beck oHG, München 2000
Satz: Fotosatz Janß, Pfungstadt
Druck- und Bindearbeiten:
Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm-Jungingen
Printed in Germany
www.beck.de
Franco Cardini, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Uni Florenz, zeichnet die Beziehungen zwischen Europa (verstanden als christliches Abendland) und dem Islam im Mittelmeerraum nach. Er geht streng chronologisch vor mit der Islamisierung der Iberischen Halbinsel, den Kreuzzügen, der Reconquista und schließlich den Türken auf dem Balkan. Im Mittelpunkt stehen die politischen und auch kriegerischen Auseinandersetzungen oder auch Gemeinsamkeiten. Cardini schreibt gut verständlich und geradezu spannend, dabei absolut fundiert und seriös. Neben vielen Büchern, die einzelne Aspekte der Beziehung Islam-Christentum behandeln – z. B. A. Brissaud: „Islam und Christentum“ besonders das Alltagsleben oder G. Schweizer: „Islam und Abendland“ die kulturwissenschaftliche Thematik – nimmt Cardinis Werk in seinem umfassenden Überblick eine ganz eigene Stellung ein.
Europa bauen
Europa wird gebaut. Getragen von großen Hoffnungen. Doch erfüllen werden sie sich nur, wenn sie der Geschichte Rechnung tragen. Ein geschichtsloses Europa wäre ohne Herkunft und ohne Zukunft. Denn das Heute entstammt dem Gestern, und das Morgen entsteht aus dem Vergangenen. Dieses Vergangene soll die Gegenwart jedoch nicht lähmen, sondern sie befähigen, bei allem Bewahren eine andere und im Fortschritt eine neue Gestalt zu gewinnen. Unser zwischen Atlantik, Asien und Afrika gelegenes Europa besteht ja schon seit sehr langer Zeit, so wie die Geographie es gezeichnet, die Geschichte es modelliert hat, seit die Griechen ihm diesen Namen gaben, der stets beibehalten wurde. Auf dieses Erbgut, das seit der Antike, ja seit prähistorischer Zeit dieses Europa befähigt hat, gerade wegen seiner Einheit und Vielfalt einen solchen Reichtum an Kulturgut, eine solch außergewöhnliche Kreativität zu entfalten, muß sich die Zukunft stützen. Die aus der Initiative von fünf Verlegern unterschiedlicher Sprache und Nationalität entstandene Reihe «Europa bauen» will die Gestaltung Europas und seine nicht zu unterschätzenden Erfolgschancen erhellen, ohne die überkommenen Schwierigkeiten zu vertuschen. Daß dieser Kontinent in seinem Streben nach Einheit so manch internen Zwist, so manchen Konflikt, so manches Trennende und Widersprüchliche erst überwinden mußte, soll in dieser Reihe nicht verschwiegen werden, denn wer sich auf das Unternehmen Europa einlassen will, muß die gesamte Vergangenheit kennen und eine Zukunftsperspektive besitzen. Daraus erklärt sich der «aktive» Titel unserer Reihe. Es scheint
uns in der Tat nicht an der Zeit, eine Universalgeschichte Europas zusammenzufügen. Wir wollen das Thema mit Essays umkreisen, die von den besten zeitgenössischen Historikern stammen, wobei es für uns unerheblich ist, ob sie Europäer oder Nicht-Europäer, ob sie schon berühmte oder noch kaum bekannte Autoren sind. Sie werden die entscheidenden Themen europäischer Geschichte aufgreifen – im wirtschaftlichen, politischen, sozialen, religiösen, kulturellen Bereich – und sich dabei auf die lange, von Herodot begründete historiographische Tradition und zugleich auf die in Europa entwickelten neuen Konzeptionen stützen, die die Geschichtswissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert und insbesondere in den letzten Jahrzehnten von Grund auf erneuert haben. Durch ihr Bemühen um Klarheit sind all diese Essays für jedermann verständlich. Wir setzen unseren ganzen Ehrgeiz darein, all denen, die am Aufbau und Ausbau Europas beteiligt sind, aber auch jenen in der Welt, die sich dafür interessieren, Bausteine zur Beantwortung der fundamentalen Frage «Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?» zu liefern. Jacques Le Goff
Vorwort
Ziel dieses Buches ist es, die Beziehungen Europas zum Islam nachzuzeichnen und die Motive, den historischen Verlauf dieser Begegnung sowie die Vielzahl der Aspekte, Vorstellungen und Vorurteile, Desinformationen und Irrtümer zu untersuchen, die die europäische Sicht des Islam im Laufe der Geschichte prägten. Bewußt wurde auf die Darstellung der islamischen Gegenperspektive verzichtet, obwohl gelegentliche Hinweise und Bezüge unvermeidlich waren. (Zur Vertiefung vgl. Arbeiten wie zum Beispiel B. Lewis, Die Welt der Ungläubigen, Berlin 1983.) Vorrangiger Gegenstand der Betrachtung ist der Islam im Mittelmeerraum. Das ist legitim und unter den Voraussetzungen der hier behandelten historischen Verläufe sogar geboten, denn die Europäer traten in früher Zeit vor allem mit dem mediterranen Islam in Kontakt. Ferner darf man nicht vergessen, daß der Islam kein homogenes Ganzes ist. Wie im Christentum, so gibt es auch im Islam eine Vielzahl von Strömungen, die zwar in der tieferen Einheit der umma aller Gläubigen wurzeln, sich aber in unterschiedlicher Weise historisch entwickelt haben. Die historisch-philologische Tradition und Kultur des südeuropäischen Raums richtete ihr Interesse nicht selten ausschließlich oder in verengter Sicht auf die türkischen, nahöstlichen und nordafrikanischen Ausprägungen des Islam, die im übrigen in enger Beziehung zueinander stehen. Eine aufmerksame Betrachtung anderer europäischer Regionen, in denen sich eine andere historische und auch politische Perspektive entwickelt hat, ist daher von Südosteuropa aus dringend erforderlich. In Deutschland,
Polen, Rußland (in mancher Hinsicht auch im Baltikum und in Mitteleuropa) richtete sich die Aufmerksamkeit seit dem 18./19. Jahrhundert auch auf den Mittleren Osten sowie auf Zentralasien und in England, Portugal und Holland auch auf Indien und Ostasien – Weltregionen, die im südeuropäischen Raum gewöhnlich ausgeblendet bleiben. Der Kenntnisstand hier war durch das scholastische Wissen und die Propaganda geprägt. Wir unterscheiden in diesem Buch daher sehr genau zwischen Nahem, Mittlerem und Fernem Osten – entgegen der italienischen Unart, den gesamten Raum zwischen östlichem Mittelmeer, Euphrat und Arabischer Halbinsel pauschal als «Medio Oriente» (Mittlerer Osten) zu bezeichnen. Natürlich stellt sich die Frage, ob solche Begriffe nicht «eurozentristisch» sind, doch gelten dieselben Bedenken auch für die Bezeichnungen «Westasien», «Zentralasien» und «Ostasien». Denn der Begriff des «Kontinents» an sich ist bereits das Ergebnis der westlichen Kulturtradition. Politische Korrektheit ist womöglich hier noch unangebrachter als sonst. Ist doch die Sprache selbst der mehr oder weniger akzentuierte Ausdruck eines kulturellen Ethnozentrismus mit einem tief verwurzelten Wortschatz und ausgeprägten sprachlichen Strukturen. (Vgl. zu diesem Problem die von uns geteilten Überlegungen von G. Vercellin, Fine della storia, storia Orientale e orientalistica, in: Studi storici, 32, 1, 1991, S. 97 – 110.) Mein besonderer Dank gilt Jean-Pierre Bardos für seine aufmerksame und kluge Lektüre.
1
Ein Prophet und drei Kontinente
Europa und Asien, Christentum und Islam:
Vergleiche und Mißverständnisse
Europa und Islam – diese Gegenüberstellung hat immer etwas Konfrontatives. Das mag daran liegen, daß man noch heute explizit oder wenigstens implizit in den Kategorien einer Fortsetzung, womöglich auch Wiederaufnahme der Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Islam denkt. Andererseits dürfte es schwierig sein, heutzutage etwa Novalis mit seinem Hendiadyoin Christenheit oder Europa zu zitieren und die beiden Begriffe zur Ausdrucksverstärkung bedeutungsgleich zu verwenden. Der Prozeß der mit der abendländischen Moderne untrennbar verbundenen Säkularisierung erlaubt es nicht, Europa weiterhin mit der Christenheit oder auch nur einer Christenheit gleichzusetzen. Auch ist die westliche Welt ihrerseits nicht einfach ein Synonym für Europa, so wenig wie der Islam mit seinen vielen Facetten als «fundamentalistisch» bezeichnet werden kann. Doch seit der Westen die Ausbreitung der unzutreffend als «fundamentalistisch» etikettierten islamischen Bewegungen mit wachsender Sorge beobachtet, wird in Europa der Islam zunehmend als ein zumindest potentieller Gegner gesehen. Diese neue Tendenz verstehen viele Europäer jedoch als ein «Revival», ein Déjà vu – Wiederkehr eines uralten, gewissermaßen natürlichen Gegensatzes, der auf tiefere
geographisch-historische und strukturelle Gegebenheiten hinzudeuten scheint. Man muß sich also fragen, ob das Begriffspaar Europa und Islam, soweit es als Gegensatz überhaupt definier- oder faßbar ist, nicht fälschlich mit dem Begriffspaar Westen und Islam gleichgesetzt wird (beziehungsweise Moderne und Islam – eine nicht weniger heikle Begrifflichkeit, die Ausdruck der Gleichsetzung von Westen und Moderne ist). Vielleicht aber sieht man darin auch die Fortsetzung eines klassischen und uralten «Kampfes» zwischen Europa und Asien, den bereits Aischylos in den Persern darstellt und Hippokrates (De aeribus) in Begriffen des klimatischen und biologischen Raumes und als Folge politischinstitutioneller Verhältnisse beschreibt: Mildes Klima und monarchische Herrschaft seien die Ursache für die friedliche Disposition der Asiaten, rauheres Klima und freiheitliche Institutionen dagegen machten die Europäer aktiv und kriegerisch. Aristoteles wiederum spricht in der Politik von «natürlichen» Wesensunterschieden. Wenn bereits die Gleichsetzung von Christenheit mit Europa als problematisch, ja falsch gelten muß, dann erst recht eine Reduzierung Asiens auf den Islam oder umgekehrt: Asien ist bekanntlich nicht zur Gänze muslimisch, und der dar al-Islam, das «Gebiet des Glaubens» erstreckt sich weit über die Grenzen des asiatischen Kontinents hinaus. Die «Asymmetrie» der Begriffe «Europa» und «Islam» liegt auf der Hand: Der eine bezeichnet einen Kontinent, der andere eine Religion. Einen ersten Ausweg aus unserem Dilemma zeigt uns Bernard Lewis, wenn er schreibt: «Diese Asymmetrie ist aber eher eine scheinbare. Europa ist ebenso eine europäische Vorstellung wie das ganze System der Kontinente, von denen Europa der erste war. Europa hat Europa erdacht und gemacht; und Europa hat Amerika
entdeckt, benannt und in einem gewissen Sinne ebenfalls gemacht. Schon Jahrhunderte früher hatte Europa sowohl Asien als auch Afrika erfunden, während die Bewohner dieser Gebiete – bis zum Zeitalter der europäischen Weltvorherrschaft im neunzehnten Jahrhundert – nichts wußten von diesen Benennungen, diesen Identitäten, ja diesen Klassifikationen, die die Europäer für sie ersonnen hatten. […] Der Islam ist keine Weltgegend; er ist eine Religion. Aber Muslime verbinden das Wort ‹Religion› nicht mit derselben Vorstellung, mit der Christen das heute tun oder bereits im Mittelalter getan haben. ‹Religion› bedeutet für die Muslime mehr und zugleich weniger, als das terminologische Äquivalent für die Christen bedeutet. […] Für Muslime ist der Islam nicht bloß ein System des Glaubens und der Andacht. […] Der Islam ist für sie das Ganze des Lebens; seine Vorschriften umfassen Zivilrecht, Strafrecht und sogar, was wir Verfassungsrecht nennen würden» (B. Lewis, Kaiser und Kalifen. Christentum und Islam im Ringen um Macht und Vorherrschaft, München 1996, S. 15f.). Die Gegenüberstellung von Europa und Asien beziehungsweise das Begriffspaar Orient und Okzident basiert auf einer langen geographisch-historischen und geopolitischen Tradition, die älter ist als die Spannungen zwischen Europa und dem Islam. Dennoch gibt es Stimmen, die behaupten, daß in manchen Epochen – beispielsweise zur Zeit der Kreuzzüge oder der osmanisch-türkischen Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum und auf dem Balkan – die europäisch asiatischen und west-östlichen Auseinandersetzungen eine Form annahmen, die man vereinfachend (und sehr ungenau, aber immerhin symbolisch zugespitzt) als «Kampf zwischen Kreuz und Halbmond» charakterisieren kann. Fragen wir uns heute – ohne den Rückgriff auf die antiken Geographen –, wie und wann das moderne Bewußtsein Europas und der
europäischen Identität entstanden ist, so müssen wir erkunden, in welchem Maße und bis zu welchem Punkt der Islam – und sei es ex negativo – einer der Faktoren war, die dieses Bewußtsein zu definieren halfen. Der wiederholte muslimische Ansturm auf Europa (zwischen dem 7./8. und dem 10. und dann wieder zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert), ein Ansturm, der jedenfalls von den Europäern als solcher gedeutet wurde, war eine «gewalttätige Geburtshelferin» Europas. Und wenn Historiker (paradoxerweise?) den Propheten mitunter als den «Gründungsvater» Europas betrachteten, so muß man sich fragen, ob den türkischen Sultanen Mehmed II. und Süleyman dem Prächtigen nicht eine vergleichbare Bedeutung zufällt. Sie zwangen den Kontinent, sich zu verteidigen und Mittel und Wege des gemeinsamen Handelns zu finden. Erst dadurch gelangte Europa zu einer genaueren Definition seiner selbst in Abgrenzung zu dem «Anderen».
Die Muslime jenseits des «Maghreb al-Aqsa» Daß Europa (wenn auch nicht ausschließlich) der Hort des Christentums sei, war eine falsche, wenngleich von allen mittelalterlichen Autoren geteilte Ansicht. Mit dieser Vorstellung war der Gedanke verbunden, daß alle, die auf europäischem Territorium lebten, aber keine Christen waren, als Fremde und Invasoren gekommen waren. So begrüßte der anonyme toledanische Geistliche, der um die Mitte des 8. Jahrhunderts mit seiner Continuatio Hispanica die Historiae des Isidor von Sevilla fortsetzte, die fränkischen Sieger der Schlacht von Poitiers 732 (die anderen Angaben zufolge in Wahrheit im Jahr 733 stattfand) als Europenses. Aber man darf sich fragen, ob er selbst sich als Europensis verstand, weil er
ein Christ war, oder einfach nur, weil die Iberische Halbinsel nach römischem Geographieverständnis zu Europa gehörte. Oder ob er – womöglich mit wehmütigem Bedauern – sich selbst nicht mehr als Europensis sah, seit die Araber und Berber die iberische Halbinsel erobert und dem «Gebiet des Glaubens» (dar al-Islam) einverleibt hatten. Das wiederum würde bedeuten, daß es bewegliche Grenzen und gleichzeitig eine strikte Trennung zwischen Europa und dem dar al-Islam gab; dann könnte man die vom Islam eroberten Territorien und die von muslimischen oder neu zum Islam übergetretenen Gruppen besiedelten Gebiete nicht als «muslimisches Europa» bezeichnen. Veraltet und müßig ist die Diskussion, ob Poitiers die muslimische Invasion des europäischen Kontinents zum Stillstand brachte oder ob nicht vielmehr die Invasoren müde waren und ihnen der Elan fehlte, weiter vorzudringen. Die Bedeutung dieser Schlacht wird heute allgemein als begrenzt eingeschätzt, und in Anbetracht der islamischen Expansion im 7. – 10. Jahrhundert erscheint es unangemessen, überhaupt von einer Invasion zu sprechen. Die Araber hätten innerhalb ihrer Gemeinschaft niemals über genügend Kämpfer verfügt, um in wenigen Jahrzehnten ein in west-östlicher Richtung von den Säulen des Herkules bis zum Indus und zum Syr Darja und in nord-südlicher Richtung vom Kaukasus bis nach Nubien reichendes Territorium zu erobern. Seit den Feldzügen der Kalifen, den unmittelbaren Nachfolgern des Propheten, also seit den dreißiger Jahren des 7. Jahrhunderts, hatte die Ausbreitung des Islam zu keinem Zeitpunkt den Charakter einer entfesselten und unaufhaltsamen militärischen Eroberung (und auch nicht den einer Völkerwanderung). Es handelte sich eher um einen nicht immer kohärenten und kontinuierlichen Eroberungsprozeß und um eine im Kern niemals erzwungene und von außen auferlegte Konversion von Angehörigen erschöpfter oder krisengeschüttelter Gesellschaften. Dies gilt
für die monophysitischen Christen Syriens und Ägyptens, die der Basileus von Byzanz mit unerbittlicher Härte regierte, nicht weniger als für die vom sassanidischen Shah unterworfenen Völker, die gerne bereit waren, eine altersschwache und bröckelnde Herrschaft abzuschütteln, neuen Antrieben zu folgen und sich einem Gott zu unterwerfen, dessen Wort von seinem rasul Muhammad verbreitet wurde. Trotzdem – viele zogen es vor, ihrem Glauben treu zu bleiben und die Kopfsteuer (dschizya) sowie die Grundsteuer (kharadsch) der Nichtmuslime zu bezahlen. Sie waren dhimmi, was soviel heißt wie «beschützt», aber auch «unterworfen». Ihnen war die Herrschaft der Ungläubigen lieber als die ihrer Glaubensgenossen. Der Mythos von Poitiers, dem Edward Gibbon in seinen Schriften Auftrieb gab, trug jedenfalls dazu bei, die gesamte Geschichte Europas als die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Islam zu betrachten. Ohne Poitiers und den Heroismus Karl Martells, so wurde behauptet, würden Muezzins den Namen Allahs von den Türmen Oxfords herabrufen, in der berühmten Universität würde man den Koran studieren, und die gesamte Weltgeschichte wäre anders verlaufen. Es verspricht wenig, die Bedeutung der Schlacht von Poitiers neu zu bemessen. So richtig der Hinweis ist, mit Zurückstufungen und Entmythisierungen vorsichtig zu sein – heute glaubt niemand mehr daran, daß es die Schlacht von Poitiers war, die das Blatt wendete. Der «Mythos» dieser Schlacht hat sich jedoch bis heute vor allem als massenmedialer Topos bewahrt, und ein solcher Topos ist schwer zu zerstören. Wir wissen, daß die fränkische und päpstliche Propaganda die Bedeutung des Siegs in der Schlacht zwischen Tours und Poitiers wenige Kilometer nordöstlich des Zusammenflusses von Vienne und Creuse hochspielte, um den Ruhm der Franken als «erstgeborenes Volk der Kirche Roms»
zu mehren. Gleichzeitig stand die Absicht dahinter, die Verdienste des byzantinischen Basileus Leon III. Isaurikos in den Schatten zu stellen. Er hatte es im Jahr 718 geschafft, daß die Muslime die im Jahr zuvor begonnene Belagerung Konstantinopels aufgaben; er stellte sich deren Seemacht entgegen, verteidigte seine Hoheit über das Schwarze Meer, die Ägäis und das zentrale Mittelmeer und stoppte die Muslime lange Zeit in ihrem weiteren Vordringen auf die Anatolische Halbinsel. Doch für die Anhänger der römischen Kirche war es undenkbar, die Verdienste Leons III. eines Ikonoklasten, anzuerkennen. Später machten sie ihm auch seine Zugehörigkeit zum byzantinischen Kulturkreis zum Vorwurf. Die byzantinische Welt galt einem hartnäckigen westlichen Vorurteil zufolge lange als niederträchtig, dekadent und degeneriert. Der Mythos von Poitiers hat uns aus dem Blick geraten lassen, daß es nur sehr spärliche und ungenaue zeitgenössische Quellen zum Islam gibt – wenn sie nicht sogar ganz fehlen. Die Epoche der großen muslimischen Eroberungen fiel allerdings in eine Zeit des Niedergangs der europäisch-abendländischen Welt: Fehlende oder unzureichende Berichte sind daher in erster Linie auf Desinformation und mangelndes Wissen zurückzuführen. Richtig ist jedoch auch, daß es im damaligen geistigen Klima schwierig und im Grunde sinnlos war, zwischen Muslimen und anderen Eroberern und Angreifern zu unterscheiden. Auch hätte es keinen Sinn gehabt, den Muslimen eine Sonderstellung einzuräumen. Es wurde gesagt, das Weströmische Reich sei in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts «lautlos in sich zusammengestürzt». Für das Europa zumindest des 8. Jahrhunderts vollzog sich das Vorrücken des Islam wohl nicht weniger lautlos. Oder vielmehr, das Getöse ging in anderem Lärm unter. Muslimische Quellen etwa bezeichnen die Schlacht von Poitiers als «Balat al-Shuhada», «Weg der
Märtyrer», und messen ihr eine (wenn auch nur durchschnittliche) Bedeutung bei. Über die Wahrnehmung des Islam durch den im Niedergang begriffenen europäischen Westen darf man sich nicht wundern. Selbst aus den ansonsten gut informierten byzantinischen Quellen geht hervor, daß man in den Muslimen erst relativ spät keine gewöhnlichen barbaroi sah. Auch dort also war man sich über die Bedeutung des Islam als neuer Religion nicht sofort im klaren. Auf dem Weg über Byzanz fällt dem frühmittelalterlichen Europa ein unerwartetes und beunruhigendes Geschenk zu. Ein magisches Wort: sarraceni, das später in Sarazenen korrigiert (und damit gleichsam nobilitiert) und in einer sehr ungenauen Lesart als «Kinder Saras» gedeutet wurde. Diese Interpretation ist unrichtig, denn der Begriff bezeichnet ursprünglich ein Volk, dessen gesicherter Ursprung in Arabia felix liegt. In diesem Volk sah man – unter Berufung auf das biblische Buch Genesis – die Nachkommenschaft des Patriarchen Abraham – allerdings nicht aus der Verbindung mit seiner rechtmäßigen Frau Sara, sondern mit seiner ägyptischen Sklavin Hagar. Wenn also eine festgefügte Tradition die Wüstenvölker als die Kinder des Patriarchen mit seiner Sklavin ansah (die damit durch deren Sohn Ismail – nach dem die Ismailiten benannt sind – die Stiefgeschwister des Volkes Israel sind), wäre der korrektere Name Hagarener. Die Ableitung der Bezeichnung Sarazenen von Sara könnte eine nachträgliche pseudoetymologische Erklärung sein, die sich aus der Semihomophonie und dem Mißverständnis eines aus dem Arabischen oder Syrischen stammenden Wortes ergab. Der Name wurde aber auch mit arabischen Bezeichnungen in Zusammenhang gebracht. Eher unwahrscheinlich ist, daß er auf sharq, «Osten», zurückgeht, da die erste Welle der muslimischen Expansion, die Syrien erreichte, wohl aus dem
Süden kam (falls der Begriff nicht ägyptischen Ursprungs ist). Sehr plausibel erscheint ein Zusammenhang mit dem Wüstenwind Sharuq (nicht zu verwechseln mit Sharqiyya, dem Schirokko). Andere Etymologien wiederum betonen die große Zahl der Wüstenbewohner oder ihren Zusammenschluß zu Stämmen, um ihre Raubzüge gezielter durchzuführen: Denn shark bedeutet auch «Volk, das sich zusammenschließt», und sharika «Gesellschaft», «Gemeinschaft». Sehr wahrscheinlich ist jedoch, daß die Sarazenen ihren Namen von den seßhaften Völkern hatten, die ihre Gegenspieler und nicht selten auch ihre Opfer waren: In diesem Fall wäre der Bezug zu sarq («Raub», «Diebstahl») und zum Verb saraq («rauben») denkbar, dementsprechend zu den Begriffen sariq, «Dieb», und sarraq, «Räuber», «Taschendieb». Die Bezeichnungen Ismailiten, Hagarener oder Sarazenen tauchen bald auch in unseren Quellen auf. Allerdings wissen wir zu wenig von der gegen Papst Martin I. (649 – 653) vorgebrachten Anklage, er habe den Kontakt mit den Sarazenen gesucht, um den Basileus Konstans II. und dessen Monotheletismus zu bekämpfen. In jedem Fall gaben die Sarazenen die erste Kostprobe einer islamische Eroberung des Mittelmeerraums und beunruhigten damit Byzanz. Im Westen trat ein zusammengewürfelter Haufen unterschiedlicher Völker das Erbe der Pars occidentis des Römischen Reiches an. Dieser Westteil war aus den politischen Maßnahmen des Theodosius Ende des 4. Jahrhunderts hervorgegangen. Zu diesem Erbe traten «barbarische» Einflüsse und Elemente der von diesen «Barbaren» gegründeten Monarchien. Diese «Westeuropäer», wie wir sie jetzt bereits nennen können, verfügten Ende des 7. und Anfang des 8. Jahrhunderts nicht über Mittel und Möglichkeiten, um gegen den Sarazenensturm gewappnet zu sein, der wenige Jahrzehnte später auch ihre Küsten und Meere bedrohte.
Aber das Abenteuer der islamischen Eroberung des Mittelmeers hatte bereits begonnen. Nachdem zwischen 633 und 640 Syrien und Palästina und zwischen 639 und 646 auch Ägypten von den Arabern erobert worden war, nahmen die syrischen und ägyptischen Seeleute entweder den neuen Glauben an oder stellten sich (als mehrheitlich monophysitische Christen, die von der kaiserlich byzantinischen Verwaltung verfolgt und diskriminiert wurden) vermutlich nicht ungern in den Dienst der Nachfolger des Propheten. Im Jahr 649 griff ein für das Amt des Kalifen ausersehenes Stammesoberhaupt Zypern an. Es handelte sich um den Gouverneur Syriens, Muawiya ibn Abi Sufyan, einen Vetter des Kalifen Uthman, der später die UmayyadenDynastie begründete. Im Jahr 652 gab es bereits in bescheidenem Umfang Einfälle in Sizilien, das noch Teil des unter byzantinischer Herrschaft stehenden Territoriums war. Drei Jahre später wurde nach einer großen Schlacht unweit der lykischen Küste die Meereshoheit Ostroms in Frage gestellt. Konstans II. der die aus 500 Schiffen bestehende Flotte kommandierte, wurde besiegt. Von allen diesen Ereignissen hatten die Völker des im Niedergang begriffenen Westeuropa jener Zeit keine Ahnung, und sie hätten auch deren Tragweite gar nicht begriffen. Sie waren noch weitgehend auf das Mittelmeer ausgerichtet; die westliche Grenze bildete der Rhein, die nördliche Grenze der Oberlauf der Donau. Aber lassen wir die These von der (zweifellos auch vorhandenen) Unkenntnis des Islam in abendländischen Quellen einmal außer acht. Der Mangel oder die Spärlichkeit an Informationen könnte auch auf Desinteresse beruhen. Der unter dem Namen Fredegar bekannte fränkische Chronist berichtet um 658 von astrologischen Prophezeiungen, die zur Zeit des Basileus Herakleios im Byzantinischen Reich im Umlauf waren. Diesen
Weissagungen zufolge würde die byzantinische Herrschaft niedergeschlagen werden und die Macht von einem Volk von Beschnittenen erobert. Fredegar scheint also über die erste Phase der Ausbreitung des Islam in Kleinasien durchaus Bescheid gewußt zu haben. Anfang des 8. Jahrhunderts übersetzte im fränkischen Reich vielleicht der syrische Mönch Petras einen Text aus dem Griechischen ins Lateinische, dessen syrisches Original aus dem nördlichen Mesopotamien stammte. Es handelte sich um die Revelationes des sogenannten Pseudo-Methodios, ein Text, der später in der politisch-eschatologischen Propaganda immer wieder eine Rolle spielen sollte. Diesem Text zufolge sollen die aus der Wüste «Ethribum» (Yathrib oder Medina, der Lieblingsstadt des Propheten) stammenden Ismailiten den Orient erobert und Sizilien angegriffen haben. Dann seien sie bis nahe Rom vorgedrungen und in Wäldern, Bergland und Städten eingefallen. Dieser Eroberungszug der Ismailiten, so heißt es, gehe der Ankunft des Antichristen unmittelbar voraus. Doch am Ende werde ein christlicher Herrscher die feindlichen Truppen besiegen. Kurz: Man wußte zwar etwas, machte sich dieses Wissen aber kaum systematisch zunutze. Die muslimische Eroberung der Iberischen Halbinsel und Septimaniens (der Languedoc) im zweiten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts veränderte die Situation. Im westgotischen Spanien, von den Auseinandersetzungen mit dem Arianismus und den Machtkämpfen innerhalb der Aristokratie gezeichnet, war man schon seit geraumer Zeit durch die Kunde vom Vorrücken der Araber entlang der nordafrikanischen Küste vorgewarnt. Auf dem Konzil von Toledo im Jahr 694 schürte König Egika die Angst. Es verbreitete sich das Gerücht, daß die Juden, der Schikanen müde, den von Osten heranrückenden neuen Barbaren ihre Dienste anboten. In dem Bürgerkrieg, der um die Macht in Toledo entbrannt war, wandte sich offenbar
auch einer der gotischen Thronprätendenten an die Mauren (die arabischen Eroberer) um Hilfe, ebenso an die mit ihnen zusammenlebenden arabisierten und islamisierten Berber. Von da an und für immer waren sie los Moros, die wilden und faszinierenden Gegenspieler und Verbündeten der christlichen Spanier. In Spanien und in Septimanien – wie bereits in einem Großteil der von den Muslimen eroberten einstigen byzantinischen Territorien – wurden diese Eroberer von Teilen der Bevölkerung durchaus willkommen geheißen. Sie zogen die weniger drückende und weniger schmerzliche Unterwerfung unter die neuen Herrscher dem Joch der despotischen christlichen Fürsten vor. Die antike römische Provinz Africa, die die Araber Ifriqiya nannten (Tripolitanien, Tunesien und Algerien innerhalb ihrer heutigen Grenzen) war bereits im Jahr 647 von den Muslimen erobert worden. Doch erst fünfzehn Jahre später begann der Widerstand der Byzantiner und vor allem der Berber zu bröckeln. Die Araber unterschieden in den eroberten Gebieten drei ethnisch-soziale Gruppen: die rum (aus dem griechischen Romaioi), womit hauptsächlich die Byzantiner gemeint waren, aber auch die Gruppen römischen Ursprungs oder wenigstens lateinischer Sprache an der afrikanischen Küste nördlich von Sirte; die afriki, autochthone christianisierte Gruppen; und schließlich die Berber (vom lateinischen barbarus), die außerhalb der römischen Zivilisation standen und sich nur teilweise und erst in jüngerer Zeit christianisiert hatten. Diese übernahmen zwar den Islam, assimilierten sich aber nicht an die Araber, und sie waren, wie diese, seeuntüchtig. Doch mit Hilfe syrischer und ägyptischer Seeleute richteten sie ihr Interesse bald auf das Mittelmeer. Schon ab 665 benutzten die Muslime den Seestützpunkt Dschalula, den sie von den Byzantinern erobert hatten. 670 gründeten sie die Stadt Kairuan, deren Name von dem arabischen Wort für
Militärlager abgeleitet ist. Seit 700 entstand in Tunis ein gut ausgebauter Hafen, und hier ließen sich an die hundert ägyptische Schiffbauer mit ihren Familien nieder. Innerhalb von fünf Jahren war ganz Nordafrika bis in das von den Arabern «Ferner Okzident» (al-Maghrib al-Aqsa) genannte Marokko erobert, und es begann der mühselige Prozeß der Islamisierung und Arabisierung der Berber. Wahrscheinlich Ende Juli 711 landete eine große muslimische Flotte unter dem Kommando des Berbers Tariq ibn Ziyad in der Bucht von Algeciras, die schon im Jahr zuvor geplündert worden war. Die arabisch-berberische Streitmacht war an die 10000 Mann stark. Nach der Vernichtung des Gotenheeres unter König Roderich rückten die Invasoren unverzüglich nach Sevilla vor, eroberten Cordoba, 713 Toledo und im Jahr darauf Aragon. Im Jahr 720 hatten die Muslime auch Katalonien und Septimanien, also alle Territorien der westgotischen Monarchie südlich und nördlich der Pyrenäen, eingenommen. Aufgrund dieser Blitzgeschwindigkeit, mit der die Araber das von ihnen so genannte al-Andalus eroberten (in Afrika hieß es noch «Land der Vandalen»), wurden die Juden des Paktierens mit den Häretikern und der Roderich feindlich gesinnten gotischen Fraktion verdächtigt. Nach der Einnahme von Narbonne im Jahr 718 rückten arabische Stoßtrupps im Jahr 721 bis nach Toulouse vor und eroberten 725 Nimes und Carcassonne. Die ganze Provence einschließlich des Rhone-Beckens war mittlerweile zum Schauplatz der arabischen Eroberung geworden. 725 (anderen Angaben zufolge 731) wurde Autun in Brand gesteckt. Von Spanien und Septimanien aus war es nur noch ein kleiner Schritt ins südliche Gallien. Es wurde seit Anfang des 6. Jahrhunderts von den Franken beherrscht, doch seine Institutionen waren brüchig und seine sozialen Strukturen erschüttert. Der römische Bischof Gregor II. der die Geschicke
des Frankenvolkes, des «Erstgeborenen» seiner Kirche, aufmerksam verfolgte, ermutigte im Jahr 721 Oddon, den Herzog von Aquitanien, den Muslimen vor Toulouse entgegenzutreten. Als Weihe- und Segenszeichen schickte er dem Herzog Tücher vom Altar der Peterskirche. In kleine Fetzen zerrissen, schluckten sie die christlichen Krieger als quasi sakramentale Glücksbringer. Aber die Sarazenen eroberten keineswegs die gesamte Iberische Halbinsel. In den rauhen Landschaften der Pyrenäen und Kantabriens behaupteten sich weiterhin Reste christlichen Widerstands. In Asturien errichtete der Gote Pelagius 720 ein Fürstentum, das zwanzig Jahre später zum Königreich wurde und später das 760 gegründete Oviedo zu seiner Hauptstadt machte. Die Basken und Navarrer, die schon den Westgoten Widerstand entgegengesetzt hatten, bewahrten ebenfalls ihre Unabhängigkeit. So entstand im dritten und vierten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts das kleine Fürstentum Navarra, das rund hundert Jahre später zum Königreich wurde. In ihm lebten Galizier, Kantabrer und Asturier, unterstützt von einer Handvoll westgotischer Krieger, die sich hierher geflüchtet hatten. Von Asturien, Navarra und dem nördlichen Aragon aus sollte bald die Reconquista ihren Anfang nehmen. Die Schlacht von Poitiers selbst ist von geringerer Bedeutung als der Mythos, den sie begründete. Betrachten wir aber den Kontext anderer, vielleicht wichtigerer Ereignisse, in den diese Schlacht eingebettet ist. So ließ sich beispielsweise der Berberführer Munnuz oder Musura in der Cerdagne in den östlichen Pyrenäen nieder und heiratete eine Tochter des Herzogs Oddon von Aquitanien, ehe er im Jahr 729 vom Emir von Cordoba besiegt wurde, gegen den er rebelliert hatte. Der Patricius Maurontius öffnete im Jahr 734 den Muslimen die Tore der Stadt Avignon.
Poitiers hatte die Muslime also nicht aufhalten können: Im Jahr 734 eroberten sie Avignon, plünderten Arles und zogen durch die Provence. Im Jahr 737 gelangten sie nach Burgund, von wo sie eine große Anzahl von Sklaven nach Spanien brachten. Dies rief Karl Martell auf den Plan, der zwischen 736 und 739 gegen die Muslime im südlichen Gallien zu Feld zog. Doch es wurde weiterhin ein doppeltes Spiel getrieben, es herrschte Verrat, und keine dieser Militäraktionen war wirklich erfolgreich. Die Raubzüge der Araber und Berber waren Teil eines umfassenden politischen Kampfes. Ihm wurden erst viele Jahrzehnte später auch religiöse Motive unterstellt – von einem durch Heldenepen genährten und womöglich erst durch diese entstandenen kollektiven Bewußtsein. Diese Ereignisse rechtfertigen die Besorgnis, die etwa in der lateinischen Übersetzung des Pseudo-Methodios (im Benediktinerkloster Saint-Germain entstanden) oder in Schriften des Beda Venerabilis zum Ausdruck kommt. In seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum, die er 735, kurz vor seinem Tod, überarbeitete, rekapitulierte er voller Sorge das Vorrücken der Sarazenen und erwähnte auch die Schlacht von Poitiers. Angelsächsische Quellen zeigen, daß man über den Islam womöglich mehr wußte, als man gemeinhin glaubt, auch wenn diese Kenntnisse nur verworren und bruchstückhaft waren. Aus zwei im angelsächsischen Raum 786 abgehaltenen Synoden erfährt man beispielsweise, daß die Tradition des Ramadan vage bekannt war – wahrscheinlich durch Berichte päpstlicher Gesandter und durch Kunde der überall auf der Insel wirkenden Benediktinermönche. In der jahrhundertealten Geschichte des Islam gab es, wie wir wissen, nur kurze und seltene Momente einer echten Einheit. Im Mittelalter aber glaubte man, daß sich die Muslime in einer Weise einig wären, die die Einheit der Christen bei weitem überbot. Uns dagegen, die wir aus der Distanz die Dinge besser
beurteilen können, scheint es, als sei diese Fehleinschätzung des mittelalterlichen Europa beinahe – wenn auch bloß zufällig – gerechtfertigt: Die islamische Expansion in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts umfaßte ein von al-Maghrib al-Aqsa (dem «Fernen Okzident», also Marokko) bis zur Grenze Chinas und von Anatolien bis zum Horn von Afrika reichendes Gebiet. Im Jahr 717 belagerten die Araber (wie schon vierzig Jahre zuvor) erneut die Stadt Konstantinopel. Maslamah, der Bruder des Umayyaden-Kalifs, stand an der Spitze ihres Heeres. Der Basileus Leon III. hatte es nur mit Mühe und dank des «griechischen Feuers» zurückzuschlagen vermocht. In den ersten fünfzehn Jahren des 8. Jahrhunderts unterwarf der Gouverneur Mesopotamiens al-Hadschadsch Chorezm, überschritt den Oxus (den heutigen Amu Darja), eroberte Buchara und Samarkand und gelangte bis nach Belutschistan: Das mächtige persische Kaiserreich, das jahrhundertelang Römern und Byzantinern widerstanden hatte, löste sich auf wie Schnee, der in der Sonne schmilzt. Nach der Schlacht am Talas 751 wurde das Altai-Gebiet aufgeteilt und die Grenzen zwischen den muslimischen und den chinesischen Eroberungen der Tang-Dynastie festgelegt. Um die Mitte des Jahrhunderts geriet dieser Vorstoß jedoch überall ins Stocken. Die Byzantiner hatten dank der unermüdlichen Anstrengungen Leons III. dem muslimischen Druck in Kleinasien standgehalten. Der Vorstoß nach Osten kam an der Grenze zum chinesischen Reich zum Stillstand. Die Araber und Berber, die die Iberische Halbinsel erobert hatten (und denen sich zahlreiche einheimische, zum Islam konvertierte Christen anschlossen), waren in ihrem Elan erschöpft. Der muslimische Kommandant Abd ar-Rahman hatte im Jahr 732 oder 733 zwischen Tours und Poitiers nur ein Ziel: die Plünderung eines Nationalheiligtums, der Kirche des heiligen Martin. Aller Wahrscheinlichkeit nach wollte er gar
nicht weiter vordringen, er verfügte auch gar nicht über die entsprechenden Mittel. Im Jahr 759, nur wenige Jahre später, vertrieben die Franken unter Führung von Pippin dem Kurzen, dem Sohn des Siegers von Poitiers, die Ungläubigen aus Narbonne und verfolgten sie bis in die Pyrenäen. Diese kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Franken und Muslimen jener Zeit lieferte (neben der in ihrer Bedeutung überschätzten Schlacht von Roncesvalle im Jahr 778 und den unmittelbar darauffolgenden Ereignissen) den Stoff für berühmte Epen, die allerdings erst etwa dreihundert Jahre später schriftlich fixiert wurden. Nach dem Sieg in der Schlacht von Poitiers jedenfalls ließen sich die Franken Austriens nach Aquitanien locken – und damit vollendete sich ein Prozeß, in dessen Verlauf Aquitanien seine stärkste Identität als aktiver «Puffer» zwischen Franken und Muslimen erlangt hatte. Schwer zu sagen, inwieweit der blutige Wechsel der Kalifatswürde von den Umayyaden an die Abbasiden im Jahr 750 für die Stockung dieser ersten islamischen Eroberungswelle mitverantwortlich war. Jedenfalls gewann die Anhängerschaft des abgesetzten Kalifen von Damaskus auf der Iberischen Halbinsel die Oberhand – allerdings erst nach einem erbitterten Kampf gegen die Gefolgsleute der neuen Dynastie. Und das stark legitimistisch geprägte Emirat von Cordoba hatte keinen leichten Stand. Auch die Zersplitterung innerhalb des Islam, das Auftreten neuer Kalifen, eine Offensive der schiitisch-ismailitischen «Sekten» und die brutale Unterdrückung durch die Abbasiden trugen entscheidend zur Spaltung der muslimischen Glaubensgemeinschaft, zur allgemeinen Krise und zum Stillstand der islamischen Expansion bei.
Karl der Große zwischen al-Andalus und Bagdad Im Jahr 777 befand sich der fränkische König Karl, Pippins Sohn, auf sächsischem Territorium in Paderborn, mitten in einem Feldzug, als Sulaiman ibn al-Arabi, der muslimische wali von Barcelona, Gerona und Zaragoza, bei ihm vorstellig wurde. Er hatte – leider wissen wir nicht, auf welcher Route und unter welchen Umständen – das gesamte fränkische Reich durchquert, um die Hilfe seines mächtigen christlichen Nachbarn gegen die Tyrannei des Emirs von Cordoba zu erbitten. Er versprach die Übergabe vieler Orte südlich der Pyrenäen, angefangen mit seiner eigenen blühenden Stadt. Das muslimische Spanien, so versicherte Sulaiman, sei tief gespalten und daher eine leichte Beute. In der späteren Geschichtsschreibung und in der epischen Dichtung wurden diese Ereignisse religiös verbrämt, doch scheinen beide Kontrahenten keinerlei Berührungsängste gekannt zu haben – trotz ihres unterschiedlichen Glaubens und trotz der Tatsache, daß die muslimischen Feinde des Emirs von Cordoba an der Seite der Christen gegen ihre eigenen Glaubensgenossen kämpfen sollten. Ostern 778 brach die fränkische Expedition mit dem Segen des Papstes Hadrian I. nach Spanien auf. Alles schien nach Plan zu verlaufen, und die muslimischen Gegner des Emirs von Cordoba hielten Wort: Der wali von Zaragoza schlug die Truppen des Emirs, und andere walis schlossen sich ihm an. Aber als sich die Franken in Zaragoza einquartieren wollten, um von da aus einen Feldzug entlang des Ebro zu beginnen, rebellierte die Stadt offenbar gegen sie und den eigenen Herrscher. Vielleicht aber war der auch plötzlich umgeschwenkt, beunruhigt von den großen Erfolgen der Ungläubigen oder unsicher, ob die Bevölkerung den Aufstand
gegen den Emir weiter mittragen würde. Karl blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten, nachdem er aus Rache die Stadtmauern von Zaragoza (zumindest teilweise) dem Erdboden gleichgemacht hatte. Während des Rückzugs (der glaubhaftesten Überlieferung zufolge am 15. August) kam es in der Schlucht von Roncisvalle zum Massaker an der fränkischen Nachhut durch wilde baskische Bergbewohner. Die poetische Umdeutung zu einer Schlacht gegen die Mauren verschaffte diesem bescheidenen Scharmützel über die Jahrhunderte hinweg einen Platz in der christlichen epischen Dichtung. Der Emir Abd ar-Rahman I. verzichtete auf einen Vergeltungsschlag gegen den Eindringling jenseits der Pyrenäen. Aber sein Sohn Hisham (788 – 796) begann im Jahr 793 eine heftige Offensive gegen das fränkische Septimanien, das damals von Herzog Wilhelm, einem Vetter des Königs, regiert wurde. Der muslimische Ansturm richtete sich erneut gegen Narbonne, das aber nicht erobert wurde, danach gegen Carcassonne. Trotz der Verluste war der von al-Hakam, dem Sohn des Emirs, angeführte Feldzug erfolgreich: Mit der Beute der Raubzüge wurde offenbar teilweise der Wiederaufbau der großen Moschee von Cordoba finanziert – eine großartige Investition. Doch unterdessen kam es an den Küsten von alAndalus und von den Grenzen des Maghreb her zu ersten Überfällen durch Sarazenenschiffe auf die Balearen, deren Bevölkerung den fränkischen Kaiser um Hilfe ersuchte. Im Zuge dieser Ereignisse unternahm Karl der Große jenen Feldzug, der zur Gründung der «Mark Spanien» führte. Hauptakteur des Unternehmens war Herzog Wilhelm, der im Jahr 801 Barcelona eroberte. Es gelang ihm aber nicht, bis zum Ebro vorzudringen und in Tortosa, der Stadt an der Mündung des Flusses, eine feste Niederlassung zu gründen. Vielmehr entstand zwischen Barcelona und Tortosa ein
«Niemandsland», und dies änderte sich erst im 12. Jahrhundert mit einem neuen aragonesi-schen Vorstoß. Seine diplomatischen Beziehungen zum wali von Barcelona und der Kaiserin von Byzanz, der Basilissa Irene, haben dem neuen christlichen Kaiser die Weiträumigkeit und Komplexität der Welt wohl besser vor Augen geführt als die gelehrten Gespräche mit Alkuin von York und Paulinus von Aquileia. Er sah sich nach neuen Gesprächspartnern um, die ihm direkt oder indirekt behilflich sein konnten, seine Beziehungen zu Spanien zu verbessern. Und er fand sie. Die karolingische Monarchie, Erbin des merowingischen Königtums und Verbündete des Papsttums und damit geographisch und kulturell mit beiden verbunden, hatte nur eine beschränkte Vorstellung von den Mächten der euro asiatischen und mediterranen Welt des 8. Jahrhunderts, doch anderswo gab es weitaus scharfsinnigere Beobachter. Beispielsweise in Konstantinopel und in Bagdad, die sich gegenseitig genau beobachteten und im damaligen politischen Spannungsfeld nach potentiellen Verbündeten oder potentiellen «Freunden der Feinde» (und damit objektiv gesehen Gegnern) Ausschau hielten. Der Kalif hatte kurz zuvor in der neuen mesopotamischen Hauptstadt, wenige Meilen vom antiken und glanzvollen Ktesiphon entfernt, Residenz genommen; 762 gegründet, erhielt der Ort zunächst den bedeutungsvollen arabischen Namen Medinat as-Salam, «Stadt des Friedens». Und am Hof von Bagdad zeigte sich bereits jenes Desinteresse an nichtislamischen Kulturen, das typisch war für die aus der religiösen Revolution Muhammads hervorgegangene Kultur und auf lange Sicht einer der Gründe für die moderne Krise des Islam. Man blickte nach Byzanz, nach Indien und China, ohne sich weiter um die Barbaren im äußersten Nordwesten zu kümmern, die keiner Beachtung wert schienen (zum damaligen Zeitpunkt keineswegs zu Unrecht).
Doch bald schon sollte man spüren, daß sie den Umayyaden in Cordoba, die die Autorität des Kalifen nicht anerkennen wollten, und dem Reich Rum, das wir Byzanz nennen, zumindest Schwierigkeiten bereiten konnten. Schon zwischen 765 und 768 hatten der abbasidische Kalif Abu Dschafar al-Mansur (754-775) und Pippin Gesandtschaften ausgetauscht. Pippins Sohn hatte zwei gute Gründe, zum abbasidischen Kalifat wieder Beziehungen aufzunehmen. Der neue Kalif war der große Harun ar-Rashid (786 – 809), der Herrscher aus Tausendundeiner Nacht. Der erste Grund war die politische Lage auf der Iberischen Halbinsel; hier hielten die Auseinandersetzungen zwischen den Emiren von Cordoba, die sich noch auf die alte UmayyadenDynastie beriefen (oder zumindest unter diesem Vorwand Politik zu machen und ihr eigenes religiöses Prestige zu wahren suchten), und den walis weiterhin an. Diese walis richteten ihren Blick lieber auf den im fernen Mesopotamien residierenden «Herrscher der Gläubigen» beziehungsweise nahmen ihren Loyalismus als bequemen Vorwand, um sich der nach al-Andalus verpflanzten Umayyaden-Dynastie nicht unterwerfen zu müssen. Im Jahr 799 hatte der sarazenische Gouverneur von Huesca Karl in Aachen Ehrengeschenke überbringen lassen und ihm das Versprechen gegeben, die Stadt Huesca auszuliefern, falls Karl zu einem neuen Feldzug jenseits der Pyrenäen bereit sei. Ein zweiter Grund war die Stadt Jerusalem, die zwar von den Abbasiden kontrolliert, aber von einer wachsenden Zahl von Pilgern aus dem Westen aufgesucht wurde. Bestrebt, in bezug auf die heiligen Stätten Jerusalems und der Christenheit ein Wörtchen mitzureden (denn er war keinesfalls bereit, den byzantinischen Basileis das Feld zu überlassen), hatte der fränkische König eine Gesandtschaft des Patriarchen von Jerusalem empfangen, von der er Reliquien und Segenswünsche erhalten hatte und die er
erwiderte. Die Annales regni Francorum sprechen sogar von der «Übergabe der Schlüssel» der Auferstehungskirche und der Kapellen des Kalvarienberges sowie des Heiligen Grabes, womit sie vielleicht nur einen diplomatischen Austausch von Höflichkeiten in seiner Bedeutung aufbauschten. 797, knapp vier Jahre nach dem Einfall von al-Hakam und zur Zeit des Aufbaus der Mark Spanien, hatte Karl auch dem Kalifen Gesandte geschickt: die Nichtgeistlichen Lantfrid und Sigismund sowie den Juden Isaak. Einem Dokument aus dem Kloster Reichenau zufolge, den Miracula sancti Genesii, wurden sie auf der Hinreise von zwei von Gebhard, dem Grafen von Treviso, ausgewählten Geistlichen begleitet, die den Auftrag hatten, die Reliquien der Heiligen Genesius und Eugenius aus dem Heiligen Land zu holen. Der Kaiser residierte zu jenem Zeitpunkt in Pavia und hatte knapp zwei Monate zuvor die Boten des Prälaten von Jerusalem verabschiedet. Im Juni 801 erhielt er die Nachricht, daß die Abgesandten des Kalifen von Bagdad im Hafen von Pisa gelandet seien. Sie brachten die Antwort auf seine vier Jahre zuvor geschickte Nachricht. Es waren ein Abgesandter des Kalifen und ein Gesandter des Emirs von al-Abbasiya (dem heutigen Fostat in Tunesien), die ihm ausrichteten, daß der Jude Isaak, der einzige Überlebende jener drei Gesandten, die Karl im Jahre 797 an den Hof von Bagdad geschickt hatte, mit den Geschenken des Herrschers der Gläubigen auf dem Rückweg nach Europa sei. Er hätte jedoch an der afrikanischen Küste Halt machen müssen, da eines der Geschenke ziemlich sperrig sei. Daraufhin hatten die Franken Isaak Schiffe geschickt, und im darauffolgenden Oktober konnte dieser in Portovenere an Land gehen – im Gepäck unter anderem das Geschenk, das der Kaiser bereits mit großer Neugier erwartete: den Elefanten Abu Abbas. Aber es machte keinen Sinn, dem riesenhaften
Tier die winterliche Überquerung der Alpen zuzumuten, zumal der Kaiser bereits in seine Residenz nach Aachen zurückgekehrt war. Also mußte sich Karl bis zum Juli 802 gedulden, bevor er jene Spezies zu Gesicht bekam, von der in römischen Texten so oft die Rede war, von der es aber seit Jahrhunderten keine Exemplare mehr im Westen gab. Leider hielt Abu Abbas dem rauhen Klima am Rhein nicht lange stand. Seine Heimat war das warme Indien, aus dem die gezähmten Elefanten gewöhnlich nach Persien importiert wurden. Er starb im Juni 810, schmerzlich betrauert von dem Frankenherrscher, der ihn liebgewonnen hatte, und unter reger Anteilnahme der Bevölkerung, die darauf wartete, daß sich seine Knochen in Elfenbein verwandelten, wie man damals glaubte. Wahrscheinlich hatte Härün außer dem Elefanten noch ein weiteres Geschenk für Karl vorgesehen: die Einräumung von – wenn auch nur formellen – Sonderrechten am Heiligen Grab in Jerusalem – offenbar ein strategischer Schachzug, der die traditionelle auctoritas des byzantinischen Basileus über die heiligen Stätten der Christenheit abschwächen sollte. Das Hauptproblem war aber wohl Spanien – doch darüber schweigen sich die arabischen Quellen aus. Eher unwahrscheinlich ist, daß auch über wirtschaftliche Fragen gesprochen wurde: Die pallia fresonica, gute Wollstoffe, die Karl dem Kalifen Harun zum Geschenk machte, konnten mit Sicherheit nicht mit dem höfischen Glanz der Kalifenresidenz in Bagdad konkurrieren. Und die zahlreichen muslimischen Waren und Münzen, von denen der Chronist Teodulf von Orleans im Jahr 812 im südlichen Gallien (mit dem großen Hafen Marseille) berichtet, belegen keineswegs besonders enge Beziehungen zum Orient – auch weil, abgesehen von den Perlen, die dort gefundenen muslimischen Waren allesamt von der Iberischen Halbinsel oder aus Nordafrika stammten. Im
Jahr 807 empfing Karl eine weitere Gesandtschaft des Kalifen und im selben Jahr eine Delegation des Patriarchen von Jerusalem. Beunruhigt über die diplomatischen Beziehungen zwischen Aachen und Bagdad und die ständigen Aufstände in seinem Reich, die inzwischen auch auf Cordoba und Toledo übergegriffen hatten, mußte sich der umayyadische Emir alHakam (796-822) damit abfinden, daß die Grenze zum Frankenreich bis zum Ebro reichte. Zwischen 810 und 812 kam es zu Verhandlungen zwischen ihm und Karl. Aber die Rebellionen im muslimischen Spanien dauerten an. Der Aufstand in Cordoba 814 wurde von der Garde des Emirs, den Kriegssklaven oder «Mamluken», blutig niedergeschlagen. Auch unter seinem Nachfolger, dem Emir Abd ar-Rahman II. (822-852) wurde es nicht besser. Unter ihm kam es zu Aufständen in Merida und Toledo, und er versuchte vergeblich, Barcelona zurückzuerobern: ein ungeschickter Schachzug, der (nicht zuletzt durch das erbitterte Zurückschlagen des Herzogs Bernhard von Septimanien) zum Entstehen einer katalanischen Identität führte. Doch am mittelmeerischen Himmel und damit auch im südlichen Europa ballten sich schon neue dunkle Wolken zusammen. Die Normannen, die in diesem und Anfang des folgenden Jahrhunderts die europäischen Küsten heimsuchten und verwüsteten, müssen neben den Angriffen der Sarazenen mit ihren Schiffen und denen der Ungarn zu Land als entscheidende Verursacher der Krise jener Zeit betrachtet werden. Eine Zeit, die außerdem vom Machtzerfall in den unter der Herrschaft der Karolinger stehenden Gebieten, vom Kampf zwischen den Reichen der sogenannten «Heptarchie» in England und von sozialern und wirtschaftlichem Niedergang gekennzeichnet war. Dabei muß man sich gleichzeitig vergegenwärtigen, daß auch der Islam eine sehr schwierige
Phase durchmachte: Das Kalifat von Bagdad verlor zunehmend die Kontrolle über die weiträumigen und reichen Territorien in den Randregionen westlich des Sinai und nordöstlich von Persien. In Tunesien hatten sich Anfang des 9. Jahrhunderts die Aghlabiden unabhängig gemacht und fielen ab 827 in Sizilien ein; fünfundsiebzig Jahre später hatten sie die Insel in ihrer Gewalt. 869 erlangten die Tuluniden die Herrschaft über Ägypten. Das riesige Gebiet Transoxanien, Khwarizm und Sistan (zwischen Syr Darja, dem Aralsee und dem Indischen Ozean) geriet sukzessive unter die Kontrolle der Tahiriden, Saffariden und Samaniden, und Ende des 9. Jahrhunderts zerstörte ein Aufstand der «häretischen» Qarmaten in Bahrein an der arabischen Küste des Persischen Golfs den Handel von und nach Basra und damit die Wirtschaft der Hauptstadt; der Verkehr der für Ägypten, das Mittelmeer und Byzanz bestimmten Waren aus dem Fernen Osten verlagerte sich ans Horn von Afrika und ans Rote Meer. Die Normannen, die an den europäischen Küsten einfielen, verschonten auch die Küsten von al-Andalus nicht. Im Jahr 844, nach einem Angriff auf Nantes, der Umfahrung der atlantischen Küste der Iberischen Halbinsel und der erfolglosen Plünderung Lissabons, tauchten fünfzig gewaltige Schiffe an der Mündung des Guadalquivir auf. Von da aus brachen mehrere Schiffe Richtung Cadiz auf, der Großteil der Flotte jedoch fuhr den Fluß aufwärts nach Sevilla. Die Normannen eroberten, plünderten und verwüsteten die Stadt, mußten sich dann aber dem Druck der iberischen Muslime beugen, die die Angreifer besiegten und sie zum überstürzten Rückzug zwangen. Viele der bei dieser Gelegenheit gemachten Gefangenen verschmolzen im Laufe von Generationen mit der großen Bevölkerungsgruppe der spanischen Muslime mit blondem Haar und blauen Augen. Zu den Erben der Wandalen und Goten kamen mit der Zeit auch die vielen aus der
slawischen Welt stammenden Sklaven hinzu (das Wort «Sklave» verweist ja im übrigen auf die slawische Herkunft). Unter dem Eindruck der normannischen Angriffe in den Jahren 844 und 845 ließ der umayyadische Emir die ribat oder Küstenbefestigungen erbauen. Sie waren den alten und legendären «Sarazenentürmen» nicht unähnlich, die die europäische Küste von der Languedoc bis zur Ägäis säumten. Die ribat wurden mit Freiwilligen oder murabitun bewehrt, die sich in der Nähe niederließen, sich den Aufgaben des Heiligen Krieges (dschihad) widmeten und ansonsten ein kontemplatives Leben im Gebet führten. Dank dieser murabitun konnten die Normannen von den Küsten alAndalus’ ferngehalten werden. 859 gelang es ihnen dennoch, die Moschee von Algeciras in Brand zu stecken, und im Jahr 966, gut hundert Jahre später, fügten die Dänen unter Führung keines Geringeren als Harald Blatand («Blauzahn») den Muslimen bei Lissabon eine weitere schmerzliche Niederlage zu. Die Muslime waren also durchaus nicht die einzigen, die die südeuropäischen Küsten und die Mittelmeerinseln unsicher machten. Diese Einfälle – die schlimmsten in der Geschichte Europas – prägten die beiden Jahrhunderte bis zum Ende des frühen Mittelalters. Auch die Muslime waren also manchmal Opfer solcher Angriffe. Die Europäer sahen jedoch in den «Hagarenern» ihren Hauptfeind und die Hauptverantwortlichen sämtlicher Attacken. Im historischen Rückblick wurden die Angriffe im Mittelmeerraum und die Kriege auf der Iberischen Halbinsel in ihrer Bedeutung mehr und mehr übertrieben; die epische Erzähltradition nahm das Thema auf und dramatisierte die Ereignisse, bis sie – zu Recht oder Unrecht – als «Herausforderung» erlebt wurden, auf die die Kreuzzüge eine «Antwort» liefern sollten.
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Zwischen zwei Jahrtausenden
Ein Wettstreit auf Meeren, Inseln und an Küsten Die Kontroverse um Henri Pirennes berühmte These ist nie wirklich zur Ruhe gekommen. Ihr zufolge zerbrach unter dem jähen Ansturm des Islam die Einheit Europas, dessen Zentrum das Mittelmeer gewesen war. Westeuropa wurde auf sich selbst zurückgeworfen und entwickelte einen ländlichen Charakter. Mit der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts und nicht mit dem Zerfall des Weströmischen Reiches begann Pirenne zufolge das «Mittelalter». Unbestritten aber ist heute, daß sich bereits vor dem 7. Jahrhundert in Wirtschaft und Handel eine Krise abzuzeichnen begann und daß zwischen dem 6./7. und dem 9./10. Jahrhundert der Handel und der Lebensstandard insbesondere im mittelmeerischen und westlichen Europa stark zurückgingen. Dies blieben jedoch allmählich verlaufende Prozesse, die vielfältige Ursachen hatten. Daher ist es inakzeptabel, diese Krise einzig und allein auf den Druck der sarazenischen Seemacht zurückzuführen. Pirennes These wurde im Kern bestätigt, ihre historische Herleitung aber gilt als widerlegt. Denn in der Tat, die seeräuberischen Aktivitäten der Muslime bleiben ein wichtiger, wenn nicht der entscheidende Faktor für die Krise und deren sozioökonomische, geistige und kulturelle Folgen: für den drastischen Rückgang der maritimen Aktivitäten, den Verfall, ja das Verschwinden der christlichen Häfen und
Küstenzentren, die überall grassierende Armut, den Rückgang der Geldwirtschaft und die weitverbreiteten Ängste. Die Überfälle auf die christlichen Inseln und Gestade des westlichen Mittelmeers nahmen von den Küsten des islamisierten Spanien und Afrika ihren Ausgang. Seit dem 8. Jahrhundert waren nicht nur die griechischen Inseln davon betroffen, sondern auch Sizilien und Sardinien. Diese Raubzüge führten zum Niedergang der Siedlungszentren im Küstenraum und zur Flucht der Bevölkerung in das unwegsame, aber sicherere Inselinnere. Ziel der Angriffe war der schnelle Beutezug (die Razzia), der Raub vorwiegend junger Menschen für den Sklavenhandel, die gelegentliche Einforderung von Tribut und Lösegeld. Seltener hatten die Beutezüge die Errichtung eines «Korsarennestes», einer kleinen Militär- und Handelskolonie, zum Ziel. Wir wissen, daß bereits ab 798 die Balearen immer wieder Ziel der Angriffe waren, auch wenn deren endgültige Eroberung durch ein islamisch-iberisches Oberhaupt erst im Jahr 902 erfolgte. Die Eroberung Siziliens durch den aghlabidischen Emir Ziyahad Allah I. im Jahr 827 markierte den entscheidenden Wendepunkt für zwei Jahrhunderte sarazenischer Seeherrschaft im riesigen Raum zwischen Iberischer Halbinsel, Italienischer Halbinsel und Maghreb. Die Byzantiner stellten sich dem Vorrücken der Muslime auf Sizilien zuerst noch tapfer entgegen, besonders in deren östlichem Teil, dessen Eroberung erst Anfang des 10. Jahrhunderts abgeschlossen war. Aber die Einnahme Kretas 827 und Maltas 870 hatten Byzanz die Möglichkeit genommen, im östlichen Mittelmeer wirkungsvoll zu operieren: Sie waren daher gezwungen, Sizilien und Sardinien ihrem Schicksal zu überlassen. In der Vergangenheit wurden die Angriffe der Sarazenen, ihre Siedlungspolitik und selbst sporadische Versuche der
Landnahme zu oft als Ausdruck ihres autonomen Willens zur Expansion nach sehr präzisen strategischen Überlegungen gewertet. Das war aber nicht immer der Fall. Im Gegenteil. Oft mischten sich die Sarazenen in lokale Konflikte ein und machten sich wechselnde Bündnisse zunutze; und nicht selten wurden sie von dem einen oder anderen der Kontrahenten um Waffenbeistand gebeten. Zur Zeit ihrer Eroberung Siziliens beispielsweise, kurz nach der Einnahme Palermos, rief der Herrscher der Stadt Neapel die Sarazenen mehrmals gegen die Langobarden und die Byzantiner zu Hilfe. Äußerst geschickt in der Taktik, sich die Wirren und die Schwäche der verschiedenen Machthaber nutzbar zu machen, die in Süditalien einander bekämpften, stellten sich die Sarazenen skrupellos in den Dienst des einen oder anderen und wurden dabei selbst die politischen Herren. Sich ungestraft der Araber und Berber bedienen zu können war ein Irrglaube, dem die kampanischen Städte zu lang anhingen. Sie verbündeten sich mit den Langobardenfürsten, um vom römisch-deutschen Kaiser Lothar (840-855) erneut Hilfe zu erbitten. Der hätte wohl keinen Finger gerührt, wenn nicht die Sarazenen im Jahr 846 auf der Halbinsel bis nach Ostia vorgestoßen, den Tiber aufwärts gefahren wären und die Basilika Sankt Peter geplündert hätten. Damit war das Maß voll. Mit Unterstützung des Dogen von Venedig, der Herzöge von Spoleto und Neapel sowie des Papstes Sergius II. (844 – 847) zog Ludwig, der Sohn von Kaiser Lothar, mit einem Heer aus Franken, Burgundern und Provenzalen nach Süditalien. Unterdessen hatte der Herzog von Benevent seinerseits schon muslimische Söldner angeworben, die marodierend und plündernd umherzogen und sogar bis auf das Gebiet des Klosters von Montecassino vorstießen.
Dennoch wollte Adelchi von Benevent auf die Dienste der sarazenischen Söldner nicht verzichten. Er zwang Bari, das ihm treu geblieben war, sich unter den Schutz des Berberoberhaupts Khalfun zu stellen, der vermutlich über Tarent aus Sizilien gekommen war. Als Gegenleistung gestattete er den Berbern, sakrale Gebäude zu plündern und in Brand zu stecken. Die Berber machten die Stadt Capua (die später wieder aufgebaut wurde) praktisch dem Erdboden gleich. Im Jahr 848 war Khalfun endlich Herr über die schöne apulische Hauptstadt. Ludwig, der genau zu diesem Zeitpunkt in Süditalien eintraf, konnte lediglich Benevent aus der Hand der Söldner befreien und zwischen den streitenden langobardischen Fürsten Frieden stiften. Er war der Garant für die Aufteilung des beneventischen Territoriums in die beiden Fürstentümer Benevent und Salerno und die Grafschaft Capua. Es war dies keine ehrenvolle Lösung. Weder beruhigt noch zufrieden war Papst Leo IV (847 – 855), der um Sankt Peter eine Mauer errichten und das Territorium in eine Zitadelle verwandeln ließ, damit sich die Schändung von 846 nicht wiederholen konnte. Unter seinem Pontifikat schlug im Jahr 849 eine von den Kampanern aufgestellte Flotte die Sarazenen vor Ostia auf dem offenen Meer. Gedrängt von den Äbten von Montecassino und San Vmcenzo am Volturno, zog Ludwig II. der inzwischen die Kaiserkrone erhalten hatte, erneut gegen Bari. Aber die langobardischen Fürsten unterstützten ihn so halbherzig und unaufrichtig, daß er sich empört und unverrichteter Dinge zurückziehen mußte. Bari wurde auch weiterhin von einem Emir regiert, der von den Klöstern Montecassino und San Vincenzo Güter erpreßte und sich mit den lokalen Machthabern arrangierte. Den europäischen Pilgern, die seine Stadt passieren mußten, um sich ins Heilige Land einzuschiffen, gewährte er gegen Zahlung eines Tributs sicheres Geleit, und die wohlhabende und gebildete jüdische
Gemeinde von Oria behandelte er mit ausgesprochenem Wohlwollen. Kaiser Ludwig II. jedoch hatte die Schmach, die ihm in Apulien zugefügt worden war, nicht vergessen. Sobald er die Alleinherrschaft innehatte, unternahm er, gedrängt vom Abt von Montecassino und den langobardischen Herrschern von Benevent und Capua (der Herrscher von Salerno lag mit ihnen in Streit), einen neuen Eroberungszug. Der Plan für dieses Unternehmen, der in der Constitutio von 865 niedergelegt war und für März des Folgejahres einen Truppenaufmarsch in Lucerna vorsah, ist erhalten geblieben. Es dauerte aber noch ein Jahr, bis der Kaiser das Mißtrauen zerstreuen und das Doppelspiel seiner treulosen langobardischen und kampanischen Untertanen hintertreiben konnte. Der Feldzug von 867 endete nach turbulenten Ereignissen vier Jahre später, im Jahr 871. Unter Beteiligung auch der fränkischen Truppen seines Bruders Lothar II. (die jedoch von einer Pestepidemie heimgesucht wurden), unterstützt außerdem von einer byzantinischen und einer venezianischen Flotte mit kroatischer und dalmatinischer Verstärkung sowie mit militärischer Hilfe des beneventischen Fürsten Adelchi und der Bevölkerung Gaetas (aber nicht Neapels, das ganz im Gegenteil seine Häfen den sarazenischen Schiffen öffnete) besiegte der Kaiser Sadwan, den Emir von Bari. Dieser hatte sich mutig geschlagen und sogar die Wallfahrtskirche des Erzengels Michael auf dem Monte Gargano geplündert. Er mußte sich nach Benevent zurückziehen – in einen goldenen Käfig unter der Obhut des ihm freundlich gesinnten Adelchi. War der Großmut des Kaisers gegenüber dem Emir ein Fehler gewesen? Gewiß, Bari war zurückerobert – ein Sieg, der dem Kaiser großes Ansehen einbrachte. Nach langer Krise und dank der energischen und skrupellosen Bemühungen von Basileios I. (867-886), dem Begründer der makedonischen
Dynastie, organisierte sich das Byzantinische Reich unterdessen neu. Mit seiner Flotte hatte Basileios zum Sieg Ludwigs, des «Königs der Teutonen», beigetragen, hütete sich aber, ihm gleichen Rang einzuräumen. Auf keinen Fall wollte er zulassen, daß dieser seine Macht über jenes Süditalien festigte, das die Basileis von Konstantinopel seit der Rückeroberung der Italienischen Halbinsel durch Justinian als ihr Territorium betrachteten. Es umfaßte eine Reihe bedeutender Hafenstädte, die den Zugang zur Adria sicherten und kontrollierten und wo die griechische Kultur so tief verwurzelt war. Die Taktik Basileios’ I. und Sadwans hatte den erhofften Erfolg. Nach einem Aufstand der Langobarden von Benevent wurde der Kaiser zwischen August und September 871 fast zwei Monate lang gefangengesetzt, während der Emir von Kairuan neue Invasionstruppen (diesmal rund 20000 Mann) nach Apulien schickte und Kalabrien und Kampanien angriff. Ludwig II. brachte die Kraft auf, erneut gen Süden zu ziehen. Im Jahr 873 besiegte er die Muslime in Capua, starb aber zwei Jahre später. Die Sarazenen operierten unterdessen weiter von der ihnen verbliebenen Festung Tarent aus, der ein wichtiger Umschlagplatz für den Sklavenhandel war. Von dort aus bedrohten sie Apulien und Kampanien bis hinauf zum Volturno. Bari sah jetzt keinen Grund mehr, sein Bündnis mit Ludwig II. weiter aufrechtzuerhalten. 876 wandte sich die Stadt an die byzantinischen Behörden von Otranto und erreichte, daß sie die Hauptstadt des Thema Langobardien wurde. Im Jahr 880 eroberten die Byzantiner auch Tarent zurück, aber es gelang ihnen nicht, die Muslime im Adriatischen Meer zu stoppen, die mit ihren Raubzügen sogar Comacchio und Grado heimsuchten. Ein Sieg über die Araber und Berber war also in weite Ferne gerückt. 878 war die Eroberung Siziliens, 902 die Einnahme
Taorminas abgeschlossen, und jetzt drangen sie weiter nach Kampanien vor. Sie verbündeten sich mit Capua und Salerno, besetzten erneut vom Bischof von Rom kontrolliertes Territorium und zwangen ihn zur Tributzahlung. Sie zerstörten die Klöster San Vincenzo am Volturno und Montecassino, errichteten im Jahr 882 einen Stützpunkt an der Mündung des Garigliano, von dem aus sie auch die Stadt Rom angreifen konnten. Erst im Jahr 915 war dieser Alptraum vorbei. Nachdem sich die kalbitischen Emire unter der formellen Oberhoheit der fatimidischen Kalifen von Kairo in Sizilien angesiedelt hatten, konnten sie im Laufe des 10. Jahrhunderts systematisch die süditalienischen Küsten angreifen, besonders die Küsten Apuliens und Kalabnens. Bastionen (wie Agropoli in Kampamen und Santa Severma in Kalabrien) leisteten lange Zeit Widerstand. Der Versuch des Sachsenkaisers Otto III. der, ähnlich wie sein Vorgänger Ludwig II. hundert Jahre vorher, eine neue entschlossene Kampagne begann, scheiterte 982 bei Capo Colonna. Jetzt kannte die Sarazenenoffensive in Süditalien bis zum Tod des Emirs al-Akhal im Jahr 1036 keinen Halt mehr. Danach jedoch zerbröckelte die Herrschaft des Islam in Sizilien unaufhaltsam. Sardinien und Korsika blieben bis Anfang des 11. Jahrhunderts Niemandsland; nur dessen Häfen wurden von den Sarazenen kontrolliert. Unterdessen verstärkte man die Stützpunkte an der maghrebinischen Küste, die für die muslimische Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer eine wichtige Rolle spielten. Zwischen 915 und 920 errichteten die Muslime, etwa auf der Höhe der Insel Pantelleria, die Festungsstadt al-Mahdiya an der Küste des Sahel. 960 gründete das Berberoberhaupt Buluggi ibn Ziri die Stadt Algier, und 1060 entstand an der Küste zwischen Algier und Bona die Stadt Bujjah. Von ihren Stützpunkten in Spanien und auf den Inseln aus führten die Sarazenen ihre kriegerischen Raubzüge auch im
nordwestlichen Mittelmeer. Gegen 890, beinahe zeitgleich mit der Ansiedlung der Sarazenen am Garigliano, waren Muslime auch an der provenzalischen Küste gelandet. Von da aus gründete eine Gruppe von Angreifern unweit von Saint-Tropez einen Stützpunkt in Fraxinetum (dem heutigen La GardeFreinet), von wo aus sie nicht nur die Küstenstreifen (bis nach Marseille, Toulon und Nizza) und das dazugehörige Hinterland angriffen, sondern auch zu relativ weit entfernten Orten vordrangen – sogar bis an den westlichen Alpenrand, wo sie die durchziehenden Pilger- und Handelskarawanen überfielen. Das Gebiet zwischen dem Golf von Lion und dem Tyrrhenischen Meer wurde auch von Korsaren aus Ifriqiya erobert. Zwischen 934 und 935 griffen Korsaren aus alMahdiya Genua an. Die Korsaren von Fraxinetum, die auch mit einigen domini loci, so zum Beispiel mit Hugo von Provenza, Vereinbarungen schlossen, hatten unterdessen den Bogen überspannt. 972 und 973 brachten sie – möglicherweise zufällig und ungewollt – einen kluniazensischen Mönch in ihre Gewalt, um Lösegeld zu fordern. Es handelte sich aber um den heiligen Maiolus, den großen Abt von Cluny. Eine solche Unverfrorenheit zwang die provenzalische Aristokratie, einzugreifen und das Korsarennest in Fraxinetum ein für alle Mal zu zerstören. Waren die Gründer, die Strategen dieser sarazenischen Küstenstützpunkte, die oft auch weiträumige Gebiete im Landesinnern kontrollierten, nur Freibeuter? Ihre Vorgehensweise unterschied sich jedenfalls nicht von der Strategie der Seestädte an der italienischen Küste. Die Ähnlichkeiten sind groß, obwohl die Muslime zweifellos zu einem früheren Zeitpunkt zu agieren begannen. Für das Wiedererstarken (wenn nicht überhaupt das Entstehen) der christlichen Küstenstädte Westeuropas bedeutete die Ausbreitung des Islam einen der Hauptfaktoren. Nicht zufällig
waren die Beziehungen zwischen den christlichen und den islamischen Mächten im Mittelmeerraum (wie stark auch immer sie waren) sowohl von Überfällen und kriegerischen Auseinandersetzungen als auch von gutnachbarschaftlichen Handelsbeziehungen gekennzeichnet. Anfang des 11. Jahrhunderts kehrten sich die Verhältnisse um: Waren bis dahin die sarazenischen Siedlungen aktiver und dynamischer, so gerieten sie von nun an in die Defensive, während die christlichen Siedlungen prosperierten und erstarkten. Wesentliche Triebkräfte für die Entwicklung dieser kleinen «Republiken» muslimischer Seeleute, Korsaren und Händler (bahriyun) waren Sklavenraub und Sklavenhandel. Typisch in dieser Hinsicht war der Aufstieg Almerias im 10. Jahrhundert, der in erster Linie dem Sklavenhandel zu verdanken war. Die saqaliba oder weißen Sklaven galten als heißbegehrte Ware, und um ihre Kastration kümmerten sich die Juden des nahegelegenen Pechina. Anders verlief die Entwicklung im östlichen Mittelmeer. Aufgrund der Gegenoffensive der Basileis der makedonischen Dynastie kamen die Inseln Zypern und Kreta in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts erneut unter byzantinische Herrschaft. Nach der heftigsten Phase der muslimischen Eroberungskriege im Mittelmeer zwischen der zweiten Hälfte des 7. und dem Beginn des 8. Jahrhunderts erholte sich allmählich der Handel. Dennoch waren die Westeuropäer weder die Hauptakteure noch die eigentlichen Profiteure dieses Handels. Um 846 berichtet Ibn Khurdadhbih in seinem Buch der Routen und Reiche von Kaufleuten, die zwar aus Westeuropa kamen und dort lebten, aber eigentlich keine Westeuropäer waren: «Rahdaniten» genannte jüdische Händler (vielleicht aus dem Mündungsgebiet der Rhone), die westliche Waren wie Sklaven, Waffen und Pelze in den Orient brachten, sie in den Häfen des Nildeltas entluden und auf dem Landweg
mit Kamelen ans Rote Meer schafften, um sie zu den arabischen Häfen al-Jar und Dschidda und weiter nach Indien und China zu verschiffen. Aus diesen fernen Ländern brachten sie Moschus, Aloe, Kampfer und Kardamom nach Ägypten und nach Konstantinopel, ja sogar an die vergleichsweise unzivilisierten Höfe Westeuropas. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der arabisch-muslimische Handel und damit auch die Geographen im 9. und 10. Jahrhundert das Tyrrhenische Meer nördlich von Amalfi und Gaeta sowie die gesamte westeuropäische Welt offenbar gar nicht in Betracht zogen. Diese Tendenz der traditionellen muslimischen Kultur, alles, was fremd ist, gleichsam links liegen zu lassen, prägte bereits die Anfänge des Islam. Doch neben militärischer Konfrontation und reinen Handelsbeziehungen gab es weitere Möglichkeiten einer Kontaktaufnahme – zeitweilige Gefangenschaft etwa oder die Sklaverei. So auch im Fall eines gewissen Harun ibn Yahya (aus dessen Namen sich nicht ersehen läßt, ob er Christ oder Muslim war) Ende des 9. Jahrhunderts. Er machte, wenngleich unfreiwillig, eine ansehnliche Reise, die ihn in das Neue und danach in das Alte Rom führte. Er wurde – möglicherweise bei einem Korsarenüberfall an der Küste Palästinas – gefangengenommen; unklar ist auch, ob er von byzantinischen Korsaren aufgegriffen wurde oder ob er selbst zu einem arabischen Korsarentrupp gehörte (dem durchaus auch Christen angehören konnten) und beim Angriff auf ein griechisches Schiff Pech gehabt hatte. Jedenfalls wurde er als Sklave nach Konstantinopel gebracht. Von dort kam er – wir wissen weder wie noch warum (vielleicht mit einer byzantinischen Gesandtschaft) – auf die Balkanhalbinsel und gelangte über Venedig nach Italien und schließlich nach Rom. Die Wechselfälle seines Schicksals und seine Erfahrungen sind uns durch die Schilderung des Geographen Ibn Rusta aus dem
10. Jahrhundert überliefert. Dem Legendenschema der (viel später entstandenen) Mirabilia entsprechend, die die byzantinische an die islamische Welt weitergegeben hatte, erzählt der Text von bronzenen Uferbefestigungen, die den Tiber eindämmen, vom Wunderwerk des Vogelautomaten auf einer Säule vor der Peterskirche, von den unermeßlichen Reichtümern und der großen Bevölkerungszahl einer Stadt, die im 9. und 10. Jahrhundert freilich ziemlich entvölkert und heruntergekommen war. Realistischer ist die Schilderung des Irakers Ibn Hauqal, der um die Mitte des 10. Jahrhunderts eine lange Reise von Persien nach Spanien unternahm und das muslimische Palermo beschrieb, aber auch in den damals langobardischen und byzantinischen Süden der Italienischen Halbinsel gelangte. Er besuchte Salerno, Melfi und Neapel, wo er persönlich, wie er versichert, die Qualität des Leinens begutachten konnte, eines der wichtigsten Importgüter der Stadt. Zu den begehrtesten der nicht allzu zahlreichen Exportartikel, die die «fränkische» Welt der muslimischen Welt zu bieten hatte, zählte das Eisen. Insbesondere die «fränkischen Schwerter» waren aufgrund ihrer Stärke und Schönheit nur mit dem dschauhar vergleichbar, dem weißglänzenden Schwert der Jemeniten, das, wie es hieß, so schön war wie edles Tuch. Eine weitere sehr geschätzte Ware, die über die Flüsse Rußlands und durch das Schwarze Meer aus dem «Land der Franken» oder auch aus der byzantinischen Welt in den dar alIslam gelangte, war Holz. Es überrascht nicht, daß im Jahr 813 Papst Leo III. Karl den Großen darüber informierte, daß sarazenische Gesandte «in navigiis Beneticorum» (auf venezianischen Schiffen) eine Reise nach Sizilien unternahmen. Diese Nachricht bestätigt nicht nur, daß in der islamischen Welt das Holz knapp wurde – ein großes Problem für die maghrebinische Seemacht –, sondern daß die
Venezianer immer häufiger in muslimische Länder reisten. Ähnlich wie in Byzanz hatten auch Gesetze der Venezianer den Handel mit Alexandria, mit dem von den Muslimen eroberten Ägypten und allgemein mit den von der nejandissima gens Sarracenorum eroberten Territorien lange Zeit verboten. Aber der Raub der Reliquien des Evangelisten Markus aus Alexandrien durch venezianische Kaufleute im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts hatte offenbar endgültig eine Vorschrift obsolet gemacht, die man ohnehin nicht sehr genau nahm. Noch 960 wurde das Verbot des Sklavenhandels und des Transports von fremden Passagieren auf venezianischen Schiffen erneuert. Im Jahr 971 erlaubte man in einem anderen Dokument den Handel mit Holz, Metall und Waffen auf den Märkten von Alexandria. Mit dem Dogen Pietro II. Orseolo (991-1008), dem Eroberer von Istrien und Dalmatien, veränderten sich Wirtschaft und Handel von Grund auf. Mit ihm wurden die Handelskontakte mit Konstantinopel (ersichtlich aus der berühmten kaiserlichen Urkunde aus dem Jahr 992) und mit dem Fatimidenkalifen von Kairo neu definiert. Wir wissen wenig von den Vereinbarungen mit Ägypten, aber schon damals unterhielt Ägypten mit Venedig freundschaftliche Beziehungen, die auch in den nachfolgenden Jahrhunderten unerschütterlich blieben und den Schock der Kreuzzüge, die Niederschlagung des Fatimidenkalifats im 12. Jahrhundert und den Handstreich der Mamluken im 13. Jahrhundert unbeschadet überstanden. Schriftliche Quellen (und wir denken dabei besonders an die wichtigen Zeugnisse in der Geniza von Kairo) zum Handel zwischen der muslimischen und der «fränkischen» Welt im 9. und 10. Jahrhundert sind selten und nur indirekt zu erschließen, doch viele Zweifel werden durch die ebenso erstaunlichen wie zahlreichen Funde der Unterwasserarchäologen (Schiffsrümpfe und Keramiken)
beseitigt, die einen regen Warenverkehr im nördlichen Tyrrhenischen Meer zwischen dem 9. und dem 10. Jahrhundert bestätigen. Die Bedeutung des arabischen Handels im Mittelmeer wird auch durch die große Verbreitung muslimischer Münzen belegt, die sehr bald mehr und mehr den byzantinischen denarius, den berühmten «Hyperperon» oder «Byzantiner», ersetzten. Ähnlich wie der denarius hatte der arabische dinar, von dem wir arabisch-sizilianische Prägungen gut kennen, ein Gewicht von 4,25 Gramm Gold. Noch größere Verbreitung fand jedoch der Vierteldinar oder ruba’i, der unter dem Namen tan («frisch», das heißt frisch geprägt) in Sizilien und auf der süditalienischen Halbinsel rasch Umlauf fand und bis in die neueste Zeit als Bezeichnung für «Münze» üblich blieb. Zu den Silbermünzen zählten insbesondere der dirham (dessen Wortwurzel, über das Persische vermittelt, auf «Drachme» zurückgeht) mit einem Gewicht von 2,90 Gramm, und die kleine kharruba mit einem Gewicht von 0,2 Gramm. Die tan waren derart begehrt und verbreitet, daß die Amalfitaner und Salernitaner im 10. Jahrhundert Imitationen herstellten, die sich durch ihre sogenannten pseudokufischen Schriftzeichen unterschieden; sie ahmten die Buchstaben des arabisches Alphabets nach, aber ohne Sinn und Verstand. Auch in der Rus zirkulierte arabisches Geld – weniger Goldmünzen (die man wahrscheinlich behutsam sammelte, nicht zuletzt deshalb, weil in jener Region Edelmetalle seit jeher knapp waren), dafür viele Silbermünzen. «Die altrussische nogata entsprach dem arabischen dirham und leitete ihren Namen vom arabischen Wort nagd ab, was soviel heißt wie ‹gutes Geld») (F. Kämpfer, Russi e slavi occidentali, in: Storia d’Europa, Bd. III, Il medioevo, hg. von G. Ortalli, Turin 1995, S. 620).
Krise und Umgestaltung des Islam.
