Hendrik Meyer · Klaus Schubert (Hrsg.) Politik und Islam
Hendrik Meyer Klaus Schubert (Hrsg.)
Politik und Islam
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Hendrik Meyer · Klaus Schubert (Hrsg.) Politik und Islam
Hendrik Meyer Klaus Schubert (Hrsg.)
Politik und Islam
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17891-2
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Abkürzungsverzeichnis
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Klaus Schubert/Hendrik Meyer Politik und Islam in Deutschland: Aktuelle Fragen und Stand der Forschung
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I. Akteure Reinhard Busch/Gabriel Goltz Die Deutsche Islam Konferenz – Ein Übergangsformat für die Kommunikation zwischen Staat und Muslimen in Deutschland
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Kerstin Rosenow/Matthias Kortmann Die muslimischen Dachverbände und der politische Islamdiskurs in Deutschland im 21. Jahrhundert: Selbstverständnis und Strategien
47
Raida Chbib Einheitliche Repräsentation und muslimische Binnenvielfalt. Eine datengestützte Analyse der Institutionalisierung des Islam in Deutschland
87
Levent Tezcan Repräsentationsprobleme und Loyalitätskonflikte bei der Deutschen Islam Konferenz
113
II. Inhalte Heiner Bielefeldt Entgleisende Islamkritik. Differenzierung als Fairnessgebot
135
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Inhaltsverzeichnis
Haci-Halil Uslucan Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
145
Norbert Gestring Parallelgesellschaft, Ghettoisierung und Segregation – Muslime in deutschen Städten
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Claudia Diehl/Matthias Koenig Religiosität und Geschlechtergleichheit – Ein Vergleich türkischer Immigranten mit der deutschen Mehrheitsbevölkerung
191
III. Reflexionen Andreas Blätte Islamische Verbände in verbandsökonomischer Perspektive. Begrenzte staatliche Formung durch endogene Ressourcenbildung
219
Mounir Azzaoui Muslimische Gemeinschaften in Deutschland zwischen Religionspolitik und Religionsverfassungsrecht – Schieflagen und Perspektiven
247
Dirk Halm/Hendrik Meyer Inklusion des Islam in die deutsche Gesellschaft – Aufgaben an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik
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Hendrik Meyer/Klaus Schubert Vielfalt als Potential – Implikationen aus dem Verhältnis von Politik und Islam
290
Autorenverzeichnis
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Vorwort
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Vorwort
Es gibt verschiedene Arten Muslim zu sein. Aufgabe der Politik ist es, die in Deutschland hierfür notwendigen Bedingungen zu schaffen. Dabei können die zahlreichen politischen und zivilgesellschaftlichen Debatten durchaus hilfreich sein. Ob allerdings die notwendigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Integrationsanstrengungen durch schematische Verkürzung des Problems – wie etwa in der europäischen Debatte zu Themen wie Minarett- oder Burkaverbot – erleichtert werden, muss erheblich bezweifelt werden. In Deutschland ist dagegen vor allem durch die Deutsche Islam Konferenz und etwa auch durch die Empfehlung des Wissenschaftsrats zur Ausbildung von Islamlehrern deutlich Bewegung in das Verhältnis von Politik und Islam gekommen. Gegenstand dieses Buches ist es, diesen politischen Prozess – zwischen symbolischer Inszenierung und materieller Erneuerung – transparent zu machen und Daten, Fakten und die unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven der Beteiligten zur Verfügung zu stellen. Das vorliegende Buch ist Resultat einer im Februar 2010 in Münster veranstalteten Expertentagung, welche sich maßgeblichen Neuerungen in diesem Feld gewidmet hat. Diese Tagung steht im Kontext des Projektes „Der Koordinationsrat der Muslime – Integration durch politische Steuerung?“, welches unter der Leitung der beiden Herausgeber seit 2009 im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ der Westfälischen Wilhelms-Universität bearbeitet wird. Neben dem Dank an den Exzellenzcluster für die gewährten Mittel zur Durchführung der Tagung möchten sich die Herausgeber herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für die gute Zusammenarbeit, ihre Beiträge sowie die äußerst hilfreichen und konstruktiven Diskussionen vor, während und nach der o.g. Tagung bedanken. Darüber hinaus möchten wir uns bei weiteren Kolleginnen und Kollegen bedanken, ohne deren Hilfe das Buch in dieser Form nicht hätte erscheinen können. Dazu zählen neben Wael El-Gayar, Kate Backhaus und Janna Bockhorst insbesondere Jochen Dehling und Martina Grabau. Münster, Dezember 2010 Klaus Schubert und Hendrik Meyer
Abkürzungsverzeichnis
9
Abkürzungsverzeichnis
AABF ADÜTDF AG AKP AMGT AMJ ATøB BAMF BMI CDU DIB DIK DIK I DIK II DITIB EMUG IAK IFG IGD IGMG IKZ IRD IRH KdöR KRM LIB NIP TBB TGD
Alevitische Gemeinde Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. Arbeitsgruppe Adalet ve KalkÕnma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V.) Ahmadiyya Muslim Jamaat (Ahmadiyya Muslim-Gemeinschaft) Avrupa Türk-øslam Birli÷i (Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V.) Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bundesministerium des Inneren Christlich Demokratische Union Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet øúleri BaúkanlÕ÷Õ) Deutsche Islam Konferenz Erste Phase der Deutschen Islam Konferenz Zweite Phase der Deutschen Islam Konferenz Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Diyanet Íúleri Türk-Islam Birli÷i) Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft Islamischer Arbeitskreis in Deutschland Islamische Föderation Berlin Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. Islamische Gemeinschaft Milli Göruú Islamisches Kulturzentrum e.V. Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e. V. Islamische Religionsgemeinschaft Hessen e.V. Körperschaft des öffentlichen Rechts Koordinationsrat der Muslime Liberal-Islamischer Bund e.V. Nationaler Integrationsplan Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg Türkische Gemeinde in Deutschland
10 UELAM UIAZD VIGB VIKZ ZfT ZMD
Abkürzungsverzeichnis Union für die in europäischen Ländern arbeitenden Muslime e.V. Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland e.V. Vereinigung islamischer Gemeinden der Bosniaken in Deutschland e.V. (heute: IGBD – Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland e.V.) Verband der Islamischen Kulturzentren e. V. Zentrum für Türkeistudien (heute: ZfTI – Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung) Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V.
Politik und Islam in Deutschland: Aktuelle Fragen und Stand der Forschung
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Politik und Islam in Deutschland: Aktuelle Fragen und Stand der Forschung Politik und Islam in Deutschland: Aktuelle Fragen und Stand der Forschung
Klaus Schubert/Hendrik Meyer
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Fragen
Der Islam ist derzeit auf der politischen Agenda Deutschlands so präsent wie selten zuvor. Grund dafür sind intensive Integrationsbemühungen seitens wichtiger gesellschaftlicher Akteure sowie die positive Einstellung maßgeblicher politischer Akteure zum Islam. Die von Seiten des Bundesinnenministeriums unternommenen neuen integrationspolitischen Maßnahmen und Schritte werfen aber angesichts der Interessenvielfalt innerhalb des Islam auch Fragen auf, bspw. welche Reichweite politische Steuerungsversuche haben, von welchen Faktoren ein Gelingen abhängt und generell, ob und in welchem Maße Integration auf diesem Wege überhaupt vorangebracht werden kann. Sind die aktuell beobachtbaren symbolischen Inszenierungen ein adäquates Element der Integrationsbemühungen oder sind sie eher Ausdruck der eingeschränkten Möglichkeiten, Integration politisch zu steuern? Wie müsste Politik handeln, damit politische Steuerung in diesem Politikfeld erfolgreich ist und worin bestünde dann der Erfolg von Integration? Bezogen auf die muslimischen Verbände stellt sich zentral die Frage, inwieweit sie in der Lage sind, die vielfältigen Interessen zu bündeln, zu artikulieren und umzusetzen: Können sichtbare materielle Erfolge erzielt werden oder lässt sich absehen, dass muslimische Einflussnahmen ergebnisarm bleiben? Diese aus politikwissenschaftlicher Sicht relevanten Fragen stehen im Kontext einer breiten wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte, in der es allgemein um die Bestimmung politischer Interessen einerseits und islamischer Interessen andererseits geht: Wo stehen die Interessen von Politik und Islam im Widerspruch zueinander und in welchen Punkten konvergieren sie? Welches sind die maßgeblichen Konfliktthemen und worin bestehen diese Konflikte? Anhand dieser Leitfragen werden in diesem Buch konkrete und aktuelle Probleme des Verhältnisses von Politik und Islam erörtert. Die hier vorgelegte Spannbreite – zwischen symbolischer Inszenierung und materieller Neuerung – soll dabei einen Orientierungsrahmen bieten, innerhalb dessen sich die zahlreichen aktuellen Veränderungen verorten lassen. Gleichzeitig muss aber auch hinterfragt werden, ob symH. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Klaus Schubert/Hendrik Meyer
bolische Politik tatsächlich nur als Kompensationsleistung zu verstehen ist und insofern als Gegensatz zu konkreten materiellen Neuerungen betrachtet werden muss. Zumindest hypothetisch ist es doch viel wahrscheinlicher, dass sich im Wechselspiel zwischen symbolischen Akten und konkreten materiellen Veränderungen tatsächlich positive Entwicklungen bewirken lassen. Im Folgenden soll in einem ersten Schritt auf die Neuerung im Verhältnis von Politik und Islam und damit auch auf die Relevanz dieses Buches verwiesen werden. Anschließend soll anhand einschlägiger Publikationen ein Blick auf die gegenwärtig maßgeblichen Debatten geworfen werden. Zum Abschluss dieses Beitrages werden Struktur und Beiträge des Buches kurz vorgestellt. 2
Neuerungen im Verhältnis von Politik und Islam
Wurde die Tatsache, dass mit den sogenannten Gastarbeitern auch Muslime dauerhaft in Deutschland leben, von der Politik lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen, hat sich dieser Standpunkt in den letzten Jahren deutlich verändert. Im Zuge der Diskussion um die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, setzte sich immer stärker die Einsicht durch, dass die Mehrzahl der Arbeitsmigranten dauerhaft in Deutschland bleibt. Mit dieser Einsicht veränderte sich auch die Wahrnehmung der Migranten. Wurden diese meist hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft kategorisiert, wird nun auch verstärkt ihre religiöse Orientierung in den Blick genommen. Dass die Religion in Integrationsfragen eine entscheidende Rolle spielt, belegen die zahlreichen aktuellen Diskussionen über den Bau von Moscheen, die Einführung islamischen Religionsunterrichts, das Tragen von Kopftuch sowie weitere Praktiken, die mit dem islamischen Glauben in Zusammenhang gebracht werden. Aus Sicht der Politik erzeugen diese Debatten einen dringenden Handlungsbedarf, der zuletzt zu einer Neupositionierung gegenüber dem Islam geführt hat. Sichtbarer Ausdruck dieser neuen Positionierung und des von der deutschen Politik wahrgenommenen Handlungsbedarfs war die Eröffnung der „Deutschen Islam Konferenz“ (DIK) durch den damaligen Bundesinnenminister Schäuble im September 2006. Mit Hilfe dieser – im Gegensatz zu dem, was der Begriff zu suggerieren scheint – dauerhaft eingerichteten Konferenz sollte, so der politische Anspruch, ein langfristig angelegter Verhandlungs- und Kommunikationsprozess zwischen Vertretern des deutschen Staates und Vertretern der in Deutschland lebenden Muslime initiiert werden. Damit stellt diese Konferenz einerseits den ersten institutionalisierten Dialog zwischen Vertretern des deutschen Staates und Vertretern der Muslime in Deutschland dar und verweist andererseits auf das Problem der organisatorischen Segmentierung islamischer Interessengruppen.
Politik und Islam in Deutschland: Aktuelle Fragen und Stand der Forschung
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Denn gerade die Vielfalt von islamischen Organisationen, ihre lediglich fragmentarische Vernetzung untereinander sowie der insgesamt als schleppend wahrgenommene Prozess der Selbstorganisation der Muslime werden hinsichtlich der Integrationsbemühungen staatlicher Akteure häufig als nicht ausreichend bezeichnet. Vor diesem Hintergrund ist auch die Gründung des Spitzenverbandes „Koordinationsrat der Muslime in Deutschland“ (KRM) durch die vier großen Dachverbände „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD), der „TürkischIslamischen Union der Anstalt für Religion“ (DITIB), dem „Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland“ (IRD) und dem „Verband der Islamischen Kulturzentren“ (VIZK) zu sehen. Der KRM wurde laut Geschäftsordnung in der Absicht gegründet, langfristig eine einheitliche Vertretungsstruktur der Muslime in Deutschland zu fördern. Neben seiner Funktion als Ansprechpartner für Politik und Gesellschaft wirkt der KRM auf die Schaffung rechtlicher und organisatorischer Voraussetzungen für die Anerkennung des Islam in Deutschland im Rahmen von Staatsverträgen hin. (KRM-Geschäftsordnung vom 28. März 2007) Für das politisch-administrative System soll der KRM als eine Art integrationspolitischer ‚Brückenkopf‘ in einen zuvor wenig beachteten Teil der Gesellschaft in Deutschland fungieren. Sowohl die DIK als auch der KRM stehen also für ein in dieser Form neuartiges Phänomen des Verhältnisses zwischen Politik und Islam. Mit der Einrichtung der DIK und dem KRM fand zunächst eine symbolische Einbeziehung des Islam in die bundesdeutsche Verbändelandschaft statt. Offen bleibt allerdings, ob es über die DIK und den KRM zu einer Institutionalisierung des Islam kommt, die ihn etwa im Rechtsstatus mit den christlichen Religionsgemeinschaften gleichstellt. Auch die zweite Phase der DIK, die im Mai 2010 durch Bundesinnenminister de Maizière eröffnet wurde, scheint dem Ziel der Gleichstellung nicht wesentlich näher zu kommen. Die faktische Ausladung des Islamrates sowie der Verzicht des ZMD, an der Konferenz weiterhin teilzunehmen, kann als Rückschlag für die Integrationsbemühungen bezeichnet werden. Zwar ist die Fortsetzung dieser Art der symbolischen Politik auch weiterhin ein wichtiger Motor für die Lösung konkreter Probleme. Gleichzeitig offenbart die DIK aber weitreichende Konfliktlinien sowohl zwischen den islamischen Verbänden und der Politik, als auch innerhalb der islamischen Verbandslandschaft. Im Unterschied nämlich zum ZMD sehen der VIKZ und die DITIB in der Islamkonferenz nach wie vor ein funktionales Mittel für die Verfolgung ihrer spezifischen Interessen. Trotz dieser Konflikte, die im Rahmen der DIK gegenwärtig sichtbar werden, bleibt festzuhalten, dass in den letzten Jahren Bewegung in das Verhältnis zwischen Politik und Islam gekommen ist. Denn neben der symbolischen Aufwertung der islamischen Verbände auf Bundesebene fanden auch auf Landesund kommunaler Ebene zahlreiche Neuerungen statt, die so noch vor einiger Zeit
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Klaus Schubert/Hendrik Meyer
nicht denkbar waren. Ein prominentes Beispiel ist die Ernennung von Aygül Özkan zur niedersächsischen Sozialministerin durch den damaligen Ministerpräsidenten Wulff. Damit wurde das erste Mal eine Muslimin in ein Ministeramt gewählt. Das Beispiel ihrer Ernennung macht deutlich, dass sich symbolische Inszenierung und materielle Neuerungen nicht notwendig antagonistisch gegenüberstehen, sondern mitunter auch zusammenfallen und sich ergänzen können. Denn diese Personalie ist beides. Sie ist politisch-faktisch eine Innovation hinsichtlich der Besetzung politischer Spitzenämter. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Signal an die muslimische Bevölkerung in Deutschland, sich aktiv am Gemeinwesen und in der Politik zu engagieren. 3
Stand der Forschung
Konkreter Anlass für dieses Buch waren die Befunde einer umfassenden Literaturstudie. Diese Studie wurde im Kontext eines im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ angesiedelten Forschungsprojektes zum Koordinationsrat der Muslime in Deutschland durchgeführt. Dabei wurden insbesondere die relevanten Themenbereiche Integration, Muslime/Islam, muslimische Organisationen und politische Steuerung untersucht. Zunächst zeigte sich, dass die Beschäftigung mit Religionen sowie ihr Verhältnis zur Politik gegenwärtig fester Bestandteil sozialwissenschaftlicher Untersuchungen sind. Dies belegen die zahlreichen Publikationen zu diesem Themenbereich eindrucksvoll. (Vgl. u.a. Minkenberg/Willems 2002; Walther 2004; Schweitzer 2006; Gabriel/Höhn 2008; Pollack 2009) Die wachsende Bedeutung der Fragestellungen zum Zusammenhang von Religion und Politik ist dabei insbesondere auf die intensivierte Beschäftigung mit dem Islam zurückzuführen. Die Muslime wurden demnach nicht nur durch die deutsche Mehrheitsbevölkerung ‚entdeckt‘. (Jonker 2005) Auch innerhalb der Sozialwissenschaften ist die Auseinandersetzung mit dem Islam von zunehmender Relevanz. Dies ist auch an der stetig wachsenden Zahl aktueller Publikationen zu diesem Thema abzulesen. Insgesamt scheint hinsichtlich der Untersuchungen des Islam nach wie vor eine Art ‚Goldgräberstimmung‘ (Tezcan 2003: 237) zu herrschen. Darüber hinaus zeigte die systematische Literaturrecherche zwar, dass sich die einschlägigen Publikationen sehr gut anhand der oben genannten Themen clustern lassen und diese Themen jeweils für sich bereits gut bearbeitet sind. Gleichzeitig sind aber auch deutliche Forschungslücken zu identifizieren: Je näher man der Frage rückt, ob und ggf. wie unter der gegebenen Interessenvielfalt politisch steuernd eingegriffen werden kann, desto deutlicher reduziert sich die Anzahl weiterführender Veröffentlichungen. Hierbei wurden bislang insbesondere die neueren Veränderungen im Verhältnis zwischen Politik und Islam
Politik und Islam in Deutschland: Aktuelle Fragen und Stand der Forschung
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vernachlässigt. Denn gerade die DIK und der KRM als neue Kooperationsformen zwischen Politik und Islam werfen Fragen auf, die bislang weder aus Sicht der Politik, noch aus Sicht der islamischen Verbände eingehend oder gar anhand von Beispielen untersucht worden sind. Welche Impulse etwa geben diese neuen Institutionen den bisherigen Konflikten und wie lassen sich hier integrationspolitische Erfolge messen? Vor diesem Hintergrund sowie der teils politisch aufgeladenen Debatten in Öffentlichkeit und Politik ist es zwingend notwendig, das komplizierte Verhältnis zwischen Politik und Islam in Deutschland neu zu beleuchten. Neben der grundlegenden Beschreibung der Interessen der Akteure in diesem Kooperations- und Kommunikationsprozess, muss vor allem anhand konkreter Themen die Frage beantwortet werden, in welchem Maße Inszenierungen angemessen und in welchem Maße tatsächliche, materielle Neuerungen notwendig erscheinen. Der Fokus unseres Forschungsinteresses richtet sich dabei weniger auf normativ Wünschbares, sondern vor allem auf eine sachliche Beschreibung des bislang häufig diffus bleibenden Verhältnisses von Politik und Islam. Es ist explizites Ziel dieses Buches auf die hier diagnostizierten Defizite zu reagieren. Um diese Beiträge allerdings in den Kontext der wissenschaftlichen Debatten einordnen zu können, sollen die wesentlichen Befunde der Literaturanalyse kurz skizziert und die Defizite der Debatte daraus abgeleitet werden. „Islamisierung“ der Integrationsdebatten Auch wenn die Anzahl der Publikationen über den Islam in Westeuropa seit den 1980er Jahren beträchtlich gestiegen ist, war der Islam bis zu Beginn des neuen Jahrtausends in Europa noch kaum Gegenstand grundlegender theoretischer Reflexionen. In den letzten zehn Jahren hat aber nicht nur die Anzahl der Studien noch einmal deutlich zugenommen, (Maussen 2006: 4) sondern auch die theoretische Auseinandersetzung zum Nexus Islam und Europa. (Pauly 2004; Altermatt/Delgado/Vergauwen 2006; Tiesler 2006; Döring/Kroker 2006; Cesari 2007; Schweizer 2008) Bei der Sichtung aktueller und einschlägiger Publikationen zum Thema Islam fallen jedoch nicht nur die zunehmenden theoretischen Arbeiten auf. Der derzeit wohl prominenteste Diskussionsstrang ist ein ganz praktischer: Islamdebatten überschneiden sich zunehmend mit Integrationsdebatten und umgekehrt werden Integrationsfragestellungen in einem wachsenden Umfang vor dem Hintergrund des religiösen Bekenntnisses verhandelt. (Halm 2008: 27) Das Schlagwort der „Islamisierung“ der Integrationsdebatte bedeutet in diesem Zusammenhang zwar nicht, dass sich die von der Politik ausgemachten Integrationsprobleme notwendig auf die Religion zurückführen lassen. Dennoch spielt die religiöse Orientierung in diesem Kontext eine bedeutende Rolle. Eine der
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Klaus Schubert/Hendrik Meyer
ersten empirischen Untersuchungen zum Islam in Deutschland machte bereits Anfang der 1980er Jahre deutlich, worum es in der Diskussion im Kern bis heute geht: „Islam und Integration“. (Thomä-Venske 1981) In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings die Perspektive der Debatte deutlich verschoben. War ThomäVenskes Buch noch hauptsächlich von der Konfliktlinie rechts-links bestimmt, in dem die Religion eine eher untergeordnete Rolle spielte, löste sich ab den 1990er Jahren die Debatte von dem rechts-links-Schema und betonte immer mehr die Rolle der Religion. Die Frage nach der politischen Steuerbarkeit von Integrationsprozessen war bislang nur Gegenstand vereinzelter Publikationen. Während sich Baringhorst/ Hunger/Schönwälder (2006) in ihrem Sammelband mit den Intentionen und Wirkungen der politischen Steuerung von Integrationsprozessen befassen, beschreibt Westermann das staatliche Regieren im Bereich der irregulären Migration und fragt nach einer möglichen Überforderung des Nationalstaates. (Westermann 2009) Im Unterschied zu Fragen der Institutionalisierung und Inkorporierung von Muslimen in Europa und des staatlichen Verhältnisses zu muslimischen Organisationen, (Koenig 2007b; Koenig 2007a; Koenig 2007c; Koenig 2005; Koenig 2004; Soper/Fetzer 2007; Warner/Wenner 2006) existieren in Deutschland bislang kaum Studien, die sich explizit mit der politischen Steuerung von muslimischen Organisationen befassen. Für die gegenwärtige Verknüpfung der Themen Islam und Integration scheint stattdessen insbesondere die Verbindung der Themen Islam, Integration und Sicherheit maßgeblich. Islamischer Fundamentalismus als zentraler Bezugspunkt Wenngleich sich die oben erwähnte Goldgräberstimmung auf sehr unterschiedliche Aspekte des Islam bezieht, kommen jüngere Publikationen nur selten ohne den Bezug auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 aus.1 Auch unter migrations- und integrationspolitischen Gesichtspunkten stellt dieses Datum eine deutliche Zäsur dar. In Folge dieser Ereignisse werden die Debatten über Muslime und den Islam häufig im Kontext des sog. Islamismus bzw. des islamischen Fundamentalismus diskutiert. (Kandel 2006; Friedrich-Ebert-Stiftung 2007; Schiffauer/Bojadzijev 2009) Zwar ist die Befassung mit dem islamischen Fundamentalismus keineswegs auf die Zeit nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York beschränkt. (Nirumand 1990; Heitmeyer/Müller/Schröder 1997; Schiffauer 1998) Dennoch haben die von Islamisten verübten Anschläge des 11. Septembers die Debatte merklich intensiviert. Durch den 1
Zum generellen Verhältnis von Religion und Gewalt vgl. u.a. Schweitzer 2006; Hempelmann/ Kandel 2006.