Der Orient
Für die Geschichte des Mittelmeerraumes im 8.-11. Jahrhundert ist die Aufeinanderfolge von Handelsbeziehungen und kriegerischen Auseinandersetzungen kennzeichnend, und nicht immer kann man klar und deutlich das eine vom anderen unterscheiden. Zweifellos jedoch haben sich die im 7. Jahrhundert mit der Ausbreitung des Islam im Mittelmeerraum entstandenen Verhältnisse nicht allmählich, sondern diskontinuierlich und mit immer neuen Rückschlägen verändert, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Eine oberflächliche (aber oft auch substantielle) Kongruenz zufälliger Ereignisse, die den institutionellen und strukturellen Krisen innerhalb des Islam entsprangen, ließ die muslimische Offensive beinahe überall im westlichen Mittelmeer und im angrenzenden Hinterland ins Stocken oder ganz zum Stillstand kommen. Aus vielfältigen und voneinander unabhängigen Gründen trifft dies besonders auf den Zeitraum zwischen Ende des 10. und dem ersten Drittel des 11. Jahrhunderts zu. Mit dem Entstehen zweier konkurrierender Kalifate wurde die Autorität des abbasidischen Kalifats in Bagdad geschwächt: Im Jahr 929 gründeten die sunnitischen Umayyaden in Cordoba ein Kalifat, und im Jahr 910 entstand das schiitisch-ismailitische Kalifat der Fatimiden bei den Berbern im östlichen Algerien, das seinen Sitz jedoch in der 969 gegründeten Stadt Kairo nahm. Der ägyptischen Stadt war eine große Zukunft beschieden. Am Nil gelegen, war sie ein Umschlagplatz für Waren aus dem Jemen, aus Sansibar und Äthiopien, aber auch für wertvolle Gewürze aus Indien und China. Sie wurden nach Aydhab am Roten Meer gebracht und
von dort aus mit Kamelen durch einen kurzen Wüstenabschnitt nilabwärts zu den Häfen im Delta weitertransportiert. In die ägyptische Metropole floß außerdem das Gold aus den Minen Nubiens (die allmählich erschöpft waren) und des Sudan. Es wurde von Beauftragten der Könige von Ghana geliefert, die neben dem wertvollen gelben Metall auch noch das weiße Gold (Elfenbein) und das schwarze Gold (die afrikanischen Sklaven) mitführten. Der Aufstieg Ägyptens zur neuen politischen Macht, die sich vom abbasidischen Kalifen unabhängig gemacht hatte und in Wettstreit, wenn nicht sogar in offener Feindschaft mit ihm lag, war nur ein Aspekt (und in gewisser Weise eines der Symptome) des Niedergangs des abassidischen Kalifats, dem zusätzlich die unaufhörlichen Rebellionen der kharidschitischen und karmatischen «Sekten» zu schaffen machten. Dadurch wurden die Kalifen immer öfter gezwungen, sich unter den Schutz türkischer Söldnerheere zu stellen, die aus Zentralasien gekommen waren, sich im Verlauf des Jahrhunderts islamisiert hatten und ins Innere des Landes eingedrungen waren (nicht zuletzt mit der Hilfe der persischen Samaniden-Dynastie, die mit der Aufgabe betraut war, den Herrschaftsanspruch auch im nordöstlichen Teil des Abbasidenreiches durchzusetzen). Ende des 10. Jahrhunderts hatte sich der türkische Khan Alp-Tegin die Schwäche der Samaniden zunutze gemacht, Ghazna im heutigen Afghanistan erobert und einen Hof gegründet, an dem auch der Wissenschaftler al-Biruni und der Dichter Firdausi lebten. 999 eroberten die karahanidischen Türken die Stadt Buchara und gründeten dort eine neue Dynastie. Die persischen Fürsten und Gouverneure wurden abgesetzt. Auch die Kalifen mußten sich den türkischen Eroberern fügen, die sich zum sunnitischen Islam bekannten und als Neophyten äußerst kompromißlos waren. Innerhalb der Türken drängte schon bald der Stammesverband der Oghuz an die Spitze. Diese Nomaden
hatten sich Mitte des 10. Jahrhunderts an den Weideplatzen nördlich des Kaspischen Meeres und des Aralsees angesiedelt und wurden unter dem Namen ihres halblegendären Stammesoberhauptes Seldschuk als «Seldschuken» bekannt. Um 1040 fegten die seldschukischen Türken die samanidischen Perser hinweg, mit denen sie anfangs gute Beziehungen pflegten, und setzten sich an deren Stelle, indem sie ein von Khorasan bis nach Zentralpersien ausgreifendes «Reich» gründeten. Ein religiöser Umstand – die Tatsache, daß zu jener Zeit der Kalif von Bagdad von einer Dynastie von «Palastherren» schiitischen Glaubens, den Buyiden, als Geisel gehalten wurde – lieferte dem seldschukischen Khan Tughrul Beg dann den Vorwand, im Jahr 1055 in die Hauptstadt einzumarschieren, die türkische Okkupation als «sunnitische Befreiung» hinzustellen und den Kalifen zu zwingen, sich unter seinen Schutz zu stellen. Zum Sultan proklamiert, dem damit das Privileg des Kalifats übertragen war, verkündete der Seldschukenflirst feierlich sein ehrgeiziges Programm der Kriegsführung: Er wollte nicht nur die Abbasiden aus ihrer Krise herausführen, sondern den triumphalen Siegeszug des Islam fortsetzen, der dreihundert Jahre zuvor in Asien zum Stillstand und (wie wir gesehen haben und bald noch deutlicher sehen werden) seit knapp einem Jahrhundert im Mittelmeerraum ins Stocken gekommen war. Inzwischen begannen die «Franken» im Westen bereits mit der Rückeroberung. Die Seldschuken waren entschlossen, den sunnitischen Islam weiter auszubreiten und dessen Eroberungen im Westen noch zu vergrößern. Die ersten, die sich ihnen dabei entgegenstellten, waren die Byzantiner und die schiitischen Kalifen von Ägypten. Gegenüber ihren ägyptischen Konkurrenten im Kampf um die Macht in Syrien und Palästina übten die Türken eiserne
Gewalt aus. Erst die bewaffnete Pilgerfahrt 1096-1099, die wir als «ersten Kreuzzug» zu bezeichnen pflegen, ließ die Feindseligkeiten zwischen Abbasiden und Seldschuken auf der einen und Fatimiden auf der anderen Seite in den Hintergrund treten. Allerdings komplizierte sich die Situation durch die Rivalität zwischen Türken und Arabern. Als die Kreuzritter an der Nordgrenze Syriens auftauchten, schickte ihnen der fatimidische Kalif von Kairo Gesandte, die nach Möglichkeiten suchen sollten, mit den «Franken» ein Bündnis zu schließen oder sie zumindest gegen die Türken zu benutzen. Im Jahr 1071 hatte der neue Sultan Alp Arslan (1063-1072) in Manzikert (heute Malazgirt) am Oberlauf des Euphrat unweit des Van-Sees gegen Byzanz einen großen Sieg errungen. Dieser Sieg führte wenige Jahre später zur Gründung des «Sultanats Rum» mit der Hauptstadt Ikonion (dem heutigen Konya) und damit zur Beherrschung ganz Mittelanatoliens durch die Seldschuken. Mit dem Begriff Rum («Rom») bezeichnete die arabischsprachige und damit islamische Welt das gesamte Territorium, das wir unzutreffend Byzantinisches Reich nennen. Anatolien war also Rum. Jetzt waren die neuen muslimischen Eroberer nur durch die Euxineischen Berge im Norden und das Taurusgebirge im Süden von den Küsten des Schwarzen Meeres bzw. dem Golf von Antalya und dem Golf von Alexandrette im Mittelmeer getrennt, der noch von Byzanz kontrolliert wurde. Aber in der Hauptstadt am Bosporus zitterte man wie seit der Belagerung von 717/718 nicht mehr. Der neue Basileus Alexios I. Komnenos (1081-1118) sah sich bald nach seiner Thronbesteigung gleich drei Angriffswellen der Barbaren gegenüber: Im Westen stießen die Normannen unter Robert Guiscard entlang der epirotischen Küste vor; mit päpstlicher Unterstützung festigte Robert Guiscard seine Herrschaft in Süditalien, während sein Bruder Roger bereits den Feldzug zur
Eroberung Siziliens unternahm. Im Norden hatte das uralaltaische Volk der Petschenegen, später unter dem Namen Kumanen bekannt (die polovzi in den russischen Quellen), den Balkan plündernd durchzogen. Sie waren im Jahr 1090 bis fast vor die Tore Konstantinopels gelangt und nur mit Mühe zurückgeschlagen worden. Im Osten teilten die Türken Zentral- und Ostanatolien untereinander auf – ein Zankapfel zwischen den Seldschuken von Ikonion und den Danischmendiden von Melitene (dem heutigen Malatya). Die massenhafte Bekehrung von Stämmen turkomongolischer Herkunft zwischen dem 9. und dem 10. Jahrhundert, die das Herrschaftsgebiet des dar al-Islam in Zentralasien vergrößerte, hätte die Religionsgeschichte des eurasischen Großkontinents und die Beziehungen zwischen Europa und dem Islam verändern können, wäre die Gelegenheit ergriffen worden, auch die unruhigen indoeuropäischen und turkomongolischen Völker zu bekehren. Die besondere Struktur der muslimischen umma, das Nichtvorhandensein kirchlicher Institutionen und Ämter (die auch im Judentum fehlen) war einer der Gründe für diese verpaßte Gelegenheit. Andere, den Seldschuken und den Karahaniden nahestehende Ethnien waren wahrscheinlich bereit, den islamischen Glauben anzunehmen. Doch erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, nach dem Eroberungssturm der Truppen Dschingis Khans, gelangte der Islam in diese Regionen. Bereits seit Anfang des 10. Jahrhunderts scheint der Islam in einigen Regionen Zentralasiens auf dem Wege des Handels Fuß gefaßt zu haben. Auf diese Weise wurden die Bulgaren von magna Bulgaria in der großen Wolgaschleife sowie die Chasaren islamisiert, deren herrschende Schicht zuvor schon den jüdischen Glauben angenommen hatte. Die Chronik des Mönchs Nestor aus dem 12. Jahrhundert berichtet, daß im Jahr 986 die muslimischen
Bulgaren bei dem noch heidnischen Vladimir, dem Fürst von Kiew, vorstellig wurden und ihm den Übertritt zum Islam anboten. Doch der Fürst lehnte ab, da ihm die Beschneidung und das Verbot, Wein zu trinken und Schweinefleisch zu essen, nicht behagten. Vladimir (der später den Beinamen «der Große» erhielt) entschied sich zwei Jahre später für das griechische Christentum, das ihm die Byzantiner antrugen. Die Motive für diese Entscheidung mögen plump erscheinen; vielleicht auch ist die Darstellungsweise des Chronisten naiv. Aber ungeachtet seines verkürzten Blicks und der mangelnden Weitsicht seiner Leserschaft, an die die Chronik gerichtet war: «Was wären die Folgen für die Geschichte Europas gewesen, wenn die Rus sich zum Islam bekehrt hätte? Das christliche Europa wäre in einem Zangengriff gefangen gewesen: Im Mittelmeer hätten die slawischen Waräger mit ihren Schiffen nicht auf der Seite der Griechen, sondern auf der Seite der Araber gekämpft. Der Islam hätte im Osten Europas ein Bollwerk errichtet und sich möglicherweise noch vor der Ankunft der christlichen Missionare in Skandinavien ausgebreitet!» (F. Kämpfer, Russi e slavi occidentali, in: Storia d’Europa, Bd. III, Il medioevo, hg. von G. Ortalli, Turin 1995, S. 609) Das ist ein weiterer Beweis dafür, daß man die Geschichte im Konditional nicht nur denken kann, sondern muß, mit allem Wenn und Aber. Denn nur so lassen sich die realen Ereignisse in ihrer ganzen Tragweite ermessen. Und nur auf diese Weise lassen sich mögliche Alternativen erwägen, die sich aus dem Wechselspiel zwischen dem Willen des einzelnen und ganzer Gruppen, den historischen Bedingungen und ihrem Umfeld hätten ergeben können.
Krise und Umgestaltung des Islam.
Der Okzident
In Spanien hatte der Emir Abd ar-Rahman III. (912 – 961), der die neoumayyadische Dynastie von Cordoba zu höchstem Glanz geführt und im Jahr 929 die Kalifatswürde für sich in Anspruch genommen hatte, seine Macht auch auf einen Teil des westlichen Maghreb ausgedehnt. Die Stadt Cordoba zählte zu jener Zeit etwa 300000 Einwohner. Die eindrucksvollen Ruinen der Residenzstadt Medinat az-Zahra, der «Stadt der Blumen», bezeugen bis heute diesen Glanz. Sie erstrahlte förmlich von Marmor, Kristall und Mosaiken, für die man die besten byzantinischen Handwerker verpflichtet hatte. Die Legende spricht sogar von einem Brunnen aus «lebendigem Silber», also Quecksilber, in einem Salon aus reflektierendem Gold, der die Besucher mit seinen Funken und Lichtkaskaden in Erstaunen versetzt haben soll. Araber und Berber hatten sich nie miteinander vermischt. Die stolze Aristokratie jener, die sich als die alleinigen Nachkommen des Propheten betrachteten, verachteten die afrikanischen Parvenüs. Allerdings kam es schon früh zu einer bescheidenen, aber fortschreitenden Integration zwischen Arabern und Berbern auf der einen und den Nachkommen der Keltiberer, Iberolateiner und Gotosweben auf der anderen Seite. Das unterscheidende Kriterium bestand einzig und allein in der Zugehörigkeit zu einer der folgenden Gruppen: den muslimischen Nachkommen der Eroberer, den zu unterschiedlichen Zeiten zum Islam übergetretenen Einheimischen (die muwalladun) und den Christen, die ihrer Religion treu geblieben waren, sich aber in Sprache und Lebensweise den Arabern angepaßt, sich also arabisiert hatten, oft aber noch das Lateinische oder vielmehr das daraus
hervorgegangene Vulgäridiom beherrschten. Sie hießen musta’riba und sind im Westen besser bekannt unter dem Namen Mozaraber, der durch das Spanische vermittelt ist. Die Umayyaden hatten der spanisch-muslimischen Welt zunächst die Grundzüge der großen syrischen Kultur übermittelt, von der sie selbst geprägt waren. Im Lauf der Zeit jedoch zeigte sich, wie attraktiv die abbasidische Kultur war, die die Höfe des maghrebinischen Islam ausstrahlten. Dieser unverfälschte geistige Reichtum hatte auch die christlichen dhimmi fasziniert. Bereits im 9. Jahrhundert klagte Alvaro von Cordoba, daß die christlichen Gelehrten ihre Zeit damit vergeudeten, die arabischen Buchstaben nachzuahmen, und darüber die Heilige Schrift und die Werke der Kirchenväter vernachlässigten. Die Beziehungen zwischen den Kalifen von Cordoba und den «Franken» nördlich der Pyrenäen waren aufs Ganze gesehen gut. Im Jahr 953 war Johannes, der Abt von Gorze, ein Abgesandter des deutschen Königs Otto, vom islamischen Herrscher empfangen worden. Er bat den Kalifen um Hilfe gegen die Sarazenen, die am Rand der Alpen ihre «Schlupfwinkel» errichtet hatten. Der Kalif entsandte seinerseits den mozarabischen Bischof Recemond von Elvira zu Otto, der inzwischen Kaiser geworden war. Diesem Recemond hatte Liutprand, der Bischof von Cremona, sein Werk Antapodosis gewidmet. Die Nachfolger Abd ar-Rahmans III. im Amt des Kalifen hatten nicht das Format ihres Vorgängers. In gutem Andenken steht dennoch Hakam II. (961 – 976), der die Stadt Cordoba verschönerte und vergrößerte und das – politisch gesehen zweifelhafte – Glück hatte, über einen Wesir zu verfügen, der so energisch auftrat, als wolle er dessen Stelle einnehmen: Muhammad ibn Abi ‘Amir, der seiner Taten wegen al-Mansur, der «Sieger» (oder in den spanischen Chroniken und in der
spanischen Ependichtung «Almanzor»), genannt wurde. Reinsten arabischen Ursprungs, war der wazir zwischen 978 und 1008 dreißig Jahre lang der eigentliche Herr über Spanien und Marokko. Er machte das christliche Königreich Leon zum Vasallen des Kalifen von Cordoba und griff 997 die Wallfahrtskirche Santiago de Compostela an. Doch nach seinem Tod brachen im Herrscherhaus dynastische Streitigkeiten aus, durch die das ganze muslimische Spanien in mehr als ein Dutzend Emirate aufgespaltet wurde, die sich untereinander bekämpften und in der spanischen Tradition als reinos de taifas (Reiche der Parteiungen oder Teilfürstentümer) bekannt geworden sind. Doch die Fürstenhöfe pflegten weiterhin – wenn auch vielleicht auf niedrigerem Niveau – das Mäzenatentum der Kalifen. Die Westeuropäer ignorierten den Islam östlich von Jerusalem ganz oder teilweise mindestens bis ins 12. Jahrhundert hinein. Im Jahr 906 schrieb Bertha, Gräfin der Toskana, an alMuktafi, den Kalifen von Bagdad, daß sie erst vor kurzem und zufällig (von Gefangenen auf Schiffen aus Ifriqiya) von der Existenz einer muslimischen Dynastie erfahren habe, die mächtiger sei als der aghlabitische Emir von Kairuan. Mit diesem pflegte sie gute Beziehungen, die allerdings den Korsarenkrieg nicht ausschlossen. Umgekehrt wurden für die Westeuropäer die Könige der Teilfürstentümer (reyes de taifas) zunehmend wichtiger. Einer dieser Teilkönige war Mudschahid, der Emir von Denia, der in den ersten Jahren des 11. Jahrhunderts einen umfangreichen und in sich stimmigen politischen Plan schmiedete (und auch beinahe ausgeführt hätte), der ihm die Herrschaft über die Balearen, Korsika und Sardinien sichern sollte und praktisch das ganze nordwestliche Mittelmeer von Valencia bis zum Tyrrhenischen Meer einbezog. Mudschahid hatte bis 1010
seine Macht erweitert, indem er die Krise des Kalifats ausgenutzt hatte und mit Unterstützung von Flottenführern die Balearen kontrollierte. Seine machtpolitischen Ambitionen reichten bis nach Sardinien und zum Tyrrhenischen Meer. Gegen diese Bedrohung verbündeten sich, ermuntert von Papst Benedikt VIII. die Seestädte Genua und Pisa, die in den Jahren zuvor immer wieder von den Sarazenen angegriffen worden waren. Zwischen 1015 und 1021 gelang es ihnen, in einem langen und schwierigen Kampf den Gegner zu besiegen. Die militärische Unternehmung der Pisaner und Genuesen gegen Mudschahid war die erste große Gelegenheit, bei der sich christliche Streitmächte gegen einen gemeinsamen muslimischen Feind verbündeten. Dies hatte implizit wie explizit auch eine religiöse Dimension, wie sich etwa an den im gleichen Jahrhundert im Kloster Cluny aufgeworfenen kirchenpolitischen und religiösen Fragen zeigen sollte. Seit konstantinischer Zeit berief sich die Christenheit auf religiöse Motive, Faktoren, Komponenten und Symbole, um ihre militärischen Unternehmungen zu begründen und zu rechtfertigen, ja zu sakralisieren. Begriffe wie «heilige Truppen» und «heiliger Krieg» waren in Byzanz gebräuchlich, denn alles, was mit der Autorität des Kaisers in Verbindung stand, wurde als heilig betrachtet. Der Kampf gegen die Heiden zur Verbreitung der christlichen Botschaft und des christlichen Glaubens fand auf diese Weise leicht Eingang in die militärische Rhetorik und Symbolik. Die byzantinische Kirche hatte sich aber stets gehütet, Waffen und Kriege zu segnen. Anders in der lateinischen Kirche, wo man sich gedrängt fühlte, jene alten militärischen Traditionen zu akzeptieren (teils zu neutralisieren und teils auszulöschen), die mythisch-religiös verbrämt waren und die die germanischen Völker nur widerstrebend aufgaben. Insbesondere seit der Karolingerzeit hatte die enger und enger werdende Verbindung
zwischen dem hohen Klerus und der politischen Machtausübung zu einer wachsenden Instrumentalisierung von Wertvorstellungen und Gebräuchen geführt. Dies zeigt sich an dem römischdeutschen liturgischen Zeremoniell der Segnung der Waffen und der novi milites, dem Kern ritterlicher Ethik und ritterlichen Handelns. Auf diese Weise konnte ein Krieg gegen die muslimischen Völker leicht auch religiös umgedeutet werden: als eine Art Gottesurteil, bei dem die beiden Religionen ihre Kräfte maßen und bewiesen, welche die stärkere und damit die bessere war. Eine solche Mentalität war allerdings, besonders zu Anfang, nurmehr implizit vorhanden und mehr unter den Laien als unter den Klerikern verbreitet, die sie zwar duldeten, aber nur in seltenen Fällen offen unterstützten. Angefangen mit den Arbeitsgeräten, wurde alles gesegnet. Es gab keinen Bereich des menschlichen Handelns, der nicht in ein vom Sakralen durchdrungenes Universum eingebettet war. Das Zeremoniell der Segnung von Fahnen und Waffen sowie eine mit dem 7. Jahrhundert beginnende Tradition, nicht nur Leben, Hab und Gut pflichtgemäß zu verteidigen, sondern auch Kirchen und Reliquien gegen muslimische Angriffe zu schützen, förderte die Sicht eines solchen Krieges als «gerecht», ja als «heilig». Trotzdem waren «Ismailiten», «Hagarener» oder «Sarazenen» nicht eigentlich ethnische und noch weniger genealogisch definierte Begriffe. Denn sie bezogen sich auf die biblische Geschichte des Geschlechts des Patriarchen Abraham. Mit anderen Worten: Nie wurde der Gegner durch Namen charakterisiert, die negativ die Tatsache hervorhoben, daß dieser Feind ein Nichtchrist war, also denken ließen, man wolle das Motiv zum Kampf aus religiösen Differenzen ableiten. Wenn ein Text aus der Mitte des 8. Jahrhunderts, die Vita des heiligen Eucherius von Orleans, von der Verderbtheit des «unseligen Volks der Ismailiten» spricht,
das «seine Heimat verlassen hat, um in die Provinz Aquitanien vorzudringen und sie zu entvölkern», spielt er in keiner Weise auf den Glauben der Söhne Ismails an. Er betont lediglich deren Grausamkeit, ähnlich wie lateinische Quellen jahrhundertelang von der Grausamkeit der «Barbaren» berichteten. Doch im Laufe des 9. Jahrhunderts ließen die römischen Päpste, unmittelbar bedroht von muslimischen Korsaren, alte Gepflogenheiten Wiederaufleben, wenn auch nur episodenhaft: zum Beispiel Gregor II. der Tücher vom päpstlichen Altar in Rom an den Herzog von Aquitanien schickte, der 721 vor Toulouse gegen die Araber kämpfte; oder Hadrian I. der im Jahr 778 Karl den Großen zu einem Feldzug nach Spanien ermunterte. Doch es wäre allzu gewagt, in der Geste etwa Gregors II. eine Aufforderung zum «heiligen Krieg» zu sehen. Für die fränkischen Soldaten, die diese Tücher zerrissen und kleine Fetzen davon hinunterschluckten, war es ein Akt der religiösen Verehrung hart an der Grenze zum magischen Ritual. Sie hatten aber keineswegs das Bewußtsein, der Kampf gegen die Ungläubigen an sich sei eine im religiösen Sinn verdienstvolle Aktion. Anders im Fall Leos IV, der nach dem Angriff der Sarazenen auf Rom im Jahr 846 all jenen das ewige Leben versprach, die sich für die Verteidigung des Glaubens und der Kirche opferten. Ähnliche Akzente setzten Nikolaus I. (856-867) und Johannes VIII. (872-882). Die Christen Westeuropas wurden in jenen Jahren auch durch Nachrichten erschüttert, die aus einem ihnen wohlvertrauten islamischen Territorium kamen: aus Spanien. Man hatte die Ereignisse um die «Märtyrer von Cordoba» verfolgt, die von jenem Eulogius angeführt wurden, der 848 ausführlich durch das christliche Spanien gereist war, die antiislamischen polemischen Schriften gelesen hatte und dann durch einen Teil Europas zog, um (offenbar Handel treibende) Angehörige
seiner auf dem Kontinent verstreut lebenden Familie zu suchen. Die Geschichte des heiligen Eulogius gibt beredtes Zeugnis dafür, daß Beziehungen und ein Austausch zwischen Europa und dem Islam weitaus gängiger waren und häufiger stattfanden, als man gemeinhin glaubt, wenngleich sie unter Schwierigkeiten abliefen. Um 850 setzten sich rund fünfzig Männer und Frauen in Cordoba über das Verbot hinweg, gegen das Gesetz des Propheten zu predigen, und wurden gemartert. Offenbar stand hinter dieser Provokation weniger ein Sendungsbewußtsein als vielmehr ein starkes Endzeitgefühl: Ist das Evangelium allen Völkern verkündet, so sei der Tag des Jüngsten Gerichts gekommen. Im Jahr 858 gelangten zwei Benediktinermönche aus Saint-Germain, die auf der Suche nach Reliquien des heiligen Vinzenz Spanien bereisten, nach Cordoba und brachten von dort die Leichname dreier Märtyrer mit. Dieser Umstand beeindruckte den Westen und sollte lange Zeit ein Paradigma bleiben – bis hin zu den Franziskanern vierhundert Jahre später. Bis heute wird darüber debattiert, ob und in welchem Maß die Verlautbarungen der Päpste in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts und die «Märtyrer von Cordoba» den Kreuzzugsgedanken oder – noch weiter gegriffen – den Gedanken eines «heiligen Kriegs» überhaupt prägten. Die tunesischen Aghlabiten-Emire, die offenbar von einem byzantinischen Beamten gegen eine feindliche Koalition nach Sizilien gerufen worden waren, brauchten über siebzig Jahre, um die Insel vollständig in ihre Gewalt zu bringen: eine lange Zeit, verglichen mit dem Eroberungssturm, der fast über die ganze Iberische Halbinsel hinwegfegte und sie in kürzester Zeit zu einem großteils islamisierten Subkontinent machte. Dann, nach der Kapitulation Taorminas im Jahr 902, blieb die Insel nahezu zweihundert Jahre lang ein wichtiger Teil des dar al-Islam. Zwar verschwanden die auf den Status von dhmmi
zurückgestuften Christen nicht einfach von der Bildfläche, aber die Arabisierung und Berberisierung brachte ethnisch und sprachlich tiefgreifende Veränderungen. Das ethnische Substrat Siziliens war hochkomplex: Die Insel war bewohnt von «pelasgischen» Präindoeuropäern, Puniern, Hellenen, Lateinern und griechischen Byzantinern, doch der starke arabisch-berberische Einfluß hinterließ im sizilianischen Idiom tiefe Spuren – besonders in der Sprache der Landwirtschaft, der Bewässerungstechnik und der Bodenbewirtschaftung. Die aus den trockeneren muslimischen Regionen kommenden Reisenden staunten über den Wasserreichtum und über die Wälder Siziliens, die das Holz für die Flotten der islamischen Welt lieferten. Im 10. Jahrhundert schrieb Ibn Hauqal in aller Ausführlichkeit über die Insel, die er im Vergleich zum maghrebinischen Islam als Randzone ansah. Palermo, das er im Jahr 973 besuchte, war eine der größten Städte des westlichen Mittelmeerraumes und besaß zahlreiche schöne Kultgebäude und Paläste, erfrischende Brunnen und viele Märkte. Doch von diesem Glanz ist wenig geblieben: kaum mehr als die inzwischen zerstörten Bäder von Cefalü. Doch kulturell und künstlerisch gesehen, florierte das muslimische Sizilien auch im normannischen 12. Jahrhundert. Und die Zisa, die Cuba und die Cappella Palatina erzählen von einer hohen Lebensqualität und einer großen Lebensfreude, wie wir sie auch in den Palästen, Gärten, Bewässerungsanlagen, Moscheen und Medresen Spaniens und des Maghrebs erahnen können. Auch die Zeugnisse aus normannischer Zeit sprechen von einem regen Geistesleben. Auf der Insel wurden theologische, philologische und grammatische Studien betrieben. Sizilien war ein Mittelpunkt des literarischen Lebens und der literarischen Produktion. Dies bezeugen die leider verlorengegangene Anthologie von Ibn al-Qattah und die Verse des Dichters Ibn Hamdis. Ibn Hamdis wurde mehrmals
in die Verbannung geschickt, floh vor der normannischen Eroberung in das von den Almoraviden besetzte Andalusien und starb im Jahr 113 3 in Mallorca oder in Bujjah. Unter dem Himmel Andalusiens beklagte er den Verlust seiner Heimat Sizilien, ähnlich wie vierhundert Jahre später die aus Andalusien in den Maghreb vertriebenen Muslime. Die arabische Dichtung Siziliens ist in der großen Tradition von alAndalus «klassisch» geprägt, steht aber auch der sizilianischen Volksdichtung nahe, die in der Stauferzeit gleichsam aus dem Nichts zur Reife gelangte. Nach dem Ende der Herrschaft des Emirs al-Akhal (1019 – 1036) und dem Ende des Emirats, das die Insel geeint hatte, kam es in Sizilien (wie schon in Spanien unter dem Kalifat von Cordoba) zu einer Zersplitterung der Macht, was den normannischen Eroberern den Weg bereitete. Doch die kleinen lokalen Fürstenhöfe und die reyes de taifas konnten die glanzvolle Tradition und die kulturelle Finesse, die den Hof von Palermo geprägt hatten, noch lange bewahren.
3
Die Antwort Europas. «Reconquista» und Seeschlachten
Der Pilgerweg nach Santiago Die spanischen Mozaraber hatten sich zwar arabisiert und in die muslimische Herrschaft gefügt, dennoch hielt sich ihre Begeisterung für die neuen, wenngleich duldsamen Herren in Grenzen. Viele flüchteten in den Norden, in den nördlich des Ebro gelegenen Teil der Iberischen Halbinsel oder an die kalte und regnerische kantabrische Kordillere Richtung Asturien und Navarra. Hier entstand die typisch mozarabische Architektur mit ihren hufeisenförmigen Bögen, die an islamische Formen erinnern, vielleicht aber auch nach westgotischen Vorbildern entstanden, sowie die Buchmalerei zur Offenbarung mit ihrer intensiven Farbgebung und visionären Darstellungsweise, die Beatus von Liebana bekannt gemacht hat. Der mozarabische Klerus dagegen war eher zu einem Zusammenleben mit den Muslimen bereit. Eliprant hatte Ende des 8. Jahrhunderts die adoptianistische Lehre übernommen, derzufolge Christus nur «Adoptivsohn» Gottes ist, also ein zu Gott erhobener Mensch, und es daher nur eine einzige göttliche Person gibt. Eliprants Wahl zum Erzbischof von Toledo war daher wohl ein Zugeständnis an den strengen islamischen Monotheismus. Im Gegenzug entwickelte sich am nördlichen Rand der Iberischen Halbinsel, der von der muslimischen Eroberung verschont geblieben war, ein stark trinitaristisch
geprägtes Christentum, in dem man durchaus einen Widerstand gegen den Islam sehen kann. Das im Jahr 720 von dem Goten Pelagius um die Hauptstadt Oviedo gegründete Reich hielt an einem christlichen Glauben fest, der stark mit der iberischen Identität verknüpft war. In diesen Zusammenhang muß man die inventio eines Leichnams Anfang des 9. Jahrhunderts im galizischen Compostela stellen, in dem man – anfangs nicht ohne starken Widerstand – den des Apostels Jakobus sah. Der Leichnam soll auf wunderbare Weise entlang der nordwestlichen Küste Spaniens auf dem Meer herangebracht worden sein. Der Überlieferung zufolge gilt der Apostel Jakobus als der Missionar der Iberischen Halbinsel. Dieser Reliquienfund verlieh der Kirche des Königreichs Asturien eine patriarchale Würde (da von einem Apostel «gegründet») und eine herausragende Stellung, die mit dem Gewicht der anderen großen christlichen Kirchen durchaus in Konkurrenz treten konnte: mit Rom, Alexandria, Antiochia und Konstantinopel. (Mit der translatio der Reliquien des Evangelisten Markus aus Alexandria wollten die Venezianer ihrer Kirche ein ähnliches Ansehen verleihen.) Die asturische Monarchie förderte den Kult «Santiagos» (eine neulateinische Kontraktion aus sanctus Jacopus) mit allen Kräften, stellte er doch die Kontinuität mit dem westgotischen Königtum her, das von der arabisch-berberischen Invasion hinweggefegt worden war. Teil dieses «Programms» war eine intensive Siedlungspolitik im Duero-Tal (mit Neugründungen von Städten wie Burgos, das um die Mitte des 10. Jahrhunderts zu einer Grafschaft wurde) sowie die Förderung alter Kulturstätten, die entvölkert waren. All dies verdankte sich – nicht zuletzt im Zuge der allgemeinen Verbesserung der klimatischen Verhältnisse – einem überall in Europa einsetzenden Prozeß des demographischen Wachstums. Das größte Bevölkerungswachstum war zwischen dem 10. und dem
12. Jahrhundert zu verzeichnen, bevor in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine Phase der Stagnation einsetzte. Alfons III. der Große (866-910) verlegte die Hauptstadt Asturiens von Oviedo in die aus römischer Zeit stammende Stadt Leon, die dem Königreich seinen neuen Namen gab. Er war bestrebt, die Grenzen seines Herrschaftsgebiets weiter nach Süden auszudehnen und auch die Hochebene der meseta zu besiedeln. Ein weitreichender Angriffsschlag gegen die Sarazenen war zwar nicht möglich, aber immer wieder kam es zu blitzartigen Raubzügen (aceifas). Ähnlich verlief die Entwicklung in Navarra, das im Jahr 926 Königreich wurde und sich später mit Kastilien verband; ebenso in Aragon, seit dem Jahr 1035 Königreich, als nach dem Tod Sancho III. von Navarra Kastilier, Aragonesen und Navarrer endgültig auseinanderstrebten; und schließlich in der katalanischen Grafschaft Barcelona, die aus der karolingischen Spanischen Mark hervorgegangen war. Ende des 10. Jahrhunderts entstand entlang des Flußlaufs des Duero zwischen Muslimen und Christen eine feste Grenze. Am nordöstlichen Rand dieser Grenze versuchten die Katalanen, die zwischen 985 und 1003 immer wieder Angriffe der Mauren in Barcelona zurückgeschlagen hatten, ihr Herrschaftsgebiet zumindest bis Tarragona auszudehnen, das auf halbem Weg zwischen ihrer Hauptstadt und der muslimischen Stadt Tortosa an der Mündung des Ebro lag. Al-Mansur, der Minister Hishams II. war sich bewußt, daß die Angriffe aus dem Norden abgewehrt werden mußten, um dem Kalifat eine gewisse Stabilität zu garantieren. Er reagierte mit einer harten Gegenoffensive, die 996/997 in dem Angriff auf die Stadt Compostela gipfelte, die geplündert und teilweise zerstört wurde, wenn auch die Reliquien des Apostels Jakobus keinen Schaden nahmen.
Es war nicht einfach nur ein mißglückter Angriff. Es war eine demonstrative Geste von großem symbolischen Wert, die jedoch eine vollkommen unvorhergesehene Wirkung hatte. Der wazir hatte die Bedeutung eines neuartigen Phänomens erkannt, das sich in jenen Jahren herauszubilden begann. Jahr für Jahr strömten von jenseits der Pyrenäen immer mehr Pilger an das Grab des Apostels in Compostela, dem wundertätige Wirkung nachgesagt wurde. Was al-Mansur nicht verstehen konnte, war, wie sehr dieser Kult in ganz Europa inzwischen hatte Wurzeln schlagen können. Die Nachricht von der Schändung des Wallfahrtsortes verbreitete keineswegs Angst und Bestürzung oder ließ Compostela in Vergessenheit geraten, sondern rief Entrüstung und religiösen Eifer hervor. Die Schändung des Apostelgrabes war jetzt eine Angelegenheit, die die gesamte Christenheit betraf. Compostela war plötzlich nicht mehr nur eine Pilgerstätte. Es galt, das von den «Heiden» angegriffene Grab des Heiligen zu verteidigen. Vom mächtigen Kloster Cluny aus koordiniert und organisiert, entstand in Deutschland, Italien und Frankreich schon bald ein dichtes Netz von Jakobspfaden, die sich jenseits der Pyrenäenpässe zu einem Hauptweg vereinigten und von da aus über Navarra, Kastilien, Leon und Asturien nach Santiago führten. Am Weg zu diesem berühmten Heiligtum lagen zahlreiche, mehr oder weniger bedeutsame Wallfahrtsorte mit eigenen Heiligenreliquien, Legenden und Wundergeschichten, einer eigenen feria und einem dazugehörigen Markt. Entlang des Jakobwegs wurden Brücken erbaut, Herbergen für die Reisenden errichtet und Bruderschaften gegründet, die sich um Verpflegung und Unterkunft der Pilger kümmerten und sie im Krankheitsfall betreuten. Die neue Spiritualität war vom Geist der Erneuerung der kirchlichen Institutionen und des geistig moralischen Lebens beseelt und wurde von den Reformpäpsten
und dem Kluniazenserorden getragen. Neben den traditionellen Pilgerstätten Rom und Jerusalem wurde die Wallfahrt nach Conipostela schnell zu einem Kristallisationspunkt für ein von demographischem Aufschwung und der Erneuerung in Wirtschaft und Handel belebtes Europa. Der tatkräftige Abt Odilo von Cluny («König Odilo» nannten ihn seine Gegner sarkastisch) setzte sich scharfer Kritik aus, weil er mit wahrer Leidenschaft Expeditionen gegen die Muslime organisierte. Denn Pilgerfahrt und Kampf gegen den Islam in Spanien waren eng aneinandergekoppelt. Die Wallfahrt nach Santiago, deren Anfangsstrecke unweit von jenem «Niemandsland» verlief, das Christen und Muslime voneinander trennte, bekam bald auch eine kriegerische Bedeutung. Der Legende nach kam der Apostel Jakobus den bedrängten Christen in der Schlacht von Clavijo im Jahr 844 zu Hilfe. In strahlendem Gewand betrat er auf einem feuerspeienden Schimmel die Szene und schlug die Feinde in die Flucht. Seither hieß er Matamoros («Maurenschlächter») und stand damit in der großen Tradition jener Herrscher, denen zur Erinnerung an ihre Siege kämpferische Beinamen verliehen wurden. Basileios II. der Kaiser von Konstantinopel, etwa wurde nach seinem Sieg über die Bulgaren Bulgaroktonos genannt. Wir wissen nicht genau, wann diese wehrhaft-kriegerische Funktion des Apostels sein Bild als Pilger und Wundertäter überlagerte. Entsprechende bildliche Darstellungen sind eher jüngeren Datums, und der mit diesem Heiligen verbundene militärische Kult entstand nicht vor dem 12. Jahrhundert. Die Legende war jedoch mit Sicherheit wenigstens seit 1064 bekannt, als christliche, vorwiegend aus Frankreich stammende Krieger die portugiesische Stadt Coimbra angriffen. Im Hintergrund stand vielleicht eine ähnlich legendenhafte Episode, die sich ein Jahr zuvor in der Schlacht zwischen
Normannen und Sarazenen im sizilianischen Cerami ereignet haben soll. In dieser Schlacht sei der heilige Georg – ein weißes Banner an die Lanze geheftet – erschienen und habe sich ins Kampfgetümmel gestürzt. Bei der Eroberung Siziliens durch die Normannen gab es zahlreiche Erscheinungen dieser Art, ebenso während der singulären und beunruhigenden Ereignisse zwischen 1096 und 1099, die man gewöhnlich als «ersten Kreuzzug» bezeichnet. Solche Visionen dienten der Sakralisierung des Kampfes gegen die Sarazenen. Man kann sie leicht der Propagandastrategie kirchlicher Reformkreise zuordnen, doch sind sie Ausdruck einer weit verbreiteten religiösen Begeisterung, einer einzigartigen kollektiven Empfänglichkeit und einer neuartigen Bereitschaft zum Kampf und Märtyrer turn. Nach dem Ende des Kalifats von Cordoba war das muslimische Spanien unter den reinos de taifas in zahlreiche Teilkönigreiche zerfallen und von Auseinandersetzungen zwischen arabischen und berberischen Familien zerrissen. Doch blieb ein instabiles Gleichgewicht gewahrt, denn auch in den christlichen Reichen weiter im Norden herrschten Rivalitäten und Feindseligkeiten. Das änderte sich allerdings im Jahr 1055, als Ferdinand L, seit 1037 König von Kastilien und Leon, das Gebiet am Unterlauf des Duero eroberte. 1064 nahm er Coimbra ein, nachdem er eine Wallfahrt nach Compostela unternommen hatte, um für seinen Feldzug die Hilfe des Apostels zu erbitten. Im Kontext dieser Ereignisse entstand die Legende der Erscheinung von Santiago Matamoros in der Schlacht von Clavijo. Nach dem Tod des Königs Ramiro I. drohte die aragonesische Front beim Angriff auf die Sarazenenfestung Graus zusammenzubrechen. Da der Sohn des Königs, Sancho, noch minderjährig war, mußte Papst Alexander II. die Initiative ergreifen. So wurde die Festung
Barbastro unweit Zaragoza erobert – ein Feldzug, an dem auch zahlreiche französische Ritter teilnahmen und der eine Welle der Kriegsbegeisterung und der religiösen Inbrunst auslöste. Die Eroberung Coimbras und Barbastros waren ein schwerer Schlag für al-Andalus. Die maurischen «Könige» von Zaragoza, Badajoz, Toledo und Sevilla wurden zu Tributzahlungen verpflichtet, und Ferdinand von Kastilien ritt demonstrativ und stolz bis nach Valencia. Aber im Jahr 1065 starb er in Leon, nachdem er in der von ihm erbauten neuen Kathedrale die Reliquien des heiligen Isidor von Sevilla verehrt hatte, die ihm die Mauren überlassen hatten. Die Eroberung Barbastros in den Jahren 1063/1064 war wohl das Ereignis, das die Beziehung zwischen Christen und Muslimen entscheidend veränderte. Die päpstliche Bulle Eos qui in Hispaniam, die Papst Alexander II. aus diesem Anlaß erließ, war das Modell für alle späteren päpstlichen Verlautbarungen zur Absicherung der Kreuzzüge nach kanonischem Recht. In ihr gewährte der Papst allen Teilnehmern am Feldzug die Vergebung der Sünden. Zu ihnen gehörten der Herzog Wilhelm von Aquitanien und Ritter aus allen Teilen Frankreichs. Wahrscheinlich übergab Alexander II. vormals Anselm von Baggio, ein Vertreter des Reformflügels innerhalb der Kurie, dem Herzog von Aquitanien das vexillum sancti Petri, das die Kriegsteilnehmer unter den Schutz der römischen Kirche stellte und gleichzeitig der Kirche ein Vorrecht an den Eroberungen einräumte. Wie im Gebiet des Tyrrhenischen Meeres und in Sizilien entstand auch in Spanien ein besonderes geistiges Klima. Ende des 11. und während des 12. Jahrhunderts erzeugte es das kollektive religiöse Bewußtsein für jene militärischen Unternehmungen, die unter dem (erst im nachhinein gebräuchlichen, verallgemeinernden und reichlich irreführenden) Begriff «Kreuzzug» zusammengefaßt wurden.
Entscheidend ist, daß hier zahlreiche Faktoren zusammenwirkten: die Unumgänglichkeit eines Kampfes gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel und in Sizilien (und wenig später auch in Syrien); der (falsche, aber nachvollziehbare) Eindruck, daß der Islam ein stabiles und einheitliches Herrschaftsgebiet sei, das sich vom asiatischen Osten bis in den iberischen und maghrebinischen Westen erstreckte; und schließlich das geistige Klima, das, ausgehend von den Reformkräften innerhalb der Kirche, tief ins Bewußtsein der weltlichen und ritterlichen Aristokratie jener Zeit drang. Diese Aristokratie wurde Teil der Bewegung pax Dei oder Gottesfriedensbewegung, die die Adelsfehden der Christenheit im Westen unterbinden wollte und den Kampf gegen die Ungläubigen als eine Chance zur Mobilisierung neuer Ressourcen begriff. Plünderungen sowie die Eroberung von Territorien versprachen Entschädigung für die Verluste durch die zwangsweise Beendigung der Auseinandersetzungen zwischen den milites, die allerorten an der Tagesordnung waren, und der Lösegelderpressung von Kaufleuten und Pilgern entlang der Verkehrsstraßen. Der «Export der militärischen Gewalt» über die Grenzen der Christenheit hinaus und die Befürwortung solcher Militäraktionen durch die Kirche (mittels Sündennachlaß und Übergabe des vexillum) wurden zu wichtigen Faktoren eines neuen dynamischen Prozesses, in dem religiöse, politische und wirtschaftliche Motive zusammenflossen. Denn im Zuge dieser kriegerischen Unternehmungen eröffneten sich auch unerwartete Möglichkeiten für Handel und wirtschaftliche Beziehungen. Die Strategie, die weltliche Aristokratie für die Ziele der kirchlichen Reformbemühungen einzuspannen, umfaßte den Kampf gegen die herrschenden Mächte und die Übernahme kirchlicher Ämter und Güter durch Laien ebenso wie die Kriegführung gegen die Ungläubigen. Eins ging mit dem
anderen Hand in Hand, wenn auch in der Praxis zeitweilige Konflikte daraus entstanden. Gregor VII. zögerte nicht, gegen seinen Widersacher, den römisch-deutschen Kaiser Heinrich IV, die Unterstützung Herzog Wilhelms von Aquitanien, eines treuen Verbündeten der römischen Kirche, zu erbitten. Im Jahr 1074 teilte der Papst dem Herzog seinen Plan mit, den Christen im Orient zu Hilfe zu eilen, die von den heranrückenden Türken bedroht waren. Dies war – beachtenswert genug – zwanzig Jahre nach dem Beginn des Morgenländischen Schismas und drei Jahre nach der Schlacht von Manzikert, in der die Seldschuken den Basileus besiegt hatten. Der Plan des Papstes zielte darauf ab, die Einheit der Kirche wiederherzustellen oder zumindest die Folgen der Spaltung abzuschwächen und sich Konstantinopel wieder anzunähern. Damit strebte der Bischof von Rom zwar nicht nach der Macht, wohl aber nach größerem Einfluß im Osten. Das durch die Popularität Santiagos und die ersten Erfolge der christlichen Gegenoffensive auf der Iberischen Halbinsel entstandene geistig-religiöse Klima blieb für die folgenden Ereignisse im gesamten Mittelmeerraum von entscheidender Bedeutung. Der Tod Ferdinands I. von Kastilien im Dezember 1065 war ein erneuter Rückschlag in jenem langen und unsteten historischen Prozeß, den man als Reconquista zu bezeichnen pflegt. Alfons VI. einem seiner Söhne, gelang es schließlich, Kastilien und Leon zu einigen und den Mauren neue Niederlagen beizubringen. Zu Hilfe kam ihm dabei auch der rasch zur Legende gewordene Rodrigo Diaz de Bivar, genannt El Cid Campeador (campi ductor; doch in Wirklichkeit ist «Cid» vom arabischen «said», «Herr», abgeleitet). Der Bau zweier neuer Kathedralen – in Barcelona 1058 (die alte war bei al-Mansurs Raubzügen gegen die Stadt zwischen 985 und 1003 zerstört worden) und in Santiago ab 1075 – bezeugen
beispielhaft ein geistiges Klima, in dem sich religiöse und militärische Interessen mit dem Versprechen von Reichtum und Wohlstand im Falle eines Siegs verbanden. Andererseits vermitteln die komplizierten Ereignisse um El Cid, den unbequemen und streitsüchtigen Bundesgenossen eines in seinen Plänen nicht immer durchschaubaren Herrschers, eine Vorstellung von dem, was die Reconquista wirklich war: ein Krieg zwischen Mauren und Christen, geprägt von enormem Enthusiasmus, immer wieder aber auch von Phasen skrupelloser Realpolitik. Beim König in Ungnade gefallen und daher 1081 ins Exil geschickt (unter anderem deshalb, weil er sich nicht an Zusicherungen halten wollte, die Alfons den Mauren gemacht hatte), stellte sich Rodrigo in den Dienst des rey de taifa von Zaragoza gegen den rey de taifa von Lerida, der seinerseits von König Sancho von Aragon und von Raimund-Berenguer II. dem Grafen von Barcelona, unterstützt wurde. Derartige Allianzen zwischen Mauren und Christen, die gegen andere maurischchristliche Bündnisse in den Kampf zogen, waren an der Tagesordnung. Alfons VI. selbst gelang die glorreiche Einnahme von Toledo am 6. Mai 1085 nur mit Hilfe des maurischen malik von Badajoz, der mit dem malik von Toledo, al-Qadir, in Streit lag. Die Ermordung von al-Qädir wiederum bewog El Cid, den sarazenischen Freund zu rächen (aber auch im Eroberungspoker mitzumischen) und die Stadt Valencia anzugreifen, die ihn nicht hatte aufnehmen wollen. Nach zwanzigmonatiger Belagerung fiel die Stadt am 15. Juni 1094. Und El Cid, der sich inzwischen mit Alfons versöhnt hatte, behielt Valencia als sein Herrschaftsgebiet bis 1099, dem Jahr seines Todes. Der König überlebte seinen getreuen Vasallen um zehn Jahre. Zum Beweis der engen Verbindungen zu der Welt jenseits der Pyrenäen heiratete er nacheinander drei französische Frauen und verheiratete seine beiden Tochter mit einem Burgunder
bzw. einem Lothringer, die beide in Spanien gegen die Mauren gekämpft hatten. Sein burgundischer Schwiegersohn Heinrich, mit der Infantin Theresa verheiratet, war ab 1094 der erste Sire einer kastilischen Grafschaft im Gebiet zwischen dem Minho und dem Duero, die den Kern des späteren Portugal bildete. Mit seinen muslimischen Nachbarn verfuhr Alfons ebenso korrekt wie mit seinen Verbündeten und Vasallen. Er zwang die Christen von Toledo zur Rückgabe der Moschee an die Sarazenen (die ihnen nach der Eroberung 1085 genommen worden war), und er schritt mehrmals ein, um seine fideles, die gegen die von ihm unterworfenen Sarazenen Gewalt angewendet hatten, zur Zahlung von Entschädigungen zu verpflichten. Doch die Verhältnisse waren nach der Eroberung von Toledo nicht einfach – weder für Alfons, noch für El Cid. Der König war bis zur äußersten Spitze der Iberischen Halbinsel geritten, bis nach Tarifa gegenüber von Afrika. Er hatte seinem Pferd die Sporen gegeben und es ins Meer getrieben, um den finsteren Giganten herauszufordern, der ihm gegenüberstand: den maghrebinischen Islam. Der muslimische Sire von Sevilla, der gebildete und kluge alMutamid, ein qadi, der eine Art aristokratische Notablenrepublik führte, erkannte, daß der Stern von alAndalus allmählich sank. Aber jenseits der Säulen des Herkules hatte sich die Macht der rigorosen Bruderschaft der murabitun («Haus der dem heiligen Kampf Hingegebenen») gefestigt. Die strengen Bewohner der Klosterfestungen in den entlegenen Gebieten jenseits der Wüste an den Ufern des Senegal und des Niger, hatten sich Marokkos und Algeriens bemächtigt: die Almoraviden. Al-Mutamid war mit Sicherheit kein Freund dieser finsteren religiösen Eiferer. Auch behagte es ihm nicht, sich an deren Oberhaupt Yusuf ibn Tashufm wenden zu müssen. Doch wer
ihn nach den Gründen für diese traurige Entscheidung fragte, dem hat er wohl geantwortet: «Lieber bin ich Kameltreiber in Afrika als Schweinehirt in Kastilien.» Der amu al-muslimin kam also übers Meer. Dem König Alfons, der mit ihm verhandeln wollte, soll er mit martialischem Gestus erwidert haben: «Ich habe keinen anderen Trumpf als Schwerter und Lanzen und keinen anderen Abgesandten als ein großes Heer» (Al-Maqqari, Anecdotes sur l’histoire et la litterature des arabes d’Espagne, hg. von R. Dozy, G. Dugat, I. Krehl und W. Wright, Bd. 2, Leiden 1861, S. 674 und 678). Die Schlacht fand am 23. Oktober 1086 unweit La Guadiana in Zallaqa (dem heutigen Sagrajas) statt, und es war eine der verheerendsten Niederlagen der Christen in ihrer ganzen Geschichte. König Alfons kam knapp mit dem Leben davon und zog sich mit wenigen hundert Rittern nach Soria zurück. Die abgeschlagenen Köpfe der Besiegten wurden – ein makabres Schauspiel – zum Zeichen des Triumphs aufgehäuft. Die Christen und die spanischen Muslime sahen sich einem neuen Islam gegenüber, der mit dem Funkeln des Quecksilberbrunnens in Medmat az-Zahra nichts mehr zu tun hatte. Der Preis, den al-Andalus für diesen Sieg zu zahlen hatte, war hoch. Yüsuf zwang alle reyes de taifas, sich seiner Herrschaft zu unterwerfen. Wer Widerstand leistete, indem er sich mit den Kastiliern verbündete (denn es war womöglich ganz und gar nicht erstrebenswert, unter diesem Fürsten Kameltreiber zu werden), wurde gnadenlos verfolgt. Toledo blieb den Christen erhalten, aber alle Eroberungen der vorausgegangenen Jahre südlich des Tejo gingen verloren. In einem Akt religiöser Frömmigkeit und getragen von der Begeisterung für den Sieg unterstützte das einfache Volk in den muslimischen Städten die grausame und frömmlerische Herrschaft der Almoraviden. Die alten Emire von al-Andalus,
die den neuen Herren als korrupt und verweichlicht galten, mußten in die Verbannung gehen. Manche, wie der Dichter und qadi al-Mutamid aus Sevilla, soll in Ketten (und keineswegs als Kameltreiber…) in Afrika gestorben sein. Trotz des barbarischen Wütens der Wächter der ribat mit ihrer mystischen Spiritualität war die Epoche der Almoraviden, deren Herrschaft sich vom Tejo bis zur Sahara erstreckte, eine Zeit des Wohlstands und der Unbeschwertheit. Die wenigen großen Schlachten waren blutig gewesen, hart die anfängliche Unterdrückung. Aber die neuen Herren, die die Vorschriften des Koran peinlich genau beachteten, erlegten den muslimin und den dhimmi nur leichte Steuern und Abgaben auf. Sie förderten die Entwicklung der Städte und erweiterten die erst 1062 von Yusuf ibn Tashufin gegründete Stadt Marrakesch. Sie legten die Stadt Fez planmäßig an und stellten Handel und Manufaktur unter ihren Schutz. Dieses Gewerbe hatte sich insbesondere in afrikanischen Städten wie Tlemcen und Sijilmassa sowie im spanischen Almeria entwickelt. Almeria beschäftigte achthundert Arbeiter in der Seidenweberei, besaß neunhundert Unterkünfte für Reisende sowie Warenlager (khan und funduq), zahlreiche metallverarbeitende Werkstätten und einen Hafen, der von allen Schiffen des islamischen Mittelmeers angefahren wurde. Die Goldmünzen, die in den Prägestellen der almoravidischen Städte geprägt und im Westen «Maradevi» genannt wurden, waren weithin geschätzt und begehrt. Man darf auch nicht denken, daß der Mystizismus der Bruderschaften der ribat das geistige Leben erstickt hätte. Im Gegenteil, es wurden heftige theologische und juristische Dispute geführt. Die Bibliotheken und Medresen von Cordoba nahmen einen Aufschwung, der stärker war als in der Blütezeit des Kalifats. Er bildete die Grundlage für eine kulturelle Entwicklung, die ab dem folgenden Jahrhundert auch dem Westen zugute kam.
Doch auch das Schicksal von Rodrigo Diaz vollendete sich. Wie das kastilische Epos Cantar de mio Cid erzählt, starb der große Krieger am 10. Juli 1099 in Valencia, genau fünf Tage, bevor jenseits des Mittelmeers die bewaffneten fränkischen Pilger, die cruce signati in Jerusalem einzogen. Der Legende zufolge siegte er auch in seinem letzten Kampf, dem Todeskampf, indem er aus dem Tor seiner belagerten Stadt heraustrat und gegen die Mauren zog, die bei seinem Anblick die Flucht ergriffen. Sein treues Pferd Babieca trug auf seinem Rücken den einbalsamierten Leichnam seines Herrn, der von einem in seinem Rücken festgebundenen Holzstock auf dem Sattel geradegehalten wurde. Yusuf marschierte trotzdem gegen die Stadt, die ihm jedoch noch lange Widerstand leistete. Der König von Kastilien versuchte vergebens, die Stadt zu halten. Anfang Mai des Jahres 1102 mußte er abziehen. Rodrigos Frau, Dona Jimena, brachte den Leichnam ihres Mannes nach Burgos, seiner Geburtsstadt, zurück, wo El Cid sein Grab fand. Alfons, der verzweifelt versucht hatte, die Niederlage abzuwenden, wurde 1108 in Ucles zwischen Toledo und Cuenca erneut geschlagen, er verlor seinen einzigen Erben, Don Sancho, der ihm lieb und teuer war. Er war der Sohn aus der Verbindung mit Zaida, einer geflüchteten Sarazenin und Schwiegertochter des qadi von Sevilla. Mit dem Sieg in Toledo war der Zweikampf zwischen Christen und Muslimen entschieden. Für die Christen auf der Iberischen Halbinsel war dies eine schmähliche Niederlage. Anders verliefen die Ereignisse im Mittelmeer, in Italien und Syrien.
Heroen und Märtyrer Hoch sind die Berge und die Täler düster, die Felsen grau und die Engpässe gewaltig. An jenem Tag zogen die Franken mit großer Mühsal dahin: auf fünfzehn Meilen hört man das Getöse. So beginnt die berühmte Laisse LXVI der Chanson de Roland. Die Datierung des Textes mit seinen zahlreichen Varianten ist unsicher. Generationen von Westeuropäern haben diese oder ähnliche Verse gesungen, haben sie auswendig gelernt und voll innerer Bewegung auf den kahlen Pyrenäenwegen zwischen Ostabat und Puente la Reina im Geist nacherlebt. Dort trafen sich die Pilgerstraßen aus Tours, Vezelay und Le Puy und vereinigten sich mit der «südlichen Route» aus Saint-Gilles, um dann über Logrono, Burgos und Leon in das wunderwirkende Campus Stellae, Compostela, zu führen, wo der Apostel Jakobus die Pilger erwartete. Wenn man von einer «europäischen Pilgerstraße» sprechen kann, dann in diesem Fall. Denn nirgendwo sonst entstand europäisches Bewußtsein, wuchs europäische Identität. Roland ist der Protagonist der berühmtesten und bedeutendsten – und wohl auch ersten – epischen chanson in altfranzösischer Sprache, der matière de France, das Ende des 11. Jahrhunderts schriftlich fixiert wurde. Über die historische Identität der Hauptfigur, seit dem 11./12.Jahrhundert einer der wichtigsten Helden in der europäischen Tradition der Ependichtung, wissen wir so gut wie nichts. Der Name steht mit einigen Varianten – Hruodlandus, Rothlandus – für einen Gefolgsmann des karolingischen Königs, stimmt mit dem Schriftzug auf Münzen (aus dem Jahr 781) überein und taucht in Verzeichnissen von
Mitgliedern des Hofes auf. Das wichtigste indirekte Zeugnis sind jedoch die Annales qui dicuntur Einhardi. Dort ist von einem Hinterhalt der Bergbewohner Wascones (Basken oder Gascogner, auf jeden Fall aber Christen) im Tal Roncesvalle die Rede, in den die Nachhut der fränkischen Truppen nach einer erfolglosen Schlacht zwischen Navarra und Aragon geraten ist. Die Annales verraten lediglich, daß in diesem unübersichtlichen, nicht gerade ruhmreichen oder bedeutenden Scharmützel einige der großen Würdenträger des Königs ums Leben kamen. Sie standen an der Spitze einer Nachhut, die in den Hinterhalt geriet. Eginhard griff diese Schilderung in seiner Vita Karoli auf, die zwischen 829 und 836 veröffentlicht wurde, und nannte die Namen dreier bedeutender Persönlichkeiten, die ums Leben kamen: Seneschall Eggihard, Pfalzgraf Anselm sowie Hruolandus, Brittannici limitis praefectus, also Roland, Graf der Bretonischen Mark. Möglicherweise erhielt sich die Erinnerung an das historische Ereignis von 778 bis ins 11. Jahrhundert und fand dann in die Ependichtung Eingang beziehungsweise wurde in der uns heute bekannten Form schriftlich fixiert. Diese Differenzierung ist dringend notwendig; denn die Debatte um das Pro und Kontra der historischen Kontinuität ist bis heute nicht verstummt. Die einen gehen von einer fortlaufenden historischen Entwicklung der chansons de geste aus, beginnend mit den alten, mündlichen cantilenae der Karolingerzeit (von deren textlicher Gestalt wir außer in Form von Erwähnungen keine Kenntnis haben); die anderen halten einen unvermittelten Aufschwung der Epik der matière de France (verbreitet über die Pilgerstraßen und die militärischen Unternehmungen im Rahmen der Reconquista) für wahrscheinlich. Der legendenhafte Kern der Rolandsdichtung liegt jedenfalls in einem tatsächlichen Ereignis, das, wenn auch von minderer
Bedeutung, wenigstens bekannt genug war und historisch als gesichert galt. Wahrscheinlich gleich nach diesem Geschehen, womöglich von Karl dem Großen selbst ausgelöst, begann eine Art «Trauerarbeit», die die militärische Niederlage zum Martyrium hochstilisierte: Dazu verwandelte man christliche Angreifer (dies ist gesichert) in Muslime und verwischte die Tatsache, daß die Angreifer ihr Land gegen die Bedrohung durch eine fremde Streitmacht nur verteidigen wollten. Der militärische Mißerfolg wurde in einen politisch propagandistischen Erfolg umgedeutet. In den nachfolgenden dreihundert Jahren der Kämpfe zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeer, auf der Iberischen Halbinsel, in Sizilien und dann auch in Anatolien und in Syrien und Palästina wurde Roncesvalle zum symbolträchtigen Ausgangspunkt eines langen, jahrhundertelangen Kampfes zwischen Christenheit und Islam stilisiert. Roland wurde zum weltlichen Patron, zum fast schon kanonisierten Märtyrer, zu einem Vorbild in der Nachfolge Christi und sein Tod zu einer Passion im eigentlichen Sinn. Zweifellos gab es eine Episode oder eine Episodenfolge, die den konkreten, normsetzenden Kern jener «lang anhaltenden» Auseinandersetzungen bildete (und eben darum chronisch verlief, unspektakulär, wenngleich nicht frei von «akuten» Zuspitzungen). Es könnte der Feldzug von Barbastro sein, der in der christlichen Welt einen starken Widerhall fand. Auch die zeitgleich und später stattfindenden Militärunternehmungen in Italien und Syrien könnten die thematische Gestaltung der chansons de geste beeinflußt haben. In Spanien aber waren die Militärzüge Karls des Großen in Erinnerung geblieben. Von diesem Herrscher, dem Paradigma eines christlichen Kaisers, träumte die erneuerte Kirche als Gegenbild zu jenen korrupten Herrschern, die sich ihr widersetzten. Im Zuge der Reconquista und der Wallfahrt nach Santiago de Compostela entwickelten
sich dann Lehre, Spiritualität, Ästhetik und Rhetorik der Kreuzzüge. Das karolingische Militärunternehmen wurde wiederaufgegriffen, in der Dichtung ausgearbeitet und in vielfacher Hinsicht in seiner historischen Wahrheit auch umgeformt. Das Rolandslied selbst spielt wiederholt auf einen Text an – eine «alte Gesta» oder «Gesta der Franken», auf die es sich als Quelle beruft. Es mag sich aber auch um einen Kunstgriff handeln, um dem Erzählten größere Glaubwürdigkeit und mehr Nachdruck zu verleihen. Überzeugender dagegen sind die Verweise auf Reliquien und heilige Stätten, die man bewundern, ja verehren konnte – in einer geistig-religiösen Grundhaltung und entlang von Routen, wie sie die Pilger von Frankreich nach Santiago nahmen: das Rolandsgrab (das man mit geringer Sicherheit mit den Gräbern von Olivier und Turpin in Zusammenhang bringen kann) in der Kirche des heiligen Roman in Blaye; das Horn Olifant oder Rolandshorn in der Kirche des heiligen Severinus in Bordeaux. Von dieser tuba eburnea ist in einer berühmten Handschrift des 12. Jahrhunderts die Rede, die in der Kathedrale von Santiago als Codex calixtinus aufbewahrt wird. Unglücklicherweise sind durch die Zerstörungen in den Hugenottenkriegen und später im Zuge der Französischen Revolution viele dieser Zeugnisse verlorengegangen. Die schriftliche Fixierung des Roland bezeugt jedenfalls die Existenz von Kultstätten, die mit der Erinnerung an den Opfertod des Roland verbunden sind. Diese Stätten der Verehrung stehen in engem Zusammenhang mit der mündlichen Ausformung epischer Themen, die zu der heute bekannten Fassung des Epos geführt hat. Wilhelm von Malmesbury berichtet in seinen um 1125 verfaßten Gesta regum Anglorum von der Schlacht bei Hastings 1066, in der die normannischen Truppen eine cantilena Rollandi angestimmt hätten. Aber wir wissen nicht,
ob er damit die chanson meint oder nur eine der mündlichen Überlieferungen, die dem Rolandslied vorausgingen und ihm Vorbild und Material lieferten. Die zeitliche Entfernung zwischen den Ereignissen von 1066 und der Fassung der Gesta macht eine genauere chronologische Bestimmung jedenfalls unmöglich. Wir können aber immerhin sagen, daß die Chanson de Roland in ihrem Kern etwa zeitgleich mit dem ersten Kreuzzug entstanden ist, vielleicht etwas früher, vielleicht etwas später. Mit Sicherheit aber haben Epos und Kriegszug (1096 – 1099) einen gemeinsamen kulturellen und geistigen Nährboden, stehen beide miteinander in enger Beziehung. In gewisser Weise liefert die Chanson de Roland auch den interpretatorischen Kanon und den propagandistischen Rahmen der Kreuzzüge und Feldzüge gegen die Sarazenen ab dem 12. Jahrhundert. Sieben Jahre lang kämpfte Karl gegen die Mauren und eroberte ganz Spanien mit Ausnahme der Stadt Zaragoza, deren König Marsilius seinen Gesandten Biancardinus zu dem fränkischen Herrscher schickte. Die Frage, welche Politik man gegenüber den noch in Spanien verbliebenen Sarazenen betreiben sollte, führte zu einer Kontroverse zwischen den Befürwortern des Krieges, an erster Stelle Roland, und den Befürwortern des Friedens, zu denen Rolands Stiefvater Ganelon gehörte. Die Rivalität zwischen beiden führte dazu, daß Ganelon, Verhandlungsführer Karls in Zaragoza, Marsilius gegen den verhaßten Paladin Roland aufhetzt und ihm vorschlägt, Karls Nachhut im Tal von Roncesvalle zu überfallen. Roland stirbt als Held und Märtyrer, Karl kommt zu spät, um den geliebten Neffen zu retten, aber doch noch rechtzeitig, um die Sarazenen in die Flucht zu schlagen. Der besiegte Marsilius empfängt in Zaragoza die Gesandten seines obersten Fürsten Baligant, des Emirs von Babylonien. Er ist auf dem Weg nach Spanien, um sich mit seinem großen Gegenspieler, Kaiser Karl, in der
Schlacht zu messen. (Liegt es nicht nahe, an den Hilferuf der reyes de taifas gegen den almoravidischen amir zu denken?) Die Schlacht zwischen den beiden Herrschern ist in Wahrheit die Konfrontation zwischen Christentum und Heidentum. Karl geht aus dem Kampf als Sieger hervor, Zaragoza wird eingenommen, Marsilius stirbt, Roland wird in Blaye begraben, und Karl kann nach Aachen zurückkehren. Dort stirbt Aude, die Verlobte des Paladins, aus Kummer über die Nachricht, daß ihr Geliebter nicht mehr lebt, und Ganelon erhält die verdiente Strafe. Die Chanson de Roland und die dieses Epos auf die eine oder andere Weise weiterführenden oder ergänzenden Nachdichtungen hatten zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert einen außergewöhnlichen Erfolg. Und mit ihnen auch die Figur Rolands und die Freundschaft zwischen Roland und Olivier sowie die bildlichen Darstellungen Rolands, vor allem in der Miniaturmalerei zum Sagenkreis um Karl den Großen, aber auch in Skulpturen und in der Glasmalerei. Besonders die Bilddarstellungen Rolands zeigen, daß seine Abenteuer schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt ungemein populär waren, wenn auch bei einigen dieser Darstellungen Zweifel an der Zuschreibung angebracht erscheinen. Einige dieser Darstellungen wurden allzu schnell oder basierend auf einer traditionellen, aber philologisch ungenauen Lektüre als Rolandsdarstellungen bezeichnet. Fast zweifelsfrei stellen jedoch die beiden Statuen am Portal des Doms zu Verona Roland und Olivier dar; die Identifizierung des Paladins ist durch die Inschrift Durindarda auf dem Schwert gesichert. Die Zuordnung zu Olivier ist schon weniger sicher; daher hat man sich gefragt, ab wann genau die Statue mit ihm identifiziert wurde. Mit anderen Worten: Man kann keineswegs ausschließen, daß die beiden Krieger über dem Portal des Doms zu Verona ursprünglich andere Persönlichkeiten
darstellten und daß die wachsende Popularität des Rolandszyklus zu einer nachträglichen Umwidmung geführt hat, indem man den Namen von Rolands Schwert auf der Klinge anbrachte. Denn damit war die Zuschreibung zu Roland eindeutig. Nach einer anderen Deutung repräsentieren beide Krieger die Helden eines anderen Epenzyklus: Wilhelm von Orange und den Sarazenen Renoard. Eine eindeutige und eindrucksvolle Verbildlichung von Motiven des Rolandsliedes zeigen dagegen die Fußbodenmosaiken in der Kathedrale von Brindisi, wo eine Reihe biblischer Szenen in der Mosaikmitte von einem zweieinhalb Meter hohen Streifen eingefaßt ist, der die Geschichte der Niederlage von Roncesvalle erzählt. Leider wurde das Fußbodenmosaik durch zwei Erdbeben in den Jahren 1743 und 1858 stark beschädigt. Zur Deutung seiner Motive müssen wir heute auf ungenaue graphische Reproduktionen zurückgreifen. Die in der matière de France und der matière de Bretagne geschilderten Ereignisse wurden im 12. und 13. Jahrhundert einander angeglichen und miteinander vermischt. Nicht weil längst kontaminierte Fassungen der Karls- und Artuszyklen entstanden waren, sondern weil der erste, ursprünglich epische Zyklus im Lauf der Zeit die für die romanhafte Darstellungsweise des zweiten Zyklus typischen Charaktere und Handlungsverläufe übernommen hatte – mit Liebesabenteuern, Reisen, Wechselfällen und einem magischen und romanhaften Grundton. Im 12. und 13. Jahrhundert unterschied der Dichter Bertrand aus Bar-sur-Aube, der Verfasser des Girart de Vienne und wohl auch der Aymeri de Narbonne, drei Gesta-«Zyklen». Dabei ragen die vierundzwanzig chansons der Geste de Guillaume, die Wilhelm von Aquitanien, einem Zeitgenossen Karls des Großen, gewidmet sind, besonders hervor (man muß sich aber fragen, ob sie nicht auch dem Andenken an den
Helden von Barbastro gewidmet sein können, den Gregor VII. so sehr schätzte). Sie handeln von Vasallen, die einem schwachen und unsicheren Herrscher treu ergeben sind, der im Innern wie von außen gleichermaßen bedroht ist. Epische Überlieferung und historisches Ereignis vermischten sich hier zu einem unentwirrbaren Ganzen.
Tyrrhenische Seeleute und normannische Krieger Ab dem 11. Jahrhundert dehnte sich der Westen über seine bisherigen Grenzen aus. In der Bewertung dieser Ereignisse standen sich lange zwei gegensätzliche Thesen gegenüber: War es eine gleichsam provozierte Expansion – in gewisser Weise von außen hervorgerufen? Oder handelte es sich um einen autonomen Prozeß, dessen Wurzeln und Impulse im europäischen Kontinent selbst zu suchen waren? Der Befürworter der ersten These, Maurice Lombard, hob hervor, daß die Entstehung einer mittelmeerischen (vorwiegend muslimischen) Welt mit zahlreichen konsumhungrigen und rohstoffbedürftigen Metropolen von Cordoba bis Kairo, von Kairuan bis Damaskus, von Palermo bis Bagdad den europäischen Westen zwang, das zu liefern, was er im Überfluß besaß und produzierte: Holz, Eisen, Zinn, Honig, Metalle, Waffen und auf die eine oder andere Weise (und unter Umgehung der kirchlichen Verbote) auch Sklaven. Trotz der Auseinandersetzungen auf dem Meer und der Raubzüge der Korsaren festigte dieser zunehmend intensivere und umfangreichere Handel die Kontakte zwischen den verschiedenen Mittelmeerländern und brachte dem barbarischen, aus dem frostigen Frühmittelalter heraustretenden Europa Reichtum und Vitalität. Die Befürworter der zweiten These (Marc Bloch, Lynn White jr.
Georges Duby und andere) legen dagegen den Hauptakzent auf Nebenursachen wie das Klima oder die demographischen und technologischen Entwicklungen, die einander ergänzten. Selbstverständlich müssen bei einer vielschichtigen Betrachtung dieses komplizierten Prozesses alle diese Gründe mitberücksichtigt und angemessen gewichtet werden, ohne einzelne Ursachen überzubewerten. Mit Sicherheit kam das viele muslimische Gold, das zwischen Ende des 10. und im Verlauf des 11. Jahrhunderts in den christlichen Küstenstädten im Umlauf war, aus sehr unterschiedlichen Quellen. In Barcelona stammte es aus den Zahlungen der arabischspanischen Potentaten an die katalanischen Söldner, aber noch mehr Gold stammte aus dem westeuropäischen Handel, bei dem der Export einen immer größeren Umfang und immer stärkere Bedeutung annahm; und nicht zuletzt stammte das Gold auch aus den Beutezügen. Pisa und Genua blieben Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts von den Raubzügen der Muslime weiterhin nicht verschont. Heute neigt man jedoch zu der Annahme, daß der wirtschaftliche Aufschwung und die Bedeutung dieser Städte als Seemächte bereits begonnen hatte. Im übrigen mußten sie schon bald, nämlich im Jahr 1021, in dem schweren Kampf gegen Mudschahid, den malik von Denia und der Balearen, ihre Stärke beweisen. Seit dieser Zeit entwickelte die Seemacht Pisa (teilweise mit Hilfe der Genuesen, häufiger jedoch ohne sie, denn der Wettlauf um die Vorherrschaft im Tyrrhenischen Meer hatte bereits begonnen) parallel und ergänzend zu ihrer Handels- und diplomatischen Tätigkeit rege militärische Aktivitäten. Akten im Staatsarchiv von Pisa dokumentieren, daß die Beziehungen zu den wichtigsten muslimischen Küstenstädten Afrikas schon früh gut entwickelt waren. Der Benediktinermönch Donizo, der gelehrte Biograph der Markgräfin Mathilde von Tuszien, schrieb voller Empörung,
daß mitten im 11. Jahrhundert der Hafen der toskanischen Stadt von «finsteren» Afrikanern angelaufen wurde. Aber neben kriegerischen gab es auch friedliche Zeiten. 1034 griffen die Pisaner die algerische Stadt Bona und 1063/64 den Hafen von Palermo an. Die Beute ihres Raubzugs wurde für den Bau der Kathedrale verwendet, die, ebenso wie das nahegelegene großartige Baptisterium von Bonanna, exakt nach den Maßen der Grabeskirche in Jerusalem und der Geburtskirche in Bethlehem errichtet wurde. Im Jahr 1087 schließlich griffen die Pisaner den Hafen von al-Mahdiya an, ein Ereignis, das auf der Grundlage einer übelwollenden normannischen Quelle von den Historikern lange Zeit unterbewertet wurde. Denn Roger I. der Eroberer von Sizilien, wollte allzu häufige Kriegszüge gegen die Muslime vermeiden, die seine gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu Ägypten und den nordafrikanischen Potentaten gefährdeten. Er lehnte auch die Aufforderung der Pisaner ab, sich am Krieg zu beteiligen. Heute dagegen erkennen die Historiker die ganze Bedeutung dieses Kriegsschlags, der mehr war als nur der Racheakt für ein Vergehen in der Handelsabwicklung oder einen Korsarenraubzug. Al-Mahdiya war wie Mazara eine bedeutende Station im Zentrum der Ost-West-Achse, entlang derer der Handelsverkehr des islamischen Mittelmeers zwischen Almeria und den Häfen am Nil stattfand. Daran läßt sich die Bedeutung dieses Sieges ablesen. In der Tat scheint die mit Waffen, Soldaten und Schiffen gut gerüstete Militärexpedition von langer Hand und sehr sorgfältig vorbereitet gewesen zu sein – nicht zuletzt in Absprache mit Papst Viktor III. der, ähnlich wie Alexander II. bei der Expedition gegen Barbastro, den Teilnehmenden den Ablaß gewährte. Die Pisaner stellten das größte Kontingent, doch die Flotte bestand aus einer Koalition der Pisaner, Genuesen und Amalfitaner. Doch auch andere nahmen teil, so
etwa Benedikt, der Bischof von Modena, der eine führende Rolle spielte. Repräsentierte er den Papst? Zweifellos hatte zumindest seine Funktion in der Entourage der Mathilde von Tuszien politisches Gewicht. Eine Dichtung pisanischen Ursprungs, die in den historischen Fakten zuverlässig zu sein scheint, erzählt von einem Signum des heiligen Petrus auf den scarsellae der Seeleute. Dieses Signum ließe sich von den signa super vestes ableiten, mit denen gewöhnlich das Pilgerschaftsgelübde zur Schau gestellt wurde. Doch es muß mit dem päpstlichen Ablaßversprechen in Verbindung gebracht werden. Dies bestätigt eine Chronik aus dem Kloster Monte Cassino, derzufolge der Papst der Flotte sein vexillum übergab. Damit nahm Papst Viktor, einer Gepflogenheit der Reformpäpste folgend, die als epochal betrachtete Geste Urbans II. um zehn Jahre vorweg: Auf der Synode von Clermont in der Auvergne (einer am Pilgerweg nach Santiago gelegenen Stadt) sollte Papst Urban im Jahr 1095 das Signum crucis all jenen überreichen, die seinem Aufruf zur Verteidigung der von den Ungläubigen bedrohten christlichen Kirche im Osten nachkamen. Dem «ersten Kreuzzug» schlossen sich die Pisaner mit Verspätung an. Sie brachen erst im Frühjahr 1099 von der toskanischen Küste auf und erreichten im September desselben Jahres den syrischen Hafen Laodikeia, als Jerusalem bereits erobert war. Aber die Flotte, die den neuen päpstlichen Gesandten (Daimbert, den Erzbischof von Pisa) ins Heilige Land brachte, hatte sich durch Plünderungen byzantinischer Inseln, die gewiß kein Zufall waren, gewaltig verspätet. Die Pisaner und die Genuesen (und als Nachzügler auch die Venezianer, die nur widerstrebend in den Kampf gezogen waren, da der Kreuzzug das Monopol ihrer Beziehungen zu Byzanz und Alexandria bedrohte) wetteiferten nach dem Ende des Kreuzzugs in der Gründung von Handelskolonien in den
Städten entlang der syrisch-libanesisch-palästinensischen Küste. Wenige Jahre später, zwischen 1113 und 1115, wurden die Pisaner als Verbündete des Grafen von Barcelona, Raimund Berenguer III. die Hauptakteure einer vorübergehenden Eroberung der Balearen (diesmal ohne die Unterstützung der Genuesen). Dieses Ereignis wurde von einer weiteren pisanischen Dichtung gefeiert, dem Liber Maiorichinus. Und auch diesmal hatte der Papst den Anführern der militärischen Expedition sein vexillum überreicht. Die Einnahme der Balearen durch die Christen hatte zwar nicht lange Bestand, kann aber als der Endpunkt einer Phase betrachtet werden, die die Muslime im Mittelmeer mit der Eroberung Ifriqiyas eingeleitet hatten. Aber wie immer in der Geschichte sind Endpunkte immer auch Ausgangspunkte. Abgesehen von Einzelfällen allerdings segelten von da ab in muslimischen Gewässern westlich der Straße von Sizilien bis ins 16. Jahrhundert kaum mehr sarazenische Schiffe. Die normannische Eroberung Siziliens durch den jüngeren Bruder Robert Guiscards, Roger I. von Altavilla (später «der Großgraf» genannt), wurde, ähnlich wie in Spanien, erst durch eine Reihe von Ereignissen ermöglicht: durch die Zerschlagung der Macht des Emirs von Palermo, die Entstehung vieler kleiner Fürstentümer und das Hilfsgesuch eines dieser Potentaten, Ibn al-Thumma, der das Gebiet zwischen Catania, Noto und Syrakus beherrschte. Nach der raschen Einnahme Messinas im Jahr 1061 rückten die Eroberer jedoch relativ langsam vor. Westliche Quellen, denen man im übrigen mit größtem Mißtrauen begegnen muß, versichern, die christliche Bevölkerung der Insel sei den Ankömmlingen gegenüber freundlich gesinnt gewesen. Der Sieg in Cerami im Jahr 1063 jedoch (der nicht zuletzt der Erscheinung des heiligen Georg zu verdanken war, der in voller Rüstung den Normannen zu Hilfe geeilt war) hatte Zuversicht und
Begeisterung ausgelöst. Es waren für die christlichen Truppen zwei «wunderbare» Jahre: Angriff der Pisaner auf den Hafen von Palermo, Feldzug nach Barbastro, Eroberung von Coimbra. Doch erst nachdem im Jahr 1071 Guiscard, der gegen die Byzantiner in Apulien kämpfte, deren Widerstand brechen konnte, gelang es, mit Hilfe neuer Truppen aus dem Kontinent die Sarazenen zu schlagen. Im Januar 1071 fiel Palermo, das seit August des Vorjahres belagert worden war. Der Einzug der Sieger vollzog sich ohne Gemetzel, und die große Moschee wurde in eine Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria umgewandelt. Doch die Eroberung der Insel verlief relativ langsam, obwohl die Normannen eine Schreckensherrschaft ausübten. Nachdem der Großgraf Sizilien in seine Gewalt gebracht hatte, zwang er sich, zu seinen muslimischen Untertanen gute Beziehungen zu pflegen. Unter anderem gab er eine Garantie, die Kontakte zu den Nachbarn jenseits der Straße von Sizilien nicht zu verbieten. Man muß allerdings sehen, daß an einem friedlichen Zusammenleben kein Weg vorbeiführte. Zur Zeit der normannischen Eroberung war die Insel beinahe vollständig von Arabern, Berbern und arabisierten beziehungsweise islamisierten Einheimischen bewohnt. Nur in Palermo und in einigen wenigen Gebieten im Nordosten gab es griechisch christliche Gemeinden einer gewissen Größe. Während des Eroberungsfeldzugs hatte Roger I. allen Untertanen Religionsfreiheit zugesichert; auch nahm er zahlreiche Muslime in sein Heer auf. Gleichzeitig aber bemühte er sich um eine Wiederbesiedlung der Insel mit lateinischen Christen. Und als er sich seiner Sache sicherer fühlte, schlug er gegenüber den Muslimen einen rigoroseren politischen Kurs ein.
Doch konnten arabische Beamte während der gesamten Zeit der Normannenherrschaft und noch darüber hinaus im diwan arbeiten, dem Amt, das die Tributzahlungen abwickelte.