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Terrorismus gerieten nicht nur muslimische Migranten unter Generalverdacht von Sicherheitsbehörden. (Angenendt/Cooper 2006; Meyer 2006) Auch das Bild des Islam in den westlichen Gesellschaften wurde nachhaltig verändert. (Jonker 2005; Ateú 2006; Geaves u.a. 2004) Auf einer höheren Abstraktionsebene wurde dieses Verhältnis häufig als eine Auseinandersetzung zwischen Islam und Moderne beschrieben, die sich wie ein roter Faden durch die Debatten zieht. „Die Positionierung des Islam gegenüber und in der Moderne hat sich […] angesichts der Fundamentalismusproblematik in eine Perspektive verschoben, in der nicht mehr die Frage im Zentrum steht, ob der Islam modern oder nicht modern ist, sondern auf welche Art und Weise der Islam mit der modernen Kultur und Gesellschaft verbunden ist.“ (Tezcan 2003: 238) Die politische und akademische Debatte über den Islam in Europa lässt sich daher unter die Frage subsumieren, ob Muslime integrierbar sind bzw. inwieweit der Islam mit „unserer modernen Lebensweise“ zu vereinbaren ist. (Tezcan 2003: 240) Auch hier zeigt sich, dass die Frage, ob Muslime integrierbar sind, von der Frage zu unterscheiden ist, wie und welche Integrationsbemühungen unternommen werden. Islam als ‚Herausforderung‘ Die grundsätzliche Frage zum Verhältnis von Islam und Moderne weist zahlreiche Facetten auf und geht dabei weit über den Sicherheitsaspekt hinaus. Einen sehr prominenten Bereich bilden hier die Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und der Neutralität des säkularen Staates. (Schweizer 2008; Soper/Fetzer 2007; Shadid/Koningsveld 1995; Shadid/van Koningsveld 2002; Cesari/McLoughlin 2005; Fetzer/Soper 2005; Sahlfeld 2006; Delgado 2006; Gartner 2006) Dabei geht es also nicht nur um das Verhältnis zwischen Islam und Christentum, (Casanova 2006; Höhn 2008) sondern vor allem um die Vereinbarkeit des Islam mit demokratischen Grundprinzipien. (Nagel 2001; Cesari 2004; Banchoff 2007; Koenig 2007d) Zwar sind diese Beiträge in ihrer inhaltlichen Ausrichtung sehr unterschiedlich. Eine gemeinsame Tendenz zeichnet sich dennoch deutlich ab. In der überwiegenden Mehrzahl der Publikationen wird der Islam implizit oder explizit als Herausforderung (für viele: Klausen 2005; Tibi 2008) für Europa diskutiert. Jüngere Publikationen über den Islam und westliche Demokratien kommen nicht ohne den Verweis auf das mindestens latent vorhandene konflikthafte Verhältnis aus, welches auf die kulturellen Differenzen zwischen Muslimen und Aufnahmegesellschaft zurückgeführt wird. (Halm 2008; Karrer 2002; Zehetmair 2005; Leiken 2006; Wohlrab-Sahr/Teczan 2007; Boro 2008) Die Herausforderungen, die nach Ansicht zahlreicher Autoren die Integration von Muslimen an die Aufnahmegesellschaft stellt, werden anhand
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Klaus Schubert/Hendrik Meyer
unterschiedlicher Themen expliziert. Dabei werden diese islamischen Themen in der deutschen Öffentlichkeit, aber auch in der Literatur häufig als „Kette von Problemfällen“ (Naumann 2009: 19) wahrgenommen. Diese Behauptung wird auch durch aktuelle repräsentative Umfragen in Deutschland gestützt, die nicht nur große Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber dem Islam belegen. Sie zeigen auch, dass diese Vorbehalte in den letzten Jahren sogar noch zugenommen haben.2 (Bielefeldt 2008: 4) Diese in Öffentlichkeit und Medien gepflegten Ressentiments gegenüber dem Islam spiegeln sich auch in der Politik wider. Getrennt von der Frage, ob die vorhandenen Ressentiments von der Politik initiiert oder aus wahlkampftaktischen Gründen ‚bloß‘ aufgegriffen werden – die Thematisierung des Islam als ‚Problem für Deutschland‘ zieht sich durch sämtliche gesellschaftliche Schichten und macht eben auch vor politischen Akteuren nicht halt. Die aktuellen Diskussionen um den Islam als ‚Chance für Deutschland‘, wie sie auch im Zusammenhang mit der DIK geführt werden, stellen dabei lediglich eine Ergänzung, und eben keine Ablösung älterer Debatten dar. Die in Öffentlichkeit und Politik gepflegte verabsolutierte Gegenüberstellung der Begriffe Politik und Islam ist allerdings selbst ein Problem zahlreicher Debatten. Das als schwierig gekennzeichnete Verhältnis von Politik und Islam suggeriert, man habe es hier mit zwei gegenüberstehenden und mitunter unbeweglichen Blöcken zu tun. Bei näherer Betrachtung stellt sich diese Metapher jedoch als wenig hilfreich heraus. Dies betrifft sowohl die Wahrnehmung der Politik, als auch die des Islam. Auch hier besteht gegenwärtig die Notwendigkeit, sich den jeweiligen Konfliktthemen mit der gebotenen Differenzierung zu nähern. Zur Pluralität von Politik und Islam Ebenso wie das Christentum lässt sich auch der Islam nicht als homogene Religion beschreiben. Zwar gibt es seitens der Gläubigen eindeutige Bekenntnisse zu ihren jeweiligen Religionen. Geht eine Stellungnahme zur Religion allerdings über das bloße Bekenntnis hinaus, zeigen sich schnell geografische, kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede hinsichtlich Auslegung und Praxis der Religion. Diese unterschiedlichen Auffassungen und Praktiken können nicht selten sogar zu weitreichenden Widersprüchen führen, die selbst innerhalb einer Religion nicht ohne weiteres aufzulösen sind. Gleichzeitig ist auch der innerreli2
Die Wahrnehmung des Islam und seiner Integration als „Problem“ ist wiederum selbst Gegenstand der Forschung. So befassen sich einige Publikationen mit der täglich stattfindenden Islamfeindlichkeit sowie mit der schwierigen Balance zwischen Islamkritik und Islamphobie. (Naumann 2009; Schneiders 2009; Seidel 2003)
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giöse Umgang mit der reellen Vielfalt höchst unterschiedlich und reicht von einem orthodoxen Fundamentalismus hin zu einer umfassenden Ambiguitätstoleranz. Für einen differenzierten Umgang mit dem Islam bedeutet dies, dass ‚der‘ Islam im Singular nicht existiert. (Vgl. auch Hartmann 2006) Dies gilt auch für den Islam in Deutschland. Zwar wird darauf hingewiesen, dass es aufgrund der großen Anzahl türkischer Migranten vermutlich kein anderes europäisches Land gibt, „in dem die muslimische Gemeinschaft so stark und so homogen ist“. (Caldwell 2009) Getrennt vom Vergleich muss jedoch auch für Deutschland von einer überaus heterogenen muslimischen Gemeinschaft gesprochen werden. Ausdruck dieser Vielfalt sind die zahlreichen unterschiedlichen Netzwerke, Organisationen und Verbände, die teils eigene politische und religiöse Ziele verfolgen. Diese islamischen Interessengruppen eint zwar die Notwendigkeit, dass Einflussstrukturen in der Aufnahmegesellschaft überhaupt erst aufgebaut werden müssen, bevor sie gepflegt und ausgebaut werden können. Die Existenz der zahlreichen muslimischen Verbände und Dachverbände ist daher Resultat einer Anpassungsleistung der Muslime an die Gegebenheiten des politischen Systems der Aufnahmegesellschaft. Aber auch diese Anpassung wird von islamischen Organisationen in einem sehr unterschiedlichen Ausmaß vollzogen. So wie der moderne Islam selbst über sehr unterschiedliche politische Strömungen und religiöse Ausrichtungen verfügt, (Meier 1995) so verfolgen auch die unterschiedlichen islamischen Organisationen in den nicht-islamischen Staaten höchst unterschiedliche religiöse und politische Ziele. Hinzu kommt, dass nicht nur zwischen den islamischen Verbänden eine große Interessenvielfalt herrscht, sondern auch innerhalb der Verbände selbst. Sie entwickeln darüber hinaus sehr unterschiedliche Strategien in Bezug auf die vorgefundenen oder neu formulierten Bedingungen der Aufnahmegesellschaft. (Tezcan 2003: 247-248) Die Problematik der Abbildung ‚innerislamischer Vielfalt‘ lässt sich derzeit insbesondere am Beispiel der Islamischen Studien ablesen. Nach dem Plädoyer des Wissenschaftsrates, theologisch orientierte Islamische Studien an deutschen Hochschulen aufzubauen, ist eine Diskussion darüber entbrannt, wie beispielsweise Universitäten mit dem innerislamischen Pluralismus umgehen können bzw. sollten. Der innovative Vorschlag des Wissenschaftsrates, sog. Beiräte für Islamische Studien einzurichten, wirft allerdings auch bislang unbeantwortete Fragen auf: Welche islamischen Organisationen können mit welchen Kompetenzen in den Beiräten mitarbeiten und wie können etwaige Entscheidungen auch nicht beteiligten islamischen Gruppen vermittelt werden? Wenngleich diese Fragen derzeit noch diskutiert werden – sollten sich diese Beiräte durchsetzen, könnte in der Tat von einer materiellen Neuerung gesprochen werden, die weit über eine symbolische Einbeziehung islamischer Organisationen hinaus ginge.