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Die Heilige Stadt
Al-Quds Anfang des 7. Jahrhunderts wurde der gesamte Nahe Osten von einer tiefen Krise erfaßt. 614 eroberten die Perser Syrien und zerstörten die großen Basiliken Jerusalems. Der Basileus Herakleios konnte die Stadt jedoch zurückerobern und zog im Jahr 629 barfuß in der Heiligen Stadt ein, die Reliquie des Kreuzes Christi mit sich tragend, die der persische Großkönig Khosrau II. als Kriegsbeute nach Ktesiphon gebracht hatte. Den muslimischen Arabern, die unmittelbar nach dem Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632 von der Arabischen Halbinsel aus ihre Offensive begannen, kam die Krise der beiden Reiche sehr gelegen. Binnen weniger Jahre überrannten sie das gesamte Perserreich. Auch das Byzantinische Reich geriet in große Bedrängnis, denn die Muslime standen unmittelbar vor den Mauern Konstantinopels. Der tatkräftige byzantinische Kaiser Herakleios führte jetzt erneut seine Truppen gen Osten, gegen die vorrückenden Araber. Wie schon im Jahr 614 beim Angriff gegen die Perser, hatten die islamischen Eroberer all jene hinter sich, die mit dem drückenden Joch der byzantinischen Herrschaft unzufrieden waren: Juden wie nichtorthodoxe Christen. Doch diesmal waren die Krieger von glühendem religiösem Eifer beseelt, und zahlreiche Christen traten zum Islam über. Die Bekehrung war, so könnte man sagen, die eigentliche treibende Kraft der islamischen Eroberungen in Syrien, Anatolien,
Nordafrika und Spanien. Am Fluß Yarmuk stellte sich Herakleios den Arabern entgegen, mußte sich aber angesichts der militärischen Überlegenheit der Muslime zurückziehen. Das Kreuz Christi sowie andere Reliquien nahm er aus Jerusalem mit fort. 638, nach zweijährigem Widerstand, öffnete die Stadt dem Nachfolger des Propheten, Umar ibn alKhattab, ihre Tore. Bekleidet mit einem schlichten Nomadengewand und in einen geflickten Mantel gehüllt, trat der Kalif auf dem Ölberg dem Patriarchen Sophronios gegenüber. Er sicherte ihm zu, Leben und Besitz der Christen nicht anzutasten und ihre heiligen Stätten nicht anzugreifen, dann ritt er auf einem alten Kamel zusammen mit dem Patriarchen in die Stadt ein. Er besuchte die Anastasis-Basilika (die Grabeskirche), betete aber nicht in der Kirche, um den Muslimen keinen Vorwand zu liefern, sie in eine Moschee zu verwandeln. Er verlangte, an den Ort geführt zu werden, wo sich der Tempel Jerusalems befand. Beim Anblick des zu einer Müllhalde verkommenen Gebäudes wurde er von tiefem Schmerz erfüllt und begann mit seinen Anhängern das Heiligtum freizulegen. Es gibt Quellen, die behaupten, er habe auch den Patriarchen aufgefordert, mit Hand anzulegen. Unter der dicken Schuttschicht kam schließlich der Felsen Moriah zum Vorschein, der den Muslimen als heilig gilt und über dem der Kalif ein schlichtes hölzernes Gebetshaus errichten ließ. Die Muslime nannten Jerusalem seit jeher al-Quds, «die Heilige». Als Mittelpunkt dieses heiligen Ortes betrachten sie den Felsen Moriah, wo nach jüdischer Tradition (die von den Christen eher halbherzig, vom Islam aber mit glühender Inbrunst übernommen wurde) Abraham seinen Sohn Isaak zum Opfer angeboten haben soll. Während einer großen Pestepidemie zur Zeit König Davids soll an dieser Stelle ein Engel vom Himmel herabgestiegen sein, hier, wo angeblich die
Bundeslade, also das Allerheiligste, in dem von König Salomon erbauten Tempel stand; einer anderen Überlieferung zufolge war der Felsen Teil eines Brandopferaltars. Einer auf Sure 17 des Korans («Nächtliche Reise») basierenden Tradition zufolge wurde der Prophet Muhammad eines Nachts im Jahr 619 von Mekka nach Jerusalem gebracht. Vom Felsen Moriah aus stieg er dann auf seinem Pferd alBuraq (ein geflügeltes Mischwesen mit Menschenkopf) in den Himmel auf. Über dem Felsen Abrahams, dort wo Umars Gebetshaus stand, ließ im Jahr 687 der Kalif Abd al-Malik ein Gebäude errichten, die Qubbat as-Sakhra, was soviel wie Felsenkuppel oder Felsendom heißt. Der Felsendom, der mit seiner großartigen vergoldeten Kuppel bis heute die Stadt überstrahlt, wurde von Architekten aus Damaskus errichtet, die aus der byzantinischen Schule stammten, vielleicht aber auch unter Mithilfe einheimischer Handwerker. Die Auftraggeber wollten durchaus mit der Kuppel der Anastasis-Basilika. wetteifern, die Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert auf dem als Kalvarienberg und Heiliges Grab identifizierten Ort hatte errichten lassen. Südlich der großen Moschee, aber noch auf der Haram ashSharif genannten Erhebung, liegt neben dem Königstor aus der Zeit des Herodes die Al-Aqsa-Moschee. Al-Aqsa, eine Bezeichnung, die im Koran für Jerusalem gebraucht wird, heißt soviel wie «die Ferne». Die siebenschiffige Al-AqsaMoschee im byzantinischen Stil mit ihrer silbrigen Kuppel schließt das Ensemble der muslimischen Heiligtümer ab. Ihre Konstruktion und die anschließenden Umbauten dauerten mehrere hundert Jahre, von der umayyadischen bis zur ayyubidischen Zeit (7. – 13. Jahrhundert). Ziel der jüdischen aliah wie auch der christlichen Wallfahrt war der «Aufstieg» zum Tempel in Jerusalem. Diese Tradition
war vielleicht schon in der jüdisch-christlichen Gemeinde lebendig und verband mit dem Aufstieg zum Tempel die Erinnerung an den Messias. Die fromme Gepflogenheit war mit Sicherheit spätestens seit dem 2. Jahrhundert (vielleicht schon früher oder sogar von Anfang an) im neuen Glauben fest verwurzelt. Zwischen dem 4. und dem 5. Jahrhundert wurde der Brauch von den christlichen Kaisern sanktioniert. Der Überlieferung zufolge geht die inventio, die Auffindung des Kreuzes und anderer Reliquien der Passion Christi, auf die Kaiserin Helena zurück. Seither wurden in Jerusalem und überall im Heiligen Land christliche Wallfahrtsorte gegründet, die von Pilgern eifrig besucht wurden. Für die Muslime jedoch ist al-Quds nach Mekka und Medina der dritte heilige Ort des sunnitischen und eine der wichtigsten heiligen Stätten des schiitischen Islam. Wenngleich nicht verpflichtend, wird die Wallfahrt nach Jerusalem im Islam doch empfohlen. Zu Zeiten, als Mekka aus politischen Gründen nicht zugänglich war, wurde die Jerusalem-Wallfahrt als vollwertiger Ersatz der großen hadsch zur Kaaba nach Mekka anerkannt. Die Muslime waren nach der Eroberung Jerusalems fest entschlossen, Juden und Christen zu respektieren, die als «Völker der Schrift» das Recht hatten, ihren Kult auszuüben, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Vom 7. bis zum frühen 11. Jahrhundert erlebte Jerusalem im wesentlichen eine Zeit des Friedens. Die christlichen Pilger besuchten weiterhin ihre heiligen Stätten, was auch durch zahlreiche Reiseberichte in lateinischer Sprache bestätigt wird. Die Stadt wurde in Viertel aufgeteilt, so daß die Gläubigen in der Nähe ihrer jeweiligen Heiligtümer lebten. Die Muslime bewohnten den Nordosten und die Mitte um den Haram ash-Sharif die griechischen, aber auch die lateinischen Christen, die offenbar seit dem 9. Jahrhundert eigene Hospize besaßen, ließen sich im
Nordwesten, in der Nähe der Anastasis-Basilika, nieder; die Armenier und Georgier im Südwesten unweit des Berges Zion und insbesondere im Umkreis eines ihrer Hauptheiligtümer, der großen und prachtvollen Jakobskirche; die Juden im Süden zwischen dem Viertel der Ostchristen und der «westlichen Tempelmauer». Diese ethnisch-religiöse Aufteilung der Stadt wurde mit Ausnahme der Kreuzzugszeit zwischen 1096 und 1187 trotz vielfältiger Konflikte zumindest bis zu den arabisch israelischen Kriegen zwischen 1948 und 1967 beibehalten. Die christliche Wallfahrt, die nach einer langen, durch Kriege erzwungenen Unterbrechung in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung nahm, wurde – abgesehen von unbedeutenden Zwischenfällen – weder bekämpft noch behindert. Das Problem war eher die Unregelmäßigkeit des Schiffsverkehrs von und nach dem Orient, der für Westeuropa nur über Süditalien verlief. Doch das Grundverständnis der Pilgerschaft hatte sich geändert, seit die keltischen Wandermönche und ihre Auffassung der Sühnepraxis auch auf dem europäischen Festland Fuß gefaßt hatten. Einer Phase des religiösen Eifers für ein christliches Jerusalem folgte eine neue Welle der Begeisterung, die eng mit der Bußpraxis verknüpft war: Der Pilger wurde jetzt in erster Linie als bußfertiger Sünder angesehen, dessen Rechte und Pflichten die Kirche klar formulierte. Auch die Pilgerrouten von und nach Jerusalem wurden immer verbindlicher, denn sie boten Hilfe und Schutz. Entlang der Straßen gab es, insbesondere in Italien, Hospize und kleinere Wallfahrtsorte, wo man Absolution erlangte und Unterkunft fand. Beschreibungen der Anastasis-Basilika jener Zeit zeigen, daß, verglichen mit Angaben vor dem Persereinfall, die Schäden an dem Gebäude enorm und die Restaurierungsarbeiten überhastet vorgenommen worden waren. Der Mönch Bernhardus, der im Jahr 870 nach
Jerusalem pilgerte, bezeugt, daß zum Ausgleich für die Pilger mit römischem Ritus und lateinischer Sprache unweit des Heiligen Grabes ein Hospiz eröffnet wurde, das identisch mit dem zu sein scheint, das Karl der Große mit Erlaubnis des Kalifen von Bagdad, Harun ar-Rashid, eröffnet hatte. Es wurde gleichzeitig mit der Kirche Santa Maria Latina erbaut, die sehr nahe an der Grabeskirche (etwas südöstlich davon) lag und von den Benediktinermönchen eines angrenzenden Klosters betreut wurde. Aber auch die Heilige Stadt blieb von den Kämpfen innerhalb des Islam, der politischen Zersplitterung der Kalifatsmacht, den dynastischen Kämpfen und Feindseligkeiten zwischen Sunniten und Schiiten nicht lange verschont. Der gesamte Nahe Osten und das Gebiet des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds weist seit biblischen Zeiten auch eine geohistorische Besonderheit auf, die in unregelmäßigen Zeiträumen große Bedeutung erlangt. Das zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Jordan, zwischen dem Libanon und dem Roten Meer gelegene und von Karawanen durchzogene Gebiet war unter den Machthabern Syriens, Mesopotamiens und Ägyptens stets heiß umkämpft; auch im 10. Jahrhundert, als Ägypten das Zentrum des fatimidischen Kalifats war. Schon früh fiel Jerusalem den schiitischen Kalifen Ägyptens in die Hände. Einer von ihnen, al-Hakim, der im übrigen als der Begründer der Drusensekte gilt, verfolgte nicht nur die Sunniten, sondern auch Juden und Christen. Er ließ Synagogen und Kirchen schließen, räumte die Klöster und schränkte die Wallfahrt ein. Im Jahr 1009 schließlich befahl er die Zerstörung der Anastasis-Basilika mitsamt der Grabnische unter der Kuppel. Die Anordnungen des Kalifen wurden nur zögernd und unvollständig ausgeführt, nicht zuletzt wohl wegen eines gewissen Widerstands der Muslime Jerusalems, die mehrheitlich Sunniten waren. Das Ausbleiben der
Pilgerströme führte außerdem zu wirtschaftlichen Einbußen. Trotzdem, das Ausmaß der Schäden muß gewaltig gewesen sein, was archäologische Ausgrabungen bestätigen. Nach dem Tod des blindwütigen al-Hakim nahmen die muslimischen Behörden selbst den Wiederaufbau des zerstörten Gebäudes in Angriff und ließen die Wallfahrt wieder zu. Der byzantinische Kaiser Konstantin Monomachos, der natürliche Schutzherr der ortsansässigen Christen (der «Melkiten», «Völker des Königs», vom arabischen malik, der Übersetzung des griechischen Kaisertitels basileus), übernahm die Restaurierung des Heiligen Grabes. Mitte des 11. Jahrhunderts waren die Wiederaufbauarbeiten der Kirche beendet. Die Amalfitaner wiederum, die seit langem eine bedeutende und hochgeschätzte Handelsmacht darstellten, bauten im dritten und vierten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts das alte Hospiz Karls des Großen wieder auf, das nunmehr, auch mit neuen Kirchen ausgestattet, in einem Viertel südöstlich des Heiligen Grabes lag. Dieses Viertel wurde Muristan, «Hospiz», genannt. Doch den dort ansässigen Christen und insbesondere den Jerusalempilgern drohte neues Ungemach: Angesichts des ständigen Wechsels der Macht in Palästina, die im 11. Jahrhundert einmal die Fatimiden und dann wieder die Abbasiden innehatten, setzten die Kalifen von Bagdad türkisch-seldschukische Milizen ein, die neu zum Islam bekehrt waren und ziemlich hart vorgingen. Nachrichten von Raub und Überfällen gelangten zunehmend in den Westen. Allerdings wirken sie oft wie nachträglich ausgeschmückte, legendenumwobene Argumente zur Begründung und Rechtfertigung der Kreuzzüge – wie alle Schilderungen von Übergriffen oder wie jene angeblichen Visionen des Jerusalempilgers Petrus Eremita, die ihn, nach Europa zurückgekehrt, zu seinen Kreuzzugspredigten inspirierten.
Richtig ist, daß Pilger und Reisende in Jerusalem vielfältigen Gefahren ausgesetzt waren. Die Umgebung der Stadt galt als unsicher, Raubüberfälle waren an der Tagesordnung, und um nach Jerusalem und dort zur Anastasis-Basilika zu gelangen, mußte man Wegegeld bezahlen. Dennoch nahm das Pilgerwesen in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung, und die Pilger kamen nicht selten in Begleitung einer bewaffneten Eskorte. Die Reiseumstände, insgesamt betrachtet, dürften also zumutbar gewesen sein.
Die Kreuzzüge Die Umwälzungen in Gesellschaft und Umwelt, bedingt durch den Bevölkerungszuwachs und politisch-religiöse Auseinandersetzungen, sowie die allgemeine Erwartung des Weltendes steigerten in der abendländischen Christenheit Furcht und Schrecken. Man blickte mit neuen Hoffnungen auf Jerusalem, wo sich das Schicksal der Menschheit erfüllen sollte. Nach pseudoprophetischen Texten wird hier der letzte christliche Kaiser die Insignien seiner Macht niederlegen und seine Rolle als Stellvertreter an den Herrn der Endzeit abgeben. Weissagungen zufolge, die zu jener Zeit in Umlauf waren, würde dem Zweiten Kommen Christi die Ankunft des Antichrist vorausgehen. Mit dem Jahr 1033 schließlich, der tausendjährigen Wiederkehr des Todes Christi, wurden Endzeiterwartungen und eschatologische Ängste erneut geschürt. Immer größere Massen banger Gläubiger strömten nach Palästina. Die Tatsache guter Beziehungen zum fatimidischen Ägypten allein konnte den Westen nicht beruhigen, wurde doch der wertvollste Schatz der Christenheit, das Grab Christi, von Ungläubigen bewacht. Während sich die gesamte Christenheit
– angefangen vom byzantinischen Kaiser bis zu den Herzögen der Normandie – um den Wiederaufbau der im Jahr 1009 entweihten und zerstörten Grabeskirche bemühte, brachen immer neue Pilgergruppen auf, in der Hoffnung, das Ende der Zeiten im Tal Josaphat zu erleben. Die Angst vor dem drohenden Weltende erfaßte Europa in immer neuen Schüben, und mit Hilfe astronomischer Tabellen und der Schriftdeutung errechneten die Gelehrten fieberhaft dessen genauen Zeitpunkt. Im Jahr 1065, als der Tag der Menschwerdung Christi auf den Karsamstag fiel (den 25. März, nach Berechnungen des alten Kalenders und anderen Traditionen zufolge gleichzeitig der Tag der Erschaffung der Welt), brach eine Pilgergruppe aus Deutschland auf, um den Tag des Jüngsten Gerichts in Jerusalem zu erleben. Losgelöst von diesem Kontext und der langen Geschichte der spirituellen Bedeutung des Wallfahrtsgedankens bleibt die Begeisterung, mit der Europa dann im Jahr 1095 auf den Aufruf Papst Urbans II. reagierte, unverständlich. Die Predigt Papst Urbans II. im November 1095 in Clermont war jedoch keineswegs der Aufruf zu einem «Kreuzzug». Der Begriff fand erst sehr viel später (nicht vor dem 13./14. Jahrhundert) Eingang in den lateinischen Wortschatz und die europäischen Idiome. Papst Urban beschränkte sich vielmehr darauf, einmal mehr die blutige Gewalt zu verurteilen, die die Christenheit bedrängte, insbesondere an die französische Ritterschaft zu appellieren, die Hilferufe der Christen im Osten ernst zu nehmen. Konkret hieß das: Bereitstellung von Söldnern für einen Militärzug, den der Basileus Alexios I. Komnenos gegen die seldschukischen Türken auf der Anatolischen Halbinsel führen wollte. Derartiges war im 11. Jahrhundert gang und gäbe. Die normannischen Krieger hatten sich schon oft zum Militärdienst anwerben lassen, und ihr Kampfeinsatz in Asien nach der verheerenden Niederlage von
Manzikert wurde sehr geschätzt. Diese abendländischen border fighters, die oft eine zwielichtige Identität besaßen und als Vermittler zwischen Christentum und Islam und ethnisch unterschiedlichen Kulturen fungierten, unterschieden sich kaum von den abenteuerlustigen Söldnern, die Spanien zu jener Zeit unsicher machten (und deren berühmtestes Beispiel El Cid ist), oder von den byzantinischen Kriegern aus der epischen Dichtung Dighenis Akrites. Ähnliches gilt auch für die boghatyry, die in den russischen Bylyne die Heiden aus der Steppe zwar bekämpften, ihre Sitten und Eigenarten aber kannten und schätzten; für die Helden des großen georgischen «Ritterromans» des Nationaldichters Chota Rustaveli (Der Recke im Tigerfell) oder für die türkischen ghazi Anatoliens. Der Appell Papst Urbans fand in der europäischen Aristokratie zwischen 1095 und 1096 einen ungeheuren Widerhall. Eine Massenbewegung entstand, angeführt von Ritterheeren, denen sich eine nicht genauer bestimmbare, mit Sicherheit aber große Zahl von pauperes als Jerusalempilger anschlössen. Man hat die Ritter, die an diesem Militärzug teilnahmen, als deracines bezeichnet, die ihr Glück suchten, bzw. als milites, die, durch feudalherrschaftliche Strukturen in Europa zur Sicherung der Abstammungslinie ihres Erbes beraubt, gezwungen waren, den Weg des Abenteuers zu wählen. Dieser Topos, der eine große suggestive Kraft besaß, bildet den Nährboden des Ritterromans, in dem die authentischen und nicht immer sehr rühmlichen Eskapaden («aventure») der Söldner und Kreuzritter sublimiert und idealisiert wurden. In Wahrheit aber waren die Anführer dieser Kämpfer, die nach Konstantinopel und – nach Absprache mit dem Basileus – weiter nach Asien zogen, alles andere als Abschaum der feudalwirtschaftlichen Gesellschaft dieser Zeit. Zu ihnen gehörten Fürsten wie der Markgraf der Provence, Herrscher über einen Großteil Südfrankreichs; Herzog Robert
von der Normandie, Bruder des Königs von England; der Bruder des Königs von Frankreich; der Herzog von Niederlothringen; der Graf von Flandern, der weite Territorien am dicht besiedelten Unterlauf der großen Flüsse beherrschte, die zwischen Frankreich und Deutschland in die Nordsee fließen; und Robert Guiscards ältester Sohn. Es war ein Hochadel in der Krise, der entweder von Verwandten oder schwierigen Potentaten in unmittelbarer Nachbarschaft bekämpft wurde oder im Konflikt zwischen dem Papst und dem römisch-deutschen Reich auf der «falschen Seite» (also auf der Verliererseite) stand. Diese Adeligen brannten darauf, ein paar Jahre lang – oder für immer – eine andere Luft zu atmen und in der Fremde womöglich zu Macht und Reichtum zu kommen – einen «neuen Himmel und eine neue Erde» zu finden, wie es in der Offenbarung heißt. Dieser Exodus von domini und milites begünstigte unter anderem das Entstehen der großen Feudalmonarchien. Es waren Scharen bewaffneter Kämpfer und ursprünglich nur zu ihrer Selbstverteidigung bewaffneter Pilger, die cruce signati genannt wurden – nach dem Symbol der Pilgerschaft und der Buße, das ihnen Urban II. in Clermont verliehen hatte und ein sichtbares Zeichen des zeitlichen und ewigen Sündennachlasses war. In einem zweijährigen Marsch und unter unerhörten Mühen und Entbehrungen durchzogen sie Anatolien und Syrien. Zwischen Frühjahr und Frühsommer 1099 marschierte schließlich das Kreuzfahrerheer nach Jerusalem, durchbrach die Stadtmauer an ihrer schwächsten Stelle im Nordosten und eroberte am 15. Juli desselben Jahres die Stadt im Sturm. Die «Franken», wie die Westeuropäer von Byzantinern, Ostchristen, Juden und Sarazenen genannt wurden, fielen in der Heiligen Stadt ein und metzelten fast alle muslimischen und jüdischen Bewohner nieder. Hätte der sarazenische Gouverneur vor Beginn der Belagerung nicht die
Ostchristen, denen er mißtraute, aus der Stadt vertrieben, wäre ihnen wohl dasselbe Schicksal zuteil geworden, da die Europäer sie von den anderen Bewohnern wahrscheinlich gar nicht hätten unterscheiden können. Die Stadt wurde von den zuvor vertriebenen Ostchristen und von syrischen und armenischen Glaubensgenossen neu besiedelt. Zumindest in der ersten Zeit war Muslimen und Juden der Aufenthalt verboten. In Ermangelung sicherer Beweise hat man sich immer wieder gefragt, ob den Europäern bei der Eroberung der Heiligen Stadt nicht vorschwebte, sie dem Einfluß oder der direkten Herrschaft der Kirche von Rom zu unterstellen. Jedenfalls wurde sofort ein lateinischer Patriarch gewählt. Da das Schisma der beiden Kirchen bereits seit fünfundvierzig Jahren bestand, hielt man es wohl für unangebracht, sich einem griechischen Bischof unterzuordnen. Nach langem Hin und Her einigten sich die Heerführer auf einen gesundheitlich angeschlagenen und nicht sehr tatkräftigen Fürsten, der kaum Macht besaß: Gottfried von Bouillon, Herzog von Niederlothringen. Es war sein Wille (oder der eines ihm vertrauten Prälaten), «nicht an einem Ort die Goldkrone zu tragen, an dem Christus mit Dornen gekrönt worden war». Mit anderen Worten: Nicht ein König wurde gewählt, sondern ein Advocatus Sancti Sepulchri, ein «Beschützer des Heiligen Grabes», der die weltlichen Angelegenheiten der Kirche regelte und dessen Patriarchensitz die Grabeskirche war. Doch im Jahr 1100, nach dem Tod Gottfrieds, ließ sich dessen Bruder Balduin von Boulogne die Königswürde übertragen, auch wenn völlig unklar war, auf welcher Machtgrundlage ein solcher Herrscher überhaupt hätte gewählt werden können. So entstand das «fränkische Königreich Jerusalem», eine Wahlmonarchie von zeitweilig dynastischem Charakter, dessen
Krone auch an weibliche Nachkommen übertragen werden konnte. Acht Könige folgten einander in Jerusalem, bevor sich die Muslime von dem überraschenden Militärschlag des Jahres 1099 erholt hatten und die Stadt zurückgewannen. In der Schlacht von Hattin am See Genezareth im Juli 1187 wurden die Christen so schwer geschlagen, daß sie den Fall Jerusalems hinnehmen mußten. Im Oktober desselben Jahres eroberte der Emir von Syrien und Ägypten, Yusuf ibn Ayyub Salah ad-Din (der «Saladin» der abendländischen Chroniken), die Heilige Stadt. Das Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem bestand über diesen Zeitpunkt hinaus weiter, allerdings nurmehr in einem Territorium an der Küste, die noch von den Kreuzfahrern gehalten wurde. Der Hof nahm in dem schönen und befestigten Akkon Residenz. Man hat die Kreuzfahrerstaaten Jerusalem und Akkon (ähnlich wie die spanischen «Kreuzfahrer»-Fürstentümer) als eine Art koloniales Experiment bezeichnet. Doch die wahre Macht in diesem Königreich besaßen die italienischen Städte mit ihren «Handelskolonien» entlang der Küste: Genua, Venedig und Pisa. In diesen Handelsniederlassungen spielten sich die erbitterten Rivalitäten ab, die auch auf dem Kontinent wüteten oder dort sogar ihren Ursprung hatten. Die Niederlassungen an der syrisch-palästinensischen Küste (Beirut, Tyros, Akkon, Haifa, Cäsarea, Jaffa, Askalon) waren wichtige Anlaufstellen für die Karawanen, die über Damaskus, Aleppo und Mosul die Mittelmeerküste mit Innerasien und der «Seidenstraße» verbanden. Die italienischen Kaufleute, die in diesen Handelshäfen ihre Niederlassung hatten, besaßen Zugriff auf die wertvollen orientalischen Handelsgüter, die Gewürze, und kontrollierten deren Verteilung auf den europäischen Märkten. Erst im 13. und 14. Jahrhundert – zeitgleich mit dem
Mongoleneinfall, der Asien eine Zeit des Friedens bescherte – versuchte man, beflügelt vom Missionseifer der lateinischen Kirche, auf den asiatischen Kontinent vorzudringen. Der relativ kurzlebige Kreuzfahrerstaat Jerusalem hatte im 12. und 13. Jahrhundert (zwischen 1187 und 1292 mit Akkon als Hauptstadt) unter den zahlreichen, in Größe und Umfang unterschiedlichen und eigenständigen politischen Zentren zu leiden, die es der Krone schwer machten, ihre Macht de facto auszuüben. Es waren Signorien, die mit weitgehender Immunität ausgestattet waren, Handelskolonien, die als eigenständige Kommunen agierten, und schließlich die geistlichen Ritterorden, Mönchsorden mit einer gewissen Anzahl von Kriegern, die das Gelübde abgelegt hatten, das Heilige Land und die Pilger zu beschützen und zu verteidigen: der Templerorden, die Hospitaliter des heiligen Johannes von Jerusalem und der Orden des Hospitals St. Marien vom Deutschen Hause (der Deutsche Orden). Die ständigen Zwistigkeiten zwischen Signorien, Kommunen und Ritterorden trugen Mitschuld am Niedergang des Kreuzfahrerreiches. Trotzdem entwickelte sich im Lauf der Zeit eine Kultur der Verständigung und des Dialogs mit der muslimischen Welt. Die frisch aus Europa eintreffenden Krieger und Pilger empörten sich über diese Gesellschaft von poulains, von «Bastards», die sich nicht selten mit syrischen und armenischen Familien verschwägert hatten, die arabisch, armenisch und griechisch sprachen und sich ortsüblichen Bräuchen entsprechend kleideten, aßen und lebten. Die Europäer, die jede neue Kreuzzugsexpedition als Kampf ohne Pardon ansahen, betrachteten diese «koloniale» Kreuzfahrergesellschaft als korrupt und islamisiert. Die «überseeischen Franken», die zweihundert Jahre lang immer wieder auf den Beistand ihrer europäischen Glaubensbrüder angewiesen waren, betrachteten wiederum die Europäer als
unkultiviert und gefährlich und bemühten sich lieber um eine möglichst weitgehende diplomatische Verständigung mit den Sarazenen, als den Westen um militärischen, vom Papst sanktionierten Beistand zu bitten. Denn die Anführer der Kreuzfahrer aus dem Westen, Fürsten und Abenteurer, waren eher begierig, Beute zu machen, als den Rat zur Mäßigung anzunehmen. Sie schlugen alle taktischen und logistischen Anregungen in den Wind. Ein intelligenter arabisch-syrischer Schriftsteller, der Emir von Shaizar Usama ibn Munqidh, der Mitte des 12. Jahrhunderts lebte und in diplomatischem Auftrag wie auch privat oft im Kreuzfahrerstaat Jerusalem unterwegs war, hat uns mit seinen Erinnerungen ein lebendiges und eindrucksvolles Bild dieser Gesellschaft hinterlassen. Groß waren die Unterschiede zwischen denen, die sich den orientalischen Gewohnheiten assimiliert hatten und sich dabei wohlfühlten, und denen, die – ob Ritter, Kaufleute oder Pilger – nur für kurze Zeit blieben und sich den Bräuchen und der Mentalität der Einheimischen nicht anpassen konnten. Dank Usama können wir vielleicht die Schwierigkeiten besser erfassen, die wir heute als Ethnozentrismus oder Kulturkonflikt bezeichnen würden. So berichtet er von einem Besuch in dem heiligen Bezirk des Tempels von Jerusalem, dem Hamm ashSharif, der zwar in der Hand der Franken war, den aber zumindest hochrangige Muslime besuchen und als Gebetsstätte nutzen konnten. Die Tempelritter, die die teilweise in eine Kirche, teilweise in ihr Quartier umgewandelte al-AqsaMoschee besetzt hielten und die der Emir als seine Freunde bezeichnete, luden ihn wie gewöhnlich ein, in einem der Moschee benachbarten Gebetshaus nach islamischem Ritus zu beten. Und sie entschuldigten sich, als ein offenbar erst kürzlich aus Europa angekommener Glaubensfanatiker ihn störte und aufforderte, nach christlicher Art zu beten.
Dies ist möglicherweise der Kern eines im westlichen Kulturkreis folgenreichen Vorstellungskomplexes. Der Vorwurf der Sympathie, ja der Komplizenschaft mit den Muslimen gehörte zu jenen Gerüchten und Verleumdungen, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts über die Tempelritter in Umlauf waren. Philipp IV von Frankreich nahm diese Anschuldigungen zum Anlaß für die Verfolgung der Templer und zu einem Prozeß gegen sie in den Jahren zwischen 1307 und 13 12. Dabei stützte man sich auf angebliche «Beweise» für die ketzerischen Anschauungen der Templer, die offenbar in Feindseligkeiten gegenüber dem Islam beziehungsweise der Gnosis und den Katharern begründet waren. Auch die Bezeichnung ihres Symbols als «Baphomet», das man als Götzenbild brandmarkte, läßt an eine der zahllosen Varianten und Verballhornungen des Prophetennamens in lateinischer Sprache oder in den verschiedenen europäischen Idiomen denken. Solche Vorwürfe waren lächerlich und unhaltbar; doch der Prozeß hatte offensichtlich einen politischen Hintergrund. Die Vorwürfe des Proislamismus und der Ketzerei wurden wohl absichtlich vereinfachend vorgetragen, um die französische Öffentlichkeit aufzuhetzen (Anfang des 14. Jahrhunderts kann man in Städten wie Paris durchaus schon von einer Öffentlichkeit sprechen) und dem Papst gegenüber ein Exempel zu statuieren: Der König wollte den Orden verurteilt und aufgelöst sehen und setzte seinen Willen mit aller Macht durch – auch gegenüber dem Papst. Philipp würde vor nichts zurückschrecken, jeder Versuch der Verteidigung oder Vermittlung durch die Kirche sei zwecklos. Jedenfalls war im 12. und 13. Jahrhundert die Tatsache, daß die aus Europa kommenden Kreuzfahrer den «Franken in Übersee» in der Regel kaum Gehör schenkten, eine der
Hauptursachen für das Scheitern der nach dem ersten Kreuzzug unternommenen zahlreichen weiteren Kreuzzüge. Man neigt heute eher dazu, das Bild des Königreichs Jerusalem als auch in kultureller Hinsicht «steril» und unfruchtbar zu modifizieren. Zweifellos ist es richtig, daß das arabische Wissen hauptsächlich über Spanien an den Westen vermittelt wurde. Denn obwohl Städte wie Damaskus, die eine große geistige Tradition besaßen, nicht weit entfernt lagen, war die syrisch-palästinensische Küste innerhalb der islamischen Welt ein eher provinzieller Raum. Die scriptoria von Jerusalem, Akkon und Tyros entwickelten dennoch eine rege Tätigkeit, deren Verdienste man erst in neuerer Zeit richtig einzuschätzen vermochte. Ein weiteres bedeutendes Zentrum der Gelehrsamkeit war das Königreich Zypern, Ende des 12. Jahrhunderts entstanden und beherrscht von der Familie der Lusignan. Auch die Lusignan waren gezwungen, sich mit den ständigen Fehden der italienischen Seestädte und der rivalisierenden Organisationen des Templerund Johanniterordens zu arrangieren. Jerusalem besaß innerhalb der christlichen Welt eine herausragende symbolische und spirituelle Bedeutung und hatte in der abendländischen Welt eine besondere Beliebtheit als Pilgerstätte erlangt. Daher spielte diese Stadt auch als Vermittlerin zwischen Europa und Islam – in ihren freundlichen wie feindseligen Begegnungen – eine grundlegende Rolle.
Von den Ayyubiden zu den Mamluken Mit dem Tod Saladins im Jahr 1193 zerfiel das Reich, das er gegründet hatte. Seine Nachfolger entzweiten sich; damit trat im Heiligen Land erneut eine uns bereits bekannte
geographiegeschichtliche Besonderheit hervor: Erneut machten sich die Machthaber Syriens (oder Mesopotamiens) und Ägyptens die Vorherrschaft über das Heilige Land streitig. Die Sultane der Ayyubiden-Dynastie, deren Begründer Saladin war, teilten das ererbte Herrschaftsgebiet unter sich auf: Der Ayyubide von Kairo, al-Malik al-Kamil, der in vielerlei Hinsicht auch die Qualitäten Saladins geerbt hatte, erhielt Jerusalem zugesprochen. Intelligent, gemäßigt und dem einmal gegebenen Wort treu, wurde er durch eine Begegnung mit Franz von Assisi berühmt, die wohl tatsächlich stattgefunden hat, auch wenn abendländische Quellen die Begegnung legendenhaft ausgestalten (doch es gibt auch Berichte im muslimischen Raum). Aber sein Ruhm gründet auch in seinem diplomatischen Geschick. Der Sultan handelte mit Kaiser Friedrich II. einen Vertrag aus. Als Herrscher von Sizilien und Süditalien lag diesem viel an gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu al-Malik al-Kamil; außerdem teilten beide das gleiche naturwissenschaftliche Interesse. Dieser im Jahr 1229 ausgehandelte Waffenstillstand sah praktisch den Abzug aller Truppen aus der Heiligen Stadt vor, die Rückgabe der christlichen heiligen Stätten an die Christen, aber auch die Beibehaltung der muslimischen Verwaltung des Hamm ash-Sharif. Eine ausgewogene Einigung, die 1240/41 von Richard von Cornwall, einem Bruder des englischen Königs Heinrich III. und beinahe pazifistisch zu nennenden Kreuzfahrer, erneuert wurde. Das Bemerkenswerte dieses Vertrags, der später als ein Musterbeispiel an diplomatischer Klugheit angesehen wurde, war jedoch dessen Fragilität. Das Abkommen stand und fiel nämlich mit den guten diplomatischen Beziehungen zwischen den christlichen Mächten, die im Heiligen Land politische Interessen verfolgten, und den Ayyubiden-Sultanen von Kairo. Doch waren die christlichen Mächte untereinander heillos
zerstritten. Durch den Einfall der Mongolen auf den europäischen Kontinent spitzte sich die Situation weiter zu. Daher bemühten sich einige der Fürsten um Bündnisse mit den Ayyubiden von Damaskus, wodurch das gesamte politische Gleichgewicht ins Wanken geriet. Der Herrscher von Kairo ergriff Gegenmaßnahmen und warb rund zehntausend Söldner aus dem südlichen Zentralasien an, aus Khwarizm am Unterlauf des Amu Darja im Gebiet zwischen dem heutigen Usbekistan und dem heutigen Turkmenistan. Diese stürmten im Juli 1244 Jerusalem, plünderten es, schändeten die heiligen Stätten und töteten die Bewohner. Noch unter dem Schutz Saladins (und in Einklang mit der islamischen Tradition) hatte sich in Jerusalem inzwischen eine große jüdische Gemeinde angesiedelt, mehrheitlich Flüchtlingsfamilien aus Frankreich und England. In England war inzwischen ein Regime an der Macht, das die Juden verfolgte und ihre Rechte einschränkte; wiederholt wurden sie der Hostienschändung und des rituellen Kindermords angeklagt. Zur gleichen Zeit – und aus ähnlichen Gründen – flüchteten zahlreiche Juden vor allem aus Frankreich ins islamische Spanien. Während der Kreuzzüge war Jerusalem auch das Ziel berühmter jüdischer Reisender, etwa des großen Gelehrten Maimonides oder Benjamins von Tudela. In ayyubidischer Zeit wanderte der Spanier Moshe ben Nahman, bekannt unter dem Namen Nahmanides, nach Jerusalem aus und baute dort ein jüdisches kulturelles Leben auf. Die Zerstörung Jerusalems durch die Khwarizmier im Jahr 1244 war einer der Gründe, die den französischen König Ludwig IX. bewogen, gegen das ayyubidische Ägypten einen Kreuzzug zu unternehmen – ein Gedanke, mit dem er sich schon lange getragen hatte. Ludwig wurde besiegt und gefangengenommen. Während seiner Gefangenschaft wurde er im Jahr 1249 Zeuge des Umsturzes, der die Nachfolger
Saladins vom Thron Kairos fegte. An ihre Stelle trat eine neue Dynastie, die Mamluken, ehemals Sklaven zumeist asiatisch kaukasischer Herkunft (Türken, Kurden, Tscherkessen, Tataren), die am Nil als Soldaten lebten. (Mamluk stamt aus dem Arabischen und heißt soviel wie «Sklave».) Die erste Phase der Herrschaft der Mamluken, die Jerusalem fest in ihrer Gewalt hatten, war von zahlreichen Militäraktionen gekennzeichnet. Die Mamluken machten sich die Rivalitäten zwischen den noch verbliebenen Kreuzfahrermächten zunutze, insbesondere die Reibereien zwischen den Venezianern und Pisanern auf der einen und den Genuesen auf der anderen Seite sowie zwischen den Templern und den Hospitalitern. Im Jahr 1260 besiegten die Mamluken die Koalition der Mongolen mit den Kreuzfahrern und unternahmen einen Feldzug zur Vertreibung der letzten «fränkischen» Statthalter aus Syrien und Palästina, die sich in einige Städte an der Küste und Befestigungen der Ritterorden zurückgezogen hatten. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatten sie ihr Ziel erreicht: Die letzte Kreuzfahrerfestung Akkon fiel im Jahr 1291. Die Mamluken begannen nun, systematisch die Infrastruktur der Häfen abzubauen. Sie drosselten die landwirtschaftliche Produktivität, was zu Entvölkerung und Verwüstung führte, zur Umleitung des Karawanenverkehrs und damit zu einer Verarmung einer einstmals blühenden Region binnen weniger Jahrzehnte. Dies war keineswegs Nachlässigkeit oder Mißwirtschaft zuzuschreiben, sondern entsprang einer bewußten politischen Entscheidung: Die Mamluken wußten sehr wohl, daß die Christen an Jerusalem ein religiöses und politisches Interesse hatten, aber sie erkannten auch, daß seit mehr als zweihundert Jahren Wirtschaft und Handel mit Religion und Politik Hand in Hand gingen – was immer neue Kreuzzugsexpeditionen rechtfertigte. Wäre erst einmal der wirtschaftliche Anreiz
zerschlagen, könnten die «Franken» daraus keinen Nutzen mehr ziehen. Als Herrscher über Ägypten waren die Mamluken zudem in der Lage, den gesamten Verkehr durch das Rote Meer und den Nil entlang bis zu seinem Delta und zu den Handelshäfen Alexandria und Damiette zu kontrollieren, und der Handel entlang des syrisch-palästinensischen Küstenstreifens war ihnen ein Dorn im Auge. War diese Region unzugänglich, käme das auch dem Handel am Nil zugute. Mit derartigen taktisch-strategischen und wirtschaftlichkommerziellen Schachzügen waren die Mamluken für den (nicht zuletzt auch demographischen) Niedergang der syrischpalästinensischen Welt verantwortlich, der bis heute andauert und dem man erst in den letzten Jahrzehnten entgegengewirkt hat. In Jerusalem erwiesen sich die zu Herrschern gewordenen Militärsklaven als eifrige Förderer des Islam; sie respektierten aber auch die Rechte der Juden und Christen und zeigten Toleranz gegenüber den Pilgern, die zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert scharenweise ins Heilige Land reisten. Es wurde sogar eine eigene «Schiffahrtslinie» von Venedig aus eingerichtet, um die Reisenden zu befördern. Auf diese Weise floß Geld auch in die Kassen der Sultane und muslimischen Kaufleute. Die Stadtmauern Jerusalems wurden restauriert, das Gebiet des Hamm ash-Sharif restrukturiert und zahlreiche Medresen erbaut. Um sich die Kontrolle zu erleichtern, spielten die Mamluken die eroberten Gemeinschaften gegeneinander aus. Der Wahrheit halber muß man sagen, daß sie dies auf sehr gemäßigte Weise taten. So begünstigten sie beispielsweise die Christen gegenüber den Juden und waren insbesondere den Franziskanern wohlgesonnen, die von den Herrschern Neapels aus dem Haus Anjou, engen Verbündeten der Mamlukensultane, unterstützt wurden. Im Jahr 1309 erteilte
der Sultan den Minoriten offiziell die Erlaubnis, sich bei der Grabeskirche, auf dem Berg Zion und in Bethlehem niederzulassen. 1333 erwarb Robert, König von Neapel, vom Sultan das Besitzrecht an einem Ort unmittelbar außerhalb der Mauern südlich der Stadt. Diesen Ort, der traditionell mit dem Coenaculum, dem Raum des Letzten Abendmahls, gleichgesetzt wird, trat er im Jahr 1342 an die Minoriten ab. Damit etablierten sich die Franziskaner als Bewacher des Heiligen Landes (der Kustos des Franziskanerkonvents auf dem Berg Zion sollte später der Wächter des Heiligen Landes sein). Der Abendmahlssaal wurde im gotischen Stil in jener Form hergerichtet, in der man ihn heute noch bewundern kann. Doch in der Durchsetzung der rechtlichen Bestimmungen des Islam erwiesen sich die Mamlukenherrscher als rigoros. So wurde beispielsweise eine Restaurierung der Kultstätten der unterworfenen Gemeinden nicht zugelassen. Daher präsentierten sich den Pilgern und Reisenden zahlreiche christliche Kirchen in einem erbärmlichen und verwahrlosten Zustand, was im 19. Jahrhundert dem romantischen Geschmack allerdings sehr entgegenkam. In vielen Beschreibungen und bildlichen Darstellungen des 16. bis 19. Jahrhunderts findet dieser desolate Zustand des gesamten Landstrichs deutlichen Ausdruck. Im Laufe des 15. Jahrhunderts zerfiel die Mamlukenherrschaft in Ägypten, nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen. Eine genaue Lektüre der Tagebücher westlicher Reisender Mitte des 14. bis Anfang des 16. Jahrhunderts zeigt, daß Jerusalem zunehmend verfiel. Die Verwaltung wurde immer nachlässiger und korrupter, die Bevölkerungszahl schrumpfte, die Menschen verarmten infolge Naturkatastrophen wie Hungersnot, Pest und Erdbeben.
Man schätzt, daß die Zahl der Bewohner von 50000 Mitte des 13. Jahrhunderts auf rund 10000 zweieinhalb Jahrhunderte später sank.
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Konfrontationen und Begegnungen im 12. und 13. Jahrhundert
«Gesta Dei per Francos» Wir haben den Begriff «Kreuzzug» bisher nur zurückhaltend verwendet und es vermieden, die übliche Numerierung hinzuzusetzen. Das lateinische Wort cruciata (eine offensichtliche Rückübersetzung aus den Volkssprachen) wird erst spät gebraucht. Für die Zeit vor dem 13./14. Jahrhundert davon zu sprechen ist ein Anachronismus, der allerdings durch die Konventionen der Geschichtsschreibung gerechtfertigt ist. Die Quellentexte zum ersten Kreuzzug sprechen nämlich von cruce signati, bevorzugen aber gleichzeitig präzisere und allgemeinere Termini, beispielsweise peregrini. Weit über das 13. Jahrhundert hinaus, ja bis ins späte 18. Jahrhundert wurden solche Expeditionen zumindest diskutiert und geplant. Diese zahlreichen, jeweils durch einen Aufruf des Papstes legitimierten Expeditionen wurden unternommen, um dem Heiligen Land der Kreuzfahrer zu Hilfe zu eilen oder es zurückzuerobern. Um diese verschiedenen Unternehmungen zu unterscheiden oder um umgekehrt ihre Ziele einander anzunähern (so verschiedenartig der unmittelbare Zweck auch war), verwendeten Päpste und Kanoniker zunächst gewöhnlich Begriffe wie iter («Militärexpedition»), via Hierosolymitana oder peregrinatio («Pilgerschaft»), später auxilium und succursus (um die Dringlichkeit und den
Verteidigungscharakter des Unternehmens zu kennzeichnen) und schließlich passagium in Anspielung vor allem auf den maritimen Charakter der Reise ins Heilige Land. Aufgrund seines starken symbolischen und evokatorischen Werts avancierte insbesondere der Begriff passagium. Er hielt sich als semantisch-sentenzenhafter Ausdruck in einigen europäischen Idiomen. Das passagium konnte particulare sein, wenn das Unternehmen aufgrund der Initiative einzelner geplant war beziehungsweise von Gruppen mit beschränkten Zielen durchgeführt wurde – solange es dem eigentlichen Fernziel, der Befreiung Jerusalems, subsummiert werden konnte; es konnte aber auch generale und universale sein, wenn der Papst selbst die gesamte Christenheit dazu aufrief, einen militärischen oder finanziellen Beitrag zu leisten (durch Abgabe des Kirchenzehnten, durch Almosenspende, Zahlung einer Geldsumme für den Ablaß oder durch den Nachlaß). Mitte des 13. Jahrhunderts prägten Kirchenrechtler wie Heinrich von Susa (besser bekannt als «Kardinal von Ostia») oder Sinibaldo Fieschi den Begriff crux transmarina für die direkt auf die Rückeroberung des Heiligen Landes und die gegen die Muslime und Heiden allgemein gerichteten Unternehmungen (einschließlich der Kreuzzüge in Spanien und der Kreuzzüge gegen die Slawen und die Balten in Nordosteuropa) beziehungsweise den Begriff crux cismarina für alle Züge gegen Ketzer. Ein typisches Beispiel ist der sogenannte «Albigenser-Kreuzzug». Später, Anfang des 15. Jahrhunderts, waren es die Kreuzzüge gegen die Hussiten, gegen die politischen Gegner des Papsttums (so wie im 13. Jahrhundert gegen die Staufer und die Aragonesen oder im 14. Jahrhundert die italienischen Ghibellinen) oder gegen Kräfte, die als gesellschaftsfeindlich beziehungsweise für das Christentum gefährlich betrachtet wurden; beispielsweise die
Stedinger Marschbauern beiderseits der Unterweser, die gegen den Erzbischof von Bremen rebellierten. Im Jahr 1233 erließ Papst Gregor IX. gegen sie die Bannbulle Vox in Rama; oder die Söldnertruppen im 14. Jahrhundert. Die Kreuzzugsunternehmungen wurden im 12. Jahrhundert von den europäischen Herrschern organisiert, bis die Päpste, angefangen mit Innozenz III. die Führungsrolle für sich beanspruchten und das ausschließliche Recht forderten, zu den Kreuzzügen aufzurufen – gewährten sie doch den Kreuzfahrern den vollständigen Sündennachlaß. Damit wurden die Kreuzzüge zu einem außerordentlichen Druckmittel und zu einem rechtlichen, militärischen und finanziellen Machtinstrument des Christentums. Denn derjenige, der sein Kreuzzugsgelübde brach oder nur zögerlich erfüllte, konnte exkommuniziert werden, was praktisch den Verlust aller bürgerlichen Rechte bedeutete. Andererseits wurde auch die Zahlung einer bestimmten Geldsumme oder die Teilnahme an einer anderen Unternehmung von der Kirche als gleichwertiger Ersatz für die Kreuzzugsteilnahme anerkannt. Im Laufe der Zeit wurden in der Sprache des Kirchenrechts und der Konzilien dafür Begriffe wie causa crucis oder negotium crucis geläufig. Der Mißbrauch und die Umdeutung dieser rechtlichen Praxis sowie die Hartnäckigkeit und Anmaßung der Kreuzzugspredigten, die seit dem 13. Jahrhundert den Bettelorden oblagen, führten zu einer gewissen Ermüdung, zu Widerstand und Empörung. Diese kritischen Stimmen lehnten allerdings nicht die Kreuzzugsidee als Kampf gegen die Ungläubigen generell ab. Im Gegenteil: Sie wandten sich gegen die Praxis, zu oft das ursprüngliche und eigentliche Ziel des Kreuzzugsgedankens – die Verteidigung oder Rückeroberung des Heiligen Grabes – aus den Augen verloren und andere, der päpstlichen Kurie genehmere Ziele politischer
oder wirtschaftlicher Art an deren Stelle gesetzt zu haben. In jedem Fall kann man die Kreuzzüge nicht als Religionskriege deuten. Kein Theologe und kein Kirchenrechtler hat jemals explizit den Gedanken geäußert, letztes Ziel der Kreuzzüge sei die Bekehrung der Ungläubigen – notfalls mit dem legitimen Recht, die «Ungläubigen» zu töten. Der Kreuzzugsgedanke ist vielmehr Ausdruck eines geschlossenen und gleichzeitig äußerst vielschichtigen Systems. Er bleibt nur aus seiner inneren Dynamik heraus verständlich und beinhaltet rechtlich strenge und kohärente Regelungen, gliedert sich dabei aber in eine Vielzahl phänomenologisch unterschiedliche Einzelfälle, die sich je nach Zielsetzung, zeitlichem Kontext und historisch konkretem Anlaß voneinander unterscheiden. Es handelt sich also um ein schillerndes Phänomen, gleichsam um den weißen Wal der Christenheit. Der Kreuzzug ist gleichzeitig juristisch politisches Instrument, machtvolle Idee und unerschöpfliche Quelle für Metaphern – ein Mythos, ein endloser Gegenstand von Apologien, Verurteilungen, Polemiken und Mißverständnissen, die sich in unterschiedlichen Situationen immer wieder neu und anders instrumentalisieren lassen. In Clermont waren im November 1095 auch Spanier vertreten. Aber von Anfang an redete ihnen der Papst den Orient aus. Sie kannten die «heidnische» Bedrohung im eigenen Land. Nach der Niederlage von Zallaqa im Jahr 1086 drang die Verzweiflung des Königs von Kastilien bis nach Rom. 1089 hatte Papst Urban II. das Ablaß versprechen über die Jerusalempilger hinaus auch auf jene ausgedehnt, die beim Wiederaufbau Tarragonas mithalfen, um ein Bollwerk gegen die Sarazenen in Spanien zu errichten. Dies wurde auf dem Ersten Laterankonzil im Jahr 1123 kirchenrechtlich sanktioniert. Von der Begeisterung, mit der die Botschaft von Clermont aufgenommen wurde, wohl selbst überrascht und
zudem beunruhigt, daß so viele seiner Anhänger in den Orient aufbrachen (denn der Kampf gegen Heinrich IV. war noch in vollem Gange), bemühte sich der Papst in den folgenden drei Jahren darum, den Strom der Aufbruchwilligen durch Bullen und Gesandtschaften seines Vertrauens in Bahnen zu lenken. Er unterstützte und forderte Militärzüge und Flottenexpeditionen in die Seestädte am Tyrrhenischen Meer, bremste aber entschieden (mit welchem Erfolg, wissen wir nicht) den Aufbruch von Mönchen und Verheirateten, die durch ihre Abreise die sozialen Verhältnisse destabilisierten. Er stellte deren Schicksal dem Ermessen der Äbte und Ehepartner anheim; Älteren und Untauglichen riet er von einer Teilnahme ab. Er war sich bewußt, daß sich der iter des eigentlichen Heeres, den er unterstützte, mit den Pilgerströmen verband, die sich 1096 und 1097 den militärischen Verbänden anschlossen. Dies war keineswegs ungewöhnlich. Denn die Pilgerscharen des 11. Jahrhunderts wurden – zumindest während eines Großteils der Überfahrt – von Bewaffneten begleitet. Doch jetzt kam ein überraschendes und beunruhigendes Phänomen hinzu. Die Haufen von «Pilgern» hinterließen eine Spur der Verwüstung und des Verbrechens. Die Massaker an den jüdischen Gemeinden am Rhein und an der Donau im Jahr 1095 erhellten, daß die durch endzeitliche Erwartungen aufgewühlten Massen unberechenbar waren. Sie zeigten aber auch, daß im Zuge der sozialen Mobilität und der religiös motivierten Ängste jener schwierigen Zeit die Wallfahrt mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen verknüpft wurde. Allen Bemühungen zum Trotz, zu den «Wurzeln» und «Ursprüngen» des Kreuzzugsgedankens vorzudringen – es waren Unwägbarkeiten, unvorhersehbare Zufälle und unentwirrbare Motive, die eine solche Euphorie ausgelöst hatten.
Die Nachrichten von dem Kreuzzugsunternehmen, die in den Jahren 1097 und 1098 von der Anatolischen Halbinsel nach Europa drangen, waren so widersprüchlich, daß der Papst erst auf dem Konzil von Bari im Oktober 1098 eine einigermaßen klare Vorstellung davon bekam, was sich an der asiatischen Küste eigentlich abspielte. Beteiligt an diesem Kreuzzug, ja einer seiner Hauptakteure war der italienische Normannenfürst Bohemund von Altavilla, der älteste Sohn Robert Guiscards und Neffe des Großgrafen Roger. Der mochte ihn nicht und mißtraute ihm und war daher froh, daß sich sein Neffe in das Abenteuer in Anatolien und Syrien stürzte. Er rührte aber keinen Finger, ihm zu helfen und dadurch seine guten Beziehungen zu den afrikanischen Potentaten aufs Spiel zu setzen. Um seine Eroberung Siziliens zu vollenden und seine Macht zu konsolidieren, brauchte er Frieden. Daher hatte er im Jahr 1087 das Angebot abgelehnt, sich an der Eroberung al-Mahdiyas zu beteiligen. Der Fall der Stadt hätte dem Großgrafen nach der Beherrschung der sizilianischen Hafenstädte auch die Kontrolle jenes Meeresarms gebracht, durch den der gesamte Schiffsverkehr vom westlichen ins östliche Mittelmeer lief. Doch Roger wußte genau, daß er eine derart bedeutende Eroberung nicht würde halten können, da er sich die Feindschaft der Almoraviden, Ziriden und Fatimiden zugezogen hätte. Entgegen dem Willen des Papstes, der auch den Sizilienfeldzug befürwortet und legitimiert hatte, zeigte Roger daher nicht die geringste Absicht, sich mit dem iter Hierosolymitanum zu kompromittieren. Ibn al-Athir, ein großer irakischer Chronist, der um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert lebte, berichtet, die fränkischen Fürsten hätten Roger eingeladen, sich an der Expedition zu beteiligen und seine Häfen als Basis für die Eroberung Afrikas zur Verfügung zu stellen. Doch Roger, unwillig, seine gutnachbarschaftlichen
Beziehungen zu den ziridischen Emiren aufs Spiel zu setzen, hatte seinen kriegerischen Glaubensgenossen geraten, sich lieber Syrien als Ziel zu suchen. Rund hundert Jahre nach diesen Ereignissen stellte der arabische Historiker eine ganz neue und eigenständige Atiologie des Kreuzzugs auf: Die Franken, von sizilianischen Häfen aus bereit, Afrika zu erobern, hätten sich nur durch das Drängen Rogers nach Jerusalem «umdirigieren» lassen. Im übrigen wird die politische Situation des Eroberers von Sizilien mit beachtlicher Scharfsichtigkeit dargestellt. Auf dem Konzil von Troyes im Jahr 1128 erhielt die zuvor bescheidene fraternitas von Rittern, die sich um den «Tempel Salomons» versammelt hatten, um den Pilgern zu helfen und sie zu beschützen, den Status einer militia. Damit war der Weg für die Gründung der geistlichen Ritterorden geebnet. Gleichzeitig gewährten die Päpste erneut den Ablaß, den schon Urban II. den Teilnehmern am Kreuzzug von 1095 dafür versprochen hatte, daß sie dem Kreuzfahrerstaat Syrien Beistand leisteten, in Spanien eingriffen oder pro libertate Ecclesiae gegen die Feinde des Apostolischen Stuhls in Rom kämpften. Letzteres wurde auf dem Konzil von Pisa im Jahr 113 5 sanktioniert, als in Sizilien der Kampf gegen Roger II. im Gange war. Die Causa XXIII des Decretum Gratiani, veröffentlicht um 1140, zielte darauf ab, den Krieg kirchenrechtlich zu legitimieren. Fünf, sechs Jahre später, zwischen 1145 und 1146, entstand die Enzyklika Quantum praedecessores von Eugen III. die zusammenfaßte, was die Päpste seit Alexander II. und dem Feldzug gegen Barbastro für den Kampf gegen die Ungläubigen festgelegt hatten: In zwei unterschiedlichen Fassungen wurden die rechtlichen Grundlagen der Kreuzzüge geschaffen. Mit der Enzyklika Divina dispensatione zwei Jahre später bezog sich der Papst gleichzeitig auf den Kreuzzug ins
Heilige Land, auf den Feldzug in Spanien (nachdem Alfons I. von Aragon, der «Kämpfer», von Zaragoza bis vor Malaga vorgerückt war) und den Kreuzzug gegen die Wenden. Die Militärexpedition in Syrien war ein Desaster, der Krieg gegen die Slawen ineffektiv; aber die Kreuzfahrer Spaniens, darunter auch genuesische und pisanische Seeleute, eroberten Almeria und Tortosa. Almeria allerdings fiel bald wieder (1157) in die Hände der Muslime – wie al-Andalus nach dem Zusammenbruch der Almoravidenherrschaft bereits seit einem Jahrzehnt von Anhängern der neuen, streng religiösen Bewegung der Almohaden (der al-muwahiddin, «Bekenner des einen Gottes») zurückerobert worden war, die überall im Maghreb die Macht errungen hatten. Die geistlichen Ritterorden hatten sich unterdessen nicht nur auf der Iberischen Halbinsel etabliert. Sie hatten auch – wie in Deutschland und in Livland – nationale Orden gegründet, die sich grundsätzlich an dem Vorbild der Templer orientierten. Die Templer und die Johanniter konnten sich zwar in Aragon behaupten, nicht aber in Kastilien, Leon und Portugal. 1157, als die Templer es ablehnten, die Burg von Calatrava zu bewachen, vertraute König Sancho III. von Kastilien deren Verteidigung einer fraternitas von Freiwilligen an, die später von den Zisterziensern aufgenommen wurden: Damit entstand der Ritterorden von Calatrava, dem weitere Gründungen folgten: der Ritterorden von Santiago, Alcantara und Aviz. Weitere Orden, für lokal begrenzte Zwecke gegründet, wurden später den größeren Gemeinschaften einverleibt.
Siege im Okzident, Niederlagen im Orient
Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts war gekennzeichnet vom Zurückweichen der christlichen Welt gegenüber dem Islam. Auf der Iberischen Halbinsel war mit den Almohaden die Reconquista ins Stocken gekommen, in Syrien wurden seit der Herrschaft Saladins keine Kreuzzüge mehr unternommen. Die großen Kreuzzüge von 1189-1193 unter Führung Kaiser Friedrichs I. (der unterwegs starb), des französischen Königs Philipp II. August und des englischen Königs Richard Löwenherz waren gescheitert. Mit dem Mißerfolg einer Expedition, an der die wichtigsten europäischen Herrscher teilgenommen hatten, mehrten sich Stimmen, die eine strenge innere Läuterung der Christenheit forderten; erst dann könnten die Kreuzzüge zum Erfolg führen. Gleichzeitig hatte Lothar aus dem Grafengeschlecht der Segni, als Papst Innozenz III. (1198 – 1216) auf den Heiligen Stuhl gewählt, das ausdrückliche Recht der Päpste gefordert, sich an die Spitze der Kreuzzugsbewegung zu stellen, ohne für die militärische Durchführung verantwortlich zu sein. Im corpus christianorum regte sich die französische, deutsche, kastilisch-aragonesische nationale Identität, die unter der Oberfläche der «Feudalmonarchien» nach oben drängte. Beim dritten Kreuzzug war die Notwendigkeit der nationalen Differenzierung so dringlich geworden, daß die Ritter, durch ihr Gelübde und das gemeinsame Unternehmen geeint, Kreuze in verschiedenen Farben bei sich trugen (eine Neuheit, die sich schon im Kreuzzug gegen die Wenden durchgesetzt hatte): rot die Franzosen, weiß die Engländer, grün die Flamen. Die Rivalitäten, die im Jahr 1191 vor den Mauern von Akkon
zwischen Philipp von Frankreich und Richard von England ausgebrochen waren, bedeuteten das entscheidende und einleitende Kapitel für einen Jahrhunderte dauernden Kampf. Die Schwachstelle im Pontifikat Innozenz’ III. war der Ausgang des Unternehmens «Kreuzzug», das doch einen Kernpunkt seines Programms bildete. Die 1202 gestartete Expedition endete mit der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer und die Venezianer sowie der Zerstückelung des Byzantinischen Reiches. Die Kreuzzüge im Baltikum und gegen die «Albigenser» in Südfrankreich endeten allerdings in einer Weise, die den Papst, der sie sanktioniert hatte, nicht zufriedenstellen konnte. Ausgesprochen unsicher ist unser Wissen vom «Kinderkreuzzug» des Jahres 1212, der offenbar den mediterranen Sklavenhändlern nützte. Nur in Spanien führte der Zug gegen die Almohaden zu positiven Ergebnissen. Am 16. Juli 1195 hatte der Almohadenkalif Abu Yusuf Yaqub al-Mansur den kastilischen König Alfons VII. in der großen Schlacht von Alarcos geschlagen. Seit der Niederlage von Hattin und der muslimischen Eroberung von Jerusalem waren kaum acht Jahre vergangen. Die Christenheit fühlte sich gleichsam von allen Seiten umzingelt. Bei der Wahl des Papstes Lothar von Segni spielte das Gefühl unmittelbarer Bedrohung gewiß keine unbedeutende Rolle. Der neue Papst Innozenz III. zeigte sich fest entschlossen, die Kreuzzüge wiederaufzunehmen. Die Aquitanier, die das Gelübde abgelegt hatten, am Kreuzzug ins Heilige Land teilzunehmen, erhielten die Erlaubnis, sich statt dessen einer Expedition nach Spanien anzuschließen. Die Eroberung des Kastells Salvatierra im Jahr 1210 durch die Almohaden veranlaßte den Papst, zu einem neuen Kreuzzug aufzurufen, für den er auch in Frankreich predigen ließ. Diese Expedition, an der der König Alfons von Kastilien und Peter von Aragon teilnahmen, später auch Sancho von Navarra und zahlreiche spanische, portugiesische
und südfranzösische Ritter, endete am 17. Juli 1212 mit dem großen Sieg von Las Navas de Tolosa (zwischen Kastilien und Andalusien). Aufgrund einer jener merkwürdigen geographisch chronologischen Symmetrien, wie sie in der Geschichte häufig zu beobachten sind (und nicht nur in den Beziehungen zwischen Europa und dem Islam), brachte das 13. Jahrhundert im Osten den langsamen Niedergang des einstigen lateinischen Königreichs Jerusalem – oder was davon noch übrig war. Um dieses nur noch nominell vorhandene Königreich trugen Fürstentümer, Handelskommunen und geistliche Ritterorden erbitterte Kämpfe aus. Im Westen dagegen schritt die Reconquista weiter voran. Die Hoffnungen, den Muslimen Jerusalem mit Waffengewalt zu entreißen, schwanden zusehends, zumal nach der Eroberung dieses Territoriums durch die Ungläubigen der christliche Pilgerstrom keineswegs zum Erliegen kam. Die Kreuzzüge der Jahre 1217-1221 (unter Führung des französischen Königs Ludwig IX.) und 1248-1254 richteten sich gegen die Häfen am Nil. Im April 1250 war Ludwig der Heilige von den Muslimen gefangengenommen worden, blieb nach seiner Freilassung aber noch vier Jahre in Akkon an der syrisch-palästinensischen Küste (dem Überbleibsel des Kreuzfahrerstaates). Er setzte die Befestigungsanlagen instand und versuchte zwischen den widerstreitenden Mächten zu vermitteln, die um die Oberherrschaft in diesem mittlerweile unbedeutenden Flecken Erde am Rande des Meeres kämpften. Doch man beschritt auch andere Wege. 1228-1229 hatte Friedrich II. durch einen Waffenstillstand vom ägyptischen Sultan ein zerstörtes und kaum zu verteidigendes Jerusalem erhalten. In den vierziger bis neunziger Jahren des 13. Jahrhunderts hoffte man unbeirrt auf Hilfe durch die Tataren, die einen Großteil Zentral- und Ostasiens bis hinein nach
Südrußland und Persien überrannt und erobert hatten. Doch die Zeit für eine grundlegende politische Umgestaltung des gesamten Nahen Ostens drängte: Im Jahr 1244 stürmten khwarizmische Nomaden das gemäß dem Abkommen zwischen dem deutschen Kaiser und dem ägyptischen Sultan ungeschützte Jerusalem. Sie vertrieben die rund sechstausend Christen und töteten etwa zweitausend von ihnen in einem unvorstellbaren Massaker. 1250 stürzten die Mamluken, die im Dienst der ayyubidischen Sultane standen, ihre Herren, übernahmen durch einen Staatsstreich die Macht und schworen den Kreuzfahrern Rache, die nichts lieber gesehen hätten als den Fortbestand der alten Ordnung. 1258 schließlich eroberten die Mongolen unter Hulagu Khan Bagdad und töteten den letzten Abbasidenkalifen. In wenigen Jahren hatte sich das Gleichgewicht im Gebiet des «Fruchtbaren Halbmonds» grundlegend verändert. Auf dem zweiten Konzil von Lyon im Jahr 1274 bat Papst Gregor X. der als päpstlicher Gesandter lange im Heiligen Land gelebt hatte, um eine ausführliche Erörterung der konkreten Möglichkeiten eines neuen und erfolgreichen Kreuzzugs. Es entstand eine reiche und in vielerlei Hinsicht interessante Literatur de recuperatione Terrae Sanctae mit zahlreichen Argumenten strategischer, taktischer, geographischer, logistischer, wirtschaftlicher und finanzieller Art. Manche Autoren dieser bisweilen ermüdenden Traktate waren bekannte Persönlichkeiten wie der Großmeister des Templerordens Jakob von Molay, der berühmte Hofpublizist Philipps IV. von Frankreich Pierre Dubois, der genuesische Admiral Benedetto Zaccaria und der Venezianer Marino Sanudo Torsello. Sie setzten sich mit den verschiedensten strategischen Möglichkeiten eines Kreuzzugs auseinander: der Blockade der Nilhäfen, um im Gegenzug die Mamlukensultane, die Jerusalem beherrschten, zur Herausgabe
der Heiligen Stadt zu zwingen; der Vereinigung der Ritterorden; mit Fragen der Reorganisation zur Finanzierung zukünftiger Expeditionen. Das alles hielt jedoch die ägyptischen Mamlukensultane nicht davon ab, innerhalb von wenigen Jahren die noch den «Franken» verbliebenen Festungen an der Küste des Heiligen Landes zu erobern. Die letzte, Akkon, fiel im Jahr 1291. Die von Bonifaz VIII. zum Heiligen Jahr 1300 erlassene Bulle war in ihrem Kern offenbar darauf angelegt, die Jerusalempilgerschaft samt dem damit verbundenen vollkommenen Ablaß (eine Praxis, die dennoch beibehalten wurde) zumindest teilweise durch die Rompilgerschaft zu ersetzen. An die Stelle des Besuchs des Christusgrabes sollte der Besuch des Apostelgrabes treten. In diesem denkwürdigen Jahr 1300, als die Pilgerschaft nach Rom ihren Höhepunkt erreichte, verbreitete sich zudem die (falsche) Nachricht, die Mongolen hätten von Persien aus Jerusalem erobert und schickten sich an, der Christenheit die Heilige Stadt zurückzugeben. Eine Zeitlang schenkte man in Europa diesem Gerücht Glauben. Doch entscheidend für die päpstliche Bulle war die Zerschlagung des Templerordens im Zuge der bekannten, aber in ihren Einzelheiten noch immer undurchsichtigen Ereignisse in den Jahren 1307 bis 1312. Nach dem Fall der Kreuzfahrerfestung Akkon hatte der Orden sich selbst überlebt. Im Unterschied zum Johanniterorden, der sich in Rhodos angesiedelt und sich den neuen Verhältnissen angepaßt hatte, war es den Templern nicht gelungen, eine neue Aufgabe zu finden. Die Motive einmal außer acht gelassen, die den König von Frankreich bewogen, den Orden zu verbieten und die Kurie dabei um Hilfe zu bitten, schien der Orden wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Anders auf der Iberischen Halbinsel, wo die Templer in Aragon und in Portugal weiterhin
eine bedeutende Rolle spielten und ihre «Abschaffung» eine reine fictio iuris war. Die Verhältnisse in Spanien waren überhaupt ganz anders. Das Bestreben der Könige von Kastilien und Aragon, die Reconquista immer mehr als eine spanische Angelegenheit zu betrachten, wurde nach der Schlacht von Las Navas de Tolosa offensichtlich auch von den Päpsten unterstützt. Aber sowohl Innozenz III. wie auch Honorius III. hatten betont, daß die Militärexpedition in Spanien nicht auf Kosten des Kreuzzugs im Osten gehen dürfe. Auf der Iberischen Halbinsel schien es in der Tat voranzugehen, jenseits des Mittelmeers dagegen verschärfte sich die Lage. Auch die Kreuzfahrer, die von England, den Niederlanden und dem Rheingebiet per Schiff Richtung Syrien aufbrachen und sich vor der portugiesischen Küste sammelten, nahmen unterwegs nicht selten an Eroberungen sarazenischer Küstenplätze teil. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts spitzte sich die Lage für die Almohaden daher immer weiter zu. Die Waffenhilfe, die ihnen sonst aus Afrika zuteil geworden war, blieb aus, und das nützte den Kastiliern wie den Aragonesen. Der Almohadenkalif alMamun (1227-1232) war also auf indirekte «Unterstützung» des Königs von Kastilien angewiesen, um in den restlichen taifas von al-Andalus seine Macht zu erhalten. Denn sein Heer verdankte einen Teil seiner Effizienz der starken Präsenz christlicher Söldner. Mit Unterstützung der spanischen Ritterorden und dank des päpstlichen Ablaß Versprechens gelang es Jakob I. von Aragon, zwischen 1229 und 1231 Mallorca und zwischen 1232 und 1253 auch das Königreich Valencia zu erobern. Ferdinand III. von Kastilien, wie Ludwig der IX. später heiliggesprochen, gewann zwischen 1230 und 1248 nacheinander Badajoz, Jerez, Cordoba und schließlich Sevilla. Diese Erfolge brachten ihm großes Ansehen ein. Er war der einzige christliche Herrscher,
der den Islam besiegt hatte, während Muslime und Mongolen scheinbar überall sonst die Oberhand hatten. Die Tatsache, daß im Jahr 1246 der Papst den Kreuzzug erlaubte und segnete, in dessen Verlauf Sevilla erobert wurde (eine der größten Städte der damaligen Welt), obwohl Ludwig IX. zur selben Zeit mit enormem Aufwand seine große Expedition nach Ägypten und ins Heilige Land vorbereitete, belegt einmal mehr, daß sich mit der Vorstellung, die Iberische Halbinsel sei die «westliche Flanke» der Kreuzzugsfront, auch die Ansicht durchsetzte, der Spanien-Kreuzzug sei eine ausschließlich spanische Angelegenheit. Diese neue Sicht führte sogar dazu, daß der heilige Ferdinand seinen Kreuzzug mit den tercias reales finanzieren konnte, also einem Drittel des von der kastilischen Kirche eingesammelten Zehnten. Um die Mitte des Jahrhunderts war auch Portugal von den Muslimen befreit, und damit schien ein neuer Machtausgleich erreicht. Marokko wurde inzwischen von der neuen Dynastie der Meriniden beherrscht, die im Jahr 1269 Marrakesch erobert hatten. Der Merinidensultan Abu Yusuf hatte noch einmal die Garnisonen des verbliebenen al-Andalus verstärkt. Auf kastilischer Seite dagegen erwog man sogar einen Kreuzzug zur Eroberung des Maghreb. Doch Alfons X. (1252-1284), der seinem Vater Ferdinand als König von Kastilien nachfolgte, sicherte lieber seine Eroberungen auf dem Festland, vertrieb die Muslime aus dem Gebiet um Murcia und beließ ihnen vorerst noch die letzte große Stadt von al-Andalus, Granada. Die andalusische Küste zwischen dem christlichen und dem muslimischen Spanien war ein schwer zu kontrollierendes Gebiet. Zwischen 1271 und 1273 unterwarfen sich mehrere christliche Adelige lieber dem maghrebinischen Sultan als Vasallen, als sich Alfons X. zu beugen. Im übrigen waren die Nasridenemire dem Merinidensultan alles andere als gefügig, auch wenn der sich gegenüber den Christen als deren einzige
Hoffnung ausgab. Im Jahr 1279 unterzeichnete der Emir Abdallah Muhammad II. mit der Republik Genua einen Handelsvertrag, der die Gründung einer ligurischen Kolonie in Granada vorsah. Das bewies nicht zuletzt die Anpassungsfähigkeit eines Emirats, das entschlossen war, in der internationalen Politik eine selbständige Rolle zu spielen. Da nun al-Andalus ringsum von kastilischem Herrschaftsgebiet eingeschlossen war, fühlten sich die Aragonesen ihrerseits befreit vom Druck eines spanischen Kreuzzugs; er betraf sie jetzt auch weniger. Ihr altes Streben nach engen Kontakten zu Südfrankreich und zum westlichen Mittelmeer führte dazu, daß sie sich nach anderen Perspektiven im Kampf gegen den Islam umsahen. In dieser Absicht beteiligte sich Jakob I. von Aragon direkt an der Vorbereitung des zweiten Kreuzzugs Ludwigs des Heiligen. Am 1. September 1269 stach der König von Barcelona aus in See, aber ein Sturm zwang ihn zur Rückkehr. Im Dezember landete ein kleines Kontingent aus Aragon in Akkon, mußte aber wenig später unverrichteter Dinge zurückkehren. Auch die Engländer hatten dem König von Frankreich ihre Unterstützung zugesichert, doch der Aufbruch ihres Truppenkontingents verzögerte sich. Am 2. Juli 1270 lichtete Ludwig die Anker – aus bis heute unerforschten Gründen entschlossen, zunächst in Tunis zu landen, bevor er seine Reise ins Heilige Land fortsetzte. Er starb, vielleicht an Typhus, am 25. August 1270 an der tunesischen Küste unweit der Ruinen der antiken Stadt Karthago. Sein Bruder Karl, der am selben Tag im Kreuzfahrerlager eintraf, befahl den Abbruch der Expedition. Kurz zuvor war auch Eduard, Sohn König Heinrichs III. von England, eingetroffen. Anfangs bereit, nach Sizilien zurückzufahren, brach er im April 1271 erneut ins Heilige Land auf und landete Anfang Mai in Akkon. Er blieb knapp ein Jahr dort, um dann entmutigt und krank im
September 1272 zurückzukehren. Eduard war der letzte berühmte Herrscher, der eine Kreuzfahrerexpedition an die Küste des östlichen Mittelmeers führte. Von da ab wurden – trotz intensiver Bemühungen der Päpste Gregor X. und Nikolaus IV – die Reste des Kreuzfahrerstaats ihrem Schicksal überlassen, das im Jahr 1291 endgültig besiegelt war.
«Amors de terra londhana» Anfang des 12. Jahrhunderts stimmte der Geistliche Fulcher von Chartres, ein Augenzeuge des ersten Kreuzzugs, einen leidenschaftlichen Hymnus auf die Lebensfreude an, die die neuen Eroberer nach den entbehrungsreichen europäischen Verhältnissen in Palästina genießen durften. Fast scheint es, als habe er gleichsam nachträglich die genossenen Freuden zum Ausdruck bringen und es jenen pieds noirs aller Zeiten nachempfinden wollen, die fern der Heimat, jenseits der Berge und Meere Glück und Reichtum fanden. Bei Fulcher finden wir auch – beiläufig hingeworfen – die schicksalhaften Begriffe «Orient» und «Okzident». Und wir entdecken bei ihm einen Orient, den man im Geist zwar liebt und erträumt, aber nicht wirklich in Besitz nehmen will. Was haben die Kreuzzüge Europa gebracht? Die Lepra, meinte Monsieur de Voltaire. Was war die süßeste Frucht der Kreuzzüge? Die Aprikose, meinte Jacques Le Goff. Doch einmal abgesehen von den mots d’ésprits enthalten beide Antworten einen wahren Kern. Jedenfalls begreifen sie die Kreuzzüge als politisch-militärisches (und auch «koloniales») Unternehmen isoliert vom historischen Gefüge aus wirtschaftlichen und kulturellen Annäherungen zwischen Europa und Islam, in das sie eingebettet sind. Sie bewerten das rein Militärische getrennt vom Kontext der Wiederaufnahme,
nein, des Beginns enger Beziehungen, die den wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen, wissenschaftlichen und geistigen Fortschritt des 13. Jahrhunderts – einer höchst prosperierenden und aufgeklärten Epoche innerhalb der gesamten mediterranen Geschichte Europas – überhaupt erst ermöglichten. Die Kreuzzüge bildeten zwar den militärischen Aspekt dieses Gefüges aus Ursachen und Ereignissen. Aber – wie sich am Beispiel der Wallfahrt zeigt – sie dürfen nicht losgelöst von den sozialen und religiösen Umständen betrachtet werden. Zu den positiven Folgen dieser Entwicklung zählt die schrittweise Entdeckung des «Anderen» durch die abendländischen Christen. Gilt dies auch umgekehrt? Schicken wir voraus, daß Christentum und Islam keinesfalls gleichviel voneinander wußten. Schon der Prophet hatte Kontakte zu christlichen Eremiten gehabt, und die ersten Muslime waren – einmal abgesehen von den Beduinenstämmen, die aus dem heidnischen Synkretismus hervorgingen – großteils christliche Konvertiten. Die vielen altehrwürdigen und blühenden christlichen Kirchen im Osten waren den Muslimen gut bekannt. Und die Christen ihrerseits stellten sich schon früh auf das neue religiöse Phänomen ein. Das änderte sich mit der Entstehung von Hierarchien, mit dem Mönchtum und den griechischen Kirchenlehrern, die indirekt, vor allem über Syrien, erstmals vom Islam Kenntnis erhielten. Jahrzehntelang unterschätzten sie diese neue Religion und betrachteten sie als eine bizarre, eher uninteressante Form der Barbarei. Auch die Muslime, die die rumi kannten oder zumindest viel von ihnen gehört hatten, brachten nicht viel Interesse für die weitentfernten und unkultivierten farandschi auf, mit denen nur die Araber und Berber, die Spanien erobert hatten, in den ersten zwanzig Jahren des 8. Jahrhunderts
Kontakt hatten. Die Tatsache allerdings, daß die farandschi Christen waren, besagte für die Muslime an sich schon viel. Die Europäer im Westen dagegen hatten keine klaren und genauen Anhaltspunkte, die ihnen das Verständnis von Wesen und Denkweise der Eroberer erleichtert hätten. In der lateinisch-antiken Tradition waren die Araber molles, das heißt verweichlicht und korrupt; ihr Land war Arabia felix, das geheimnisvolle Land der Gewürze, der Ort des Mythos von Phönix und der biblischen Geschichte der Königin von Saba. Ein paar Jahrzehnte später änderte sich das teilweise: Die Raubzüge der Sarazenen an den europäischen Küsten und im westlichen Mittelmeer waren mit Sicherheit nicht der ideale Weg, einander kennenzulernen. Dennoch wurden auch bei dieser Gelegenheit Kenntnisse und Informationen erlangt. Der Austausch von Gesandtschaften zwischen Karl dem Großen und den watis von Spanien oder dem Kalifen von Bagdad, der Brief Berthas von Toskana an den Kalifen und selbst die zwielichtigen Beziehungen zwischen sarazenischen Korsaren und Hugo von Provenza sind ausgesprochene Höhepunkte im kulturellen Austausch vor dem Hintergrund einer allgemeinen Unwissenheit, die, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Bedeutsam ist beispielsweise 1076 der Austausch von Gesandten zwischen Papst Gregor VII. und dem hamdanidischen Emir an-Nasr, dem Sire von Bujjah, mit Informationen über die christliche Gemeinde in Bujjah. Mit den Worten des Papstes gesprochen, ist man sich deutlich bewußt, daß «… beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, an einen einzigen Gott glauben und ihn jeden Tag lobpreisen und als den Schöpfer und Herrn der Welt anbeten» (Gregorii PP. VII, Registrum, I. III, ep. CL, hg. von E. Caspar, M. G. H. Epistolae selectae, S. 287f.).