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Klaus Schubert/Hendrik Meyer
Das Beispiel der Einrichtung von Beiräten zeigt aber auch, dass es nicht allein von der Verständigung der islamischen Interessen untereinander abhängt, ob es zu solch einer materiellen Neuerung kommt. Auch die unterschiedlichen Interessen der Funktions- und Entscheidungsträger in der Politik müssen berücksichtigt werden. Denn ebenso wenig, wie die Darstellung des Islam als homogene Religion unzutreffend ist, erscheint ein undifferenzierter Umgang mit dem Begriff Politik hilfreich. Denn was konkret unter ‚der‘ Politik verstanden werden kann, bleibt häufig offen bzw. strittig. Denn wenn Politik beispielsweise als die Durchsetzung des öffentlichen Interesses bezeichnet wird, bleibt immer noch die Frage, worin dieses Interesse besteht und was allgemeinverbindlich von wem und wie zu entscheiden ist. Hier zeigt sich, dass die Gegenstandsbereiche und die Reichweite des Politischen in besonderem Maße von Raum, Zeit und Kultur abhängig sind. Zusätzlich variieren Form (polity), Prozess (politics) und Inhalt (policy) der Politik. Daraus resultieren eine Vielzahl alltäglicher und wissenschaftlicher Politikbegriffe sowie verschiedenartigste wissenschaftliche Klassifikationsmöglichkeiten. (Schultze 2005) Vor dem Hintergrund der Pluralität von Wert- und Ordnungsvorstellungen wurde Politik auch als „Möglichkeit kollektiven Handelns bei nicht vorauszusetzendem Konsens“ (Scharpf 1973: 33) bezeichnet. Diese Feststellung hinsichtlich der Pluralität von Politik ist daher auch für die Beschreibung und Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Islam grundlegend. Denn erstens divergiert die (Wert-)Vorstellung der politischen Akteure bezüglich des Umgangs mit dem Islam deutlich. „Moderne, komplexe Gesellschaften sind durch die Erkenntnisfortschritte der Wissenschaften, die Expansion eines globalen Marktkapitalismus und die mobilitätsbedingt beschleunigte Pluralisierung der Glaubenswelten, Wertvorstellungen und Lebensweisen der Bürger in den letzten Jahren verstärkt mit harten ethischen Grundlagenkonflikten konfrontiert.“ (Graf 2006: 66). Auf diese Konflikte, die sich derzeit insbesondere auf den Islam in Deutschland beziehen, reagiert die Politik höchst unterschiedlich. Und zweitens findet der Dialog zwischen Politik und Islam auf sehr unterschiedlichen kommunalen, Länder- und Bundesebenen statt, was eine Spezifizierung der Begriffe Politik und Islam notwendig macht. 4
Zum Aufbau des Buches
Insgesamt zeigt sich also, dass in das Verhältnis von Politik und Islam deutlich Bewegung gekommen ist. Bevor es allerdings zu einer Bewertung der Neuerungen kommen kann, ist eine wissenschaftliche Beschreibung des Verhältnisses von Politik und Islam in Deutschland unerlässlich. Wenngleich der Idee für dieses Buch ein politikwissenschaftliches Interesse an diesem Gegenstand voraus-
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gegangen ist, bietet sich hinsichtlich der Komplexität und Vielschichtigkeit des Verhältnisses zwischen Politik und Islam eine interdisziplinäre Herangehensweise an. Zwar interessiert aus politikwissenschaftlicher Sicht unter anderem der Aspekt der politischen Steuerung mit dem Ziel der Integration des muslimischen Teils der Bevölkerung. Aber auch andere Disziplinen können zur Beantwortung der oben aufgeführten Fragen einen sinnvollen Beitrag leisten. Darüber hinaus erschien es geboten, integrationspolitische „Praktiker“ zu Wort kommen zu lassen, die zwar auf der Grundlage, aber eben auch jenseits akademischer Debatten das Politikfeld beobachten und gestalten. Vor dem Hintergrund der Befunde der Literaturstudie sowie den Resultaten der eingangs erwähnten Fachtagung wurde eine dreiteilige Gliederung des Buches vorgenommen. Der erste Teil des Buches beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den maßgeblichen Akteuren, die in diesem Politikfeld agieren. Reinhard Busch und Gabriel Goltz befassen sich daher zunächst mit der politischen Dimension des Islamdialogs und damit mit den politischen Akteuren auf der Bundesebene. Am Bespiel der Deutschen Islam Konferenz, die maßgebliche Impulse für die gegenwärtige Debatte setzte, beschreiben sie die Bedeutung dieses ‚Übergangsformates‘ für die Kommunikation zwischen Staat und Muslimen in Deutschland. Darauf aufbauend widmet sich der Beitrag von Kerstin Rosenow und Matthias Kortmann den muslimischen Dachverbänden. Ihnen kommt insbesondere vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Veränderungen eine immer bedeutendere Rolle zu. Daher sollen hier die Reaktionen der muslimischen Verbände auf den Wandel des politischen Islamdiskurses nachvollzogen werden. Da bei dem Aufeinandertreffen der Akteure aus Politik und Islam immer wieder und offenbar notwendig die Frage nach einem einheitlichen islamischen Ansprechpartner aufkommt, geht es im Artikel von Raida Chbib und auf der Grundlage quantitativer Erhebungen um die Repräsentationsfrage sowie die damit zusammenhängende muslimische Binnenvielfalt. Levent Tezcan greift als ehemaliger Teilnehmer der DIK schließlich die bedeutende Frage der Repräsentation des Islam auf und zeigt, wie dieses Problem am Beispiel der ersten Phase der DIK und im Kontext unterstellter bzw. tatsächlicher Loyalitätskonflikte operationalisiert wurde. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich in erster Linie mit den Inhalten, d.h. den relevanten Themen, die im Verhältnis von Politik und Islam gegenwärtig diskutiert werden. Die hier behandelten Bereiche erheben zwar einerseits nicht den Anspruch, sämtliche gesellschaftspolitisch relevanten Probleme anzusprechen. Gleichwohl wird behauptet, dass es sich hierbei um zentrale Konfliktfelder in der Bundesrepublik Deutschland handelt. Daher geht es in dem Beitrag von Heiner Bielefeldt auch zunächst um eine ‚entgleisende Islamkritik‘, die sich anhand zahlreicher Inhalte feststellen lässt. Bielefeldt wirft dabei die Fragen auf, wo eigentlich die Grenze zwischen religionskritischer Aufklärung und kultur-
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kämpferischer Spaltung der Gesellschaft verläuft und wann eine Islamkritik im Namen der Integration ihrerseits zum Integrationshindernis wird. Haci-Halil Uslucan geht es im Hinblick auf muslimische Migranten in Deutschland um die Frage, ob und inwieweit Religionen sozialintegrative Funktionen haben. Vor dem Hintergrund pädagogisch-psychologischer sowie integrationspolitischer Ansätze diskutiert er einen in Niedersachsen gestarteten Schulversuch zum Islamischen Religionsunterricht und stellt dazu längsschnittliche Daten von Schülerund Elternbefragungen vor. Neben dem Religionsunterricht hat auch die Diskussion um Parallelgesellschaften und Ghettoisierung das Verhältnis von Politik und Islam wesentlich geprägt. Daher diskutiert Norbert Gestring den Zusammenhang zwischen der residentiellen Segregation von muslimischen Migranten in deutschen Städten und der Entstehung von Parallelgesellschaften. Einem gleichermaßen bedeutenden, jedoch sozialwissenschaftlich häufig vernachlässigten Thema widmen sich Claudia Diehl und Matthias Koenig. Auf der Basis aktueller Daten wird hier der Zusammenhang von islamischer Religiosität und Geschlechtergleichheit explizit. Die Beiträge des dritten Teils dieses Buches fungieren auf Basis der bis dahin erzielten Ergebnisse als Reflexionen. Diese Reflexionen sollen – der bereits erwähnten Vielschichtigkeit des Themas Rechnung tragend – auf sehr unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Andreas Blätte befasst sich zunächst aus einer theoretischen Perspektive mit der aus politikwissenschaftlicher Sicht überaus relevanten Frage, inwieweit staatliche Maßnahmen die Strukturierung des Feldes der islamischen Verbände beeinflussen. Im Unterschied zu der Beschreibung der Gestaltungsmöglichkeiten einer staatlichen Islampolitik fragt Mounir Azzaoui nach den Perspektiven islamischer Verbände und Organisationen. Dabei beschreibt er die Hindernisse auf dem Weg zur Anerkennung muslimischer Religionsgemeinschaften vor dem Hintergrund seiner eigenen Verbands- und Beratungstätigkeit. Dirk Halm und Hendrik Meyer fassen in ihrem Beitrag zur Inklusion des Islam in die deutsche Gesellschaft nicht nur die wichtigsten Ergebnisse der übrigen Beiträge zusammen. Vielmehr werden die einzelnen Befunde herangezogen, um erstens nach den strukturellen politischen Bedingungen zu fragen, um die Inklusionsvoraussetzungen für den Islam zu verbessern. Zweitens werden die sich für die Politik- und Sozialwissenschaft ergebenden zukünftigen Aufgaben unter Rückgriff auf die Beiträge nochmal pointiert herausgestellt. Der letzte Beitrag von Hendrik Meyer und Klaus Schubert nimmt die Befunde des Buches schließlich zum Anlass, die beschriebene Vielfalt weniger als Problem, sondern als Potential für eine Integrationspolitik zu beschreiben. Das Verhältnis von Politik und Islam wird als Anwendungsbeispiel diskutiert, aus dem auch Rückschlüsse für andere Politik- und Gesellschaftsbereiche gezogen werden können. Angesichts der in Teilen von Politik und Öffentlichkeit heftig umstrittenen Kon-
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fliktthemen in Bezug auf den Islam in Deutschland steht dieser Beitrag – aber auch das Buch insgesamt – zusätzlich für den Versuch, weiter zu einer Versachlichung der Debatten beizutragen. Literatur Altermatt, Urs/Delgado, Mariano/Vergauwen, Guido (Hrsg.), 2006: Der Islam in Europa, Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart. Angenendt, Steffen/Cooper, Belinda, 2006: Zuwanderung in Zeiten des Terrors, Hilft erfolgreiche Integration gegen die islamistische Bedrohung?, in: Internationale Politik 61, 6-14. Ateú, ùeref, 2006: Das Islambild in den Medien nach dem 11. September 2001, in: Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.): Massenmedien, Migration und Integration, Wiesbaden, 153-172. Banchoff, Thomas (Hrsg.), 2007: Democracy and the New Religious Pluralism, New York. Baringhorst, Sigrid/Hunger, Uwe/Schönwälder, Karen (Hrsg.), 2006: Politische Steuerung von Integrationsprozessen, Intentionen und Wirkung, Wiesbaden. Bielefeldt, Heiner, 2008: Das Islambild in Deutschland, Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Berlin. Boro, Ismail, 2008: Die getürkte Republik, Woran die Integration in Deutschland scheitert, München. Caldwell, Christopher, 2009: Der Islam ist in Deutschland wichtiger als das Christentum, Interview mit Spiegel Online, 08.12.2009: [URL http://www.spiegel.de/politik/aus land/0,1518,665841-2,00.html] (14.08.2010). Casanova, José, 2006: Aggiornamenti? Katholische und muslimische Politik im Vergleich, Leviathan 34, 305-320. Cesari, Jocelyne, 2007: Islam in Europe, in: Wuthnow, Robert (Hrsg.): Encyclopedia of Politics and Religion, Washington, D.C., 452-456. Cesari, Jocelyne, 2004: When Islam and Democracy Meet, Muslims in Europe and the United States, New York. Cesari, Jocelyne/McLoughlin, Seán (Hrsg.), 2005: European Muslims and the Secular State, Aldershot. Delgado, Mariano, 2006: Toleranz und Religionsfreiheit – Konvergenz und Divergenz zwischen Europa und der islamischen Welt, in: Altermatt, Urs/Delgado, Mariano/ Vergauwen, Guido (Hrsg.): Der Islam in Europa, Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart, 325-347. Döring, Diether/Kroker, Eduard J. M. (Hrsg.), 2006: Europa und der Islam, Frankfurt a.M. Fetzer, Joel S./ Soper, Christopher J., 2005: Muslims and the State in Britain, France, and Germany, New York. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), 2007: Islamismus in Deutschland, Eine Herausforderung für die Demokratie, Berlin.
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I. Akteure
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Die Deutsche Islam Konferenz
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Die Deutsche Islam Konferenz – Ein Übergangsformat für die Kommunikation zwischen Staat und Muslimen in Deutschland Die Deutsche Islam Konferenz
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Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten vor allem durch Zuwanderer aus muslimisch geprägten Herkunftsstaaten religiös und kulturell vielfältiger geworden. Mittlerweile leben in Deutschland ca. vier Millionen Muslime, das sind ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung. Knapp die Hälfte von ihnen hat bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. (Vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009: 11) Vor diesem Hintergrund berief der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble am 27. September 2006 die Deutsche Islam Konferenz ein. Zuvor hatte am 14. Juni 2006 auf Einladung der Bundeskanzlerin der Nationale Integrationsgipfel stattgefunden. Während letzterer sich mit den alle Zuwanderer betreffenden Fragen der Integration beschäftigt, bietet die Islamkonferenz ein besonderes Forum für die Erörterung der sich spezifisch im Zusammenhang mit in Deutschland lebenden Muslimen stellenden Fragen. Sie ist ein langfristig angelegter, institutionalisierter und strukturierter Kommunikationsprozess, an dem Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen sowie Muslime in der Vielfalt muslimisch geprägten Lebens in Deutschland teilnehmen. Die Konferenz ist keine Vertretung der Muslime in einem „religionsgemeinschaftlichen“ Sinne. Die Islamkonferenz, deren Leitmotiv „Muslime in Deutschland – deutsche Muslime“ lautet, verfolgt dabei die Ziele, sowohl die religionsrechtliche als auch die gesellschaftliche Integration der Muslime in Deutschland zu verbessern. Der Begriff der religionsrechtlichen Integration umfasst dabei die Teilhabe der Muslime und ihrer Organisationen an Formen der Kooperation, die sich aus dem deutschen Religionsverfassungsrecht ergeben. Gesellschaftliche Integration meint hingegen den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf der Grundlage des Grundgesetzes und seiner Werteordnung. Förderung gesellschaftlicher Integration heißt daher auch, gesellschaftlicher Polarisierung entgegenzuwirken und letztlich auch Extremismus zu verhindern, bevor er entsteht. Dabei wird die eine Form der Integration nicht als Voraussetzung der anderen aufgefasst. Die Islamkonferenz hat 1
Der vorliegende Beitrag gibt die persönliche Auffassung der Verfasser wieder.
H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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das Ziel, die Prozesse der religionsrechtlichen und der gesellschaftlichen Integration gleichzeitig zu fördern, da sie sich gegenseitig bedingen und unterstützen. Am 25. Juni 2009 fand das vierte und letzte Plenum der Islamkonferenz in der 16. Legislaturperiode statt. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP für die aktuelle Legislaturperiode wurde die Fortsetzung der Islamkonferenz beschlossen: „Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) hat dazu geführt, dass neben einem den religiösen Gemeinschaften vorbehaltenen interreligiösen Dialog ein Prozess der Annäherung muslimischer Bevölkerungsteile Deutschlands an das deutsche Religionsverfassungsrecht begonnen hat. Diesen Prozess gilt es zu befördern und daher wollen wir die DIK als wichtigstes Forum zwischen dem deutschen Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen fortsetzen.“ (CDU/CSU/FDP 2009: 94)
Die Islamkonferenz ist in ihrer zweiten Phase stärker praktisch ausgerichtet. Daher hat es Modifikationen in ihrer Zusammensetzung und Struktur gegeben. In umfangreichen Vorgesprächen mit den bisherigen sowie den neu zu beteiligenden staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren wurde von Januar bis Mai 2010 ein Arbeitsprogramm erarbeitet. Am 17. Mai 2010 berief Bundesinnenminister Thomas de Maizière schließlich das erste Plenum der Islamkonferenz in der aktuellen Legislaturperiode ein, auf welchem das Arbeitsprogramm verabschiedet wurde. Es bildet nun die Grundlage der Islamkonferenz in ihrer aktuellen Phase. (Vgl. DIK 2010) 1
Struktur und Zusammensetzung der Deutschen Islam Konferenz
Die Islamkonferenz wird federführend vom Bundesministerium des Innern (BMI) betreut, das für die Beziehungen zu den religiösen Gemeinschaften in Deutschland auf der Ebene des Bundes verantwortlich ist. a) Phase I: Ein breit angelegtes Kommunikationsformat wird geschaffen In der 16. Legislaturperiode tagte die Konferenz auf zwei Ebenen, dem Plenum sowie drei darunter angesiedelten Arbeitsgruppen und einem Gesprächskreis. Während das Plenum ca. einmal pro Jahr zusammentrat, tagten die Arbeitsgruppen und der Gesprächskreis alle zwei Monate. Das Plenum war dabei das politische Steuerungsinstrument. Es beauftragte die Arbeitsgremien, sich bestimmten Themen zu widmen, und beschloss die zu den jeweiligen Themen erarbeiteten Schlussfolgerungen, Empfehlungen oder Handreichungen. Um den nicht ab-
Die Deutsche Islam Konferenz
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schließenden Charakter der Gespräche zu verdeutlichen, hießen die durch das Plenum verabschiedeten Ergebnisse „Zwischenresümees“. Das Plenum, dessen Vorsitz der Bundesminister des Innern führte, setzte sich aus 30 Mitgliedern, 15 staatlichen und 15 muslimischen Mitgliedern zusammen. Auf staatlicher Seite waren fachlich zuständige Bundesministerien, auf Länderebene die zuständigen Länderfachministerkonferenzen – Kultusministerkonferenz und Innenministerkonferenz – sowie auf kommunaler Ebene die drei kommunalen Spitzenverbände vertreten. Schwieriger gestaltete sich die Zusammensetzung des Plenums auf muslimischer Seite, da eine etablierte Repräsentanz von Muslimen in Deutschland bisher nicht existiert. Ausgangslage war, dass ca. 20 Prozent der Muslime in Deutschland in religiösen Vereinen organisiert sind und etwas weniger als 25 Prozent der Muslime Deutschlands sich von den islamischen Dach- und Bundesverbänden, die letztlich in die Islamkonferenz berufen wurden, vollständig vertreten fühlen. (Vgl. DIK 2010: 167ff.; Stichs/Haug/Müssig 2010) Es bestand also – und besteht weiterhin – eine „Lücke“ zwischen der Vertretungsleistung bestehender Organisationen und dem hohen Anteil von Muslimen in Deutschland, die religionspolitische Forderungen gegenüber dem Staat erheben, die zugleich eine selbstorganisierte Repräsentanz notwendig machen. So fordern z.B. ca. 75 Prozent der befragten Muslime die Einführung islamischen Religionsunterrichts. (Vgl. Stichs/Haug/Müssig 2009: 187) Zugleich beeinflusst eine Vielzahl von muslimischen Akteuren des Wissenschafts- und Bildungsbereichs sowie der Zivilgesellschaft und der Medien, die nicht in den bestehenden islamischen Dach- und Spitzenverbänden organisiert sind, muslimisches Leben in Deutschland. Es war also ein breit angelegtes, über die bestehenden Organisationen hinausgehendes Format erforderlich, um dem aktuellen Prozess muslimischer Selbstorganisation und Selbstartikulation gerecht zu werden. Eine Struktur war zu schaffen, die den Übergangscharakter verdeutlicht und so wenig wie möglich in den Prozess der Selbstorganisation der Muslime, der noch nicht „abgeschlossen“ ist, eingreift. Angesichts des Ziels der Islamkonferenz, ein möglichst breites Spektrum muslimischen Lebens in Deutschland einzubeziehen und zu erreichen, wurden daher nicht nur Vertreter bestehender islamischer Dach- und Spitzenorganisationen, sondern auch muslimische „Einzelpersönlichkeiten“ beziehungsweise Einzelpersonen – also Vertreter einer muslimisch geprägten Zivilgesellschaft, muslimische Publizisten, Multiplikatoren – in das Plenum der Islamkonferenz berufen. Insgesamt wurden schließlich zehn muslimische Einzelpersonen, vormals z.T. unscharf als „Nicht-Organisierte“ bezeichnet, zur Teilnahme an der Konferenz geladen sowie Vertreter folgender fünf Organisationen: „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.“ (DITIB), „Islamrat für die Bundes-
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republik Deutschland e.V.“ (IRD), „Verband der Islamischen Kulturzentren e.V.“ (VIKZ), „Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V.“ (ZMD) sowie die „Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.“ (AABF).2 2007 haben DITIB, IRD, VIKZ und ZMD auf der Grundlage einer Geschäftsordnung ihre Zusammenarbeit unter dem Namen „Koordinationsrat der Muslime“ (KRM) institutionalisiert, an der Islamkonferenz nahmen sie jedoch weiterhin als eigenständige Organisationen teil. An den drei Arbeitsgruppen und dem Gesprächskreis waren neben den zehn muslimischen Einzelpersonen die Arbeitsebene der im Plenum vertretenen Institutionen und Organisationen sowie zahlreiche weitere Fachleute u.a. aus der Wissenschaft beteiligt. Inhaltlich wirkten insgesamt über 100 Personen am Prozess der Islamkonferenz in der 16. Legislaturperiode unmittelbar mit. b) Phase II: Mehr Effizienz und Flexibilität durch Veränderungen in der Struktur sowie Anpassung der Zusammensetzung an veränderte Rahmenbedingungen Im Zuge der internen Evaluierung der Islamkonferenz im BMI im Herbst 2009 wurde insbesondere die in vier Gremien aufgeteilte Arbeitsebene unterhalb des Plenums als veränderungsbedürftig angesehen. Zum einen wurde der fehlende Austausch zwischen den Arbeitsgruppen bemängelt, was nicht selten zu Doppelungen in der Bearbeitung von Themen geführt hatte. Zum anderen beeinträchtigte die feste Mitgliederstruktur zuweilen die thematische Flexibilität der Arbeitsgruppen und die hohe Anzahl an Mitgliedern gelegentlich ihre Effizienz. In der Konzeption der zweiten Phase der Islamkonferenz wurde das Plenum als höchstes Organ und politisches Steuerungsinstrument beibehalten, das ca. einmal pro Jahr zusammenkommt. Anstelle der vier parallel tagenden Arbeitsgremien wurde hingegen ein einheitlicher Vorbereitungsausschuss geschaffen, der das Plenum auf Arbeitsebene widerspiegelt und alle zwei bis drei Monate zusammentritt. Der Vorbereitungsausschuss richtet zudem personell und thematisch flexible Projekt- und Arbeitsgruppen mit konkreten Aufträgen ein und löst diese nach deren Erledigung wieder auf. Die Einbindung externer Fachleute
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Die Islamkonferenz verfolgt einen inklusiven Ansatz. Das heißt, IRD und ZMD wurden an der Islamkonferenz beteiligt, obgleich Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder Unterorganisationen dieser Verbände erwähnen. Davon unbeschadet werden, solange Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen bestehen, diese auch weiterhin von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachtet. Grundsätzlich gilt der inklusive Ansatz auch für die zweite Phase der Islamkonferenz. Dem IRD wurde nicht aufgrund extremistischer Bestrebungen, sondern aufgrund laufender Ermittlungsverfahren gegen seine größte Mitgliedsorganisation IGMG eine ruhende Mitgliedschaft angeboten. Der ZMD hingegen war weiterhin eingeladen, an der Islamkonferenz teilzunehmen, hat jedoch selbst darauf verzichtet (s.u.).