All dies berücksichtigt, bleibt man zunächst irritiert über jene Texte, die während oder nach dem ersten Kreuzzug Auskunft über die Muslime geben: Gemeint sind weniger die Chroniken, die diesbezüglich von geringem Aussagewert sind, als vielmehr die Epen. Diese wurden, wohlgemerkt, in einem vorwiegend oder ausschließlich weltlichen Umfeld niedergeschrieben oder gesammelt, und ihre propagandistische Botschaft richtete sich an ein weltliches Publikum von illitterati. Die Kenntnisse, die man in Westeuropa im 11. Jahrhundert über den Islam besaß, waren dürftig, verworren und lückenhaft. Und sie wurden je nach Publikum und Zielsetzung auch noch in unterschiedlicher Weise vermittelt. War innerhalb der gebildeten Geistlichkeit der monotheistische Grundzug der Religion der Sarazenen und deren Verwurzelung im Alten Testament bekannt, so konnte man außerhalb dieser Kreise kaum mit einem solchen Vorwissen rechnen – es sei denn, es gab direkte Kontakte und Erfahrungen, die jedoch äußerst selten waren. In der ältesten epischen Dichtung ist «heidnisch» ein Sammeladjektiv für die Glaubensrichtung derjenigen, die – je nach Zusammenhang und in zahllosen Varianten – Sarazenen, Araber, Mauren, Berber, Türken, Perser, «Azopard» (Äthiopier) genannt oder mit anderen Phantasienamen bezeichnet werden. Die Namen der «heidnischen» Helden weisen gewöhnlich eine Verwandtschaft mit der Welt der Magie und der Dämonen auf: Loquifer, Agrapart, Noiron, Orgueilleux. In den seltensten Fällen besitzen diese Helden unverzerrt menschliche Eigenschaften; es überwiegen phantastische und unmenschliche Charakterisierungen. Oft ist der Heide ein Riese, der an die klassisch-lateinische antike Tradition erinnert, aber auch an Goliath, dessen Riesenhaftigkeit gewöhnlich diabolische Züge trägt. Wenn sie keine Giganten sind, haben die Sarazenen ein monströses, ja
teuflisches Aussehen: Sie sind schwarz, gehörnt, blecken die Zähne (Eigenschaften, die lange auch in bildhaften Darstellungen erhalten bleiben). Auffallend ist die schwarze Hautfarbe der «Heiden». Das mag von den Erfahrungen mit Afrikanern herrühren, die man – als Sklaven oder Soldaten – besonders in Ägypten und in Spanien kennengelernt hat. Erst relativ spät treten zu der dunklen Hautfarbe auch die negroiden Gesichtszüge hinzu (lockiges Haar, wulstige Lippen, flache Nase): Die «Hagarener» sind ebenso schwarz wie die Jemeniten, die Nubier und die Saharabewohner. Doch die schwarze Hautfarbe symbolisiert hier vor allem das Diabolische, und dies geht auf die apologetische und patristische Tradition zurück, jedweden Dämon als Ägypter oder Äthiopier darzustellen. Innerhalb dieser rasch etablierten Vorstellungswelt wurde der Name Maurus nicht nur für die Bewohner Mauretaniens benutzt, sondern diente als Bezeichnung für eine paraethnische Gruppe (die «Mauren», los moros; die «Mohren») und sogar (mit geringen Abweichungen in den neulateinischen Sprachen und im Deutschen) als Synonym für dunkle Haut und dunkle Haare allgemein. Auch die Requisiten, mit denen die christliche Phantasie die Muslime schmückt, sind furchterregend und magisch diabolisch: Die Köpfe der Mauren etwa werden von Schlangen, Drachen und Skorpionen gekrönt. Gelegentlich erscheinen die Heiden auch als Amazonen (beispielsweise auch noch bei Ariost und Tasso) und als sagittarii, Kentauren. Im Rolandslied kommen dem Emir Riesen zu Hilfe. Im Coronemenz Loois, einem zwischen dem ersten und dem zweiten Kreuzzug datierbaren Heldenepos, muß der christliche Held Wilhelm gegen den Emir Corsolt kämpfen, einen Riesen, dessen Reich jenseits des Roten Meeres liegt. Freund und «Waffenbruder» Wilhelms ist der Riese Renoard, der selbstverständlich gut und christlich ist;
aber er ist der Sohn des Sarazenenkönigs Derame, was seine körperlichen Dimensionen erklärt. Daß der Sarazene als ein Adept des Teufels galt, belegen die außerordentlichen Wesen, die ihn in den Tod begleiten: Die Dämonen eilen herbei, um seine Seele zu rauben, wenn er ins Kampfgetümmel gerät. Die Waffen der Christen sind durch die Kraft der Reliquien und des Segens geschützt, die Sarazenen dagegen verdanken ihre Macht Zauberkünsten, Edelsteinen und Kräutern, die geheimnisvolle Kräfte besitzen. Der Islam der epischen Dichtung (und damit der Propaganda) ist böser Irrglaube. Das deckte sich, wie wir noch sehen werden, zuweilen mit dem Kenntnisstand der Gelehrten. Das angedichtete Ausmaß von Aberglauben und Grausamkeit jedoch findet keine Entsprechung in den apologetischen und polemischen Schriften der Gelehrten. Die «Heiden» der epischen Dichtung sind sämtlich Polytheisten und Götzenverehrer. Die Dichtung muß also relativ vage Informationen ergänzt und phantasievoll ausgeschmückt haben. Die Sarazenen der Dichtung beten Ungeheuer als Götzen an, in der Chronik des Pseudo-Turpin zum Beispiel den goldenen Koloß von Cadiz. Sie bekennen sich zum Kult «Mahomets», ihres Gottes, der mit den antiken heidnischen, mit Phantasienamen belegten Gottheiten eine blasphemische «Anti-Trinität» bildet. Die «heidnische» Ethik wurde als das Gegenteil der christlichen Ethik dargestellt, insbesondere, was die fleischlichen Genüsse betraf. Die Sarazenen würden zu jeder Art widernatürlicher Ausschweifung angehalten, da ihr Religionsgründer selbst verabscheuungswürdige Gewohnheiten gepflegt hätte. Um der Schande zu entgehen, habe er seine Laster rechtlich verankert. Anfang des 13. Jahrhunderts stellte Jakob von Vitry die Behauptung auf, die gebildeteren und klügeren Sarazenen, die gute Kenntnisse der
antiken und der christlichen Schriften besaßen, würden zum christlichen Glauben übertreten, wären sie nicht durch die von Muhammad gewollte sexuelle Freizügigkeit an den Islam gebunden. Ähnliche Ansichten vertrat Thomas von Aquin, demzufolge der Prophet die Menschen mit dem Versprechen fleischlicher Lüste verlockt und ihnen per Gesetz alle Arten der Ausschweifung erlaubt hätte. Man darf diese märchenhaft ausgeschmückten, bisweilen komischen und grotesken Inhalte aber keinesfalls als völlig willkürliche Vorstellungen interpretieren. Manche dieser törichten Bizarrerien haben eine durch Autoritäten beglaubigte Basis, entspringen zumindest einer dunklen Ahnung oder einem tief verankerten kollektiven Gedächtnis. Die Vorstellung eines angeblich von den Muslimen praktizierten Teufelskults etwa ließe sich aus der Bedeutungsverschiebung bestimmter Begriffe und Vorstellungen erklären. Als vor dem Auftauchen des Islam die sarraceni noch Beduinen und Wüstenbewohner waren, schrieb der heilige Hieronymus, der sie gut kannte, in der Vita Hilarionis Heremitae, sie hätten sich dem «Luziferkult» verschrieben: Im 4. und 5. Jahrhundert war damit nichts anderes gemeint als der Venuskult. Daß der Sternenkult in Arabien weit verbreitet war, ist allgemein bekannt. Die Göttin Allat beispielsweise wurde mit dem Planeten Venus gleichgesetzt. Andererseits stellte Hieronymus ganz bewußt den Zusammenhang her zwischen dem leuchtenden Morgenstern, also Luzifer, von dem in den Schriften des Propheten Jesaja die Rede ist, und dem Fürsten der rebellischen Engel in der Offenbarung. Im Licht dieser Überlegungen erscheint es weniger merkwürdig, daß nach Niketas von Byzanz Muhammad den Sarazenen die Verehrung eines Götzenbildes anempfohlen hat, das an den Venusstern erinnert, aber auch eine der vielen im Gebiet des Fruchtbaren
Halbmonds und in Arabia felix vor der Christianisierung bekannten und verehrten Muttergöttinnen sein könnte. Als synkretistischer, mit parabiblischer Tradition verbundener Kult hatte sich diese Verehrung der Muttergottheit bei den Nomaden bewahrt. Auch das dämonenhafte, monströse Aussehen der Sarazenen, der heldenhafte und fromme Tod der Paladine und die Tatsache, daß der Held der Dichtung im Kampf gegen dämonische Wesen fällt, verlieh dem Krieg gegen die Heiden einen apokalyptischen Charakter. Derartige Auseinandersetzungen nahmen die entscheidende Schlacht zwischen den Mächten des Lichts und den Heeren der Finsternis vorweg. Das zeigen auch die Legenden von göttlichem Beistand oder der Hilfe von Engeln in den Kriegen in Spanien, Sizilien und Syrien. Der Kampf des heldenhaften Kriegers gegen den Ungläubigen war der Kampf mit den arma lucis, den Waffen des Lichts, von denen der heilige Paulus spricht, der Konflikt, den jeder Gläubige gegen das Böse und die Sünde in sich selbst auszufechten hat. Im 4. Jahrhundert wurde diese pugna spiritualis von dem christlichen Dichter Prudentius allegorisch personifiziert. In seinem Epos Psychomachia beschrieb er in einer Darstellungsweise, die an die Ilias, die Aeneis und Thebais von Statius erinnert, den Kampf zwischen heidnischen Lastern und christlichen Tugenden. Dieses Epos wurden nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Bildhauerkunst und Malerei des Mittelalters grundlegend. Es bildete ein Fundament der mittelalterlichen Ritterethik und jener Mentalität, die auch die Kreuzzugsbewegung inspiriert hat. Anfang der vierziger Jahre des 12. Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Konzil von Troyes, das den Templerorden innerhalb der Kirche legitimiert hatte, verfaßte Bernhard von Clairvaux den an die Templer gerichteten kurzen Traktat De lande novae
militiae. Darin stellt der Zisterzienserabt zunächst das «neue Rittertum» der Templer dem weltlichen Rittertum gegenüber (wobei eine Verurteilung des ritterlichen Lebensstils durchaus anklang), erläuterte die Aufgaben der novi milites und sodann die spirituelle und allegorische Bedeutung der heiligen Stätten der Christenheit. Heikel war die Frage der Legitimität, den Gegner auch dann töten zu dürfen, wenn das bellum iustum rechtlich nicht in ausreichendem Maß abgesichert war. Es ging nicht darum, einen Krieg zu legitimieren, sondern darum, ob und wie man eine Auseinandersetzung im Geist der «Heiligkeit» führen konnte. Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit führt Bernhard in diesem Zusammenhang den Begriff der «Tötung des Bösen» ein. Die Zerschlagung des Feindes ist dann eine notwendige Pflicht, wenn dieser objektiv das Böse und die Sünde bringt, gegen die man sich nur dadurch zur Wehr setzen kann, daß man deren Überbringer vernichtet. Eine gewagte These, die nur in einer Ausnahmesituation gerechtfertigt werden konnte, wie sie die Verteidigung des Heiligen Landes und die Gründung der geistlichen Ritterorden darstellte. Sie wäre aber trotz der theologischen Argumentation unhaltbar gewesen, hätte sie sich nicht auf das Modell der pugna spiritualis berufen. Ähnliche oder analoge Motive finden sich in der dem Thema der Kreuzzüge gewidmeten gesamten epischen Dichtung: in den wenigen zwischen dem 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts entstandenen Heldenepen, die die öffentliche Meinung in Europa beeinflußten und den Mythos prägten, der zumindest teilweise mit Gottfried von Bouillon verknüpft ist. Die historischen Grundlagen dieses Zyklus sind dünn und diskontinuierlich, doch muß er im Zusammenhang der Kreuzzugspropaganda der Zeit gesehen werden, in dem die jeweilige chanson verfaßt wurde. Ausdruck der Propaganda, in geringerem Maße aber auch der Begeisterung, der
Desillusionierung und der persönlichen Enttäuschung sind die vielen Kreuzzugsgedichte, die in Frankreich, Spanien, Deutschland, Italien und seltener auch anderswo im 12. Jahrhundert entstanden sind. Sie dienten der Verbreitung des Kreuzzugsgedankens, den Innozenz III. mit viel Energie formuliert hatte und der ab dem 13. Jahrhundert insbesondere von franziskanischen und dominikanischen Predigern aufgegriffen und erneuert wurde. Die inquisitorische Überwachung, der steuerliche Druck und die volkstümliche Predigt waren ab dem 13. Jahrhundert die Waffen der Päpste, die sich des Kreuzzugsgedankens bedienten, um ihren Primat auch im weltlichen Bereich durchzusetzen, die politischen Entscheidungen der weltlichen Herrscher zu steuern, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und die Ketzerbewegungen zu kontrollieren. Dieser komplexe iter beschränkte sich nicht auf Literatur oder Traktate, sondern griff zum Teil auch auf die Chroniken (beispielsweise auf die Kreuzzugschroniken) und die Hagiographie über. Das Scheitern der Kreuzzüge im Heiligen Land und die immer häufigeren Gelegenheiten zum Austausch und zur Annäherung zwischen Christen und Muslimen veränderte allmählich auch die Dämonisierung der Muslime durch die Christen. Jetzt kamen Wertschätzung und Sympathie hinzu. Bereits seit den Heldenepen und den Chroniken des ersten Kreuzzugs wurde immer wieder der Mut und manchmal auch die Aufrichtigkeit der Muslime betont und der Ängstlichkeit und Unlauterkeit der Christen gegenübergestellt. Der anonyme normannische Ritter im Gefolge des Fürsten von Tarent während des ersten Kreuzzugs, der die Gesta Francorum verfaßte, beschreibt anfangs die kämpferischen Qualitäten der Türken und kommt dann auf die Legende zu sprechen, derzufolge Türken und Franken gemeinsam Nachkommen der
Trojaner seien und damit natürliche Gegner der feigen und unaufrichtigen Griechen. Dies ist die erste Nennung eines literarischen Topos, mit dem später die Abneigung gegen das Byzantinische Reich gerechtfertigt wurde – ein Topos, der vom Mittelalter bis zur Neuzeit immer wieder Verwendung fand. Wenn die Türken sich zum Christentum bekehrten, schlußfolgert der anonyme Verfasser, wären sie allen anderen Völkern überlegen. Der Ludus de Antichristo, ein lateinisches Werk aus einem klösterlichen Umfeld in Bayern, das in die fünfziger und sechziger Jahre des 12. Jahrhunderts datiert werden kann, verteidigt das Bestreben Kaiser Friedrichs L, die Rolle eines mit einer endzeitlichen Sendung beauftragten Herrschers zu spielen. Der Rex Babilonis, der mühelos als die Typisierung eines muslimischen Herrschers erkennbar ist, ist selbstverständlich ein Heide und Götzenanbeter. Dennoch fehlt es ihm nicht an Großmut, und nur durch Waffengewalt beugt er sich dem Antichrist, der die gesamte Christenheit getäuscht hat. In dem wenige Jahrzehnte später, Anfang des 13. Jahrhunderts, entstandenen Parzival des Wolfram von Eschenbach erscheint der «Heide» Feirefiz im Licht einer faszinierenden Zauberkraft; man hat hierin eine der ersten Darstellungen eines mittelalterlichen Exotismus gesehen. Feirefiz erscheint jedoch ebenfalls in positivem Licht. Bewundert wird seine Schönheit, seine Tapferkeit und sein Edelmut. Etwa zur gleichen Zeit verfaßte Jean Bodel, ein großer Dichter der Picardie, den Jeu de saint Nicholas (Das Spiel vom heiligen Nikolaus), der sehr wahrscheinlich in seiner Heimatstadt Arras am Vorabend des Nikolaustages, also am 5. Dezember, aufgeführt worden ist. In diesem Werk sind alle Vorurteile und alle brisanten Themen jener Zeit versammelt – etwa der cornu Mahomet, so genannt, weil er wie der Teufel mit Hörnern dargestellt ist, oder der Gott Tervagant. Es
tauchen «vagabundierende, verwahrloste und ausschweifende» Kreuzritter auf, die aber im entscheidenden Augenblick als Märtyrer sterben. Dieses Mirakelspiel stellt die Magie der Ungläubigen den christlichen Wundern gegenüber; und schließlich tritt der Emir «von Konya», «von Orkenien», «von Olifern» und der Emir «vom Trockenen Baum» auf. Die historisch-geographischen Bezüge zum ersten Kreuzzug verquicken sich mit folkloristischen Phantasien der mündlichen Überlieferung und mit einer phantastischen Geographie aus der Tradition der Alexanderromane. Es wechseln Grausamkeit und Großmut, Dummheit und Weisheit. Schließlich bekehren sich König und Emire dank dem heiligen Nikolaus zum christlichen Glauben – alle, außer dem hochmütigen Emir vom Trockenen Baum, der seiner Religion treu bleiben will, den anderen Vorwürfe macht und dem König, den er als Verräter beschimpft, voller Verachtung sein Lehen zurückgibt. Am Ende gibt er widerwillig nach – und eigentlich ist er der sympathischste von allen. Die Aura von Magie und der Astrologie, mit der Wolfram von Eschenbach seinen heidnischen Helden Feirefiz umgibt, spiegelt im weltlichen Kontext einer mittleren Kultur die Philosophie und Naturwissenschaft jener Zeit, die über das Arabische vermittelt wurde und im 12. und 13. Jahrhundert das abendländische Wissen von Grund auf veränderte. In der schriftlichen wie mündlichen Literatur und auf der Ebene der weltlichen Kultur stand die naturwissenschaftliche Spekulation bald im Ruch des Magischen und «Wunderbaren». Im provenzalischen Heldenepos Daurel e Beton, das um die Jahrtausendwende entstand, findet ein junger Prinz, der von einem falschen Freund seines Vaters verraten und in die Verbannung geschickt wird, in Babylonien Aufnahme; er bleibt zwölf Jahre. Bei den Heiden findet er jene Gastfreundschaft, die er zu Hause vergeblich gesucht hatte.
Unter anderem lernte Europa durch die Kreuzzüge den orientalischen (den byzantinischen, aber auch georgischen, armenischen und arabisch-persischen) Roman kennen, der in hellenistischer Tradition steht und dessen Helden lange Irrfahrten und märchenhafte Abenteuer bestehen müssen. Oft traten ähnlich gelagerte Themen aus der keltischen Volkssage hinzu, was sich in der typischen feerie des Artuskomplexes niederschlägt. Doch andererseits bemühte man sich darum, der Dichtung eine «orientalische» Färbung zu geben und den Islam mit den Wunderdingen Indiens zu verbinden, woraus sich ästhetisch und thematisch der Exotismus speiste. Die Reiseliteratur, die im Zuge der Asienreisen von Missionaren und Kaufleuten des 13. und 14. Jahrhunderts entstand (mit der Zersplitterung des Mongolenreichs waren derartige Reisen nach Zentralasien nicht mehr möglich), lieferte diesem Genre neue Stoffe, wie zum Beispiel bei Giovanni Boccaccio, der in seinem Filocolo orientalische Abenteuer beschreibt. Drei Gestalten können für die sich in einem allmählichen dynamischen Prozeß verändernde Einstellung des Westens gegenüber dem Islam als beispielhaft gelten: erstens Muhammad, der in zahlreichen Sagen diffamierend dargestellt wird: als Ketzer und Magier – bis hin zu Voltaire, der ihn in seinem Drama zu einem Symbol des Fanatismus und der Tyrannei stilisierte; zweitens Saladin, der vom Feind des Kreuzes, ja von einem Vorläufer des Antichrist (ähnlich wie Muhammad) allmählich zum Symbol der Güte und der Großmut und schließlich mit Lessing im 18. Jahrhundert zum Inbegriff der Toleranz wird; drittens die faszinierende und finstere Gestalt des sogenannten «Alten vom Berg», eines schiitischen Führers, der im Lauf der Zeit zum Idealtypus des aufkommenden Exotismus wird.
6 Die Schätze des Pharao
Die «schöne Gefangene» Für die Kirchenväter waren die antiken auctores tröstlich und problematisch zugleich. Ein Schatz an Weisheit, der Verehrung würdig, aber auch unrein, weil nicht erleuchtet vom Licht des Glaubens. Nach dem Beispiel des Origenes und Hieronymus las man die biblischen Bücher Exodus und Deuteronomium allegorisch, zum Beispiel den Passus, in dem die Juden Silber, Gold und Gewänder der Ägypter plündern, als sie mit Mose ins Gelobte Land aufbrechen, oder den Passus der «schönen Gefangenen». Und man zog daraus den Schluß, daß die Plünderung der Schätze der Antike, die Plünderung der in den antiken Werken enthaltenen Wahrheiten gerechtfertigt und erlaubt sei. Aber enthielten nicht auch die Schriften der Sarazenen, wie die der Heiden, eine Wahrheit? Und wenn ja, wäre es dann nicht ebenso gerechtfertigt und erlaubt, sie sich anzueignen? Auch sie besaßen heilige Bücher, die die Ostchristen und die spanischen Mozaraber schon lange kannten. Die Muslime ihrerseits kannten Werke antiker Autoren, die bei den Christen längst in Vergessenheit geraten waren, hatten sie studiert und übersetzt. Bereits ab Mitte des 12. Jahrhunderts galt die Meinung, es sei richtig, diese Schätze in Besitz zu nehmen. Ende des 12. Jahrhunderts schrieb der Engländer Daniel von Morley, ein Arabisch-Übersetzer, der Herr habe dem Neuen Israel, also der Christenheit, befohlen, den Ägyptern ihre
Schätze zu rauben, um sie sich anzueignen, wie es schon Mose getan hatte: «Plündern wir also auf Anweisung des Herrn und mit Seiner Hilfe die Weisheit und Redekunst der heidnischen Philosophen, plündern wir diese Ungläubigen aus, um uns selbst im Glauben um ihre Hüllen zu bereichern» (Daniel von Morley, zit. bei J. Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 3 1991, S. 27). «Philosophen» – das war der Name, mit dem die lateinischen Gelehrten inzwischen die Araber titulierten, die für die illitterati nur die «Heiden» und «Ungläubigen» waren. Und selbst Abaelard, gegen den Bernhard von Clairvaux einen Prozeß anstrengte, soll gedroht haben, zu den «Philosophen» zu flüchten, um sich seine Freiheit und seine Würde zu bewahren. Wenn in den Heldenepen die Sarazenen auch als Götzenanbeter beschrieben wurden und Geschichten über den «Ketzer Mahomet» existierten – es gab doch einige, die klarsichtiger waren. Ein in anderer Hinsicht märchenhaftes Buch, das ausführlich und in wunderlichen Details von der «Idolatrie» der Sarazenen erzählt, ist die Historia de vita Caroli Magni et Rolandi eins nepotis des Pseudo-Turpin, ein Text, der widersprüchliche Passagen enthält. An einer turbulenten Stelle allerdings, die einen weiteren epischen Topos nährt, dem Disput zwischen Roland und Ferracutus, werden theologisch recht präzise Angaben gemacht. Aber schon um 1120 wird Wilhelm von Malmesbury genauer: «… nam saraceni et Turchi Deum creatorem colunt, Mahomet non Deum sed eius prophetam aestimantes» (Willelmi Malmesbiriensis, De gestis regum Anglorum, hg. von W. Stubbs, in: Rerum Britannicarum Scriptores, XC, S. 230). Zur selben Zeit kursierten, ebenfalls in England, die Dialogi des Petrus Alfonsi, eines spanischen Juden aus Huesca, der sich 1106 taufen ließ und der Leibarzt Alfons’ I. von Aragon und Heinrichs I. von England wurde. Solche Verbindungen
zwischen der Iberischen Halbinsel und den britischen Inseln ermöglichten einen Informationsaustausch aus erster Hand. Petrus Alfonsi etwa war in allen Fragen der auf dem Alten Testament basierenden Religionen beschlagen. Während von der Iberischen Halbinsel bis Syrien die Kreuzzugsbanner geschwungen wurden, war die Zeit reif für eine ungewöhnliche Initiative von Petrus Venerabilis, Abt von Cluny und eine der maßgeblichen Persönlichkeiten der damaligen Kirche. Ihr Zentrum Toledo war seit kaum einem halben Jahrhundert der Christenheit zurückerobert worden, ihr Förderer Raimund von Sauvetat Erzbischof der Stadt. Unterstützung fand der Abt, der sich einerseits um ein besseres und umfassenderes Verständnis des Islam bemühte und andererseits die Reconquista mit aller Kraft forderte, beim «Imperator» Alfons VII. von Kastilien. Es wurde eine Gruppe gebildet, die unter beratender Mithilfe von Muslimen und Juden eine erste Koranübersetzung in Angriff nahm. Diese wurde von dem sprachkundigen Engländer Robert von Ketton (aus Ketton in Ruthlandshire) fertiggestellt und über mehrere Textfassungen (Übertragungen aus dem Arabischen ins Hebräische und Kastilische und dann ins Lateinische) erstellt – eine reichlich verworrene, lückenhafte und unvollständige Fassung, die jedoch für die nachfolgenden vierhundert Jahre maßgeblich bleiben sollte. Man darf sich allerdings nicht vorstellen, daß eine systematisch geforderte, streng strukturierte Übersetzergruppe am Werk war; vielmehr übersetzten zahlreiche Einzelpersonen, die untereinander in Verbindung standen. Doch die Aktivitäten des von Petrus Venerabilis koordinierten Teams beschränkten sich keineswegs auf den Koran und auf Spanien. Mindestens drei Zentren dieses ehrgeizigen Unternehmens lassen sich unterscheiden: eines in Spanien, eines in England und eines in Süditalien, wobei die
Iberische Halbinsel eine dominierende Rolle spielte. Die unter anderem von Johannes von Sevilla, Domenicus Gundisalvi, Hermann von Dalmatien, Plato von Tivoli und Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzten islamischen Schriften und islamkundlichen Texte, die auf der Basis dieser neuen Kenntnisse entstanden, bildeten die Grundlage abendländischer Islamkenntnis im Mittelalter. Keineswegs zog Petrus Venerabilis aus diesen Studien alle Folgerungen, die möglich gewesen wären. Dennoch leitete er entscheidende Entwicklungen ein, zum Beispiel durch seine beiden Traktate, die knapp gefaßte Summa totius heresis saracenorum und das ausführlichere Liber contra sectam sive heresiam saracenorum, die mit Werken wie der Dialexis sarrakenu kai christianu von Johannes von Damaskus übereinstimmten. Zumindest zu Beginn seiner Tätigkeit aber konnte Petrus diese Werke des Damaszeners nicht kennen, die erst um 1148 – 50 von Burgundio von Pisa übersetzt wurden. Während Robert von Ketton den Koran übertrug, verfaßte Hermann von Kärnten eine Genealogie Muhammads, und Markus von Toledo, ein christlicher Mozaraber, übertrug unter Mitarbeit Petrus’ von Poitiers, des Sekretärs des Petrus Venerabilis, die Risala, eine apologetische Schrift von alKindi. Alle diese Texte bildeten gemeinsam die über Jahrhunderte hinweg im Westen maßgebliche Sammlung islamischer Schriften, den Corpus cluniacense, bekannt auch unter dem Namen Collectio Toletana. Markus von Toledo legte zudem eine Koranfassung vor, die genauer war als die vorausgegangene. Bezeichnend ist, daß er neben dem heiligen Buch des Islam auch die Werke Galens aus dem Arabischen übertrug: eine Streitschrift, die wahrscheinlich das Werk eines zum Christentum übergetretenen Muslims ist, sowie einen mystischen Text des berühmten almohadischen Gelehrten Ibn Tumart.
Markus von Toledo ist eine in vielfacher Hinsicht exemplarische Persönlichkeit. Gelehrte wie er waren keineswegs von der reinen Liebe zur Weisheit beseelt, ihre Tätigkeit verfolgte vielmehr einen durchaus praktischen, streitbaren Zweck: Sie wollten die islamische Lehre besser kennenlernen, um sie desto wirkungsvoller widerlegen zu können. Diese Intention blieb für ein abendländisches Denken einleuchtend, das bereits der Logik Abaelards, eines großen Freundes Petrus’ Venerabilis, verpflichtet war. Weniger klar ist, wie sie missionarisch wirksam werden konnte. Denn auf muslimischem Boden war es strengstens verboten, andere als die islamischen Gesetze zu predigen. Allerdings lebten immer mehr Muslime außerhalb des dar alIslam: Bewohner der syrisch-palästinensischen und der iberischen, von den Christen eroberten Territorien, Kaufleute und Gefangene. Vielleicht also war an eine missionarische, auf christlich befreitem Gebiet stattfindende Propaganda gedacht. Der Ungläubige sollte nicht gezwungen, er sollte überzeugt werden, zum christlichen Glauben überzutreten. In diesem Sinn gab, wie wir sehen werden, Franz von Assisi ein neues Beispiel, beschritt er einen anderen Weg. Seine Lehre stieß auch innerhalb des eigenen Ordens auf Widerstand. Thomas von Aquin, der sich in seiner Summa contra gentiles auch mit dem Islam auseinandersetzt, teilte das Bestreben von Petrus Venerabilis, an der Bekehrung der Muslime mitzuwirken. In seiner kurzen Abhandlung De rationibus fidei contra Saracenos, Graecos et Armenos beschrieb er in vier Punkten den theoretischen Ansatz, der für die Bekämpfung des Islam lange Zeit verbindlich bleiben sollte: der Islam als Entstellung der Wahrheit, als Religion der Gewalt, des Krieges und der sexuellen Ausschweifung; Muhammad als falscher Prophet. Die polemische Literatur hatte ihre Blüte im 13. Jahrhundert. Im iberischen Raum entstanden Werke wie die Quadruplex
reprobatio des Dominikaners Raimund Marti, eines getreuen Predigers und Verfechters des missionarischen Ansatzes Raimunds von Penaforte, oder das Werk De origine et progressu Machometis des Pietro Pascual, eines Mönchs des Mercedarierordens, der nach dem Loskauf aus sarazenischer Gefangenschaft geweiht worden war. Im syrisch palästinensischen Raum entstanden Schriften wie De statu saracenorum von Wilhelm von Tripolis und Contra legem sarracenorum des Florentiner Dominikaners Ricoldo da Montecroce, der von Bagdad aus die Bekehrung der Mongolen in Persien zum Islam miterlebte – und damit das Ende eines großen Traums der abendländischen Christenheit: des Traums von der Christianisierung der Tataren und eines gemeinsamen Kreuzzugs zur Niederschlagung der islamischen Mamlukensultane Ägyptens. Doch eine neue Einschätzung gewann ebenfalls an Boden. Immer dringlicher geboten schien das Studium des Arabischen. Und nicht nur als «heilige» Sprache, als Sprache einer geoffenbarten Heiligen Schrift (an die man glauben mochte oder nicht), sondern als einer großen Kultursprache – waren doch die Weisheiten der alten Griechen ins Arabische übersetzt. Zwar gab es auch Versionen aus dem Griechischen. Aber westliche Gelehrte hatten, beispielsweise im byzantinischen Kulturkreis, weniger Möglichkeiten, sie zu studieren, als die Gelehrten auf der Iberischen Halbinsel die arabischen Fassungen. Außerdem existierten ausgezeichnete Kommentare der arabischen Übersetzer und Gelehrten sowie neuere, weiterführende Forschungen, und so wurde immer deutlicher, daß ein Studium des Arabischen dem Westen zumindest indirekt das Wissen und die Technologien selbst weiter entfernter Länder und Kulturen (Persiens, Indiens, ja sogar Chinas) erschloß.
Die Iberische Halbinsel brachte dem Abendland die wissenschaftliche Erneuerung; und sie lieferte dafür gewissermaßen das «Trägermaterial». Das Papier, das ursprünglich aus China stammte und bereits seit dem 8. Jahrhundert auch in Zentralasien verbreitet war, gelangte im 10. Jahrhundert ins muslimische Spanien. Papierfabriken entstanden in Toledo und vor allem in Jativa in der östlichen Provinz, einer Stadt, der Jakob I. von Aragon eine Art Produktionsmonopol für das gesamte Königreich Valencia erteilte. Von Aragon aus verbreitete sich im 13. Jahrhundert der neue wertvolle Beschreibstoff im gesamten Westen. Auch für die Rezeptionsgeschichte des geistes- und naturwissenschaftlichen Wissens aus dem muslimischen Kulturkreis schuf die Iberische Halbinsel wichtige Grundlagen: Gerbert von Aurillac, der als junger Mann Katalanien bereiste, lernte zwischen 967 und 970 dank seiner Beziehungen zur Domschule von Vich und zum Kloster Ripoll die arabische und wohl auch die griechische Arithmetik und Astronomie kennen. Als Leiter der Domschule von Reims und später als Abt von Bobbio konnte Gerbert seine Kenntnisse weitergeben, bevor er als Silvester II. den Papstthron bestieg. Der Einfluß, den Gerbert in den zwanzig Jahren zwischen 1008 und 1028 auf Fulbert, den Bischof von Chartres, ausübte, ist für die Entwicklung der Schule von Chartres von größter Bedeutung. In Chartres übersetzte Hermann von Dalmatien das Planispherium des Ptolemaios aus dem Arabischen, hier wurden Übertragungen des Koran und naturwissenschaftlicher Werke angefertigt. Die sprachliche Vermittlung philosophischer und wissenschaftlicher Texte befruchtete noch die Theologie. Andererseits wäre dieser von Petrus Venerabilis und seinem Team vor allem in Spanien in Gang gesetzte Kultur- und Wissenstransfer weitaus komplizierter und langwieriger
verlaufen, hätte der Kontakt mit der arabischen Sprache und den durch sie bekanntgewordenen Kulturen wegen der rasanten Entwicklung von Wirtschaft und Handel nicht an sich schon etwas Unvermeidliches gehabt. Durch die Amalfitaner, später durch Venezianer, Pisaner und Genuesen wurden schon frühzeitig (selten in systematischen Übersetzungen, häufiger durch vereinfachende und zusammenfassende Darstellungen) Werke bekannt, die praktischen Nutzen versprachen: geographische, mathematische und medizinische Schriften. Aus dem Arabischen übersetzt wurden der große Traktat Almagest des Ptolemaios, die algebraischen Schriften des alKhwarizmi und astronomisch-astrologische Schriften wie der Liber de aggregatione scientiae stellarum von Abu’l-Abbas alFarghani («Alfraganus», den sogar Dante kannte) sowie das Introductorium in astronomiam und De magnis coniunetionibus et annorum revolutionibus ac eorum profectionibus von Abu Ma’shar (oder Albumasar, wie er im Westen hieß). Das Abendland beschränkte sich aber nicht auf die Rezeption dieser umfangreichen Materialien, sondern erweiterte dieses Wissen, beispielsweise mit dem Liber abbaci, einer Darlegung der Grundlagen der Arithmetik, um 1202 von dem Pisaner Leonardo Fibonacci (1170 – 1240) verfaßt, oder der Practica geometriae, einer im Jahr 1220 entstandenen Einführung in die Algebra desselben Verfassers. Für die Praxis noch bedeutsamer und grundlegender für die Revolutionierung des Wissens war die Übernahme der Ziffern, die die Araber «indisch» und die Europäer «arabisch» nannten, sowie die Einführung einer spektakulären Neuerung, der Null. Ein vorrangiges Wissensgebiet für Übersetzungen war lange Zeit die Medizin. Im 11. Jahrhundert hatte der Mönch Alfanus aus dem Kloster Montecassino bereits Schriften aus dem Griechischen übersetzt. Doch in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts revolutionierte Constantinus Africanus, ein aus
dem heutigen Tunesien stammender Mönch, der ebenfalls im Kloster Montecassino lebte, die theoretischen Grundlagen der westlichen Medizin: Aus dem Arabischen und Griechischen übersetzte er Werke wie den Liber aphorismorum des Hippokrates und Galens Kommentar dazu, die Prognostica des Hippokrates, den Liber graduum von al-Gazzar ins Lateinische. Ein bedeutendes Zentrum der Medizin bildete die Schule von Salerno, wo naturwissenschaftliche Kenntnisse aus der griechischen Welt und der über Sizilien und Nordafrika vermittelten arabischen und jüdischen Kultur zusammengetragen wurden. Die Übersetzung mathematischer und medizinischer Schriften war von vorwiegend praktischem und technischem Nutzen. Anders in der Philosophie, die im Abendland besonders die Theologie befruchtete. Man studierte vor allem die Schriften des Aristoteles – eines Aristoteles allerdings, der im 8. und im 9. Jahrhundert unter den abassidischen Kalifen übersetzt und überarbeitet worden und von dem neuplatonischen Gedankengut eines Plotin und Proklos durchdrungen war. Von grundlegender Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte waren die Übertragungen des Traktats über den Intellekt (Liber de intellectu) von al-Kindi und der Kommentare von al-Farabi, der die Thesen des Aristoteles denen des Neuplatonismus, insbesondere des Porphyrios, gegenüberstellte. Größte Bedeutung jedoch gewann die Übersetzung der Werke Ibn Sinas (der im Westen Avicenna genannt wurde), besonders des berühmten Kanon, eines klassischen Lehrbuchs der Medizin, das im 16. Jahrhundert mehrmals gedruckt und noch im 17. Jahrhundert an europäischen Universitäten verwendet wurde. Neben arRazi wurde Avicenna der nach den Klassikern Hippokrates und Galen bekannteste Verfasser medizinisch wissenschaftlicher Schriften. Avicennas philosophische
Abhandlungen (vor allem das Kitab ash-Shifa) gelten als fundamental für das universitäre Leben des 13. und 14. Jahrhunderts. Ohne ihn wären die philosophischen Reflexionen eines Thomas von Aquin und eines Bonaventura von Bagnoregio nicht verständlich. Durch die Übersetzungen gewann die lateinisch-westliche Kultur gleichzeitig auch einen Eindruck von den heftigen Polemiken, die die islamische Geisteswelt spalteten: Die für die «heidnische» griechische Philosophie aufgeschlossenen Autoren standen jenen gegenüber, die eine Erschütterung der islamischen Glaubensfundamente durch ebendiese Einflüsse befürchteten. Berühmt war in diesem Zusammenhang die von al-Ghazali mit seiner Destructio philosophorum entfesselte Polemik gegen alFarabi und Avicenna. Avicenna leistete jedoch auch einen Beitrag zur islamischen Philosophie, die sich noch intensiver mit Fragen des Glaubens und der Offenbarung beschäftigte. Bei Autoren wie Ibn Badscha (im Westen hieß er «Avempace») und Abu Bakr ibn Tufail («Abubacer»), aber auch bei allen westlichen, sei es platonischen oder aristotelischen Philosophen des 13. und 14. Jahrhunderts, ist der Einfluß Avicennas deutlich zu spüren. Vergleichbar in seiner überragenden Bedeutung für das europäische Denken ist nur ein weiterer muslimischer Gelehrter: der Cordobaner Ibn Rushd al-Hafid, der im Westen unter dem Namen Averroes bekannt wurde. Von den einen als «gotteslästerlich» und als «Feind Christi» verurteilt, wurde er von den anderen als der wahre und authentische Vermittler des Aristoteles verehrt. Zu letzteren gehörte auch Albertus Magnus, der Lehrer des Thomas von Aquin, den wiederum die deutlich neuplatonische Komponente im Denken Averroes’ auf Distanz hielt. Für das Abendland wurden neben den arabischen Autoren auch jüdische Denker bedeutsam: Salomon ibn Gabirol («Avicebron»), Juda ha-Levi, Abraham ibn Ezra und vor allem
der große Moshe ben Maimon («Maimonides») aus Cordoba, der später Leibarzt Sultan Saladins wurde. Durch die Interpretation von Maimonides’ philosophischem Hauptwerk, Führer der Unschlüssigen, erneuerte sich der Einfluß des Averroes in der jüdischen, muslimischen und christlichen Welt. In weniger als einem halben Jahrhundert entstanden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der Übersetzerwerkstatt Toledos die lateinischen Fassungen der astronomischen Schriften des Albatenius, Alcabitius und des Alfraganus, der Traktat De intellectu von al-Kindl, ein Teil des Kitab ash-Shifa des Avicenna und die Schriften des al-Ghazali. Trotz der später offenbar gewordenen Unachtsamkeiten, Irrtümer, Unklarheiten und Verstümmelungen kann die unermüdliche Arbeit des Gerhard von Cremona (gestorben 1187) nicht genug gewürdigt werden. Er übertrug den Kanon des Avicenna, den Almagest des Ptolemaios, von dem nur eine anonyme Übersetzung aus dem Griechischen existierte, entstanden in Sizilien um 1160. Er übersetzte Werke von al-Kindi und vielleicht auch von alFarabi, eine Anzahl aristotelischer Schriften sowie das pseudoaristotelische Liber de causis. Neben arabischen übertrug er auch jüdische Schriften, unter anderem das Buch der Definitionen und das Buch der Elemente des Neuplatonikers Isaak Israeli, der von al-Kindi beeinflußt war und um dessen Vermittlung sich auch Domenicus Gundisalvi bemühte. Das gewaltige Projekt Gerhards von Cremona führte am Hof Kaiser Friedrichs II. in Palermo der Philosoph, Astrologe, Arzt und «Magier» Michael Scotus (1180 – 1235) fort, der zuvor Toledo, Bologna und Rom bereist hatte. Michael Scotus übersetzte eine Vielzahl aristotelischer Schriften und die entsprechenden Kommentare von Averroes, das Buch De sphaera des Alpetragius und De animalibus des Avicenna.
Hermann der Deutsche, ebenfalls aus der Schule von Toledo hervorgegangen, übertrug zwischen 1240 und 1256 weitere grundlegende Kommentare des Averroes, zum Beispiel dessen Erläuterungen zur Nikomachischen Ethik. Die Erneuerung von Philosophie und Naturwissenschaften aus dem Geist des Neuplatonismus und des aufkeimenden Aristotelismus war eine Frucht dieses großartigen Zusammenspiels lateinisch westlicher und islamisch-östlicher Kultur. Die Zeit zwischen Mitte des 12. und Mitte des 13. Jahrhunderts gilt als die bedeutendste Epoche des langen geistigen Abenteuers des mediterranen Europa. Abaelard und die Scholastik schufen die Grundlagen der Logik und Dialektik. Während die Inquisition ketzerische Strömungen bekämpfte, wurde das spirituell-geistliche und das kirchliche Leben durch die Bettelorden erneuert. Universitäten wurden gegründet. Die Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium ging ihrem Ende zu. Neben den Feudalmonarchien traten die Städte als neue politische Kraft hervor. Die Geldwirtschaft setzte sich durch, und im Westen wurden wieder Goldmünzen geprägt. Es waren auch die entscheidenden Jahrzehnte der Kreuzzüge, die man, losgelöst von diesem Hintergrund, gar nicht angemessen verstehen und deuten kann. Zwar spielen die militärischen Auseinandersetzungen ebenfalls keine geringe Rolle, doch dürfen die Beziehungen zwischen Europa und dem Islam nicht darauf allein beschränkt werden.
Friedrich der Staufer und Alfons von Kastilien War das 13. Jahrhundert proislamisch? Zweifellos war es eines der großen Jahrhunderte der europäischen Geschichte, grundlegend für die Entstehung der kulturellen Identität des
Kontinents. Zweifellos kamen sich in dieser Zeit Christentum und Islam – trotz oder auch wegen der Kreuzzüge? – so nah wie nie zuvor. Die Begegnung dieser Kulturen oder besser gesagt die Vermittlung zwischen ihnen war das Verdienst sowohl des Christentums wie des Islam. Auf westlich-europäischer Seite (das byzantinische und östliche Christentum, das gleichfalls den Kulturaustausch gefordert hat, soll hier unberücksichtigt bleiben) trugen die Fürsten, der Klerus, Ritter, Kaufleute und Übersetzer dazu bei. Einige von ihnen sollen hier besonders erwähnt werden. Friedrich II. – Gegner an der päpstlichen Kurie und welfische Propagandisten sahen in ihm einen Ungläubigen; «Emir», «getaufter Sultan», das waren die Schimpfworte, mit denen sie ihn verunglimpften und die uns über die Jahrhunderte überliefert sind. Sie wurden von dem außergewöhnlichen Arabisten des 19. Jahrhunderts Michele Amari aufgegriffen und bis in unsere Tage von den Biographen Friedrichs wiederholt, der in den arabischen Quellen al-Imbaratur heißt. Islamische Quellen berichten, daß er in Palermo von muslimischen Gelehrten in muslimischem Umfeld erzogen worden sei. Westliche Quellen versichern, daß er neben Latein auch Griechisch und Arabisch sprach. Zwischen Februar und März 1229 schloß der Kaiser mit dem ayyubidischen Sultan in Kairo, al-Malik al-Kamil, einen Vertrag. Darin trat al-Malik alKamil Jerusalem an Friedrich ab (das bis auf die heiligen Stätten der Muslime, dem Hamm ash-Sharif, geschleift war), außerdem Bethlehem, Nazareth und einen eher unbedeutenden Streifen Land mit Zugang zum Meer – und zwar bis zum Ablauf eines zehnjährigen Waffenstillstands. Ungeachtet der gegen ihn verhängten Exkommunikation setzte sich Friedrich in der Auferstehungsbasilika eigenhändig die Krone des Königs von Jerusalem aufs Haupt. Die arabischen Chronisten
Ibn Wasil und Sibt Ibn al-Dschauzi berichten, Friedrich habe bei seinem Besuch in der Heiligen Stadt keine Gelegenheit versäumt, seine Sympathie und Bewunderung für den Islam und dessen Kultur sowie Haß und Verachtung für die kirchlich-lateinische Welt zum Ausdruck zu bringen. Ein Paradebeispiel romantischer Exotismus-Begeisterung ist Friedrichs nachweisliche Leidenschaft, mit der er in der Nacht dem Gebetsruf des Muezzin lauschte. Der «diplomatische Kreuzzug» Friedrichs II. kann jedoch weder als Ausdruck eines Philoislamismus noch als Ausdruck einer irgendwie gearteten Gegnerschaft zum Kreuzzugsgedanken an sich gewertet werden. Friedrich war sich der Tatsache bewußt, daß der iter Hierosolymitanum mittlerweile zu einem politischen Instrument in den Händen des Papsttums geworden war. Und er beanspruchte als Kaiser die Führungsrolle, nicht anders als vierzig Jahre zuvor sein großer Ahne Barbarossa. Bereits beim Krönungszeremoniell zum deutschen König (und damit zum «König der Römer») am 25. Juli 1215 in Aachen, dem Tag des Apostels Jakobus, hatte er das Kreuz genommen. Jetzt fehlte ihm noch die Kaiserkrönung durch den Papst in Rom. Der Kreuzzugsgedanke war also auch für ihn unverzichtbar. Aber ein Angriff auf Ägypten entsprach weder seinem Wunsch noch seinen Interessen. Ein solcher Angriff hätte den Verlust des politischen und diplomatischen Freundes al-Malik alKamil bedeutet, und zudem stellte die offene Feindschaft Papst Gregors IX. und die Unzuverlässigkeit der fränkisch-syrischen Fürsten die Autorität und ein Verweilen Friedrichs im Heiligen Land in Frage. Friedrich setzte daher die Strategie seiner normannischen Vorgänger fort, die im übrigen auch die späteren Herrscher Siziliens verfolgten: Manfred, die Anjou und schließlich die Aragonesen. Einem geographisch politischen Grundprinzip getreu, achtete Friedrich als König
von Sizilien darauf, zu den ägyptischen Sultanen wie auch zu den nordafrikanischen Dynasten gutnachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Das war die diplomatische Grundlinie eines mediterranen Herrschers. Einen Willen zu Verständnisbereitschaft und zur Vermittlung gegenüber dem Islam kann man keinesfalls darin sehen. Bei den Kreuzzügen in Syrien und auf der Iberischen Halbinsel bemühte man sich ja in ähnlich intensiver Weise um gute diplomatische Beziehungen und bekundete seine Sympathie. Im übrigen nahmen an den Kreuzzügen auch sarazenische Söldner teil, die sogar von den Ritterorden angeworben wurden. Richtig ist allerdings, daß Friedrich schon in seiner Jugend die islamische Kultur kennenlernte und zweifellos auch bewunderte. Damit stand er in einer Tradition, die bereits in normannischer Zeit begonnen hatte: Roger II. hatte die geographischen und kartographischen Forschungen des Idrisi gefordert, König Wilhelm I. und Wilhelm II. von Sizilien hatten die Übersetzung astronomischer und mathematischer Schriften in Auftrag gegeben. Der Staufer richtete sein ganzes Augenmerk auf die Philosophie und die Naturwissenschaften. Ohne die arabische Kultur und Wissenschaft außer acht zu lassen, hatte der normannische Hof der griechischen Kultur den Vorzug gegeben. An seiner Magna Curia, seinem Hof in Palermo, schlug Friedrich einen anderen Weg ein, der seinem Geschmack und seinen Interessen entsprach, aber auch von äußeren Umständen diktiert war. Nach dem vierten Kreuzzug war das Byzantinische Reich in Einzelstaaten zerfallen, und diese Zersplitterung hatte den Niedergang der griechischsprachigen Kultur zur Folge. Jetzt also intensivierte der Kaiser im Zuge seiner politischen und diplomatischen Aktivitäten die Beziehungen zur islamischen Welt, insbesondere nach seiner Reise in den Orient 1228 – 1229.
Im Jahr 1227 traf am sizilianischen Hof Michael Scotus ein, Schotte von Geburt, der in Toledo studiert hatte und bald in Sizilien heimisch wurde. Er hatte die im 12. und 13. Jahrhundert übersetzten Schriften studiert und das gesamte berühmte Kiiab al-hai’a, die Sphärik des Abu Ishaq Nur adDin al-Bitrudschi (im Westen bekannt unter dem Namen «Alpetragius»), übersetzt, in dem die Bewegungen der Sonne und der Planeten entsprechend der aristotelischen Physik erklärt werden. Scotus übertrug aristotelische Texte aus dem Griechischen und dem Arabischen, darunter eine Schrift, die der naturwissenschaftlich interessierte Kaiser Friedrich besonders schätzte, die Historia animalium. Seine Abbreviatio Avicennae de animalibus widmete er dem Kaiser. Michael Scotus spielte in Sizilien eine bedeutende Rolle in der Vermittlung des aristotelischen, allerdings durch Avicenna und Averroes gefilterten Denkens an den christlichen Kulturkreis. Er interessierte sich besonders für die Astrologie und die benachbarten Wissenschaften der Alchimie und der Physiognomie. Über sie schrieb er zahlreiche Abhandlungen, in denen der Einfluß von ar-Razi, Abu Ma’shar und alFarghani deutlich zu spüren ist. Mitte der dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts kam ein weiterer herausragender Gelehrter an die Magna Curia von Palermo: Theodor von Antiochia, den vielleicht der ägyptische Sultan dem Kaiser geschickt hatte. Er war in der sizilianischen Kanzlei für die arabischsprachige Korrespondenz mit den muslimischen Fürstenhöfen zuständig. In der kaiserlichen Kanzlei gab es ein eigenes arabisches Büro, und der stilistisch formale Einfluß des Arabischen schlug sich in der gesamten Kanzleiarbeit nieder, selbst in den Sektionen, für die das Lateinische Amtssprache war. Theodor, ein monophysitischer Christ aus Syrien («Jakobiter»), ein ausgewiesener Kenner des Schrifttums und der Wissenschaft aus dem Nahen Osten und
dem Maghreb, studierte Schriften über Medizin und Hygiene und übersetzte einen berühmten arabischen Traktat des Falkners Moamin für den Kaiser. Friedrich, der sich für die Falknerei begeisterte, hatte sich während des Kreuzzugs intensiv damit beschäftigt. Mit Hilfe der von Michael Scotus und Theodor von Antiochia übertragenen Werke und dank seiner eigenen Erfahrung als Jäger und Falkner verfaßte er sein berühmtes Buch De arte venandi cum avibus über die Falkenjagd. Mit den Gelehrten, die er an seinen Hof zog und die an der neugegründeten Universität Neapel und an der altehrwürdigen Schule von Salerno lehrten, wurde der Kaiser zum Förderer und Auftraggeber von Untersuchungen zu den verschiedensten naturwissenschaftlichen Problemen überall im Mittelmeerraum. Ein Beispiel ist das Kitab al-masa’il assiqilliyya («Buch der sizilianischen Fragen») des Ibn Sab’In, eines Andalusiers aus Murcia und Sufi-Mystikers, dem der almohadische Emir Abd al-Wahid Fragen übermittelte, die Kaiser Friedrich an alle wichtigen islamischen Länder des Mittelmeers und des Nahen Ostens gesandt und um Beantwortung gebeten hatte. Gewiß, trotz aller Bemühungen des Stupor mundi genannten Herrschers um die arabische Kultur erreichten weder Palermo noch Neapel noch Foggia, die Zentren der Kultur und Gelehrsamkeit Friedrichs II. das Niveau spanischer Geistesstätten. Das geistige Leben des christlichen Spanien, das sich zu jener Zeit von Toledo bis Sevilla regte und arabisches und jüdisches Bildungsgut begierig aufnahm, trug den Stempel des großen Königs von Kastilien und Leon, Alfons’ X. des Sohns Ferdinands des Heiligen. Er bestieg im Jahr 1252 den Thron, zwei Jahre nach Friedrichs Tod. Seine Regierungszeit dauerte zweiunddreißig Jahre, bis 1284. In der spanischen Tradition wird er el Sabio («der Weise») genannt, und wie Friedrich II. war er ein großer Intellektueller auf dem
Herrscherthron jenes geistig anspruchsvollen 13. Jahrhunderts. Friedrich und Alfons teilten die Begeisterung für die arabische Kultur. Der Kastilier griff die Bemühungen der großen Übersetzerschule von Toledo auf und förderte sie unbeirrt, wenngleich die Zeitläufte ihn immer wieder zwangen, zu den Waffen zu greifen. Als Kreuzfahrer vertrat er eine entschiedenere und konkretere Linie als Friedrich II. Friedrich war rührig, aber nicht immer mit Erfolg, und in seinen Träumen von Größe und Erhabenheit nicht immer vom Schicksal begünstigt. Alfons der Weise hatte mehr Glück und gilt als großer Gelehrter, als Förderer der Verständigung mit den nichtchristlichen Gemeinschaften im Territorium der Reconquista. Doch diese Bereitschaft zu gegenseitigem Verständnis nahm in den nachfolgenden Jahrzehnten immer mehr ab, bis sie Ende des 15. Jahrhunderts ganz aufhörte. Zu den besonderen Verdiensten des Sabio gehören neben der Förderung von Übersetzungen aus dem Arabischen und Hebräischen auch die Etablierung des Kastilischen als Kultur-, Literatur- und Dichtungssprache und ein besonderes Interesse an philosophischen, astrologischen und naturwissenschaftlichen Themen und Texten. Aber diese außerordentliche Nähe zwischen Europa und dem Islam im 13. Jahrhundert hatte auch andere Wurzeln und Ursachen. Einige der Hauptakteure dieser Vermittlung trugen die Kutte der Minoriten, weshalb wir nun an einen Text und eine Episode erinnern wollen, die enorme Folgen hatten.
Franziskus von Assisi und die franziskanische Bewegung Der Herr sagt: «Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wolfe. Seid daher klug wie Schlangen und einfältig wie Tauben». Daher soll jeder Bruder, der unter die Sarazenen und
andere Ungläubige gehen will, mit der Erlaubnis seines Ministers und Dieners gehen. […] «Die Brüder aber, die hinausziehen, können in zweifacher Weise unter ihnen geistlich wandeln. Eine Art besteht darin, daß sie weder Zank noch Streit beginnen, sondern um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur Untertan sind und bekennen, daß sie Christen sind. Die andere Art ist die, daß sie, wenn sie sehen, daß es dem Herrn gefällt, das Wort Gottes verkünden: sie sollen glauben an den allmächtigen Gott, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, den Schöpfer aller Dinge, an den Sohn, den Erlöser und Retter, und sie sollen sich taufen lassen und Christen werden; denn wenn jemand nicht wiedergeboren ward aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen» (Nicht bullierte Regel, in: Die Schriften des heiligen Franziskus von Assisi [= Franziskanische Quellenschriften, Bd. 1], 6. völlig neu bearbeitete Auflage, Werl/Westf. 1980, S. 173-200). Die Regula non bullata, die vorläufige oder «nicht bullierte» Regel, wurde auf dem Pfingstkapitel des Minoritenordens im Jahr 1221 verkündet. Franziskus war von seiner 1219 unternommenen Reise nach Syrien und Ägypten zurückgekehrt, wo er den Kreuzfahrern bei der Belagerung von Damiette gepredigt hatte und mit dem Sultan al-Kamil zusammengetroffen war. Die Begegnung mit dem Sultan, von der westliche franziskanische und nichtfranziskanische Quellen mit unterschiedlicher Gewichtung berichten, wird indirekt auch von einer arabischen epigraphischen Quelle bestätigt. Daß der Sultan den «Sufi» (einen «Mann Gottes»), der den fiir die Asketen typischen Kapuzenmantel aus grober Wolle (im Arabischen suj) trug, in seinem Zelt empfangen, mit ihm gesprochen und ihm zum Abschied kleine Geschenke überreicht hat, ist also weder unglaubwürdig noch steht es in Widerspruch zu islamischen Traditionen. Wenig
wahrscheinlich ist allerdings das Gottesurteil der Feuerprobe, von der einzig Bonaventura von Bagnoregio erzählt. Zwar gibt es im mittelalterlichen Christentum zahlreiche analoge Episoden, doch ausgerechnet in der Begegnung mit dem Islam erscheint dies eher unglaubwürdig (der Franziskaner und Historiker Giulio Basetti sieht das anders). Aufgrund dieser Begegnung mit dem Sultan und der Formulierung der Regula, die zweifellos in engem Zusammenhang damit steht, wurde die Rolle des heiligen Franziskus in der Geschichte der Missionierung als bedeutsam gewertet und seine Haltung den Kreuzzügen gegenüber ausführlich diskutiert. Der Mann aus Assisi stand zu seinem «christlichen Auftrag»: Er verzichtete nicht nur auf Autorität und gesellschaftliches Ansehen, sondern auch auf jede Machtausübung durch Bildung und Wissen. Denn auch Wissen, so Franziskus, ist eine Manifestation der Gewalt. Derartige Äußerungen des Franz von Assisi ermahnen zur Vorsicht bei der Beurteilung seiner Einstellung zu den Kreuzzügen. Er betrachtet die Kreuzzüge nicht als einen Missionskrieg, der die Bekehrung der Ungläubigen zum Ziel hat. Franziskus, der Krieg und Gewalt ablehnte, versuchte aber auch niemals, die Kreuzzüge zu verhindern, denn damit hätte er die Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Autorität des Papstes verletzt. Und seit Innozenz III. waren die Kreuzzüge ein allein vom Papst organisiertes Unternehmen. Gerne allerdings möchten wir wissen, was Franziskus vom Islam wußte, wie er ihn beurteilte und welche Vorstellungen er sich von ihm machte. Als junger Mann hatte er Texte oder vielleicht auch mündlich erzählte Rittergeschichten kennengelernt und eine Wallfahrt nach Santiago unternommen; sehr wahrscheinlich kannte er den Pseudo-Turpin. Weitere Informationen könnte er von den Minderbrüdern erhalten
haben, die sich seit 1217 im Heiligen Land niedergelassen hatten. An der Begegnung des Franziskus mit dem Sultan überrascht weder die Herzlichkeit noch die Sympathie, die, wie wir gesehen haben, durchaus im Rahmen des Üblichen waren. Neu allerdings ist der Gedanke (der auch in der Regula zum Ausdruck kommt), daß der Islam Teil der göttlichen Vorsehung und damit Teil des Offenbarungsplans ist. Die Sarazenen sind wie «Wolfe»; aber auch der «Bruder Wolf» ist eben ein Bruder. Die Liebe als Triebfeder wissenschaftlicher Erkenntnis war auch für den Naturwissenschaftler und Franziskanermönch Roger Bacon bei seiner Beschäftigung mit der muslimischen Welt maßgeblich. Die große Tradition der franziskanischen Gelehrsamkeit, die zum Beispiel an der Universität Oxford ihren Ausdruck fand, sei, so wurde gesagt, nicht zu verstehen, wenn man über ihren Beitrag zur Erkenntnis der Natur hinaus nicht auch ihre wichtigste Inspirationsquelle mitberücksichtige, den Sonnengesang des heiligen Franziskus. Ähnliches könnte man über die missionarische Tätigkeit des Franziskanerordens von Roger Bacon bis Raimundus Lullus sagen, die den Kreuzzugsgedanken teilten und sich ihm andererseits entgegenstellten. Bei der Propagierung des christlichen Glaubens hatte sich die Kirche seit jeher auf das Mittel der Polemik gestützt. Und die Themen und Methoden der Streitrede kehren auch in den Schriften der Franziskanermönche wieder. Doch parallel dazu entwickelte sich eine andere Grundstrategie: die Überzeugung der Muslime durch Diskussion, durch die Methodik und das Instrumentarium der scholastischen Logik; vor allem aber auch durch das Beispiel der Liebe. In manchen Franziskanergemeinschaften ist die christliche Predigt gegenüber dem Islam auch aufgrund ihrer zeitkritischen
Bezüge bedeutsam: Der Lectura super Apocalipsim des Petrus Johannes Olivi zufolge fällt den Franziskanern die weltgeschichtliche Sendung zu, die Sarazenen vor der Ankunft des Jüngsten Gerichts zu bekehren. Zwischen 1266 und 1268 entstand Roger Bacons wissenschaftskritische Abhandlung Opus maius, die, an Papst Clemens IV gerichtet, Ideen für eine Reform des theologisch-philosophischen und naturwissenschaftlichen Studiums enthält. In diesem Werk erhebt der doctor mirabilis, Fra Roger Bacon, Zweifel und Einwände gegen die Kreuzzüge im Heiligen Land (die, das darf man nicht vergessen, oft im Fiasko endeten). Diese Einwände verweisen exakt auf das, was der dominikanische Ordensgeneral Humbert von Romans als unter den Christen (und keineswegs den Häretikern) weitverbreitete Mißstände gebrandmarkt hatte. Nicht daß Bacon die Kreuzzüge an sich verurteilt hätte. Er betrachtete sie lediglich als unnütz, denn die bewaffneten Expeditionen gegen die Muslime waren oft eklatant erfolglos, und wenn sie erfolgreich waren, zeitigten sie keine dauerhafte Wirkung, da kaum jemand den Schutz der eroberten Territorien gewährleisten konnte. Und schließlich widersprachen die Kreuzzüge dem Gebot der Nächstenliebe, da die Ungläubigen getötet und nicht bekehrt würden und der Krieg Haß gegen den Namen Christi säe, weshalb die Muslime als Verdammte sterben würden. Gott, so argumentiert Bacon weiter, will aber nicht, daß die Muslime in der Hölle schmoren, sondern daß sie sich zum Christentum bekennen und leben. Hier bricht sich ein neuer Aspekt Bahn: die parallele Betrachtung der Kreuzzüge und der Missionierung im Licht der Bekehrung der Ungläubigen. Dieses Ziel ist der Kreuzzugsidee an sich ursprünglich fremd, doch wird sie zunehmend an diesem Kriterium gemessen. Damit kündigt sich
eine grundlegende Wende in der christlichen Einstellung gegenüber den Ungläubigen an. Im Glaubenseifer des Mallorcaners Raimundus Lullus (um 1232-1316) wechseln Kreuzzugs- und Missionierungsgedanke, Märtyrersehnsucht und Hoffnung auf Bekehrung aller Völker zu Christus ständig. Raimundus verfaßte Schriften zu Theologie, Philosophie, Alchimie und Poesie. Er sprach ausgezeichnet Lateinisch, Katalanisch und Arabisch. Als Mitglied der franziskanischen Terziarengemeinschaft, als Missionar und Gelehrter führte er ein unstetes Leben. Seine ambivalente Einstellung zu den Kreuzzügen läßt sich nicht einfach mit dem Verweis auf die allgemeine Unsicherheit jener Zeit beziehungsweise auf die Krise innerhalb der katholischen Kirche rechtfertigen (Beginn des «Avignoner Exils» der Päpste). Jedenfalls hielt er unerschütterlich am Missionsgedanken fest und forderte eine gründliche Ausbildung der christlichen Prediger, die die Sprache der Ungläubigen lernen sollten – allem voran Arabisch, das er selbst beherrschte und liebte und dessen im Koran zum Ausdruck kommende Schönheit er zu schätzen wußte. In seinem Libre de gentil, dem Buch von Heiden, wird ein gentil von drei Weisen, einem Juden, einem Christen und einem Muslim, im abrahamitischen Monotheismus unterrichtet. Sie versuchen, ihn von den Vernunftgründen ihrer gemeinsamen Glaubensgrundlagen zu überzeugen, offenbaren ihm aber, daß sie nicht denselben Glauben haben. Am Ende bleibt die Lösung in der Schwebe – ähnlich wie in der «Ringparabel». Das Werk ist Ausdruck von Lullus’ tiefer Überzeugung, alle drei Religionen seien wahr. Im Liber de quinque sapientibus werden vier verschiedene Ausformungen des christlichen Glaubens – der lateinische, griechische, monophysitische und nestorianische – dem Islam gegenübergestellt. Entschieden wird dem lateinischen Christentum der Vorzug gegeben, aber
auch den anderen drei Glaubensrichtungen widerfährt ihr Recht. 1314/15 brach Raimundus Lullus zweiundachtzigjährig noch ein drittes Mal per Schiff nach Nordafrika auf. Er predigte das Evangelium, wurde in Bujjah von der Menge gesteinigt, von Genuesen auf ein Schiff gerettet und tödlich verletzt zurückgebracht. Er starb im Anblick seiner Geburtsstadt Palma de Mallorca. Lullus, der sich selbst «doctor phantasticus», «Ramon lo Foll», genannt hatte, hielt zeitlebens hartnäckig an zwei Idealen fest: an Franz von Assisi und dem «reinen Tor» Parsival. Beide sind Zeugen für die Torheit des Kreuzes gegenüber der «Weisheit» der Welt.
7
Die Herren des Schreckens
Im Schatten der Magie Mit den Wallfahrten, dem Handel und den Kreuzzügen hatten sich neben Gewürzen und anderen Waren auch orientalische Sitten und Gebräuche im spätmittelalterlichen Europa verbreitet. Zahlreiche Details der spätmittelalterlichen Mode imitierten Byzanz, kamen aus Asien und dem muslimischen Spanien. Albertus Magnus, der im Jahr 1245 nach Paris kam, kleidete sich arabisch – keineswegs, um zu provozieren, sondern um seinen Status als Gelehrter zu unterstreichen. Die Muslime wurden inzwischen nicht mehr als «Heiden», sondern als «Philosophen» angesehen. Die feinen Stoffe, die verkauft und im Westen oft kopiert wurden, trugen den Namen der Städte, aus denen sie stammten: das Musselin war nach Mosul benannt, der Baldachin nach Bagdad, Damast nach der syrischen Stadt Damaskus. Aus Ägypten, Syrien, Persien, Turkestan und dem Kaukasus kamen Teppiche, aus Cordoba und Marokko wertvolle vergoldete und bemalte Lederwaren; in Almeria wurden Stoffe mit Silberfäden hergestellt, Murcia und Malaga exportierten Seidenstoffe. Die arabisch muslimische Kunst der dekorativen Inschriften bewunderte man so sehr, daß (nach den fehlerhaften arabischen Inschriften auf den im Westen geprägten Münzen) die kufische Schrift bis ins 15. Jahrhundert hinein als ornamentales Muster für Stoffe, Handarbeiten und Malereien verwendet wurde. Ein wichtiges ornamentales Element der Gotik bildeten jene Motive, die in
Spanien moriscos oder mudejares hießen, benannt nach den Muslimen, die im rückeroberten Spanien lebten. Diese spätmittelalterliche Orientmode verdeutlicht zahlreiche Widersprüche. Als sichtbarer Ausdruck von Bedürfnissen und Wünschen setzte sie einen regen Importhandel in Gang und bewirkte, daß sich das Handelsgleichgewicht zwischen Orient und Okzident allmählich immer mehr zugunsten des Orients verschob. Gleichzeitig flammte immer wieder der Kreuzzugsgedanke auf, und so sah sich Europa bald in der ebenso verwirrenden wie altbekannten Situation, seinen Feind zu lieben und von ihm zu phantasieren. Die Magie war der Ort, an dem Anziehung und Abstoßung, Faszination und Furcht aufeinanderprallten. Die Übersetzer aus dem Arabischen hatten der europäischen Welt astronomische und alchimistische Texte sowie gnostisches Schrifttum zugänglich gemacht, das von dem in der islamischen Philosophie weitverbreiteten Platonismus eingefärbt war und die unauslotbare und beängstigende Welt des Okkultismus eröffnete. Beunruhigt durch die Verbreitung der Lehre der Katharer, hatte sich die Kirche des 13. Jahrhunderts mit dem Rüstzeug der Inquisition gewappnet und ging jetzt mit immer größerer Härte auch gegen die Magie vor, die mit dem Niedergang der antiken Kultur im 4. und 5. Jahrhundert fast vollständig verschwunden war, jetzt aber wieder auftauchte. Mit der Verbreitung magischer Schriften in arabischer Sprache kehrte auch die Vorstellung wieder, die okkulten Künste seien nicht nur ein neuer Beweis für den diabolischen Charakter der ketzerischen Lehre «Mahomets», sondern auch eine Strategie, um die Christenheit zu verwirren und zu verderben. Gleichzeitig verstärkte die Aura von Macht und Einfluß, die diese magischen Künste umgab, den Nimbus der arabisch-muslimischen Welt als «philosophisch» im eigentlichen Sinn des Wortes.
Viel verdankte die arabische Astrologie nicht nur der griechischen, sondern auch persischer und indischer Tradition. Ihre Entwicklung zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert wurde durch Autoren wie al-Kindi, Abu Ma’shar und al-Biruni vorangetrieben. Um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert lebte der größte Alchimist der arabisch-muslimischen Welt, Dschabir ibn Hayyan, den der Westen unter dem Namen Geber kennt. Diese Werke fanden langsam, aber sicher Eingang ins christliche Europa. Im Jahr 1133 wurde das Introductorium von Abu Ma’shar übertragen, 1138 das Tetrabiblos des Ptolemaios. Großen Erfolg hatte das Centiloquium, eine pseudoptolemäische Aphorismensammlung zur Astrologie. Selbstverständlich wurden neben den arabischen auch hebräische Schriften rezipiert, und an den Randzonen der Wissenschaft entfaltete sich das geheimnisvolle magische Wissen der Astrologie, der die Kirche mit Mißtrauen begegnete. Die Astrologie hatte aber nicht nur einen spekulativen Erkenntniswert, sondern auch praktischen und unmittelbaren Nutzen. So dienten die electiones der Befragung der Sterne vor wichtigen Entscheidungen, und in der medizinischen Propädeutik wurde jedem Körperteil eine bestimmte Sternenkonstellation zugeordnet. Die Erforschung der Planetenkonjunktionen war der für die praktischen Staats und Regierungsgeschäfte bedeutsame Teilbereich der Astrologie. In Italien genoß die Astrologie an den Fürstenhöfen hohes Ansehen – an den ghibellinischen mehr als an den welfischen, da der Stauferkaiser Friedrich II. ihr seine besondere Aufmerksamkeit entgegenbrachte und die Kirche sie mit Argwohn beobachtete; aber das ist womöglich nur ein propagandistisches Gerücht. In Wirklichkeit suchte man den Beistand dieser Wissenschaft in vielen Bereichen des Lebens. Man befragte die Sterne, um den geeigneten Zeitpunkt zur
Gründung einer Stadt oder zum Bau eines Gebäudes, zum Vollzug der Ehe (und zur Zeugung von Kindern), zum Abschluß eines Geschäfts, zum Antritt einer Reise oder dem Beginn eines Kriegs zu ermessen. Doch war die Astrologie damit noch in der Lage, den freien Willen des Menschen zu garantieren? Verstörend blieb weiterhin, daß sich die Astrologie (nach dem Beispiel des Albumasar) bemühte, ein «Horoskop der Religionen» zu erstellen. Das setzte voraus, daß selbst das Geschick der Religionen von den Sternen beherrscht war, womit die Gültigkeit der Offenbarung der kalten Vernunft der Gestirne unterstellt wäre. Man unternahm sogar den wagemutigen Versuch, ein Horoskop Christi anzufertigen. Der Koran-Übersetzer Robert von Ketton lieferte auch die lateinische Fassung eines der ersten arabischen Traktate zur Alchimie, die im Westen rasch Verbreitung fand. Da der Koran für die islamische Welt nicht nur das religiöse, sondern auch das sprachliche, stilistische und philosophische Muster abgab, hatte seine Übertragung auch für die Vermittlung philosophischer, medizinischer, astrologischer und alchimistischer Texte Bedeutung. Indem man Metalle bestimmten Sternen zuordnete, knüpfte man eine enge Verbindung zwischen Astrologie, Alchimie und Medizin. In diesem Bereich war einer der größten Geister des 14. Jahrhunderts tätig, Arnaldo da Villanova. Von den Übersetzungen aus dem Arabischen, die um der völligen oder teilweisen Geheimhaltung willen in Teilen häufig verschlüsselt geschrieben waren, kam der pseudoaristotelischen Abhandlung Sirr al-Asrar, dem Secretum Secretorum, eine besondere Bedeutung zu. Es wurde (wohl von dem römischen curialis Philipp von Tripolis) in zahlreiche Volksidiome übersetzt und enthielt Unterweisungen des Aristoteles für Alexander den Großen. Francis Bacon war der erste Kommentator dieses
Werks, das für die Entwicklung der westlichen Medizin einen hohen Stellenwert hatte. Die Inquisition überwachte ängstlich besorgt die Ausbreitung dieser Wissenschaften, wenngleich es für eine verschiedentlich behauptete kirchliche Verurteilung des Secretum Secretorum keine konkreten Hinweise gibt. Gelehrte wie Petrus Hispanus, Campano da Novara, Witelo, Wilhelm von Moerbeke, Simon von Genua und Johannes Peckham trugen dazu bei, daß das päpstliche Rom in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein bedeutendes Zentrum der Entstehung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Schriften wurde. Das Spektrum reichte naturgemäß von Astronomie und Astrologie über Alchimie und Mathematik bis zur Optik. Aus diesen Texten entsprang das Interesse des Papstes an der Suche nach dem «trinkbaren Gold», das sogar Arnaldo da Villanova als wirksames Mittel gegen Lepra und als lebensverlängernd (zur prolungatio vitae) pries. Ob die arabische Naturwissenschaft oder die chinesische Alchimie selbst dieses Bild vermittelte, ist unklar. Jedenfalls stand die Alchimie im Ruch des Okkulten und damit auch des theologisch Verdächtigen. Das interessanteste alchimistische Werk des arabischen Kulturkreises wurde dem Westen zunächst über eine kastilische und später eine lateinische Fassung zugänglich: der sogenannte Picatrix. Allem Anschein nach wurde das Werk 1256 im Auftrag Alfons’ X. aus dem Arabischen ins Kastilische und später aus dem Kastilischen ins Lateinische übertragen. Übersetzer war der Jude Jehuda ben Moshe. Das Original trägt den Titel Ghayat al-Hakim fi’l sihr («Das Ziel des Weisen in der Magie»), eine apokryphe Schrift, die dem großen Mathematiker und Astronomen des 10. Jahrhunderts al-Madschriti zugeschrieben wird; der lateinische Titel hat in der Folge zu zahlreichen Mißverständnissen Anlaß gegeben. Der Picatrix ist nicht nur die berühmteste
Abhandlung zur Magie in der westlichen Welt, sondern wurde auch immer wieder bearbeitet, umgeschrieben und verfälscht. Er liefert technische Anleitungen zur Herstellung von Talismanen, erläutert die Namen der Sterne und die mit ihnen verbundenen spirituellen Mächte, die man bei magischen Operationen anzurufen hatte – die typischen praktischen Hinweise einer Wissenschaft, deren Ziel die Beherrschung von Dingen und Menschen ist. Der arabisch-muslimische Primat in der Beherrschung der nekromantischen Künste war beinahe sprichwörtlich und als Topos in weiten Bereichen der westlichen Kultur populär. Nicht selten wurde der Magier als Muslim dargestellt, beispielsweise in dem Theaterstück Ludus Theophili, in dem der Teufelsbeschwörer den Namen Saladin trägt. Dies war jedoch im Grunde nur die «volkstümliche» Kehrseite eines Usus unter den Gelehrten der Frühscholastik, die die Araber als die philosophi par excellence betrachteten. Diese «Popularisierung unter umgekehrten Vorzeichen» führte dazu, daß (völlig zu Unrecht, wie wir wissen) die muslimische Kultur insgesamt als fragwürdig abgetan wurde – eine merkwürdige Parallele zu der heute im Westen geläufigen Fehleinschätzung des Islam als fanatischer und intoleranter Religion. Der (zu kurz greifende) Schluß vom teilweisen «Verschwinden» des Islam aus der westlichen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts (mit Ausnahme der Orientalistik) auf den Prozeß einer Säkularisierung im Westen ist ein Beweis für diese Aburteilung des Islam, für jenes chronische Mißverständnis, dem der Islam im Westen zum Opfer gefallen ist und das sich in immer neuen und widersprüchlichen Bewertungen perpetuiert.
Bedrohung und Niedergang
Die Araber verfügten also über ein furchteinflößendes Machtinstrument. Während man die Templer vor Gericht stellte, wurde unter anderem der Verdacht laut, die Ordensritter könnten mit den Ungläubigen gemeinsame Sache machen, um die Christenheit zu vernichten. Denn sie verehrten eine obskure Gottheit: Baphomet. Dieser Name ähnelte dem Namen des Propheten, den Raimundus Lullus als «Mafumet» zu schreiben pflegte. Einer gängigen Vorstellung zufolge war dieses Götzenbild ein sprechender Kopf – ein Motiv, das auf vielen Reliquienschreinen, den sogenannten «Kephalotheken», zu finden ist, aber auch als traditionelles Instrument der Weissagung gilt. Der sprechende Kopf gehörte gleichsam zur Grundausrüstung des Nekromanten. Der Legende zufolge baute der «Magier» Albert von Köln, der Lehrer des Thomas von Aquin, mit Hilfe der von den Arabern übernommenen magischen Kunst einen merkwürdigen Automaten, einen solchen sprechenden Kopf. Der heilige Thomas, dem dieser Kopf vermacht wurde, mußte ihn zertrümmern, weil seine Geschwätzigkeit ihn beim Nachdenken störte. Als sich das spätmittelalterliche Europa aus dem Schattenreich der Magie erhob, wuchs auch der Verdacht, die Ungläubigen könnten sich dieser okkulten Künste bedienen, die sie meisterhaft beherrschten, um der Christenheit zu schaden. Die «volkstümlichen» Bewegungen, die mit ihren bewaffneten Pilgerzügen die Ordnung Europas auf den Kopf stellten – beispielsweise die «Kreuzzüge» der sogenannten «Unschuldigen» oder der «Hirten» in den Jahren 1212, 1251 und 1320 – gaben Anlaß zu Gerüchten über Verschwörungen,
an deren Spitze die Muslime stünden. Komplizen dieser «Verschwörung» mit den Ungläubigen, die die Vernichtung der Christenheit zum Ziel hatten, seien, so das Gerücht, Bettler, Leprakranke und Juden. Im Jahr 1321 wurde in Südfrankreich eine Verschwörung «aufgedeckt», die angeblich die Übertragung von Lepra durch ein geheimnisvolles Pulver zum Ziel hatte, das in Brunnen und Wasserläufe geschüttet werden sollte. Als Anstifter dieser Verschwörung bezichtigte man die Leiter von Leprakrankenhäusern, die, so sagte man, von den Juden unterstützt wurden. Als Drahtzieher im Hintergrund aber wurden der Sultan von Babylonien und der König von Granada betrachtet; spätere Verdächtigte waren der König von Tunesien, ja sogar die Könige von Jerusalem, von «Azor» und andere Phantasienamen sarazenischer Monarchen. Gelockt von der Hoffnung auf viel Gold, vor allem aber aus Haß auf die Christenheit waren, so das Gerücht, die Leprakranken bereit, ihren Glauben zu verleugnen. Sobald Europa von der Krankheit befallen wäre, würden die Muslime ihren Angriff beginnen und Europa erobern. Selbstverständlich fand man kompromittierende Briefe als Beweis für diese Verschwörung. Nach vereinzelten Übergriffen im Mittelalter kam es im 14. Jahrhundert zu Judenverfolgungen, die regelrechten Hexenjagden glichen. Auch die Verleumdung der Muslime, die durch die Kreuzzüge immer neue Nahrung erhielt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Im krisengeschüttelten Europa herrschte ein Klima der Angst, das in der Zeit der Großen Pest 1347-1350 seinen Höhepunkt erreichte. Die Araber mit ihrer Faszinationskraft und ihrem hohen Ansehen gehörten zu einer Welt, die jetzt ihre Brüchigkeit und ihren illusionären Charakter enthüllte. Der Araber – das war der «Philosoph», der tapfere und großmütige Gegenspieler der Helden in den Ritterepen, der Magier, der die Geheimnisse der
Natur kannte, der die nächtlichen Sterne befragte und auf diese Weise körperliche Gebrechen heilen konnte; er war ein kluger Kaufmann und handelte mit Waren, die in ganz Europa begehrt und geschätzt waren. Aber er war auch der Todfeind, der den Christen Jerusalem entrissen hatte. Was war von all dem jetzt noch geblieben? Jerusalem war nähergerückt. Mit den von der römischen – bald jedoch avignonesischen – Kurie ausgerufenen Jubeljahren, dem Heiligen Jahr, büßte die Heilige Stadt ihre besondere Attraktivität immer mehr ein. Denn jetzt konnte man den Plenarablaß, den vollständigen Nachlaß aller Sündenstrafen, auch ohne die kostspielige und gefährliche Reise übers Meer erlangen. Trotzdem: Wallfahrten nach Jerusalem gab es auch weiterhin, was durch zahlreiche Tagebücher bezeugt wird, in denen von den Erfahrungen der Reise berichtet wird und in denen neben den Namen der Heiligtümer, neben Gebeten und spirituellen Betrachtungen auch die Etappen und Reiserouten, Geldwechsel sowie die Kosten für Unterkunft und Verpflegung verzeichnet sind. Kurzum, es waren Reisetagebücher nach Art von Handelsbilanzen. Von Venedig aus wurde ein regelrechter Linienservice ins Heilige Land eingerichtet. Es folgten zahlreiche Kreuzzüge, und noch zahlreicher waren die Pläne für weitere Expeditionen. Peter I. von Lusignan, der König von Zypern, überfiel im Jahr 1365 den Hafen und die Stadt Alexandria. Diese Eroberung sollte seinen Vorstellungen zufolge ein passagium generale der ganzen Christenheit sein – Vorstellungen, die auch von dem in das ritterliche Zeremoniell verliebten Mystiker Philippe de Mezieres genährt wurden. Im Jahr zuvor hatte Papst Urban V in Avignon in Anwesenheit des römisch-deutschen Kaisers Karl IV von Böhmen zu einem solchen Unternehmen aufgerufen. In Wirklichkeit war die ganze Aktion nicht viel mehr als eine Plünderung, was zu
Protesten seitens der christlichen, vorwiegend venezianischen Kaufleute führte, die in der Stadt ansässig waren. Sie hatten das Nachsehen. Sogar der Konsul der Siedlung von San Marco in Alexandria, Andrea Venier, wurde während der Plünderung der Stadt verwundet. «Passagium» und «Kreuzesbanner» waren Begriffe, die in den Briefen der Katharina von Siena, besonders in jenen an den Papst, immer wieder auftauchten. Aus ihrer Sicht war der Kreuzzug jedoch zunächst und vor allem eine Chance für die Christenheit, den Bruderzwist zu beenden und Eintracht und innere Ordnung wiederherzustellen. Diese Vorstellung des Kreuzzugs als opus pacis, die uns heute paradox erscheint, gehört zu den am weitesten verbreiteten Ideen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt. Im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts begeisterte Philippe de Mezieres, der Vertraute und Ratgeber Karls VI. von Frankreich, französische, englische, spanische und italienische Adelige für einen neuen Kreuzzug. Ein Kreuzzug, so glaubte er, könne den langen Krieg zwischen Frankreich und England beenden. Die Insel Zypern war der vorgeschobene Grenzposten der Kreuzfahrerbewegung, obwohl ihre Bedeutung mit der Eroberung des Hafens Lajazzo an der kilikischen Küste (wo die Schiffe aus dem Schwarzen Meer und dem Persischen Golf einliefen) durch die Mamluken im Jahr 1337 geschwunden war. Andererseits wurde die Insel von der Dynastie der Lusignan regiert, die auf sehr wackligen Beinen stand und von den Genuesen ständig bedroht war. Im Jahr 1426 dann fiel eine ägyptische Expedition (wohl mit stillschweigendem Einverständnis der Genuesen) raubend und plündernd auf der Insel ein, nahm den König als Geisel und zwang ihn, die Oberherrschaft des Mamlukensultans anzuerkennen.
Trotz dieser militärischen Erfolge verfiel das Sultanat Ägypten zusehends, bis in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Wirtschaft völlig zusammenbrach. Der Gewürzhandel zwischen dem Indischen Ozean und den Häfen entlang des Nil ging jedoch weiter. Allerdings hatte portugiesischer Unternehmergeist mit der Gründung der Schule für Kartographie und Navigation durch den Infanten Heinrich (mit dem Beinamen «der Seefahrer») an der Algarve bereits die Voraussetzungen für eine Umsegelung Afrikas geschaffen. Die Portugiesen entrissen den Hafenstädten Alexandria und Damiette das ihnen noch verbliebene Monopol des Handels mit Gewürzen aus dem Fernen Osten. Aus dem Sudan gelangte zwar weiterhin Gold nach Ägypten, und die Zahlungsbilanz war positiv. Aber die ägyptischen Manufakturen verzeichneten einen unaufhaltsamen Niedergang, und das Land wurde von Waren aus Europa und dem Fernen Osten geradezu überschwemmt. Der extreme Luxus der herrschenden Schicht der Mamluken und die immensen Militärausgaben beschleunigten ebenfalls den wirtschaftlichen Zusammenbruch. Das Kalifat von Bagdad existierte nicht mehr. Die letzte Bastion der Mauren in Spanien blieb das Nasriden-Emirat von Granada. Die arabisch-berberischen Fürstentümer Nordafrikas, die von der genuesischen und katalanischen Seemacht im westlichen Mittelmeer beherrscht wurden, hatten ihren Einfluß auf den mediterranen Raum schon lange verloren und waren ständigen Angriffen der Christen ausgesetzt. An dem Kreuzzug von 1390 gegen al-Madhiya unter Führung des Bourbonenherzogs Ludwig II. nahmen englische, deutsche und italienische Truppenkontingente teil. Die Türken in Anatolien und die Tataren in Rußland und Persien hatten die Araber aus ihrer Führungsposition innerhalb des Islam verdrängt. Selbst Ägypten, das als «arabisches» Land schon immer eine
Sonderrolle spielte, wurde von einer Dynastie von Militärsklaven vorwiegend türkischer Herkunft (aber auch mit tscherkessischen und slawischen Elementen) beherrscht. Arabisch war zwar weiterhin die heilige Sprache des Islam, mußte sich aber als Kultursprache schon lange gegen das Persische verteidigen. Das arabische Volk jedoch, das nur noch in einigen Städten des Fruchtbaren Halbmondes lebte beziehungsweise ein Nomadendasein führte, war aus dem Blickfeld der Europäer praktisch verschwunden. In der Reiseliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts ist «Araber» nur noch ein Synonym für Beduine. Der ethnisch-kulturelle Niedergang des arabischen Volkes (der im übrigen mit der Arabisierung der Kultur in jenen Ländern Hand in Hand ging, die seit dem 7. Jahrhundert den Islam übernommen hatten) bedeutete eine enorme Entwertung des Arabismus als intellektuell-geistiges Phänomen. Diese Entwertung war letztlich gleichbedeutend mit einer wachsenden Abneigung gegenüber der eigenen verbrauchten und strengen scholastischen Tradition, die längst erstarrt war. Im Europa des 13. und 14. Jahrhunderts war über die Araber viel zu viel geredet worden. Man hatte Araber auch gesehen – wenigstens bildete man sich das ein. Die Sarazenenkrieger von Lucera, die im Dienst der Italien-Herrscher Friedrichs und Manfreds standen, hatten eine Mode mitgebracht, nach deren «maurischer Art» besonders die Ghibellinen ihre Krieger gekleidet hatten. Und sarazenische Truppen hatten in den Parteienkämpfen im Jahr 1241 das Kloster San Damiano bei Assisi, Aufenthaltsort der heiligen Klara, angegriffen. Der Legende zufolge waren sie angesichts der Heiligen, die ihnen eine Monstranz mit dem Sakrament entgegenhielt, voller Panik geflohen. Seiner Zeit weit voraus war Francesco Petrarca, als er 1370 einen Brief an Giovanni Dondi, seinen Freund in Padua,
schrieb, in dem er sich – entgegen der Einstellung seiner Zeitgenossen – unduldsam, beinahe haßerfüllt gegen alles Arabische oder arabisch Anmutende aussprach. Die Antipathie, ja Verachtung des Dichters traf die arabische Literatur und die Philosophie, insbesondere aber die arabische Medizin, die seiner Meinung nach in Italien und in Frankreich allzu emphatisch gelobt wurde, während man die lateinischen und griechischen Wissenschaften mißachtete. Über Mathematik und Astronomie äußerte sich Petrarca nicht, denn dort war die überragende Bedeutung arabischer und arabischsprachiger Schriften unbestreitbar. Zudem waren dies Themen und Probleme, mit denen er sich nicht beschäftigte oder die er an sich schon abschätzig beurteilte. Während Petrarca in seinem Brief an Dondi das endgültige Urteil dem Leser überließ, ging er in seiner Invectiva contra medicum quendam einen Schritt weiter und sprach von Arabum mendacia. In dieser wenig objektiven Invektive Petrarcas laufen verschiedene Elemente zusammen: Petrarcas bekannte Aversion gegen die Ärzte, seine Empörung angesichts der Unterschätzung der lateinischen im Vergleich zur arabischen Medizin, vor allem aber seine unreflektierte, aber maßlose Ablehnung des Averroes, die in zahlreichen Briefen sowie in der Abhandlung De sui ipsius et multorum aliorum ignorantia zum Ausdruck kommt. Petrarca lehnte vor allem das Bild ab, das die paduanischen «Averroisten» von Averroes verbreitet hatten und das – wie man heute weiß – von der ursprünglichen Lehre des Meisters meilenweit entfernt war. Doch damit soll Petrarcas Haltung keineswegs gerechtfertigt werden, die von Willkür und Fehleinschätzungen, Unwissen und Unverständnis bestimmt war und die er – wie ihm selbst wohlbewußt war – mit dem «Alibi» Poesie zu verbrämen suchte. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, was oder wieviel von der
arabischen Dichtung er mittelbar oder aus eigener Lektüre kannte. Seinem Brief an Dondi zufolge ist die arabische Dichtung blanda, mollis, enervata (schwächlich, verweichlicht und kraftlos) – Vorwürfe, die die alte Polemik gegen die Lasterhaftigkeit und die sexuelle Ausschweifung des Islam aufgreifen. Man habe, so hieß es, diese Zügellosigkeit erlaubt, um die perversen Neigungen des Propheten zu rechtfertigen. Schon in De vita solitaria hatte Petrarca diese Vorwürfe aufgegriffen, die an die Topoi des Catull und des Horaz über die Arabes molles erinnern. Aber der «Antiarabismus» hatte tiefere Wurzeln. Entgegen einer weitverbreiteten und immer wieder vorgetragenen Ansicht sind die Kreuzzüge keineswegs die Ursache für die Entzweiung zwischen Christentum und Islam, vor allem deshalb nicht, weil es eine solche Entzweiung gar nicht gab. Man kann aber auch nicht leugnen, daß die wiederholten Militärzüge die Spirale der Feindseligkeit immer höher geschraubt haben, während andererseits die Wertschätzung in anderen Bereichen die Anfeindungen abschwächten. In der ironischen oder satirischen Nachahmung der arabischen Sprache in poetischen Texten – angefangen mit dem Jeu de Saint Nicolas bis zu den unverständlichen Worten des Riesen Nembrot in der Göttlichen Komödie – zeigen sich bereits im 12. und 13. Jahrhundert erste Spuren einer Ermüdung gegenüber dem Eindringen des Arabischen ins geistige Leben Europas. Die Verurteilung der arabischen Doktrinen durch die Universität von Paris im Jahr 1277 war ein harter Schlag für die Glaubwürdigkeit der arabischen Kultur insgesamt. Die Schrift De erroribus philosophorum von Ägidius Romanus war zum Großteil der Versuch einer Widerlegung der «Philosophen», als die die Araber bezeichnet wurden. Im Laufe des 14. Jahrhunderts verfestigte sich diese antiarabische Einstellung immer mehr, vor allem in Italien; sie wurde bald
zu einem grundlegenden Bestandteil des aufkommenden Humanismus. Die altehrwürdigen Texte, jahrhundertelang in den Bibliotheken von Byzanz gehütet, waren nun unmittelbar zugänglich und konnten philologisch exakter studiert werden als in den arabischen Versionen, die oft mit schiefen und unverständlichen Bildern übertragen worden waren. Man denke nur an den platonisierenden Aristoteles vieler dieser Schriften, die der scholastischen Philosophie als Grundlage gedient hatten. Gegen diese Tradition der arabischen «Philosophen» begehrten jetzt also die Humanisten auf, die insgeheim die scholastische Methode ablehnten. Die Polemik gegen die arabischen Texte war nur Vorwand. Doch der Antiarabismus, in Teilen der europäischen Kultur durchaus vorhanden, fand jetzt neue Nahrung. War es zunächst ein falscher Prophet und eine die Gewaltsamkeit und Lasterhaftigkeit rechtfertigende Religion, so zeichneten die Heldenepen später das Bild eines Götzen anbetenden, teuflischen Volkes. Jetzt, nach einer Epoche, in der die Araber als «Philosophen» verehrt wurden, eröffnete Francesco Petrarca, der Vater des Humanismus, die Ära der Ablehnung alles Arabischen. Traten die Araber vom mediterranen Schauplatz des Geschehens ab, so tauchte nun ein neuer Feind auf. Die Kreuzzüge im 13. und 14. Jahrhundert hatten sich gegen die Heiden im nordöstlichen Europa, gegen die Überreste des Islam auf der Iberischen Halbinsel, gegen die Katharer, gegen die Ghibellinen in Italien, gegen die politischen Feinde des Papsttums und gegen die «Abenteurer» gerichtet, die die Söldner waren. Jetzt fand ein neuer muslimischer Ansturm statt, und ein neuer Feind kam aus dem Osten. Im 11. Jahrhundert war die erste peregrinatio Hierosolymitana auf den Wallfahrtswegen zumindest indirekt eine Folge des Auftauchens der neu zum Islam übergetretenen türkischen
Seldschuken. Im 14. und 15. Jahrhundert entstand eine neue türkische Bedrohung, die das Erscheinungsbild und die Ziele des «weißen Wals» der Kreuzzüge erneut veränderte.