Die Deutsche Islam Konferenz
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findet vor allem auf dieser Ebene statt. Er initiiert zudem, falls erforderlich, begleitende Studien oder Konferenzen. Abbildung: Aktuelle Struktur der DIK: Plenum
Vorbereitungsausschuss
Projektgruppen
Studien
Konferenzen
Die stärkere Praxisausrichtung der Islamkonferenz in ihrer zweiten Phase spiegelt sich auch in der veränderten Zusammensetzung ihres Plenums wider. So wurde die Rolle der Länder und Kommunen gestärkt, da diesen hinsichtlich der praktischen Umsetzung der von der Islamkonferenz zu erwartenden Integrationsimpulse eine zentrale Rolle zukommt. Es nehmen aktuell sechs statt bisher vier Vertreter der maßgeblich fachlich betroffenen Länderfachministerkonferenzen teil, wobei neben Kultus- und Innenministerkonferenz zusätzlich die Integrationsministerkonferenz berufen wurde. Auch werden die Kommunen nicht mehr wie bisher durch insgesamt drei Vertreter der kommunalen Spitzenverbände repräsentiert, sondern unmittelbar durch kommunale Gebietskörperschaften nämlich die Städte Duisburg, Göttingen, Nürnberg und Bergkamen sowie den Landkreis Konstanz. Die Zahl der Vertreter des Bundes wurde von acht auf sechs reduziert. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wurde wegen der Bedeutung des Themas der Einführung islamischer Theologie als einziges Bundesministerium neu in das Plenum berufen. Neben BMI und BMBF nehmen an der Islamkonferenz auf Bundesebene weiterhin das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt, die Integrationsbeauftragte des Bundes sowie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teil. Auf muslimischer Seite wurde das Prinzip der Einladung sowohl von Vertretern islamischer Dach- und Spitzenverbände als auch von Einzelpersonen beibehalten. Unverändert nehmen die schon bisher vertretenen Verbände DITIB, VIKZ und AABF teil. Dem bisher in der Islamkonferenz vertretenen IRD wurde hingegen aufgrund mehrerer strafrechtlicher, in der Zuständigkeit der Länder liegender Er-
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mittlungsverfahren gegen seine dominierende Mitgliedsorganisation „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.“ (IGMG) eine ruhende Mitgliedschaft angeboten. Der Dialogprozess und die Wahrnehmung der Islamkonferenz in der Öffentlichkeit sollten nicht durch diese Verfahren überschattet werden. Der voraussichtliche Schaden, da er den Prozess insgesamt betroffen hätte, überwog in der Analyse den ebenfalls problematischen Ausschluss einer nicht geringen Anzahl von Moscheevereinen. Durch das „Ruhen“ der Mitgliedschaft sollte verdeutlicht werden, dass es sich hierbei nicht um eine Vorverurteilung handelt und der Ausschluss möglicherweise nur vorübergehend ist. Aufgrund der offensichtlichen personellen und organisatorischen Dominanz der IGMG wäre auch eine Vertretung des IRD in der Islamkonferenz durch Vertreter anderer IRD-Mitgliedsorganisationen keine Lösung gewesen. Der IRD hat das Angebot einer ruhenden Mitgliedschaft abgelehnt. Zwischenzeitlich wurde ein Ermittlungsverfahren gegen einen leitenden Funktionär der IGMG eingestellt, die anderen Verfahren, die sich auf die IGMG als Organisation beziehen, sind hingegen noch nicht abgeschlossen.3 Im Juli 2010 wurde davon unabhängig die dem IRD und der IGMG nahestehende „Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V.“ (IHH) aufgrund finanzieller Unterstützung der HAMAS durch das BMI verboten. Die IHH wurde unter anderem durch ein Kuratorium geleitet, wobei sämtliche Personen, die den IRD bisher in der Islamkonferenz vertreten haben, auch Mitglied dieses Kuratoriums waren. Gegen das Verbot haben die Vertreter der IHH Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht erhoben. Das ebenfalls bisher in der Islamkonferenz vertretene kleinste Mitglied des KRM, der ZMD, hat es hingegen von sich aus abgelehnt, an der Islamkonferenz in ihrer zweiten Phase teilzunehmen, laut eigenen Angaben insbesondere wegen grundsätzlicher Differenzen bezüglich der Zusammensetzung des Plenums. Diese Entscheidung des ZMD zur Nicht-Teilnahme scheint schon sehr früh festgestanden zu haben, augenscheinlich unmittelbar nach Ausscheiden des IRD, da der ZMD es auch ablehnte, im Vorfeld des Plenums an der Erarbeitung des Arbeitsprogramms mitzuwirken. Er hat an den diesbezüglichen Sitzungen des Vorbereitungsausschusses im März und im April 2010 trotz mehrfacher Einladung nicht teilgenommen. Auch das Entgegenkommen des BMI gegenüber den islamischen Verbänden im Rahmen der Vorgespräche, zwei zusätzliche Organisationen in die Islamkonferenz einzuladen, hat an der Haltung des ZMD nichts geändert.
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Entgegen Medienberichten (vgl. u.a. http://www.tagesschau.de/inland/milligoerues108.html) wurde in München ein Verfahren gegen u.a. einen Funktionär der IGMG eingestellt. Dies betrifft jedoch nicht die Ermittlungsverfahren der Kölner Staatsanwaltschaft gegen die IGMG. (Vgl. u.a. http://www.tagesschau.de/inland/milligoerus100.html)
Die Deutsche Islam Konferenz
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Auf deren Anregung, aber auch aufgrund der im Rahmen der internen Evaluierung gewonnenen Erkenntnisse4 wurden schließlich zusätzlich (nicht als Ersatz) die „Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland – Zentralrat e.V.“ (IGBD) und der „Zentralrat der Marokkaner in Deutschland e.V.“ (ZMaD) eingeladen. Dadurch wurde die Islamkonferenz um zwei islamische Organisationen erweitert. Sie berücksichtigt nun auch unmittelbar die zweit- und drittgrößte ethnische Herkunftsgruppe von Muslimen in Deutschland. Ebenfalls neu ist, dass die „Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.“ (TGD) an der Islamkonferenz teilnimmt. Ihr Vorsitzender Kenan Kolat hatte bereits die TGD in der ersten Phase der Konferenz vertreten, jedoch formal als Einzelperson. Die TGD nimmt nun als Organisation teil, jedoch nicht als religiöser Verband, sondern als Migrantenselbstorganisation. Sie repräsentiert in der Islamkonferenz türkeistämmige, mehrheitlich muslimische Migranten, die religionspolitisch vor allem laizistische Positionen vertreten. Neben den aktuell sechs Organisationen wirken weiterhin zehn muslimische Einzelpersonen in der Islamkonferenz auf Plenarebene mit. Diese wurden für die zweite Phase komplett neu berufen, und zwar – vor dem Hintergrund der stärkeren Praxisausrichtung der Konferenz – vorrangig Personen, die dank ihrer beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit, insbesondere in der muslimisch geprägten Zivilgesellschaft, praktische Erfahrungen in die Konferenz einbringen können. Auch sollte durch den Wechsel verhindert werden, dass sich ein wie auch immer gearteter Anspruch auf eine „Vertretung nicht-organisierter Muslime“ verfestigte. Die ausgeschiedenen muslimischen Plenarmitglieder unterstützen weiterhin den Prozess der Konferenz, z.B. als Jury für den in diesem Jahr erstmalig verliehenen „Integrationspreis der Deutschen Islam Konferenz“. Bei den aktuell teilnehmenden muslimischen Einzelpersonen handelt es sich um eine Herausgeberin, einen Imam, eine Islamwissenschaftlerin, einen Politikwissenschaftler, einen Religionslehrer, einen Professor für islamische Religionspädagogik, eine Rechtsanwältin, einen Soziologen, zwei Theologinnen bzw. Religionswissenschaftlerinnen.
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So hat eine Auswertung der Vertretungsleistung der an der ersten Phase der Islamkonferenz beteiligten islamischen Organisationen ergeben, dass sich insbesondere türkeistämmige Muslime durch diese vertreten fühlen, nicht jedoch die Muslime aus anderen Herkunftskontexten. Um diese besser zu erreichen, erschien es angezeigt, zusätzlich Organisationen einzubeziehen, die unmittelbar andere als türkeistämmige Muslime vertreten. (Vgl. Stichs/Haug/Müssig 2010: 132)
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Reinhard Busch/Gabriel Goltz Themen und bisherige Ergebnisse der Deutschen Islam Konferenz/ aktuelles Arbeitsprogramm
Ergebnisse der Islamkonferenz in ihrer Eigenschaft als Forum für Staat und Muslime für die gemeinsame Erörterung spezifischer Fragen im Zusammenhang mit muslimischem Leben in Deutschland sind gemeinsame Schlussfolgerungen, Empfehlungen oder Handreichungen. Diese Ergebnisse sind aufgrund des erwähnten Charakters der Islamkonferenz nicht verbindlich im Sinne der Verbindlichkeit von Gesetzen oder Verwaltungsvorschriften. Die Umsetzung der Ergebnisse kann zugleich nicht durch die Islamkonferenz selbst erfolgen, sondern obliegt den an der Islamkonferenz beteiligten Akteuren bzw. Dritten. Die Islamkonferenz kann also nur in dem Maße Wirkung entfalten, wie ihre Empfehlungen durch die an der Konferenz beteiligten Akteure und Dritte berücksichtigt und umgesetzt werden. Zunächst sollen die in der ersten Phase der Islamkonferenz behandelten Themen und erzielten Ergebnisse zusammenfassend vorgestellt werden. a) Phase I: Erörterung der Grundlagen Die erste Phase der Islamkonferenz war dadurch gekennzeichnet, dass zunächst eine gemeinsame (Wissens-)Basis geschaffen und die Rahmenbedingungen, unter denen sich Integration vollzieht, konkretisiert werden mussten. Die Ergebnisse der ersten Phase der Islamkonferenz sind in den Zwischenresümees ihrer Plenarsitzungen vom 18. März 2008 und 24. Juni 2009 festgehalten.5 In der Arbeitsgruppe 1 „Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“ wurde über Wertekonsens als Voraussetzungen für die Integration muslimischen Lebens in die deutsche Gesellschaftsordnung diskutiert. Die Rechts- und Werteordnung sowie die gelebte Beachtung der Grundrechte waren die zentralen Diskussionspunkte. Erstes zentrales Ergebnis und Grundlage für die weitere Zusammenarbeit in der Konferenz war die Einigung des Plenums der Islamkonferenz 2008 auf ein gemeinsames Verständnis von Integration. Der diesbezüglich von der Arbeitsgruppe 1 erarbeitete Teil des Zwischenresümees dieses Plenums verweist dabei auf die Prozesshaftigkeit von Integration. Integration ist demnach ein Prozess, der zum einen die Anerkennung kultureller und religiöser Unterschiede erfordert und zugleich aber beide Seiten, die Mehrheitsgesellschaft wie auch die Zuwanderer, verändert. Integration verlange Zuwanderern dabei ein höheres Maß an 5
Die Zwischenresümees sind in ihrem jeweiligen Wortlaut unter www.deutsche-islam-konferenz. de veröffentlicht.
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Anpassung ab, insbesondere an die auf Recht, Geschichte und Kultur Deutschlands beruhenden Orientierungen der Aufnahmegesellschaft. Zudem wurde – auch das eine der zentralen Grundlagen – ohne Einschränkung oder Vorbehalt die Verbindlichkeit der deutschen Rechtsordnung und darüber hinaus der Werteordnung des Grundgesetzes anerkannt. Zugleich wird die Mehrheitsgesellschaft aufgefordert, Muslime als gleichberechtigten Teil der deutschen Gesellschaft anzuerkennen und zu respektieren. Religiöse Werte können, so das Zwischenresümee weiter, einen wichtigen Beitrag zu einem sinnerfüllten Leben des Einzelnen und zu einem konstruktiven Miteinander in der Gesellschaft leisten. Die religiöse Freiheit des Einzelnen finde jedoch dort ihre Grenzen, wo sie im Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehe. Diese wechselseitige Begrenzung schütze die Freiheitsrechte jedes einzelnen Bürgers ebenso wie die Autorität des säkularen Staates und den Entfaltungsspielraum religiöser Gemeinschaften. Dieser Konsens wurde im Zuge des Plenums der Islamkonferenz 2009 dahingehend ergänzt, dass es eines Konsenses aller Menschen über Verhaltensregeln im Alltag jenseits gesetzlicher Verankerung bedürfe, so über die Notwendigkeit von Toleranz und Respekt gegenüber Andersgläubigen und Angehörigen anderer Weltanschauungen sowie der Muslime untereinander. Die Muslime in der Islamkonferenz verabschiedeten in diesem Zusammenhang gemeinsame Empfehlungen zur alltagspraktischen Förderung des Wertekonsenses, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Integration von Muslimen in Deutschland für den Bereich der Schule. Unter anderem heißt es darin, dass Gleichberechtigung von Mann und Frau als ein zentrales Element der Werteordnung des Grundgesetzes bei muslimischen Kindern und Jugendlichen zu befördern sei.6 Nicht zuletzt hat, aufbauend auf einem Entwurf der Arbeitsgruppe 1, das Plenum der Islamkonferenz 2007 festgestellt, dass nur wenige verlässliche Daten zu Muslimen in Deutschland vorliegen, und diesbezüglich zu verstärkter Forschung aufgerufen. Das BMI beauftragte daraufhin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“. Mit Abschluss der Studie 2009 liegt nunmehr die erste bundesweit repräsentative Datenbasis vor, die Personen aus 49 muslimisch geprägten Herkunftsländern einbezieht und somit den bislang repräsentativsten Überblick über das muslimische Leben in Deutschland gibt, insbesondere zu Anzahl der Muslime in Deutschland, Glaubensrichtungen, religiöser Praxis und zu verschiedenen Aspekten der Integration. In der Arbeitsgruppe 2 „Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis“ wurden vor allem rechtliche Fragen erörtert, insbesondere die Voraus6
Der IRD trug diese Erklärung der Muslime nicht mit.
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setzungen der Kooperation zwischen Staat und religiösen Gemeinschaften auf der Grundlage des deutschen Staatskirchenrechts. Mit Blick auf den Themenschwerpunkt der Arbeitsgruppe 2 war zunächst von Bedeutung, dass sämtliche Mitglieder der Konferenz das deutsche Staatskirchenrecht im Sinne eines auch für neue religiöse Gemeinschaften offenen Religionsverfassungsrechts als Grundlage für die religionsrechtliche Integration der Muslime akzeptierten. Auf dieser Grundlage wurden im weiteren Verlauf gemeinsame Schlussfolgerungen und Empfehlungen u.a. zu den Themen Einführung islamischen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG, Etablierung islamisch-theologischer Lehr- und Forschungsangebote an deutschen Hochschulen, Aus- und Fortbildung von religiösem Personal, rechtliche und integrationspolitische Aspekte des Baus und Betriebs von Moscheen sowie Durchführung islamischer Bestattungen erarbeitet. Im Zusammenhang mit der angestrebten Einführung islamischen Religionsunterrichts auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 3 GG hat die Arbeitsgruppe 2 – unbeschadet der Zuständigkeit der Länder für die konkreten Verfahren – die verfassungsrechtlichen maßgeblichen Voraussetzungen für die Einführung von islamischem Religionsunterricht untersucht und in einer „Positivliste“ weiter konkretisiert. Ausgangspunkt der Überlegungen war, welche Voraussetzungen erfüllt seinen müssen, damit ein bekenntnisorientierter islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen eingeführt werden darf. Es wurde nach Wegen gesucht, wie möglichst rasch auf der Grundlage der derzeitigen Sach- und Rechtslage im Konsens der Beteiligten Religionsunterricht eingeführt werden kann. Das aus dieser Beschäftigung resultierende Papier „Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen eines islamischen Religionsunterrichts“ (DIK 2008: 19-27) wurde vom Plenum der Islamkonferenz 2008 zustimmend zur Kenntnis genommen und der KMK übermittelt. Die KMK hat auf ihrer 322. Sitzung am 12. Juni 2008 die Positivliste zur Kenntnis genommen und den Ländern empfohlen, diese bei der Entscheidung über die Einführung von islamischem Religionsunterricht zu berücksichtigen. Das Plenum 2009 erzielte auf der Grundlage der Ergebnisse der AG 2 dahingehend Übereinstimmung, dass Forschungs- und Lehrangebote zu islamischer Theologie im staatlichen Hochschulsystem eingerichtet und entsprechende Rahmenbedingungen möglichst zeitnah geschaffen werden sollen. Die im Juni 2009 angenommenen diesbezüglichen Empfehlungen zur Einführung islamisch-theologischer Lehr- und Forschungsangebote wurden anschließend an den Wissenschaftsrat weitergeleitet, der seinerseits zu Beginn des Jahres 2010 umfangreiche eigene Empfehlungen zur Etablierung theologisch orientierter „islamischer Studien“ veröffentlichte. Diese werden derzeit von Universitäten, Ländern und Bund umgesetzt.
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Bezüglich der ebenfalls von der Arbeitsgruppe 2 erörterten Frage der Anwendbarkeit islamischer Normen in Deutschland heißt es im Zwischenresümee des Plenums 2009: „Die Einführung von islamischem Sonderrecht oder einer religiösen Parallelgerichtsbarkeit kommt in Deutschland nicht in Betracht und wird auch von Seiten der muslimischen Verbände nicht angestrebt.“ (DIK 2009: 12) Zudem wurde auf dem Plenum 2009 eine von der Arbeitsgruppe 2 erarbeitete Handreichung für die Lösung schulpraktischer religiöser Fragen verabschiedet. In ihr werden die rechtlichen Grundlagen für wiederholt auftretende Fragen, wie etwa mit Blick auf die Teilnahme von muslimischen Schülern und Schülerinnen an Klassenfahrten oder am Sport- und Schwimmunterricht sowie das Tragen von Kopftüchern an Schulen dargestellt und konstruktive Lösungen für Lehrer und Eltern vorgeschlagen. (Vgl. DIK 2009: 15-25) In der Arbeitsgruppe 3 „Wirtschaft und Medien als Brücke“ reichte das Themenspektrum von den Beschäftigungsperspektiven muslimischer Migranten über die Öffentlichkeitsarbeit von islamischen Organisationen in Deutschland bis zu dem Bild, das Medien von Muslimen und „dem Islam“ in Deutschland zeichnen. Die Islamkonferenz warb hinsichtlich dieses Themenschwerpunkts für eine verantwortungsvolle, vorurteilsfreie und differenzierte Berichterstattung über Muslime und den Islam. Es sollten mehr alltagsnahe Themen zum islamischen Leben in Deutschland aufbereitet und ausgewogen über die Lebenswirklichkeit von Muslimen in Deutschland und der Welt berichtet werden. Deshalb fanden 2008 auf Einladung des Bundesinnenministeriums zwei Fachkonferenzen statt, an denen Journalisten, Politiker und Medienwissenschaftler teilnahmen, um über Rolle und Verantwortung der Medien im Integrationsprozess zu diskutieren. Bei allen Meinungsverschiedenheiten waren sich die Teilnehmer darin einig, dass Medien im Prozess der Integration insgesamt eine bedeutende Rolle spielen. Sie prägen im Rahmen unabhängiger und kritischer Berichterstattung und in ihren Unterhaltungsangeboten Bilder von den verschiedenen ethnischen und kulturellen Bevölkerungsgruppen wesentlich mit. Die anschließende Einrichtung eines „Runden Tisches“ von Journalisten deutsch- und türkischsprachiger Medien in Berlin trug den Ergebnissen dieser Konferenzen Rechnung. Darüber hinaus wirkten vor allem Mitglieder der Medien-Arbeitsgruppe der Islamkonferenz mit Beiträgen und Kommentaren an der Webseite der Deutschen Islam Konferenz (www.deutsche-islam-konferenz.de) mit. Die Webseite, die im Dezember 2008 vom Bundesinnenminister freigeschaltet wurde, schuf eine größere Transparenz über die Beratungen und Empfehlungen der Konferenz und informiert über muslimisches Leben in Deutschland. Im Gesprächskreis „Sicherheit und Islamismus“ ging es schließlich vor allem um die Frage, wie Islamismus auch durch Muslime und ihre Organisationen selbst vorgebeugt werden kann und wie deutsche Sicherheitseinrichtungen mit
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Muslimen und ihren Organisationen in diesen Fragen besser zusammenarbeiten können. In den Schlussfolgerungen des Gesprächskreises, durch das Plenum 2009 mit Ausnahme des IRD angenommen, wurde festgehalten, islamistischen/extremistischen Bestrebungen gemeinsam entgegenwirken zu wollen, auch wenn bezüglich der konkreten Definition z.B. von „Islamismus“ bislang keine Übereinstimmung erzielt werden konnte. Die Teilnehmer des Gesprächskreises waren der Auffassung, dass wechselseitige Offenheit eine Grundvoraussetzung für die Zusammenarbeit zwischen islamischen Organisationen und staatlichen Institutionen sei. Dies bedeute auch, aktiv etwaige extremistische Bestrebungen in Teilen der muslimischen Bevölkerung zu problematisieren und – z.B. im Rahmen der Bildungsarbeit – auch selbstständig dagegen vorzugehen. Die islamischen Organisationen erklärten, extremistische Propaganda, Schriften und Publikationen in ihren Einrichtungen nicht zu dulden. Transparenz schließe auch ein, finanzielle Einnahmen offen zu legen. Die Mitglieder des Gesprächskreises waren sich zudem darin einig, dass gemeinsame Projekte von staatlichen Stellen und islamischen Organisationen zur Extremismus- und Radikalisierungsprävention Erfolg versprechend seien. Um bestehende Kooperationen zu stärken, wurde 2008 beim BAMF eine „Clearingstelle Präventionskooperation“ zur Vermittlung von Kontakten und guten Beispielen in der Kooperation von Muslimen und Sicherheitsbehörden eingerichtet. b) Phase II: thematische Kontinuität und stärkere Praxisorientierung: das aktuelle Arbeitsprogramm Die Deutsche Islam Konferenz ist, wie oben bereits erwähnt, ein langfristig angelegter Kommunikationsprozess. Während die erste Phase der Islamkonferenz vor allem im staatlichen Bereich eine verstärkte Dynamik ausgelöst hat, musste im Zuge der Planungen für die zweite Phase auch konstatiert werden, dass – abgesehen von einer verbesserten Kommunikation der Muslime und ihrer Organisationen untereinander – die bisherige Ausstrahlung der Islamkonferenz in die muslimischen Lebenswelten Deutschlands eher gering war. Eine Umfrage des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) im April 2010 hatte ergeben, dass die Islamkonferenz muslimischen Zuwanderern weniger bekannt sei als der Mehrheitsbevölkerung. So gaben laut Umfrage ca. 19 Prozent der muslimischen Zuwanderer an, dass ihnen die Konferenz gut bekannt sei. Knapp 38 Prozent hatten „davon schon einmal gehört“ und ca. 43 Prozent war sie gänzlich unbekannt. (Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2010)
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Ziel der Islamkonferenz in ihrer zweiten Phase ist daher vor allem auch eine stärkere Auseinandersetzung von Muslimen mit der Islamkonferenz, ihren Themen und Ergebnissen. Hierzu sollte auch die gemeinsame Ausarbeitung der in der Konferenz zu behandelnden Themen dienen, die es so in der ersten Phase nicht gegeben hatte. Die aktuelle Phase der Konferenz trägt daher deutlicher die Handschrift der teilnehmenden Muslime, als dies in der 16. Legislaturperiode der Fall war. Das betrifft insbesondere das Arbeitsprogramm, aber auch die bereits erwähnten Veränderungen in der Zusammensetzung (Einladung von zwei zusätzlichen islamischen Organisationen). Die stärkere Verknüpfung der Islamkonferenz in die Gemeinschaften und Communities hinein wurde schließlich als Ziel in das Arbeitsprogramm aufgenommen. So heißt es in dem einleitenden Teil unter dem Titel „Die DIK in der Gesellschaft verankern“: „In der ersten Phase der DIK sind bereits wesentliche Grundlagen für den Dialog zwischen Staat und Muslimen in unserem Land gelegt und wichtige Schritte unternommen worden. Sie sind in den Zwischenresümees der DIK vom 13. März 2008 und vom 25. Juni 2009 festgehalten worden. […] In ihrer zweiten Phase wird sich die DIK der Umsetzung dieser Ergebnisse widmen. Sie sollen in die Gesellschaft einschließlich der muslimischen Gemeinschaften hineingetragen und im Dialog mit öffentlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren stärker Akzeptanz und Berücksichtigung finden, aber auch vertieft werden.“7(DIK 2010: 1-2)
Was die übergeordneten Themenbereiche der Islamkonferenz betrifft, so besteht zwangsläufig Kontinuität, wobei in der ersten Phase vor allem Grundlagen erörtert wurden. Hinsichtlich der zweiten Phase stimmten die an der Ausarbeitung des Arbeitsprogramms Mitwirkenden nun überein, dass die Frage der Praxisrelevanz stärker im Vordergrund stehen solle, insbesondere die Frage, wie die Deutsche Islam Konferenz Prozesse praktisch begleiten, unterstützen oder auch beschleunigen könne. Der erste thematische Schwerpunkt der Islamkonferenz in ihrer aktuellen Phase lautet „Institutionalisierte Kooperation und integrationsbezogene Projektarbeit fördern“. Dies entspricht auch dem Koalitionsvertrag, der sich das Ziel setzt, den Prozess der Annäherung der Muslime an das Religionsverfassungsrecht zu unterstützen. Konkret heißt es im Arbeitsprogramm hierzu: „Die DIK unterstützt das Ziel der Etablierung einer institutionalisierten Kooperation zwischen Staat und Muslimen und ihren Organisationen in Deutschland auf der 7
Unabhängig davon werden Kommunikationsstrukturen, die im Zuge der ersten Phase der Islamkonferenz aufgebaut wurden, beibehalten und weiterhin genutzt (d.h. die Internetseite der Islamkonferenz, der Runde Tisch mit Journalisten deutsch- und türkischsprachiger Medien, die Clearingstelle „Präventionskooperation“).
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Reinhard Busch/Gabriel Goltz Grundlage des deutschen Religionsverfassungsrechts. Die Muslime sollen unterstützt werden, die diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Die Verwirklichung dieses Ziels ist eine Voraussetzung dafür, dass auch Muslime in Deutschland gleichberechtigt die Rechte von Religionsgemeinschaften wahrnehmen können.“ (DIK 2010: 3)
In diesem Zusammenhang wird sich die Islamkonferenz weiterhin des Themas der Einführung bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts widmen. Da jedoch bereits in der ersten Phase der Konferenz diese Frage intensiv erörtert wurde und die Länder für die Umsetzung der konkreten Verfahren zuständig sind, wurde beschlossen, dass die Islamkonferenz künftig den Rahmen für einen bundesweiten Wissens- und Erfahrungsaustausch über praktische Entwicklungen und konkrete Fortschritte bei der Einführung islamischen Religionsunterrichts, über bestehende religionskundliche Modelle an öffentlichen Schulen sowie über die Aus- und Fortbildung von islamischen Religionslehrerinnen und -lehrern darstellen und diesbezüglich konkrete Instrumente zur Verstetigung des Erfahrungsaustausches erörtern solle. Zudem werde die DIK zu einer Aufklärung und Sensibilisierung auch im Zusammenhang mit möglichen Vorbehalten gegenüber der Einführung islamischen Religionsunterrichts beitragen. Darüber hinaus wird sich die Islamkonferenz im Rahmen des ersten Themenschwerpunkts konkret zunächst zwei weiteren Themen widmen. Zum einen wird sie erstens die Einrichtung und den weiteren Aufbau von islamisch-theologischen Angeboten an öffentlichen Hochschulen insbesondere durch einen internen Austausch begleitend unterstützen sowie zweitens entsprechend der stärkeren Praxisorientierung ein Modellkonzept zur Fortbildung von islamischen Religionsbediensteten und weiteren Multiplikatoren in islamischen Gemeinden erarbeiten. Hierzu wurde bereits eine Projektgruppe eingesetzt, die bereits bestehende Projekte der Fortbildung von islamischen Religionsbediensteten und weiteren in islamischen Gemeinden engagierten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren erörtert sowie ein Konzept insbesondere für die kommunale Ebene erarbeiten und dem Vorbereitungsausschuss der Islamkonferenz empfehlen wird. Diese Konzepte sollten auch islamische Gemeinden berücksichtigen, die nicht Mitglied in einem regionalen oder bundesweit organisierten Dachverband sind. (DIK 2010: 3ff.) Der zweite Themenschwerpunkt „Geschlechtergerechtigkeit als gemeinsamen Wert leben“ führt die Debatte der ersten Phase der Islamkonferenz bezüglich der Werteordnung des Grundgesetzes fort. So wird sich die Islamkonferenz konkret mit dem Thema der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft insbesondere für Musliminnen befassen.
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Hier geht es zum einen beispielsweise um den Zugang zum Arbeitsmarkt und die gleichberechtigte Chance auf Teilhabe am Erwerbsleben einschließlich der dazu befähigenden Bildungsangebote. Zum anderen geht es um Rollenbilder und vorgefasste Erwartungen, die Geschlechtergerechtigkeit beeinträchtigen können. Diese sind zwar in vielen Fällen vor allem patriarchalisch geprägt, werden aber durchaus auch religiös begründet und gerechtfertigt. Die DIK wird in diesem Rahmen nach Wegen suchen, damit insbesondere Zwangsverheiratungen und Gewalttaten im Namen der vermeintlichen Ehre noch stärker als bisher als inakzeptabel angesehen werden. Laut Arbeitsprogramm sind diese Phänomene, die auch nach Auffassung der in der DIK vertretenen Muslime nicht unter Berufung auf den Islam gerechtfertigt werden können, dessen ungeachtet in Deutschland weiterhin zu beobachten und verlangen daher nach Lösungen. (DIK 2010: 6ff.) Bezüglich dieses zweiten Themenschwerpunkts der Islamkonferenz wurde zunächst eine Studie zur Weitergabe von Geschlechterrollen in muslimischen Milieus in Auftrag gegeben, welche eine zentrale Grundlage für die weitere Beschäftigung mit diesem Themen in der DIK bilden wird. Der dritte Themenschwerpunkt „Prävention von Extremismus, Radikalisierung und gesellschaftlicher Polarisierung“ setzt die Erörterungen des Gesprächskreises „Sicherheit und Islamismus“ fort. Zugleich wurde im aktuellen Arbeitsprogramm der Präventionsansatz breiter formuliert und umfasst nun auch Phänomene wie Feindlichkeit gegenüber Muslimen (Muslimfeindlichkeit). Ziel dieses breiteren Ansatzes ist es, Akzeptanz sowohl bei Muslimen als auch bei der Mehrheitsgesellschaft zu finden. Dazu wird sich die Islamkonferenz mit unterschiedlichen Auffassungen und Wahrnehmungen über Probleme beim Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen in unserem Land befassen. (DIK 2010: 8ff.) Im Rahmen dieses dritten Themenschwerpunktes wurde die Arbeitsgruppe „Präventionsarbeit mit Jugendlichen“ gegründet, deren Ziel es ist, insbesondere mit Bezug auf Jugendliche einen Beitrag zur Förderung der Toleranz und der Verhinderung von Extremismus zu leisten. Die Arbeitsgruppe geht dabei in drei Schritten vor. Bis zum nächsten Plenum 2011 soll zunächst eine begriffliche Grundlage zu den Phänomenen Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus, pauschaler Ablehnung des Westens sowie Islamismus bzw. religiös begründetem Extremismus unter Muslimen geschaffen werden und in eine Art „Glossar“ einfließen. In einem anschließenden zweiten Schritt sollen dann Methoden fördernder und präventiver Ansätze erörtert werden sowie eine Bestandsaufnahme bestehender Maßnahmen erfolgen. Darauf aufbauend wird die Arbeitsgruppe schließlich (in einem dritten Schritt) Problemfelder identifizieren, in denen staatliches und zivilgesellschaftliches Engagement verstärkt werden sollte, praktische Lösungen entwickeln und in diesem Zusammenhang konkrete Maßnahmen initiieren.
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Reinhard Busch/Gabriel Goltz Fazit
Mit der Deutschen Islam Konferenz wurde Neuland betreten. Erstmals wurde ein gesamtstaatlicher Kommunikationsmechanismus geschaffen, an dem Vertreter aller staatlichen Ebenen gemeinsam mit Muslimen spezifische Fragen erörtern, die sich im Zusammenhang mit muslimischem Leben in Deutschland stellen. Bereits ihre Einrichtung war integrationspolitisch ein Erfolg. Sie war und ist zum einen das unmissverständliche politische Signal an die Mehrheitsgesellschaft, Muslime als gleichberechtigten Teil der deutschen Gesellschaft anzunehmen. Zum anderen war und ist sie aber auch Appell an die Muslime in Deutschland und ihre Organisationen, einen aktiven Beitrag im Integrationsprozess zu leisten. Hier kann die Islamkonferenz für sich in Anspruch nehmen, das Verhältnis von Politik und Staat sowie Muslimen auf ein neues Niveau gehoben zu haben. Neuland wurde auch mit Blick auf die Zusammensetzung der Islamkonferenz auf muslimischer Seite betreten. Es wurde versucht, eine Zusammensetzung zu finden, die, wie oben dargestellt, den aktuellen Prozessen muslimischer Selbstorganisation und Selbstartikulation gerecht wird. Auch wenn die Frage der Zusammensetzung auf muslimischer Seite immer wieder neu beurteilt werden muss und in Bezug auf die Teilnahme oder auch die Nicht-Teilnahme einzelner muslimischer Akteure auch weiterhin kritisiert werden wird, hat sich der Ansatz der Islamkonferenz insgesamt, nämlich sowohl Organisationen als auch unmittelbar Personen teilnehmen zu lassen, bewährt. Letztendlich stellt das gewählte Format ein flexibles „Übergangsformat“ dar. Die Islamkonferenz bewegt sich hierbei auf einem schmalen Grad. Zum einen kann sie bereits deshalb nicht Vertretung der Muslime in Deutschland sein, weil das Bundesinnenministerium über die Zusammensetzung der Konferenz entscheidet. Zum anderen beansprucht die Konferenz aber durchaus, durch die Mitwirkung eines breiten Spektrums muslimischer Positionen in Deutschland, einen möglichst hohen Grad muslimischer Repräsentation zu erzielen. Entgegen aller anfänglicher Skepsis ist die Konferenz in ihren Arbeitsgruppen und im Plenum zu sehr konkreten Ergebnissen und Empfehlungen gelangt, die die Grundlage dafür boten, den eingeschlagenen Weg fortzuführen. Wie erwähnt, sind die Ergebnisse aufgrund des Charakters der Islamkonferenz nicht verbindlich. Die Islamkonferenz kann also nur in dem Maße Wirkung entfalten, wie ihre Empfehlungen durch die an der Konferenz beteiligten Akteure und Dritte berücksichtigt und umgesetzt werden. Eine Bilanz der bisherigen Wirkung der Islamkonferenz muss daher differenziert nach den von ihr behandelten Themen ausfallen. Auch wenn dies im Rahmen dieses Artikels nicht im Einzelnen geleistet werden kann, so hat die Islamkonferenz – über den oben erwähnten allgemeinen Integrationsimpuls hinaus – bei bestimmten konkreten Themen durch
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ihre Empfehlungen zu einer größeren Dynamik beigetragen, etwa bei der Einführung bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts oder der Etablierung islamischer Theologie an deutschen Hochschulen aber auch bei der praktischen Kooperation im Bereich der Integration und der Prävention. Zudem hat und wird sie weiterhin durch ihre Ergebnisse und flankierende Studien zu einer sachlichen und differenzierten Debatte über und mit Muslimen in Deutschland beitragen. Die Konferenz führte zu einer verstetigten Kommunikation zwischen den an der Konferenz teilnehmenden Muslimen, die – auch nach dem Ausscheiden des IRD – keinen homogenen Block darstellen und unterschiedlich Positionen vertreten. Nicht zuletzt stößt die Islamkonferenz auch im Ausland auf reges Interesse. Auch in ihrer zweiten Phase wird die Konferenz im Rahmen ihrer Möglichkeiten politische Impulse geben und Prozesse anstoßen, sie beschleunigen und aktiv begleiten. Sie hat sich als Format für eine Übergangszeit bewährt. Mit bestimmten immanenten Problemen – wie z.B. einer übertriebenen öffentlichen Erwartungshaltung, Kritik an der Zusammensetzung der Konferenz, unterschiedlichen Zuständigkeiten der staatlichen Akteure, fehlende Verbindlichkeit der Ergebnisse – wird die Konferenz leben müssen. Die Alternative zur Islamkonferenz in ihrer jetzigen Form hieße jedoch, realistisch gesehen, auf sie ganz zu verzichten. Das wäre integrationspolitisch ein großer Rückschritt. Die Islamkonferenz als flexibles Übergangsformat wird vielmehr ihre Struktur und ihre Themen schrittweise neuen Rahmenbedingungen anpassen müssen, bis sie als eigenständige Institution für die Kommunikation zwischen Staat und Muslimen überflüssig geworden sein oder ihren Charakter hin zu einer Vertretung der Muslime Deutschlands gegenüber dem Bund völlig verändert haben wird. Literatur ARD (2010): Vorwürfe gegen Spitzenfunktionäre, Ermittlungen gegen Milli Görüs offenbar eingestellt. [URL: http://www.tagesschau.de/inland/milligoerues108.html] (Stand: 11.11.2010). ARD (2009): Verdacht auf Spendenbetrug, Bundesweite Razzia gegen Milli Görüs. [URL: http://www.tagesschau.de/inland/milligoerus100.html] (Stand: 11.11.2010). CDU/CSU/FDP (2009): Wachstum, Bildung, Zusammenhalt – Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, Berlin. [URL: http://www.cdu. de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf] (Stand: 11.11.2010). Deutsche Islam Konferenz (2010): Schlussfolgerungen des Plenums vom 17. Mai 2010, Künftiges Arbeitsprogramm, Berlin. [URL: http://www.deutsche-islam-konferenz. de/SharedDocs/Anlagen/DE/DIK/Downloads/DokumenteDIK/Plenum-arbeitspro
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gramm,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Plenum-arbeitsprogramm.pdf] (Stand: 11.11.2010). Deutsche Islam Konferenz (2009): Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises, Vorlage für die 4. Plenarsitzung der DIK vom 25. Juni 2009, Berlin. [URL: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Politik_ Gesellschaft/DIK/zwischen_resuemee_studie_muslim_leben_deutschland.pdf?__ blob=publicationFile] (Stand: 11.11.2010). Deutsche Islam Konferenz (2008): Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises, Vorlage für die 3. Plenarsitzung der DIK vom 13. März 2008, Berlin. [URL: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/DIK/ Downloads/DokumenteDIK/zwischenresuemee-dik,templateId=raw,property= publicationFile.pdf/zwischenresuemee-dik.pdf] (Stand: 11.11.2010). Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja (2009): Muslimisches Leben in Deutschland, Forschungsbericht Nr. 6 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Nürnberg. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2010): Adressat nicht erreicht? Deutsche Islam Konferenz bei Muslimen kaum bekannt, Berlin. [URL: http://www.svr-migration.de/?page_id=1868] (Stand: 11.11.2010). Stichs, Anja/Haug, Sonja/Müssig, Stephanie (2010): Muslimische Verbände in Deutschland aus der Sicht der muslimischen Bevölkerung, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) 4, 127-133.