Die Söhne Osmans Eine der wichtigsten Folgen des vierten Kreuzzugs nach der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1204 und der Wiederherstellung des Byzantinischen Reiches im Jahr 1261 unter der Dynastie der Palaiologes (ohne die Größe der früheren Zeiten zu erreichen) war der völlige Verlust der Kontrolle über die Anatolische Halbinsel. Nach dem Auftauchen der Mongolen blieb der Nahe Osten ein zwischen Armeniern, Mongolen, ägyptischen Mamluken, den Herrschern Zyperns (das in Kilikien Einfluß zu gewinnen suchte) und den Johanniter-Kreuzrittern umkämpfter Raum. Die Johanniter suchten von ihrem neuen Zentrum Rhodos aus zumindestens einen Teil der Küste des alten Phrygien, Lydien und Karien zu kontrollieren. In den vierziger und fünfziger Jahren des 14. Jahrhunderts zerfielen sowohl das tatarische Ilchanat Persien als auch sein Rivale, das Khanat der Goldenen Horde. In dieses Machtvakuum drangen türkischmongolische Gruppen, die sich jetzt, nach neu erlangter Autonomie, auf der Anatolischen Halbinsel fest ansiedelten und eine Reihe von Ghäzi genannten Sultanaten gründeten, die von dem mystischen Geist des dschihad beseelt waren. Aus diesem komplizierten Partikularismus erwuchsen bedeutende politische Kräfte, etwa das Sultanat von Aydin und die turkmenischen Konföderationen der sunnitischen Ak-Koyunlu («Weiße Hammel») und der schiitischen Kara-Koyunlu («Schwarze Hammel»), die im 14. und 15. Jahrhundert um die Vorherrschaft in Ostanatolien und Westpersien kämpften.
Der neue türkische Aufbruch im nordöstlichen Mittelmeerraum stellte Europa vor unvorhergesehene Probleme. Die neue anatolische Gefahr durfte nicht unterschätzt werden. Zwischen 1344 und 1346 unternahm eine «Heilige Union», an der Venedig, Genua, Zypern und die Kreuzritter von Rhodos teilnahmen, ein passagium particulare gegen die Stadt Smyrna, einen Stützpunkt türkischer Korsaren. Papst Clemens VI. der die Idee neuer Kreuzzüge mit glühendem Eifer unterstützte, ließ für den succursus der Eroberer von Smyrna in ganz Europa predigen. Doch dem Aufruf folgte lediglich ein burgundischer Adeliger, Aubert Audoin, während die Könige von Frankreich und England sich nicht von ihrem Krieg ablenken ließen, den sie soeben erst begonnen hatten. Genua spielte bald mit offenen Karten und zeigte, daß es weniger an Smyrna als an der Rückeroberung der Insel Chios interessiert war, von der ein wertvoller Rohstoff kam, das Mastix. Im Jahr 1329 hatten die Byzantiner die Insel von dem Genuesen Martino Zaccaria erobert. Doch auch die Venezianer hatten ein begehrliches Auge auf die Insel geworfen. Ende Frühjahr 1346 landete eine genuesische Flotte auf Chios und auf den alten festländischen Besitzungen der Zaccaria (Alt- und Neu-Phokaia), welche einen weiteren, für die Textilverarbeitung wichtigen Rohstoff besaßen, das Alaun, das in der Färberei als Beize verwendet wurde. Die Genuesen besetzten diese Territorien, ohne sich um den weiteren Verlauf der Kreuzzüge zu kümmern. Das Unternehmen war sowieso nur ein Vorwand gewesen, um den Appetit der europäischen Mächte anzuregen. Der Ausbruch der Pestepidemie drängte zu einer raschen Lösung des Konflikts. Im Jahr 1350 wurden die Kreuzritter von Rhodos als die Herren von Smyrna anerkannt, gleichzeitig übertrug man den Türken die Kontrolle über die Zitadelle, während die Venezianer in der Stadt bedeutende
Handelsprivilegien erhielten. Der naive Held des Kreuzzugs, Aubert Audoin, mußte auf alle Vergünstigungen verzichten und wurde von englischen Korsaren sogar ausgeraubt. Müde und enttäuscht, wandte er sich von der Welt und ihrer Pracht ab und zog die Kutte der Dominikanermönche an. Als Kleriker hatte er mehr Glück: Er wurde Patriarch von Alexandria und später Erzbischof von Reims. Unterdessen hatten sich in Anatolien die neuen Akteure islamischer Politik im Mittelmeer durchgesetzt. Im dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts war ein türkischer Stamm durch den Mongolensturm aus Zentralasien nach Westen gedrängt worden und hatte sich in den Dienst des seldschukischen Sultans von Konya gestellt, der den Türken ein kleines Territorium unweit von Konstantinopel zuteilte. Ende des 13. Jahrhunderts hatte deren Khan Osman oder Othman (1291 1326) erste Vorteile aus der Krise des Sultanats von Konya geschlagen, das auf der einen Seite von den Mongolen Persiens und auf der anderen Seite von den ägyptischen Mamluken bedrängt wurde. Osmans Nachfolger Orhan schließlich nutzte die Streitigkeiten um die Herrschaft in Konstantinopel, um sich sukzessive Bithynien mit Brussa (das antike Prusa und heutige Bursa), Iznik (das antike Nikaia) und Nikomedia, schließlich auch Gallipoli an der europäischen Küste der Dardanellen anzueignen, das ihm die Kontrolle über die Meerengen und den Zugang zur Balkanhalbinsel sicherte. Zu spät erkannte Byzanz, daß der unbequeme Verbündete, den die verschiedenen Parteiungen im Kampf um die Macht glaubten, für ihre Zwecke instrumentalisieren zu können, die Hauptstadt umzingelte, ja beinahe schon im Würgegriff hatte. Umgeben von dem osmanischen Thrakien und dem osmanischen Bithynien, war das Byzantinische Reich auf wenig mehr als die Hauptstadt und das Territorium um den Bosporus geschrumpft.
Türkische Seeräuber bedrohten die Ägäis und machten den genuesischen und venezianischen Schiffen das Leben schwer. Jetzt, da die neue osmanische Gefahr fast schon die Donau erreicht hatte, merkte man in Europa plötzlich, daß die Zeit drängte. Aber eine von Papst Innozenz VI. nach Avignon einberufene Konferenz endete in einem gewaltigen Fiasko. Europa war von einem neuen Kreuzzugsfieber erfaßt. Im Jahr 1370 bestieg Kardinal Pietro Roger den Papstthron und wählte als Pontifex den programmatischen Namen Gregor XI. Gregor, so hießen mindestens drei große Päpste, denen Kreuzzugsunternehmungen im Osten angelegen waren. Im Jahr 1371, beinahe unmittelbar nach seinem Amtsantritt, rief er zu einem neuen passagium generale auf und bereitete seine Rückkehr aus Avignon nach Rom vor. Das waren die beiden wichtigsten Punkte seines Programms, deren Erfüllung die beiden großen prophetissae der Christenheit jener Zeit anmahnten: Birgitta von Schweden und Katharina von Siena. Zu einem neuen Kreuzzug, zu dem der Papst im Juli 1375 aufrief, hoffte Katharina auch die marodierenden Söldnerscharen zu gewinnen, die auf diese Weise die Möglichkeit erhalten sollten, sich mit Gott zu versöhnen. Katharina war auch zuversichtlich, daß das Unternehmen zum Frieden oder zumindest Waffenstillstand in dem nicht enden wollenden französisch-englischen Krieg beitragen könnte. Zur Teilnahme an dem passagium hatte die Heilige aus Siena sogar den Bruder des französischen Königs Karl V, Ludwig, den Herzog von Anjou, gewinnen können. Doch alle diese Hoffnungen wurden an der harten politischen Realität zunichte. Mit der Rückkehr des Papstes nach Rom setzte keineswegs die langersehnte Erneuerung der Kirche ein. Vielmehr kam es zum sogenannten «Großen Abendländischen Schisma». In England und Frankreich, durch ihren langen Krieg noch immer zermürbt, bestiegen ein Kind, Richard II.
beziehungsweise ein Wahnsinniger, Karl VI. den Thron. Im Jahr 1381 fand in England der von Wat Tyler angeführte Aufstand zur Abschaffung von Standesprivilegien statt, Flandern war durch den Aufstand der Weber von Gent im Jahr 1382 verwüstet, in dessen Gefolge es zu Erhebungen in Paris und Rouen gekommen war. Schließlich wurde ganz Europa von einer neuen Pestepidemie heimgesucht. Diese politischen und sozialen Umwälzungen auf dem Kontinent, ständige Epidemien, die Kirchenspaltung, Angst vor einem Ansturm der Türken, die Propaganda von Gruppen, die von der Kirche die Rückkehr zur Reinheit der Urkirche forderten, nährten vielfältige Hoffnungen und Ängste. Eine Epoche endzeitlicher Prophezeiungen und religiöser Volksbewegungen. Zwischen 1378 und 1380 verbreitete sich in Europa eine Weissagung, die im Papst von Avignon und dem König von Frankreich die Protagonisten einer ökumenischen renovatio sah, durch die die Kirche gereinigt und Jerusalem befreit werden sollte. Ein Traktat ähnlichen Inhalts, das man dem Eremiten Telesphorus von Cosenza zuschrieb, wurde im Jahr 1386 dem Dogen von Genua zugeeignet, um ihn in die französisch-päpstliche Allianz einzubeziehen. Das war das Wiederaufleben eines apokryphen Prophetismus, der schon seit Jahrhunderten in Europa herumgeisterte. Solche endzeitlichen Visionen bestimmten auch Texte wie den Songe du vieil pelerin des Philipp von Mezieres, Gründer eines neuen religiösen Ordens, der Nova Religio Passionis Jesu Christi. Einer alten und unerfüllten Idee vieler Ideologen des Kreuzzugsgedankens entsprechend, sollte dieser Orden die bestehenden Ritterorden einen und ersetzen. Ein anderes Beispiel ist Jean le Meingre, der berühmte «Marschall Boucicaut», ein Jerusalempilger, der von neuen Kreuzzügen
träumte und Ritterorden zur Verteidigung der Edeldamen gründete. Unterdessen rückten die Osmanen immer weiter voran. Sultan Murad I. hatte die junge serbische Balkanarmee in der erbitterten Schlacht von Kosovo (Amselfeld) im Juni 1389 vernichtend geschlagen. Nunmehr hatten die Osmanen die Walachei, Bulgarien, Makedonien und Thessalien in ihre Gewalt gebracht, die Walachen nördlich der Donau zurückgeschlagen und im Jahr 1394 auch Thessaloniki (Saloniki) erobert. Eine neue Welle des Schreckens und der Gewalt breitete sich aus. Der Basileus Manuel II. versuchte mit einer Reise in den Westen einen neuen Kreuzzug zu initiieren. Aus Geldmangel hatte er Venedig die Insel Lemnos zum Kauf anbieten müssen. Aber seine Rechnung ging nicht auf. Die Serenissima, die sich vor Divergenzen mit dem Sultan scheute, riet dem Basileus scheinheilig zu Ruhe und Besonnenheit. Die Balkanoffensive der Türken begann unterdessen auch den ungarischen König Sigismund zu beunruhigen, der auf beide Päpste (den avignonesischen Papst Benedikt XIII. und den römischen Papst Bonifaz IX. ) Druck ausübte, um den Aufruf zu einem neuen Kreuzzug zu erwirken. Widerwillig schloß sich auch Venedig diesem Unternehmen an. Der Waffenstillstand zwischen Frankreich und England, im Jahr 1388 ausgehandelt, wurde im Jahr 1396 verlängert, damit der Kreuzzug durchgeführt werden konnte. Europa wurde von einer neuen Welle des religiösen Eifers, der Buße und der endzeitlichen Spiritualität heimgesucht. Der große Prediger und Dominikanermönch Vinzenz Ferrer gab mit seiner Vision des Antichristen der Geißlerbewegung neuen Auftrieb. In Herzog Philipp dem Kühnen von Burgund fand die Kreuzzugsbewegung ihren machtvollen Befürworter. Er brachte eine große Geldsumme auf und bestimmte seinen
eigenen Sohn Johann, Graf von Nevers (den späteren Herzog Johann ohne Furcht), zum Anführer des Kreuzzugs. Am 20. April 1396 brach von Dijon aus ein begeistertes Heer von Rittern aus Frankreich, Deutschland, England und Italien auf. In Buda schloß sich ihnen Ende Juli der König von Ungarn mit den Truppen seines Vasallen an, des Wojwoden der Walachei. Eine Schiffsflotte mit Rittern des Johanniterordens von Rhodos, Venezianern und Genuesen drang ins Schwarze Meer ein und ging an der Donaumündung vor Anker. Wohl ohne Übertreibung kann man von rund hunderttausend Kämpfern sprechen. Aber am 26. September erlitt die starke Streitmacht der Kreuzfahrer bei Nikopolis zwischen Donau und Balkangebirge eine blutige Niederlage. Der Grund dafür war das Ungestüm der europäischen Ritter sowie ihre spärlichen Kenntnisse des Terrains und der militärischen Strategien der Türken. Es kam zu einem regelrechten Blutbad, selbst Kriegsgefangene wurden kaltblütig niedergemetzelt. Nur wer Lösegeld zahlen konnte, kehrte 1397 in seine Heimat zurück. Das 14. Jahrhundert ging seinem Ende entgegen – im verzweifelten Bemühen, die immensen Summen Lösegeld zu beschaffen, in zaghaften Vorschlägen zu neuen Kreuzzügen und mit immer düstereren endzeitlichen Prophezeiungen, die durch neue Pestepidemien noch zusätzlichen Auftrieb gewannen. Aber dann plötzlich das Wunder (oder das, was man damals dafür hielt): Ein turanischer Fürst Transoxaniens, der den Zerfall des Mongolenreichs ausnützte, schien die Macht eines Dschingis Khans wiederzubeleben: Timur Lenk. Die Etymologie seines Namens ist umstritten und hat möglicherweise seine türkischmongolische Wurzel in einem Wort, das soviel wie «Eisen» bedeutet. Im Westen ist er als Tamerlan bekannt geworden. Von seinem Geburtsort
Samarkand aus unternahm er im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts eine Reihe klug geplanter und entschlossen durchgeführter Eroberungszüge. In kürzester Zeit gewann er Persien und Georgien mit den großen Marktstädten Täbris und Tiflis (dem heutigen Tiblissi). Er stieß nach Mesopotamien vor und eroberte 1392 Bagdad, zog dann weiter nach Syrien und brachte dem Sultan von Aleppo eine Niederlage bei. Im Jahr 1395 besiegte er in einer Schlacht den Khan der Goldenen Horde, dann wandte er sich Richtung Osten und führte seine Truppen bis zum Indus. Im Jahr 1398 zerstörte er Delhi. Anschließend zog er erneut nach Syrien und erreichte Damaskus, wo er im Jahr 1401 dem großen maghrebinischen Historiker und Philosophen Ibn Khaldun begegnete, der schon lange darauf brannte, ihn kennenzulernen. Sie tauschten Geschenke aus und sprachen über Geschichte, Religion und Recht. Mittlerweile erstreckte sich das riesige Reich Tamerlans bis zum Kaukasus, dem südlichen und mittleren Kaspischen Meer, dem Aral-See und umfaßte auch das Gebiet zwischen Syr Darja und Indus. Von den Potentaten des Mittelmeerraumes, die sich mit ihm messen konnten, gelang es nur dem osmanischen Sultan, erfolgreich Widerstand zu leisten. Die Interessen Europas und des Khan von Samarkand stimmten also offensichtlich überein. Aber da war noch mehr. Tamerlan rief Erinnerungen an den Mongolensturm hundertfünfzig Jahre zuvor wach und weckte damit die törichten Hoffnungen auf ein Bündnis zwischen den Steppenvölkern und der Christenheit – nicht um den Islam zu besiegen (Tamerlan war ja selbst Muslim), sondern um die osmanische Supermacht in ihre Schranken zu weisen, die als einzige in der Lage war, Tamerlans Vorherrschaft im uralaltaischen Raum zu bedrohen. In Europa blühten die Legenden, die seit drei Jahrhunderten Hoffnungen und
Illusionen nährten: beispielsweise die Sage vom «Priester Johannes», von den Weisen aus dem Morgenland und der Hilfe der Vorsehung, die den an Christus Glaubenden aus den Tiefen Asiens zuteil werden würde. Die europäischen Kaufleute hofften überdies auf eine neue pax mongolica, die erneut die effektiven und sicheren Karawanenwege zugänglich machen würde, die vom Schwarzen Meer und von Armenien aus über Persien nach Ostasien führten und im 13. und 14. Jahrhundert von so vielen Abenteurern, Diplomaten und Missionaren benutzt worden waren. Der byzantinische Prinz Johannes, vom Basileus Manuel vor seiner Abreise in den Westen als Regent in Konstantinopel eingesetzt, schloß mit dem genuesischen Podesta in Galata einen Vertrag, um über den griechischen Kaiser von Trapezunt (aus der Dynastie der Komnenen) mit dem Khan Beziehungen aufzunehmen. Da Byzanz ohnehin gezwungen war, dem osmanischen Sultan Bayezid Tributzahlungen zu leisten, erklärte sich Johannes bereit, diese Zahlungen auch dem neuen Verbündeten zu leisten. Außerdem kam der König von Frankreich ins Spiel: Da die Dominikaner traditionell gute Beziehungen zu den Mongolen hatten und Armenien und Persien gut kannten, ließ er Tamerlan durch dominikanische Missionare den Vorschlag eines gemeinsamen Bündnisses gegen die Osmanen überbringen. Es war die Wiederauferstehung eines alten Traums Ludwigs IX. verbunden mit der Hoffnung, das genuesische Handels «Imperium» in der Levante zu stärken; denn die französische Krone hatte die Oberhand über die ligurische Stadt. Hätten Genua und Venedig den großen mongolischen Herrscher mit einer Flotte unterstützt, stark genug, die Meerengen abzuriegeln, wäre die Geschichte womöglich anders verlaufen. Ende Juli 1402 kam es in der Nähe von Ankara zur Schlacht zwischen Mongolen und Osmanen, in der die Mongolen den Sieg davontrugen. Der Sieger von Nikopolis, jetzt seinerseits
geschlagen, wurde tief gedemütigt und starb im Jahr darauf in mongolischer Gefangenschaft. Aber im Jahr 1405 starb überraschend auch Timur Lenk; sein riesiges Reich zerfiel in zahlreiche Kleinfürstentümer, die sich gegenseitig bekämpften. Das osmanische Sultanat, nach der Niederlage bei Ankara dramatisch geschrumpft, hatte sich dennoch von Tamerlan nicht unterwerfen lassen. Jetzt, da Tamerlans Macht erschüttert war, wurden auch die Osmanen wieder ein interessanter Bündnispartner. Das machten sich die Venezianer zunutze, während sich Franzosen und Genuesen mit ihrem ungestümen Boucicaut an der Spitze mit dem Basileus von Konstantinopel zusammentaten. Im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts kam es zu «Kreuzzügen» neuer Art, zu Auseinandersetzungen zwischen Venezianern und Genuesen im östlichen Mittelmeer. Dabei übersahen die Europäer, daß sich die Osmanen unterdessen reorganisierten. Und nach einem Jahrzehnt der Thronwirren, in dem drei verschiedene Sultane an der Macht waren, bestieg Mehmed I. den Thron, gefolgt von seinem Sohn Murad II. der im Jahr 1422 unter einem formellen Vorwand Konstantinopel angriff. Die Belagerung, wohl mehr Machtdemonstration und Drohgebärde, wurde nach drei Monaten abgebrochen, aber nun konnte man sich keine Illusionen mehr machen. Im Jahr 1423 dankte Manuel II. ab. Ihm folgte zwei Jahre später Johannes VII. Unterdessen hofierte der Sultan Venezianer und Genuesen. Im Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Stärke und maritimen Macht, die sie in Konstantinopel besaßen, wollte er sie gegeneinander ausspielen. Im Jahr 1423 war Thessaloniki an Venedig übergegangen, doch 1439 eroberte Murad die Stadt mit Unterstützung des Herzogs von Mailand, Filippo Maria Visconti – einem Feind der Serenissima, der durch die Vermittlerrolle Genuas die besten kommerziellen und
diplomatischen Beziehungen mit einer anderen muslimischen Dynastie unterhielt: dem Emirat von Tunis. Murad seinerseits hatte jedoch keineswegs die Absicht, es sich mit den Europäern mehr als nötig zu verderben. Nach der Eroberung von Thessaloniki schloß er deshalb gewissermaßen zur Entschädigung einen für die italienische Seemacht Venedig vorteilhaften Handelsvertrag. Gleichzeitig ermunterte er die Genuesen, Kapital in osmanisches Gebiet zu investieren, und im Jahr 1437 erteilte er ihnen die Erlaubnis, die anatolischen Alaunvorkommen auszubeuten. Und bereits 1433 war eine osmanische Gesandtschaft in Basel bei König Sigismund eingetroffen, der damals, als König von Ungarn, an der Schlacht von Nikopolis teilgenommen hatte. Der ehemalige Kreuzritter empfing die Gesandten wohlwollend. Doch das Kreuzzugsideal war keineswegs in Vergessenheit geraten. Im Jahr 1422, als Sultan Murad Konstantinopel belagert hatte, starb Heinrich V, der Sieger von Azincourt. An seinem Sterbebett rezitierten die Mönche Psalm 51, in dem es heißt: «In deiner Huld tu Gutes an Zion, bau die Mauern Jerusalems wieder auf.» Bei diesem Vers angekommen, hatte der Herrscher, der sein ganzes Leben der Unterwerfung Frankreichs gewidmet hatte, mit lauter Stimme erklärt, sein Bestreben sei es stets gewesen, nach der Wiederherstellung der Ordnung des Reiches die Heilige Stadt zu erobern. Er starb wie Ludwig der Heilige, den Namen Jerusalems auf den Lippen.
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«Inimicus crucis, inimicus Europae». Die osmanische Bedrohung
Auf der Jagd nach dem Roten Apfel Auch die Osmanen hatten ihre Träume und Weissagungen. Und wie bei allen Völkern reichen die Wurzeln tief in ferne Vergangenheit. Die uralaltaischen Völker kannten zwei mythische Archetypen: den Wolf als das große Urtier und den Apfel als das Objekt allen Strebens und allen Glücks. In türkisch-mongolischen Märchen taucht immer wieder die legendäre Stadt Kizil-Alma («Roter Apfel») auf, die die Nomaden Zentralasiens über die Jahrhunderte hin inmitten wirbelnder Sandstürme und eisiger Schneewinde funkeln sahen: Zwischen dem Kaspischen Meer, der Wüste Gobi und dem Tienshan lag sie, die Stadt des Roten Apfels, die in volkstümlicher Vorstellung als riesige goldene Kuppel gedeutet wurde. Für die Nachkommen Osmans und ihren Stamm war das die Hagia Sophia in Konstantinopel, dann der Felsendom in Jerusalem, später Buda, im 16. und 17. Jahrhundert Wien und in trunkenem Siegestaumel sogar Rom… Noch heute heißt die Hauptstadt Kasachstans eingedenk alter Legenden und alter Hoffnungen Alma Ata, «Vater Apfel». Auf der Suche nach dem Roten Apfel war das Volk aus der Steppe bis vor die Tore des Neuen Rom gezogen. Und jetzt
wollten sie ihn pflücken, den Goldenen Apfel, der den nebligen Bosporus überstrahlte. Im Jahr 1421 ließ Philipp der Gute, der neue Herzog von Burgund und Sohn Johanns ohne Furcht, die Träume seiner Vorväter vom Orient Wiederaufleben. Er schickte seinen Getreuen Ghillebert de Lannoy in die Levante, um die Chancen für einen neuen Kreuzzug zu sondieren. Das abendländische Schisma war beigelegt, und mit der Niederlage Frankreichs bei Azincourt fand auch der französisch-englische Krieg ein Ende. Zwölf Jahre später schickte der Herzog einen weiteren Emissär auf den Weg: Bertrandon de La Brocquiere. Aber die beiden scharfsinnigen Beobachter kamen zu demselben Schluß: Die Türken, ein starkes und diszipliniertes Volk, waren kein leichter Gegner. Zur selben Zeit stellte sich Philipp offen Kaiser Sigismund entgegen, der Philipps Expansion nach Brabant, Limburg und Luxemburg verhindern wollte. Philipp benötigte etwas, was sein Ansehen steigerte und ihn moralisch über die anderen Dynastien der christlichen Welt erhob: über den schwachen Basileus von Konstantinopel, den verschlafenen römisch deutschen Kaiser, den mit ihm verbündeten König von Frankreich und England, der allzu sehr damit beschäftigt war, seine Besitzungen jenseits des Ärmelkanals zusammenzuhalten. Andere – der unentschlossene Dauphin und spätere französische König Karl VII. und die Könige auf der Iberischen Halbinsel – kümmerten den «Großherzog des Westens» nicht. Ein Kreuzzug würde ihm das ersehnte Prestige bringen. Er wäre dann der einzige Führer, ihm würde die Unterstützung der päpstlichen Kurie zuteil, und er könnte sich als jener bellator rex hervortun, über den man seit über hundertfünfzig Jahren vergeblich disputierte. Der Basileus Johannes VIII. wiederum war sich bewußt, daß für sein Reich, von dem wenig mehr als die strahlende
Hauptstadt übriggeblieben war, das Ende immer näherrückte. Im Jahr 1437 reiste er nach Europa, um die lateinischen Kirchenmänner um Hilfe zu bitten, die sich erneut zum Konzil (diesmal in Basel) versammelt hatten. Er wußte nur allzu gut, welchen Preis die westlichen Kirchenfürsten von ihm verlangen würden: Demütigung und Verzicht auf die Autokephalie der griechischen Kirche sowie die Beilegung des Schismas durch vollkommene Unterwerfung. Auch wußte er, daß in kirchlichen Kreisen, vor allem unter den griechischen Mönchen und in der Bevölkerung der Hauptstadt, den einfachen und frommen Gläubigen, mehr oder weniger laut gemunkelt wurde, der osmanische Turban sei der römischen Mitra vorzuziehen. Die Ungläubigen ließen die griechischen Christen als Gemeinschaft von dhimmi (und damit als Nutznießer islamischer Schutzherrschaft und der Möglichkeit freier Religionsausübung) immerhin in Ruhe, während die Lateiner ihnen ihre liturgischen, rechtlichen und theologischen Freiheiten nehmen würden. Unterdessen zogen die Türken die Schlinge immer enger um Byzanz; auch nach Nordwesten, Richtung Europa, trugen sie ihre Angriffe vor. Im Jahr 1437, nach dem Tod Sigismunds und den üblichen Thronfolgestreitigkeiten, griff Sultan Murad II. Siebenbürgen und Serbien an. Wenige Jahre später befand sich – trotz Widerstands des Despoten Georg Brankovic – ganz Serbien in der Hand der Osmanen. Siebenbürgen blieb dank des Wojwoden Johannes Hunyadi frei. Die Konzilsväter hatten unterdessen in Basel eine neue Kirchenspaltung heraufbeschworen. Papst Eugen IV. und die ihm treuen Prälaten hatten das Konzil von Basel zunächst nach Ferrara und dann nach Florenz verlegt. Am 6. Juli 1439 wurde in Florenz die Einheit der beiden Kirchen verkündet – der griechischen, die von einem unentschlossenen Herrscher und einem widerwilligen
Patriarchen repräsentiert wurde, und der lateinischen, die durch ein neues Schisma gespalten war. Im Frühjahr des folgenden Jahres griffen die Türken erneut Siebenbürgen und Ungarn an. Der Angriffssturm richtete sich gegen die Stadt Alba Greca (für die Slawen Beograd, die «Weiße Stadt»). Belgrad leistete jedoch erbitterten Widerstand, so daß der Sultan im September seine Zelte abbrechen mußte. Johannes Hunyadi, vom neuen ungarischen König Ladislaus Jagiello mit der Verteidigung des Gebiets zwischen Donau und Theiß betraut, trat den Ungläubigen so entschlossen entgegen, daß sogar die ungarischen Adeligen ihre endlosen Streitigkeiten beilegten und sich in einer Art heiligem Bund um den Wojwoden scharten, der zum Vorkämpfer des Glaubens und der Freiheit geworden war. Anfang 1443 forderte Papst Eugen IV in einer Enzyklika alle Prälaten auf, ein Zehntel ihrer Einkünfte für den Krieg gegen die Türken zu opfern. Der Papst selbst stellte ein Fünftel seiner Ressourcen zur Verfügung, um ein Heer und eine Flotte auszurüsten. In Ungarn war der päpstliche Legat Kardinal Giuliano Cesarini ein glühender Befürworter des Kreuzzugs. Polen, die Walachei und Ragusa – die tapfere Repubblica di San Biagio – standen voller Begeisterung hinter dem Papst. Das Unternehmen hätte durchaus Erfolg haben können. Der epirotische Adelige Georg Skanderbeg rief Albaner und Montenegriner zum Kampf gegen die Ungläubigen auf, und Georg Brankovic reorganisierte die Serben. In Ibrahim Beg hatten die Christen auch in Anatolien unerwartet einen wertvollen Verbündeten. Ibrahim Beg war der Sultan von Karaman, der Region zwischen Tuz-See und Taurus. Er war ein Vetter des Sultans Murad, entschlossen, ihm die Hegemonie in Asien streitig zu machen. Unterdessen führte Konstantin Palaiologos, der Despot von Mistra in Morea (dem Peloponnes), einen eigenen «Kreuzzug». Er eroberte das
Herrschaftsgebiet des Florentiners Nerio II. Acciaioli, Herzog von Athen, der sich zum Vasallen des Sultans erklärt hatte, rückte über Griechenland und Thessalien in Richtung Konstantinopel vor und mobilisierte unterwegs auch die Griechen und die Thraker gegen die Osmanen. Die Umstände schienen günstig. Aber im Westen stieß der Aufruf zum Kreuzzug, der mit großem rhetorischen Aufwand in Predigten und Schriften vorgetragen wurde, wie so oft auf taube Ohren. In Frankreich war der Hundertjährige Krieg noch in vollem Gang, in Italien hatten die Auseinandersetzungen zwischen Anjou und Aragon um das Königreich Neapel, die eben erst beigelegt waren, nur Unzufriedenheit und Groll hinterlassen. Genua, Venedig und Florenz zeigten wenig Lust, ihre guten Beziehungen zum Sultan aufs Spiel zu setzen. Der neue König Deutschlands und «der Römer», Friedrich III. von Habsburg, der vom Papst noch nicht die Kaiserkrone empfangen hatte, hütete sich, sich in ein Unternehmen zu stürzen, das nur Ladislaus’ Machtposition in Ungarn gestärkt hätte. Unter dem Vorwand, die politischen Verhältnisse in Böhmen seien zu unsicher (die hussitische Häresie war noch nicht niedergeschlagen), lehnte er es vorerst ab, das Kreuz zu nehmen. Im Sommer 1443 hatte sich in Buda also lediglich ein zusammengewürfelter Haufen versprengter Glücksritter versammelt. Der Feldzug begann vielversprechend mit einem Sieg bei Nisch und der Eroberung von Sofia. Doch dann machte der harte balkanische Winter und die türkische Guerillataktik den Kreuzfahrern einen Strich durch die Rechnung. Sie mußten sich schwergeprüft nach Belgrad und schließlich nach Buda zurückziehen. Brankovic, als Despot von Serbien ein Vasall des Sultans und überdies dessen Schwiegervater, vermittelte einen Friedensschluß, den Murad,
beunruhigt über die Absichten des Herrschers von Karaman, dringend herbeigesehnt hatte. Im April des folgenden Jahres bat Ladislaus von Ungarn den Sultan um einen Waffenstillstand, versicherte aber Kardinal Cesarini und den «Falken» in dessen Umkreis, daß er im Sommer erneut zu den Waffen greifen würde. So gut wie niemand glaubte daran, bis auf den Sultan natürlich, der durch seine Kundschafter genau unterrichtet war. Ein außergewöhnlicher Zeitzeuge, der sich zu jener Zeit auf osmanischem Territorium befand, der Humanist Ciriaco de’ Pizzicolli aus Ancona, berichtet, daß die Befestigungsarbeiten in Adrianopel trotz des Waffenstillstandes fieberhaft weitergingen. Offenbar aber unterzeichnete Ladislaus entgegen seinen wirklichen Absichten tatsächlich einen zehnjährigen Waffenstillstand. Ende Juli aber segelte er bereits von Venedig aus Richtung Donaumündung – mit einer Flotte unter dem Kommando Alvise Loredans und des päpstlichen Legaten Kardinal Francesco Condulmer, eines Neffen des Papstes. Der Sultan mußte unterdessen in Anatolien gegen Ibrahim Beg Krieg führen, während in Adrianopel eine von Schiiten geschürte religiöse Bewegung und ein Aufstand der Janitscharen für Unruhe sorgten. Dies bot die einzigartige Chance, der osmanischen Schlange ein für allemal den Kopf zu zerschmettern. Kardinal Cesarini fiel es denn auch nicht schwer, einen unentschlossenen und unzuverlässigen Ladislaus zu überzeugen, der sich immer wieder gern überreden ließ. Am 4. August verbündete sich in Szegedin der König mit den Granden Polens und Ungarns zu einem gemeinsamen Militärschlag, um die Türken aus Europa zu vertreiben. Lediglich der Despot von Serbien zog sich zurück und schloß einen Separatfrieden.
Murad, dessen Sieg über Ibrahim Beg bereits in greifbare Nähe gerückt war, unterzeichnete hastig einen Friedensvertrag. Dann eilte er in einem Gewaltmarsch zurück an die Meerengen, die die von Loredan und Condulmer befehligte Flotte hätte blockieren sollen, um ihm den Weg nach Europa abzuschneiden. Doch das war nicht geschehen. Es heißt, die Schiffe hätten das Marmarameer nicht überwinden können; der Sultan jedenfalls passierte ungehindert den Bosporus. Die Genuesen von Galata und einige venezianische Schiffe kamen ihm zu Hilfe. Auf dieses Ereignis, so scheint es, bezog sich Eugen IV in einer Bulle, in der er die «falschen Christen», die den Ungläubigen zu Hilfe eilten, mit dem Kirchenbann belegte. Unweit der Stadt Varna am Schwarzen Meer an der Mündung der Provadija, kam es zur Schlacht. Die Kreuzfahrer erlitten, wie schon in Nikopolis, eine weitere vernichtende Niederlage. Der einzige, der über militärisches Geschick verfügte, war Hunyadi, doch war er von dem unerfahrenen und unfähigen Ladislaus beiseite gedrängt worden, der seinen Leichtsinn mit dem Leben bezahlte. Mit ihm fiel auch Giuliano Cesarini. Der walachische Wojwode Vlad II. genannt «der Teufel» (Dracul), besann sich angesichts dieser Wendung der Ereignisse und verschaffte sich die Gunst des Sultans, indem er seinen transsilvanischen Mitstreiter abfing. Brankovic, der ebenfalls ein doppeltes Spiel trieb, hatte Skanderbeg aufgehalten und verhindert, daß er den Kreuzfahrern zu Hilfe eilte. Der Basileus wiederum hatte sich aus dem Konflikt herausgehalten, um dem Sultan nicht den Vorwand zum definitiven Angriff auf Konstantinopel zu liefern. Er wußte, dies war nur eine Frage der Zeit, aber er wollte noch ein paar Monate gewinnen. Murad nutzte den Augenblick des Friedens nach der verheerenden Niederlage der Christen, um abzudanken. Sein Sohn, der junge Mehmed (Muhammad), erwies sich jedoch als
so ungeschickt, daß sein Vater rasch wieder die Zügel des Reiches in seine Hand nahm. Die Venezianer gaben unterdessen dem Sultan wie dem Papst zu verstehen, daß sie von den Kreuzzügen genug hätten. Und Alfons von Aragon, der neue Herrscher in Süditalien und damit in der südlichen Adria, kümmerte sich im Augenblick lieber darum, seine noch unsichere Machtposition im Königreich Neapel zu stärken. Serben und Walachen blieben nach wie vor unzuverlässige Verbündete und Untertanen, doch würden sie keine unbesonnenen Aktionen unternehmen. Nur Skanderbeg und Hunyadi, inzwischen für den unmündigen Ladislaus Postumus Reichsverweser von Ungarn, blieben entschlossen, sich dem Joch des Sultans nicht zu beugen. Gegen Konstantin Palaiologos entfesselte der Sultan einen erbitterten Feldzug, der den Basileus im Jahr 1446 in die Vasallenschaft zwang.
Tiara oder Turban? Der Humanist Tommaso Parentucelli aus Sarzana wurde am 6. März 1447 als Nikolaus V zum Papst gewählt und am 19. März geweiht. Er starb am 24. März 1455. In die Zeit seines Pontifikats fielen zwei bedeutende Ereignisse mit jeweils unterschiedlichen Folgen für die Kirchengeschichte und die Christenheit jener Zeit. Ihm war das Glück beschieden, am 9. April 1449 das Ende des sogenannten «Kleinen Abendländischen Schismas» verkünden zu können: Nach zehn Jahren dankte endlich der Gegenpapst Felix V ab, jetzt wieder Amadeus VIII. von Savoyen. Doch vier Jahre später, am 29. Mai 1453, erlebte Nikolaus ein Unglück und eine Schmach: Konstantinopel fiel in die Hände der osmanischen Türken. Damit war der Untergang der pars Orientis des Römischen Reiches endgültig
besiegelt, das aus jener mehr als tausend Jahre zuvor von Theodosius verfügten Reichsteilung hervorgegangen war. Zwischen 1204 und 1261 hatte dieses Römische Reich mit der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer eine sehr unsichere und jedenfalls nur vorübergehende Kontinuität erlebt. Wie seine Nachfolger Calixt III. und Pius II. sah sich Nikolaus V mit zahlreichen Problemen konfrontiert: dem Ende des Oströmischen Reiches, der Dauerkrise des Römisch deutschen Reiches sowie dem Vorrücken der Türken. Ein Kreuzzug, der die wiedergefundene Einheit der Christen bezeugte, erschien dringend notwendig – jetzt, da nicht nur die Kirchenspaltung, sondern auch der Hundertjährige Krieg zu Ende war. Es galt, die politischen Kräfte in ihrem wiedergewonnenen Gleichgewicht zu bündeln und auf den Papst zu konzentrieren, der nunmehr das einzige Oberhaupt der Christenheit mit unbestrittener Autorität und unzweifelhaftem Ansehen war. Die Eroberung Konstantinopels läutete gewissermaßen eine neue Phase der Kreuzzugsideologie und der Beziehungen zwischen Christentum und osmanischer Welt ein, die erst elf Jahre später mit dem Tod Pius’ II. ihr Ende fand. Mit seinem Tod zerschlugen sich alle Pläne zur Rückeroberung Konstantinopels und die zumindest theoretischen Pläne zur Gewinnung Jerusalems. Nikolaus V war sicher nicht erst 1453 durch die Türkengefahr in Unruhe versetzt worden. Auch hatte ihm wohl nicht erst der Fall Konstantinopels klar gemacht, daß ein neuer Kreuzzugsaufruf in einem so kritischen Augenblick die Rolle und das Prestige des Papsttums in der christlichen Welt unterstreichen und stärken würde. Jetzt bot sich ihm eine neue Chance, das Programm einer papalen Monarchie vorzutragen, das seit der Kirchenversammlung von Konstanz alle Päpste verteidigten und dem sich die Konzilspartei
innerhalb der Kirche erfolglos entgegengestellt hatte. Wie schon nach dem vierten Laterankonzil von 1215 verbanden sich jetzt die causa unionis (der Kirchenfrieden) und die causa reformationis (die Verbesserung der kirchlichen Zustände) mit dem negotium crucis zu einem Programm. Letzteres sollte der Lösung der beiden anderen Probleme vorausgehen, zumal nach der Zerschlagung des Widerstands auf dem Konzil von Basel die Einheit der Kirche wiederhergestellt und die causa reformationis, das Reformproblem, auf unbestimmte Zeit verschoben war – mit Konsequenzen, die im Augenblick kaum absehbar waren, aber der Christenheit vor allem ab den letzten zwei Jahrzehnten des 15. und noch massiver Anfang des 16. Jahrhunderts schwer zu schaffen machen sollten. Als Nikolaus im Jahr 1447 den Papstthron bestieg, übernahm er die schwierige Erblast der Kreuzzüge, die schon sein Vorgänger Eugen IV zu bewältigen versucht hatte, zum Teil, indem er sich ihr entzog. Die Kreuzzugsfront war breit und vielschichtig. Sie erstreckte sich vom Balkan über das Agäische Meer nach Spanien und nach Nordosteuropa, und auf ihr lastete der riesige diplomatisch-finanzielle Überbau zum Eintreiben des Zehnten und des Ablaßverkaufs. 1448 ermäßigte der Papst den Preis für den Ablaßerwerb in Kastilien auf drei Gulden – Martin V hatte ihn auf acht Gulden erhöht, Eugen IV wiederum auf fünf Gulden ermäßigt. Darüber hinaus bestimmte Papst Nikolaus König Johann II. zum Nutznießer aller Erträge, die aus der Organisation des Kreuzzugs gegen Granada flossen. Im Jahr 1453 übertrug er ihm zudem den Vorsitz über den Ritterorden von Santiago. Überdies nahm er wohlwollenden Anteil an den afrikanischen Eroberungen und den portugiesischen Erkundungen des Atlantik und stellte die dilatatio fidei der defensio fidei gleich. Die Bulle Romanus Pontifex, die er am 8. Januar 1454 veröffentlichte, legitimierte das entstehende portugiesische Reich, indem sie den Ruhm des
Infanten Heinrichs «des Seefahrers» verkündete. 1448 und 1449 ließ Nikolaus auch den Teilnehmern an den Kreuzzügen nach Preußen und Livland einen Ablaß verkünden. Er befürwortete die Niederschlagung der hussitischen Bewegung und der Häresie im allgemeinen, indem er beispielsweise an der Gründung der «Compagnia della Croce» in Bologna im Jahr 1450 durch den Inquisitor Konrad aus Deutschland reges Interesse bekundete. Dagegen zeigte Nikolaus kein übermäßiges Verlangen, gegen die Osmanen militärisch einzuschreiten. Die Niederlage von Varna war noch immer nicht verwunden, obwohl der Reichsverweser von Ungarn, Johannes (Janos) Hunyadi, der Albaner Skanderbeg und der Despot von Mistra, Konstantin Palaiologos, entschlossen waren, den unabwendbar erscheinenden Triumph der Ungläubigen nicht so einfach hinzunehmen, und auf Vergeltung sannen. Vor allem Hunyadi wollte nicht warten. In diesem Sinn schrieb er im September 1448 an die Kurie in Rom, bevor er von Belgrad aus überstürzt loszog und über Serbien vorrückte. Nachdem sich Skanderbeg durch einen Vertrag die Unterstützung Venedigs gesichert hatte, sagte er zu, an einem neuen Feldzug teilzunehmen. Der Papst hatte großzügige Versprechungen gemacht und dem ungarischen Reichsverweser einen umfassenden Ablaß gewährt, dennoch aber keine ernsthaften Schritte unternommen. Vom 17. bis zum 19. Oktober 1448 kämpfte das ungarische Heer, verstärkt durch albanische und walachische Kontingente, gegen die Truppen Sultan Murads – auf jenem Amselfeld, wo Serben und Ungarn schon im Jahr 1389 eine vernichtende Niederlage erlitten hatten. Am zweiten Kampftag vollzog sich das Unheil, das auf diesem Ort lastete. Das ungarische Heer wurde von der osmanischen Artillerie vernichtend geschlagen und von dem
Janitscharenansturm in den Staub getreten. Der Ruf Hunyadis als eines Militärstrategen war für immer dahin. Wenige Tage zuvor, am 3. Oktober, war der Basileus Johannes VIII. gestorben. Der Sultan, der spürte, daß er Byzanz jetzt praktisch in der Hand hatte, bestimmte für die Krone des Byzantinischen Reiches jenen Konstantin, Despot von Mistra, den die Niederlage in der Schlacht von Varna vier Jahre zuvor offenbar lammfromm gemacht hatte. Nicht unwahrscheinlich ist, daß Murad, der ihn nach wie vor als einen hochgefährlichen Gegner ansah, eine ganz bestimmte Strategie verfolgte. Womöglich sah er ihn lieber als Herrscher im goldenen Käfig Konstantinopel, das von osmanischem Territorium gleichsam umzingelt war, als auf freiem Fuß in Griechenland. Jetzt blieb nur noch Skanderbeg, der sich in seiner starken Festung Kruja in den rauhen Bergen Albaniens verschanzt hatte. Im April 1450 versuchte der Sultan, diese stolze Festung einzunehmen, mußte sich aber nach fünfmonatiger erfolgloser Belagerung zurückziehen. Skanderbegs heldenhafter Widerstand löste unter den europäischen Anhängern der Kreuzzugsidee eine neue Welle der Begeisterung aus. Der Papst, der Herzog von Burgund, der König von Neapel und der Reichsverweser von Ungarn unterstützten ihn mit Geld und Lebensmitteln. Im selben Jahr machten sich zwei herausragende Persönlichkeiten der Kirche, Nikolaus von Kues und Dionysius der Kartäuser, auf die lange Reise durch das deutsche Reich, um den Kreuzzug zu predigen. Die Reden des Dionysius beeindruckten besonders Philipp den Guten, den Herzog von Burgund, der sich bereit erklärte, das Kreuz zu nehmen. Enea Silvio Piccolomini, der apostolische Nuntius in Deutschland, der die Notwendigkeit eines Krieges gegen die Osmanen ebenfalls erkannte, schrieb am 25. November 1448 aus Wiener Neustadt an den Papst, es
sei die Zwietracht und der Egoismus der christlichen Fürsten, die den Türken den Weg zur Eroberung ebneten. Nach dem Tod Murads im Jahr 1451 bestieg sein Sohn Mehmed II. den Sultansthron: ein junger Mann, der wenige Jahre zuvor bereits zwei Jahre lang die Geschicke des Reiches gelenkt und dabei kläglich versagt hatte. Die innenpolitische Krise nach dem Tod des großen Sultans Murad und der Ruf der Schwäche, der seinem Nachfolger vorauseilte, lösten in der christlichen Welt geradezu eine Euphorie aus. Der Humanist Francesco Filelfo, der mehrere Jahre lang am Hof des Basileus Johannes gelebt und die Tochter des griechischen Gelehrten Johannes Chrysoloras geheiratet hatte, gab sich als Kenner orientalischer Verhältnisse aus. Er schickte einen Brief an den französischen König Karl VII. in dem er ihn aufforderte, sich an die Spitze eines neuen militärischen Unternehmens gegen die Osmanen zu stellen. Filelfo zufolge war der neue Sultan ein schwacher junger Mann ohne politisches und militärisches Geschick. Ein Feldzug nach Anatolien, so Filelfo, sei ein Kinderspiel. In Wirklichkeit enthielt dieser Brief, in aufdringlich schmeichlerischem Ton geschrieben, dermaßen krasse Fehlurteile über Byzanz und die Osmanen, daß man sich fragen muß, ob Filelfo sich dessen nicht selbst bewußt war. Wahrscheinlicher ist, daß seine Einschätzung der Lage auf Vorurteilen und Gemeinplätzen beruhte, die im Westen weit verbreitet waren und die er teils aus Unwissenheit, teils im Bestreben, bekannte Ansichten zu verstärken, einfach nur nachbetete. Gezielt spielte er die Gefahren, Risiken und Kosten eines Kreuzzugs herunter und überschätzte die Macht der Byzantiner, die in Wahrheit so gut wie keine Rolle mehr spielten. Seine Beurteilung des neuen Sultans als eines unfähigen Herrschers – ebenfalls nicht besonders originell – wiederholte bloß ein altbekanntes und geläufiges Fehlurteil.
Es lohnt nicht, auf die übereifrig-kriecherischen Äußerungen des Filelfo weiter einzugehen, umso mehr als der König von Frankreich zu jenem Zeitpunkt damit beschäftigt war, sich die restlichen festländischen Besitzungen der Engländer anzueignen. Andererseits zeigten Schreiben wie das des Humanisten Filelfo, daß der Kreuzzugsgedanke zumindest als rhetorischer Topos immer noch lebendig war. Von Nikolaus V war – wenigstens im Augenblick – ebenfalls nicht viel zu erwarten. Der Schock über die Rückschläge in Varna und auf dem Amselfeld saß ihm noch in den Knochen, und er war beständig hin und her gerissen zwischen seinem Gefühl für die päpstliche Pflicht und seiner Einschätzung der – objektiv gesehen – geringen Chancen, einen gemeinsamen Feldzug der Christenheit zu organisieren. Voraussetzung für ein erfolgreiches Kreuzzugsunternehmen waren die Eintracht Europas sowie großzügige finanzielle Mittel. Vielleicht in der Absicht, seine Unentschlossenheit zu kaschieren, verschanzte sich der Papst dagegen hinter einer alten Vorbedingung, nämlich der Einheit aller Christen, ein Grundsatz, der bereits auf dem Konzil in Florenz verkündet worden, dem aber nur kurze Gültigkeit gegeben war. Ein Kreuzzug, so verkündete er, könne nur aus der effektiven Beilegung der lateinisch griechischen Kirchenspaltung heraus erwachsen, da er sonst einzig die Macht des byzantinischen Kaisers stärken würde. Eine heikle, in ihrem Kern erpresserische Argumentation, die nur dem Anliegen schadete, das der Papst doch zu vertreten vorgab. Und in Konstantinopel wurden jene Stimmen immer lauter, die den osmanischen Turban der päpstlichen Tiara vorzogen. Der Papst versprach nun all jenen den Sündennachlaß, die die von den Türken bedrohten Mittelmeerinseln verteidigten. Diese Verfügung, im Jahr 1451 für die Verteidiger der Insel Zypern erlassen, ist wohl das erste Beispiel für einen (im Jahr 1454 in Mainz) gedruckten Ablaß.
Der Basileus seinerseits ließ dem Westen eindringliche Appelle überbringen. Sein Gesandter Andronikos Leontaris Bryennios besuchte Venedig und anschließend Rom, um über die Einheit der Kirchen zu verhandeln – allerdings unter der Bedingung, daß der Westen Byzanz so bald wie möglich zu Hilfe käme. Pläne ganz besonderer Art hegte Alfons V der Großmütige, der König von Neapel. Als Herrscher eines Mittelmeerreiches war der Aragonese gewissermaßen der natürliche Erbe der normannischen, staufischen und angevinischen Politik im Osten. Sein Interesse war auf Albanien gerichtet, über das er formell bereits die Oberherrschaft innehatte und das ihm die vollständige Kontrolle über die Straße von Otranto sichern würde. Wie einst Karl I. von Anjou, so träumte auch er davon, eines Tages die Kaiserkrone Konstantinopels zu tragen. Daher hatte er mit Demetrios, dem Bruder und Rivalen des Basileus Konstantin ein Abkommen geschlossen. Im Juli 1451 erklärte sich Alfons bereit, «zu einem Kreuzzug aufzurufen, den er selbst anführen würde» (R. Fubini, Italia quattrocentesca, Mailand 1994, S. 197). Aber der Vorschlag, der etwas vom Geist des Konziliarismus in sich trug, hatte für den Papst etwas latent Bedrohliches, denn er war nicht an ihn gerichtet, sondern an die «streitende Kirche». Entgegen seinen hochfliegenden Plänen wurde Alfons von den Problemen in Italien genug beansprucht. Er fühlte sich auf dem Thron von Neapel nicht sicher, zudem besaß er keine Flotte. Im Jahr 1451 arbeiteten die neapolitanischen Werften daher mit fieberhafter Eile, um dem Basileus wenigstens mit ein paar Schiffen zu Hilfe zu kommen. Der junge Sultan lieferte unterdessen immer deutlichere Beweise dafür, daß er keineswegs so unfähig war, wie man glaubte.
Er hatte die mit Venedig geschlossenen Verträge bestätigt und Hunyadi einen nicht unehrenhaften Frieden angeboten. Als er im Frühjahr und Sommer 1452 damit begann, die Meerengen zu befestigen, waren Genuesen und Venezianer, deren Handelsinteressen in Konstantinopel und im Schwarzen Meer durch diese Maßnahmen beschnitten wurden, nicht imstande, gemeinsam zu reagieren. Sie waren Rivalen, und Genua stand tendenziell dem Basileus, Venedig jedoch – nach dem Friedensvertrag vom 10. September 1451 – dem Sultan näher. Und keiner der beiden wollte sich die guten Beziehungen zu dem einen oder anderen Partner verderben. Mit der Befestigung der Meerengen kontrollierte der Sultan die Durchfahrt der Schiffe und damit praktisch das Leben in Konstantinopel. Dies war zweifellos das Vorspiel zu den Feindseligkeiten, die im Spätsommer 1452 begannen und im Oktober mit einem Angriff auf Morea fortgesetzt wurden – ein Ablenkungsmanöver, wie sich später herausstellte. Sultan Mehmed hatte mit Hilfe und unter Anleitung christlicher Renegaten begonnen, riesige Kanonen zu gießen. Nunmehr war klar, daß der entscheidende Angriff auf die Stadt am Goldenen Horn nur noch eine Frage von Wochen war. Angst und Verwirrung verbreiteten sich überall im christlichen Europa. Der Aufruf der in Pera ansässigen Genuesen wurde vom Mutterland aufgenommen und an die augenscheinlich wichtigsten Verbündeten weitergegeben: an den König von Frankreich und an Florenz. Während der Reise Friedrichs III. nach Italien im Frühjahr 1452 hatte Enea Silvio Piccolomini gegenüber Papst und Kaiser in Rom von der Notwendigkeit eines neuen Kreuzzugs gesprochen. Dasselbe Anliegen vertrat in Neapel Flavio Biondo (der beim Papst in Ungnade gefallen und aus der Ewigen Stadt verbannt war) gegenüber Friedrich und Alfons. Im übrigen hielt Biondo an seiner politischen Linie auch später fest. Nach seiner Rückkehr
nach Rom widmete er dem König von Neapel seine kleine Abhandlung De expeditione in Turchos. Mehmed II. zeigte, daß er nicht die Absicht hatte, die Eroberung noch weiter hinauszuzögern. Zwischen März und August 1452 fand das Massaker an den Einwohnern von Epibation statt, das (wohl im September) Georg von Trapezunt dazu veranlaßte, eine Bittschrift mit dem Titel Pro defendenda Europa an den Papst zu richten. Am 16. November 1452 schrieb der Senat von Venedig an den Papst und die Kardinale und forderte energischere Schritte. Der Papst verhehlte seine Sorge nicht, doch in einem Punkt blieb er unnachgiebig: Dem Kreuzzug sollte die Einheit der Kirche vorausgehen, ja sie war die unabdingbare Voraussetzung dafür. Damit stand er jedoch keineswegs allein. Teils aus utopischen, teils aus taktischen Erwägungen heraus erfuhr der Papst Unterstützung durch den Großmeister des Ordens vom Goldenen Vlies, Jean Germain. Diesem schwebte ein großes militärisches Unternehmen vor, an dem Griechen und Lateiner, in einer Kirche vereint, gemeinsam teilnahmen, dazu die Äthiopier sowie der «Priester Johannes», in dem man bereits damals nicht mehr einen asiatischen Fürsten, sondern den negus von Äthiopien sah. Diesmal mußte man sich auf die erpresserischen Forderungen aus Rom einlassen. Eine andere Wahl gab es nicht. Am 12. Dezember 1452 wurde in der Hagia Sophia in Anwesenheit des Kardinals Isidor von Santa Sabina (Isidor von Kiew), des lateinischen Patriarchen von Konstantinopel, der eigens aus Rom angereist war, das Ende des Schismas feierlich verkündet. Doch die Wirkung war verheerend: Obwohl der Vereinigungsvertrag den ausdrücklichen Zusatz enthielt, nach Abwehr der osmanischen Bedrohung müsse der Beschluß erneut geprüft werden, verbreiteten griechische Mönche und Teile im Volk Unruhe in der Hauptstadt Konstantinopel – mit
dem Lamento, der gottlose Vertrag beschwöre den Zorn des Himmels herab.
Der Fall des Neuen Rom Konstantinopel erlebte also die letzten Tage seiner Freiheit in Zwietracht und Angst. Der Kern seiner Verteidigung bestand im wesentlichen aus dreißigtausend Lateinern, größtenteils Venezianer und Genuesen, und es blieb zweifelhaft, ob sie zu gemeinsamem Handeln zusammenfinden konnten. Der Sultan verfügte demgegenüber über eine starke «fünfte Kolonne» – in Gestalt der von Georg Scholarios angeführten griechischen Fraktion, die gegen die Kirchenvereinigung war und innerhalb derer viele zu Spionage, Sabotage und Verrat bereit waren. Und so kam, was kommen mußte: Ende Mai zog der Sultan in Konstantinopel ein, und der letzte Basileus fiel im Kampf, nachdem er seine Stadt tapfer verteidigt hatte. Der Westen schien mit einem Schlag aus seinem langen Dämmerschlaf erwacht. Der Fall der Stadt am Bosporus war ein «angekündigter Tod» gewesen. Doch angesichts der unmittelbaren Reaktionen des christlichen Europa muß man vermuten, daß wohl niemand ernsthaft damit gerechnet hatte, Konstantinopel könne tatsächlich erobert werden. Der Fall der Stadt wurde als ein unheilvolles Zeichen für das Ende der Zeiten gedeutet, als Beweis dafür, daß die Türken unbesiegbar waren und nicht mehr aufgehalten werden konnten. Zwar hatte schon der Vorstoß der Türken auf dem Balkan und in der Ägäis den Europäern vorgeführt, daß ihr Kontinent wie seit dem 11. Jahrhundert gegen die Angriffe der Ungläubigen nicht mehr gefeit war (einmal abgesehen von der Iberischen Halbinsel). Doch erst mit dem Fall des Neuen Rom verband sich der Kreuzzugsgedanke mit der Idee der
Verteidigung Europas. Enea Silvio Piccolomini sagte es ganz klar: «In der Vergangenheit wurden wir in Asien und Afrika, also in fremden Ländern, geschlagen. Jetzt aber trifft man uns in Europa, unserer Heimat, unserem Zuhause. Man wird einwenden, daß die Türken früher schon von Asien nach Griechenland eingedrungen waren, die Mongolen sich in Europa festsetzten und die Araber einen Teil Spaniens besetzten, nachdem sie die Meerenge von Gibraltar überwunden hatten. Aber noch nie haben wir eine Stadt oder Festung wie Konstantinopel verloren» (E. S. Piccolomini, zit. bei J. Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. – 18. Jahrhunderts, Reinbek 1985, S. 398). Und der böhmische König Georg Podiebrad legte eine Art Strategiekonzept für die politische Einheit der europäischen Staaten vor, die als dauerhaft institutionalisierte Basis für den Kampf gegen die Türken dienen könnte. Aber Podiebrad war – wenngleich moderat und in vielfacher Hinsicht durchaus ambivalent – ein Anhänger der «kalixtinischen» Häretiker im Umkreis der Hus-Freunde. Bald schon sollte der Papst gegen ihn als Ketzer zu Felde ziehen und jenen Kreuzzug gegen ihn entfachen, den er selbst gegen die Ungläubigen hatte führen wollen. Europa wurde von excitatoria, Aufrufen und Kreuzzugsplänen geradezu überflutet. Nikolaus V. schien es diesmal ernst zu meinen. Am 29. Juni hatte er durch einen Brief des Senats von Venedig vom Fall Konstantinopels erfahren und verbreitete die Nachricht unter den italienischen Fürsten, die um die Nachfolge des Herzogtums Mailand kämpften. Er beschwor sie, gegen die Barbarengefahr gemeinsam Front zu machen. Mit diesem Aufruf traf er ins Schwarze. Hatte man bis dahin geglaubt, der Fall Konstantinopels brächte vor allem Venedig Nachteile (das sich durch gute Beziehungen mit dem Sultan abgesichert hatte), so
fragte man sich jetzt voller Sorge, in welchem Ausmaß Europa insgesamt bedroht war. Insbesondere das Königreich Neapel war der türkischen Offensive ausgesetzt, daneben aber auch Angriffen des tunesischen Emirs Abu Umar thman, der, offensichtlich durch die türkische Eroberung Konstantinopels ermuntert, christliche Küsten überfiel, zahlreiche Bewohner in die Sklaverei führte und einen Überfall auf Sizilien vorbereitete. Die Reaktionen auf diese Bedrohung waren jedoch anders, als von Nikolaus erhofft: Genua beispielsweise hatte gar nichts dagegen, daß die Tunesier den Aragonesen das Leben schwer machten, im Gegenteil. Mit ihren Korsarenzügen taten die Genuesen alles, damit sich die Lage noch weiter zuspitzte; und was Konstantinopel betraf, so versuchten sie zu retten, was zu retten war. Genua erkundigte sich eiligst, ob denn der Sultan das genuesische Viertel Galata unangetastet lassen werde. Gleichzeitig trat es seine gesamten Besitzungen am Schwarzen Meer an den Banco di San Giorgio ab, obwohl der genuesische Herr von Lesbos, Giovanni Giustiniani Longo, alles in die Waagschale geworfen hatte, um Konstantinopel zu verteidigen. Venedig wiederum gab die Politik der territorialen Expansion eines Foscari auf, besann sich auf seine alte Rolle als Seemacht, bemühte sich zugleich aber um eine Verständigung mit dem Sultan. Francesco Sforza, der neue Herzog von Mailand, hatte sich über den Fall Konstantinopels, der Venedig so viele Nachteile brachte, anfangs beinahe gefreut. Nicht, daß er seine Freude offen gezeigt hätte, aber manche seiner Äußerungen waren eindeutig: «De tucti questi mali sono cagione Venetiani, et speramo Dio gli ne dara la disciplina» (G. Pistarino, La politica sforzesca nel Mediterraneo Orientale, in: Gli Sforza a Milano e in Lombardia e i loro rapporti con gli Stati italiani ed europei (1450 – 1535), Mailand 1982, S. 343). Der Grund für den überstürzten
Friedensschluß Mailands mit Venedig war denn auch weniger die Angst vor künftigen Vorstößen der Osmanen als vielmehr die Befürchtung, die französische Krone könne (unter Berufung auf die Verwandtschaft zwischen den Visconti und dem Haus Orleans) nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges auf das Herzogtum Mailand Anspruch erheben. Der Fall Konstantinopels und das Ende des französischenglischen Kriegs trugen also in unterschiedlicher Weise dazu bei, daß der Friedensvertrag von Lodi zustande kam und damit eine «Politik des Gleichgewichts» erreicht wurde, die der italienischen Staatenwelt in den folgenden vierzig Jahren eine gewisse Stabilität garantierte. Die «Lega Italica» war ein Bündnisvertrag der italienischen Staaten zur Sicherung ihrer Grenzen nach außen und innen. Während Venezianer und Florentiner der osmanischen Frage auswichen, drängte der König von Neapel darauf, daß der Vertrag die Vorbedingung einer künftigen gemeinsamen Aktion zur Befreiung Italiens und der Christenheit von der türkischen Bedrohung sein müsse. Während aber «in der zwischen säkularen Staaten geschlossenen Bündnisurkunde selbst ein gemeinsamer Kreuzzug keine Erwähnung findet, wird er in der Zustimmungserklärung des Papstes angedeutet» (R. Fubini, Italia quattrocentesca, a. a. O. S. 197). Der Papst seinerseits war fest entschlossen, den Kreuzzug in die Tat umzusetzen. Dazu wurde er nicht zuletzt vom Sekretär Kaiser Friedrichs III. Enea Silvio Piccolomini, Bischof von Siena, gedrängt, der dem Papst versicherte, der Kaiser habe die Nachricht vom Fall des Neuen Rom mit Überraschung und Bedauern aufgenommen und sei bereit, für eine zukünftige Militäraktion die politische und militärische Verantwortung zu übernehmen. Leonhard von Chios, Erzbischof von Mytilene und wie Isidor von Kiew Augenzeuge des Falls von Konstantinopel, verwundet und verhaftet, richtete den
berühmten Bericht De urbis Constantinopoleos iactura captivitateque an den Papst. Darin legte er dar, wer alles die Verantwortung für den Fall Konstantinopels trug: die griechische Fraktion der Gegner der Kirchenunion, aber auch die schwachen und heuchlerischen Westchristen, die sich lediglich der Gefahr entziehen wollten und allein mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren. Er machte auch Giovanni Giustiniani Longo Vorwürfe, den die Republik Genua mit der Verteidigung Konstantinopels beauftragt hatte. Am 30. September 1453 erließ Nikolaus V die Kreuzzugsbulle Etsi Ecclesia Christi, die die Ängste jener Zeit eindrucksvoll bezeugt. Der heidnische Herrscher wurde darin als eine Präfiguration des Antichrist, des feuerroten Drachens aus der Geheimen Offenbarung, bezeichnet. Die Bulle enthielt weiterhin die üblichen Bestimmungen zur Sündenvergebung, zur Abgabe des Zehnten, zur Androhung von Kirchenbann und Exkommunikation sowie das Verbot, den Türken direkt oder indirekt Hilfe zukommen zu lassen. Diesmal schien der Aufruf gehört zu werden. Der Kaiser bekräftigte seine Absicht; der Herzog von Burgund legte während eines in Lille im Geist des Rittertums gefeierten Festes, dem Voeux du Faisan, das feierliche Gelübde ab, das Kreuz zu nehmen. Alfons der Großmütige zeigte ähnliche Absichten und überschüttete Skanderbeg mit Lob und Ehren, indem er ihn zu seinem Oberbefehlshaber ernannte. Aus dem Balkan trafen ermutigende Nachrichten ein, hatten sich doch die Serben, Ungarn und Albaner offenbar zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die osmanische Bedrohung entschlossen. Der Papst selbst griff eine Tradition auf, die seine Vorgänger seit Gregor X. und dem Konzil von Lyon im Jahr 1274 gepflegt hatten. Er gab Traktate und Schriften in Auftrag, um die Türken besser kennenzulernen und die
Strategien eines zukünftigen, erfolgreichen Kreuzzugs zu erforschen. Doch in Wahrheit waren sich die christlichen Fürsten alles andere als wohlgesonnen und hatten keinerlei Absicht, sich in ein Kreuzzugsunternehmen zu stürzen, das dem einen auf Kosten der anderen Vorteile verschaffen konnte. Die Balkanpolitik des Königs von Neapel und seine Freundschaft mit Skanderbeg beunruhigten Venedig, das sich bemühte, durch vorsichtige Annäherung an den Sultan erlittene Nachteile wieder auszugleichen: Es ging um die Straße von Otranto und den freien Zugang zur Adria. Nachdem der anfängliche Schrecken verflogen und das Strohfeuer der Begeisterung erloschen waren, ließ auch die Kreuzzugsbegeisterung immer mehr nach. Unlust machte sich breit angesichts der Entschiedenheit, mit der die Kirche daranging, den Zehnten einzutreiben. Im April 1454 berief der Kaiser in Regensburg einen Reichstag ein, zu dem er den Herzog von Burgund und die italienischen Staaten einlud. Aber nur der Herzog von Burgund kam, die italienischen Staaten drückten sich unter verschiedenen Vorwänden vor einer Versammlung, die ihnen doch nur Zwänge und Verpflichtungen auferlegen würde. Doch auch Friedrich III. war keineswegs bereit, sich allzu sehr zu exponieren. Er erschien in Regensburg nicht selbst, sondern überließ die Durchführung des Reichstags seinem Sekretär Piccolomini. Selbst Philipp von Burgund, an dessen Bereitschaft zur Teilnahme an einem Kreuzzug gewiß nicht zu zweifeln war, und der nach dem Ende der englischen Bedrohung einen Handstreich Frankreichs befürchtete, engagierte sich nicht in dem Maße, wie er es eigentlich vorhatte. Piccolomini merkte schnell, daß er gegen eine Mauer aus Gleichgültigkeit und vorsätzlicher Obstruktion stieß. Seine Briefe aus jener Zeit,
besonders das berühmte Schreiben vom 5. Juli 1454, zeugen von einem bitteren Pessimismus. Ein zweiter Reichstag in Frankfurt am 29. September, dem Fest des Erzengels Michael, des Schutzheiligen der Kreuzfahrer, war ein ähnlicher Fehlschlag. Auch diesmal blieb der Kaiser der Versammlung fern und überließ das Feld seinem Kanzler. Ein dritter Reichstag in Wiener Neustadt im Februar des folgenden Jahres wurde nach langen Präliminarien aufgelöst, als die Nachricht vom Tod des Papstes Nikolaus V eintraf. Tommaso Parentucelli, vor dem Fall Konstantinopels ein mäßig begeisterter Verfechter des Kreuzzugsgedankens, war nach 1453 dessen überzeugter Anhänger geworden. Er beschloß seine irdischen Tage mit der bitteren Feststellung, daß die Räson der Staatspolitik, der Diplomatie und der Wirtschaft eine gemeinsame und gezielte Anstrengung der Christenheit gegen einen Feind unmöglich machten, vor dem man sich zwar fürchten mußte, der aber auch zu verstehen gegeben hatte, daß er als offener oder heimlicher Verbündeter im politischen Spiel innerhalb des europäischen Machtgefüges nützlich sein konnte. Eine Lektion, die in den nachfolgenden drei Jahrhunderten alle christlichen Mächte zu lernen hatten. Das Testamentum Nikolaus’ V, das Giannozzo Manetti in sein Werk De vita et moribus Nicolai V. summi pontificis aufnahm, liest sich an den Stellen, wo es um die Verteidigung Konstantinopels («in hac ipsa obiectarum rerum confutatione», vgl. La caduta di Costantinopoli, L’eco nel mondo, Rom, Mailand 1976, S. 142 – 149) geht, ungelenk und apologetisch. Gegen die Vorwürfe, die man gegen ihn erhob und die ihn sehr gekränkt hatten, wehrte sich der Papst, indem er die mangelnde Kooperationsbereitschaft der christlichen Fürsten und Staaten
und das rasche, seiner Einschätzung nach schmähliche Zurückweichen vor dem Druck der Angreifer anprangerte. Aber wahrscheinlich hätte selbst der Papst nicht viel mehr unternehmen können als das, was er getan hat.
9
Europa im Zeitalter der Renaissance und die Türken
Symmetrische Entwicklungen Der neue Papst Calixt III. Borgia hatte nicht die Absicht, die Initiative seines Vorgängers scheitern zu lassen. Er verstärkte die Bemühungen um den Aufbau einer Flotte, die wenigstens die türkische Seeherrschaft würde verhindern können. Unter dem Kommando von Ludovico Scarampo kam der Westen dann auch tatsächlich mit einigen Schiffen der Insel Rhodos zu Hilfe, die 1455 von den Türken angegriffen wurde, und auch auf Naxos, Samothrake und Lemnos wurden die osmanischen Besatzer vertrieben. Auf dem Balkan waren die Türken inzwischen weiter vorgerückt. Im Jahr 1455 hatten sie das serbische Novo Brdo erobert, ein großes Bergbaugebiet südöstlich des Amselfeldes. Nur die Bergleute, hauptsächlich sächsischer Herkunft, durften bleiben. Denn die Türken, die weder über Fachleute noch über Technologie für den Bergbau verfügten (eine «Achillesferse» des osmanischen Reiches), hätten sonst die Gold- und Silberminen der Region nicht ausbeuten können. Der Verlust von Novo Brdo gab erneut Anlaß zur Beunruhigung, denn der Sultan plante ganz offensichtlich einen Angriff auf Belgrad. Um dies zu verhindern, verfügte der päpstliche Legat Kardinal Juan de Carvajal lediglich über einen zusammengewürfelten Haufen Soldaten, die von dem betagten und erfahrenen
Johannes Hunyadi befehligt wurden – angestachelt von den Predigten des greisen Minoriten Johannes Kapistran. Doch die Türken scheiterten. In der zweiten Julihälfte des Jahres 1456, nach Niederlagen in einer Seeschlacht auf der Donau und einer Landschlacht, gab der Sultan die Belagerung Belgrads auf und zog sich zurück – samt seinem riesigen Heer, seinen tüchtigen und furchteinflößenden Janitscharen, seinen mächtigen Kanonen und der unendlichen Schar christlicher Gelehrter, Techniker, Pioniere, Kanonengießer und ArtillerieSpezialisten, die sich (aus Gewinngier oder Abenteuerlust) aus Deutschland, Bosnien, Ungarn, Dalmatien und Italien ihm angeschlossen hatten. Die Niederlage der Osmanen vor Belgrad erschien dem Westen als der gerechte Ausgleich für Konstantinopel. Der Schrecken über den Fall der Stadt am Bosporus hatte Europa einen kurzen Augenblick des Friedens beschert. Nunmehr stand fest, daß sich auf der Balkanhalbinsel, dem Schutzwall Europas, das Schicksal des christlichen Kontinents entscheiden würde. Doch die Lage war nach wie vor ernst. Der Sultan verwüstete Morea, deren Despoten sich geweigert hatten, Tribut zu zahlen. Anfang August kapitulierte Korinth. Ende desselben Monats zog er in das eroberte Athen ein – zum tiefen Kummer der Humanisten, welche die Stadt auf der Halbinsel Attika als ihre geistige Heimat betrachteten. Die venezianische Insel Negroponte aber empfing ihn freundlich, und die Republik Ragusa leistete Tributzahlungen und bekundete ihre Loyalität. Lediglich Hunyadis Zweitältester Sohn, der noch halbwüchsige Matthias Corvinus, wagte den offenen Widerstand und machte den Osmanen Serbien streitig. Der Humanist Enea Silvio Piccolomini, der im Jahr 1458 als Pius II. Papst geworden war, berief im Herbst 1459 eine Versammlung der christlichen Mächte nach Mantua ein, um
die Möglichkeit eines neuen großen Kreuzzugs zu erörtern. Doch die Ereignisse überstürzten sich. Der Sultan hatte der Komnenendynastie das Kaiserreich Trapezunt und die gesamte Südküste des Schwarzen Meeres entrissen. In Italien munkelte man, der Herr von Rimini, Sigismondo Pandolfo Malatesta, ein Papstgegner, wolle dem «Gran Signore», dem «Großen Herrscher», seine Dienste als Condottiere anbieten, ein Gerücht, das vielleicht sogar einen wahren Kern hat. Zwischen den beiden jedenfalls, die sich für die Ingenieurskunst und -technik interessierten, gab es einen Briefwechsel. Als im Jahr 1461 den Türken die Insel Lesbos in die Hände fiel, stimmten die Florentiner Galatas in den Jubel der Stadt ein, die inzwischen Istanbul hieß, und zündeten Freudenfeuer an. Papst Pius II. hatte inzwischen eine These aufgestellt, über deren Tragweite sich wohl anfangs weder er noch seine Zeitgenossen im klaren waren. Europa war das eigentliche Zentrum (patria und domus) der Christianitas und gleichzusetzen mit der christiana religio, weshalb jeder Europäer als Christ betrachtet werden konnte. «Europaei, aut qui nomine christiano censentur», hatte Enea Silvio Piccolomini in der Vorrede zu seiner Historia de Europa erklärt. Doch das Doppelspiel und das Widerstreben der christlichen Fürsten kränkten ihn. Voll Verbitterung und Verachtung verfaßte er Ende Oktober 1461 einen wahrlich irritierenden Brief, die Epistola ad Mahometem: Da der Sultan, so heißt es darin, unvergleichlich größer sei als die christlichen Könige, habe er das Recht, die Nachfolge der römischen Kaiser anzutreten. Er solle sich als ein neuer Konstantin taufen lassen. Dann würde ihm der Papst, ein neuer Silvester, die Krone der Welt aufs Haupt setzen. Die polemischen Elemente des Briefes, die alte Vorurteile über den Islam enthalten, zeigen, daß der Brief in Wahrheit nicht für Mehmed II. bestimmt war.