Die muslimischen Dachverbände und der politische Islamdiskurs
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Die muslimischen Dachverbände und der politische Islamdiskurs in Deutschland im 21. Jahrhundert: Selbstverständnis und Strategien Die muslimischen Dachverbände und der politische Islamdiskurs
Kerstin Rosenow/Matthias Kortmann
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Einleitung
Wie bereits in der Einleitung dieses Bandes ausgeführt stellte der Wandel des politischen Integrationsdiskurses in Deutschland im Verlaufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhundert eine besondere Herausforderung für die Migrantenverbände dar. Während die Frage der Integration von Migranten sich immer stärker auf die Frage der Integration der Muslime und des Islams in Deutschland zuspitzte1, rückten insbesondere die islamischen Verbände zunehmend in den Fokus des Interesses. In diesem Beitrag sollen die Reaktionen muslimischer Dachverbände auf den Wandel des politischen Islamdiskurses nachvollzogen werden. Dabei wird angenommen, dass dieser Wandel für die Verbände eine doppelte Herausforderung darstellt: Einerseits müssen sie sich innerhalb des Diskurses positionieren und versuchen, die Debatte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Andererseits stehen ihre Organisationen ebenso vor der Aufgabe, sich auch strukturell an ihre neue Rolle als Ansprechpartner der Politik anzupassen, ohne dabei die Wahrung der genuinen Interessen und Bedürfnisse ihrer Mitglieder aus den Augen zu verlieren. Zunächst soll geklärt werden, welchen Einfluss die Entwicklungen auf das Selbstverständnis der Verbände haben, um in einem zweiten Schritt zu analysieren, wie sich die Verbände als Akteure innerhalb des politischen Diskurses positionieren. Dabei wird aus Sicht der Verbände das Spannungsverhältnis zwischen hoher symbolischer Inszenierung und geringer materieller Neuerung kritisch beleuchtet. Die Untersuchung beschränkt sich auf die fünf größten Dachverbände, welche – zuletzt auf der DIK I – am sichtbarsten als Interessenvertreter in Erscheinung traten und zudem einen Großteil der organisierten Muslime in Deutschland
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Von Beobachtern wird daher bereits von einer „Islamisierung der Debatten“ Tiesler (2007) oder der „Konfessionalisierung des Integrationsdiskurses“ (Malik 2007) gesprochen.
H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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vertreten2. Methodisch stützt sich der Beitrag auf die Analyse qualitativer Leitfadeninterviews, welche mit Vertretern der Verbände zwischen 2008 und 2010 durchgeführt worden sind3. Darüber hinaus wurden Dokumente inhaltsanalytisch untersucht, in denen eine öffentliche Selbstdarstellung der Organisationen sowie Stellungnahmen zu aktuellen politischen Themen enthalten sind4. Als theoretische Basis zur Erklärung des Verbandshandelns der untersuchten Organisationen dient der organisationssoziologische Ansatz des Neoinstitutionalismus sowie das Modell der Political Opportunity Structures, welche mit Studien zur Verbändeforschung kombiniert werden, wie der folgenden Abschnitt zeigt. 2
Das Dilemma der Verbände zwischen Einfluss- und Mitgliederlogik
Im Rahmen der Forschungen zu muslimischen Organisationen haben sowohl Ansätze der Organisationssoziologie als auch der vergleichenden Politikwissenschaft erst seit kurzer Zeit Beachtung gefunden. (Sezgin 2010; Vermeulen 2007)5 Während sich viele Studien lange der Frage integrativer versus segregativer Wirkungen von Migrantenorganisationen widmeten6 (Diehl et al. 1998; Thränhardt/Weiß 2005), ist dieses Vorgehen inzwischen als zu einseitig kritisiert worden. (Jungk 2001; Pries 2010) Im Folgenden geht es daher um ein Binnenverständnis der Organisationen und ihrer Strategien im Kontext sich wandelnder Umwelten. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass der Politikwandel in Deutschland kein isoliertes Phänomen ist, sondern in einem gesamtgesellschaftlichen und globalen Zusammenhang steht. Trotz des Fokus dieses Artikels auf die muslimischen Dachverbände und ihr Verhältnis zur politischen Arena, muss außerdem betont werden, dass es eine Vielzahl weiterer Akteure und Institutionen 2
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Hierzu gehören die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF). Die Geschichte und Struktur der Verbände wird in Abschnitt 3 behandelt. Die eckigen Klammern innerhalb der Zitate markieren entweder Textauslassungen oder durch die Autoren eingefügte Wörter. Kursivsetzungen sind Hervorhebungen der Autoren, die nicht auf den Intonationen der Interviews basieren. Hierzu zählt neben Pressemitteilungen, Positionspapieren und Broschüren auch der Internetauftritt der Verbände. Eine Ausnahme ist die Arbeit von Soysal 1994, in der sie bereits die Rolle von Migrantenorganisationen bezüglich der Ausdehnung von universellen Rechten aus postnationalistischer Perspektive berücksichtigt. Siehe hierzu die Debatte zwischen Esser und Elwert in den 1980er Jahren, in der Esser die Probleme der kulturellen und sozialen Isolation ethnischer Gemeinschaften betonte (1996), während Elwert die Vorteile der Selbstorganisation von Einwanderern für das Selbstbewusstsein, die Vermittlung von Alltagswissen und die Möglichkeit des Lobbyismus hervorhob (1982, 1984).
Die muslimischen Dachverbände und der politische Islamdiskurs
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gibt, die im Bereich der Medien, des Rechts, der Religion, der Zivilgesellschaft und innerhalb der muslimischen Gemeinschaft aktiv an den Debatten beteiligt sind. Die muslimischen Dachverbände sind somit mit einem komplexen Geflecht aus Akteuren, Erwartungen und Meinungen konfrontiert, die mit Hilfe der folgenden theoretischen Annahmen erfasst werden sollen. (Kortmann i.E.; Rosenow i.E.) Einen hilfreichen Ausgangspunkt, um das Dilemma der Dachverbände gegenüber unterschiedlichen Anspruchsgruppen aufzuzeigen, bildet die Unterscheidung zwischen der Mitgliederlogik und der Einflusslogik einer Organisation, welche 1981 von Schmitter und Streeck entwickelt wurde (1999). Beide gehen davon aus, dass kollektive Interessenverbände einerseits von ihren Mitgliedern als Ressource abhängig sind, andererseits jedoch auch Einfluss auf politische Akteure ausüben müssen, um weitere Ressourcen wie Anerkennung, Legitimität und formalen Status zu sichern. Als klassische intermediäre Organisationen (Streeck 1987) haben Dachverbände Mitglieder und sind gleichzeitig Mitglied des institutionellen Systems. Dadurch steht die Organisation vor der Herausforderung, die interne Integration und die Systemintegration miteinander zu vereinbaren. Ein organisationssoziologisches Konzept, das sowohl interne als auch externe Erwartungsstrukturen zur Erklärung organisationalen Verhaltens heranzieht, wird von Kerstin Rosenow (i.E.) entwickelt. Sie verbindet die Annahmen des Neoinstitutionalismus, der das Verhalten von Organisationen erstmals als „Produkt“ von regulativen, normativen und kognitiven Einflüssen ihrer institutionellen Umwelt definiert, mit den Annahmen der Verbändeforschung und der Bedeutung von Mitgliederinteressen für die Organisation. Organisationen orientieren sich demnach an Normen und an als gegeben angenommenen Verhaltensmustern, wodurch ihr Verhalten nicht in erster Linie an Effizienzkriterien ausgerichtet ist. (DiMaggio/Powell [1983]1991; Meyer/Rowan [1977]1991; Scott 2001) Im Rahmen des Neoinstitutionalismus kann man daher analysieren, inwiefern sich eine Organisation an institutionalisierte Erwartungen anpasst, um Legitimität zu erlangen. Diese Legitimität lässt sie wiederum als selbstverständlich und bedeutsam erscheinen (Suchman 1995) und ermöglicht so nebenbei den Zugang zu Ressourcen, die das Überleben der Organisation sichern. (Hellmann 2006: 75) Dabei werden in Rosenows Ansatz zur Erklärung von Unterschieden im organisationalen Verhalten sowohl die Abhängigkeit der Organisation von der Organisationsumwelt und von ihren Mitgliedern als auch die Übereinstimmung oder der Konflikt zwischen den jeweiligen Erwartungshaltungen herangezogen. Bezogen auf die institutionalisierten Erwartungen kann das Verhalten der Organisation dabei zwischen Anpassung, Entkopplung und Protest variieren.
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Dieses theoretische Konzept und seine Annahmen wird auf die Dachverbände DITIB7, IGMG und den ZMD angewendet. (Rosenow i.E.) In vielen vergleichenden Studien findet des Weiteren das Konzept der Political Opportunity Structures als theoretischer Erklärungsansatz für die politische Partizipation insbesondere von Migrantenverbänden Anwendung. Duyvené de Wit und Koopmans (2001, 2005) ziehen dabei die nationalen institutionellen Kontextbedingungen, die vorherrschende politische Kultur sowie die Struktur der politischen Machtverhältnisse heran, um Möglichkeiten und Grenzen der politischen Mobilisierung von Einwanderern zu erklären. Das in Bezug auf die „politisch-kulturelle Integration von ethnischen Minderheiten relevante Set der Opportunitätsstrukturen” (Duyvené de Wit/Koopmans 2005: 52) setzt sich dabei sowohl aus individuellen Partizipationsrechten als auch aus kollektiven Gruppenrechten zusammen. Zur „Dimension der Individualrechte“ können dabei – neben Beteiligungsrechten von Ausländern – vor allem die Bestimmungen des Einbürgerungsrechts gezählt werden, während die „Dimension der Gruppenrechte“ die Übertragung von speziellen Rechten auf ethnische Minderheitengruppen umfasst. In diesem Zusammenhang werden traditionell Deutschland und die Niederlande einander gegenübergestellt, wobei das Königreich mit seinem tendenziell liberalen Einbürgerungsrecht und seiner Mitsprachegremienstruktur für Einwandererorganisationen als Beispiel für eine günstige Gelegenheitsstruktur dient, während sich Migranten und ihre Organisationen in der Bundesrepublik mit vergleichsweise restriktiven Rahmenbedingungen konfrontiert sehen. (Duyvené de Wit/Koopmans 2001) So ist einerseits die Einbürgerungsquote in Deutschland – trotz der Staatsbürgerschaftsreform von 2000 – relativ niedrig und andererseits die politische Mitsprache von Migrantenvertretungen institutionell nur schwach verankert. In den letzten Jahren erfährt das Konzept der Political Opportunity Structures eine Ergänzung durch eine religionsrechtliche Komponente, welche vor allem von Fetzer und Soper (2005) in ihrer Studie über das Verhältnis von Muslimen und dem Staat in Großbritannien, Frankreich und Deutschland vorgeschlagen wird. Sie beziehen sich dabei insbesondere auf die Ausgestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat und die Möglichkeiten einer neuen Religion wie dem Islam, sich darin zu etablieren. Vor allem in Bezug auf die Frage nach den Optionen muslimischer Einwanderer und ihrer Organisationen rücken somit auch die Kontextbedingungen für religiöse Organisationen und Religionsgemeinschaften in den Fokus des Interesses. Auf diesen Zusammenhang der national models of religious governance und der Berücksichtigung der Bedürfnisse des Islams rekurrieren in jüngster Zeit eine Vielzahl von Studien zur Integration der Muslime in europäischen Einwanderungsländern. (In 7
Für eine empirische Anwendung des Forschungsansatzes bezogen auf den Fall der DITIB siehe Rosenow 2010.
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Bezug auf Deutschland z.B. Bader 2007; Godard 2007; Leggewie 2002; Karakasoglu 2003; Kallscheuer 2007; Kandel 2004; Koenig 2005, 2007; Rohe 2008; Statham et al. 2009; Tietze 2008) In der Forschung von Matthias Kortmann bildet das um den Aspekt der religious governance ergänzte Konzept der Political Opportunity Structures die theoretische Grundlage. (Vgl. Kortmann i.E., Kortmann 2010) In seinem deutsch-niederländischen Vergleich dient es dabei nicht nur als Erklärungsansatz für Formen der politischen Mobilisierung von Einwanderern und dem Prozess ihrer Organisationsbildung, sondern auch für das Selbstverständnis der Verbände sowie ihre Einflussstrategien. Dabei ist für Deutschland zu beobachten, dass die im Grundgesetz und im Staatskirchenrecht festgelegte Option einer Anerkennung als Religionsgemeinschaft und als Körperschaft des Öffentlichen Rechts eine Gelegenheitsstruktur auch für islamische Organisationen bietet, welche bisher jedoch nur von wenigen Verbänden – in Ansätzen – genutzt werden konnte8. Die knapp skizzierten theoretischen Ansätze veranschaulichen die Bedeutung sowohl interner als auch externer Einflussfaktoren, welche in der folgenden Analyse der Positionen der muslimischen Dachverbände im Rahmen des politischen Islamdiskurses jeweils berücksichtigt werden sollen. Dabei wird angenommen, dass die Organisationen sowohl von politischen Gelegenheitsstrukturen als auch von den damit verbundenen institutionalisierten Erwartungen beeinflusst werden. Zum Verständnis ihres Verhaltens müssen aber auch interne Einflussfaktoren wie die Interessen der Mitglieder und die Verbindungen zum Herkunftsland berücksichtigt werden. Dieses wird vor allem in Abschnitt 4 näher behandelt. 3
Geschichte und Struktur der muslimischen Dachverbände in Deutschland
Die ersten lokalen muslimischen Gemeinden in Deutschland wurden bald nach Beginn der Gastarbeiterzuwanderung aus der Türkei von Arbeitsmigranten gegründet, die ihre Gebetsstätten in ehemaligen Gewerberäumen oder Hinterhöfen einrichteten, um dort ihren religiösen Bedürfnissen nachkommen zu können. Schiffauer (2004: 67-69) beschreibt diese frühen Vereine als „Gründungen von unten“, in denen eine starke „Binnensolidarität“ gepflegt und auf einen Kontakt zum deutschen Aufnahmekontext weitgehend verzichtet wurde. Aufgrund der Aussicht auf eine Rückkehr herrschte in diesen Vereinen zudem eine starke 8
So wurden bisher nur die Islamische Föderation Berlin (IFB) sowie die AABF in einigen Bundesländern als Religionsgemeinschaften nach Art. 7 GG anerkannt, so dass sie Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anbieten können. (Vgl. Uslucan in diesem Band)
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Heimatlandorientierung. Erst mit der Verstetigung der Einwanderungssituation kam es zu Zusammenschlüssen verschiedener Gemeinden zu Verbänden, die sich auch auf der Bundesebene organisierten und ihr Aufgabenspektrum in Richtung Interessenvertretung erweiterten. Der mit über 896 (vgl. www.ditib.de) angeschlossenen Ortgemeinden größte muslimische Dachverband ist die 1984 in Köln gegründete Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB). Sie bildet den deutschen Zweig der Diyanet Iúleri Baskanli÷i (im Folgenden: Diyanet) der türkischen Religionsbehörde, die 1946 in der Türkei gegründet wurde, um die Praktizierung des offiziellen laizistischen Islamverständnisses in der Bevölkerung zu gewährleisten. (Riexinger 2005) Daher beinhaltet der Laizismus türkischen Zuschnitts, also die „türkisch-islamische Synthese“ (Bielefeldt 2007: 129) auch eher eine Kontrolle der – offiziell als sunnitisch definierten – Religion durch den Staat als deren Trennung vom Staat. Ab den 1980er Jahren wurden daraufhin in den europäischen Ländern, in die eine größere Zahl türkische Bürger ausgewandert waren9, Ableger der türkischen Religionsbehörde gebildet, um den türkischen Staatsislam auch unter den Emigranten gegen die Konkurrenz der sich im Ausland freier entfaltenden weiteren islamischen Strömungen durchzusetzen. (Riexinger 2005) Die DITIB bietet sowohl soziale und kulturelle als auch religiöse Dienste an, wobei die Imame der DITIB-Moscheen von der türkischen Religionsbehörde in Ankara entsandt werden, welche auch deren Bezahlung und Beaufsichtigung übernimmt. (ZfT 2005) Nach der DITIB verfügt die Islamische Gemeinschaft Milli Görüú (IGMG), die gleichzeitig einen Mitgliedsverband des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland (IRD) bildet, über die meisten Mitgliedsgemeinden.10 In der Türkei strebte die in den 1970er Jahren entstandene Milli-Görüú-Bewegung unter ihrem Führer Necmettin Erbakan, der zwischen 1996 und 1997 bis zum Verbot seiner Wohlfahrtspartei türkischer Ministerpräsident war, die Aufhebung der strikten Trennung von Religion und Staat an. Heute steht die Bewegung der Partei für Rechtschaffenheit und Entwicklung (AKP), einer gemäßigten Nachfolgerin der Wohlfahrtspartei, nahe, die seit 2002 die Regierung und mit ihrem Vorsitzenden Recep Tayip Erdo÷an den Ministerpräsidenten der Türkei stellt. Die in Kerpen angesiedelte deutsche Dachorganisation ist gleichzeitig auch die Milli-GörüúEuropazentrale. (Atilgan 2002; Zft 2005; Schiffauer 2007; Schiffauer 2010) In 9
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Auf der Webseite der Diyanet werden Organisationen in Holland, Österreich und Deutschland erwähnt sowie der 2002 in Brüssel gegründete Ehrenverein mit dem Titel „die Europäische Gemeinschaft der Religionsvereine“, der dazu dient, die „Koordination der Stiftungen und die Einheit dieser Dienste zu verwirklichen“. (http://www.diyanet.gov.tr/german/default.asp, zuletzt besucht 25.06.2010) 323 Moscheegemeinden in Deutschland laut www.igmg.de.