Trotzdem hätte er ihn lesen können, denn er wurde im Jahr 1469 in mehreren Auflagen gedruckt. Der Brief ist vielmehr eine Abwandlung der epistolae excitatio, die seit dem 11. Jahrhundert als Aufruf zum Kreuzzug überall in Europa kursierten. Aber dies war eine harsche und paradoxe excitatoria, die den christlichen Fürsten Beschränktheit und Feigheit vorwarf. Dramatisch erscheint die «anstößige» Aufforderung, die Papst Pius II. nach dem Scheitern des Reichstags von Mantua 1459 an den Sultan richtete – eines Reichstags, der einberufen worden war, um einen neuen Kreuzzug zu organisieren. Wenn der Sultan zum Christentum konvertieren würde, hieß es in dem Papstbrief, würde Europa ihm gehören, er wäre dann der neue Konstantin. Diese Einladung war eine schallende Ohrfeige für die christlichen Herrscher, ein schwerer Angriff auf ihre Würde. Doch selbst der Sarkasmus des Humanisten, der durch die Empörung des Papstes und die Verachtung des alten christlichen Kämpfers noch gesteigert wurde, vermochte die Christenheit nicht zu bewegen. Der Papst sann auf einen neuen Vorstoß, den er im März 1462 den wenigen Kardinälen seines Vertrauens mitteilte. Die Welt sollte mit Entsetzen sehen, daß er, der greise Papst, das tat, was schon Gregor VII. und Urban II. hatten tun wollen: Er würde sich persönlich an die Spitze eines Kreuzzugs stellen. Dann könnte ihn das christliche Europa nicht im Stich lassen und müßte sich ihm notgedrungen anschließen. Am 18. Juni 1464 nahm Pius das Kreuz und brach zum Hafen von Ancona auf, wo sich ihm die christliche Flotte anschließen sollte. Doch es kam nur der übliche Haufen Versprengter. Eine verheerende Seuche, die zwischen Juli und August ausgebrochen war, raffte die Stadtbewohner und die Kreuzzugswilligen dahin. Der Doge von Venedig, der seine persönliche Teilnahme zugesichert hatte, stach erst Anfang
August in See. Gemächlich segelnd, erreichte er am 12. August den Hafen in den Marken – gerade rechtzeitig, um dem Papst mit dem Anblick seiner Schiffe Trost zu spenden, der drei Tage später für immer die Augen schloß. Seine Nachfolger Paul II. und Sixtus IV zeigten die Bereitschaft, sein Werk fortzusetzen. Aber die Osmanen trugen weitere erfolgreiche Angriffe vor. 1469 fielen sie in der Steiermark, in Krain und Kärnten ein, 1470 besetzten sie Negroponte. Die Nachricht vom Fall der Insel rief unter den Christen neue Bestürzung hervor. Die Sterne versprachen nichts Gutes. 1473 war ein Komet am Himmel aufgetaucht, und der Humanist Francesco da Meleto hatte in fieberhafter Eile jüdische Gelehrte befragt. In seiner zwischen 1472 und 1475 entstandenen Dichtung De rebus coelestibus behandelte auch Lorenzo Bonincontri die Konjunktion von Jupiter und Saturn. Die Türken beherrschten inzwischen den gesamten südlichen Balkan, und hier hatte der Islam bereits begonnen, Wurzeln zu fassen (in Bosnien zum Beispiel in den sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts). Und die Türken setzten von dort ihre Raubzüge fort: 1472 und erneut zwischen 1477 und 1479 kamen sie bis nach Friaul. Die venezianische Besetzung Zyperns im Dezember 1474 schien den Sultan nicht weiter zu beunruhigen. Und auch der Herzog von Mailand Galeazzo Maria, der mit Istanbul gute diplomatische Beziehungen unterhielt (wie es aus den Tagebüchern von Cicco Simonetta hervorgeht), beharrte nicht mehr darauf, die genuesischen Ansprüche auf die Insel zu verteidigen. Am 6. Juni 1475 fiel zudem Kaffa in türkische Hände: ein neuer und unerwarteter Schlag für Genua, Mailand und den gesamten Westen. Wenn der heilige Markus weinte, hatte auch der heilige Georg nichts zu lachen. Aber Genua tröstete sich, indem es den unwiederbringlichen Verlust seines Handelsraums im Osten
durch neue Handelsbeziehungen in Nordafrika auszugleichen suchte. Die guten Beziehungen zum Emirat von Tunis, die Ludovico il Moro durch diplomatische und politische Vereinbarungen absicherte, blieben trotz zahlreicher unvermeidlicher und gewaltsamer Zwischenfälle lange erhalten. Der Friedensschluß im Jahr 1479 zwischen dem Sultan und Venedig änderte so gut wie nichts an den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Westchristen und Muslimen. Die Löwen-Republik schickte den Hofmaler der Dogen an den Bosporus: Gentile Bellini erhielt den Auftrag, den «Gran Signore» zu porträtieren, in dessen Religion die bildliche Darstellung des Menschen nicht erlaubt war. Und der Sultan zeigte dem Künstler seine Dankbarkeit. Das berühmte Porträt, datiert auf den 25. November 1485 (zu diesem Zeitpunkt war der «Gran Signore» bereits viereinhalb Jahre tot), hängt heute in der National Gallery in London. Das Jahr 1480 verhieß ebenfalls nichts Gutes. Im März hielt der Dominikanermönch Annius von Viterbo, der eigentlich Giovanni Nanni hieß, Predigten zum Buch der Geheimen Offenbarung. In seiner Schrift De futuris christianorum triumphis in saracenos, besser bekannt unter dem Titel Glosa super Apocalypsim, stellte er das Auftauchen des Antichrist, astrologische Konjunktionen und das Vorrücken der Türken in einen Zusammenhang. In der Glosa, die im Dezember desselben Jahres veröffentlicht wurde (allerdings nicht unter dem Namen Annius, sondern unter dem des Karmeliters Battista Canale), wird der Antichrist mit Sultan Mehmed gleichgesetzt und der Untergang des türkischen Reiches als unvermeidlich prophezeit. Im gleichen Jahr 1480 erschien eine prophetische Schrift ähnlichen Inhalts: De eversione Europae des Antonio Arquato, die Matthias Corvinus gewidmet war. Im Mai griffen die
Türken erneut die Insel Rhodos an, und im Juli und August eroberte eine muslimische Flottille Otranto im Sturm. Die Muslime plünderten die apulische Hafenstadt, stellten die Bevölkerung vor die Wahl, entweder zum Islam überzutreten oder zu sterben, und richteten ein furchtbares Blutbad an. Jetzt war das Maß voll. Ganz Italien war empört. In aller Eile wurde ein Bündnis geschlossen, an dem sich neben dem Papst und dem König von Neapel auch der ungarische Herrscher und sogar die Stadt Florenz beteiligten. Florenz versöhnte sich bei dieser Gelegenheit mit dem Papst; damit war ein Konflikt beigelegt, der durch die Pazzi-Verschwörung und den daraus folgenden Krieg ausgelöst worden war. Italien war entsetzt und tief verstört: In den Jahren 1482 und 1484 gab es in der Toskana (in Bibbona in der Maremma und in Prato unweit Florenz) Marienerscheinungen, die eine starke Volksbewegung auslösten. Auch große Themen der Malerei wie etwa die «Ermordung der unschuldigen Kinder» erlebten im Zuge der Ereignisse von Otranto im Jahr 1480 eine neue Konjunktur. In diesem astrologisch unheilvollen Jahr ritt auch der geheimnisvolle «Prophet» Mercurio da Correggio durch die Straßen Roms, rief zur Buße auf und sagte eine Renovatio voraus. Was in Otranto jedoch wirklich geschah, liegt bis heute im Dunkeln: Welche Rolle spielten Florenz und Venedig, die gerne bereit waren, dem Papst beziehungsweise dem König von Neapel Schwierigkeiten zu machen? Ist es nicht merkwürdig, daß eine Stadt, die sich im Besitz des Erbfeindes der Venezianer befand, von den Türken ausgerechnet im Jahr nach dem Friedensschluß zwischen der Serenissima und der Hohen Pforte angegriffen wurde? Oder war es ein «Angriff auf Bestellung»? War es tatsächlich ein blutiges Bravourstück Ahmed Paschas, des Kapitäns der osmanischen Flotte? Otranto hätte zum Kern einer türkischen Enklave in Apulien werden
können, um von dort die Straße von Otranto zwischen Adriatischem und Ionischem Meer zu kontrollieren. Solange die Türken Otranto halten konnten, unternahmen sie Angriffe auf Brindisi, Tarent und Lecce. Andrea Gritti, der venezianische «Bailo» in Konstantinopel, wurde damit beauftragt, den Sultan über die Ansicht der Venezianer in Kenntnis zu setzen: daß die Osmanen Apulien mit gutem Recht in Besitz nehmen konnten, war doch diese Region einst ein Teil des Byzantinischen Reiches gewesen, dessen Herrscher ja jetzt der Sultan war. Dies ist eines der ersten Zeugnisse für eine These, die im folgenden Jahrhundert weiter entfaltet werden sollte: die These, daß sich der Sultan als Eroberer des Oströmischen Reiches auch als dessen rechtmäßiger Erbe betrachten dürfe. Der Tod Mehmeds II. im Mai 1481 und die nachfolgenden Thronstreitigkeiten unter seinen Söhnen Dschem und Bayezid schwächten den Druck weiterer Angriffe vorerst ab. Otranto konnte befreit werden, und im Frieden vom 7. August 1484 gab Venedig die inzwischen eroberten apulischen Städte an König Ferdinand von Neapel zurück. Dieser Frieden änderte jedoch nichts daran, daß die Propaganda der Republik Venedig, die sich selbst als Bannerträgerin der Kreuzzüge präsentierte, im Süden Italiens schwersten Schaden nahm: Den Autoren und Gelehrten des Königreichs Neapel galt Venedig – besonders nach Otranto – als heimtückische Komplizin der Türken, bereit, sogar die Eroberung der Italienischen Halbinsel durch die Osmanen hinzunehmen. Für das Jahr 1484 wurden große astrologische Umbrüche erwartet. Im Augenblick jedoch hatte es nicht den Anschein, als würden die befürchteten Vorstöße der Türken Wirklichkeit. Bayezid richtete seine ganze Kraft auf den Kampf um die Nachfolge seines Vaters. Er hatte mit den Ordensrittern von Rhodos diplomatische Beziehungen aufgenommen, um zu
gewährleisten, daß sie seinen Bruder Dschem in Gewahrsam hielten, der sich nach der Niederlage auf die Insel geflüchtet hatte. Der unglückselige osmanische Prinz fiel auf seiner Irrfahrt durch Frankreich und Italien zuerst den Kreuzrittern, dann Papst Innozenz VIII. und schließlich Karl VIII. von Frankreich in die Hände. Das Kreuzzugsbanner schwingend und begleitet von Weissagungen und Prophezeiungen, war dieser im Jahr 1494 nach Italien gezogen. Alle diese berühmten Bewacher verlangten vom Sultan selbstverständlich einen hohen Preis dafür, daß sie seinen Bruder in Gewahrsam hielten. Dschem kam schließlich in Neapel unter mysteriösen Umständen ums Leben. Von ihm ist ein Porträt Pinturicchios erhalten, das ihn zeigt, wie ihn der Maler wohl selbst erlebt hat: in äußerem Prunk und melancholisch in sich gekehrt. Diese Darstellung, historische und aktuelle Botschaften und diplomatische Berichte sowie Schilderungen der Kaufleute regten die Phantasie der Zeitgenossen mächtig an. Das hier aufkeimende Interesse an türkischen Sitten und Gebräuchen führte später zur Ästhetik des Exotismus. Mit Dschems Tod war der Sultan der Notwendigkeit entbunden, besonnen und umsichtig zu handeln. Seine Beziehungen zu den Venezianern verschlechterten sich, nicht zuletzt deshalb, weil die Republik im Jahr 1489 die Nachfolge der letzten Königin von Zypern, Caterina Cornaro, antrat, und auch Naxos kontrollierte. Die Herrschaft über Zypern war für die Venezianer ein strategisch notwendiger Schritt. Caterina Cornaro, die Witwe Jakobs II. von Lusignan, sollte einen der Söhne des Königs von Neapel heiraten. Damit wäre die Insel dem katalanisch-aragonesischen «Mittelmeerreich» einverleibt worden, das sich damit vom westlichen Mittelmeer bis zum Levantinischen Meer erstreckt und den maritimen Besitzungen Venedigs große Nachteile gebracht hätte. Interesse an Zypern hatte andererseits auch die Hohe Pforte in Istanbul. Der
ägyptische Sultan wiederum war auf den Handel mit den venezianischen «Levante-Galeeren» in Damiette und Alexandria angewiesen, obwohl er dem Banner der Republik von San Marco, das auf der seinen Küsten so nahen Insel wehte, die Zähne zeigte. Doch langfristig gesehen hatte er lieber die Republik der Ungläubigen zum Nachbarn als die Osmanen, die Muslime waren wie er. Eine venezianische Gesandtschaft (unter dem sechzigjährigen, geschickten Verhandlungsführer Pietro Diedo) in Kairo sowie die Zusicherung einer jährlichen Tributzahlung in Höhe von 8000 Dukaten, die schon die Lusignan dem ägyptischen Sultan für Zypern geleistet hatten, machten die Sache perfekt. Doch bereits 1499, nur wenige Jahre später, vertrieben die Osmanen in einem Blitzfeldzug die Venezianer aus Morea und unternahmen Vorstöße in den Raum zwischen Triest und Ljubljana, die sie im September bis nach Venedig vortrugen. Jeder Militärschlag der Türken war genau berechnet. Selbst ihre sprichwörtliche Grausamkeit war keineswegs ein wilder Ausbruch, sondern Teil einer gezielten und genau berechneten Einschüchterungstaktik. Wie es der Senator Domenico Malipiero in seinen Annali veneti erkannt hatte, war das eigentliche Ziel ihrer Angriffe nie Plünderung oder Gemetzel, sondern die Verifizierung politischer Vorgaben oder taktisch strategischer Pläne. Sie wollten die Serenissima einschüchtern und zermürben und sich gleichzeitig die Rivalitäten unter den Christen zunutze machen. Ein neuer und zaghafter Aufruf zum Kreuzzug war ins Leere gelaufen. Der Sultan verhandelte unterdessen mit Polen, dessen Krieg mit der Serenissima unmittelbar bevorstand. Bei ihren Überfällen folgten die Türken einer alten Route, die Jahrhunderte zuvor bereits von den Goten, Langobarden und Ungarn benutzt worden war. Auf dem Weg über die Bergschluchten von Görz, den Karst und das Gebiet um Cividale gelangten sie leicht in die friaulische
Ebene. Am Ende erreichten die Türken, was sie wollten: In einem 1502/1503 geschlossenen Frieden durften die Venezianer die ionischen Inseln Zakynthos und Kephallinia behalten, verzichteten aber dafür auf ihren Anspruch auf Durazzo und die Häfen von Morea. Im übrigen hatte Venedig zu jener Zeit andere Sorgen: die Umleitung der von ihr kontrollierten Handelswege im Zuge der Entdeckung der Neuen Welt und die Eröffnung des Seewegs nach Indien durch die Portugiesen – zwei Faktoren, die zur wachsenden Verarmung Venedigs führten. Ähnlich wie Venedig erging es auch dem Sultan von Ägypten. Die Gewürze des portugiesischen Handels, die die europäischen Märkte überschwemmten, kosteten weit weniger als die Waren aus Alexandria und Damiette. Doch während die Osmanen auf dem Balkan und in der Ägäis noch Triumphe feierten, vollzog sich bereits der letzte Akt der arabischen Herrschaft in al-Andalus. Die Iberische Halbinsel war von der sozialen, wirtschaftlichen, spirituellen und religiösen Krise Mitte des 14. Jahrhunderts schwer getroffen. Endlose Erbfolgekriege, Verrat und Militärstreiche hatten die christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel zermürbt. Am 19. Oktober 1469 heirateten Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, und im nachfolgenden Jahrzehnt bestiegen beide Herrscher ihren jeweiligen Thron. Die beiden Länder blieben vorerst noch getrennt. Doch je günstiger damit die Bedingungen für einen inneren Frieden wurden, umso weniger gelang ein friedliches Nebeneinander der Angehörigen der drei großen abrahamitischen Weltreligionen. Die Beziehungen zwischen Christen, Muslimen und Juden verschlechterten sich bereits im Laufe des 14. Jahrhunderts. Damals galt die Iberische Halbinsel noch als sicherer Zufluchtsort der aus England und
Frankreich vertriebenen jüdischen Gemeinden. Die Könige von Kastilien hatten sich geweigert, das Dekret des Laterankonzils von 1215 zu akzeptieren, das die gelbe rota zur Kenntlichmachung für Juden gefordert hatte. Francos hießen per definitionem jene Flüchtlinge, die von den Pyrenäen und aus den Häfen des Mittelmeers herbeiströmten. Sie wurden aus einem Europa vertrieben, das sie beschuldigte, zu Wucherpreisen Geld zu verleihen, die Brunnen zu vergiften, um Lepra und Pest zu verbreiten, christliche Kinder zu ermorden, deren Blut in das ungesäuerte Paschabrot zu mischen und die geweihten Hostien zu stehlen und zu schänden. Das friedliche Nebeneinander der verschiedenen Religionen hatte noch den freien Disput ermöglicht: zum Beispiel im Jahr 1263, als in Barcelona in Anwesenheit des Königs Jakobs I. von Aragon ein Streitgespräch zwischen Christen und Juden stattfand. Am Ende belohnte der König die Rabbiner für die tapfere Verteidigung ihres Standpunktes, und am darauffolgenden Sabbat besuchte er den Gottesdienst in ihrer Synagoge. Aber durch den beständigen Zustrom der Juden nach Spanien und Portugal entstand auch in diesen Ländern ein unseliges Klima der Verfolgung. Auch hier wurde bald das gelbe Erkennungszeichen eingeführt, und es gab Massaker – erstmals im Jahr 1277 in der navarrena von Pamplona. Der Bürgerkrieg verschlimmerte die Situation, und an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert kam es zu den grausamen Massakern und zu jenem Predigtfeldzug, dessen «Held» eine ansonsten in vielfacher Hinsicht illustre Persönlichkeit war: der Dominikaner Vinzenz Ferrer. 1412 dann wurde in Kastilien ein königliches Edikt erlassen, das Juden und Muslimen die Ansiedlung in eigenen Stadtvierteln vorschrieb. 1415 wurde diese Vorschrift auch in Aragon übernommen. Jetzt richtete sich der Argwohn auch gegen die Conversos, die cristianos
nuevos, die immer zahlreicher wurden, da Muslime und Juden dem Druck der Verfolgungen und Predigten nicht standhielten. Sie wurden von den cristianos viejos mit Verachtung und Argwohn betrachtet, die sich ihrer limpieza de sangre, der Reinheit ihres Blutes, rühmten. Die iberischen Muslime, die mudejares (ein Begriff, der die in christlichem Land siedelnden muslimischen Untertanen bezeichnet), wurden im Durchschnitt besser behandelt als die Juden. Man ließ sie unbehelligt ihre Berufe als Tischler und Maurer, als Landschafts- und Gemüsegärtner und als Schneider ausüben. Mudejares entwarfen im Spanien des 15. Jahrhunderts die Mode im maurischen Stil. Sie besaßen weniger Reichtum, Einfluß und Unternehmergeist als die Juden, und daher traf sie auch die Verfolgung in geringerem Ausmaß. Trotzdem zeigten sie bald ebenfalls ihren Unmut. Nach einer Erhebung der Muslime im Jahr 1276 in Valencia dekretierte Jakob I. deren Vertreibung, bald darauf wurde ihr Hab und Gut konfisziert. Aufstände und Unzufriedenheit nahmen in den beiden nachfolgenden Jahrhunderten immer weiter zu, und damit begann allmählich auch der Niedergang der einst blühenden agrarischen Technologie im muslimischen Spanien. Die christliche Militäraristokratie, die nunmehr das Land in Besitz nahm, ging zur Viehzucht über, was schnelleren Gewinn versprach. Insbesondere durch die sich rasch ausbreitende Schafzucht verödeten binnen weniger Jahre weite Teile der Halbinsel. Im Jahr 1480 führten die katholischen Könige in Spanien die Inquisition ein. Die Gerichtsbarkeit legte der Papst in die Hände der spanischen Herrscher, die die Richter selbst bestimmen konnten. Das Ziel der neuen iberischen Gesellschaft war die «Säuberung» von Nichtchristen und die Aufwertung derjenigen, die schon seit langer Zeit Christen waren und daher von jeglicher äußeren Unterdrückung frei sein
sollten. Grundbesitz, kirchliche Ämter, Verwaltungsaufgaben und Waffendienst waren von nun an Christen reinen Blutes und mit festverankertem Glauben vorbehalten. Die cruzada, einflußreiche Leitidee und steuerliches Druckmittel zugleich, stellte im 16. Jahrhundert das moralische Rückgrat der spanischen Gesellschaft dar. 1502 traten die mudejares Spaniens massenweise zum christlichen Glauben über. Doch die stolzen iberischen Christen hegten den Verdacht, daß diese moriscos in ihrem Herzen weiterhin Muslime waren, so wie die marranos Juden geblieben waren. Muslime und Juden, die ihrem Glauben treu bleiben wollten, warteten nicht erst bis zu ihrer Vertreibung, um sich nach Nordafrika oder in das Gebiet des Osmanischen Reichs einzuschiffen. Zahlreiche spanische Juden – Sepharden genannt – verließen ihr geliebtes Sepharad (Spanien) und zogen unter anderem auch nach Italien. Wo immer sie sich niederließen, brachten sie den wertvollen Schatz ihrer Kultur mit, ihre Intelligenz und ihren Unternehmergeist. Für Spanien bedeutete die Vertreibung der Juden den Verlust eines reichen kulturellen Erbes. Der wirtschaftliche Niedergang der Iberischen Halbinsel setzte bereits jetzt ein, noch vor den verhängnisvollen Silbereinfuhren aus der Neuen Welt. Unterdessen ging auch Al-Andalus seinem Ende entgegen. Nach der glanzvollen Herrschaft des Emirs Muhammad I. des Begründers der Nasriden-Dynastie von Granada und Erbauers der Palastanlage der Alhambra, hatte es beständig Fehden, Staatsstreiche und Aufstände gegeben. In Almeria und Malaga bedrohten die separatistischen Emirate, die von Kastilien wie von Marokko unterstützt wurden, die Sicherheit des Emirats von Granada, wo die Nasriden-Dynastie 1453 von dem Abenteurer Mulay Saad gestürzt wurde. 1460 wurde er von seinem Sohn Mulay Abu’l Hasan entmachtet, der im Jahr 1481, nach einem neuen Waffenstillstand mit Aragon und
Kastilien, eine neue Phase der Feindseligkeiten einleitete. Die Mauren eroberten Zahara, die Christen Alhama. Damit begann der sogenannte «Krieg um Granada». Doch die Nasriden waren gespalten: Auf der einen Seite standen der Emir Abu’l Hasan und sein Bruder Zadschal, auf der anderen der rebellische Abu Abdallah Muhammad (der «Boabdil» der christlichen Chroniken), ältester Sohn Abu’l Hasans. Die daraus entstehenden Konflikte waren ebenso erbittert wie unübersichtlich. Die Mauren bekämpften sich gegenseitig und machten sich die prächtige Hauptstadt streitig, während Zadschal auch die Christen in Schach zu halten verstand. Doch Ferdinand war entschlossen, reinen Tisch zu machen. Ein neuer und tüchtiger Militärkommandant hatte sich hervorgetan, Gonzalo de Cordoba, der Gran Capitan. Papst Sixtus IV. schickte dem König von Aragon als Zeichen des Sieges ein silbernes Kreuz, das die Kreuzfahrer als ihr Leitbild benutzt hatten. Nach dem Fall der letzten Bastionen, darunter auch Malaga, streckte Zadschal die Waffen und entließ Anfang 1490 seine Truppen. Boabdil hatte versprochen, Granada herauszugeben, falls sein Onkel die Waffen niederlegte. Doch der weigerte sich und bürdete sich die Last auf, den letzten muslimischen Widerstand anzuführen. Südlich von Granada hatten Kastilier und Aragonesen ein Heer versammelt, das Schätzungen zufolge 80000 Mann stark war. Isabella, Ferdinand und Gonzalo führten den Angriff. Das riesige christliche Lager war eine einzige Zeltstadt; Santa Fe wurde sie genannt. Doch mehr noch als durch Waffengewalt wurden die Mauren vom Hunger zermürbt. Der Winter in der von den verschneiten Gipfeln der Sierra überragten Stadt war hart. Die Übergabe, die der «Gran Capitan» in arabischer Sprache (die er beherrschte) aushandelte, erfolgte am 2. Januar 1492, aber die katholischen Könige warteten bis zum Dreikönigsfest, um in die Stadt einzuziehen. Überall in Europa
wurden Feste, Jubelfeiern, Darbietungen und Prozessionen abgehalten. Die Eroberung Granadas fand in der ganzen christlichen Welt ein starkes Echo. Es war gleichsam die Revanche für die Niederlage Konstantinopels neununddreißig Jahre vorher. Im März 1494 wurde im Castello Capuano in Neapel bei einem von Alfons, Herzog von Kalabrien, ausgerichteten Fest ein Werk Sannazzaros vorgetragen, das den Titel Die Eroberung von Granada trug. An der südwestlichen Grenze der Kreuzzugsbewegung stritten jedoch die Portugiesen. Im Jahr 1415 plünderten sie Ceuta und eroberten 1471 Tanger. Bereits 1437 war Heinrich der Seefahrer bei einem von Papst Eugen IV gesegneten Kreuzzug in Tanger vernichtend geschlagen worden. Der Kreuzzugsgedanke war mittlerweile jedoch tief im portugiesischen Denken verankert. Im Jahr 1420 wurde Heinrich (der später «der Seefahrer» genannt wurde) Großmeister des Christusordens. Dieser Orden war, wie es in der Ernennungsbulle Martins V hieß, «von den portugiesischen Königen gegründet worden, um die Sarazenen, Feinde des Kreuzes Christi, und die anderen Ungläubigen zu verfolgen und die Christen gegen deren Angriffe zu schützen» (La caduta di Costantinopoli. L’eco nel mondo, Rom, Mailand 1976, S. 99; vgl. auch P. E. Russell, Portugal, Spain and the African Atlantic 1343-1490. Chivalry and Crusade from John of Gaunt to Henry the Navigator, Aldershot 1995). Die Portugiesen hätten auch Marokko erobern können, wären sie nicht von ihren Erkundungsfahrten entlang der westafrikanischen Küste in Anspruch genommen worden. 1488 umsegelten sie das Kap der Guten Hoffnung. Das Bündnis mit dem «Priester Johannes von Afrika», dem Negus von Äthiopien, der, wie es hieß, die Nilkatarakte kontrollierte und Ägypten nach seinem Belieben überschwemmen oder
austrocknen lassen konnte, war das Unterpfand eines neuen Kreuzzugs gegen den Sultan von Kairo. Ägäis und Balkan waren von Lissabon und der Algarve weit entfernt. Hier hatte man noch nicht begriffen, daß die muslimische Bedrohung nicht länger vom Mamlukensultan ausging.
«Teukrer und Türken» Die letzten Kriege gegen die Mauren in Spanien wurden im Zeichen der cruzada geführt. Diese Kreuzzüge standen eher in der Tradition der mittelalterlichen Ritterzüge, die von der Iberischen Halbinsel bis nach Syrien zogen, als in derjenigen der Kreuzzüge, die im Westen nunmehr als Verteidigungskriege Europas gegen die osmanische Expansion geführt wurden. In diesem geistigen Klima entstand der spanische Ritterroman, in dem der Gegner so großmütig und edel wie der christliche Held ist und die Kämpfe in gegenseitiger Achtung und Freundschaft enden. Neben der ethischen und ästhetischen «Maurophilie», einem Baustein des späteren Exotismus und Romantizismus, gab es weitere Aspekte und Vorstellungen, die den Kreuzzugsgedanken jener Epoche begleiteten. Der «Türke», der «Ungläubige» und der «Sarazene» fanden Eingang in das Zeremoniell der höfischen Feste und öffentlichen Darbietungen der europäischen Renaissance – und auf diesem Weg auch in die volkstümliche Kultur. Der Maure mit seinen prachtvollen Kostümen und seinem furchterregenden Aussehen war der Gegenspieler in zahlreichen pas d’armes, pasos honorosos und «Inventionen» – thematisch bestimmten, dramatisierten Turnieraufzügen, in denen die bewaffnete Auseinandersetzung den Handlungsmittelpunkt bildete. Auch in den Ritterspielen war der «Sarazene» das Ziel, auf das sich die Lanzen der
Kämpfenden richteten. Der Widersacher des Kreuzes und nunmehr auch Widersacher Europas übernahm mühelos auch die Rolle des Widersachers im metaphysischen Sinn und des Gegners im Spiel. Auf diese Weise wurde er im kollektiven Gedächtnis zu einer bedrohlichen und gleichzeitig vertrauten Erscheinung. Waren «Mauren» und «Sarazenen» den Europäern mehr oder weniger bekannt und hatten auch die Tataren und die Mamluken ein relativ fest umrissenes Profil, so blieben die Türken nach wie vor eine rätselhafte Erscheinung. «Die Türken» – dieser Name geisterte seit Ende des 11. Jahrhunderts durch Europa, seit die ersten vagen Nachrichten über die Seldschuken eingetroffen waren. Vertraut man den unsicheren Quellen, so hatte sie Papst Urban II. in Clermont (übrigens nicht zu Unrecht) als ein aus Persien kommendes Volk beschrieben. Der anonyme italienischnormannische Ritter, der Anfang des 12. Jahrhunderts die unter dem Titel Gesta Francorum bekannte Chronik verfaßte, beschrieb zunächst ihre Tapferkeit in der Schlacht, um davon ausgehend die These einer gemeinsamen Abstammung der Türken, Franken und Römer von den Trojanern zu entwickeln. Damit waren die Türken das Gegenbild der treulosen graeculi, der niederträchtigen und unaufrichtigen Byzantiner. Der anonyme Verfasser zog den Schluß, daß nur ihr Unglaube die Türken daran hinderte, ein großes Volk zu werden – eine Bemerkung, die den Brief an Mahomet von Papst Pius II. vorwegnimmt. Aber daß die Türken in irgendeiner Weise mit den Völkern des Papstes Pius in Verbindung stehen könnten, widerstrebte vielen Humanisten. Sie verwiesen darauf, daß die ungläubigen Barbaren die Erbfeinde der byzantinischen Griechen und damit auch der griechischen Kultur waren. Nicht mit den tüchtigen und großmütigen Trojanern durften die Plünderer Konstantinopels gleichgesetzt werden, sondern mit den
barbarischen Skythen, den wilden Räubern, von denen die antiken Quellen mit Entsetzen und Abscheu berichteten. Von den Skythen war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu dem Volk, das in der Antike der Inbegriff der Grausamkeit war, dem Hauptfeind der Griechen und Römer: zu den Persern, die bereits Urban II. als Schreckgespenst bemüht hatte. Auch Petrarca hatte in seiner Kanzone O aspettata in ciel beata e bella zwischen den Kreuzzügen seiner Zeit und den Kriegen der Griechen gegen die Perser Parallelen gezogen. Auf diese Weise erhielt der Konflikt zwischen Christen und Ungläubigen eine neue Dimension. Das religiöse Element trat keineswegs in den Hintergrund, es wurde aufgewertet und durch neue Motive bereichert: Der Konflikt zwischen Europa und Asien war Herodot und dem Aischylos der Perser zufolge ein Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei. Unter Berufung auf Herodot hatte Eneo Silvio Piccolomini zu beweisen versucht, daß die Türken von den Skythen abstammten. Europa, Christentum und Zivilisation wurden gleichgesetzt und Asien, dem Heidentum und der Barbarei gegenübergestellt. Damit indes geriet die antimuslimische oder besser antikoranische Polemik keineswegs in Vergessenheit, was die polemischen Schriften jener Zeit zeigen. Die Cribratio Alchorani des Nikolaus von Kues oder die Schrift Contra principales errores perfidi Machometi von Juan de Torquemada, 1460/61 beziehungsweise 1459 entstanden, beriefen sich vorwiegend auf Petrus Venerabilis und Ricoldo da Montecroce; selbst Pius II. zog sie heran. Doch der Elsässer Nikolaus Chrypffs, 1401 in Kues an der Mosel geboren und unter seinem lateinischen Namen als Nicolaus Cusanus bekannt, war mit Sicherheit weder proislamisch noch protürkisch. Die Humanisten suchten die Klöster Europas auf, um die dort verwahrten lateinischen und griechischen Handschriften zu finden, und bereiteten so die
Wiedergeburt der humanae litterae vor. Im Jahr 1432, zur Zeit des Konzils von Basel, stieß Nikolaus von Kues auf die Handschrift der lateinischen Koranübersetzung Robert von Kettons, die in Toledo dreihundert Jahre zuvor angefertigt worden war. Später forderte Nikolaus von Kues als päpstlicher Legat in Konstantinopel noch vor der Eroberung durch die Türken die Dominikaner und Franziskaner auf, neue Koranübersetzungen anzufertigen. Ab 1448 Kardinal, ab 1450 Bischof von Brixen, war Nikolaus von Kues ein eifriger Prediger und glühender Verfechter eines Kreuzzugs zur Rückeroberung Konstantinopels von den Osmanen. Mehrmals gab es Kreuzzugsaufrufe, doch sie fanden kein Gehör. Kardinal Nikolaus von Kues warb für beides – für einen bewaffneten und für einen ideologischen Kreuzzug. Eine neue Übersetzung der «türkischen Bibel» sollte den Christen eine genauere Vorstellung von den zahlreichen Absurditäten und Widersprüchen geben, die dieses Buch enthielt – jedenfalls in der alles andere als angemessenen Auslegung durch die Europäer. Der Kampf der Ideen erschien Nikolaus von Kues ein geeigneterer Weg als der Kampf der Waffen. Die Anfänge der Islamforschung in Europa hatten somit weder einen kulturellen noch einen religiösen Hintergrund. Es ging einzig und allein um Bewertung, Beurteilung, ideologische Konkurrenz. Um seine Ziele zu erreichen, suchte der Kardinal weniger einen angesehenen Gelehrten als eine Persönlichkeit, die über jede Kritik erhaben war. Er fand sie in einem der frömmsten Männer seiner Zeit, dem Mystiker Dionysius Rickel, besser bekannt unter dem Namen Dionysius der Kartäuser (1402 1471). In dessen Visionen taucht die Türkengefahr in geradezu obsessiver Weise auf.
Dionysius’ Traktat in Dialogform, Contra Alchoranum et sectam machometicam, ist weitaus besser geeignet, die westlichen Vorurteile zu sichten, die im 15. Jahrhundert über den Islam im Umlauf waren, als einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der muslimischen Kultur zu dienen. Der Tradition der Koranübersetzung Robert von Kettons sowie der zweifelhaften Methode Ricoldos da Montecroce verpflichtet, verschwieg Dionysius absichtlich alle Textstellen, die auf Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum hindeuteten. Das so zusammengetragene Material diente Nikolaus von Kues der Abfassung eines eigenen Traktats, der Cribratio Alchorani («Sichtung des Korans»), nach Auskunft des Verfassers besonders an jene gerichtet, die die Muslime zum christlichen Glauben bekehren wollen. Der Kardinal widmete die Abhandlung seinem großen Freund Enea Silvio Piccolomini, der inzwischen als Papst Pius II. den Heiligen Stuhl bestiegen und im Jahr 1461 besagtes doppelsinniges Briefdokument, die Epistola ad Mahometem, verfaßt hatte.
Islam und Reformation Die Türken wurden also als Bedrohung wahrgenommen. «Herr, werden die Türken nach Rom kommen?» hatte Dionysius der Kartäuser in einer seiner mystischen Visionen bange gefragt. «Glaubt ihr, daß der Türke schon dies Jahr rüber nach Italien kommt?» legte einige Jahre später Machiavelli maliziös einer Figur seiner Mandragola in den Mund. Wo und unter welchen Umständen auch immer sich der allgemeine Pessimismus äußerte – es war jene «Türkenfurcht», die Europa von der zweiten Hälfte des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts hinein beherrschte. Hier liegt gleichzeitig der Schlüssel zu
ihrer Bewältigung, zu ihrer Bändigung und Versachlichung. Denn wieso konnten die Türken als Symptom dafür verstanden werden, daß die Zeit erfüllt sei? Und welche Rolle spielten sie im Prozeß und in der Erfüllung der Offenbarung? Die Antworten darauf sind vielfältig und müssen Politik, Theologie, Prophetie und Astrologie mitberücksichtigen. Im Jahr der osmanischen Eroberung Konstantinopels schrieb Nikolaus von Kues, wie gesagt, ein glühender Verfechter des Kreuzzugsgedankens, eines seiner beeindruckendsten Werke: De pace fidei betrachtet die Türken und die anderen Ungläubigen weniger als Streitmacht des Antichrist, sondern als gentiles, Heiden, die erst noch zum wahren Glauben bekehrt werden müssen. Auch in den Prophezeiungen des Girolamo Savonarola spielen die Türken keine negative Rolle. Savonarola plädierte nicht für die Kreuzzüge oder für eine Bestrafung der Ungläubigen, sondern setzte deren zukünftige Bekehrung mit der Bestrafung der «falschen Christen» gleich. Er wußte von der Verehrung der Muslime für Christus und vertrat die Ansicht, unter den Türken herrsche das Prinzip der Gerechtigkeit. Während Angelo da Vallombrosa, ein erbitterter Gegenspieler des Mönchs aus Ferrara, Massaker an den Ungläubigen ankündigte, beharrte Savonarola auf der Bekehrung als sichtbarem Zeichen für eine Erneuerung der Kirche. Daß die Einheit der Christen eine Vorbedingung für den Kampf gegen die Ungläubigen sei (und umgekehrt der Kampf gegen die Ungläubigen eine Vorbedingung für die Einheit der Christen), blieb eine Forderung, für die sich Papst Leo X. sehr aufgeschlossen zeigte. Dies war auch das Argument des Libellus, einer Schrift, die zwischen Mai und August 1513 von den Kamaldulensern Paolo Giustiniani und Pietro Quirini in Rom verfaßt wurde. Diese observanten Eremiten aus dem
Kloster San Michele von Murano legten dem Papst die Gründe dar, weshalb die seit Jahrhunderten erwartete reformatio nicht mehr weiter hinausgezögert werden dürfe. Sie betonten, gerade die Zwietracht unter den Brüdern Christi sei schuld, daß die Muslime in den letzten Jahrzehnten so erfolgreiche Eroberungen gemacht hätten. Im übrigen wurde in diplomatischen Protokollen und offiziellen Erklärungen der christlichen Mächte immer wieder die Notwendigkeit betont, den Vorstoß der immanissimi, truculentissimi oder perfidi Türken aufzuhalten – insbesondere, wenn sich die einen gegen die anderen verbündeten. Vielleicht wollte man dem jeweiligen Gegner die Verantwortung für die Wahl des Bündnispartners aufbürden, interpretiert als freiwilliger oder objektiver Akt der Komplizenschaft mit den Ungläubigen. In der unruhigen Zeit unmittelbar vor Beginn der Reformation spielten die Türken eine zentrale, wenngleich vieldeutige Rolle. Wem konnte man die Schuld für deren Erfolge anlasten, wenn nicht den Christen selbst, peccatis exigentibus? Aber waren es die Ketzer, waren es die Mißstände innerhalb der Kirche, Verfehlungen der päpstlichen Kurie oder ihrer korrupten Prälaten, die den Zorn Gottes auf die Christenheit herabbeschworen hatten? Mußten die Ungläubigen, eine offenbare Bekundung dieses Zorns, als Vorboten des Antichrist oder als Werkzeug der göttlichen Strafe betrachtet werden? Und war es notwendig, sinnvoll und nützlich, ja war es überhaupt legitim, sie zu bekämpfen? Bereits in seiner Schrift Encomion Monas (Lob der Torheit) hatte Erasmus von Rotterdam den Krieg, auch den Krieg gegen die Ungläubigen, unter die Torheiten eingereiht. In der Querela pacis, entstanden 1517 (zu einem Zeitpunkt, da man noch hoffte, die direkte Konfrontation Frankreichs mit den Habsburgern abwenden zu können), beklagt der Friede das Unglück, das der Mensch in seiner Unvernunft sich selbst
auferlegt: Ist es nicht schändlich, daß sich die christlichen Brüder untereinander töten, dann aber die Türken als «Feinde Christi» fürchten, als wären sie selbst besser als jene? Wenn es heißt, die Ungläubigen opferten den Dämonen: Tut nicht ein Christ, der einen anderen Christen tötet, genau dasselbe? Gewiß, die Türken stellten eine Gefahr dar. Aber eben deshalb waren sie ein Beweis für die Torheit der Christen, die sich trotz der Gefahren, die ihnen auflauerten, gegenseitig bekämpften, zuweilen sogar Bündnisse mit den Türken schlossen. Erasmus ist keineswegs ein kategorischer Gegner der Kreuzzüge. Er wollte vielmehr deutlich machen, daß die Kriege zwischen den Christen mehr Schaden anrichteten als jeder Kreuzzug. Und er betrachtete jenen Kampf als törichter und schuldhafter, da er allein den Türken nütze. Bereits in einem Brief, den er am 18. August 1518 aus Basel an Paul Volz geschrieben hatte und der als Vorwort der Basler Ausgabe seiner Schrift Enchiridion militis christiani beigegeben ist, vertritt Erasmus die Auffassung, Friede sei die einzig wahre Vorbedingung für den Frieden, und daher sei es sinnlos und vergeblich, sich auf den Frieden vorzubereiten, indem man Krieg führe. In den Briefen der beiden folgenden Jahre, in denen er sich mit der Ankündigung eines neuen Kreuzzugs durch den Papst für das Jahr 1517 auseinandersetzte, kam Erasmus wiederholt auf diese Argumentation zurück: Der einzige Weg, die Türken zu besiegen, bestehe in der konsequenten Befolgung der Lehre Christi. Rigoros beharrte er auf der Unsinnigkeit des Kriegs gegen die Türken, besonders deutlich in dem wohl berühmtesten seiner politischen Sprichwörter der Sammlung Adagia, dem Dulce bellum inexpertis («Der Krieg ist lustig den Unerfahrenen»), in dem er für die Kriegsmotive sogar Verständnis zeigt. Den Christen, so Erasmus, schlage es besonders negativ zu Buche, ihr Anliegen mit den
Vorbereitungen eines Krieges gegen die Ungläubigen zu verknüpfen. Man müsse den Türken vielmehr die Tugenden, nicht die Waffen der Christenheit entgegenhalten. Auch Gewalt von außen könne kein Vorwand für Gewaltausübung sein. Nicht, daß man sich gegen die Angriffe der Türken nicht verteidigen dürfe. Aber man solle den eigenen Glaubensüberzeugungen nicht entsagen und müsse selbst einen Krieg im Geiste Christi führen. Mit der Reformation erneuerte sich bei den Christen im Westen ein Gedanke, der vor dem Fall Konstantinopels unter den griechischen Christen kursierte: besser den türkischen Turban als die römische Tiara. Dem altbekannten Vorwurf der Kanoniker und Inquisitoren, Ketzer und Dissidenten seien «schlimmer als die Ungläubigen», hielten die Reformatoren entgegen, der Papst und seine Gefolgsleute seien niederträchtiger und gefährlicher als die Türken. Und lange Zeit warfen sich Katholiken und Protestanten gegenseitig vor, mit den Türken unter einer Decke zu stecken – wenn sie nicht sogar betonten, es sei besser, mit Türken gemeinsame Sache zu machen als mit Christen der gegnerischen Konfession. Es ist richtig, daß Luther Schriften gegen die Türken verfaßt hat. Richtig ist aber auch, daß die Reformatoren die Kreuzzüge in Frage stellten. Allerdings lehnten sie nicht deren Ziele ab, sondern die Abgabe des Zehnten, die Gelübde und den Sündennachlaß. Sie verurteilten damit auch einen Automatismus, der für das negotium crucis zumindest seit dem 13. Jahrhundert wie selbstverständlich galt, seit der Anspruch, Kreuzzüge zu führen, durch Juristen wie Heinrich von Susa und Sinibaldo Fieschi legitimiert worden war. Der Papst erkannte, daß es angesichts der Reformationsbewegung galt, den gemeinsamen Kampf aller Christen gegen die Türken einstweilen zurückzustellen. In diesem Sinn schrieb der Papst im Mai 1518 an den sächsischen
Kurfürsten Friedrich den Weisen. Zwei Jahre später schickte er ihm eine Abschrift der Bulle Exsurge Domine, worin er die Ansicht vertrat, die Rebellion des Augustinermönchs nütze der Sache der Osmanen. Es gab objektive Gründe, die diese Sorge plausibel machten. Luther, der sich auf die göttliche Rache berief, hatte die Türken wiederholt als das Werkzeug für die göttliche Bestrafung der Papisten bezeichnet. Schon in der Bulle von 1520 wies Leo X. diese Vorwürfe zurück. Der Reformator seinerseits hatte mehrmals in offener Provokation dazu aufgerufen, weder gegen die Ungläubigen in den Krieg zu ziehen noch auch diesen Krieg mit Geld zu unterstützen, da die Ungläubigen weiser seien als die katholischen Fürsten. 1529 wird auf dem Reichstag zu Speyer beschlossen, die Propagierung der Reformation so weit wie möglich einzuschränken. Im September, wenige Monate später, verkündet Luther in einem Antwortschreiben die Neutralität all jener, die sich seinem Protest angeschlossen hatten – selbst in einer so dramatischen Situation wie der Belagerung Wiens. In seiner Epistola ad fratres Inferioris Germaniae schreibt Erasmus, die lutherischen Soldaten zögen mit dem Ruf umher, der «ungetaufte Türke» (der Sultan) sei besser als der «getaufte Türke» (der Kaiser), und das kaiserliche Heer, das sich in den Niederlanden gesammelt hatte, trage mit dem Halbmond geschmückte und mit dem Spruch Plutost Turcs que Papaux versehene Fahnen mit sich. Ereignisse wie diese führten dazu, «Ähnlichkeiten» zwischen protestantischem Christentum und Islam zu entdecken – aus dem Blickwinkel katholischer Landstriche. Die Reformatoren gaben den Vorwurf zurück und griffen damit zugleich eine Auffassung auf, die bereits John Wycliff vertreten hatte. Zwischen 1378 und 1384, zu einer Zeit, als die muslimische Gefahr überwunden schien, hatte er bereits die Immoralität und
das Laster gegeißelt, die – seiner Ansicht nach – der vom Papst geführten Kirche und dem Islam gemeinsam waren. Deshalb, so die Befürworter der Reformation, sei eine moralische Erneuerung der Kirche dringlicher als der Kampf gegen den Islam. Dieser Kampf könne ohne Waffen gewonnen werden – allein dadurch, daß die Christen sich moralisch besserten und den Muslimen ein Vorbild an Tugend seien. Auf diese Weise und mit diesen Argumenten brachten Reformation und Gegenreformation in den Kreuzzugsgedanken als defensio Europae und defensio Christianitatis neue und komplizierende Kriterien und Elemente ein. Im lutherischen Raum wurde unterdessen eine Deutung von Kapitel sieben des Propheten Daniel verbreitet, die insbesondere Justus Jonas und Philipp Melanchthon vertraten, Johannes Calvin jedoch ablehnte: Demnach sei das «kleinere Horn» des Tieres als das Reich der Türken zu interpretieren. Diese Deutung vertrat auch Martin Luther. Ein Jahr später verfaßte Erasmus – wohl auf das indirekte Drängen seines Kaisers – in Freiburg im Breisgau eine Erwiderung auf Luthers Vom Kriege wider die Türken (aus dem Jahr 1529). Die Schrift trug den Titel Utilissima consultatio de bello Turcis inferendo und bildete den krönenden Abschluß einer ausführlichen Korrespondenz, in der der Humanist seit vielen Jahren die Herrscher Europas drängte, ihre Feindseligkeiten beizulegen und sich gegen die drohende Türkengefahr zu verbünden. Auch der Doktor Luther war – wie alle Deutschen seiner Zeit – durchaus beunruhigt über das Vorrücken der Türken. Allerdings hielt sich seine Angst in Grenzen. Sachsen war vor direkten Angriffen osmanischer Heere sicher, und die Angriffe der Türken auf das erzkatholische Wien dürften ihn nicht allzusehr betrübt haben. Immer wieder scherte er alles über einen Kamm und warf seine sämtlichen Gegner in einen Topf:
Juden, Türken, Papisten, Zwinglianer et cetera. Und auf die Türken kam er in seinen Tischreden relativ oft zu sprechen. Bereits im Jahr 1531 hatte der große Reformator aus Thüringen erklärt, er werde dem Herzog von Sachsen Gefolgschaft leisten, falls dieser gegen die Ungläubigen in den Kampf zöge. Denn er sei sich sicher, sein Martyrium werde Gott dazu veranlassen, die Osmanen zu vernichten. Im April 1532, als bereits bekannt war, daß Sultan Süleyman, drei Jahre zuvor gezwungen, die Belagerung Wiens aufzugeben, eine neue Offensive vorbereitete, zeigte sich Luther darüber beunruhigt, wie sich die Deutschen auf diesen Angriff vorbereiteten. Er erklärte, Ferdinand von Habsburg werde überrannt werden, und äußerte die Befürchtung, der Papst wolle nur die Deutschen aufeinanderhetzen und von den Türken niederwalzen lassen. Der Verdacht, Türken und Katholiken seien insgeheim Verbündete, stand im Hintergrund all dieser Äußerungen. Die Katholiken ihrerseits verbreiteten, die türkische Bedrohung sei die Folge des göttlichen Zorns über das lutherische Bekenntnis. Luther zufolge waren die Türken (also die Muslime) und die Katholiken einander auch in ihrer Religionsauffassung ähnlich. Beide, so Luther, glaubten, Gott stehe nur den Frommen bei, nicht aber den Sündern. Die These von der Rechtfertigung durch Werke und Taten sieht er in Zusammenhang mit der Strenge des muslimischen Gesetzes. Entscheidend jedoch, so Luther weiter, sei die Unmöglichkeit für den Muslim genau wie für den Papst, durch Christus zum Vater zu gelangen – für den einen, weil er dessen göttliche Natur nicht anerkenne, für den anderen, weil er dessen Lehre verraten habe. Doch der große Reformator hatte in Wahrheit keine sonderlich präzisen Vorstellungen vom Islam. Er betrachtete ihn einmal als ketzerische Sekte, ein andermal als eine Religion – und interessierte sich letztlich gar nicht dafür. Die realen Türken,
die für ihn zweifellos eine Gefahr darstellten, waren das eine. Etwas anderes war ihr Glaube, den Luther zumeist mit verächtlichen Schmähungen bedachte. Der Reformator war und blieb ein treuer Untertan Karls V. Und als solcher erinnerte er im September 1532 mit Genugtuung daran, daß Franz I. von Frankreich sieben Jahre zuvor in Pavia gedemütigt worden war, obwohl er auf die Hilfe der Türken vertraut hatte. Daß Franzosen und lutherische Fürsten bald gemeinsam eine Einigung mit den Türken suchen würden, scheint Luther nicht erwartet zu haben. Im übrigen beeindruckten ihn die Erfolge der Osmanen keineswegs. Luther, ein guter Kenner der römischen Geschichte, schrieb zu Weihnachten 1537, im Laufe der letzten hundert Jahre sei das Osmanische Reich nicht gewachsen – ganz im Gegensatz zum Römischen Reich in der halben Zeit. Und die Reiche Karls und Süleymans zusammengenommen seien nicht der Rede wert, verglichen mit dem Rom der Antike. Da Türken und Islam ständig in aller Munde waren, nahm zwangsläufig auch die Kenntnis dieser fremdartigen Phänomene zu. Noch historische Gesamtdarstellungen wie der Fasciculus temporum von Werner Rolenwick oder De inventoribus rerum von Polidorus Vergilius, die sich auf die gängigen byzantinischen und mittelalterlichen Repertorien stützten, enthielten immer ausführlichere und zahlreichere Informationen über den Islam. Allerdings führten kryptische Stellen, durch solche Texte verbreitet, auch zu immer neuen Ungereimtheiten, die darzustellen, geschweige denn aufzulösen, schwierig wäre. So übernahm beispielsweise Erasmus in seiner Consultatio de hello turcis inferendo ein amüsantes Mißverständnis von Polidorus Vergilius, demzufolge der Prophet Muhammad von den Türken, die sich zunächst an dessen Militärzügen beteiligt hatten, dann aber gegen ihn aufbegehrten, getötet wurde.
Inhalt der Prophetien waren ebenfalls vorrangig die Türken. Dem Tagebuch von Lauterbach zufolge war im Jahr 1538 immer wieder vom Antichrist und von «Größe und Macht des Türken» die Rede, dessen Reich vom Propheten Daniel und von der Offenbarung des Johannes vorhergesagt war. Luther, dazu neigend, in dem «kleineren Horn» der Vision Daniels einen Hinweis auf den Propheten Muhammad zu sehen, betonte, wie gewisse Weissagungen sowohl auf den Papst wie auch auf die Türken zutrafen; etwa daß Papsttum wie Islam seit dem 7-/8. Jahrhundert gewachsen seien. Der Offenbarung, Kapitel 12,14, zufolge dauert die Herrschaft des Antichrist «eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit», und wenn man «eine Zeit» als dem Alter Christi entsprechend annimmt (Luther ging von dreißig Jahren aus), entsprach die Herrschaft des Antichrist einer Zeitspanne von hundertfünf Jahren. Seit der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453, so argumentierte Luther 1538, waren fünfundachtzig Jahre vergangen. Den Türken verblieben also nur noch zwanzig Jahre Zeit, die Christen zu unterjochen. Doch – so meinte er abschließend – liege alles in Gottes Hand, und die Menschen könnten nur beten und Buße tun. Zwanzig Jahre nach dieser Prophezeiung, im Jahr 1558, hatte sich innerhalb des türkischen Machtgefüges nichts verändert. Doch zwischen dem Osmanischen Reich und Ferdinand von Habsburg tobte der Krieg, der im Jahr 1551 begonnen hatte und im Jahr 1562 mit der Eroberung Ungarns durch die Türken endete. Wien wurde der Hohen Pforte gegenüber tributpflichtig. Während im christlichen Europa zwischen den Habsburgern und den Valois, zwischen Katholiken und Protestanten erbitterte Kämpfe tobten, schob sich der Schatten des Halbmonds auf dem Balkan, im Donau- und im Mittelmeerraum beängstigend weit vor.
Folgerichtig, wenngleich völlig unerwartet, bewertete jetzt die Reformation den Islam entschieden positiv. Ein oft formalistischer und manierierter Proislamismus entstand, der seine Wirkung entfaltete, sobald sich der osmanische Zugriff auf Europa lockerte. Die schematisch-engstirnige Beurteilung der Kreuzzugszeit wurde überwunden und die Orientalistik als wissenschaftliche Disziplin geboren. Die Voraussetzungen hierfür schuf bereits das Mittelalter, die Legenden über Saladin, die zahlreichen Reflexionen Gelehrter und Polemiker und die Kontakte der Kaufleute und der christlichen Pilger: Güte und Großmut der Ungläubigen wurden jetzt der Engherzigkeit und Derbheit der eigenen Glaubensgenossen gegenübergestellt. Die Reformation jedenfalls, die eine härtere und entschiedenere Polemik innerhalb der christlichen Konfessionen auslöste, kam mit ihrer Bewertung den Muslimen zugute. Es wurde gängige Praxis der Katholiken wie der Protestanten, die «Laster» der gegnerischen Konfession zu geißeln – unter Betonung der muslimischen Tugendhaftigkeit. Guillaume Postel lobte die muslimische Tradition und Diskretion des Almosengebens. In seiner Vorrede zu der von Bibliander 1543 gedruckten Sammlung muslimischer Texte unterschied Luther zwischen dem verwerflichen islamischen Glauben und der vortrefflichen moralischen Praxis der Muslime. Die Polemik zwischen Katholiken und Protestanten war nicht selten ein Wettstreit in der Kunst, die Ungläubigen mit Lob zu überschütten, um den Gegner zu diffamieren. Mit Ausnahme des Heiligen Landes, Ägyptens, Nordafrikas und in gewissem Umfang auch Persiens war die muslimische Welt aus dem Blickfeld der europäischen Beobachter geraten. Den Türken jedoch eilte ein ganz besonderer Ruf voraus. Sie galten als tapfere, tüchtige und disziplinierte Kämpfer. Verglichen mit dem desolaten Zustand der korrupten und ungeordneten europäischen Truppen des 16. und 17.
Jahrhunderts war das Heer des Sultans ein Musterbild an Ordnung, Mäßigung und Disziplin. Die Türken galten zwar als grausam, man schrieb ihnen aber nicht jene barbarische Zerstörungswut zu, die die Europäer vor den Militärreformen des 18. Jahrhunderts an den Tag legten. Bald gab es nicht nur Chronisten aus dem militärischen Fach. Diplomaten, Kaufleute, Reisende und Gläubige – alle waren sich in einem Punkt einig: Die Türken, in der Schlacht so furchterregend und unerbittlich, in der Unterdrückung und in der Anwendung des Rechts so hart und streng, erwiesen sich im alltäglichen und privaten Leben als loyal, ehrenhaft, aufrichtig, mildtätig, bescheiden und gastfreundlich. Zahlreiche Berichte und Schilderungen von und über Renegaten popularisierten diese positiven Eigenschaften der Türken in einer Weise, daß der Übertritt vom Christentum zum Islam als nahezu plausibel und gerechtfertigt erschien. «Türke werden» – sei es aus Verzweiflung, aus Enttäuschung oder aufgrund äußerer Lebensumstände – wurde zu einem Leitmotiv der europäischen und mediterranen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts.
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Sultane, Korsaren und Renegaten
Süleyman der Prächtige, Süleyman der Gesetzgeber Selim I., der zwischen 1516 und 1517 das Ägypten der Mamluken erobert und durch engen Zusammenschluß mit den muslimischen Fürsten von Tripolis, Tunis und Algier seine unmittelbare Herrschaft auch auf die Heilige Stadt ausgedehnt hatte, starb im Jahr 1520. Nachfolger auf dem Sultansthron war sein vierundzwanzigjähriger Sohn, der den Namen Salomons trug, des weisesten der biblischen Könige: Süleyman. Im Westen ist er als «der Prächtige» bekannt, in türkischer und muslimischer Tradition trägt er den noch rühmlicheren Beinamen al-Qanurii, «der Gesetzgeber». Die absichtsvolle Anlehnung an Kaiser Justinian soll die rechtmäßige Kontinuität von Römischem und Osmanischem Reich unterstreichen. Kein anderer muslimischer Dynast vermochte das politische Schicksal Europas so nachhaltig zu prägen wie Süleyman der Prächtige. Die Präsenz der Osmanen in Südosteuropa in den Jahren der Reformation beeinflußte das politische Geschehen maßgeblich, vor allem die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa. Einen Großteil seiner Erfolge, insbesondere in den Landschlachten, verdankte der Sultan der Zuverlässigkeit und Schlagkraft seiner Infanterie, der Elitetruppe der Janitscharen («neue Truppe»), die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von Sultan Murad I. gegründet worden war. Die Janitscharen, durch devshirme («Knabenlese») aus christlichen
Knaben rekrutiert, waren durch ihre besondere Tracht und die typische hohe Mütze aus weißem Tuch äußerlich charakterisiert. Sie wurden im Geist eiserner Disziplin und in spartanischem Lebensstil in eigenen Schulen und ausschließlich für den Kriegsdienst ausgebildet, mußten dem Ehelosigkeitsprinzip gehorchen und gehörten der religiösen Bruderschaft der Bektaschi (tanqa bektashiyya) an. Bei der Thronbesteigung Sultan Süleymans war das Janitscharenkorps knapp 5000 Mann stark, am Ende seines Lebens war die Zahl auf 12000 gestiegen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieben sie Furcht und Schrecken Europas, aber auch Gegenstand höchster Bewunderung. Europäische Herrscher und Militärkommandanten versuchten immer wieder, ihre Institutionen und ihre Organisationsform, ja sogar ihre äußere Erscheinung nachzuahmen. Die Notwendigkeit, den Janitscharen Vorrechte einzuräumen, sie aber auch durch Kriegsdienst beschäftigt zu halten, war im ersten Jahrzehnt von Süleymans Regierungszeit zumindest mit ein Grund für die ständigen Militäroffensiven. Gleich zu Anfang seiner Herrschaft begann er einen Balkanfeldzug, der 1521 mit der Eroberung Belgrads endete. Doch die Türken dehnten ihre Vorstöße auch auf das Meer aus, eroberten 1522 die Insel Rhodos und vertrieben die Ritter des Johanniterordens, der inzwischen auch ein mächtiger Seefahrerorden geworden war. Über zweihundert Jahre lang hatten die Johanniter hier ihren Hauptstützpunkt. Kaiser Karl V stellte ihnen die Insel Malta als neue Basis zur Verfügung. Der Sultan machte sich die Streitigkeiten der europäischen Mächte und die Kriege innerhalb der Christenheit zunutze und startete zwischen 1526 und 1533 einen erbitterten Militärfeldzug im Balkan- und Donauraum. Im September und Oktober 1529 belagerte er die Stadt Wien. Zur gleichen Zeit
bedrohte der Korsar Khair ad-Din von seinem Stützpunkt Tunis aus Sizilien und Süditalien. Das vorrangige Ziel dieses ungestümen Angriffs war Karl V, der als Todfeind des Islam galt. Er hatte das Vermächtnis der katholischen Könige übernommen, «que non cessen la conquista de Africa y de pugnar por la fe contra los infieles» (zit. bei R. Menendez Pidal, Formacion del fundamental pensamiento politico de Carlos V, in: Charles V. et son temps, Paris 1958, S. 2). Der Kaiser selbst betrachtete sich jedoch keineswegs als blindwütigen Widersacher der Muslime. Er hatte frühzeitig gelernt, seine Entscheidungen auf der Grundlage eines politischen Prinzips zu treffen, das da lautete: «Der Feind deines Feindes ist dein Freund.» Daher schloß er mit dem Schah von Persien Tahmasp ein Abkommen: Süleyman sollte in einem Zangengriff von zwei Fronten her attackiert werden. Der «Großtürke», wie der Sultan im Westen genannt wurde, griff daraufhin seinerseits Persien an und verbündete sich mit den uralaltaischen Potentaten Transoxaniens, den Erben des Imperiums Tamerlans. Sie waren mit den Türken verwandt und wie sie sunnitische Muslime. Die großräumige Offensive der Habsburger zwang Süleyman zu einem noch kühneren Schritt: Er nahm Verhandlungen mit dem französischen König Franz I. auf, der entschlossen war, die Schmach der Niederlage von Pavia wiedergutzumachen und die Vorherrschaft des Kaisers zu brechen. Dazu hatte er sich in der Heiligen Liga von Cognac mit Papst Clemens VII. verbündet. Doch die apokalyptischen Ängste und Erwartungen gärten weiter. Im Jahr 1527 hatte Papst Clemes VII. den «Propheten» Brandano gefangennehmen lassen, der vorhergesagt hatte, die Türken würden den Papst, den Kaiser und den französischen König im Jahr 1530 in ihre Gewalt bringen; erst dann sei Gott
bereit, die Christenheit zu retten. Die Weissagung klang wie eine Verurteilung aller Herrscher des christlichen Europa. Aber womöglich brachte es nur die Ablehnung des Bündnisses zum Ausdruck, das Clemens VII. und Franzi, gegen jenen Karl V. geschmiedet hatten, der als der Bannerträger des Glaubens im Kampf gegen die Muslime galt. Als Gegengewicht zu den düsteren Visionen, die den politischen Zynismus des Papstes durch den erneuten politischen und militärischen Vorstoß der Türken bestätigt sahen, waren Clemens VII. die Prophezeiungen der jüdischen «Propheten» David Reubeni und Salomo Molcho höchst willkommen, stellten sie doch eine jüdisch-christliche Front gegen das Osmanische Reich in Aussicht. Eine derart kühne Hypothese in der damaligen Zeit der Conversos besaß vielleicht eine antispanische Spitze, die dem Medici-Papst gefallen mußte, zumindest vor dem Friedensvertrag von Cambrai im Jahr 1529. Ein Krieg gegen die Ungläubigen und die gleichzeitige Isolierung der spanischen Habsburger war in seinen Augen ein vortreffliches Unternehmen und ein interessantes politisch-strategisches Ziel. Die Schwierigkeit bestand darin, die Pläne in die Tat umzusetzen. Gleichzeitig formierte sich eine Kreuzzugsfront im Mittelmeerraum, was den etwas waghalsigen Manövern der römischen Kurie gut ins Konzept paßte. Die Venezianer und die Deutschen, traditionelle Gegner der Hohen Pforte, engagierten sich im Balkanraum, in der Adria und in der Ägäis. Doch die Serenissima unter Führung von Andrea Gritti (seit 1523 Doge), der in Istanbul schöne und abenteuerliche Jahre verbracht hatte und mit Sultan Süleyman persönlich befreundet war, hielt sich bedeckt, ja schickte dem Sultan sogar Bekundungen ihrer Wertschätzung und Achtung. Spanien und der Johanniterorden waren über die Situation im Süden ernstlich besorgt. Die gesamte Küste von Gibraltar bis
zur Straße von Sizilien war bedroht, der Schiffs-, Personenund Warenverkehr durch den ständigen Korsarenkrieg unsicher geworden. Im denkwürdigen Jahr 1529, in dem die osmanischen Truppen Wien belagerten, besetzte Khair ad-Din, ein griechischer Renegat aus Lesbos im Dienst des Sultans, der im Westen unter dem Namen «Barbarossa» bekannt wurde, die Festung Algier. Durch die Belagerung Wiens und die Besetzung Algiers waren Kaiser und Papst gezwungen, ihren Zwist so schnell wie möglich zu beenden und auch den widerstrebenden Franz I. zum Einlenken zu drängen. Am 2. Februar 1530 rief der Papst den Kaiser, die italienischen Staaten und Ungarn zu einem neuen Kreuzzug auf. Die aus Rhodos vertriebenen Johanniter ließen sich in Tripolis nieder. Die Spanier, die den Frieden nutzten, um ihrerseits Algier anzugreifen, versuchten durch Verhandlungen zu erreichen, daß der Sultan die Festung Algier im Tausch gegen einen Friedensschluß in Ungarn abtrat. Aber Khair ad-Din, vom Sultan inzwischen zum Großadmiral der türkischen Flotte ernannt, unternahm Raubzüge die italienische Küste entlang bis zur Tibermündung und eroberte im Jahr 1534 auch Tunis. Er vertrieb den Emir, der, von den Spaniern gestützt, bis dahin regiert hatte. Damit hatten sich die Osmanen einen Stützpunkt unweit der sizilianischen Küste verschafft und konnten die Durchfahrt christlicher Schiffe durch die Straße von Sizilien verhindern. Das Mittelmeer wurde jetzt also von Muslimen beherrscht, die nunmehr auch auf die heimliche Allianz mit dem französischen König rechnen durften. Franz I. konnte zwar aus moralischen Gründen den Idealen und der Praxis der Kreuzzüge nicht offen entgegentreten, war aber überzeugt, daß der Feind seines Feindes Karl V sein Freund war. 1535 griff der Kaiser mit ganzer militärischer Kraft Tunis an, bemüht, diesem Feldzug den sakralen Charakter eines
Kreuzzugs zu geben. Er stellte sich offiziell unter den Schutz des «gekreuzigten Erlösers», unternahm eine Wallfahrt zur Madonna von Monserrat, der Schutzpatronin der Seefahrer Katalaniens, und versicherte sich der Unterstützung Papst Pauls III. der Johanniter und der Portugiesen. Die kaiserliche Kriegsflotte, bestehend aus 74 Galeeren und 330 Schiffen, ging am 16. Juni an der tunesischen Küste an Land. Weniger als einen Monat später hatte der Kaiser die Festung Goulette eingenommen, einen Großteil der türkisch-berberischen Flotte erbeutet und 20000 christliche Gefangene befreit. Am 21. Juli wurde Tunis geplündert. In Rom feierte Karl seinen triumphalen Sieg und führte Schlösser und Riegel der Stadttore von Tunis mit sich. Während Khair ad-Din nach Algier flüchtete, vertrauten die Spanier die Verwaltung von Tunis einem unterworfenen muslimischen Gouverneur an, behielten aber die unmittelbare Kontrolle über Goulette. Der Erfolg der kaiserlichen Truppen an der Küste Afrikas führte dazu, daß die beiden Todfeinde Karls V, Süleyman und Franz I. noch enger zusammenrückten. Sie schlössen Verträge (die sogenannten «Kapitulationen», die 1569 erneuert wurden), die es dem französischen Herrscher erlaubten, sich auf osmanischem Territorium und insbesondere im Heiligen Land als Schutzherr der christlichen Gemeinschaft zu präsentieren. Neben diplomatischen wurden auch – teils geheime – Militärabkommen geschlossen. Doch scheiterte der türkisch französische Versuch, Venedig in diese geheime Allianz einzubeziehen. Die Politik des Dogen Gritti, seinem alten Freund aus Istanbul stets wohlgesonnen, wurde von einer starken «Kriegspartei» zunichte gemacht, die darauf drängte, die militärischen Seemanöver wieder aufzunehmen. Offenbar als Rache für den «neuen Kurs» Venedigs blockierten die Türken die Straße von Otranto und griffen Korfu an.
Am 26. und 27. September 1538 schlug Khair ad-Din bei Prevesa (heute Prebeza) vor der ionischen Küste an der Mündung des Golfs von Arta die Flotte der Heiligen Allianz, bestehend aus dem Papst, dem Kaiser und Venedig, die 95 Schiffe sowie über 2500 Kanonen besaß und fast 60000 Mann stark war. Die Niederlage war offenbar nicht zuletzt durch den mangelnden Einsatz des Kommandanten der christlichen Flotte, des Genuesen Andrea Doria, verschuldet, hätte doch ein Sieg der Christen vor allem der Serenissima genutzt. Die Niederlage von Prevesa bildete denn auch den Auftakt für das Ende der venezianischen Vorherrschaft in Morea. Der alte Gritti starb am Ende dieses denkwürdigen Jahres 1538 mit der bitteren Genugtuung, seinen Gegnern ihre unbedachte Kriegstreiberei zu Recht zum Vorwurf machen zu können. Die Allianz der christlichen Mächte löste sich auf wie Schnee, der in der Sonne schmilzt. Wenige Jahre später unterzeichnete die Serenissima mit der Pforte einen Separatfrieden, der Venedig zu hohen Reparationszahlungen und zur Abtretung seiner letzten Besitzungen auf dem griechischen Festland verpflichtete, darunter Nauplia und Monemvasia. Im Jahr 1541 holte der Kaiser mit einem Angriff auf Algier, die Festung Khair ad-Dins, zum Gegenschlag aus, doch die Offensive endete – nicht zuletzt wegen eines heftigen Sturms – mit einem neuerlichen Fiasko. Der Korsar und Großadmiral des Sultans unternahm daraufhin gewaltsame Raubzüge, mit denen er die okzitanische, tyrrhenische und ionische Küste heimsuchte. Damit trat er von der Bühne des politischen Geschehens ab: Er starb im Jahr 1546. Die türkische Flotte verfügte jedoch über weitere tüchtige Admiräle, die im allgemeinen islamisierte Christen waren: Zu ihnen gehörte etwa der Kroate Piyale Pascha oder der Kalabrese Luca (oder Giovanni) Galieni, der 1520 geboren und im Alter von sechzehn Jahren von Barbaresken geraubt wurde.
Er nahm den Namen Uludsch Ali an und ist in Italien unter dem Spottnamen «Occhiali» bekannt. Mit dem Tod von Khair ad-Din aber erlosch ein Mythos. Karl V nützte dies aus und unternahm im Juni 1550 eine Expedition gegen das tunesische al-Mahdiya, den Hauptstützpunkt von Barbarossas Nachfolger Turgud Ali, den man im Westen unter dem Namen «Dragut» kennt. Die Stadt wurde am 8. September, dem Fest Maria Geburt, erobert, Dragut jedoch gelang die Flucht. Die Bedrohung durch die Raubschiffe der Barbaresken versetzte auch Papst Julius III. sowie die Kirchenmänner in Unruhe, die sich in Trient zum Konzil versammelt hatten. Im Jahr 1553 drohte der Papst dem Nachfolger Franz’ I. König Heinrich II. mit einem Kreuzzug, falls er weiterhin die Türken und die Protestanten unterstützte. An der nordafrikanischen Küste hatte sich unterdessen die politische Situation erneut verändert: Im August 1551 hatten die Johanniter die Stadt Tripolis räumen müssen, die der Sultan Dragut übergab. Die Christenheit war verzagt und müde. Papst Paul IV, von den Habsburgern bedrängt, war offenbar sogar bereit, einer Art mündlichem Waffenstillstand mit der Hohen Pforte zuzustimmen. Er soll den Türken ein Geheimbündnis gegen Spanien angeboten haben. Der Korsarenkrieg im Mittelmeer, an dem alle Seiten beteiligt waren, wütete immer weiter. Aber auch ei rey prudente Philipp II. Nachfolger seines Vaters auf dem spanischen Thron, schien zu glauben, die Türken befänden sich in weiter Ferne und seien weniger bedrohlich als die Ketzer und die Aufständischen im eigenen Land. Die Schauplätze der Auseinandersetzungen wechselten zwischen Mittelmeer und Balkan, und bisweilen überlappten sie sich. Zwischen 1560 und 1565 erlitten die christlichen Seestreitkräfte vor dem Hafen von Dscherba eine empfindliche Niederlage. Gleichzeitig scheiterte der osmanische Angriff auf
Malta, das die Johanniter tapfer verteidigten. Doch die Türken eroberten die Insel Chios und die ungarische Festung Sziget. Im Jahr 1566 starb der große Sultan Süleyman. Der Westen atmete erleichtert auf, und viele machten aus ihrer Freude keinen Hehl. Doch in den Jubel mischte sich auch Trauer. Denn einer der politischen Hauptakteure des 16. Jahrhunderts war tot, ein Staatsmann und Herrscher, von dem man auch im Westen fasziniert gewesen war: Sein Name war in aller Munde, die Pracht seiner Feste und der Luxus seiner Hofhaltung hatte Nachahmung gefunden, er wurde bewundert und mehrfach porträtiert. Tizian malte ihn dreimal, gestützt auf Abbildungen, die man ihm zur Verfügung stellte, und Paolo Giovio pries ihn als gottesfürchtigen und großmütigen Herrscher. Dank Süleyman und seinem Mythos im Westen, der von Montaigne, Bodin und Charron weiterverbreitet wurde, trat neben das Bild des osmanischen Staatswesens als einer erbittert kriegführenden Macht, grausam in seinen Sitten und Gebräuchen, allmählich die Vorstellung einer gerechten, geordneten, strengen und unerbittlichen Herrschaft. Die zahlreichen französischen Orientreisenden des 16. Jahrhunderts sparten nicht mit Lob für den «Großtürken», der sein Volk in Frieden und Gerechtigkeit regierte. Der «türkische Frieden», den er seinem Reich bescherte, ist eine der pax romana nachempfundene ehrenvolle Bezeichnung. Doch auch die tyrannischen und brutalen Züge des Herrschers wurden immer wieder hervorgehoben. Die imponierende osmanische Kriegsmaschinerie stand jedoch keineswegs still. Mit dem Frieden von Adrianopel im Jahr 1568 konsolidierte Selim II. (1566-1574) – wenn auch nur vorläufig – seine Eroberungen im Balkan- und Donauraum und startete sodann an mehreren Flanken im Mittelmeer neue Angriffe. Innerhalb weniger Jahre verloren die Christen Tunis (1569 von Uludsch Ali besetzt, der nach Draguts Tod
Gouverneur von Algier geworden war) und Zypern, das zwischen Juli 1570 und August 1571 nach der Kapitulation der venezianischen Festung Famagusta von den Osmanen erobert wurde. Das weiterhin bestehende Bündnis mit den Franzosen erleichterte den Türken ihre Angriffe. Im Dienste des Sultans entfalteten sich inzwischen die politischen und diplomatischen Aktivitäten eines genialen Mannes: Giuseppe Nasi war eine angesehene Persönlichkeit des spanischen Judentums, das in Istanbul und in anderen Städten des osmanischen Reiches Aufnahme gefunden hatte, und er war ein Freund Selims II. Während der Großwesir Sokollu Mehmed sich für eine Fortsetzung des Kriegs gegen Spanien um die Kontrolle Nordafrikas und eine Wiederaufnahme der Kämpfe um die Eroberung Ungarns einsetzte, plädierte Nasi für einen Krieg gegen Venedig. Nachdem ihn der türkische Herrscher im Jahr 1566 zum Herzog von Naxos und anderer Inseln in der Ägäis gemacht hatte, verstärkte er sein Engagement gegen Venedig. In der Gegend um Tiberias baute er eine jüdische Kolonie auf und lud die aus Italien vertriebenen Juden ein, sich im Heiligen Land niederzulassen. Folgte der Sultan in seiner Nordafrikapolitik seinem Wesir, so schlug er doch auch die Ratschläge seines jüdischen Freundes nicht in den Wind. Am 25. März 1570 erreichten Venedig die türkischen Forderungen nach der Übergabe Zyperns. Die Serenissima, die es nach Prevesa vermieden hatte, in eine antitürkische Allianz mit Spanien einzutreten, um nicht in die Auseinandersetzungen um Nordafrika verwickelt zu werden, hatte jetzt keine Wahl: Venedig mußte sich an den einzigen Herrscher wenden, der in der Lage war, die Osmanen aufzuhalten: Philipp II. Das christliche Spanien, das durch die Landung maghrebinischer Seestreitkräfte in Andalusien und zwischen 1565 und 1570 von einem Aufstand der moriscos in
dieser Region bedrängt wurde, reagierte begeistert. Zypern entging seinem Schicksal nicht: Am 9. September 1570 fiel Nikosia, am 5. August 1571 Famagusta. Vier Tage später landete der Stiefbruder des rey prudente, Juan d’Austria, der Sieger gegen die andalusischen moriscos, in Neapel. Kaum vier Wochen später stach eine Flotte aus Spaniern, Venezianern und Papstanhängern von Messina aus in See. Über Zypern gelangten Nachrichten in den Westen, die einen Effekt hatten, den sich die Türken keinesfalls erwarteten. Ihre Strategie war es, durch ihre Grausamkeit gezielt Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die Kunde von den Qualen des venezianischen Kommandanten von Famagusta, Marcantonio Bragadin, der seine Pein mit Gleichmut erduldete, verbreitete sich wie ein Lauffeuer und führte dazu, daß sich Spanien und Venedig in einem Bündnis zusammenschlossen – was der tüchtige Großwesir Sokollu Mehmed um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Am 17. Oktober 1571 geschah im Golf von Patras etwas, das die katholische und protestantische Christenheit einmütig (im Augenblick jedenfalls) als ein Wunder ansah. Der Sieg von Lepanto gegen die gefürchtete Kriegsflotte Uludsch Alis war in der Tat ein unerhörtes Ereignis: Die Liga verfügte über nur 208 Galeeren und 6 Galeonen, denen 230 türkische Galeeren gegenüberstanden. Davon wurden 80 versenkt und 130 erbeutet, und nur wenige konnten der Umzingelung entkommen. Nach diesem glorreichen Sieg wetteiferten christliche Dichter und Autoren in der Verherrlichung dieses Triumphs in Hymnen, Lobdichtungen und Festschriften. Dennoch stand dieser Sieg auf sehr wackeligen Beinen. Kaiser Maximilian II. schien recht zu behalten: Trotz der «Familienbande», die ihn mit den spanischen Habsburgern verknüpften, hatte er eine Kriegsbeteiligung abgelehnt. Seinen
vertraglich zugesicherten Versprechungen treu, leistete er, wie schon sein Vater Ferdinand I. den Türken hohe Tributzahlungen. Der Kaiser verzichtete mit wohlkalkulierter Entschiedenheit darauf, jetzt, da der Sultan offensichtlich in Schwierigkeiten war, seine politische Strategie zu ändern. Es schien ihm eines christlichen Fürsten unwürdig, das einmal gegebene Wort zu brechen, und sei es einem Ungläubigen gegenüber. Durch den türkischen Druck war er im übrigen gezwungen, die gegenüber den Protestanten gemachten Zugeständnisse einzuhalten und zu erweitern. Er wußte, daß er es sich nicht erlauben konnte, von dieser Seite aus unter Druck zu geraten, insbesondere nicht zu einem Zeitpunkt, da die Türken fest in Ungarn standen. Wie man in Deutschland sagte: «Der Türke ist der Lutheranischen Glück.» Es wurde – vielleicht mit Übertreibung – behauptet, ohne die Türken wäre den Reformatoren des 16. Jahrhunderts das gleiche Ende beschieden gewesen wie den Katharern im 13. Jahrhundert. Grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verbündeten verhinderten, daß der Seesieg bei Lepanto in vollem Maße ausgeschöpft wurde. Am 10. Februar 1572 war die Heilige Allianz erneuert worden. Wenige Tage später sandte Pius V. an alle Gläubigen ein Rundschreiben, in dem er die neue Phase der Türkenabwehr als eine Erneuerung der Kreuzzüge darzustellen suchte. Doch der Sultan betrieb inzwischen mit unglaublicher Geschwindigkeit den Wiederaufbau seiner Flotte. Juan d’Austria hatte nicht, wie die in Morea kämpfenden Venezianer gehofft hatten, die osmanische Flotte in der Adria angegriffen und versucht, Zypern zurückzuerobern, sondern im Jahr 1573 Tunis zurückerobert und Biserta besetzt. Die Heilige Allianz hatte sich aufgelöst. Erschöpft und verärgert schlossen die Venezianer daraufhin einen Separatfrieden mit Selim und brachen damit die Abmachung mit Spanien. Venedig verlor
jetzt endgültig die Herrschaft über Zypern und mußte Reparationszahlungen in Höhe von 300000 Dukaten leisten. Dies erlaubte dem Sultan, seine Vorstöße in Nordafrika zu forcieren. Ohne den Druck durch die Venezianer konnten die Türken jetzt die Spanier aus Tunis und Biserta erneut vertreiben. Der nur flüchtige Sieg von Lepanto hatte jedoch ganz andere, weiterreichende Folgen. Die Schlacht fand in einem Klima endzeitlicher Prophezeiungen statt, unter dem Einfluß des millenaristischen Gedankenguts eines Joachim von Fiore. Durch den Sieg wurde diese Stimmung weiter angeheizt: «Und ein großes Zeichen erschien am Himmel: eine Frau, bekleidet mit der Sonne, der Mond war unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen» (Offenbarung des Johannes 12,1). Die «Frau» aus der Offenbarung des Johannes gab bekanntlich das ikonographisch-exegetische Urbild ab für die Darstellung der Jungfrau Maria. Daß die Frau in der Offenbarung die Mondsichel unter ihren Füßen zertritt, deutete man zumindest seit dem 16. Jahrhundert antiislamisch. Im übrigen verweist dieses Bild der auf der Mondsichel stehenden Frau auf eine Vielzahl von Göttinnen im Zeichen der Nacht und des Mondes: auf Artemis-Diana, Isis sowie die Muttergöttinnen kleinasiatischen und semitischen Ursprungs. Die Jungfrau steht auf der Mondsichel, dem traditionellen Symbol nicht des Islam, sondern des Osmanischen Reiches. Nicht zufällig legte die Jungfrau vom Rosenkranz für den großen Sieg bei Lepanto Fürsprache ein. Und der 7. Oktober, der Tag des Seesiegs von 1571, wurde von Papst Pius V zum Fest der siegreichen Muttergottes erklärt und von Gregor XIII. zum Rosenkranzfest bestimmt. Tragweite und Bedeutung der Seeschlacht von Lepanto sollen nicht geschmälert werden: Die militärischen Folgen waren beachtlich, die symbolische Bedeutung gewaltig. Tatsache
allerdings bleibt, daß die Türken Zypern behalten konnten und die Heilige Allianz, mit so viel Begeisterung geschlossen, um den Osmanen entgegenzutreten, nach dem Ende des letztlich folgenlosen Kriegs zerfiel. In der Partie gab es nach wie vor weder Sieger noch Besiegte. In Europa wie im Osmanischen Reich aber hatte man den Eindruck, der Sultan, ob siegreich in den einzelnen Schlachten oder nicht, sei stets in der Offensive, der christliche Gegner dagegen eingeschüchtert und defensiv, allenfalls in der Lage, Angriffe abzuwehren. Der Herrscher vom Bosporus war weiterhin der Herr des Schreckens. Dennoch, die Christen blieben stolz auf ihre Siege. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es so gut wie keine Waffenrüstung, zu der nicht – gut sichtbar – vom Halbmond gekrönte Flaggen und Standarten sowie jene Roßschweife gehörten, die man den Türken abgenommen hatte. Und kein Monument eines Herrschers oder Generals jener Zeit verzichtete auf die Darstellung von Gefangenen mit kahlrasiertem Schädel, langem Haarzopf und gezwirbeltem Schnurrbart, die traurig und in Ketten dem Triumphwagen des Siegers folgen oder angekettet zu seinen Füßen kauern. Zwar war die Kreuzzugsfront nicht kohärent und einheitlich; dafür erstreckte sie sich über weitflächige Gebiete. Man sieht die Bedeutung der militärischen Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam (nicht nur) jener Zeit in einem falschen Licht, wenn man nicht stets den gesamten Raum von Gibraltar und vom Maghreb bis zum Roten Meer, vom Schwarzen und Kaspischen Meer bis zum Indischen Ozean vor Augen hat. So hatte etwa Sultan Selim II. die Revolte der andalusischen moriscos zwischen 1568 und 1570 massiv unterstützt und ihnen geraten, sich mit den Lutheranern zusammenzuschließen. Er hatte auch die Möglichkeiten für den Bau eines Kanals sondiert, der Wolga und Don miteinander verband. Hätte die türkische Flotte vom
Schwarzen Meer, also vom Mittelmeer aus, ins Kaspische Meer gelangen können, wären auch die nördlichen Grenzen des rivalisierenden persischen Reiches bedroht gewesen – und die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Die Partie nahm einen zunehmend «globalen» Charakter an. Das wußte Pius V nur zu gut. Er hielt stets ein wachsames Auge auf Portugal gerichtet und forderte die Mönchsritterorden des Landes auf, an der nordafrikanischen Küste in Stellung zu gehen. Keiner, so verfügte er, dürfe diesen Orden angehören, der nicht mindestens drei Jahre gekämpft hatte. Spanien, das nach dem Krieg um Zypern entschieden keine Absichten mehr hatte, sich im östlichen Mittelmeerraum zu engagieren, war bereit, die Entwicklung in Afrika genau zu kontrollieren. Daher wurde im Jahr 1573 ein neuer Feldzug zur Eroberung von Tunis unternommen, der aber letztlich erfolglos blieb. Denn knapp ein Jahr später, im Juli 1574, eroberten türkische Seestreitkräfte mit zweihundertdreißig Galeeren und 40000 Soldaten die Stadt zurück. Diesmal endgültig. Sebastian, der Neffe Philipps II. von Spanien und seit 1557 König von Portugal, verfolgte diese Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit. Geboren 1554 und bereits mit drei Jahren Souverän, regierte er viele Jahre. Sebastian war eine Persönlichkeit voller Widersprüche; er verschwendete die Güter der Krone und hegte hochfliegende Träume von Portugals strahlender Größe. Von den Jesuiten streng erzogen, nahm er sich den Infanten Heinrich den Seefahrer zum Vorbild, der hundert Jahre vorher die portugiesische Seemacht begründet hatte. Heinrichs Traum war es gewesen, das Christentum nach Indien zu bringen, Sebastians Traum war es, den christlichen Glauben in Afrika, über den großen Nigerbogen und das märchenhafte Timbuktu hinaus zu verbreiten. Er wollte die Gold- und Elfenbeinrouten unter seine
Kontrolle bringen und dem Christentum in einem Kontinent zum Sieg verhelfen, der unendlich viel größer war, als es sich die antiken Geographen je vorgestellt hatten. Doch dazu war die Herrschaft über Marokko unabdingbar, ähnlich wie die Spanier immer wieder versuchten, das Gebiet des heutigen Algerien und Tunesien in ihre Gewalt zu bringen, indem sie es den Osmanen entrissen und den Aktivitäten der seeräuberischen «Barbaresken» Einhalt geboten. Im Juni 1578 stach Sebastian von Lissabon aus mit einer Streitmacht aus 10 000 Portugiesen und 1600 Spaniern in See, um Marokko zu erobern. Hinzu kamen rund 5000 Freiwillige und Söldner aller möglichen Nationalitäten: Deutsche, Italiener und Marokkaner – allesamt Gefolgsleute eines Sultans, den Sebastian anstelle des den Türken genehmen Herrschers auf den maghrebinischen Thron bringen wollte. Die Kreuzfahrer gingen in der Nähe von Tanger an Land und drangen von dort aus ins Landesinnere vor. Die Schlacht fand am 4. August in al-Kasr al-Kabir (im Westen Alcazar genannt) statt. Diese Schlacht «der drei Könige» (aufgrund der Beteiligung von drei Herrschern: Sebastians und der beiden rivalisierenden Sultane) endete mit der vernichtenden Niederlage Sebastians. Keiner der drei Herrscher überlebte. Auch Sir Thomas Stukeley kam ums Leben, ein katholischer Engländer, der ein päpstliches Kontingent befehligte, das ursprünglich nach Irland hatte ziehen sollen und erst im letzten Moment nach Marokko «umdirigiert» worden war – ein Detail, das über die Komplexität der Kreuzzugsidee beredt Aufschluß gibt. Von Sebastian blieben keine Spuren. Der Sand und die Steine Marokkos gaben seinen Leichnam nicht zurück. Dafür verbreitete sich eine Prophezeiung, die Fernando Pessoa später in seinen Versen aufgriff: Demnach werde eines Tages der junge König, der jetzt den Namen O Encoberto («der Verhüllte», «der Verborgene») trug, vom Meer zurückkehren
und aus dem Dunst des Atlantischen Ozeans aufsteigen. Mit ihm würde das «Fünfte Imperium» anbrechen, das nach dem griechischen, römischen, christlichen und englischen Imperium endlich die Hegemonie Portugals besiegeln werde. Damit werde sich die wahre mystische Bestimmung Europas erfüllen.
Korsaren, Renegaten und Gefangene 1580, zwei Jahre nach dem Tod Don Sebastians, im gleichen Jahr, als Philipp II. Portugal annektierte, verfaßte ein ähnlich romantisch-kämpferischer Geist wie Stukeley, der Hugenotte François de la Noue, seine Discours, ein Hauptwerk der politisch-militärischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Inzwischen saß er in einem Gefängnis in Limburg, auf Betreiben der Spanier, weil er in Flandern die Calvinisten verteidigt hatte. In einem neuen Kreuzzug, entledigt von der Hypothek päpstlicher Hegemonie, verstanden als kollektives Unternehmen zur Befreiung Europas vom türkischen Alptraum, sah er für die Christenheit den Weg zur Einheit. Unterdessen suchten die europäischen Herrscher nach geeigneten Mitteln und Wegen, den Sultan im östlichen Teil seines Reiches zu schwächen. Eine Schar von Reisenden, Forschern, Kaufleuten und Diplomaten besuchte im 16. und 17. Jahrhundert Persien und bemühte sich, den safawidischen Schah von Persien für einen gemeinsamen «Kreuzzug» gegen den Herrscher von Istanbul zu gewinnen. Und die Perser machten den Türken in der Tat schwer zu schaffen. Unterdessen kämpfte Zar Iwan IV. von Rußland entschlossen gegen die Tataren der Goldenen Horde, Vasallen der Hohen Pforte. Er eroberte Astrachan, das Einfallstor nach Zentralasien. Hätten sich Russen und Perser im Raum zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee miteinander
verbündet, wären die Türken im Osten an eine neue und kompakte Festlandsperre gestoßen. Daher bemühte sich der Sultan um freundschaftliche Bündnisse und Militärallianzen mit den türkisch-mongolischen Herrschern in den riesigen Regionen zwischen Transoxanien, dem Tienshan und dem Karakorum. Doch richteten auch die Europäer ihr Augenmerk auf Zentralasien. Angefangen mit den florentinischen Kaufleuten Giovan Battista und Girolamo Vecchietti bis zum römischen Abenteurer und Polyhistor Pietro della Valle hing man in Europa leidenschaftlich dem im 13. Jahrhundert entstandenen Traum nach, ein zentralasiatischer Verbündeter könne den Islam im Mittelmeerraum gleichsam im Zangengriff packen und damit das christliche Europa von seinem Alptraum befreien. Aber die Türken waren nicht nur und nicht für alle ein Alptraum. In Frankreich, in England und im protestantischen Deutschland sahen viele, wenn auch meist insgeheim, im Sultan einen potentiellen Verbündeten, einen «Feind des eigenen Feindes». Besonders an den Küsten des «flüssigen Kontinents» Mittelmeer betrachtete man die Bedrohung durch die Türken und ihre Vasallen und Bundesgenossen, die seeräuberischen Barbaresken, als das kleinere Übel, wenn nicht sogar als eine Chance. Die Armen, Schwachen und Unterdrückten, innerhalb des strengen politischen und institutionellen Systems der christlichen Welt mittellos und ohne Chancen, blickten voll Hoffnung und Neid auf die Welt der Ungläubigen, wo man als kalabresischer Fischer oder albanischer Bergbewohner in den Rang eines Wesirs oder Admirals aufsteigen konnte. Ketzer, rachedurstige Verlierer, Träumer und Enterbte hofften sogar auf einen Sieg der Ungläubigen in ihrer eigenen undankbaren und ungerechten christlichen Heimat. Wer in Europa als religiöser Freigeist verdächtig war, endete auf dem Scheiterhaufen. Aber der
grausame Türke, der seine Gegner pfählte und häutete, gewährte Freiheit des Glaubens, wenn man sich nur unterwarf und bereit war, eine geringe Steuer zu zahlen. Der Muselman, der auf den Schiffen Maltas oder Santo Stefanos während eines christlichen Korsarenangriffs auf die Küsten des dar al-Islam gefangengenommen wurde, endete als Ruderer auf einer Galeere oder in den Verliesen von Livorno oder Toulon. Der Christ dagegen, der von einem mit dem Halbmond geschmückten Schiff aufgegriffen wurde, konnte, wenn er nur jung und hübsch genug und tatkräftig war oder wenn er das Glück hatte, auf einen barmherzigen und einflußreichen Herrn zu treffen, eine steile Karriere machen und sogar bis zur Hohen Pforte und in den Dienst des Großen Herrn gelangen. Die Gefangennahme durch die Muslime war keineswegs selten, wenn man an der Küste lebte, als Kaufmann unterwegs war, sich auf Pilgerreise begab oder das Kreuzzugsgelübde einlöste. Im Christentum waren eigens geistliche Orden entstanden, die Trinitarier oder die Mercedarier zum Beispiel, die sich um den Loskauf der in muslimische Gefangenschaft geratenen Christen bemühten. Im Mittelmeerraum entstanden Geschichten von Knaben und Mädchen, von Männern und Frauen, die von den Türken oder den Barbaresken gefangengenommen und verschleppt wurden. Viele dieser Erzählungen sind uns bekannt, doch ebensoviele sind für immer verschollen. Es handelte sich oft genug um tragische Schicksale, manchmal aber auch um Abenteuer mit glücklichem Ausgang. Zuweilen wurde der romanhafte Ton von der Wirklichkeit eingedunkelt, gaben schriftliche Erinnerungen oder romanhafte Tagebücher das Erlebte «falsch» wieder; dennoch waren sie von großer Authentizität. Wie im Fall des Arztes Andres Laguna aus Segovia, bekannt für seine naturwissenschaftlichen Arbeiten. Vermutlich ist er der Verfasser der Schrift Viaje de Turquia von 1557, in der
(pseudoautobiographisch) die Erlebnisse von Pedro de Urdimalas erzählt werden. Dieser wurde im August 1552 auf hoher See vor der Insel Ponza gefangengenommen, war Galeerensklave und wurde dann als Sklave nach Konstantinopel gebracht, ehe es ihm gelang, sich zu befreien. Dank Büchern, die er eifrig studierte, konnte er sich als Arzt ausgeben und heilte seinen Herrn, den Pascha, später sogar die Sultanin. Konnte ein Roman als ein indirektes Zeugnis von Abenteuern dienen, die in Wirklichkeit weit erstaunlicher waren, als es eine literarische Erfindung je sein kann, so hatte doch zuweilen die literarische Schilderung einen realen Kern: Der berühmteste Sklave der Barbaresken ist wohl Miguel de Cervantes, der im Jahr 1575 auf einer Reise von Neapel nach Spanien von einem Raubschiff der Barbaresken gefangengenommen und in Ketten nach Algier verschleppt wurde. Nach mehreren erfolglosen Fluchtversuchen kam er 1580 gegen ein Lösegeld frei. In den Kapiteln 39 – 41 seines Don Quijotte, der «Novelle» des cautivo, hinterließ er uns ein eindrucksvolles Zeugnis seiner Erfahrungen. Der cautivo Miguel de Cervantes mußte sich später gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, er habe sich mit den Muslimen so weit eingelassen, daß er sogar zum Islam übergetreten wäre. Doch der ungewöhnlichste Aspekt seiner Abenteuer war seine Beziehung zu Hasan Pascha, dem Bey von Algier, der ihn wegen seiner Fluchtversuche nicht nur nicht bestraft, sondern sogar seine Nähe gesucht hatte. Zwischen dem Status eines christlichen Gefangenen und dem eines Renegaten war die Grenze oft fließend. Niemand „wird nach vierhundert Jahren je den Schleier des Schweigens lüften, der uns das Geheimnis der Sympathie zwischen Miguel und Hasan verhüllt. Wie auch immer, Cervantes besaß umfassendere Kenntnisse über die muslimische Welt als die
Gebildeteren unter seinen Landsleuten, deren Horizont zumeist auf al-Andalus und den Maghreb beschränkt war. Die belesenen Iberer seiner Zeit waren jedoch auch mit der Geschichte und Kultur der Osmanen vertraut. Das zeigt das Theaterstück El otomano famoso, das Lope de Vega Ende des 16. oder Anfang des 17. Jahrhunderts Osman gewidmet hat, dem Begründer der nach ihm benannten osmanischen Dynastie. Der mit Cervantes befreundete Bey war ein dalmatinischer Renegat. Und die Gouverneure von Algier waren zumeist wie er «Türken geworden», angefangen von Barbarossa über den Sarden Hasan Aga und Hasan «den Korsen» bis zum Kalabresen Uludsch Ali. Viele Renegaten hatten es zu rais der Flotte und said gebracht, waren Gouverneure im Landesinnern. In Algier machten Genuesen und Venezianer die steilste Karriere; doch auch Kalabresen, Sizilianer, Neapolitaner, Albaner, Griechen, Franzosen und Juden brachten es zu etwas. Berühmt ist der Ligurer Osta Morato, der im Jahr 1637 Bey von Tunis wurde und die Dynastie der Mouraditen begründete, die sich bis Anfang des 17. Jahrhunderts an der Macht hielt. Oder Ali «Piccinino» von venezianischer Herkunft, der zwischen 1638 und 1645 Algier praktisch regierte. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sank der Stern der aus dem Mittelmeerraum stammenden Renegaten. An ihre Stelle traten andere islamisierte Christen, vor allem Engländer und Flamen – «Ponentiner», «Westler», genannt. Mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches verschwand zunehmend auch die Bedeutung der Renegaten. Doch es gab weiterhin bemerkenswerte Einzelfälle, etwa den französischen Adeligen Graf Claude-Alexandre de Bonneval, der etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hat. Geboren 1675, stammte er aus einer weitverzweigten, mit Fenelon verwandten Familie. Er war Oberst des französischen Heeres, desertierte im Jahr 1706,
wurde in Frankreich zum Tod verurteilt und schlug sich auf die Seite der Kaiserlichen, wo er in den Rang eines Generalleutnants aufstieg. Lange Zeit war er unter Eugen von Savoyen tätig, bevor er sich auch mit ihm überwarf. Des Hochverrats angeklagt, wurde er auf dem Spielberg inhaftiert und floh. Er kehrte der christlichen Welt den Rücken und fand Aufnahme in Istanbul, wo er an die Spitze der Truppen des Sultans gestellt wurde und unter dem Namen Ahmad Bonneval Pascha Militärreformen unter Sultan Mahmud I. durchführte. Dank der Freundschaft mit dem Marquis de Villeneuve, Botschafter Ludwigs XV in Istanbul, kam es zur Wiederannäherung an seine Heimat. Manche dieser Abenteuergeschichten im Mittelmeer sind es wert, kurz skizziert zu werden. Orazio Paterno Castello etwa aus der katanischen Familie der Marquis von San Giuliano floh im Jahr 1783 als Mörder seiner Frau und wurde von Korsaren aus Tripolis aufgegriffen. Er trat zum Islam über, nahm den Namen Hamad an, wurde «Dragoman» (Übersetzer) und erzählte seine Erlebnisse Miss Tully, der Schwester des englischen Konsuls der afrikanischen Stadt. Ein anderer sizilianischer Aristokrat, der Fürst Giovan Luigi Moncada, wurde während einer Schiffsreise von Palermo nach Neapel im Juli 1797 von Tunesiern aufgegriffen (die womöglich mit dem Schiffskapitän unter einer Decke steckten). Erst nach Vereinbarung einer beträchtlichen Summe Lösegeld wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Doch in Sizilien angekommen, hielt er sein Versprechen nicht, und es kam zu einem Rechtsstreit: Der Bey von Tunis wandte sich an das oberste Gericht, doch das Verfahren zog sich über mehrere Jahrzehnte hin. Nach einer mehr oder weniger langen Zeit kehrten viele Renegaten (beschnitten, wenn sie sich dem Ritus nicht zu entziehen vermocht hatten) in ihre Heimat zurück und
begehrten reumütig die Wiederaufnahme in die Kirche. Schwer zu sagen, wie ernst eine solche Konversion gemeint war und wie ernst und aufrichtig der Wunsch nach einer Rückkehr zum alten Glauben. Über vielen dieser Geschichten, die uns bis heute bewahrt sind, liegt das Rätsel jahrhundertelangen Schweigens, andere sind für immer verschollen. Der Korsarenkrieg, Grund für das Drängen der Renegaten an die Spitze der osmanischen Gesellschaft und für den Automatismus von Gefangennahme und Sklaverei auf islamischer wie europäischer Seite, verlor ab dem 17. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Doch noch hundert Jahre später herrschten in Sizilien und Sardinien Angst und Schrecken. Im Jahr 1798 erbeuteten Tunesier bei einem Raubzug auf die Insel San Pietro vor der sardischen Küste tausend Gefangene. Ab 1815/16 verschärften sich die seeräuberischen Aktivitäten der Muslime in Süditalien, in der Toskana und auf den beiden großen Inseln im Tyrrhenischen Meer wieder für ein paar Jahre. Von Barbaresken gekidnappt wurde auch der Barnabitenpater Felice Caronni. Im Juni 1804 wurde er nach Tunis verschleppt, konnte aber wenige Monate später wieder nach Hause zurückkehren. Doch die Angst vor einer Entführung in das Land der Ungläubigen war im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreitet. Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail und Gioacchino Rossinis Italienerin in Algier wären nie entstanden, hätte sich die Lage christlicher Gefangener nicht inzwischen deutlich gebessert. Diese Opern wären aber auch nicht geschrieben worden, hätte die Gefahr, entführt zu werden, nicht über einen so langen Zeitraum die christliche Welt als Alptraum beherrscht. Mit den türkischen und barbaresken Seeräuberaktivitäten schwächten sich auch die freibeuterischen und maritimen Aktivitäten der Johanniter von Malta und San Stefano sowie der christlichen Korsaren ab, die im Mittelmeer auf eigene
Faust unterwegs waren und insbesondere im Zeitraum zwischen 1580 und 1610 ihr Unwesen trieben. Denn nicht nur mußte bis dahin jeder muslimische Angriff mit einem Gegenschlag beantwortet werden; man benötigte auch Sklaven als Arbeitskräfte für die Ruderschiffe und die Küstenbefestigungen. In der Levante wie auch im Maghreb wurden Gefangene gemacht. Berühmt ist die Plünderung von Hammamet im August 1602, wo die Galeeren der Ritter von San Stefano zwischen vierhundert und siebenhundert Personen verschleppten; oder die Plünderung von Bona im September 1607, wo rund tausendfünfhundert Sklaven gemacht wurden – ein Ereignis, das Ende des Jahrhunderts in einer unrühmlichen Dichtung von Vicenzo Piazza, Bona espugnata, gefeiert wurde. Noch zwischen 1708 und 1715 unternahmen christliche Korsaren aus Livorno, die durch ein «Korsarenpatent» des Großherzogs der Toskana geschützt waren, an der palästinensischen Küste Raubzüge und bereiteten den französischen Behörden Kopfzerbrechen. Der Sultan betrachtete die Franzosen als «Schutzmacht» der Europäer in dieser Region und machte sie daher für derartige Vorkommnisse verantwortlich. Die Raubschiffe der Korsaren tarnten sich nicht selten als harmlose Passagierschiffe für Jerusalempilger. Die Christen jener Region, nicht selten aus Rache von den aufgebrachten Muslimen angegriffen, waren die Sündenböcke dieses «Übermuts». Das Schicksal muslimischer Gefangener in den christlichen Ländern war im allgemeinen weniger abwechslungsreich und glücklich als das der Christen in muslimischen Ländern. Es gab keine nennenswerte Zahl von «Renegaten», die vom Islam zum Christentum übertraten: sei es, weil sich der islamische Glaube als fester erwies als der christliche, sei es, weil der Druck zu konvertieren weniger groß war (die Missionierung einmal außer acht gelassen). Ein Glaubenswechsel wäre auch
völlig zweckwidrig gewesen, denn ein Sklave, der Christ wurde, mußte freigelassen werden. Die wenigen Fälle der Konversion wurden als spektakuläres Ereignis gefeiert, und das bestätigt erneut die Seltenheit solcher Bekehrungen. Andererseits hielt man Sklaven gewissermaßen auf Reserve, um sie im Bedarfsfall gegen die eigenen Gefangenen auszutauschen. Bereits im Jahr 1543 hatte Paul III. in Rom ein Kolleg für die Neophyten eingerichtet, in dem Christen unterkamen, die ihrem jüdischen oder muslimischen Glauben abgeschworen hatten; ihre Zahl war allerdings nie besonders hoch. Christliche Quellen, die durch muslimische Zeugnisse jedoch nur selten bestätigt werden, sprechen dagegen von der heimlichen Sympathie vieler Muslime für das Christentum. Die Tatsache, daß im dar al-Islam der Abfall vom Glauben mit dem Tod bestraft wurde, sorgte dafür, daß Konversionen im allgemeinen geheimgehalten wurden. Trotz allem kam es auf dem «flüssigen Kontinent» des Mittelmeers auch zu friedlichem und kulturellem Austausch. Als Grenzgebiet war der mediterrane Raum zugleich ein Ort der Begegnung und in gewissem Sinn der Verschmelzung. Zahlreiche Wallfahrtsorte wurden von Christen wie Muslimen gleichermaßen besucht. Die beiden Kulte überschnitten und begegneten sich, ohne sich jemals miteinander zu vermischen – zum Beispiel an Stätten wie der Himmelfahrtskirche in Jerusalem, der «Milchgrotte» in Bethlehem, der Georgskirche in Lydda in Palästina, der Katharinenkirche auf dem Sinai, dem Marienwallfahrtsort Matariya bei Kairo (wo der berühmte Balsam herkam), der Kirche der Muttergottes vom Guten Rat in Skoder in Albanien und der Mariengrotte in Lampedusa. Es war das tiefe Bewußtsein des gemeinsamen abrahamitischen Ursprungs von Christentum und Islam und die tiefe Marienverehrung der Muslime, die diese Art der – niemals synkretistischen – Begegnung begünstigte.
Die Entstehung der Islamwissenschaft Der Buchdruck diente schon bald auch der Verbreitung muslimischer Kultur. Zwar wurden keine islamischen Texte gedruckt, jedenfalls nicht zu Anfang, wohl aber Schriften über den Islam, wenngleich sie ein unzureichendes, häufig diffamierendes Bild verbreiteten: Im 15. und 16. Jahrhundert verkehrte sich die alte kulturelle «Handelsbilanz» gewissermaßen in ihr Gegenteil. Bis dahin war im islamischen Raum das Christentum besser bekannt gewesen als der Islam im christlichen Raum. Doch mit dem Vorrücken der Türken nach Europa und der wachsenden Zahl europäischer Kaufleute und Reisende in den islamischen Kulturraum erwachte in Europa das diesbezügliche Interesse. Während die muslimischen Gelehrten nicht bemüht waren, ihr Wissen über das Christentum zu vertiefen, waren die Christen plötzlich neugierig und wollten ihre Kenntnisse über den Islam erweitern. Ab Anfang des 16. Jahrhunderts kann man fast schon von einem «islamwissenschaftlichen» Schrifttum sprechen, das einerseits die alten Irrtümer der mittelalterlichen Polemik in Umlauf hielt, andererseits aber die Aufmerksamkeit für ein zunehmend dominanteres Phänomen wachhielt. Im Jahr 1511 gab der Theologe Jacques Lefebvre d’Etaples eine französische Übersetzung des alten Traktats von Ricoldo da Montecroce in Druck und belebte damit Ruhm und Irrtümer über den Islam neu. Diese Schrift verfälschte, verbreitete aber auch Informationen über den Islam: Die Spreu war vom Weizen vorerst nicht zu trennen. Im 15. Jahrhundert hatte der Kartäusermönch Dionysius Rickel auf Anregung des Kardinals Nikolaus von Kues einen Traktat in Dialogform unter dem Titel Contra Alchoranum
verfaßt. Er wurde posthum, achtzig Jahre nach seiner Fertigstellung, gedruckt – im Jahr 1533, als sich Christen und Türken in der ungarischen Tiefebene bekämpften. Das Werk war Ferdinand, dem Bruder Karls V, zugeeignet, der damals König von Ungarn und Böhmen war und zwanzig Jahre später Kaiser wurde. Zehn Jahre später, im Jahr 1543, wurde in Basel (mit den berühmten Lettern des Druckers Johannes Oporinus) jene lateinische Koranübersetzung gedruckt, die Mitte des 12. Jahrhunderts, vierhundert Jahre zuvor, Robert von Ketton angefertigt hatte. Herausgeber war Theodor Buchmann, Theologe in Zürich, der in der Gelehrtenwelt unter dem schulmeisterlich-gräzisierten Namen Bibliander bekannt ist. Dem Werk mit dem langen Titel Machumetis saracenorum principis vita ac doctrina omnis, quae et Ismahelitarum lex et Alchoranum dicitur war eine von Bibliander selbst verfaßte Apologie beigegeben, eine Praemonitio Luthers sowie eine Reihe anderer Texte, unter anderem Schriften von Ricoldo da Montecroce und Nikolaus von Kues. Dieses umfangreiche Kompendium, ein authentisches Zeugnis der entstehenden Islamwissenschaft, trägt den Titel Sylloge scriptorum adversus mahomedanos und wurde in Basel zwischen 1543 und 1550 gedruckt. Nur schade, daß dieses enzyklopädische Werk nicht auch dem katholischen Raum zugänglich war. Die Injurien suo more solito des Doktor Luther gegen die Heilige Römische Kirche veranlaßten Papst Alexander VII. zum Verbot der Verbreitung dieses Werks in den Rom treuen Gebieten. Anders im protestantischen Raum. In Basel dachte man sogar über eine deutsche Übersetzung der von Bibliander zusammengestellten lateinischen Texte nach, damit ein größerer Leserkreis Einblick bekäme. Doch der einflußreiche Theologe Bonifaz Amerbach riet davon ab, die Schriften von «Gotteslästerern» und «Ketzern» zu verbreiten.
Die von Bibliander systematisierten und neu herausgegebenen mittelalterlichen Texte trugen dazu bei, auch falsche und einseitige Informationen über den Islam sowie manipulierte und mißverstandene Koranzitate in Umlauf zu bringen. Doch zugleich wuchs das Interesse am muslimischen Kulturkreis und der Bedarf an präziseren Informationen. Gründe dafür lagen in den militärischen Erfolgen Süleymans und der wachsenden Bedeutung der Märkte des Osmanischen Reiches für die europäische Wirtschaft. So räumte beispielsweise Guillaume Postel in seinem außergewöhnlichen Werk De orbis terrae concordia aus dem Jahr 1544 dem Islam ganz allgemein und dem osmanischen Kulturkreis im besonderen großen Raum ein. Von seinen Reisen in den Orient hatte Guillaume Postel zahlreiche wertvolle arabische, syrische und armenische Handschriften nach Frankreich mitgebracht. Professor am College de France und kurzzeitig auch Mitglied der Societas Jesu, aus der er allerdings bald ausgeschlossen wurde, veröffentlichte er unter anderem einen Traktat zur vergleichenden Linguistik sowie eine arabische Grammatik. Damit stellte er seine Kenntnisse in den Dienst seiner Utopie, der Gründung einer Universalkultur und Universalreligion. Postel schöpfte zwar mit vollen Händen aus den Texten Biblianders, doch stellte er gleichzeitig die bisher übliche Herangehensweise und Methodik auf den Kopf. Hatten die Polemiker die Unterschiede zwischen Christentum und Islam betont und Ähnlichkeiten und Konvergenzen verschleiert oder unterdrückt, so tat er genau das Gegenteil. Das führte ihn unweigerlich zurück zum Problem der lateinischen Übersetzungen des Koran, den er dank seiner sprachlichen Kenntnisse zur Überprüfung heranziehen konnte. Er erkannte, daß im Textverständnis zwar Fortschritte zu verzeichnen
waren, durch eine fragwürdige Exegese die gewonnenen Ergebnisse aber aufs Spiel gesetzt wurden. Es überrascht nicht, daß Postel von allen Seiten kritisiert und zensiert wurde. Der Gelehrte Henri Estienne bezeichnete ihn aufgrund seiner «Sympathien» für den Islam als monstre execrable. Die Gegenüberstellung des muslimischen Glaubens und der christlichen reformatorischen Konfessionen führte Postel letztlich zu positiven Argumenten für das Gesetz des Propheten. Andererseits erscheint seine Parallelsetzung von Islam und Protestantismus, der er seine Suche nach der universellen Einheit gegenüberstellt, äußerst widersprüchlich und gewagt. In seinem Postulat der Existenz eines calvinoturdsmus sehen einige Forscher den Rückgriff auf die Schrift De pace fidei des Nikolaus von Kues, andere die Vorwegnahme eines Denkmodells, das bis Rousseau und Kant reicht. Im Zeichen derartiger Widersprüche begann auch das Konzil in Trient, von dem man sich eine Wiederaufnahme der Kreuzzugsoffensive gegen die Osmanen erwartete. Würde das Konzil die Reformatoren scharf verurteilen oder würde es zu einer Versöhnung kommen? Trat Postel also die «Flucht nach vorn» an – in einer Situation, in der sich versöhnlichere Stimmen über den inimicus crucis noch kein Gehör verschaffen konnten? Oder waren es die Früchte der Gelehrsamkeit eines umfassend gebildeten, einsamen, verblüffenden, aber auch obsessiven Geistes? Vielleicht weder das eine noch das andere. Betrachtet man den Kontext, in dem De orbis terrae concordia entstand, gewinnt man den Eindruck, daß die Zeit für einen qualitativen Sprung in der objektiven Erkenntnis des Islam durchaus reif war. Postel setzte sich wiederholt mit dem Phänomen der Türken auseinander, beispielsweise in dem 1560 erschienenen Traktat De la Republique des Turcs.
In Spanien, wo der geistige Kampf gegen den Islam nur ein Aspekt der Unterdrückung zwangsweise zum Christentum bekehrter ehemaliger Muslime (der moriscos) war, hatte Kardinal Francisco Ximenes de Cisneros, Erzbischof von Toledo und Großinquisitor von Spanien, arabische Handschriften jeglicher Art sammeln und in einem spektakulären Autodafe auf dem Hauptplatz seiner Stadt verbrennen lassen. Derartige Maßnahmen erschienen aber offenbar nicht ausreichend, denn die Zahl der antimuslimischen Pamphlete nahm beständig zu: Ein Beispiel ist die 1540 in Sevilla erschienene Confusion eines gewissen Giovanni Andrea, der sich als einstiger muslimischer Rechtsgelehrter ausgab, unter diesem Deckmäntelchen in Wahrheit aber nur die althergebrachten Argumente der christlichen Polemik zu legitimieren versuchte. Die Beharrlichkeit, mit der diese Schmähschriften immer wieder gedruckt und verbreitet wurden, beweist jedoch nur, daß ihre Glaubwürdigkeit durch zuverlässigere Informationen zunehmend in Frage gestellt wurde. In der Serenissima, der Republik Venedig, die mehr als jedes andere Land offen war für die Begegnung mit dem türkischen Kulturkreis, erschien im Jahr 1547 die erste Koranübersetzung in italienischer Sprache. Die Vorlage für den Übersetzer war – wie sollte es anders sein – die lateinische Fassung Robert von Kettons, die allerdings stark manipuliert und gekürzt wurde. Der Übersetzer gab aber zugleich an, auch Zugriff auf das Original genommen zu haben. Der Verfasser dieser italienischen Version, Andrea Arrivabene, widmete seine Übersetzung Gabriel Puetz, Baron von Aramon, dem neuen französischen Botschafter am Sultanshof, wie sein König ein Verfechter der Bündnispolitik mit der Hohen Pforte. In seinem Widmungsbrief an Baron von Aramon maß Arrivabene sein
Werk an den gängigen historischen Kompendien über Arabien, das Leben des Propheten und den Islam. Das argumentative Rüstzeug war das übliche: Der Islam sei eine christliche Irrlehre, die sexuelle Ausschweifung erlaube und voller Widersprüche sei. Neue Mißverständnisse, neue Vorurteile! Die Vielzahl an Publikationen belegt jedoch ein Interesse, das auf lange Sicht Früchte tragen mußte. Die Feindseligkeiten der Katholiken und Protestanten – das Wetteifern um einen neuen antiosmanischen Kreuzzug und zugleich die gegenseitigen Bezichtigungen des Proislamismus – durchzogen das ganze 16. und 17. Jahrhundert. Parallel entwickelte sich eine zunehmend exakte Arabistik, Turkologie und Islamforschung, die im nachfolgenden Jahrhundert wissenschaftlich systematisiert wurde. Postel hatte mit dem 1560 in Paris erschienenen Band Histoire et consideration de Vorigine, loy et costume des Tartares, Persiens, Arabes, Turcs dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Mißverständnisse, Verwirrung und Irrtümer (die mehr oder weniger bewußt verbreitet wurden) finden sich zuhauf in den Schriften der berühmtesten Autoren, die sich ansonsten mit der Universalgeschichte beschäftigten. Zu ihnen gehören Hugo Grotius, Giovanni Botero und Cesare Baronio (Baronius). Es war außerdem gar nicht so leicht, die tief eingefleischte Tradition der Polemik einfach abzuschütteln und zu überwinden. Daher gibt es nur wenige Autoren, die der Versuchung widerstanden, die Lehre des Islam widerlegen zu wollen. Ein Beispiel für beharrliches Unverständnis und mangelnde Information ist Blaise Pascal, der sich fragte, ob Muhammad in der Heiligen Schrift angekündigt worden sei. Die Auseinandersetzung über die berühmte Prophezeiung des «kleineren Horns» im Buch Daniel war ihm offensichtlich unbekannt. Er fragte nach der Moral des Propheten und nach seiner Wundertätigkeit, obwohl er durch Postel hätte wissen
können, daß der Koran die Wundertätigkeit des Propheten entschieden ablehnt. Immer zahlreicher wurden unterdessen die wirklichen Fachleute, beispielsweise Erpenius (Thomas van Erpen), Professor für orientalische Sprachen in Leiden, der im Jahr 1613 eine arabische Grammatik veröffentlichte; Edward Pocock, Professor in Oxford und Verfasser des 1639 erschienenen Specimen historiae Arabum; der Arabist Johann Hottinger, Lehrer in Zürich und später auch in Heidelberg, der Grammatiken, Wörterbücher und Quellensammlungen herausgab; Dschibrail as-Sayuni («Gabriele Sionita»), ein Arabist in Rom; der Syrer Yusuf Simaan as-Simaani («Assemani»), Leiter der Vatikanischen Bibliotheken unter Papst Clemens XII. und Herausgeber einer Bibliotheca Orientalis; der Historiker und Philosoph Ibrahim al-Ekleni («Abraham Echellensis»), der Verfasser einer Synopsis propositorum, erschienen 1641. Entscheidende Beiträge zur Entstehung der Orientwissenschaften lieferten auch gebildete und mutige Reisende und Tagebuchschreiber wie der Römer Pietro della Valle. Es entstand auch eine orientalistische Geschichtsschreibung, die sich vorwiegend auf das Osmanische Reich konzentrierte. Ein Beispiel ist ein in Venedig 1677 erschienenes Werk von Giovanni Sagredo über die Sultane mit dem Titel Memorie istoriche de’ monarchi ottomani. Die Niederlage der Türken vor Wien im Jahr 1683 war in vielfacher Hinsicht der Beginn einer neuen Ära und das Zeichen für die endgültige Befreiung vom Alptraum des Halbmondes, der «Türkenfurcht». Jetzt konnten auch der Islam und die Geschichte des Osmanischen Reiches mit größerer Sachlichkeit studiert werden. Doch auch Rückschläge blieben nicht aus. Viele meinten, der Sieg der christlichen Waffen sei das Signal göttlichen Wohlwollens, und es entstand eine Flut
von Schriften zum Thema der Bekehrung der Ungläubigen, die jetzt, da Gott ihren Hochmut bestraft hatte, möglich schien. Zur Missionierung rief beispielsweise Tirso Gonzales de Santalla in seiner Manuductio ad conversionem mahumetanorum auf, die in Madrid erschien, vier Jahre nach der Niederlage der Türken vor Wien. Mit der Angst schwanden auch die Motive, die jahrhundertelang die polemische Literatur beflügelt hatten. Ende des 17. Jahrhunderts entstand das Monumentalwerk Ludovico Maraccis, eines Geistlichen aus Lucca, der das heilige Buch des Islam getreu und vollständig übersetzte und darüber hinaus einen abgeklärten Kommentar in zwei Bänden schrieb, die Refutatio Alcorani und den Alcorani textus universus, in Padua 1691 beziehungsweise 1698 veröffentlicht. 1697 erschien in Paris zwei Jahre nach dem Tod ihres Verfassers die Bibliotheque Orientale von Barthelemy d’Herbelot, der ein Discours von Antoine Galland beigegeben war. Dies war der Beginn der systematischen Islamwissenschaft. Verglichen mit der Arabistik und der Islamwissenschaft war die Turkologie ein Nachzügler. Doch auch sie entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts. 1794 erschien in Rom eine hervorragende Studie zur türkischen Grammatik mit dem Titel Principii della grammatica turca ad uso dei missionari apostolici a Costantinopoli von Cosimo de Carbognano, Dragoman der konstantinopolitanischen Gesandtschaft im Königreich Neapel. Dank Abraham Hyacinthe Anquetil du Perron sowie des Dominikanerpaters Maurizio Garzoni entwickelten sich die Iranistik und auch die Kurdologie.
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Das Zeitalter der Aufklärung
Verfinsterung des Halbmondes Der Niedergang des Osmanischen Reiches schien in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch weit entfernt, wenn nicht sogar unvorstellbar. Istanbul war die Hauptstadt eines nach wie vor furchteinflößenden Riesenreiches. Doch mit seiner technologischen Überlegenheit, die die osmanische Welt in die Rolle des passiven Zahlungsempfängers drängte, setzte der Westen bereits zum Aufschwung an. Durch die zahlreichen Wirtschafts-, Finanz- und Zollkonzessionen vor allem an die Franzosen, Holländer und Engländer wurde die Wirtschaft des Osmanischen Reiches zunehmend fremdbestimmt. Die Staatskassen waren durch die Einnahmen aus diesen Konzessionen zwar noch prall gefüllt, aber es fehlte ein einheimisches Bürgertum. Die Gesellschaftsstruktur war zunehmend durch die Kluft zwischen einem extrem wohlhabenden Militäradel und der landbesitzenden Aristokratie und einer städtischen und ländlichen, zunehmend verarmenden Bevölkerung gekennzeichnet. Die dünne Mittelschicht aus Kleinbauern, Kleinhändlern, die kein Kreditsystem kannten, Ladenbesitzern und Handwerkern reichte nicht aus, um das Land gegen die Konkurrenz zu Europa wirtschaftlich bestehen zu lassen. Auf den immer aggressiver werdenden europäischen Druck hatte der türkische Staat zunächst mit der Aneignung solcher Methoden und Techniken reagiert, die auf die eigenen
Bedürfnisse zugeschnitten erschienen. Es gelang ihm aber nicht, eine eigenständige Wirtschaft und Technologie aufzubauen, statt dessen verließ man sich auf westliche Kaufleute, Finanziers und Ingenieure. Die türkische Bürokratie in den riesigen Territorien des Reiches wurde immer gieriger und unfähiger. Eine blinde und unflexible Steuerpolitik – auch sie zum großen Teil ein Erbe der byzantinischen Tradition – erstickte jegliche Initiative und kannte neben staatlichem Raub nur die Korruption. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte allerdings die Hohe Pforte immerhin ihre Beziehungen zu den europäischen Mächten gefestigt. 1580 trat sie mit Spanien in einen dauerhaften Frieden, und im Jahr 1606 endete ein neuerlicher Krieg auf dem Balkan gegen Kaiser Rudolf II. mit der Abtretung Siebenbürgens an die Türken, die im Gegenzug darauf verzichteten, in Ungarn weiterhin Tribute zu erheben. Aber der junge Sultan Murad IV. der zu so vielen Hoffnungen Anlaß gegeben hatte, starb schon im Jahr 1640, nachdem er seinem Rivalen im Osten, Schah Abbas, einen Sieg abgerungen hatte, der ihn zum Herrscher über Aserbaidschan und Georgien machte. Seine Aktivitäten im Osten hätten Murad in enorme Schwierigkeiten gebracht, hätten die Europäer einen neuen Angriff begonnen, zu dem vor allem Frankreich bereit schien. Im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts hatten Richelieu und sein Sekretär und Berater, der Kapuzinerpater Joseph, auch gegenüber dem Heiligen Stuhl die Kreuzzugspläne Karl Gonzagas, des Herzogs von Nevers, wärmstens befürwortet. Karl Gonzaga, väterlicherseits der Neffe einer Prinzessin aus dem Geschlecht der Palaiologen, der letzten Basileis von Konstantinopel, liebäugelte mit einem Kreuzzug, der ihn auf den Thron seiner Vorfahren bringen würde. Die Griechen von Morea hatten dem Nachkommen ihrer christlichen despotai
eine betrübte Nachricht geschickt und sich zur Rebellion bereiterklärt; Venedig würde sie unterstützen. Der Kreuzzugsruhm war für die Konsolidierung der neuen Bourbonendynastie notwendig, die überdies ihre eigenen hugenottischen Ursprünge vergessen machen mußte: Nicht zufällig hatte im Jahr 1611 der Calvinist Jacques Bongars dem jungen König Ludwig XIII. eine kostbare Drucksammlung der ersten Kreuzzugschroniken, die zwei Bände der Gesta Dei per Francos, zum Geschenk gemacht. Anläßlich der ersten Expedition schrieb Pere Joseph ein bemühtes, 4637 Verse langes Epos, die Turchiade, und knüpfte diplomatische Beziehungen zwischen der Kurie, dem savoyischen und dem habsburgisch-spanischen Hof. Doch der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges ließ alle Abmachungen scheitern. Dieser europäische Krieg brachte dem in Persien gebundenen Osmanischen Reich die Rettung. Andererseits waren die türkisch-persischen Auseinandersetzungen ein Glück für die Europäer, die sonst umgekehrt von den Türken hätten angegriffen werden können. Keine katholische Macht im Mittelmeerraum konnte es sich leisten, sich nicht gegen die Türkengefahr und die Bedrohung durch die Barbaresken zu engagieren. Zumindest theoretisch und formell zeigten sie ihr Bemühen. Für den Papst, den Kaiser, die Könige Spaniens und Frankreichs und die Serenissima war all dies für die freie Entfaltung ihrer politischen und diplomatischen Kräfte nur hinderlich. Gleichzeitig bot dieses Engagement aber auch einen willkommenen Vorwand, den Gegner in seinen politischen und diplomatischen Möglichkeiten einzuschränken. In der Praxis jedoch war man um Übereinkunft und um einen Modus vivendi bemüht. Die letzte einflußreiche und «prophetische» Persönlichkeit, der es gelang, die Kreuzzüge, den Krieg gegen die Türken und den Willen zur Erneuerung
der Welt kraftvoll und überzeugend miteinander zu verbinden, war wohl Tommaso Campanella. 1600 schrieb er im Gefängnis von Castel Nuovo in Neapel sein Werk De monarchia Hispanica, 1638 die Ecloga anläßlich der Geburt Seiner Durchlaucht, des Dauphins von Frankreich, den er als orbis christiani Summa Spes begrüßte: den späteren «Sonnenkönig», dessen Beiname dem kalabresischen Mönch zweifellos gefallen hätte. Doch man darf sich vom scharfsinnigen Realismus und der offensichtlich strategischen Genialität der Anweisungen Campanellas für den Kampf gegen das Osmanische Reich nicht täuschen lassen. Fra Tommaso ließ die tatsächlichen politischen Kräfteverhältnisse und die historischen Bedingungen seiner Zeit völlig außer acht. Seine Vorschläge und Überlegungen bezogen sich auf die renovatio saeculi. Die lange, relativ friedliche Zeit im Mittelmeerraum nach dem Waffenstillstand, den die Türken 1573 mit den Venezianern und 1580 mit den Spaniern schlössen, endete abrupt im Jahr 1645, als die Osmanen die Insel Kreta angriffen, das «Candia» der Venezianer. Aber der Widerstand der Serenissima, die der Streitmacht des Sultans schwere Demütigungen bereitete, führte 1648 zu einer Meuterei der Janitscharen, die Sultan Ibrahim I. absetzten und Mehmed IV auf den Thron hoben, ein zehnjähriges Kind, das den Hofintrigen und internen Machtkämpfen wehrlos ausgeliefert war. Dies schien der geeignete Augenblick, den Osmanen einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Der Dreißigjährige Krieg war zu Ende, und der Westfälische Friede, gleichfalls im Jahr 1648 unterzeichnet, erlaubte es den Staaten Europas, ihre Kräfte ausschließlich auf die Türken zu konzentrieren. Man könnte beinahe sagen, durch die Wiederaufnahme der Kämpfe gegen die Osmanen wurde der Friede in Europa gefestigt. Aus der pax inter christianos, seit dem Mittelalter als eine
unabdingbare Voraussetzung für den Kreuzzug betrachtet, wurde jetzt geradewegs die mutua inter christianos tolerantia. Im Jahr 1656 errang die venezianische Flotte in den Dardanellen einen großen Sieg. Eine Zeitlang glaubte man, das Ende des Osmanischen Reichs sei damit besiegelt. Doch dem neuen albanischen Großwesir Mehmed Koprulu gelang es, das Ruder noch einmal herumzureißen. Er säuberte den Hof von Verschwörung und Korruption und rief die wieder einmal meuternden Janitscharen zur Ordnung. Er betrieb eine rigorose Politik zur Sanierung der Staatsfinanzen und machte mit der Rückeroberung von Lemnos und Tenedos die Verluste durch die Venezianer wett. Sein Sohn und Nachfolger Ahmed setzte seine Politik fort. Unterdessen hatte die türkische Regierung Georg II. Rakoczi, den Fürst von Siebenbürgen, für abgesetzt erklärt und an dessen Stelle einen ihr genehmeren Vasallen eingesetzt. Die Weigerung Rakoczis, zurückzutreten, rief den Pascha von Buda auf den Plan. Daraufhin wandten sich die Ungarn an den Wiener Hof, von dem sie sich Unterstützung in Siebenbürgen erhofften. Kaiser Leopold I. schickte im Jahr 1661 Truppen in diese Region, die jedoch geschlagen wurden. Die türkische Gegenoffensive trieb die Kaiserlichen bis ins nordwestliche Ungarn zurück. Als im September 1663 die Osmanen fast bis nach Preßburg vorstießen, fühlte sich Wien selbst bedroht, und Kaiser Leopold rief die Christenheit zu Hilfe. Diesmal konnte sich nicht einmal der Sonnenkönig entziehen, der zwar Kreuzzugsruhm für Frankreich beanspruchte, gleichzeitig aber eine protürkische Diplomatie betrieb. Dem kaiserlichen Heer schloß sich ein großes französisches Truppenkontingent an. Die Streitmacht der Christen wurde dem Kommando des kaiserlichen Feldmarschalls Graf Raimund von Montecuccoli unterstellt, der am 1. August 1664 dem Heer des Großwesirs in der Schlacht bei Sankt Gotthard
an der Raab eine empfindliche Niederlage bereitete. Dieser wichtige Erfolg wurde jedoch durch den zwanzigjährigen Waffenstillstand von Vasvar teilweise wieder zunichte gemacht, dank dessen die Türken nicht nur die Herren über die nach 1660 von ihnen eroberten Städte blieben, sondern auch 1669 den Krieg um Kreta bis zum Fall von Candia mit gestärkter Kraft wiederaufnahmen. Candia machte, wie es schien, den Erfolg bei Sankt Gotthard zunichte. In dem üblichen Hin und Her und dem ständigen Wechsel der Kampffronten zwischen Balkan und östlichem Mittelmeer diktierten nicht die wirklichen Kräfteverhältnisse, sondern Diplomatie und Propaganda die Gesetze des Gleichgewichts. In Wahrheit hatte sich der Kaiser bis dahin der Hohen Pforte gegenüber allzu entgegenkommend gezeigt (weswegen er auch kritisiert wurde), da sich bereits die spanische Erbfolgekrise abzuzeichnen begann: Das idyllische Einvernehmen mit dem Sonnenkönig im Zeichen der Kreuzzugssymbolik und des glorreichen Siegs von Sankt Gotthard sollte nicht lange Bestand haben.
Die letzte große Türkenfurcht Durch einen Militärschlag der Türken gegen Polen wurden die Feindseligkeiten neu angefacht. Zwischen Juli und September 1683 belagerten die Truppen des Großwesirs Kara Mustafa die Stadt Wien, während zur gleichen Zeit der Sonnenkönig aufgrund der Entscheidungen seiner Sondergerichtshöfe (der «Reunionskammern») das Elsaß, Lothringen, die Saar und Luxemburg annektierte und in die spanischen Niederlande einfiel. Trotz eindringlicher Bitte des Papstes lehnte er jegliche Hilfe für die von den Ungläubigen belagerte Stadt an der Donau ab.
Sultan Mehmed IV hatte es nicht zur Belagerung kommen lassen wollen. Auch der Tataren-Khan und der Pascha von Buda hatten davon abgeraten, da die Hauptstadt der österreichischen Habsburger ein allzu prekäres Ziel war, das unvermeidlich die gesamte christliche Welt auf den Plan rufen würde. Kara Mustafa gab jedoch törichterweise dem Drängen des protürkischen ungarischen Adels nach. Ihn verlockte zweifellos auch die Aussicht auf eine schnelle Kapitulation oder reiche Beute bei einer Plünderung. Der Generalissimus der kaiserlichen Truppen, Karl von Lothringen, verfügte zwar über 50000 Mann, konnte aber ohne militärischen Beistand aus Deutschland und Polen dem Feind nicht entgegentreten. Dank der tapferen Verteidigung der Belagerten, dem großartigen Beispiel ihres Kommandanten Rüdiger von Starhemberg und den anfeuernden Worten des Kapuzinermönchs Marco d’Aviano zogen der Herzog von Lothringen und der polnische König Johann III. Sobieski mit ihrer Streitmacht aus Polen, Sachsen und Bayern durch den Wienerwald dem Feind entgegen und schlugen ihn am 12. September in der Schlacht am Kahlenberg. Sobieskis «Husaren» mit ihren typischen, den Helm überragenden Flügelharnischen machten vielleicht wirklich den Eindruck von Befreiungs- und Racheengeln. «Fuit homo missus a Deo cui nomen erat Johannes» – mit diesen Worten aus dem Prolog des Johannesevangeliums wurde der polnische König im Te Deum gefeiert, das in allen Kirchen der lateinischen Christenheit für ihn gesungen wurde. Es war ein großartiger und vollkommener Sieg. Der Wesir verließ fluchtartig sein Lager und überließ den Siegern wahre Schätze. Wenig später wurde er im eigenen Lager bei Belgrad von den Janitscharen mit einer seidenen Schnur erdrosselt, die der Sultan für den Bedarfsfall geschickt hatte.
Nach diesem unverhofften Erfolg vor Wien, der in der gesamten christlichen Welt ein begeistertes Echo fand, wurde eine Offensive gestartet, die Mehmed IV zwang abzudanken. Bedrängt von Kaiserlichen, Russen und Venezianern, mußte der neue Sultan Süleyman III. an allen Fronten den Rückzug antreten: am Asowschen Meer, auf dem Balkan und in der Ägäis. Im September 1687 sprengten Bomben der Venezianer den Parthenon von Athen in die Luft, aus dem die Türken ein Pulvermagazin gemacht hatten. Nur das Wiederaufflammen der Feindseligkeiten zwischen dem Kaiser und dem Sonnenkönig verhinderte, daß die Türken – vielleicht endgültig – in die Knie gezwungen wurden. Der Sultan begriff jedoch, daß er jetzt nicht mehr zögern durfte, einen fünfundzwanzigjährigen Waffenstillstand auszuhandeln, der für ihn einer Kapitulation gleichkam. Mit dem Frieden von Karlowitz am 26. Januar 1699 gingen ganz Ungarn (mit Ausnahme des Banats Temesvar), Transsilvanien, Kroatien und Slawonien an Österreich; Venedig erhielt Morea und einen Großteil Dalmatiens, Polen bekam Podolien. Ein Wendepunkt der Geschichte. In Eurasien tauchte jetzt neben den drei Großmächten (den beiden muslimischen Reichen von Istanbul und Isfahan und dem christlich österreichischen Kaiserreich) eine vierte auf, die aus ihren Ambitionen keinen Hehl machte: das moskowitische Reich der Romanow, das ein begehrliches Auge auf das Gebiet zwischen Schwarzem Meer, Kaukasus und Kaspischem Meer, aber auch auf Zentralasien und das Mittelmeer warf. Es träumte davon, über die Meerenge der Dardanellen und auf dem Landweg über den Balkan Zugang zum Mittelmeer zu bekommen. Rußland agierte daher auf verschiedenen Ebenen: Gegenüber den slawischen Völkern stellte es sich als Schutzmacht der Slawen gegen die türkische Bedrohung und die Übermacht des Kaisers dar; gegenüber den orthodoxen Christen agierte es als
historischer Erbe des Byzantinischen Reichs und als Beschützer der orientalischen Spiritualität gegen die osmanische Tyrannei und die Hegemonie des Papstes. Hinter all diesen Aktivitäten steckte aber auch ein großes Interesse an Jerusalem und am Heiligen Land. Die Zaren «von ganz Rußland» gaben allmählich zu verstehen, daß sie von den Sultanen als die authentischen Erben der Basileis von Konstantinopel und damit als Schutzmacht der christlich orthodoxen millet anerkannt werden wollten. An der Spitze dieser millet-Gemeinschaft standen griechische Prälaten, also Untertanen der Hohen Pforte, und sie war hauptsächlich aus Gläubigen arabischer Sprache und Nationalität zusammengesetzt. Daraus ergab sich die Notwendigkeit eines dichten Bündnisnetzes, das sich jeweils auf «Dreiecks» Oppositionen gründete: Österreicher, Russen und Türken im Balkan; Türken, Russen und Perser im Kaukasus; Franzosen, Russen und Türken in Istanbul und in Jerusalem, wo die neuen Ansprüche der Zaren die überkommene und festgefügte Tradition der Franzosen als Schutzmacht der Christen im Orient über den Haufen warfen. Zar Peter der Große unterzeichnete das Friedensabkommen von Karlowitz nicht. Erst im Jahr 1700, mit der Zuerkennung von Asow, schloß er Frieden mit der Pforte und legte vorläufig sein Schwert als Verteidiger der orthodoxen Kirche im Balkan beiseite. Doch schon wenige Jahre später flammte im Zuge neuer Provokationen der Krieg wieder auf. Der Zar hörte nicht auf, die Revolten der Orthodoxen im Balkan zu schüren; der Sultan wiederum wurde von Karl XII. von Schweden, einem Erzfeind Zar Peters des Großen, gedrängt, auf die russische Bedrohung zu reagieren. Im Jahr 1709 war Karl von den Russen in der Schlacht von Poltawa geschlagen worden, hatte sich zu den Türken geflüchtet und schmiedete Vergeltungspläne. Wie nicht anders zu erwarten, goß der
Sonnenkönig in Versailles Öl ins Feuer. Der Feldzug endete mit einer Niederlage Peters des Großen: Am Fluß Pruth umzingelt, mußte er einem demütigenden Friedensvertrag zustimmen, sich mit einer großen Geldsumme freikaufen und die befestigte Stadt Asow abtreten. Aus dem Sieg über die Russen schöpften die Osmanen neue Zuversicht. Die Folge war ein neuer Krieg gegen Venedig. Die Türken hatten es auf Korfu abgesehen, eine Insel mit mächtigen Befestigungsanlagen (ingens opus Corcyrae) und für die Serenissima der Schlüssel für den Zugang zur Adria. Mit dem Verteidigungssystem Korfus stieg und fiel die Verteidigung der Republik in der gesamten Levante. Doch die Türken eroberten Korinth und die Städte, die die Serenissima nach 1669 auf der Insel Kreta noch gehalten hatte. Hundert Jahre später hielt Byron dieses denkwürdige Ereignis in seiner Dichtung Die Belagerung von Korinth fest. Mit dem Kriegseintritt der Habsburger wendete sich das Blatt: Am 5. August 1716 schlug Prinz Eugen von Savoyen bei Peterwardein das zahlenmäßig überlegene osmanische Heer in einer Schlacht, die ein Meilenstein in der Geschichte der Kriege aller Zeiten werden sollte. Der Weg nach Belgrad war jetzt erneut offen, und ein Jahr später fiel die Stadt in die Hände der kaiserlichen Truppen. Im Frieden von Passarowitz im Jahr 1718 diktierte Habsburg die Bedingungen: Der Löwe des Evangelisten Markus mußte seine Krallen von Morea und dem griechischen Archipel zurückziehen, der Doppeladler annektierte das Banat von Temesvar, den Nordsaum Serbiens mit seiner historischen Hauptstadt und die Kleine Walachei. Doch das Spiel war damit noch nicht zu Ende. Die Hohe Pforte hatte gesehen, wie sich die christlichen Mächte in der Adria und im Balkanraum bekämpften, und versuchte nun, die Rivalitäten zwischen Österreichern, Russen und Venezianern auszunutzen. Rußland blickte mit begehrlichem Auge auch auf
den Kaukasus. Dort kam es zur Schlacht gegen einen anderen historischen Feind des Sultans, den Schah von Persien. Die Russen hatten die Kaukasusregion bereits 1722/23 in einem Feldzug erkundet, der die Gemüter der Armenier in den Bergregionen von Karabach und Siwnik erregt und unter Dawit’ Bek zu einem von den Russen niedergeschlagenen Aufstand geführt hatte. Zwischen 1725 und 1727 hätte ein militärisches und diplomatisches Abkommen zwischen Rußland und der Türkei fast zur türkischen Unterwerfung Transkaukasiens geführt. Doch drei Jahre später gelang es den Persern, den Angriff abzuwehren. Im Jahr 1730 brachte ein Aufstand der Janitscharen, die am Vorabend eines neuen Perserfeldzugs gegen den Rückstand der Soldzahlung protestierten, Sultan Mahmud I. (1730-1754) auf den Thron. Während seiner Regierungszeit bezahlte er nicht nur brav und pünktlich seine Truppen, er betrieb eine systematische Reformpolitik zur Verteidigung seiner Reichsgrenzen, baute Befestigungsanlagen, stationierte feste Garnisonen und verließ sich auf die Kompetenz und Genialität des Grafen de Bonneval, «Ahmad Bonneval Pascha». Bonneval Pascha gründete 1734 in Istanbul eine Ingenieursschule, in der die moderne Militärtechnik gelehrt werden sollte, um das Osmanische Reich von fremder Hilfe und westlichen Renegaten unabhängig zu machen. Fünf Jahre zuvor, 1729, hatte eine in der Hauptstadt gegründete Druckerei das erste in türkischer Sprache gesetzte Buch herausgebracht. Der Grundstein war damit gelegt, auch wenn die Zeit für solche Neuerungen noch nicht reif war. Tatsächlich konnte weder die Artillerieschule noch die Drucktechnik sehr viel gegen die traditionellen Kräfte ausrichten, die zunächst nur durchsetzten, den Koran nicht in türkischer Sprache herauszubringen. Die Druckerei mußte sich also auf die Herstellung weltlichen Schrifttums beschränken. Doch schon
wenig später wurden beide innovativen Einrichtungen geschlossen. Der Widerstand der Janitscharen hinderte Bonneval Pascha daran, gründliche Militärreformen in allen Abteilungen des Heeres durchzusetzen. Dank der Freundschaft Bonnevals mit dem französischen Botschafter Villeneuve entwickelten sich die diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen Frankreich und der Türkei zum besten. Doch die lale devri, die «Tulpenzeit», ging im prächtigen Istanbul bereits ihrem Ende entgegen. Eine neue Ära brach an – mit massiven Erneuerungsversuchen, für die ein Friede dringend nötig war. Der 1733 unterzeichnete «ewige» Frieden diente diesem Ziel. Die Machenschaften der Franzosen jedoch trugen nicht mehr als die objektiven Verhältnisse dazu bei, daß zwischen Rußland und der Türkei neue Feindseligkeiten ausbrachen. Die Türken waren über die russische Politik in Polen im Zuge der polnischen Thronfolgekämpfe beunruhigt, die Russen ihrerseits hatten es erneut auf Asow und die Krim abgesehen. Ein 1726 geschlossenes Abkommen verpflichtete Kaiser Karl VI. der in Deutschland und Italien militärische Rückschläge einzustecken hatte, an der Seite der Russen zu kämpfen. Doch die Reformen Bonneval Paschas zeigten offenbar Wirkung. Die Österreicher und Russen wurden zwischen 1737 und 1739 mehrmals geschlagen und mußten in den Friedensvertrag von Belgrad einwilligen. Belgrad mußte an die Türken zurückgegeben werden, und die Kaiserlichen im Balkan wurden auf ihre Besitzungen vor dem Frieden von Passarowitz zurückgestuft. Lediglich das Banat Temesvar durften sie behalten. Die Russen gewannen Asow zurück, das entfestigt werden mußte, und sie durften mit keiner Schiffsflotte, auch nicht mit Handelsschiffen, das Schwarze Meer befahren. Der Sultan hatte in dem außerordentlich geschickten Diplomaten Marquis de Villeneuve und in Frankreich gute
Bundesgenossen, die ihn in seinen Friedensverhandlungen unterstützten. Um den Marquis für seine Verdienste zu belohnen, stimmte die Hohe Pforte im Jahr 1740 einer Erneuerung der Jerusalem betreffenden Kapitulationen zu, die nun nicht mehr als vorläufig zu betrachten waren. Sultan Mahmud I. schloß – auch im Namen seiner Nachfolger – eine Vereinbarung, die auf diplomatischer Ebene nun ein Vertrag im eigentlichen Sinn war: Insbesondere garantierte die Hohe Pforte den «fränkischen» Christen, die sich in und außerhalb Jerusalems angesiedelt hatten, ein Leben in Ruhe und Frieden und darüber hinaus das Recht zur Instandsetzung der Heiligtümer, wenn nur der französische Botschafter darum nachsuche. Der große diplomatische Erfolg von Belgrad war gleichsam der Altweibersommer der Sultansmacht. Die Modernisierung und die entsprechenden Reformen wurden bald blockiert, nicht zuletzt von seiten muslimischer Juristen und Theologen, die mit einem rigoristischen Anspruch auftraten. Die Entwicklung der mitteleuropäischen Politik wiederum lieferte den Mächten Alibis, die an einem neuerlichen Angriff auf das türkische Großreich interessiert waren. Im Jahr 1768 war nach einer gewaltsamen Erhebung als Protest gegen die russische Einmischung in Polen ein Heer der Zarin Katharina II. in das unglückselige Nachbarland eingefallen. Von Frankreich ermuntert, waren viele aufständische Polen in die Türkei geflohen, wo sie – als glühende Katholiken – vom französischen Herrscher unterstützt und beschützt wurden. Aber die Russen stellten ihnen auch dorthin nach. Das war der casus belli, so sehr auch die Regierung von Petersburg diese Situation mit Absicht herbeigeführt hatte. Wie gewöhnlich gossen auch diesmal die Franzosen Öl ins Feuer des verletzten türkischen Stolzes. Die Folge war ein Krieg, der
zeigte, daß die genialen Reformen Bonneval Paschas im Reich des Halbmondes nicht gegriffen hatten. Trotz ihres gewaltigen Heeres aus 60000 regulären Soldaten und zusätzlichen tatarischen Hilfstruppen wurden die Türken vernichtend geschlagen, ihre Flotte wurde im Schwarzen Meer versenkt. Während die russischen Streitkräfte Moldavien und die Walachei überrannten und von der orthodoxen Bevölkerung (wenngleich nicht von den Bojaren, Vasallen der Pforte) als Befreier begrüßt wurden, durchzogen Agenten der Zarin Griechenland und stachelten auch hier die christliche Bevölkerung zum Aufstand an. Der Krieg ging weiter – trotz der Vermittlungsversuche Friedrichs II. von Preußen, der, durch die vielen russischen Militärerfolge aufgeschreckt, 1772 die Erste Teilung Polens organisierte. Nur der Aufstand Pugatschows, der der Zarin zu schaffen machte, brachte ein Ende des Kriegs. Der Friede von Kütschük Kainardscha am 21. Juli 1774 sanktionierte den russischen Sieg: Die Zarin gab die russischen Eroberungen in Moldavien, der Walachei und Bessarabien an die Pforte zurück, erhielt dafür aber definitiv Asow und das gesamte Territorium zwischen Dnjepr und Bug und erwarb das Recht zur freien Durchfahrt durch das Schwarze Meer und das Mittelmeer; die Krimtataren und die rumänischen Fürsten erhielten Autonomie von der Pforte. Doch das war nicht alles: Die Siegermacht erwarb erstmals das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten des besiegten Landes einzumischen, und nötigte dem Sultan das Versprechen ab, Reformen zur «Modernisierung» und «Verwestlichung» in Gang zu setzen. Rußland wurde das Recht zugestanden, im Stadtviertel Galata in Istanbul eine orthodoxe Kirche zu erbauen, und die Zarin wurde als Schirmherrin der christlichen millit im gesamten Osmanischen Reich anerkannt – ein Privileg, das traditionell
mindestens seit dem 16. Jahrhundert der König von Frankreich innehatte. Die religiösen und institutionellen Bestimmungen des Friedensvertrags sind gewichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Zarin kannte die Bedeutung und das Prestige Frankreichs im Heiligen Land sehr genau und erstrebte von der Pforte die gleiche Rolle als Schutzmacht für die orthodoxen Christen wie der französische König für die Katholiken. Mit dem Friedensvertrag erwarb sie jetzt das Recht, zugunsten der griechisch-orthodoxen Christen auf den ägäischen Inseln und der orthodoxen Christen in Moldawien und der Walachei gegenüber der Pforte Forderungen zu erheben. In einem weiteren (ausgesprochen obskuren) Passus des Vertrags wurden Rußland die gleichen Vorrechte eingeräumt, die die Kapitulationen Frankreich und England zuerkannten. Das Zarenreich wurde damit zur offiziellen Schutzmacht der orthodoxen Christen in der gesamten Levante. Unter dem Vorwand, die Christen im Heiligen Land zu schützen, begann damit auch der französisch-russische (und katholische-orthodoxe) Wettstreit um die Vormachtstellung über die christlichen Gemeinschaften in einem dahindämmernden Jerusalem, das entvölkert und verfallen war. Die türkisch-russischen Protokolle standen in offenem Widerspruch zu anderen Abkommen, die der Sultan und seine Vorgänger insbesondere mit Frankreich abgeschlossen hatten. Aber es handelte sich ganz offensichtlich um einen absichtlichen «Fehler» beider Vertragspartner, die unterschiedliche Ziele damit verfolgten: Rußland drängte es, ein Monopol zu brechen, und die Türken taten alles, um Feindseligkeiten zwischen den Europäern zu schüren und den casus belli heraufzubeschwören. Die politischen, militärischen und religiösen Träume Katharina II. nahmen immer mehr Gestalt an. Ihr Ziel war die
Schaffung eines Imperiums von der Ostsee bis zum Mittelmeer und von Griechenland bis zum Kaspischen Meer. Dafür allerdings mußte sie sich zumindest vorübergehend mit Österreich einigen, ihrem Gegenspieler und Partner auf dem Balkan, und gleichzeitig die slawische Einheit und die Freiheit der Orthodoxie beschwören. Im Jahr 1780 kam es zu einer Begegnung der Zarin mit Kaiser Joseph II. und 1781 zum Abschluß eines Vertrags, der im Kern eine Teilung des Osmanischen Reiches vorsah und von größerer Tragweite war als die Teilung Polens. Rußland sollte nach der Annexion der Krim und des nördlichen Donauufers ein unabhängiges Dakien mit noch nicht genau festgelegten Grenzen errichten, das Fürst Potemkin, ein Günstling der Zarin, regieren sollte. Österreich würde sich Bosnien, Serbien und einen Teil Dalmatiens aneignen, Venedig Zypern und Morea zurückbekommen. Wenn erst der Sultan aus Istanbul vertrieben wäre, sollte die Stadt wieder Konstantinopel werden, das Neue Rom. Das neuerstandene Byzantinische Reich sollte Konstantin (nomen est omen!) regieren, ein Neffe der Zarin des Dritten Roms. Zur Vorbereitung einer neuerlichen Offensive bemühten sich die Russen um die Krimtataren und versuchten, ihre Position in Georgien zu festigen. Katharinas Plan war keineswegs aus der Luft gegriffen. Wäre er gelungen, was durchaus im Bereich des Möglichen lag, hätte sich das politische Gleichgewicht auf dem Kontinent tiefgreifend und dauerhaft verändert. Aber das Zünglein an der Waage war in diesem Fall Sultan Abdülhamid I. Im Jahr 1787 entfesselte er einen Präventivkrieg gegen Rußland, der die Zarin völlig überraschte und auf den das russische Heer nicht vorbereitet war. Nach den verheerenden Bedingungen des Friedens von Kütschük Kainardscha war der Stolz des türkischen Reiches erneut aufgeflammt. In der Erkenntnis, daß seine technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit die
militärische Schlagkraft gegenüber Europa schwächte, wurden jetzt jene Institutionen wiederhergestellt, die die Gegner Bonneval Paschas und die Traditionalisten in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts blockiert hatten. Paradoxerweise legten ausgerechnet die russischen Forderungen nach Modernisierung der türkischen Institutionen und Gebräuche (verhaßt, da sie von einer fremden Macht, von Ungläubigen, in einem harten Friedensvertrag aufoktroyiert waren) den Grundstein zur Erneuerung. Beispiel- und symbolhaft war die Wiedereröffnung der Druckerei im Jahr 1784, die Bücher 111 türkischer Sprache herstellte. Der reformwillige Sultan ließ auch Bonnevals Artillerieschule wiedereröffnen, die nunmehr Baron De Tott leitete. Von Frankreich kaufte er neue Kanonen, modernisierte und restrukturierte mit Hilfe der französischen Ingenieure Le Roy und Duirest auch die Militärflotte. Dieser neuen türkischen Marine gelang es (nicht zuletzt aufgrund des schlechten Wetters), die russische Flotte im Schwarzen Meer zu zerstören. Kaiser Joseph, der, getreu dem Vertrag von 1781, die Zarin militärisch unterstützt hatte, wurde in Serbien geschlagen. Die Türken besetzten das Banat Temesvar, und nach jahrelangen mühevollen und ergebnislosen Feldzügen sah sich der neue Kaiser Leopold II. endlich gezwungen, im Jahr 1791 einen Separatfrieden zu unterzeichnen. Die Russen, nun auf sich allein gestellt, unterzeichneten ihrerseits wenige Monate später den Frieden von Jassy, der ihnen die Annexion Bessarabiens sicherte, des östlich des Dnjestr gelegenen Teils Moldaviens. Die philosophes, die das Ende des osmanischen Despotismus (und damit das Ende des muslimischen «Fanatismus») als unmittelbar bevorstehend und unvermeidlich vorausgesagt hatten, hatten sich getäuscht. Im übrigen wünschten auch Frankreich und England keineswegs den Untergang des Reiches am Bosporus. An dessen Stelle würde, so befürchteten
sie, eine russische Supermacht treten, die die Meerengen und das östliche Mittelmeer kontrollierte, den gesamten orthodoxen Kulturkreis beherrschte und die wirtschaftlichen und Handelsaktivitäten im Schwarzen Meer, auf dem Balkan und auf den venezianischen Schiffen zu ihren Gunsten regelte. In diesem diplomatischen und militärischen Strategiespiel der politischen Mächte waren die ethnisch und religiös unterschiedlichen Völkerschaften nur ein Spielball. Die Gebietsgrenzen der Völker zwischen Donau und Krim wurden ständig neu gezogen. Der orthodoxe Glaube der Christen diente, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht, ebenfalls nur als ein Vorwand für die russischen Großmachtpläne. Die Muslime waren für die Europäer so gut wie inexistent, sie betrachteten sie als Anhänger eines «fanatischen» Glaubens, der vom unaufhaltsamen Vormarsch des Fortschritts und der Vernunft überrollt werden würde. So schien es – doch es kam anders.
«Turquerien» «Glaubt ihr, daß der Türke schon dies Jahr rüber nach Italien kommt?» Dieser Satz stammt aus Niccolö Machiavellis Mandragoia. Im Jahr 1814 komponierte Gioacchino Rossini eine «opera buffa», Il turco in Italia, deren Titel wie ein wörtliches Zitat des Sekretärs aus Florenz erscheint. Doch zwischen dem ersten und dem zweiten «Türken in Italien» lagen dreihundert lange Jahre – der Zeitraum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. In dieser Zeit beherrschten «Türkenfurcht» und «Türkenfrage» das Leben im europäischen Mittelmeerraum, das im Schatten des Halbmondes stand. Die zahlreichen Forts, die von Spanien bis zu den ägäischen Inseln überall an den europäischen Küsten errichtet waren, legen
davon Zeugnis ab. Forts an den afrikanischen und asiatischen Küsten von Thrakien bis Marokko bezeugen aber auch, daß die Europäer den Türken und Nordafrikanern gleiches mit gleichem vergolten haben. Der Muslim, der in den Verliesen von Livorno schmachtete, litt ähnliche Qualen wie der Christ in den Verliesen von Algier. Doch gegen Ende des Mittelalters und mit Beginn der Neuzeit herrschte allenthalben das Gefühl, der türkische und barbarische Islam sei im Vormarsch und die Christenheit befinde sich in der Defensive. Wie kommt es, daß es seit Mozarts Zauberflöte mit dem Mohren Monostatos und Cosi fan tutte mit «Türken», die gezwirbelte Schnurrbärte («trionfi degli uomini, pennacchi d’amor») trugen, in der europäischen «opera buffa» von Türken in Turban und orientalischer Tracht nur so wimmelte? Und woher kommt das literarische Klischee des «Levantiners», das Riccardo Bacchelli in der Figur des «Ragusers» in seinem Roman Die Mühle am Po so schillernd darstellt? Schwer zu entscheiden, ob der sogenannte Orientalismus tatsächlich als eigenständige Bewegung gelten darf, oder ob es sich dabei nicht vielmehr um eine Abart der viel breiteren Strömung des Exotismus handelt. Die mittelalterliche Welt legte, wie wir gesehen haben, den Ungläubigen gegenüber ein Interesse an den Tag, das von der «Mohammed-Legende» bis zu Koranübersetzungen und von freien Phantasien über die Welt der «heidnischen Ungläubigen», von den Wunderdingen und Zauberkünsten Innerasiens bis zu den oftmals sehr präzisen und wirklichkeitsgetreuen Schilderungen von Kaufleuten, Diplomaten und Pilgern reichte, wie sie seit dem Spätmittelalter entstanden. Auch die Sklaven und die Produkte, die aus dem Orient nach Europa gelangten, steigerten eine Neugier, die allmählich von wachsendem Wissen und
offenkundiger Sympathie abgelöst wurde. In den Schlupfwinkeln der europäischen Vorstellungswelt verbirgt sich ein verschollener, nur noch den äußeren Merkmalen nach auffindbarer Islam. Die maurischen und tatarischen Sklavinnen und Dienerinnen, die zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert die Städte des europäischen Mittelmeerraumes bevölkerten, die tatarischen Dienstmädchen in Rußland und Polen im 16. bis 20. Jahrhundert sowie die indischen und indonesischen Dienstmädchen in England und Holland verbrachten viel Zeit mit den Kleinsten, erzählten ihnen Märchen und vermittelten ihnen ihre eigene Vorstellungs- und Phantasiewelt. Wie viele fliegende Teppiche und Wunderlampen Aladins geisterten seither in den Träumen der Europäer umher – noch bevor Antoine Galland die Geschichten aus tausendundeiner Nacht den an Perraults Contes gewöhnten Europäern erzählte; noch bevor Irving und Dore die Höfe, Gärten und Brunnen Granadas in Worte und Bilder faßten, die die Europäer zu schätzen vermochten! Die islamische Welt im Mittelalter – das waren «Araber» und «Mauren», also Afrikaner. Neben ihnen wurden in der bildenden Kunst des 13. bis 15. Jahrhunderts vor allem auch Tataren immer häufiger dargestellt, besonders in Szenen wie dem Zug der Heiligen drei Könige nach Bethlehem, ein Paradebeispiel für den Exotismus im «Herbst des Mittelalters». Seit dem 15. Jahrhundert tauchten immer häufiger auch Türken mit riesigen Turbanen und plüschigen Pluderhosen auf sowie furchterregende Janitscharen mit der typischen hohen Mütze aus weißem Tuch. Sie finden sich insbesondere in der Malerei im Nordosten Italiens, etwa bei Mantegna und Carpaccio. Doch auch die spätgotische französische, spanische, deutsche und süditalienische Kunst liefert dafür zahlreiche beachtenswerte Beispiele.
Immer häufiger trafen an den Höfen Europas (echte oder angebliche) «orientalische» Gesandte ein, die sich zuweilen auch auf öffentlichen Plätzen zeigten. Auf dem Konzil von Florenz 1439 und dann auch unter dem Pontifikat Pius’ II. wurden Spektakel dargeboten, die den Geschmack am «Exotischen», wie man jetzt bereits sagen könnte, in der Gesellschaft verbreiteten. Im Italien des 15. Jahrhunderts (ähnlich wie im iberischen Raum, wenngleich aus anderen Gründen) hielt man sich im übrigen zugute, mit der asiatischen und nordafrikanischen Welt gut vertraut zu sein. Oft waren es Betrüger, die mit ihren Tricks dem Papst und den Fürsten Geld, Unterkunft und Geschenke entlockten. Dann verschwanden sie wieder. Doch die Freude an solchem Maskenspiel, Maskeraden und Verkleidungen spiegelt sich auch in den zahllosen Festen der Renaissance sowie in der Malerei dieser Zeit wider. Die Nachahmung muslimischer Kostüme und muslimischer Architektur war in dieser Anfangszeit «philologisch» ebenso ungenau wie die Beschreibungen von Kaufleuten, Pilgern, Predigern und Polemikern, die vorgaben, Verhaltens- und Denkweisen der islamischen Welt gut zu kennen. Dennoch: Es standen vielfältige Informationsmöglichkeiten zur Verfügung. Natürlich lieferten die christlichen Länder, die die intensivsten Kontakte mit den «Ungläubigen» unterhielten, auch die authentischsten und zuverlässigsten Informationen (die man aber nicht immer zu akzeptieren bereit war): Spanien, Sizilien und die Seestädte Italiens galten während des gesamten Mittelalters als «Kenner» der muslimischen Welt, im 15. 16. und 17. Jahrhundert war besonders gut die Seerepublik Venedig über die Türken informiert. Der arabische Kulturkreis blieb zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeblendet, und die Welt der Perser war zu weit entfernt.
Besonders Venedig hatte vielfältige und enge Kontakte – zunächst mit der arabisch-ägyptischen und der arabisch syrischen Welt, später mit den Türken und auch Persern. Zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert war es beinahe normal, daß für die jungen Männer der herrschenden Schicht die Handelsplätze in der Levante ökonomisch betriebswirtschaftlich, aber auch politisch und sprachlich eine ausgezeichnete Schule waren. Zwar konnten sich die europäischen Kaufleute im Gebiet des dar al-Islam frei bewegen, nicht aber umgekehrt die muslimischen Kaufleute im Gebiet des dar al-Harb. Das war bis mindestens ins 16. Jahrhundert hinein so. Der Mönch Donizo bezeugt in seinem lateinischen Versepos aus dem 11. Jahrhundert, das er der Markgräfin Mathilde von Tuszien widmete, die Anwesenheit dunkelhäutiger Afrikaner im Hafen von Pisa. Wir wissen aber nicht, ob es sich dabei nicht um einen Einzelfall handelt. Donizo jedenfalls wollte mit seiner Bemerkung unterstreichen, was für mali christiani die Pisaner seien. Muslimische Gesandtschaften waren jedenfalls in Europa selten und daher ein ungewöhnlicher Anblick. Die größte Berühmtheit erlangten die Abordnungen aus Bagdad und Spanien zur Zeit Karls des Großen. Erst Anfang des 16. Jahrhunderts, als man akzeptierte, daß die Osmanen endgültig an die Stelle des alten Byzantinischen Reichs getreten waren und man – wenn auch stillschweigend – eingestehen mußte, daß sie als unverzichtbare Partner in Handel und Diplomatie zu gelten hatten, waren türkische und persische Gesandte an den Höfen Europas häufiger zu Gast. Gegenstand der Neugier eines allerdings nur sehr kleinen Kreises der europäischen Gesellschaft. Türkische Kaufleute tauchten in Venedig mit Sicherheit nicht vor 1514 auf. Nach dem Friedensschluß des Osmanischen Reichs mit Venedig im Jahr 1573 eröffnete der «Fondaco dei
Turchi» als Warenlager und Herberge der «türkischen Nation». Die Errichtung einer Handelsniederlassung für die Ungläubigen, die einerseits wichtige Geschäftspartner und in ihrem eigenen Land zuvorkommende Gastgeber der Venezianer waren, andererseits aber historische Erbfeinde, verlief nicht ohne Widerstände und Polemiken. Nicht zuletzt der Einrichtung des Fondaco ist es jedoch zu verdanken, daß bis weit ins 17. Jahrhundert hinein und noch Anfang des 18. Jahrhunderts Venedig eine schillernde Doppelrolle als Vermittlerin von Informationen über die Türken nach Europa und umgekehrt von Informationen über die europäischen Mächte an den «Großtürken» spielte. Die Regierung der Serenissima hat dieses Spionagenetz mitgetragen, die Fäden gezogen und bisweilen Informationen wie eine der zahlreichen Waren gehandelt, die die Stadt importierte und exportierte. Im Jahr 1621 war der «Fondaco dei Turchi» zu klein geworden; es wurde der Bau neuer und größerer Anlagen auf einem neuen Terrain genehmigt, der jedoch Kaufleuten aus allen muslimischen Ländern zugänglich sein sollte, auch persischen und, in getrennten Lokalitäten, auch den Armeniern. Es war daher nur folgerichtig, daß ausgerechnet von Venedig aus die Kenntnisse über den Islam im Laufe des 16. Jahrhunderts entscheidend verbessert wurden. Schon Donato da Lezze, mit dem Hause Zen verwandt, das mit Istanbul enge Beziehungen unterhielt, hatte eine Historia Turchesca des 14. und 15. Jahrhunderts verfaßt. Marc’ Antonio Sabellico, der Geschichtsschreiber der Republik Venedig, widmete den Osmanen seine besondere Aufmerksamkeit. Wenig später, im Jahr 1516, setzte sich Giovan Battista Egnazio in seinem Werk De Caesaribus mit den Türken auseinander. Im Jahr 15 31 veröffentlichte Paolo Giovio (Paulus Jovius) seinen Commentario delle cose de’ turchi, zwischen 1528 und 1541 wurde Andrea Cambinis Werk Origine de’ turchi e imperio
delli ottomani mehrmals aufgelegt und Benedetto Ramberti schrieb die Cose de’ turchi. Schließlich griff Nicolo Zen in Dell’arabico den Diskurs über islamische Religion und Kultur wieder auf. Sein Ziel war eine systematische Darstellung, was ihm die Anerkennung Francesco Sansovinos (in dessen Storia dell’origine e impero dei turchi) eintrug. In diesem Zusammenhang muß auch die Koranübersetzung von Andrea Arrivabene erwähnt werden, 1547 in Venedig gedruckt, also vier Jahre nach Biblianders enzyklopädischem Werk, das 1543 mit dem in Basel erschienenen Islamtraktat gekrönt wurde. Mit dem immer häufigeren Auftauchen von – vorwiegend türkischen – Gesandtschaften wuchs die Neugier auf die Muslime im allgemeinen, aber auch die Vertrautheit, die Kenntnisse und die Sympathie, die man ihnen entgegenbrachte. Gewiß, man hielt die Gesandten nicht selten für Spione, und tatsächlich wurden die Depeschen der türkischen Diplomaten aus Europa an die Hohe Pforte, die faretname, nicht zuletzt aufgrund ihrer Mischung aus scharfsichtiger Beobachtung, Vorurteilen und Mißverständnissen, bald berühmt. Für die Abgesandten des Sultans wurden dennoch rauschende Feste veranstaltet: Dafür wurde die Stadt eigens geschmückt, die Gesandten wurden herumgeführt, damit sie die schönsten Dinge bewundern konnten – man brachte ihnen Respekt und Aufmerksamkeit entgegen. Doch gab es auch Grund zur Beunruhigung: 1594 etwa wurden in einem strengen Erlaß der «Avogadori de Comun» harte Strafen all jenen angedroht, die diese Gäste belästigten. Dann folgte die Zeit der großen Gesandtschaften. Im Jahr 1665 begab sich Kara Mustafa Pascha mit einem Gefolge von einhundertfünfzig Mann nach Wien. Ende 1669 empfing Ludwig XIV. Süleyman Aga. Dieser Besuch wurde für den Sonnenkönig zu einer schroffen Demütigung. Denn Süleyman,
der in den Salons der Aristokratie begeistert herumgereicht wurde, ließ sich nicht dazu herab, die Spannungen auszuräumen, die damals zwischen Versailles und Istanbul existierten: Kurz zuvor war der französische Botschafter in Istanbul verhaftet und anschließend des Landes verwiesen worden. Der Chevalier d’Arvieux, ein guter Kenner türkischer Politik, erzählt in seinen Memoires, der König habe ihm aufgetragen, Moliere und Lulli zu bitten, ein Theaterstück zu schreiben, in dem Kostüme, Sitten und Gebräuche der Gäste eine Rolle spielten. So entstand eine Ballettkomödie, die am 14. Oktober 1670 in Chambord mit großem Erfolg aufgeführt wurde: Der Bürger als Edelmann, in dem unter anderem die erheiternde Zeremonie dargestellt wird, in der der Bürger Jourdain nobilitiert und in den aus der Luft gegriffenen Ehrenstand eines türkischen Mamamuschi erhoben wird. Es treten ein Mufti auf, Derwische und tanzende Türken, die eine italianisierende «lingua franca» sprechen: «Mahometa per Giurdina / mi pregar sera e mattina / voler far un paladina / da Giurdina, da Giurdina / con galera e brigantina / per defender Palestina /… dara dara dara dara / astonara bastonara…» Hundertdreiundvierzig Jahre später stellte Gioacchino Rossini in Die Italienerin in Algier, uraufgeführt 1813, die Verschärfung des Korsarenkriegs jener Zeit in den Mittelpunkt. Der türkische Bey von Algier Mustapha wird in die Gemeinschaft der pappataci aufgenommen – und damit schuf Rossini ein Gegenstück zu Molieres türkischen Phantasien. Doch gab es auch ernsthaftere Versuche, das Bild des Türken und Muslims als faszinierend und geheimnisvoll, nicht aber ohne Würde zu zeichnen. In Corneilles Cid (1636), inspiriert durch die knapp zwanzig Jahre zuvor entstandenen Mocedades del Cid von Guillen de Castro, besitzen die Mauren als verläßliche und edle Feinde innere Größe. Im Jahr 1637
brachte Dalibray die Tragikomödie Soliman auf die Bühne, und Mairet bearbeitete das grausame Ende Mustafas, des zweitgeborenen Sohnes Süleymans des Prächtigen, den der eigene Vater auf Betreiben der Sultanin Roxelane ermorden ließ. Und sogar der große Racine, der gewöhnlich Themen und Figuren der klassischen Antike aufgriff, präsentierte 1672 ein Thema, das er selbst aufgrund der Aktualität und Brisanz als gewagt bezeichnete. Es handelte sich um ein tragisches und grausames Ereignis, das sich 1635 im Serail des Sultans in Istanbul zugetragen hatte. Der Dichter wußte davon durch die Briefe des Grafen von Cezy damals Botschafter bei der Pforte: Im Zuge der grausamen Nachfolgeregelungen am Sultanshof, dramatisch zugespitzt durch eine Liebesgeschichte, durch verletzte Ehre und Verrat, hatte Murad IV. seinen Bruder Bayezid ermorden lassen. Mit Racine wandelte sich das europäische Bild des «Serail»: Der Harem wird zum Ort der Lustbarkeit und des Todes. Racine bediente sich dabei des inzwischen jahrhundertealten Topos eines finsteren, grausamen und sinnlichen muslimischen Orients. Doch dieses Bildrepertoire hatte nicht nur romantische Aspekte. Die Beschäftigung mit dem Orient diente auch praktischen und konkreten Zielen: Jean-Baptiste Colbert, der zwischen 1660 und 1670 die Gründung von «Kompagnien» in China, Ostindien und in der Levante befürwortete, förderte mit großem Eifer auch Lehre und Studium der orientalischen Sprachen am College Royal zur Unterstützung der französischen Kolonial- und Handelspolitik. In den nachfolgenden zehn Jahren schickte der große Minister den Marquis de Nointel, einen Mann seines Vertrauens, mit weitreichenden Kompetenzen in die Levante. Er sollte die «Kapitulationen» der Türkei erneuern, Handelsbeziehungen knüpfen sowie Handschriften und Sammlerstücke nach Frankreich bringen. Zu Nointels Mitarbeitern gehörte eine
Zeitlang auch ein junger «savant en langues orientales», Antoine Galland, der zwischen 1670 und 1688 wiederholt ausgedehnte Reisen in die Levante unternahm. Er hatte Arabisch, Persisch und Türkisch, aber auch die griechische «Volkssprache» gelernt und fertigte vor seinem Eintritt ins College Royal im Jahr 1709 als Professor für arabische Sprachen eine beeindruckende Zahl von Übersetzungen an. Als Antoine Galland in Paris seinen Lehrstuhl einnahm, hatte er bereits den ersten Band der Mille et Une Nuits übersetzt, der im Jahr 1704 erschien. Dieses Werk prägte – im guten wie im schlechten Sinn – das europäische Orientbild in entscheidender Weise. Doch bereits sieben Jahre zuvor, 1697, war posthum die Bibliothèque Orientale von Barthelemy d’Herbelot de Molainville erschienen, der ebenfalls Professor am College Royal war. Das Werk trug den Untertitel Dictionnaire universel contenant généralement tout ce qui regarde la connaissance des peuples de l’Orient. Zur gleichen Zeit wurden in Frankreich Augenzeugenberichte von Reisenden gedruckt, die als Forscher, Diplomaten, Kaufleute, Archäologen, Sammler, Spione oder Missionare unterwegs waren: Zu ihnen zählten unter anderem Jean Thevenot und Francois Bernier, Jean-Baptiste Tavernier und Jean Chardin. Mit Galland und d’Herbelot etablierte sich einerseits die Orientalistik als Wissenschaft mit methodisch strukturierten Einzeldisziplinen, andererseits aber auch der Orientalismus als Geschmack und als grundlegender Bestandteil des späteren «Exotismus». Die Encyclopédie setzte es sich dann zur Aufgabe, den «Orient» im eigentlichen Sinn als den östlich des Euphrat liegenden Teil Asiens von der «Levante», den asiatischen Territorien westlich des Euphrat, abzugrenzen. Viele Errungenschaften aus der Levante wurden später auch in anderen Teilen der Welt heimisch und zum festen Bestandteil
des modernen Alltagslebens, ohne daß sie ihre Faszinationskraft einbüßten. Der Kaffee beispielsweise teilte mit seinem Konkurrenten und Verwandten, dem Tee, das paradoxe Schicksal, die «Eroberer zu erobern» – die Rache des militärisch oder technologisch Schwächeren, der dem Gegner als dem Gierigeren und Stärkeren dennoch etwas von der eigenen Kultur aufzuzwingen vermag. Ausgehend von Äthiopien und Arabien, Ägypten und der Türkei begann der schwarze Trank über Deutschland, Italien und Frankreich seinen Siegeszug in Europa, und sein Anbau veränderte die Landwirtschaft Südamerikas in tiefgreifender Weise. Der Tee wiederum eroberte von Indien aus England und von China und Zentralasien aus Rußland und Polen: vom Südosten her über die türkisch-mongolischen Khanate jenseits des Kaspischen Meers und gleichzeitig von Süden her über Persien und den Kaukasus. Kaffee und Tee ist es zu verdanken, daß Europa im 17. und 18. Jahrhundert vor dem Alkoholismus gerettet wurde. Diese Getränke veränderten die Alltagsgewohnheiten, die Etikette und die zwischenmenschlichen Beziehungen von Grund auf. Der Kaffee hatte in Europa anfangs keinen leichten Stand. Schon in den letzten zwanzig Jahren des 16. Jahrhunderts wurde er in Europa angebaut, allerdings nur in botanischen Gärten. Diplomaten wie der Venezianer Gianfrancesco Morosini oder Reisende wie der Römer Pietro della Valle beschrieben die merkwürdige türkische Sitte, das eigenartige Gebräu zu trinken. Es entbrannten heftige Debatten: Die einen behaupteten, Kaffee erleichtere die Atmung und die Verdauung, andere warnten davor, daß er die inneren Organe schädige und impotentia coeundi verursache, wieder andere (wie zum Beispiel der Leibarzt der Medici Francesco Redi) gelobten, auch in Zukunft Wein dem «bitteren und
verderblichen Kaffee» vorzuziehen. Als im Jahr 1683 Colbert starb, verbreitete sich das Gerücht, bei seiner Obduktion habe man festgestellt, daß sein Magen von dem üblen schwarzen Getränk verbrannt gewesen sei. Bei seinem in anderer Hinsicht unglücklichen Besuch beim Sonnenkönig hatte Süleyman Aga die Mode des Kaffeetrinkens populär gemacht, die sich von Paris aus rasch in ganz Frankreich ausbreitete. In Venedig und in Marseille horteten Anfang des 18. Jahrhunderts Gewürzhändler die kostbaren Bohnen – und die Weinproduzenten und -händler machten sich ernsthafte Sorgen um ihre Existenz. Der große William Harvey und sein Schüler William Ramsey meinten, der Kaffee sei ein wertvolles Werkzeug im Kampf gegen das allgemein grassierende soziale Übel der Trunksucht. Endgültig etablierte sich der Kaffeegenuß nach der Belagerung von Wien 1683. Der Legende zufolge eröffnete der einfache Soldat Franz Georg Kolschitzky dank der aus Kara Mustafas Lager erbeuteten und mit Kaffeebohnen gefüllten Säcke das erste europäische Kaffeehaus. Die Angewohnheit, den Kaffee mit Milch und Honig versetzt zu trinken, sollte jeden guten Muslim erschaudern lassen. Im Begeisterungstaumel über die Befreiung Wiens, so heißt es, sei auch das Kipferl erfunden worden, dessen Halbmondform an den zerschmetterten Islam erinnern sollte – und von nun an zum Morgenkaffee gegessen wurde. Doch Vorbehalte gegen das neue Getränk gab es nach wie vor. Liselotte von der Pfalz zum Beispiel, die Gemahlin des französischen Regenten Philipps L, des Herzogs von Orleans, ließ keine Gelegenheit aus, ihre Abneigung gegen Kaffee, Tee, Schokolade und andere neumodische Getränke zu äußern. Sie schwor auf das gute bayerische Bier. Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts versuchten die Holländer und später die Franzosen, den Kaffeestrauch auch in anderen Landstrichen
der Erde heimisch zu machen, zum Beispiel in Java und auf den Antillen. Trotzdem: Der Kaffee war und blieb eng verbunden mit der muslimischen Levante, wo man ihn zuerst kennengelernt hatte. Und Madame Du Barry posierte in einem «Sultaninnenkostüm», aus einem wertvollen Täßchen Kaffee schlürfend, für ein Porträt. In Venedig, das auch weiterhin das Tor zum Orient blieb, bevölkerten türkische Kaufleute mit riesigen weißen Turbanen und leuchtend roten Mänteln das Caffe Pignatta auf dem Markusplatz. In Paris wurde das Cafe Procope der Treffpunkt der philosophes: Hier saß man bis spät in die Nacht, trank das anregende Gebräu und diskutierte die Verbesserung der Welt. Mit den Lettres persanes wies Montesquieu dem Kaffee auch in der Literatur einen Ehrenplatz zu. Die Lettres persanes erschienen erstmals anonym im Jahr 1721 in Köln. Wenige Jahre später widmete Johann Sebastian Bach dem aus Arabien stammenden und von den Frauen Leipzigs so leidenschaftlich konsumierten Getränk seine «Kaffeekantate» Nr. 211 «Schweiget stille». Die Lettres persanes zeigten, daß der Orient als metaphorischer und imaginärer Ort «jenseits und außerhalb» geeignet war, die Eigentümlichkeiten und Torheiten der eigenen Kultur und der eigenen Lebensverhältnisse kritisch zu reflektieren. Die Türkengefahr war gebannt, die Türkenfurcht, die drei Jahrhunderte lang Europa im Griff gehabt hatte, warf bald nicht einmal mehr den Schatten einer Erinnerung. Nur folgerichtig, daß die zwischen Ethik, Ästhetik und Mode angesiedelte Hinwendung zum Orient, die sich bald in ganz Europa verbreitete, ausgerechnet in Frankreich ihren Anfang nahm. Es war die Zeit der Turquerien: Man kleidete sich «alla turca», baute und dekorierte die Räume «à la mode turque». Ganz Europa wurde von der Mode des türkischen Getränks par excellence erfaßt – mit Ausnahme Rußlands und Englands, die
den Tee der Inder, Perser und Chinesen bevorzugten. Voltaire bekundete seine Wertschätzung der Weisheit und Gutmütigkeit der Menschen am Bosporus, die Gärten und Rosenbeete kultivierten, und pries das Wissen, die Mäßigung und das savoir vivre der Chinesen. Türken, Perser, Chinesen, Inder und «gute Wilde» tummelten sich im Zeitalter der Encyclopedie allenthalben. Doch im Unterschied zu diesen neubewerteten und neuerfundenen Völkern verlieh man den Türken sentimentale, humoristische, ja lächerliche Züge. Doch sie behielten jenes Furchterregend-Schreckliche (für die philosophes auch Unerträgliche), das ihrem tyrannischen Herrschaftssystem anhaftete und das sie mit den Moskowitern und Japanern teilten. Montesquieu und seinem Esprit des lois zufolge war jedoch der auf Fanatismus gegründete Despotismus und damit die Neigung zu passivem Erdulden der Unterdrückung typisch für den Islam, während im Christentum der Geist der Freiheit lebendig war. Die Liste der Stereotypen, die ein kulturelles Modell begründeten, ist lang: Bei den Persern war es das Geheimnis ihres fernen, in der Magie wurzelnden kulturellen Ursprungs; bei den Arabern das Geheimnis der Wüste und die grausamen Sitten und Gebräuche ihrer nomadischen Stammesverbände; Nordwestindien – das Indien der Moghulzeit, in dem nach dem Siebenjährigen französisch-englischen Krieg allmählich die europäische Kolonialherrschaft begann – verschwamm in den trüben Farben seiner schneebedeckten Berge zwischen Karakorum und Hindukusch; Zentralasien mit den Karawansereien von Buchara, Kiwa und Samarkand und den turkmenischen, kirgisischen und uigurischen Khanaten, die den Prunk und die Wildheit Tamerlans geerbt hatten, umgab die Aura des Wunderbaren; und im Süden, jenseits der maurischen Reminiszenzen Andalusiens und der Schebecken der Barbaresken, die das Mittelmeer unsicher gemacht hatten,
lagen die antiken Städte aus Backstein und Majolika, aus getrocknetem Lehm und Dufthölzern, die Karawanenzentren zwischen dem Atlantik und der Sahara, wo aus Timbuktu und dem Nigerbogen das sudanesische gelbe Gold, das weiße Gold Elfenbein und das schwarze Gold, die Sklaven Innerafrikas, eintrafen. Der Islam war das gemeinsame Band aller dieser so unterschiedlichen und rätselhaften Völker. Sie unterschieden sich in ihren Trachten und Sprachen, beteten aber zur selben Stunde des Tages und der Nacht, den Blick auf ein und denselben Ort der Erde gerichtet und dieselben Formeln in derselben Sprache rezitierend, wenn auch mit unterschiedlichem Akzent und Tonfall. Strebte das Europa der Aufklärung danach, die Vernunft, die Natur und das Glück zu definieren, so erschien demgegenüber der Islam als ein Schattenreich voll strahlenden Lichts und geheimnisvoller Stille: ein Mond-Glaube, eine Gegenvernunft, die aber dennoch einige der herausragendsten Philosophen der Menschheit hervorgebracht hatte, ein blutrünstiger und intoleranter Glaube, der dennoch Zuvorkommenheit, Barmherzigkeit und Gastfreundschaft kannte. Jetzt, da die Waffen schwiegen, konnte man sich mit diesen Widersprüchen demutsvoll und bescheiden auseinandersetzen. Aber das einmal gefällte Urteil zu revidieren – dazu waren nicht alle Aufklärer bereit. Unvergessen war im übrigen, daß der Islam lange Zeit Europa das Fürchten gelehrt hatte. Im neuen Klima der Toleranz drängte man diejenigen, die an das Gesetz des Koran glaubten, mit liebenswürdiger Unerbittlichkeit in die Rolle, die ihnen, wie man glaubte, historisch zukam: die Rolle der enttäuschten Träumer, der Vertreter eines untergegangenen oder vom Untergang bedrohten Imperiums, der Betrogenen, nicht selten auch des Tolpatsch. Im übrigen hatte Frankreich
die Hegemonialbestrebungen des Grand Siede gegenüber der Türkei nie ganz aufgegeben. In den Jahren 1685 und 1686 hatte John Locke im holländischen Exil seine Epistola de tolerantia verfaßt, mit der er den Essay concerning tolerance von 1667 wiederaufgriff. Seine Heimat England war damals von Bürgerkrieg und Massakern erschöpft, Europa vom Dreißigjährigen Krieg ausgelaugt. Nach dem Sieg über die Türken 1683 atmete man erleichtert auf und hoffte auf eine lange Ära des Friedens. Lockes großer Aufsatz ist der Ausgangspunkt jener mutua inter christianos tolerantia, deren auch an den Säkularisierungsprozeß geknüpfte Hoffnungen die europäische Sittenlehre in den nachfolgenden drei Jahrhunderten beherrschten. Im Postskriptum seiner Epistola setzte sich Locke mit Ketzerei und Schisma, mit Apostasie und infidelitas auseinander. Wenn aber unterschiedliche Religionen unterschiedliche Gesetzgebungen und damit unterschiedliche Wertvorstellungen und Verhaltensweisen erforderlich machten – welcher Spielraum blieb dann noch für Kriege, durch die die Richtigkeit der einen oder anderen Position entschieden werden sollte? Die Frage war gestellt, wenn auch nicht beantwortet. War Toleranz Sache der Christen, oder war es ein universelles Postulat? Voltaire kam wiederholt auf diese Frage zurück, die ihn faszinierte, seit er als Dreißigjähriger zwischen 1726 und 1729 drei Jahre in England verbracht hatte. Dort hatte er die Werke Newtons und Lockes kennen und schätzen gelernt und wurde deren unermüdlicher Verfechter. In den Jahren 1763 und 1764 verfaßte Voltaire den Tratte sur la tolerance und das Dictionnaire philosophique. Beide Schriften, insbesondere die zweite, etwa das Gespräch zwischen Tuctan, dem Pascha von Samos, und dem Gemüsegärtner Karpos im Catéchisme du jardinier, enthalten die Botschaft der Verständnisbereitschaft
und der Sympathie flir die muslimische Welt. Der Essai sur les mœurs et l’esprit des nations wiederum ist eine schroffe Ablehnung der Kreuzzüge. Er wurde später in einem eigenen Band als Replik auf die barocken Apologien der Gesta Dei per Francos veröffentlicht, die hundert Jahre zuvor von den Gelehrten am Hof des Sonnenkönigs verfaßt worden waren. Doch der Islam lieferte die Szenerie für das Toleranzmodell ebenso, wie er als historische Kulisse des Luxus und des Fanatismus präsentiert wurde. Wie uns Voltaire im (nach dem Vorbild des Rosengarten des persischen Dichters Sadi verfaßten) Vorwort zu seiner Erzählung Zadig in Erinnerung ruft, wurde Madame de Pompadour gewöhnlich mit dem Schimpfnamen «Sultanin» belegt – was ihr keineswegs mißfallen hat. Eine Antwort lieferte Gotthold Ephraim Lessing, der 1779 sein Drama Nathan der Weise veröffentlichte, das mit seinen beiden anderen Werken aus der gleichen Zeit eng verknüpft war, der Erziehung des Menschengeschlechts und den Dialogen über die Freimaurerei Ernst und Falk. Der Nathan ist mit seinem Aufruf zur Toleranz das eigentliche Manifest der Aufklärung. Und es ist bezeichnend, daß Lessing dabei ausgerechnet den muslimischen Orient Saladins und das Mittelalter der Kreuzzüge heranzieht – einen geographischen und kulturell fernen Raum, der uns bereits als Vorbote der (nicht mehr allzu fernen) Romantik erscheint. In Lessings Wahl dieses Ortes und dieser Zeit jedoch schwingt noch etwas sehr Aufschlußreiches mit: So edel und großmütig Saladin auch ist, er steht dennoch für die Tyrannei, die flir den Herrschaftsbereich des Islam als so typisch empfunden wurde. Und einem bereits im Mittelalter gefestigten und nie wirklich aufgegebenen Denkschema zufolge diskreditierte sich der Islam schon mit der ruchlosen Persönlichkeit seines Gründers. Voltaire, der die Muslime
wiederholt als verständnisvoll und tolerant und den Islam im Vergleich zum Christentum als positiv dargestellt hatte, charakterisierte in seiner Tragödie Mahomet ou le fanatisme den Propheten als grausam, heuchlerisch, verlogen, tyrannisch und intolerant. Im August 1745 schickte Voltaire ein Druckexemplar seiner Tragödie an Papst Benedikt XIV, begleitet von einem schmeichlerischen Brief in italienischer Sprache. Darin eignete er «sein gegen den Gründer einer falschen und barbarischen Sekte gerichtetes Werk» «dem Oberhaupt der wahren Religion» zu. Einen anderen Weg beschreitet Henri de Boulainvilliers in seinem Buch Vie de Mahomet. Ihm zufolge ist der Prophet ein großer, weiser und ehrenhafter Gesetzgeber und der Begründer einer authentischen Vernunftreligion, die lediglich von den islamischen Rechtsgelehrten und Theologen verfälscht worden sei. Auch in diesem Fall ist die orientalische Einkleidung lediglich eine Metapher für den Westen und eine verschlüsselte historische Kritik an den christlichen Kirchen, insbesondere am Katholizismus. Doch im Gefolge dieser Schrift entstanden zahllose Lobeshymnen auf den Islam und seinen Gründer aus theistischer, rationalistischer, ja sogar atheistischer Perspektive. Zur gleichen Zeit eroberte der Orient die Musik und die Literatur. In Mozarts Zauberflöte wird die ägyptisch mazdaistische, gnostische Weisheit des Sonnenanbeters Sarastro dem treulosen Mohrensklaven Monostatos gegenübergestellt. Monostatos steht für den geistigen Niedergang eines Orients, der der rückständigen Frömmelei der Sarazenen anhängt. Mit Christoph Willibald Glucks von Tasso inspirierter Armide, die im September 1777 im Palais Royal in Paris uraufgeführt wurde, scheint die Epoche des heiteren Rationalismus und der aufklärerischen und anmutigen
Ariostschen Leidenschaftlichkeit eines Voltaire endgültig vorbei. Der Oberon Christoph Martin Wielands, eines Freundes von Goethe und Kleist, präsentiert einen verführerischen, geheimnisvollen und magischen Orient. Das «romantische Heldengedicht» erschien im Jahr 1780 im «Teutschen Merkur» und stellt den christlichen Westen der Ritterzeit einem magischen muslimischen Orient gegenüber. Im Oberon, der wenige Jahre später von Carl Maria von Weber kongenial vertont wurde, ist der Islam – wie das Mittelalter – ein magisch-romantischer, ferner Ort. «Andernorts» – das heißt im Lateinischen alibi. Mozart und Rossini liebten das heitere Spiel. Und man spielte im 18. und 19. Jahrhundert mit Janitscharen und Eunuchen, mit Harems und Minaretten, denn man war erleichtert: Der jahrhundertelange Alptraum der Bedrohung war vorbei. Vorbei war die Gefahr der Türken, die ihre Gegner in Ketten legten und pfählten, die Bedrohung durch die Barbaresken, die plünderten und mordeten. Turban und Krummsäbel konnten jetzt getrost zum Bühnenrequisit werden, Harem und Moschee zur Bühnenkulisse von Komödie und opera buffa.