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Deutschland steht Milli Görüú unter verstärkter staatlicher Beobachtung durch den Verfassungsschutz aufgrund des Vorwurfs verfassungsfeindlicher, zuletzt als „integrationsfeindlich“ (Innenministerium NRW 2007) betitelter Bestrebungen der IGMG. Gleichzeitig war die Organisation jedoch ab Herbst 2006 über ihre Mitgliedschaft im Islamrat an den Beratungen der ersten Runde der Deutschen Islamkonferenz (DIK I) vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble beteiligt. Neben dieser Interessenvertretung nach außen übernimmt sie nach innen gerichtete Aufgaben im religiösen, sozialen und kulturellen Bereich und bietet in diesem Zusammenhang ein breites Spektrum an Aktivitäten an, die bspw. (Bildungs)Angebote für Kinder, Jugendliche und Frauen sowie die Sozial- oder Rechtsberatung umfassen. (Wunn 2007: 53-54) Die Organisationsstruktur der IGMG gilt als recht unübersichtlich. Darüber hinaus ist nicht bei allen Vereinen die Zugehörigkeit zu Milli Görüú eindeutig nachvollziehbar. (Lemmen 2000: 33) Im Islamrat stellt die IGMG das weitaus größte Mitglied dar, so dass ihr i.d.R. eine dominierende Stellung in diesem Dachverband attestiert wird. (Kücükhüseyin 2002: 46) Der IRD, dem sich insgesamt 37 muslimische Verbände unterschiedlicher Herkunft angeschlossen haben (ZfT 2005: 27), wurde 1986 mit dem Ziel gegründet, eine Vertretung aller in Deutschland lebenden Muslime zu errichten. (Lemmen 2006) Dementsprechend begreift sich der Verband als „Koordinierungsinstanz und gemeinsames Beschlussorgan“, das eine „Brücke zwischen Deutschland und der islamischen Welt“ herstellen wolle. (www.islamrat.de) Einen ähnlichen Anspruch macht auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) geltend, der 1994 aus dem 1988 gegründeten „Islamischen Arbeitskreis in Deutschland“ hervorging (ZfT 2005: 30). Er vereinigt unter seinem Dach 19 Mitgliedsorganisationen, die sowohl türkischer, arabischer, albanischer, bosnischer als auch multiethnischer, aber auch deutscher Herkunft sind. (www.zentralrat.de) Im Unterschied zum Islamrat sind Muslime türkischer Herkunft seit dem Jahr 2000 dabei geringer vertreten, nachdem der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) als ehemals größtes Mitglied seinen Austritt erklärt hatte. (Lemmen 2006: 163) Der ZMD formuliert auf seiner Homepage das vorrangige Verbandsziel, das „muslimische Leben und die islamische Spiritualität in Deutschland […] fördern und den Muslimen die Ausübung ihrer Religion […] ermöglichen und […] erleichtern“ zu wollen. (www.zentralrat.de) Das ehemalige ZMD-Mitglied VIKZ bzw. dessen Vorgänger Türkische Union (1967-1973) und Islamisches Kulturzentrum (1973-1980) war eine der ersten muslimischen Organisationen in Deutschland, die sich auch auf der Bundesebene organisierten. Der Verband wird i.d.R. im Umfeld der mystischen „sunnitisch-hanefitischen Erneuerungsbewegung“ (ZfT 2005) der SüleymancÕlar angesiedelt, die in den 1920er Jahren in der Türkei entstand und auf den islamischen Rechtsgelehrten Süleyman Hilmi Tunahan (1888-1959) zurückgeht (Jon-
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ker 2002). Der VIKZ, dem Lemmen (2000) eine „zentralistische Grundstruktur“ bescheinigt, zählt in seiner Satzung zu seinen Aufgaben neben der Ermöglichung der Religionsausübung für Muslime vor allem deren „Unterweisung im islamischen Glauben“ zu seinen wichtigsten Zielen. Zu diesem Zweck betreibt der Verband neben seinen etwa 300 Moscheen auch Schülerwohnheime, so dass die Bundesregierung von einem „eigenen Ausbildungssystem“ bzw. „religiösen Bildungssystem“ des VIKZ in Deutschland spricht. (Bundestag 2007) Vor seiner Mitgliedschaft im ZMD zählte der VIKZ ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern des Islamrats. (Spuler-Stegemann 2002) Die in Deutschland größte nicht-sunnitische türkische Minderheit der Aleviten begann erst vergleichsweise spät damit, eigene Organisationen zu bilden. Diese Verzögerung erklärt sich aus dem erst seit den 1980er Jahren wiedererwachenden Interesse der Aleviten an ihrem traditionellen alevitischen Erbe, während sie sich zuvor in nicht-religiösen, vorwiegend politisch linken Organisationen engagiert hatten. Insbesondere nach dem Brandanschlag auf ein alevitisches Kulturfestival im MadÕmak-Hotel im türkischen Sivas am 2. Juli 1993, bei dem 35 Menschen starben, verstärkte sich die Bewusstwerdung einer gemeinsamen kulturellen Basis der Aleviten in der Türkei und im europäischen Ausland. (ZfT 2005) Das Alevitentum, das sowohl schiitische, vorislamische als auch buddhistische Elemente enthält, hat sich zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert kulturell und philosophisch ausgeformt (Aksünger i.E.). Da sich die Aleviten (‚Anhänger Alis’) in zentralen Punkten von den Sunniten und Schiiten unterscheiden, werden sie von letzteren oftmals nicht als Muslime anerkannt. Eine Zugehörigkeit zum Islam ist jedoch auch bei den Aleviten selbst umstritten. Anders als die anderen muslimischen Glaubensrichtungen verfügen die Aleviten nicht über Moscheen, sondern unterhalten Gemeinschaftshäuser (so genannte ‚Cem-Häuser‘), in denen sie ihre religiösen Zeremonien und Rituale verrichten. (Sökefeld 2005) Die Mehrheit der verschiedenen, seit den 1980er Jahren in Deutschland gegründeten alevitischen Vereine schlossen sich erst 1990 in Mainz – gegenwärtiger Sitz ist Köln – in der Alevitische Gemeinden Deutschland e.V. (AABF) zusammen, zu der heute knapp 100 Mitgliedsvereine gehören11. (Becker 2005: 80; Kaplan 2004; Spuler-Stegemann 2003, Sökefeld 2008) Zu seinen Aufgaben zählt der Verband neben der Vertretung der Interessen der circa 500.00012 Aleviten in Deutschland die Wahrung und Förderung der alevitischen Kultur. 11
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Es gibt jedoch auch innerhalb der Aleviten unabhängige Vereine (siehe Chbibs Beitrag in diesem Band) und Vereine, die der C.e.m. Stiftung und dem türkischen Staat bzw. der Diyanet nahestehen, während die AABF letztere kritisiert. Die neueste Studie des BAMF kommt aufgrund von Hochrechnungen auf Basis einer Telefonumfrage unter 6000 Haushalten zu dem Ergebnis, „dass in Deutschland zwischen 480.100 und 551.500 Aleviten sowie zwischen 3,3 und 3,8 Millionen Muslime anderer Glaubensrichtungen leben“. (Haug et al. 2009: 83)
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(www.alevi.com) Die AABF ist in Deutschland an den Gesprächen des Islamgipfels beteiligt. Sie ist jedoch noch nicht Mitglied des sunnitisch-schiitisch geprägten KRM. (Siehe Abschnitt 5) 4
Das Selbstverständnis der Verbände: interne Ziele, Motive, Aktivitäten
In diesem Anschnitt soll das Selbstverständnis der untersuchten Verbände aufgezeigt werden. Zunächst liegt der Fokus dabei auf dem grundsätzlichen Selbstbild der Verbände und den Funktionen, die sie ihren eigenen Organisationen zuschreiben. Deutlich wird in diesem Zusammenhang eine Orientierung an den Vorteilen und Optionen, die innerhalb der Political Opportunity Structures in Deutschland wahrgenommen werden. Daraufhin folgt eine Betrachtung der Ziele und Aufgabenschwerpunkte, die sich die Verbände insbesondere in ihrer Rolle als Dienstleister ihrer Mitglieder bzw. Klientel zuschreiben. Dabei sollen hier also vor allem solche Aktivitäten beleuchtet werden, die in erster Linie aus der Mitgliederlogik resultieren. Schließlich liegt das Augenmerk auf der Rolle der Verbände als transnationale Organisationen, wobei untersucht werden soll, inwiefern eine Herkunftslandorientierung für die Verbände (noch) von Belang ist. Die Verbände als Religionsgemeinschaften: Selbstbild und Kontextbedingungen In ihren Satzungen und Selbstdarstellungen definiert sich die Mehrzahl der untersuchten Verbände als Religionsgemeinschaft und orientiert sich dabei gleichzeitig auch explizit an den Bestimmungen des Grundgesetzes bzw. des Staatskirchenrechts. So schreibt der VIKZ in seiner Satzung in §1, Abs. 2: „Beim Verband der Islamischen Kulturzentren handelt es sich um eine Religionsgemeinschaft, die im Rahmen des Artikels 140 des Grundgesetzes im Verbindung mit den fortgeltenden Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 gegründet worden ist“. Auch der Islamrat definiert sich in seiner Selbstdarstellung als „islamische Glaubensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Verfassung (Grundgesetz) und der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland“13, während sich die alevitische Gemeinde AABF in ihrer Satzung als „eine Glaubensgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ (§2, Abs. 1) versteht. Der ZMD beschreibt in der Präambel seiner Satzung schließlich die in ihm zusammengeschlossenen „Isla13
Das größte Mitglied des IRD, die IGMG, beschreibt sich in seiner Selbstdarstellung als „islamische Religionsgemeinschaft“, ohne dabei einen direkt Bezug zum Grundgesetz herzustellen.
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mischen Vereinigungen“ als „Islamische Religionsgemeinschaften in Deutschland“, welche sich „darin einig“ seien, „das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und ihr Recht zu respektieren“. Lediglich die DITIB weicht in ihrer Selbstdarstellung ab, in der sie auf den Begriff der Religionsgemeinschaft verzichtet und sich stattdessen als „Migrantenorganisation […] mit religiöser und sozialer Zielsetzung in der Bundesrepublik Deutschland“ beschreibt. Eine Bestätigung findet diese Darstellung in den mit Repräsentanten der Verbände geführten Interviews. Bei der DITIB wird hier einerseits der Vergleich zu den Wohlfahrtsverbänden, wie beispielsweise der katholischen Caritas, angestrebt (Interview 14.08.2008, DITIB, MK), andererseits aber auch mehrmals das Selbstverständnis als Religionsgemeinschaft erwähnt und die diesbezügliche Anerkennung gefordert: „Interviewer: „Was wünschen Sie sich als Schlusswort von der Politik?“ Antwort: „Beschleunigung der Anerkennung der DITIB als Religionsgemeinschaft das wird viele Probleme lösen und Bekämpfung der Islamfeindlichkeit“. (Interview 23.07.2009, DITIB, KR) Die Bedeutung der rechtlichen Vorgaben, an denen sich die Mehrzahl der Verbände orientiert, lässt sich durch die damit verbundenen Handlungsoptionen erklären. So resultiert aus einer Anerkennung nach Art. 7 GG die Berechtigung, Religionsunterricht an staatlichen Schulen anzubieten. Art. 140 GG eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit einer Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts, welche wiederum Religionsgemeinschaften bspw. das Privileg verschafft, von ihren Mitgliedern die Zahlung einer Kirchensteuer zu verlangen, welche über die staatlichen Finanzämter verwaltet wird. (Campenhausen 1996: 256-287; Muckel 2004) Die besondere Einflusswirkung der institutionellen Kontextbedingungen verdeutlicht auch ein vergleichender Blick in die Niederlande auf die sich dort gegründeten türkisch-islamischen Verbände, welcher in der Arbeit von Kortmann (2010, i.E.) unternommen wird. Aufgrund eines dort fehlenden Anerkennungssystems für religiöse Organisationen orientieren sich die Verbände dort an der offiziellen niederländischen Minderheitenpolitik, welche stattdessen die Förderung und Einbeziehung von ethnisch-kulturellen Gruppen ermöglicht. Die niederländischen Verbände der Milli-Görüú- bzw. SüleymancÕlar-Bewegungen sowie der Aleviten definieren sich dementsprechend in erster Linie als sozial-kulturelle Organisationen und sind sowohl in ihren Selbstdarstellungen als auch in Interviews bemüht, ihre religiöse Funktion zu relativieren. In allen Interviews, die mit Vertretern von muslimischen Organisationen in Deutschland geführt wurden, wird das Staatskirchenrecht – zumindest implizit – angesprochen. So unterstreicht der IGMG-Vertreter dessen grundsätzlich „sehr großes Potential“ (Interview 17.06.2008, IGMG, MK), während der Repräsentant des Islamrates in diesem Zusammenhang die Rahmenbedingungen für seine Organisation grundsätzlich als zumindest „nicht unbedingt schlecht“ (Interview
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12.06.2008, IRD, MK) bewertet. Beide kritisieren jedoch die mangelnde Bereitschaft, dieses Recht auch bei den muslimischen Verbänden anzuwenden. Einen fehlenden politischen Willen zur Anerkennung ihrer Verbände als Religionsgemeinschaften bzw. Körperschaften des öffentlichen Rechts vermuten auch die Repräsentanten der anderen Verbände – wenn dabei auch je unterschiedliche Beweggründe der zögerlichen deutschen Politik angenommen werden. Die Vertreterin des Zentralrats beklagt bspw. einen allgemeinen Trend zur Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum, der einer staatlichen Anerkennung des ZMD im Wege stehe. (Interview 09.06.2008, ZMD, MK) Demgegenüber interpretiert der AABF-Vertreter die Weigerung des deutschen Staates, der alevitischen Gemeinde den Körperschaftsstatus zu übertragen, als Sorge, dieser werde „es sich [dadurch] mit den anderen islamischen Verbänden […] noch mehr verscherzen“, da man diesen den Status nicht zubilligen wolle. Leidtragende seien in diesem Fall die Aleviten, obwohl diese die geforderten Bedingungen durchaus erfüllten. (Interview 26.05.2008, AABF, MK) Der Interviewpartner des VIKZ erkennt schließlich eine Art Glaubwürdigkeitsproblem der Politik, wolle diese – nachdem sie „in der Vergangenheit sehr kritisch [mit] den islamischen Organisationen umgegangen“ sei – nun plötzlich zu einer „direkten Zusammenarbeit“ übergehen. Dass ein solcher Schwenk für die deutsche Politik eine „Schwierigkeit“ sei, könne er durchaus nachvollziehen: „Das kann man so schnell auch nicht“. Dennoch müssten „in Bezug auf den Islam neue Konzepte“ entwickelt werden, die die bisher fehlende Anschlussfähigkeit des Staatskirchenrechts kompensierten. (Interview 24.06.2008, VIKZ, MK) Bei Islamrat und ZMD muss bereits deren Gründung im Kontext der rechtlichen Rahmenbedingungen verstanden werden. Beide Dachverbände versuchten explizit, durch die Entscheidung für ihre Organisationsform die Forderungen des Staatskirchenrechts nach der Bildung eines zentralen islamischen Ansprechpartners für den Staat als Voraussetzung für eine offizielle Anerkennung zu erfüllen14. Der ZMD orientiert sich dabei bereits in seiner Namensgebung an einem anderen Verband, der die Anerkennung durch den Staat als Religionsgemeinschaft und schließlich auch als Körperschaft des Öffentlichen Rechts gelungen ist: dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Die Bildung des KRM im Jahr 2006 durch die vier größten muslimischen Verbände in Deutschland war schließlich der jüngste Versuch, den staatskirchenrechtlichen Erfordernissen entgegenzukommen (Siehe Abschnitt 6). Auch innerhalb der DITIB wird die mangelnde Statusanerkennung kritisiert. Als Reaktion wurde daraufhin eine zweigleisige Strategie gewählt. Einerseits 14
IRD und ZMD versuchen seit den 1990er Jahren in Nordrhein-Westfalen auf gerichtlichem Wege, die Anerkennung als Religionsgemeinschaft zu erlangen, um einen islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen anbieten zu können. (Lemmen 2006: 166)
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wird versucht, durch die Etablierung regionaler Strukturen die Voraussetzungen für die Erteilung des islamischen Religionsunterrichts zu schaffen. In diesem Sinne spricht sich der Verband auch im Zwischenresümee der DIK zusammen mit IRD, ZMD und VIKZ „in ihrem Selbstverständnis als Religionsgemeinschaften […] für die Einführung Islamischen Religionsunterrichts nach Art. 7, Absatz. 3 GG“ aus. (BMI 2009: 9-10) Andererseits versucht der Verband, sich stärker als die anderen Verbände im Bereich der Wohlfahrtspflege zu verorten. Auch dieser Bereich zeichnet sich dabei durch Opportunitätsstrukturen aus, im Rahmen derer Wohlfahrtsverbände mit öffentlichen Geldern für die Durchführung ihrer sozialen Leistungen ausgestattet werden. Zu den sechs „Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege“ zählt neben der Arbeiterwohlfahrt und den christlichen Wohlfahrtsverbänden auch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Vor allem der Gesprächspartner der DITIB positioniert seinen Verband hier in gewisser Weise als islamisches Pendant, dem sich dadurch in Zukunft auch neue Ressourcen erschließen sollen: „Also wir haben ja erst mal angefangen Länderstrukturen aufzubauen, Frauenarbeit, Jugendarbeit, und Sprachkurse aber auch soziale Aktivitäten fachgerecht zu organisieren. Das wird alles DITIB auch dahin bringen, dass DITIB auch wie ein Wohlfahrtsverband reagiert und agiert. […] Wir müssen ja gucken wir leben in Deutschland, in Deutschland ist Säkularismus, so dass die Kirchen sehr viel Verantwortung übernommen haben deswegen ist ja Caritas und Diakonie entstanden. Sie machen nicht nur kirchliche Arbeit und das ist auch gut so, legitim, die übernehmen viele Sachen und der Staat kauft ihre Dienstleistungen durch Projekte ab [...]. Und das gleiche muss auch DITIB machen mit muslimischer Community. Das bedeutet keine Parallelgesellschaft eher umgekehrt weil Caritas und Diakonie leisten auch für Muslime die Arbeit und das Gleiche aus muslimischer Intention, aus muslimischem Leitbild, wird auch die Arbeit für alle Menschen so gleich übernommen. Und das ist eine Bereicherung für mich keine Parallelgesellschaft“. (Interview 04.03.2009b, DITIB, KR)