12 Vom «kranken Mann am Bosporus» zum «dritten Ansturm» des Islam
Neue Pilger, neue «Kreuzfahrer» Im Mai 1798 stach General Napoleon Bonaparte von Toulon aus in See, am 1. Juli landete er in Ägypten und nahm einen Tag später Alexandria ein. Über ein Jahr, bis Juli 1799, blieb er im Orient. Von Februar bis Mai 1799 kämpfte er zwischen Palästina und Syrien. In Jaffa ließ er dreitausend Gefangene samt ihren Familien kaltblütig niedermetzeln, widerstand aber tapfer der Pest. Nach Jerusalem gelangte er nie. Der junge General hatte ehrgeizige Pläne. Am 2. Juli ließ er in Ägypten eine Proklamation verkünden, in der die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit einem Appell im Namen des «wahren Islam» verknüpft waren. Er träumte davon, von Alexandria aus den Orient zu beherrschen, die Perser und Inder gegen die Russen und Engländer zu mobilisieren, die Ideen der Französischen Revolution zu verbreiten und zugleich den Ruhm der Gesta Dei per Francos zu erlangen. Über den Islam wußte er wenig. Doch er hatte ausgezeichnete Berater und ein außerordentliches Gespür für die jeweilige Situation. Neben der Ägyptologie entstand mit Napoleons Orientfeldzug aber auch die moderne Kreuzzugsliteratur: Chateaubriand, Michaud und Dore wären ohne das
Orientabenteuer Napoleons niemals ins Heilige Land gepilgert und hätten sich niemals für die Kreuzzugsideologie begeistert. Der osmanische Sultan Selim III. konnte seinen englischen, russischen und österreichischen «Beschützern» nicht trauen. Zwar waren diese Mächte durch das gemeinsame Interesse verbunden, dem revolutionären Frankreich den Weg zur Vorherrschaft im Mittelmeer zu versperren, zugleich aber blieben sie fest entschlossen, mit oder ohne Frankreich am reich gedeckten Tisch des Orients Platz zu nehmen, um sich die Überreste eines Reiches einzuverleiben, dessen Grenzen noch wenige Jahrzehnte zuvor von der Donau bis zum Tigris und von der Wolga bis an den Oberlauf des Nil gereicht hatten. Im Juli 1802 stimmte der «Große Herrscher» dem Frieden von Amiens zu und erneuerte in einem Vertrag mit Frankreich komplett das Diktat der Kapitulationen. Napoleon, der sich am 2. Dezember 1804 zum Kaiser der Franzosen krönte, betrieb gegenüber der Hohen Pforte eine uneindeutige Politik, die aber durchaus von einem gewissen Wohlwollen bestimmt war. Schon als junger Mann war er beeindruckt von dem, was wir heute «Orientalismus» nennen. Er hatte die Histoire des arabes von Francois Augier de Marigny gelesen und war fasziniert von der Voyage en Egypte et en Syrie und den Considerations sur la guerre actuelle des turcs, beides Werke von Constantin-Francois de Chassebceuf, Graf von Volney die im Jahr 1787 beziehungsweise 1788 erschienen waren. Nachgewiesenermaßen diskutierte er mit Goethe über Voltaires Mahomet und ergriff dabei Partei für den Islam und den Propheten. Andererseits hegte Napoleon aber auch (in radikalem Gegensatz zu Voltaire) eine ausgesprochene Sympathie für die Kreuzzüge. In Fortsetzung einer Linie, die von Ludwig IX. bis Ludwig XIV reichte, forderte die kaiserliche Propaganda jetzt erneut den französischen Primat.
Napoleon blitzte auf wie ein Komet. Neben dem bürgerlichen Gesetzbuch (dem Code civil) und dem Liberalismus hinterließ er Europa als sein Erbe auch die Ägyptologie, die sich im Gefolge seiner Ägypten-Expedition entwickelte. Und den Ägyptern hinterließ er die Erinnerung daran, daß die Ideale der Französischen Revolution und der Islam in gewisser Weise konvergieren, ja den Kern der Freimaurerlogen bilden. Der wiederauflebende Kreuzzugsgedanke wiederum kam auf vielfältige Art und Weise zum Ausdruck. Da ist zum einen Rene Chateaubriand. Im Jahr 1811, als das Kaiserreich noch in erhabener Größe erstrahlte, machte er sich im Geist der voyage des 18. Jahrhunderts, aber auch im Geist der traditionellen christlichen Wallfahrt nach Jerusalem auf. Auf dieser Reise entstand sein berühmtes Tagebuch Itineraire de Paris a Jerusalem. Unterwegs machte er auch in Tunis Station. Zehn Jahre später, als er schon Politiker war und der Restauration mit einem pamphlet gegen Napoleon seinen Tribut entrichtet hatte, kam er in einer Rede vor der Reichskammer am 9. April 1816 auf diese Reise zu sprechen. Scharf verurteilte er das Wiederaufflammen der seeräuberischen Aktivitäten der Barbaresken und rief dazu auf, im Namen der französischen Tradition das Banner eines neuen Kreuzzugs zu schwingen. Drei Jahre später, 1819, erhob Pierre Deval, der französische Konsul in Algier, dieselbe Forderung. Und im Jahr 1822 erging in einer in Genf unter dem Namen Giampietro Vieusseux erschienenen Schrift an die europäischen Mächte die Aufforderung, sich unter einem gemeinsamen Banner zusammenzuschließen, um die seeräuberischen Barbaresken die Sprache «des Rechts und der Vernunft» zu lehren (J.-E. Humbert und G. Vieusseux, Les barbaresques et les chretiens im Anhang G. Vieusseux, Extrait d’une lettre du Lazareth de Livourne, hg. von L. Neppi Modona, Florenz 1983).
In diesem geistigen Klima reifte der Plan zur französischen Eroberung Algiers – ein extremer Vorstoß Karls X. von Bourbon, mit dem er versuchte, an Popularität zu gewinnen und die Feindseligkeiten einzudämmen, die ihm entgegenschlugen. Aber sein Enkel und Nachfolger, der «JuliKönig» Louis Philippe, setzte seinerseits die Politik der kolonialen Expansion fort, der der Kreuzzugsgedanke und die – allseits befürwortete – Forderung von Fortschritt und Zivilisation nur als Alibi diente. Dem Thema der Kreuzzüge sind die Fresken in fünf Sälen im Schloß Versailles gewidmet, die der liberale und mit einer Verfassung regierende Bourbonen-Herrscher in Auftrag gegeben hatte. Napoleon III. griff diese politische Linie auf und setzte sie fort. Er förderte die Forschungstätigkeit der orientalistischen Gelehrten der Societé de 1’Orient Latin, die den Recueil des Historiens des Croisades verfaßten. Die Glaubenspredigt – ein Thema, das nur sehr zurückhaltend behandelt wurde; man hätte das Gegenteil erwartet –, die Ausweitung der kolonialen Interessen, die «Mission», den Ländern außerhalb Europas politische Freiheit und zivilisatorischen, sozialen und technischen Fortschritt zu bringen – all das trug zur Rechtfertigung der politischen Abenteuer in Asien und Afrika bei. Bisweilen blitzte – zur propagandistischen Unterstützung – auch das Kreuzzugsbanner auf. Das gleiche gilt mutatis mutandis für die französische Expedition nach Tunesien 1881 – 1883; für die Kampagne General Gordons 1884/85 gegen den mahdi Muhammad Ahmad; für die italienische Besetzung Tripolitaniens 1911/12; für den Krieg der Spanier gegen die Rif-Kabylen 1921-1926, in der sich der Galizier Francisco Franco besonders hervortat, der spätere caudillo einer ganz anderen cruzada; und schließlich gilt es auch für die beiden italienischen Kriege in Äthiopien, das bei den genuesischen
und portugiesischen Kreuzzügen des 15. und 16. Jahrhunderts ein Verbündeter gewesen ist.
Ferne Horizonte «Tu sorridi alla terra che tu predi» («Du lächelst dem Land zu, das du erbeutest», aus dem Gedicht La canzone d’oltremare, das anläßlich des Libyenkriegs zwischen Oktober 1911 und Januar 1912 im «Corriere della Sera» veröffentlicht wurde). Mit diesen Worten pries Gabriele D’Annunzio im Jahr 1911 die triumphale Eroberung Tripolitaniens. Jahrhundertelang, insbesondere aber zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts, «lächelten» die Europäer von Voltaire bis Kipling den Ländern zu, die sie im Begriff waren zu erobern. Ja, sie verliebten sich – wie so häufig, wenn der Verfolger und Kerkermeister seinem Opfer aufrichtige Zuneigung entgegenbringt, die zuweilen sogar erwidert wird. Lord Byron eilte den von den Türken unterdrückten Griechen zu Hilfe und starb im Jahr 1824 in Missolunghi an Malaria. Unzählige seiner Landsleute wie Europäer überhaupt belieferten jedoch zur gleichen Zeit die Museen und Privatsammlungen ihrer Heimat mit Gegenständen und Fundstücken aus dem Orient und legten auf Banken die Erträge ihrer Raubzüge an. Diese Liebe wurde allenfalls durch einen ästhetisierenden Wahn getrübt. Doch sie war aufrichtig. Zwischen 1826 und 1829 bereiste Washington Irving ein verfallendes Granada, ließ den alten Glanz zu neuem Leben erstrahlen (ähnlich wie Chateaubriand in Les aventures du dernier Abencérage) und weckte in Europa die Begeisterung für die großartigen Ruinen Spaniens. Gerard de Nerval bereiste 1842 und 1843 den Orient und schilderte seine Erlebnisse in der langen Traumdichtung
Voyage en Orient, die die Brüder Gautier, Flaubert, Hugo, Loti und die zahllosen «orientalistischen» Maler in ihren Bann zog. Im Europa des 19. Jahrhunderts entstanden überall Paläste und Pavillons im «türkischen», «maurischen» oder «Moghul» Stil – neben Kirchen, Bahnhöfen und Fabriken in neugotischer Bauart. Das eine wie das andere (der fingierte Orient wie das fingierte Mittelalter) war die Imagination eines fernen Ortes, Gegenstand der Faszination und des Begehrens, Objekt einer tiefen Ablehnung und einer noch stärkeren Anziehung. Einen völlig anderen Stellenwert besaß umgekehrt Europa für die islamische Welt. Im Jahr 1785 wurde in Istanbul der erste Reformminister Halil Hamid zusammen mit anderen «Westlern» ermordet und in den Bosporus geworfen. Um den Hals hängte man ihm ein Schild, das ihn als Feind der shari’a und des Osmanischen Reiches verunglimpfte. Als in dem für Europa denkwürdigen Jahr 1789 Sultan Selim III. den Thron bestieg, verzichtete er freilich keineswegs darauf, junge Männer privilegierter Familien zum Studium in den Westen zu schicken, überall in Europa Gesandtschaften einzurichten, behutsame Reformen in Gang zu setzen und damit die Grundlagen für einen im westlichen Sinn des Wortes «modernen» Staat zu schaffen: ein diszipliniertes Heer, eine unbescholtene, gut funktionierende Verwaltung, ein geordnetes Finanzsystem, eine durch verbindliche Normen geregelte Wirtschaft. Diese Maßnahmen waren überlebensnotwendig, wollte das Osmanische Reich nicht vom Westen völlig an den Rand gedrängt werden. Die Französische Revolution und die Restauration lehrten die Osmanen, daß in Europa zwar die Regierungen wechseln konnten, Finanzen, Wirtschaft und Technologie sich dagegen konstant in eine Richtung weiterentwickelten. Der Sieg der Heiligen Allianz über Napoleon und die beiden russisch-türkischen Kriege 1803-1812 und 1828-1829 hatten,
wie es schien, die Türkei vollkommen in die Hände des Zaren gegeben. Das bedeutete die Hegemonie der russischen Flotte im Schwarzen Meer und durch die beiden Meerengen auch im Mittelmeer. Daher verbündeten sich die Franzosen und Engländer gegen Rußland, unterstützten gleichzeitig aber auch den Aufstand der Griechen gegen die Türken sowie die Aktivitäten Muhammad Alis in Ägypten. Ein osmanischer Offizier albanischer Herkunft, war Muhammad Ali im Jahr 1805 Vizekönig von Ägypten geworden, hatte die Mamluken durch brutalen Mord ausgeschaltet (1811), seine Herrschaft in Kairo gefestigt und die Modernisierung des Landes energisch vorangetrieben. Sein Sohn Ibrahim (1789 – 1848) unterstützte die Maßnahmen des Vaters. Er war dessen designierter Nachfolger, starb aber vor ihm. Mit seinen nach europäischem Vorbild organisierten Streitkräften erzielte er militärische Triumphe. Er unterdrückte die wahabitische Sekte in Arabien und unterstellte im Jahr 1818 den Hedschas genannten westlichen Teil der Arabischen Halbinsel der ägyptischen Herrschaft. Er war der Hauptakteur bei der türkischen Niederschlagung der aufständischen Griechen. Während der Vater offen gegen die Hohe Pforte aufbegehrte und für Ägypten die Unabhängigkeit erstrebte, unternahm der Sohn einen glorreichen Syrienfeldzug. Im Jahr 1832, nach der Einnahme Akkons, organisierte er seine Kräfte, um einen kühnen Traum zu verwirklichen: die Eroberung des Osmanischen Reichs. Er lud die Europäer ein, ins Heilige Land zu kommen (die Engländer eröffneten dort im Jahr 1838 ein Konsulat), und sorgte für die Abschaffung des lästigen Wegezolls für den Zutritt zu den heiligen Stätten, den die osmanischen Paschas jahrhundertelang von den Pilgern eingefordert hatten und der ihnen einen luxuriösen Lebensstil ermöglichte.
Ibrahim weckte Hoffnungen und Leidenschaften. Auf ihn blickte voller Hoffnung eine arabische Welt, die allmählich erwachte und die Bereitschaft zeigte, das träge osmanische Joch abzuschütteln. Und obwohl er die Freiheitsbestrebungen der Griechen niederschlug, hofften auch die europäischen Liberalen auf ihn als einen Befreier und Modernisierer. Doch ein russisches Heer hielt seinen Vormarsch nach Istanbul auf. Nach Ibrahims Tod jedoch war der Weg frei. Nach dem Beispiel Englands eröffneten jetzt auch Frankreich, Preußen, Österreich und Spanien Konsulate im Heiligen Land; Rußland schickte einen Beobachter. Ein Grund dafür, daß die Europäer die Massenwallfahrt nach Jerusalem nicht wieder aufnahmen, waren die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse in der Heiligen Stadt. Um sie zu verbessern, setzten die europäischen Mächte öffentliche Bauaufträge in Gang und gründeten Krankenhäuser. Von diesem Erneuerungseifer ermuntert, kehrten auch die Juden der Diaspora langsam, aber zielstrebig und entschlossen in das Land ihrer Herkunft zurück. Viele siedelten sich im Heiligen Land an und kauften Boden, um in Erez Israel Wurzeln zu schlagen. Sie waren von der Regierung des Sultans wie auch von der arabischen Bevölkerung und den westlichen Konsulaten wohlgelitten. Das Volk Israel hatte das Gelobte Land nie aus der Erinnerung verloren, immer waren Juden dort ansässig gewesen. Mit Unterstützung und Förderung des Sultans hatte die jüdische Gemeinde Jerusalems seit dem späten 15. Jahrhundert eine neue Blütezeit erlebt: Aus Jerusalem stammte Isaak Luria (1534 – 1572), der größte Kabbalist aller Zeiten. Im Jahr 1700 wanderte der Rabbiner Jehuda Ha-Hassid zusammen mit tausend aschkenasischen Juden aus Polen nach Jerusalem aus, um den Repressionen und Verfolgungen zu entgehen (ihre sephardischen Glaubensbrüder waren besser integriert und konnten im allgemeinen in Frieden
leben). 1720 wurde eine mit großen finanziellen Opfern im südwestlichen Viertel der Stadt erbaute Synagoge zerstört, da die Juden eine ihnen auferlegte immense Tributsumme nicht aufbringen konnten. Erst mehr als hundert Jahre später durften sie zurückkehren und das Gotteshaus wiederaufbauen. Es wurde 1864 fertiggestellt und trug zur Erinnerung an die Zerstörung den Namen Hurva (was im Hebräischen «Ruine» heißt). Doch der Zusammenhang zwischen den politischen Ereignissen im Heiligen Land und dem Weltgeschehen – mit allen dramatischen Zuspitzungen und Wechselfällen – blieb auch weiterhin bestehen. In der Geburtsgrotte in Bethlehem, wo seit dem 4. Jahrhundert die Krypta der großartigen Basilika Konstantins stand, die selbst die Perser nicht zu schänden gewagt hatten, bezeichnete ein silberner Stern den Ort, an dem der Überlieferung zufolge der Herr geboren wurde. Eines Tages wurde dieses Symbol entwendet, das mit seiner lateinischen Inschrift in einer von orthodoxen Gläubigen gehüteten Basilika wohl allzu demonstrativ die Rechte der Lateiner zum Ausdruck gebracht hatte. Es kam zu diplomatischen Verstimmungen zwischen der katholischen und der orthodoxen Gemeinde. Der Zar intervenierte entschieden zugunsten der orthodoxen Christen und stellte der Hohen Pforte ein hartes Ultimatum. Frankreich und England schlugen sich auf die Seite des Sultans – nicht ohne Widerstände im eigenen Land, verbreitete doch seit Jahrzehnten die romantisch-liberale Propaganda in ganz Europa erfolgreich das Bild des osmanischen Regimes als dekadent und korrupt, grausam und lasterhaft. Jetzt aber stand weit mehr auf dem Spiel als der Stern von Bethlehem oder die hehren Träume der Literatur und der «orientalistischen» Malerei. Es ging um die Vorherrschaft in den Meerengen und damit um den Zugang der russischen Flotte zum Mittelmeer.
Die Krise weitete sich zum Krimkrieg aus (1854-1856), der mit der Sitzung des Friedenskongresses in Paris am 25. März 1856 endete. Darin wurden Reformen zugunsten der Christen im Osmanischen Reich beschlossen, und die zaristische Regierung mußte ihren Anspruch aufgeben, einzige Schutzmacht der Christen im Osmanischen Reich zu sein. Die Lage der christlichen Gemeinschaften im Heiligen Land und an den heiligen Stätten wurde damit in den größeren Zusammenhang der sogenannten «orientalischen Frage» gestellt. Frankreich und Rußland blieben trotz allem die maßgeblichen Ansprechpartner für die Christen im Heiligen Land. Im Jahr 1869 wurde der Suezkanal eröffnet, in den Augen der Europäer der Königsweg der Zivilisation, der Freiheit und des Fortschritts in Asien. Das Kanalprojekt verwirklichte den Traum, den die türkischen Sultane bereits seit dem 16. Jahrhundert gehegt hatten. Wäre er damals realisiert worden, die Weltgeschichte hätte sich anders entwickelt. Bereits 1833 waren in Ägypten begeisterte Anhänger Saint-Simons eingetroffen, die überzeugt waren, die Aushebung des Suezkanals käme ihrem «Kreuzzug» für den Fortschritt zugute. Aber Muhammad Ali vereitelte ihre Pläne aus Angst vor politischen Komplikationen. Im Jahr 1854 dann erhielt der Franzose Ferdinand de Lesseps die Konzession für die Ausführung der Kanalarbeiten, und im Jahr 1858 wurde die Suezkanalgesellschaft mit einem Kapital von 200 Millionen Francs gegründet. Ein Jahr später begannen die Arbeiten – unter der energischen Opposition Englands, das nicht nur ein Wiedererstarken der osmanischen Seemacht, sondern auch den verstärkten Einfluß Frankreichs (den napoleonischen Imperialismus im Nahen Osten) und eine Konkurrenz für den Seeweg nach Indien fürchtete. Am 17. November 1869 wurde in Anwesenheit der Kaiserin Eugenie von Frankreich und des
österreichischen Kaisers Franz Joseph der Suezkanal eingeweiht. Im gleichen Jahr hielt sich Franz Joseph unter anderem auch in Jerusalem auf, wo er bescheiden und demütig die schlichte Gastfreundschaft der Franziskaner des Heiligen Grabes annahm, die nicht einmal über Gästeunterkünfte verfügten. Obwohl Österreich drei Jahre zuvor von Preußen besiegt worden war, bestand vielleicht doch noch Aussicht auf Verwirklichung eines diplomatischen Plans, den Eugenie hegte: der Plan einer politisch-militärischen Allianz der katholischen Mächte Europas. Aber mit der Niederlage Napoleons III. im Krieg gegen Preußen ein Jahr später, der wachsenden Einflußnahme der Engländer in Ägypten, das von dem Khediven regiert wurde (zwischen 1870 und 1873 hatte Samuel Baker den Oberlauf des Nil erobert, im Jahr darauf war Charles George Gordon zum Generalgouverneur des Sudan ernannt worden), und schließlich der Abtretung der SuezkanalAktien im Wert von 100 Millionen Francs durch den ägyptischen Khediven (den Hauptaktionär) an die britische Regierung kehrten sich die Verhältnisse um. Für das Mittelmeer, das durch die Befahrung des Atlantischen Ozeans seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung verloren hatte, brach mit dem Suezkanal eine neue Ära an, und auch Gibraltar gewann wieder an Bedeutung. Von nun an mußten die Kanonenboote, die Passagier- und Handelsschiffe Ihrer Majestät der englischen Königin auf ihrem Weg nach Indien nicht mehr in Alexandria anlegen (das seit 1807 militärisch besetzt war), um ihre Fracht auszuladen, und sie mußten auch nicht mehr den afrikanischen Kontinent umschiffen. Auf dieses massive diplomatische und wirtschaftliche Eindringen der Europäer reagierte Rußland, indem es die religiöse Karte ausspielte. 1877 erklärte der Zar der Türkei den Krieg mit der Begründung, er könne die Unterdrückung und Erniedrigung der dem Sultan unterworfenen orthodoxen
Christen, insbesondere auf der Balkanhalbinsel, nicht länger dulden. Das russische Heer gelangte bis vor die Tore Istanbuls und wurde erst durch den Friedensschluß von San Stefano am 3. März 1878 aufgehalten. Das Osmanische Reich zerfiel immer mehr, und die Zugeständnisse, die es dem Zaren machen mußte, raubten ihm endgültig Ansehen und Unabhängigkeit. Doch Westeuropa war erneut beunruhigt. Insbesondere England fürchtete eine russische Hegemonie über die Türkei, was den Verkehr russischer Schiffe im Mittelmeer und die intensive Nutzung des Suezkanals durch die Russen und damit eine Bedrohung der britischen Seeherrschaft bedeutet hätte. Österreich hatte Sorge um das Gleichgewicht auf dem Balkan. Ein russisch-englischer Krieg stand bevor, der jedoch durch den Berliner Kongreß und die kluge Politik Fürst Bismarcks verhindert werden konnte. Jenseits des Kaspischen Meers hatte unterdessen ein anderer Wettlauf begonnen, eine Schachpartie, bei der zahlreiche neugierige Beobachter den Akteuren über die Schultern sahen, bereit, jederzeit die Fronten zu wechseln. Die Engländer nannten es das «Große Spiel», die Russen «Schattenturnier»: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand im Gebiet zwischen Syr Darja und Tienshan ein unerbittlicher Wettlauf zwischen Rußland und England statt. Beide Seiten wollten möglichst viel Territorium zwischen Kaspischem Meer und Hindukusch für sich gewinnen. Die türkisch-mongolischen nomadischen Muslime Zentralasiens konnten sich von ihrem «Kalifen», dem Sultan in Istanbul, längst von den europäischen Großmächten in die Knie gezwungen, kaum mehr etwas erwarten. Seit langem war Zentralasien geprägt von Unsicherheit, Unruhe und Spannungen, aber auch von Erschütterungen, die auf eine Erneuerung hindeuteten. Abenteurer aus einem verzweifelt mutigen Europa wurden mit geradezu magischer
Anziehungskraft hierhergespült. Zum Beispiel Paolo Avitabile, geboren in Agerola im Jahr 1791, ein Soldat, der auf abenteuerliche Weise in den Pandschab gelangte und zum Gouverneur von Peshawar aufstieg. Er besaß einen eigenen Harem, führte ein brutales Regime, erhängte seine Gegner oder ließ ihnen die Zunge abschneiden. Im Alter kehrte er ins heimatliche Kampanien zurück, wurde von König Ferdinand II. ausgezeichnet und starb in seinem Heimatort im Jahr 1850. Russen und Engländer operierten jedoch nicht nur auf militärischer Ebene: Ein Heer von Spionen und Agenten, getarnt als Geographen, Ethnologen und Kaufleute, strömte in die Wüsten und zu den rauhen Hängen der höchsten Berge der Welt. Unter ihnen waren auch hervorragende Söldner und echte Wissenschaftler wie beispielsweise der Forscher Nikolai Michailowitsch Przewalski, General und Zoologe von internationalem Renommee. Oder Shoqan Ualichanow, Neffe eines kasachischen Khans, Kadett in Orenburg und später zaristischer Geheimagent unter den Kasachen und Kirgisen, Botaniker, Geograph, Maler, Freund Dostojewskis während dessen Verbannung und liberaldemokratischer Denker. Er starb 1865 im Alter von nur dreißig Jahren. Nach der Auflösung des Reiches Timur Lenks war Zentralasien ein Flickenteppich aus Khanaten und Emiraten, die sich untereinander erbitterte Kämpfe lieferten und – je nachdem – mit Türken, Persern und Chinesen verbündeten. Rußland und Großbritannien drängten mit Gewalt gegen dieses Gleichgewicht der Kräfte. Nachdem ihr Versuch, mit dem Krimkrieg bis ins Mittelmeer vorzudringen, erfolglos geblieben war, setzten die Russen zum Angriff auf das Gebiet an, das allgemein als Turkestan bezeichnet wird. Im Jahr 1865 eroberte General Michail Grigorewitsch Tschernjajew die Stadt Taschkent – gegen den ausdrücklichen Befehl des Zaren, der ihm nach geglücktem Coup ein diamantenbesetztes
Schwert und den Befehl zur Demission überbringen ließ. 1868 ergab sich die Stadt Samarkand dem General Konstantin von Kaufmann, und 1881 wurde die Eroberung Zentralasiens durch General Skobelew abgeschlossen. Die russische Eisenbahnlinie erstreckte sich bald von Astrachan bis zum Amu Darja. Die türkisch-mongolischen Khans hatten diesen Vorstößen durchaus Widerstand geleistet. Im Jahr 1863 schickte der Khan von Kokand einen Offizier tadschikischer Herkunft nach Kaschgar jenseits des Tienshan, wo die Uiguren und die «Dunganen», die chinesischen Muslime, gegen die Chinesen der Mandschu-Dynastie rebellierten. Yaqüb Beg eroberte rasch das heutige Xin-jiang und betrieb ab 1867 eine Politik des geschickten Lavierens zwischen der Türkei, England und Rußland. Yaqüb Begs ehrgeizige Pläne scheiterten jedoch an den Rivalitäten zwischen Russen und Engländern. Diese wetteiferten um die Freundschaft des chinesischen Kaisers, dem der kühne Abenteurer die Provinz Xinjiang weggenommen hatte. Als Yaqüb 1877 unter mysteriösen Umständen starb, brach auch das Reich zusammen, das er aufgebaut hatte. Nur der Sultan von Istanbul, das anerkannte Oberhaupt der türkisch-mongolischen Sunniten, hätte den Zerfall noch aufhalten können. Aber am Bosporus hatte man zu diesem Zeitpunkt andere Sorgen. Die asiatischen Nomaden hofften auch jetzt noch auf die osmanische Dynastie. Neben der Religion waren sie mit den Osmanen auch durch ethnische und sprachliche Verwandtschaft verbunden. Das Zauberwort der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Nationalismus beziehungsweise Panturkismus (nach dem Vorbild des Pangermanismus) spukte in der Türkei zumindest im städtischen Bürgertum und in den Köpfen der Militärs. In Indien schien das Spiel entschieden, als am 2. August 1858 das britische Parlament die Regierungsgewalt über den
Subkontinent von der East India Company auf die Krone übertrug. Nunmehr war klar, daß das ebenfalls bröckelnde persische und chinesische Reich keine Vorherrschaft anstreben konnten, sondern sich Ihrer Majestät der englischen Königin beziehungsweise dem Zar, dem «Herrscher von ganz Rußland», anschließen mußten. Doch es schien nur so, als seien in Zentralasien die Einflußzonen der beiden europäischen Großmächte entlang der verschneiten Gipfel des Tienshan und des Karakorum aufgeteilt. Soweit allerdings war es noch nicht. Das entscheidende Kapitel dieser wirren und faszinierenden Geschichte wurde zwischen 1918 und 1925 von zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten geschrieben: von Enver Pascha und Michail Frunse. Geboren im Jahr 1881, ein Hauptakteur der JungtürkenRevolution von 1908, ein großer Bewunderer des deutschen Pangermanismus, Freiwilliger im Libyenkrieg 1911 gegen die Italiener, türkischer Kriegsminister 1914, seit 1917 zuerst in Berlin, später in Moskau in der Verbannung, wurde Enver ein enger Mitarbeiter Lenins für zentralasiatische Probleme. 1921 nach Turkestan geschickt, ließ er jedoch bald die Maske fallen: Sein «pan-turanischer» Traum war die Gründung eines türkischen Reichs zwischen Kaspischem Meer und Tienshan mit der Hauptstadt Buchara, das sich mit der neuen Türkei Mustafa Kemal Atatürks zusammenschließen sollte. Auf ihn beriefen sich die tüchtigen türkischen und tadschikischen Partisanen, würdige Gegner der neuentstandenen Roten Armee, die von den Russen erbost «Basmatschi» («Räuber und Wegelagerer») genannt wurden. Doch auch die Russen hatten ihren Helden in Zentralasien, Michail Wassiljewitsch Frunse, einen großartigen bolschewikischen Napoleon, der von heutigen Historikern leider viel zu wenig beachtet wird. Er wurde in Bischkek im heutigen Kirgisien geboren, wo noch eine Reiterstatue und ein
kleines Museum an ihn erinnern. Frunse hatte einem seiner Söhne den bedeutungsvollen Namen Timur gegeben, den Namen des turamschen Eroberers Tamerlan (oder Timur Lenk). In vielerlei Hinsicht waren Enver und Frunse einander ähnlich. Der türkische Revolutionär war knapp vierzig Jahre alt, als er gegen die Rote Armee kämpfte und sich an den Emir von Afghanistan um Hilfe wandte. Er nannte sich «Chefkommandant der Armee des Islam, Verwandter des Kalifen und Gesandter des Propheten». Mit seinem dschihad vermochte er die Muslime Zentralasiens zu mobilisieren. Im Frühjahr 1922 hatte er bereits einen Großteil des Emirats Buchara erobert, starb aber bereits am 4. August desselben Jahres. Er soll eine selbstmörderische Kavallerieattacke gegen die Maschinengewehre der Roten Armee geritten haben. Die «Basmatschi» leisteten noch bis in die dreißiger Jahre erbitterten Widerstand, wurden in Hetzjagden verfolgt, brutal unterdrückt, und ihr Heroismus wurde durch Lügen und Verleumdungen verunglimpft. Drei Jahre nach Envers Tod wurde sein Gegenspieler Frunse, der eigentliche Schöpfer der Roten Armee, unter nicht weniger mysteriösen Umständen von seinem Schicksal ereilt. Die sowjetische Führung in Moskau behauptete, er sei an einem Magengeschwür erkrankt und die Operation mißglückt. Das Zentralkomitee beauftragte Woroschilow, einen der wenigen engen Freunde Frunses, sich um die Söhne des Verstorbenen zu kümmern. Boris Pilnjaks Erzählung Die Geschichte vom nicht ausgelöschten Mord ist fast das einzige Zeugnis für eines der abstoßendsten Verbrechen einer Revolution, die ihre Kinder gefressen hat. Ihre besten.
Ein offener Diskurs
Aber kehren wir zurück in den Westen und in den Westen Asiens. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war die französische Großmacht gedemütigt und das Ansehen und die Ansprüche erschüttert worden, die Frankreich seit mehr als dreihundert Jahren als Vertretung und Schutzmacht der im Nahen Osten ansässigen katholischen Gemeinschaften verteidigte. Die Zeiten des österreichischen Kaisers Franz I. und des Monsieur de Villeneuve waren lange vorbei. Im Jahr 1871 wurde im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das deutsche Kaiserreich proklamiert. Sein Kanzler, Fürst Bismarck, war ein erklärter Gegner der katholischen Kirche, obwohl ein Großteil der Untertanen des neuen Reichs dem katholischen Glauben angehörte. Bismarck konnte ja den Schutz der deutschen Katholiken auch nicht dem österreichischen Kaiser überlassen, auf den viele Deutsche jetzt mit Wehmut und Bedauern blickten; denn bis 1866 hatte er zumindest eine moralische Führungsrolle innegehabt. Im Jahr 1875 erklärte mitten im Kulturkampf der deutsche Generalkonsul in Ägypten offiziell, seine Regierung sei nicht länger bereit, irgendeinem Land die alleinige Rolle als Schutzmacht der katholischen Gemeinschaften im Orient zuzugestehen, und behalte sich vor, die Rechte seiner dort ansässigen deutschen Untertanen wahrzunehmen. Zwischen Juni und Juli 1878 berief Bismarck in Berlin einen Kongreß ein und bot sich als «ehrlicher Makler» zwischen Rußland, Österreich, England, Frankreich und der Türkei an. Auch Italien, dessen Regierung sich gegenüber der Politik Deutschlands als äußerst servil gezeigt hatte, nahm an diesem
Kongreß teil und erwarb sich damit ein gewisses internationales Ansehen. Auf der Tagesordnung stand eine Neuordnung des Balkan, doch in Wirklichkeit ging es darum, das zerfallende Osmanische Reich aufzuteilen. England erhielt das Recht zur Besetzung Zyperns, Frankreich durfte sich Tunis aneignen (was im Jahr 1881 geschah); Italien, das auf eine (geographisch und historisch nicht unplausible) Expansion in Tunesien gehofft hatte, wurde mit vagen Versprechungen eines «Ausgleichs» in Albanien vertröstet. Um den Schein zu wahren, erlegten die europäischen Mächte dem Sultan die Verpflichtung auf, «liberale» Reformen in seinem Reich durchzuführen. Damit präsentierte sich der Berliner Kongreß nach außen hin einmal mehr als ein Markstein auf dem Weg zu Zivilisation und Fortschritt – und nicht als das, was er in Wahrheit war: ein neues Kapitel kolonialistischer Gewalt. Als Vorbedingung für seine Teilnahme am Kongreß hatte sich Frankreich ausbedungen, den Status Ägyptens, Syriens und der heiligen Stätten nicht zur Debatte zu stellen. Am Ende wurde der bekannte Status quo bekräftigt, der den Krimkrieg mitausgelöst hatte, den aber Frankreich jetzt einforderte. Weiterhin vereinbarte man das Recht der christlichen Geistlichen und Pilger, sich von nun an im Bedarfsfall an ihre jeweiligen Konsulate und damit Regierungen zu wenden. Die Autorität des Sultans bei der Wahrnehmung von Vorrechten jedweder Art über Sachen und Personen wurde damit übergangen, obwohl die heiligen Stätten Teil des von ihm regierten Reiches waren. Die ständige Einmischung fremder Mächte in die Angelegenheiten des Osmanischen Reiches nährte bei der herrschenden Schicht des Landes jene nationalistischen Gefühle, die der islamischen Kultur im Grunde fremd waren, die sich aber im Zuge des Modernisierungsprozesses in vielen islamischen Ländern verbreitet hatten. Die aus der Revolution
von 1909 hervorgegangene Türkei hatte wiederholt um die Abschaffung der Kapitulationen nachgesucht. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs erklärte die Türkei sie einseitig für aufgehoben. Am 2. November 1914 erklärte Rußland der Türkei den Krieg und trieb damit das Land in den Konflikt gegen die Entente-Mächte. Dies war zweifellos eine Folge der deutschfreundlichen Politik der Jungtürken und der Geheimabkommen, die seit dem 2. August das Schicksal der Türkei mit dem des Deutschen Reichs verknüpften. Es war aber auch die Folge jahrzehntelanger Demütigungen und Übergriffe durch den Imperialismus der Russen (die die Sicherheit und das Ansehen der Türkei im Schwarzen Meer, in den Meerengen und auf dem Balkan untergraben hatten), Franzosen und Engländer, die die Territorien des zerfallenden Osmanischen Reiches von Tunesien bis Ägypten unter sich aufgeteilt hatten. Die Reaktion der Franzosen und Briten entfachte den Patriotismus und das Einheitsgefühl der arabischen Welt und weckte die Hoffnung auf ein «Großarabien», ein Einheitsreich unter einer einheimischen Dynastie, das alle arabischen Völker von Syrien und Mesopotamien bis zur Arabischen Halbinsel und nach Ägypten einen würde. Voraussetzung dafür aber war die Befreiung von den Türken – keine einfache Sache, da die muslimische Frömmigkeit es verbot, die Waffen gegen den Sultan zu richten, der die Kalifatswürde innehatte. Dem muslimischen Denken und seinem Konzept der Einheit aller Gläubigen (umma) waren auch westliche Vorstellungen von «Vaterland» und «Nation» fremd. Franzosen und Engländer leisteten also einen objektiv gesehen bedeutenden Beitrag zur Modernisierung und Verwestlichung des arabischen Islam, indem sie dessen Bemühungen zur Befreiung vom türkischen Joch unterstützten. Die Erhebung der Araber gegen die Türken kam allerdings in erster Linie ihren eigenen unmittelbaren
politischen und militärischen Interessen entgegen. Um die Araber davon zu überzeugen, ohne religiöse Gewissensbisse gegen den Sultan und Kalifen aufzubegehren, versprach man dem sharif Hussein, dem Beschützer der heiligen Stätten in Mekka, den Thron eines zukünftigen «Großarabien». Der arabische Beitrag zur Befreiung Syriens und Palästinas von der türkischen Militärpräsenz im Verlauf des Ersten Weltkriegs war beachtlich, wenn nicht sogar entscheidend. Doch die Wege der Diplomatie machte dessen Bedeutung zunichte. Die französisch-englische Übereinkunft des Sykes-PicotAbkommens (benannt nach den beiden unterzeichnenden Diplomaten) berücksichtigte keines der Versprechen, die dem sharif Hussein gemacht worden waren. Der Nahe Osten sollte mit dem Ende des Kriegs in zwei Einflußzonen aufgeteilt werden: Frankreich sollte – seiner traditionellen kulturellen Präsenz entsprechend – Syrien und den Libanon erhalten, England Palästina, Transjordanien und Mesopotamien. Arabien sollte als Monarchie unter der Wahhabiten-Familie der Saudis neu organisiert werden – mit Ausnahme einiger kleinerer Emirate an der Küste, in denen Großbritannien seinen direkten Einfluß und damit seine Interessen im Indischen Ozean und im Persischen Golf wahren wollte. Die Abmachungen wurden geheimgehalten, doch die russische Regierung erhielt Kenntnis davon. Als Rußland mit der Oktoberrevolution – nunmehr bereits als Sowjetunion – aus dem Krieg ausschied, wurde der Inhalt der Vereinbarungen bekannt. Die türkische und die deutsche Propaganda taten alles, um den Arabern die Augen zu öffnen: Die Versprechungen der Alliierten gegenüber Hussein seien blanker Hohn gewesen, und ein «Großarabien» werde es nie geben. Doch unterdessen waren die Alliierten nach Bagdad, Damaskus und sogar bis nach Jerusalem vorgedrungen. Die Engländer bestimmten für Husseins Sohn Faisal einen Thron
im Irak. Aber die Franzosen hinderten ihn mit Gewalt daran, sich auch Syrien anzueignen. Es war ihm zwar versprochen worden, sollte aber nach dem Willen der Alliierten in eine von ihnen selbst kontrollierte Republik umgewandelt werden. Faisals Bruder Abdullah erhielt ebenfalls ein Königtum: Transjordanien. Auf der Konferenz von San Remo im April 1920 wurde das Sykes-Picot-Abkommen bestätigt, die Kapitulationen abgeschafft und ein kompliziertes diplomatisches Spiel in Gang gesetzt, an dessen Ende der Völkerbund die zeitweilige Kontrolle über Palästina unter einem britischen «Mandat» erhielt. Unterdessen war in diesem komplizierten Spiel ein neuer Faktor aufgetaucht. Im Jahr 1862 hatte Zevi Hirsch Kalischer verkündet, die Wiederkunft des Messias, vom jüdischen Volk erwartet, werde sich nicht durch ein Wunder vollziehen; vielmehr müßten die Juden an der Verwirklichung dieses Ziels mitarbeiten. Die Rückkehr der Juden in das Gelobte Land, nach Erez Israel, sei Unterpfand und Zeichen der Wiederkunft des Messias. Seit 1841 hatte die osmanische Regierung den Juden ein Oberrabbinat in Palästina gestattet, das in Jerusalem residieren durfte. Auf Initiative des Rabbiners Hirsch Kalischer gründete die Alliance Israelite Universelle, eine internationale jüdische Hilfsorganisation, in Palästina die Landwirtschaftsschule Mikwe Israel. Da sich die Lebensbedingungen der Ostjuden besonders in Rußland zunehmend verschlechterten, kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem wahren Exodus. Viele wanderten in die Vereinigten Staaten aus, andere gingen nach Europa und besonders nach Frankreich, doch rund 30000 wählten ab etwa 1882 Palästina zum Ziel. Zwischen 1889 und 1895 sammelte die Organisation Chowewe Zion («Zionsliebende») immense Geldsummen für die Ansiedlung von Juden in Palästina, die unter anderem von so vermögenden
Philanthropen wie Edmond de Rothschild aufgebracht wurden. 1896 verfaßte der Journalist Theodor Herzl innerhalb weniger Wochen das Manifest des Zionismus, eine Schrift mit dem Titel Der Judenstaat. 1898 wurde Herzl in Jerusalem von Kaiser Wilhelm II. empfangen. Im Jahr 1902 trat ein religiös ausgerichteter Zionismus auf den Plan, der mit dem laizistischen und nationalistischen Anliegen Theodor Herzls nichts zu tun hatte. Herzl hatte gefordert, eine «Heimstätte des jüdischen Volkes» in Palästina zu errichten. Der Rabbiner Abraham Isaak Kook, Gründer der Mizrahi-Partei, verfolgte dagegen ein Programm, das man mit der Formel «das Land Israel dem Volk Israel im Namen der Tora Israels» beschreiben könnte. Die ersten jüdischen Pioniere wurden im allgemeinen freundlich empfangen. Doch schon 1891 hatten sich die arabischen Notablen mit der Forderung an die osmanische Regierung gewandt, den Juden den freien Zugang und den unkontrollierten Landerwerb zu untersagen. Dem Zustrom der Juden ins Heilige Land lag ein fundamentales Mißverständnis zugrunde: die Vorstellung nämlich, daß Palästina «ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» sei. Doch das Land war von Palästinensern bevölkert – ein Faktum, das man nicht wegleugnen konnte, so sehr sich die osmanische Regierung und die europäischen Mächte darin einig waren, daß das Land für weitaus mehr Menschen Platz bot als bisher, wenn man es nur in richtiger Weise kultivierte. Das Mißverständnis wurde von der englischen Diplomatie genährt, die die Quadratur des Kreises vollbringen mußte, indem sie – erfolgreich – versuchte, drei unvereinbare Ziele miteinander in Einklang zu bringen: die Rebellion der Araber gegen die Türken zu schüren, indem sie ihnen ein großes, geeinigtes und unabhängiges arabisches Vaterland versprachen; die zionistischen Juden in den Hintergrund zu
drängen, die zum großen Teil aus Deutschland kamen, glühende Patrioten und damit im Ersten Weltkrieg Gegner der Mittelmächte; und schließlich die Forderungen eines Teils der zionistischen Bewegung zu erfüllen, die nicht mehr irgendein Land für ein Volk ohne Land, sondern genau dieses Land haben wollte: Erez Israel und Jerusalem. Damit verfolgten die Engländer auch das Ziel, die Sympathien der Zionisten gegenüber Deutschland abzuschwächen. Am 2. November 1917 übermittelte der britische Außenminister Lord Arthur James Balfour dem Finanzier und Ehrenvorsitzenden der World Zionist Organisation Lionel Walter Rothschild einen Brief. Darin hieß es, die britische Regierung unterstütze die Schaffung einer nationalen Heimstatt («national home») für das jüdische Volk in Palästina. Eine solche Sympathieerklärung, die später in das offizielle diplomatische Protokoll aufgenommen wurde, stand in klarem Widerspruch zum Versprechen eines «Großarabien», das man dem sharif Hussein gegeben hatte. So merkten Juden wie Araber, kaum war der Erste Weltkrieg vorbei, daß man sie an der Nase herumgeführt hatte. Bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war es zu vereinzelten Übergriffen arabischer Banden auf das Land jüdischer Siedler gekommen. Doch man hatte diese Ausschreitungen als Ausnahmen abgetan und mit dem üblichen Räuberunwesen begründet. Noch im März 1919 hieß Faisal Juden willkommen, die sich in Syrien und Palästina niederlassen wollten, und zeigte sich überzeugt von der Möglichkeit einer künftigen Koexistenz der beiden Religionsgemeinschaften im Geist der Eintracht. Doch die Spannungen, die unter der britischen Mandatsregierung zwischen Arabern und Juden aufgebrochen waren, der Zustrom von Juden nach Palästina nach dem Holocaust, die Gründung des Staates Israel und die sich daraus
ergebenden Konflikte führten zur Entstehung des bis zum heutigen Tag ungelösten Nahostkonflikts. Nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1967 geriet die gesamte Stadt Jerusalem einschließlich der heiligen Stätten und des antiken Teils unter die Kontrolle des Staates Israel. Trotz ablehnender UN-Resolutionen verlegte Israel sogar seine Hauptstadt von Tel Aviv (dem «Frühlings-Hügel», einer Anfang des 20. Jahrhunderts von jüdischen Siedlern um das historische Zentrum der arabischen Stadt Jaffa gegründeten Stadt) nach Jerusalem. Es gibt gegenwärtig zahlreiche Vorschläge für eine Lösung der Jerusalem-Frage: Die Palästinenser möchten die Stadt ungeteilt als die Hauptstadt zweier Staaten und zweier Regierungen sehen (und führen als Beispiel Rom und die Vatikanstadt nach den Lateranverträgen von 1929 an); der Heilige Stuhl schlägt eine Art Internationalisierung Jerusalems vor, was von der gesamten jüdischen Welt dagegen entschieden abgelehnt wird. Eine schwierige, aber notwendige Aufgabe: Denn was in Jerusalem geschieht, geht – einer altbekannten historischen Grundregel zufolge – die ganze Welt an. Die arabisch-israelische Frage, Verschiebungen des demographischen Gleichgewichts und der Produktionskräfte, die sich in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren weltweit vollzogen haben, der Bedeutungsverlust Europas als Weltmacht und nach 1989 die Neuordnung der Welt mit einer einzigen Supermacht, den Vereinigten Staaten von Amerika – all das prägte und veränderte die Beziehungen zwischen Europa und dem Islam. Die Niederlage der Araber im Sechs-Tage-Krieg von 1967 gegen Israel erschütterte nicht zuletzt auch das Vertrauen, das viele Muslime bis dahin in den Westen gesetzt hatten. Sie betrachteten jetzt mit Skepsis das, was man oft unzureichend
als «Säkularisierung» oder «Modernisierung» des Islam bezeichnet hat. Die traditionalistischen und radikalen Strömungen wiederum, die ebenso unzutreffend als «fundamentalistisch» bezeichnet werden, entstanden in den zwanziger Jahren insbesondere in Ägypten und im nordwestlichen Indien. Sie konnten sich bis dahin nur schwer behaupten, da sie in eine Vielzahl einander bekämpfenden Schulen und Gruppierungen gespalten waren und von Regimen bekämpft wurden, die sich – wie die meisten Regime im dar al-Islam – der Modernisierung, Verwestlichung und dem nationalen Fortschritt verschrieben hatten. Diese sogenannten «fundamentalistischen» Strömungen erstarkten zunehmend bis zur «Islamischen Revolution» im Iran 1979, die zum Vorschein brachte, auf wie wackeligem Boden das autoritäre und westlich orientierte Regime des Schahs der PahleviDynastie stand. Auch die Kurdenfrage drängte immer mehr in den Vordergrund. Die Sieger des Ersten Weltkriegs, die die Grenzen der neuen Ordnung im Nahen Osten zogen, hatten Kurdistan, das bergige, beinahe fünfhunderttausend Quadratkilometer große Gebiet zwischen dem Kaukasus, dem Golf von Alexandrette und dem Mittellauf des Euphrat unberücksichtigt gelassen. Dieses Gebiet, das von nomadischen Kurden iranischer Sprache bevölkert war, wurde zwischen der Türkei, dem Iran, Syrien und dem Irak aufgeteilt. Wenig später geriet diese Region aufgrund der Erdölvorkommen ins Zentrum internationaler Interessenskonflikte. Die Kurden, durch ihre Stammesstrukturen uneins, bemühten sich, die Weltöffentlichkeit für ihre Belange zu interessieren. Da sie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs dem Sultan gegenüber loyal gewesen waren, blieb ihre Stimme jedoch ungehört. Sie wurden Opfer einer Repressions- und Vernichtungspolitik, auf die einige Gruppen mit Terrorismus antworteten, dem einzigen
Mittel, das noch möglich schien. Erst in den letzten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts wurde den Kurden internationale Aufmerksamkeit entgegengebracht. Unter den vielen islamischen Ländern, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts international eine Rolle spielten, traten der nach 1979 in eine «islamische Republik» umgewandelte Iran sowie die islamischen Länder der ehemaligen Sowjetunion besonders hervor. Diese vorwiegend uralaltaischen Länder mit ihren starken indoeuropäischen Minderheiten sind zusammen mit Rußland Mitglieder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS). In diesen Staaten gibt es allerdings starke panturanische Bestrebungen. Ihre Führer richten den Blick auf die Türkei der postkemalistischen Ära und träumen von einer «Großtürkei», die sich «vom Bosporus bis zum Pamir» erstreckt. Andererseits gibt es in diesen Staaten auch stark «islamistische» Tendenzen (um den problematischen Begriff «fundamentalistisch» zu vermeiden), was beispielsweise in der Rückkehr zum arabischen Alphabet und der Ablehnung der bisherigen lateinischen oder (von der Sowjetunion aufgezwungenen) kyrillischen Buchstaben Ausdruck findet. Ein Europa, das politisch nicht mehr im Weltmittelpunkt steht, finanziell und ökonomisch zwar als Großmacht auftritt, aber weder über effiziente, übergreifende Institutionen verfügt noch in der Lage scheint, gegenüber dem US-amerikanischen «Verbündeten» eine eigenständige internationale Politik und eine autonome diplomatische Linie zu formulieren, wirkt auf die Regierungen und Völker des dar al-Islam unentschlossen und weckt Mißtrauen. Die aktuellen Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten von Amerika scheinen auch seiner Freiheit des Urteils und seinem Handlungsspielraum gegenüber Ländern wie Iran, Irak und Libyen Grenzen zu setzen. Die europäische Öffentlichkeit zeigt sich dabei nach
wie vor schlecht informiert und wenig aufgeschlossen für die vielfältigen religiösen und kulturellen Erscheinungsformen der islamischen Welt, denen gegenüber schematische Einteilungen in «laizistisch» und «fundamentalistisch» (oder ähnliche unscharfe Adjektive) vollkommen unangemessen sind. Neben spärlichen und schlechten Informationen, von den Massenmedien als vielschichtige und differenzierte Nachrichten verkauft, existieren hartnäckig die alten Vorurteile – oder werden sogar wiederbelebt. Sie verhindern, daß der Islam im Westen ernsthaft und vorurteilsfrei wahrgenommen wird. Der europäische Kontinent ist darüber hinaus Ziel eines neuen islamischen «Ansturms», der paradoxe Züge trägt. Die Muslime, die legal oder illegal nach Europa kommen – meist auf der Suche nach Arbeit oder um Familienanschluß zu finden – kennen oft nur ihre sehr elementare religiöse Kultur. Sie ist gleichzeitig das einzige, was ihnen Identität und Selbstbewußtsein vermittelt. Die Muslime in Europa sehen sich am Ende des 20. Jahrhunderts damit einer historisch völlig neuartigen Situation gegenüber. Zum erstenmal lebt eine größere Zahl von ihnen außerhalb des dar al-Islam – und zwar in Ländern, deren Gesetzgebung nicht auf der shana basiert. Ihr Unbehagen, als Minderheit zu leben, wird durch Spannungen verstärkt, die in antimuslimischer Propaganda ihre Ursache haben – in gewissem Umfang auch in den terroristischen Aktivitäten gewöhnlich als «fundamentalistisch» bezeichneter Gruppen. Hinzu kommt das Problem wachsender muslimischer Gemeinschaften (nicht zuletzt dank europäischer Konvertiten), die inzwischen vielfach anerkannt werden. Die «dritte» islamische «Welle» hat also nicht die Grenzen des dar al-Islam erweitert, sie muß sich vielmehr mit einem Europa auseinandersetzen, das seinerseits vor der heiklen
Aufgabe steht, sich selbst neu zu definieren: ein Europa, das zwar wirtschaftlich und sozial stark, aber inhomogen ist, politisch noch keinen klaren Weg gefunden hat und bezüglich seiner kulturellen Identität unsicher ist. Wie der Ägypter Fuad Zakariya meint, wird «der Islam das sein, was die Muslime daraus machen». Doch auch Europa wird einmal das sein, was die Europäer daraus zu machen verstehen. Ein Europa, in dem Tag für Tag die Zahl seiner Bürger oder Bewohner zunimmt, die nach dem Gesetz des Propheten leben.
Zeittafel
622
649 655 711 732
750 756 759 762 797
15. Juni Hidschra («Auswanderung») des Propheten Muhammad von Mekka nach Jathrib (später «Medina» genannt, «Die Stadt»). Tod des Propheten Muhammad in Medina. Der Kalif Umar erobert Jerusalem. Beginn der arabischen Eroberung Ägyptens. Die Araber erobern Alexandria. Beginn der arabischen Eroberung Ifriqiyas (der alten römischen Provinz Africa), die um 705 abgeschlossen ist. Der Gouverneur Syriens Muawiya greift die Insel Zypern an. Großer Seesieg der Muslime gegen die Byzantiner bei Phoenix. Beginn der Eroberung der Iberischen Halbinsel durch Araber und Berber. 25. Okt. Schlacht von Poitiers (entsprechend dem allgemein anerkannten Datum). Staatsstreich und Begründung des Kalifats der Abbasiden. Der Umayyade Abd ar-Rahman I. gründet das Emirat Cordoba. Die Franken vertreiben die Muslime aus Narbonne. Gründung Bagdads als neue Hauptstadt des abbasidischen Kalifats. Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Karl dem Großen und Harun arRashid.
801 827 827-961 833 844 846 847-871 849 859 870 882-915 890-972 902 910 912 915 929 960-961 966 969 982 985-1003 997 1009
Die Franken erobern Barcelona zurück. Beginn der aghlabitischen Eroberung Siziliens (abgeschlossen 902). Arabisches Emirat auf der Insel Kreta. Muslimische Eroberung Palermos. Die Normannen greifen Sevilla an. Die Araber fallen in Rom ein. Arabisches Emirat Bari. Schlacht von Ostia. Die Normannen stecken die Moschee von Algeciras in Brand. Muslimische Eroberung der Insel Malta. Die Sarazenen siedeln am Garigliano. Die Sarazenen siedeln in Fraxinetum (La GardeFreinet) Muslimische Eroberung der Balearen. Gründung des schiitischen Kalifats der Fatimiden in Ifriqiya. Vordringen der Muslime im Wolgagebiet. Gründung der tunesischen Stadt al-Mahdiya. Abd ar-Rahman III. von Cordoba beansprucht den Kalifatstitel. Die Byzantiner erobern Kreta zurück. Die Dänen unter Harald Blatand («Blauzahn») greifen Lissabon an. Gründung Kairos. Im kalabrischen Capo Colonna bereiten die Sarazenen Otto II. eine Niederlage. Wiederholte Sarazenenangriffe auf Barcelona. Al-Mansur greift die Stadt Santiago de Compostela an und plündert sie. Der fatimidische Kalif al-Hakim läßt die Grabeskirche in Jerusalem zerstören.
1015-1021
Kriege der Genuesen und Pisaner gegen Mudschahid. 1020 Sarazenenangriff auf Narbonne. 1031 Ende des umayyadischen Kalifats in Cordoba. 1034 Pisanischer Feldzug gegen Bona. 1062 Gründung der Stadt Marrakesch. 1063-1064 Feldzug von Barbastro in Aragonien. 1064 Die Kastilier erobern Coimbra. 1085 6. Mai Alfons VI. von Kastilien erobert Toledo. Die Kastilier werden von den Almoraviden in Zalaqa geschlagen. Militärexpedition gegen alMahdiya. 1090 Roger von Altavilla besetzt Malta und Gozo. 15. Juni El Cid erobert die Stadt Valencia. 18.-27. Nov. Synode von Clermont in der Auvergne. 1095-1099 Erster Kreuzzug in Syrien und Palästina. 1099 10. Juli El Cid Campeador stirbt in Valencia. 1099 15. Juli Die Kreuzfahrer erobern Jerusalem. 1102 Die Almoraviden besetzen Valencia. 1108 Sieg der Almoraviden über die Kastilier in der Schlacht von Ucles. 1113-1115 Militärexpedition der Pisaner und Katalanen zur Eroberung der Balearen. 1118 19. Dez. Die Aragonier erobern Zaragoza. 1145 1. Dez. Papst Eugen III. erläßt in zwei aufeinanderfolgenden Fassungen die erste Enzyklika (Quantum praedecessores), die Bestimmungen zu den Kreuzzügen enthält. 1147 13. April Päpstliche Enzyklika Divina dispensatione. 1147 Juli-August Deutsch-dänischer Feldzug gegen die Wenden. 1147 17. Okt. Die Kreuzfahrer erobern Almeria.
1147 1147-1148
1157 1187
1187-1192 1195 1212 1217-1221 1228-1229
1229-1231 1232-1253 1236 1248 1258 1267 1270 1274
24. Okt. Die Kreuzfahrer erobern Lissabon. Zweiter Kreuzzug in Syrien und Palästina. Die Kreuzfahrer erobern Tortosa. Die Muslime räumen die ihnen noch verbliebenen Städte in Katalanien. Die Almohaden erobern Almeria. Sieg der Sarazenen bei Hattin westlich von Tiberias; Saladin erobert Jerusalem; Enzyklika Audita tremendi. Dritter Kreuzzug. 19. Juli Die Almohaden besiegen die Kastilier in Alarcos. 17. Juli Schlacht von Las Navas de Tolosa. Fünfter Kreuzzug; Besuch des Franziskus von Assisi beim ägyptischen Sultan. Kreuzzug Friedrichs II.; Rückgewinnung Jerusalems durch ein diplomatisches Abkommen mit dem ägyptischen Sultan alMalik al-Kamil. Aragonischer Kreuzzug gegen die Balearen. Aragonischer Kreuzzug gegen das Königreich Valencia. 29. Juni Ferdinand III. von Kastilien nimmt Cordoba ein. 23. Nov. Ferdinand III. von Kastilien erobert Sevilla. Die Mongolen erobern Bagdad; Ende des abbasidischen Kalifats. Die christliche Eroberung Portugals ist abgeschlossen. 25. Aug. Tod Ludwigs IX. Zweites Konzil von Lyon; Erlaß der Constitutiones pro zelo fidei.
1291 1340
1344-1346 1355 1365 1380 1388 1389
1390
1396 1415 1444 1448 1453 1456 1463
Fall von Akkon. 30. Okt. Alfons XI. von Kastilien besiegt die Meriniden Marokkos in der Schlacht am Fluß Salado. «Kreuzzug von Smyrna». Genuesischer Angriff auf Tripolis. 10.-16. Okt. Peter Lusignan, der König von Zypern, überfällt und plündert Alexandria. Dmitrij Donskoij, der Großfürst von Moskau, besiegt die Tataren in Kulikovo. Genuesen, Pisaner und Sizilianer besetzen die Insel Dscherba. 15. Juni Schlacht auf dem Amselfeld: Murad I. zerschlägt die serbische Macht, stirbt aber im Kampf. Kreuzzug der Franzosen und Genuesen gegen al-Mahdiya unter Führung des Bourbonenherzogs Ludwig II. 25. Sept. Schlacht von Nikopolis; Niederlage der Kreuzfahrer. Die Portugiesen erobern Ceuta. 10. Nov. Schlacht von Varna; Niederlage der Kreuzfahrer. 17.-19. Okt. Murad II. besiegt die ungarischen Kreuzfahrer in der Schlacht auf dem Amselfeld. 29. Mai Der osrnanische Sultan Mehmed II. erobert Konstantinopel. 6. Aug. Johannes Hunyadi erobert Belgrad; das Fest der Verklärung Christi wird eingesetzt. Die Bosnier geben das griechisch-orthodoxe Christentum und den Bogomilismus auf und treten zum Islam über. Die Türken nehmen
1475 1480
1480
1481 1492 1497-1510 1502
1504 1520-1566 1521 1522 1526
1529 1529 1530 1533
Negroponte ein. Die Portugiesen erobern Tanger. 6. Juni Die Türken nehmen Kaffa ein. Zwistigkeiten unter den Tatarenfürsten ausnutzend, weigert sich der Großfürst von Moskau, Iwan III. weiterhin Tribut zu zahlen. August Eine türkische Flotte greift Otranto an und erobert die Stadt; Einsetzung der Inquisition in Spanien. 3. Mai Mehmed II. stirbt. 2. Jan. Die Katholischen Könige erobern Granada. Eroberungen mehrerer Festungen zwischen Melilla und Tripolis durch die Spanier. Das Tartaren-Khanat der Goldenen Horde teilt sich in die drei Khanate Kazan, Astrachan und Krim. 4. Mai Der Zehnerrat in Venedig erörtert einen Plan zum Durchstich des Isthmus von Suez. Sultanat Süleymans des Prächtigen. 30. Aug. Die Türken erobern Belgrad. Die Türken erobern die Insel Rhodos und vertreiben die Ritter des Johanniterordens. 29.-30. Aug. Türkischer Sieg in Mohacs. Friede von Madrid zwischen Karl V. und Franz I. Vereinbarung eines «allgemeinen Kreuzzugs». 10. Sept. Die Türken erobern Buda. Sept.-Okt. Die Türken belagern Wien. Die Ritter des Johanniterordens siedeln auf der Insel Malta und in Tripolis. Sultan Süleyman ernennt Khair ad-Din zum Großadmiral der osmanischen Flotte.
1534
1535 1536 1535 1538
1540
1541 1543
1544 1546 1547 1550
Khair ad-Din unternimmt Raubzüge an den italienischen Küsten, besetzt Tunis und vertreibt den Emir, der unter dem Schutz der Spanier steht. Juni-Juli Kreuzzug Karls V. gegen Tunis. «Kapitulationen» zwischen Franz I. und Süleyman. Französisch-türkischer Vertrag. Die Flotte der päpstlich-venezianisch kaiserlichen Liga wird von Khair ad-Din in Prevesa an der Mündung des Golfs von Arta vernichtend geschlagen. Süleyman erobert Aden, um den Portugiesen den Zugang zum Indischen Ozean zu versperren. Separatfrieden Venedigs mit Süleyman; die Serenissima tritt ihre letzten Besitzungen auf dem Peloponnes ab. Gescheiterter Angriff Karls V. auf Algier. In Basel veröffentlicht Theodor Buchmann (Bibliander) das Werk Machumetis saracenorum principis vita ac doctrina omnis, quae et Ismahelitarum lex et Alchoranum dicitur. Franzosen und Türken greifen Nizza an. Einberufung des Konzils von Trient. Guillaume Postel veröffentlicht De orbis terrae concordia. Tod Khair ad-Dins. Andrea Arrivabene bringt in Venedig die erste italienische Koranübersetzung im Druck heraus. Juni-Sept. Flottenexpedition Karls V gegen alMahdiya, den Stützpunkt des Korsaren Turgud Ali («Dragut»).
1551
1552
1560
1562
1565
1566 1566 1568 1568-1570 1569
1569-1574 1570-1572 1571 1578
14. Aug. Die Johanniter von Tripolis ergeben sich den Türken; der Sultan ernennt Turgud Ali zum Gouverneur. Eroberung Kazans durch die Moskowiter. 1556 Eroberung Astrachans durch die Moskowiter. März-Juli Die Kreuzfahrer erobern die Insel Dscherba und verlieren sie anschließend erneut. 15. März Im Dom von Pisa wird der Sacro Militare Ordine Marittimo der Ritter von Santo Stefano gegründet. Die Türken greifen erfolglos die Insel Malta an. Barbaresken landen in Andalusien und werden von der maurischen Bevölkerung unterstützt. Die Türken entreißen den Genuesen die Insel Chios. 30. Aug. Tod Süleymans des Prächtigen. Waffenstillstand zwischen Sultan Selim II. und Kaiser Maximilian II. in Adrianopel. Der Aufstand der moriscos wird von den Spaniern niedergeschlagen. Osmanischer Plan zum Bau eines Kanals zwischen Wolga und Don, um das Schwarze und das Kaspische Meer miteinander zu verbinden. Die Osmanen verlieren Tunis mehrmals und erobern es mehrmals wieder zurück. Türkisch-venezianischer Krieg um Zypern. 7. Okt. Seeschlacht von Lepanto. Schlacht von al-Qasr al-Kabir; Tod Sebastians von Portugal.
1583-1587
1593-1606
1609 1622
1627 1644-1669 1664 1669
1672-1676 1677-1681 1681-1684 1682-1699 1683 1684-1699 1686 1687
Diplomatische Beziehungen und Handelskontakte zwischen England und dem Osmanischen Reich. Krieg zwischen Österreichern und Türken, der mit dem Frieden von Zsitvatorok endet. 9. Dez. Königliches Edikt zur definitiven Vertreibung der moriscos aus Spanien. Die Engländer vertreiben mit Hilfe persischer Truppen die Portugiesen aus der Straße von Hormus. Einfall seeräuberischer Barbaresken auf Island. Krieg zwischen Türken und Venezianern um den Besitz der Insel Candia (Kreta). 1. Aug. Feldmarschall Montecuccoli besiegt die Türken bei Sankt Gotthard an der Raab. Türkische Gesandtschaft in Paris, die Moliere zur Zeremonie der Verleihung des Adelstitels in seinem Drama Der Bürger als Edelmann inspiriert. Türkisch-polnischer Krieg. Russisch-türkischer Krieg. Krieg zwischen Frankreich und dem Bey von Algier. Krieg zwischen Türken auf der einen und Österreichern und Polen auf der anderen Seite. Türkische Belagerung Wiens. Krieg in Morea zwischen Türken und Venezianern. 2. Sept. Karl von Lothringen erobert Buda. 25.-27. Sept. Die venezianische Bombardierung der Akropolis von Athen beschädigt die
1688 1691 1691-1698
1696 1697 1697
1699 1711 1715-1718 1716 1718 1722-1727 1729
1736-1739 1739 1742 1768-1774 1774
Propyläen und den Parthenon, den die Türken als Munitionslager benutzten. 2. Aug. Schlacht von Mohacs. Niederlage der Türken in Slankamen. Die lateinische Koranübersetzung und der Korankommentar des Paters Ludovico Marracci erscheinen im Druck. 28. Juli Die Russen erobern Asow. 11. Sept. Die Türken werden in der Schlacht von Zenta geschlagen. In Paris erscheint posthum die Bibliotheque Orientale von Barthelemy d’Herbelot de Molainville. 26. Jan.Friede von Karlowitz. 21. Juli Türkisch-russischer Friede: Der Zar muß Asow aufgeben. Türkisch-venezianischer Krieg um Korfu. 5. Aug. Sieg Eugen von Savoyens in Peterwardein. 21. Juli Friedensvertrag von Passarowitz in türkischer und lateinischer Sprache. Russische und türkische Militärkampagnen im Kaukasus. Erste Drucklegung eines Buches in türkischer Sprache in Istanbul; die Druckerei wird 1742 geschlossen und 1784 wiedereröffnet. Österreichisch-russisch-türkischer Krieg. 18. Sept. Friede von Belgrad. 9. Aug. Uraufführung von Voltaires Mahomet ou le fanatisme. Russisch-türkischer Krieg. 21. Juli Ende des russisch-türkischen Kriegs mit dem Frieden von Kütschük Kainardscha.
1781 1783-1792
1792 1798 1801 1804 1816
1821 1826 1830 1839-1861
1853-1856 1856
1859-1869 1864 1876
1878
Österreichisch-russische Vereinbarungen zur Aufteilung des Sultanreiches. Russisch-türkischer Krieg um die tatarischen Territorien zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Russisch-türkischer Vertrag von Jassy. Napoleon in Ägypten. Rußland annektiert Georgien. Rußland greift Persien an, annektiert Armenien und Aserbaidschan. 9. April In der französischen Kammer hält Rene de Chateaubriand eine Rede, in der er zu einem «letzten Kreuzzug» gegen die Barbaresken aufruft. Griechischer Aufstand und griechisch-türkischer Krieg. Der türkische Sultan Mahmud II. schafft das Janitscharenkorps ab. Französische Besetzung Algiers. Sultan Abdülmecid I. verkündet auf Druck der europäischen Mächte die «wohlwollenden Anordnungen» (Tanzimat). Krimkrieg. Vertrag von Paris und «Garantieerklärung»: Die Häfen der Türkei öffnen sich dem westlichen Kapital. Bau des Suezkanals. Rußland annektiert Turkestan. Königin Viktoria nimmt den Titel «Kaiserin von Indien» an. In der Türkei erzwingen die Jungtürken die Einführung einer Verfassung, die Abdulhamid II. wieder abschafft. Berliner Kongreß und «Regelung» des Balkans.
1879-1901 1881 1881-1899
1898
1903 1905 1906 1907
1908
1911-1912 1912-1913 1914-1918 1916
1917
In Afghanistan überträgt Abd ar-Rahman Großbritannien das Schutz- und Kontrollrecht. Französische Eroberung Tunesiens. Antiägyptische Erhebung Muhammad Ahmeds, des «Mahdi», im Sudan; nach der Niederschlagung der Aufständischen wird der Sudan englisch-ägyptisches Protektorat. Politisch-diplomatische Reise Kaiser Wilhelms II. ins Osmanische Reich, «Rede von Damaskus» und Besuch Jerusalems. Baubeginn der Eisenbahn von Berlin nach Bagdad («Bagdadbahn»). Gründung der indischen Provinz Bengalen mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Konferenz in Algeciras; die Deutschen erkennen die Vorherrschaft Frankreichs in Marokko an. Vertrag von Sankt Petersburg und Aufteilung Persiens zwischen England und Rußland in Einfluß- und Interessenzonen. Militärrevolte in Saloniki unter Führung von Enver Pascha. Jungtürken-Revolution und Balkankrise nach der Annexion BosnienHerzegowinas durch Österreich. Italienisch-türkischer Krieg um Tripolitanien und die Cyrenaika (Libyen). Balkankrieg. Erster Weltkrieg. Sykes-Picot-Abkommen: Aufteilung der arabischen Territorien des Osmanischen Reichs zwischen Frankreich und England. Balfour-Deklaration, in der die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina befürwortet wird.
1919
Entstehung der türkischen Nationalbewegung unter Führung Mustafa Kemals. 1920 Errichtung des britischen Mandats in Palästina. 1920 – 1922 Griechisch-türkischer Krieg. 1920 – 1926 Krise zwischen England, den Vereinigten Staaten und Frankreich um die Erdölvorkommen in Mosul, die mit der Konferenz von San Remo (1920) und dem Vertrag von Mosul (1926) beigelegt wird: Die Aktien der Irak Petroleum Company werden aufgeteilt (britische Mehrheit). 1921 Der Emir Faisal wird zum König des Irak ernannt, sein Bruder Abdullah zum Emir von Transjordanien. 1922 1. Nov. Abschaffung des Sultanats in der Türkei. 1923 Ausrufung der Türkischen Republik auf den Prinzipien des Nationalismus, Säkularismus und Modernismus unter dem Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk. 1924 Abschaffung des Kalifats und Auflösung der islamischen Gerichtshöfe in der Türkei. 1925 Proklamation des Schah-Regimes von Reza Pahlevi, der eine autoritäre und modernistische Herrschaft führt. 1928 Scheich Hasan al-Banna gründet in Ägypten die «Muslimbrüder». 1930 In den Vereinigten Staaten wird die Black Muslim-Bewegung gegründet. 1932 Vereinigung von Hedschas und Nadschd zum saudi-arabischen Königreich unter Abd al-Aziz Ibn Saud. 1948 Proklamation des Staates Israel in Palästina und erster arabisch-israelischer Krieg.
«Panarabisches» Abkommen zwischen Ägypten, Syrien und Saudi-Arabien. 1954 – 1962 Algerischer Befreiungskrieg. 1956 Suezkrise. Ausrufung der Islamischen Republik Pakistan, die dem Commonwealth angeschlossen ist. 1967 Sechs-Tage-Krieg: Die Israelis annektieren das gesamte Stadtgebiet Jerusalems einschließlich der heiligen Stätten. 1969 Indien: Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Ahmadabad. 1969 September, Islamische Gipfelkonferenz in Rabat. 1971 3.-I7. Dez. Krieg zwischen Indien und Pakistan: Ostpakistan wird unter dem Namen Bangladesch unabhängig. 1971-1972 Gründung der Vereinigten Arabischen Emirate am Persischen Golf. 1973 Mai Ghaddafi erklärt in Libyen den Islam zum «Weg für die soziale Revolution». 1974 Islamischer Gipfel in Lahore. 1974-1975 Zypern-Krieg zwischen Griechenland und der Türkei. 1975-1976 Bürgerkrieg zwischen Christen und Muslimen im Libanon. 1979 März Ägypten und Israel unterzeichnen einen Friedensvertrag. 1979 1. April Der Ayatollah Khomeini proklamiert die Islamische Republik Iran. 1979 Mai Die Arabische Liga schließt Ägypten nach dem Camp-David-Abkommen aus. 1979-1980 Sowjetische Militärintervention in Afghanistan. 1954
1980-1988 1980 1980 1981
1981 1982
1982
1983
1984
1985 1986
Irakisch-iranischer Krieg um die Kontrolle der Erdölquellen am Persischen Golf. Abschaffung der Sklaverei in Mauretanien. Der Staat Israel erklärt die Annnexion des Ostteils von Jerusalem. Januar Die Gipfelkonferenz der islamischen Länder verurteilt den sowjetischen Angriff auf Afghanistan. Israel erklärt die Annexion der syrischen Golanhöhen nordöstlich des Sees Tiberias. Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung in den Lagern Sabra und Shatila im Libanon durch christliche libanesische Milizionäre. Revolte der «Muslimbrüder» in der syrischen Stadt Hama. Mai Die größeren islamischen Organisationen bilden in Afghanistan die «Islamische Allianz der Mujahedin Afghanistans». April Attentat auf die Botschaft der Vereinigten Staaten durch die schiitische Gruppe «Heiliger Islamischer Krieg». Die Konferenz der islamischen Staaten beschließt mehrheitlich (mit dem Veto Syriens und Libyens) die Wiederaufnahme Ägyptens. Auseinandersetzungen in Bombay zwischen hinduistischen Extremisten und der muslimischen Minderheit. Oktober Israelischer Luftangriff auf das Hauptquartier der PLO in Tunis. Wirtschaftssanktionen der Vereinigten Staaten gegen Libyen und Bombardierung libyischen Territoriums.
1986
1988
1989 1989 1990 1990 1991-1992 1993
1994 1994
20. Okt. Im pakistanischen Karachi wird der «Internationale Rat der muslimischen Dawa» gegründet, der Aufruf zur Propagierung des Glaubens. Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten schiitischen Gruppen, der prosyrischen «Hamal»-Miliz und den proiranischen «Hisbollah». Palästinenser-Aufstand in den besetzten Gebieten Israels («Intifada»). Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Afghanistan. 4. Juni Tod des Imam Rukhullah Khomeini. Wiedereintritt Ägyptens in die Arabische Liga. Juli Beginn der «Golfkrise»; Krieg zwischen Irak, Kuwait und der UNO. August Islamischer Gipfel in Kairo: Verurteilung der irakischen Invasion in Kuwait. Wahlsieg der Islamischen Heilsfront in Algerien; Staatsstreich. 9.-I3. Sept. Gegenseitige Anerkennung des Staates Israels und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO); Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens in Washington, das die Übergabe des Gaza-Streifens und des Westjordanlands an eine palästinensische Autonomiebehörde vorsieht. Mai Katastrophe in Mekka und Tod von rund 800 Pilgern. 25. Juli Jordanien und Israel unterzeichnen ein Abkommen, mit dem der seit 1948 andauernde Kriegszustand zwischen beiden Ländern beendet wird.
1996
In Afghanistan kommt die radikal-islamische Taliban-Miliz an die Macht.