Die Verbände als Dienstleister im Aufnahmeland: Ziele und Aufgaben Das Selbstverständnis als Religionsgemeinschaft prägt auch die Definition der Ziele und Aufgaben, welche von den meisten Verbänden vorgenommen wird. Dabei argumentieren die Organisationen vor allem aus ihrer Position als einer in Deutschland noch jungen Religionsgemeinschaft heraus, welche noch keinen den etablierten christlichen Kirchen vergleichbaren festen Status erlangt hat. Der in ihren Augen aus dieser fehlenden Gleichstellung resultierenden unzureichenden Möglichkeit der Religionsausübung ihrer Mitglieder bzw. der Muslime in Deutschland insgesamt, soll daher Abhilfe geleistet werden. Neben den religiö-
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sen Kernaufgaben werden darüber hinaus soziale und kulturelle Ziele angeführt, welche jedoch unterschiedlich konkretisiert werden: Während bei AABF und DITIB die religiöse Arbeitsbereiche auf der einen und sozialkulturelle Tätigkeitsgebiete auf der anderen Seite relativ eindeutig voneinander getrennt werden, greifen bei den übrigen Verbänden beide Aspekte ineinander. So zählt der Islamrat zu seinen Aufgaben in seiner Selbstdarstellung neben der „religiösen“ auch die „soziale und kulturelle Betreuung der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Muslime“. Die sich direkt anschließende Aufzählung der konkreten Aufgabenbereiche enthält jedoch ausnahmslos Arbeitsfelder mit eindeutig religiösem Charakter: „die Lehre des islamischen Glaubens und Wahrung der kulturellen islamischen Werte“, „die Erteilung von Glaubensunterweisungen an muslimische Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Erwachsenenbildung)“, „die Durchführung von Gebets- und Predigtgottesdiensten, Bestattungen, Veranstaltung religiöser Feste und Feierlichkeiten“ sowie „die Durchführung von Glaubensseminaren und -lehrgängen“ (www.islamrat.de). Auch die IGMG, der größte Mitgliedsverband des Islamrates, verweist in ihrer Selbstdarstellung außer auf „religiöse“ ebenso auf „kulturelle und soziale Dienstleistungen“, letztere dienen jedoch bei genauerer Betrachtung ebenso vorrangig religiösen Motiven. Dieses wird innerhalb der Beschreibung der Tätigkeitsbereiche „Bildung“, „Frauen-Abteilung“ und „Jugend-Abteilung“ deutlich. So dient Bildung im Sinne der IGMG nicht zuletzt der „Verwirklichung einer eigenständigen islamischen Identität“ und der „Vermittlung von religiösem Wissen“, während den Frauen vor allem eine „fundierte religiöse Bildung“ zuteil und der Jugend bei der „Schaffung einer Basis für ein bewusstes und von Wissen getragenes, gottgefälliges Leben“ (www.igmg.de) beigestanden werden soll. Der VIKZ unterteilt in seiner Selbstdarstellung seine Aufgabenbereiche ebenso in die beiden Tätigkeitsfelder „Religiöse Dienste“ und „Sozialarbeit“ wobei er letztere jedoch ebenfalls vor allem in den Dienst des religiösen Hauptziels stellt, das eingangs beschrieben wird: „In erster Linie arbeitet der Verband für die religiösen Bedürfnisse der in Deutschland lebenden Muslime und unterstützt sie im Alltag bei allen auftretenden religiösen Fragen“. So bezieht sich der soziale Aspekt der Sozialarbeit des VIKZ nicht nur auf die Ermöglichung der „sozialen Begegnung“ in den als „Kulturzentren“ dienenden Moscheen, sondern auch auf „gemeinschaftlich verrichtete Gebete“ sowie die Veranstaltung „verschiedener Zeremonien nach islamischen Ritus, wie Hochzeit, Verlobung und Beschneidung“. Am deutlichsten fokussiert der Zentralrat die fast ausschließlich religiösen Motive und Interessen seiner Organisationen in seiner Selbstdarstellung: „Unsere wichtigste Aufgabe ist es, das muslimische Leben und die islamische Spiritualität in Deutschland zu fördern und den Muslimen die Ausübung ihrer Religion zu ermöglichen und zu erleichtern“. Im letzten Teil dieses Satzes wird dabei der
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Anspruch des Verbandes deutlich, als eine Interessenvertretung aufzutreten. Als Spitzenverband verfolgt der ZMD Ziele zur Unterstützung seiner Mitgliedsverbände, ohne selbst für die Bereitstellung und Verwaltung von Imamen und Moscheen verantwortlich zu sein. Die im Folgenden vorgestellten Aufgabenfelder haben dabei zwar überwiegend einen unmittelbaren Bezug zur religiösen Betätigung, können aber eher auf der gesellschaftlichen als auf der gemeinschaftlichen Ebene verortet werden: „Berechnung der Gebetszeiten und des islamischen Kalenders“, „Aufstellen von Regeln für das islamische Schlachten“, „die Errichtung islamischer Friedhöfe und Begräbnisstätten“, die „Verbesserung des Koranunterrichts“, die „Erstellung von Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht“ sowie die Seelsorge bzw. „Gefängnisseelsorge“. Lediglich der Punkt „Aufklärungsarbeit in Sachen Sicherheit und Terrorismus“ (www.zentralrat.de) weicht in diesem Zusammenhang inhaltlich von den übrigen Aspekten ab; seine Aufnahme an dieser Stelle ist aber als Reaktion auf Wünsche und Forderungen der deutschen Politik und der Sicherheitsinstitutionen zu verstehen, die die muslimischen Verbände in die Bekämpfung des Terrorismus einzubinden beabsichtigen. Diese Annahme wird auch durch Äußerungen der Interviewpartnerin des ZMD gestützt, die auf die Frage nach den Erwartungen des Staates an ihre Organisation ausschließlich auf dessen Hilfegesuche in diesem Bereich verweist: „Der Staat erwartet von uns, dass wir Extremisten ausfindig machen, dass wir die melden, dass wir eine Kooperation mit ihm eingehen“. (Interview 09.06.2008, ZMD, MK) Dies bestärkt die Annahme, dass eine zentrale, in der Selbstdarstellung des ZMD nicht genannte Aufgabe die politische Interessenvertretung der Muslime in Deutschland ist. Zur Erreichung dieses Zieles sind somit Erwartungen des deutschen Staates für den ZMD relevanter als für Organisationen, die sich hauptsächlich auf die interne gemeindeorientierte religiöse Dimension beziehen. Ein Gegenbeispiel im Bezug auf die Trennung der religiösen und nichtreligiösen Dienste sind wie erwähnt die DITIB und die AABF. So werden bei der DITIB – anders als etwa bei IGMG oder VIKZ – unter die Punkte „Hilfestellung und Sozialarbeit“, „Frauenarbeit“ und „Jugendarbeit“ lediglich Aspekte subsumiert, die keinen Bezug zu religiösen Tätigkeiten des Verbandes enthalten. Die religiösen Aufgabenbereiche, die denen der anderen islamischen Organisationen stark ähneln, bleiben auf die Arbeitsfelder „Religiöse Dienste“ und – teilweise – „kulturelle Tätigkeiten“ beschränkt. (Interview 14.08.2008, DITIB, MK) Die alevitische Gemeinde trennt die religiösen und nicht-religiösen Aufgabenfelder auf ebenso eindeutige Weise. So unterscheidet auch der Vertreter der AABF die „religiösen Belange“ der Mitglieder wie die Schaffung von Gebetsstätten oder Beerdigungen nach alevitischem Ritual von den „sozialen Gesichts-
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punkten“ wie der „Jugendarbeit“15, „Frauenarbeit“ und „Seniorenarbeit“, die der Verband – in diesem Falle eher einem Wohlfahrtsverband ähnlich – ebenso berücksichtige. (Interview 26.05.2008, AABF, MK) Die Verbände und das Herkunftsland: transnationale Aktivitäten Ein zentraler Kritikpunkt, der von staatlicher Seite in der Vergangenheit wiederholt vor allem den türkisch-sunnitischen Verbänden gegenüber geäußert wurde, sind deren fortbestehende Verbindungen in die Türkei sowie eine angeblich grundsätzliche Herkunftslandorientierung, welche die Integration der türkischstämmigen Muslime im deutschen Aufnahmeland unterlaufe. In der Tat bilden – mit Ausnahme von IRD und ZMD – die Verbände in der Regel Ableger von Mutterorganisationen in der Türkei, die dort bereits vor der Einwanderung nach Deutschland existiert haben und zu denen mehr oder weniger starke, formelle und informelle Verbindungen bestehen. Inwieweit jedoch von einer Abhängigkeit der Verbände vom Ausland gesprochen werden kann ist ebenso umstritten wie die Frage, welchen Raum das Herkunftsland innerhalb der Aktivitäten der Verbände tatsächlich einnimmt und inwiefern eine Herkunftslandperspektive sich dabei negativ auf die Eingliederung im Aufnahmeland auswirkt. Im Widerspruch zu dieser Einschätzung werden die Verbände in den letzten Jahren stattdessen ebenso als transnationale Organisationen beschrieben, denen es gelinge, Aktivitäten im Herkunftsland mit einer politischen Partizipation im Aufnahmeland erfolgreich zu vereinbaren. (Vgl. v.a. Østergaard-Nielsen 2001; Sezgin 2010; Sökefeld 2005) Vor allem die Vertreter von ZMD und IRD, die sich ausdrücklich als Interessenvertretung aller Muslime in Deutschland verstehen, relativieren Kontakte ihrer Organisationen in die Herkunftsländer der Mitgliedsvereine und betonen in diesem Zusammenhang besonders ausdrücklich, dass sie ihre Verbände als Repräsentanten des Islams in Deutschland begreifen. So unterstreicht der Vertreter des IRD das Aufnahmeland als das zentrale Betätigungsfeld seiner Organisation, die sich schließlich als „Religionsgemeinschaft für Deutschland in Deutschland“ verstehe und deshalb „keine offiziellen“ Verbindungen in die Herkunftsländer unterhalte. Er bekennt sich lediglich zu informellen Kontakten mit offiziellen türkischen Vertretern, die er mitunter unterhalte, wenn er sich im Land befinde: „Wenn ich in der Türkei bin, lauf ich nicht weg, wenn ich einen Bürgermeister sehe […], aber offiziell, nein“. (Interview 12.06.2008, IRD, MK) Der Vertreter 15
Siehe hierzu die Etablierung des Bundes der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland, der sich verschiedensten Politikfeldern sowie der internen Weiterbildung vor allem von Multiplikatoren widmet. (http://www.aagb.net)
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des ZMD betont nicht nur noch stärker die Fokussierung des Verbandes auf Deutschland, sondern auch dessen Selbstverständnis als einen genuin deutschen Verband: „Wir haben ja eigentlich kein Herkunftsland und wir heißen ja auch Zentralrat der Muslime in Deutschland, weil wir uns insbesondere auf die Probleme der Muslime in Deutschland konzentrieren wollen und nicht ausufernd um alle Muslime auf der ganzen Welt kümmern können. Also geht es uns insbesondere um die hier lebenden Muslime“. (Interview 09.06.2008, ZMD, MK)
Der Interviewpartner des VIKZ spricht lediglich von einer „geistigen Bindung“, die zwischen den Verbandsmitgliedern und dem türkischen Herkunftsland existieren, wobei er sich dabei jedoch vor allem auf verwandtschaftliche Kontakte bezieht. Darüber hinaus erwähnt er zwar auch „Schwesterorganisationen vor Ort“, weist jedoch nicht auf etwaige Beziehungen zwischen beiden Seiten hin. Stattdessen stellt er die Funktion der Schwester in der Türkei, die sich vor allem der „schulischen Laufbahn und Erziehung von Jugendlichen“ widme, der Rolle des VIKZ in Deutschland als Religionsgemeinschaft mit angeschlossenen Moscheegemeinden kontrastierend gegenüber. (Interview 24.06. 2008, VIKZ, MK) Die IGMG distanziert sich schließlich ausdrücklich von der türkischen Milli Görüú, die gegenüber der deutschen Sektion „in sehr vielen gewichtigen Punkten sehr konträre Meinungen vertrete“. Die wenigen Verbindungen, die noch zwischen beiden Seiten existierten („eigentlich kaum noch welche“), seien daher vor allem von „Streit und Auseinandersetzungen“ geprägt. Die Distanz zwischen türkischer Mutter und den europäischen Töchtern versucht der Interviewpartner auch durch den Verweis auf eine unterschiedliche organisationale Entwicklung zu betonen: „Letztendlich muss man natürlich sehen, dass sich die Bewegung soziologisch hier in Europa und in der Türkei sehr weit voneinander entwickelt hat, also in der Türkei ist Milli Görüú eine politische Bewegung, hier ist es eine Religionsgemeinschaft“. (Interview 17.06.2008, IGMG, MK)
Als Hintergrund dieser deutlichen Abgrenzung ist die Beobachtung der IGMG durch den deutschen Verfassungsschutz zu sehen, der den Verband in seinen Berichten regelmäßig Verbindungen zum Islamismus anlastet. Begründet wird dieser Verdacht dabei nicht zuletzt – wie im Verfassungsschutzbericht des Landes NRW über das Jahr 2006 – durch eine Nähe zur türkischen Milli Görüú, der ihrerseits eine „verfassungsfeindliche Ideologie und antisemitische Haltung“ (Ibid.) vorgeworfen werden.
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Trotz gegenteiliger Beteuerungen der IGMG resümiert der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz hier: „Eine Abkehr von den Protagonisten der türkischen ‚Milli Görüú‘ ist nicht zu erkennen“ (Innenministerium des Landes NRW 2006: 213). Auch bei den europäischen Ablegern der Diyanet wird immer wieder eine besondere Abhängigkeit von der Mutterorganisation, also der türkischen Religionsbehörde, vermutet. So obliegt der Diyanet bspw. die Auswahl der Imame, die sie für einen Zeitraum von vier Jahren ins Ausland entsendet. Der Interviewpartner der DITIB verweist jedoch auf finanzielle Beschränkungen des Verbandes und seiner Moscheegemeinden, die es ihm unmöglich machten, selbst Imame auszubilden und zu versorgen. Daher habe die DITIB „seit der Gründung eine Kooperation mit der Diyanet, dass sie die Imame […] entsendet“, wobei dieses jedoch auch „das einzig Verbindende“ zwischen der DITIB und der Diyanet sei: „Das ist auch sehr wichtig, weil die Imame hier von den Menschen nicht finanziert werden können, stellen Sie sich vor, das Gehalt von einem Imam mit Versicherung […] wird eine Moscheegemeinde jährlich mindestens 50, 60.000 Euro kosten. Und das können Sie nicht schaffen“. (Interview 14.08.2008, DITIB, MK )
Doch die Vorzüge dieser Entsendungspraxis gehen für DITIB demnach über rein finanzielle Erwägungen hinaus: So wird weiterhin eine „parteipolitische, weltanschauliche Neutralität“ der Diyanet gelobt, die somit – anders als in den Moscheen der anderen türkisch-islamischen Verbänden – auch bei den Imamen der DITIB gewährleistet sei: „Wenn sie das nicht machen, wenn sie nicht neutral bleiben, wenn sie parteipolitisch irgendwelche radikalen und blöden Sachen erzählen, dann besteht die Gefahr für sie, dass sie direkt zurückgezogen werden. […] Und die anderen Verbände bieten das nicht an!“. (Interview 14.08.2008, DITIB, MK)
Diese „Garantie“ für die Gläubigen stehe also im Vordergrund der Kooperation mit der Diyanet, und nicht eine Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat: „Es geht nicht um den türkischen Staat, es geht darum, dass man sagt: ‚Ok, was ich vermittelt bekomme, ist die wahre Religion, da wird nicht Mist erzählt“ (Interview 14.08.2008, DITIB, MK). Das Argument, dass es sich hierbei um eine funktionale Strategie der Transnationalisierung der Organisation handelt, wodurch multiple Ressourcen und Legitimitätsquellen genutzt werden können, wird an anderer Stelle ausführlicher diskutiert. (Rosenow i.E.) Eine besonders starke inhaltlich begründete Ausrichtung ins Herkunftsland findet sich schließlich bei der alevitischen Gemeinde. So formuliert die AABF nicht allein die Vertretung der Aleviten in Deutschland als eines ihrer zentralen
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Ziele, sondern auch die Verbesserung der Lage der alevitischen Minderheit im türkischen Herkunftsland. Der Repräsentant der AABF unterstreicht eine solche Zuständigkeit seines Verbandes, da dieser nicht zuletzt auch die Europazentrale darstelle: „So hat unser Vorsitzender einen noch größeren Aufgabenbereich, er ist auch für Europa zuständig und natürlich durch Europa auch für die Türkei“. Anders als die DITIB oder die Milli Görüú, welche als „ein verlängerter Arm der türkischen Staates“ bzw. „eine türkisch-islamistische Bewegung […] aus der Türkei regiert“ würden, übe die AABF umgekehrt aus Deutschland und Europa heraus Einfluss auf die Türkei aus. Bis zur Verwirklichung der Gleichberechtigung gelte den dortigen Aleviten daher ein wichtiges Augenmerk des Verbandshandelns der AABF: „Solange die alevitischen Türken in der Türkei nicht anerkannt sind, werden wir da immer noch Hilfeleistung geben“. (Interview 26.05. 2008, AABF, MK) Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf die Analyse transnationaler Beziehungen von Amelina/Faist (2008), die davon ausgehen, dass die Verbindung der Aleviten zwischen Identitätspolitik und Heimatland in Deutschland viel stärker akzeptiert wird als – wie im Falle der DITIB und der IGMG – die Verbindung zwischen der politischen und der religiösen Sphäre. Letztere Organisationen betonen daher ihre transnationalen Verbindungen nicht in vergleichbarer Weise in der Öffentlichkeit. 5
Die Verbände als Akteure im politischen Islamdiskurs
Der folgende Abschnitt beleuchtet einerseits das Verhältnis der Verbände untereinander und andererseits ihre Einschätzungen zur Zusammenarbeit mit den politischen Akteuren auf Bundesebene. Im März 2007 hat sich die Kooperation der Verbände im Hinblick auf den Zusammenschluss der vier sunnitischen bzw. sunnitisch-schiitischen Verbände (DITIB, IRD, VIKZ, ZMD) zum Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) offiziell verfestigt. Dabei zeigt die folgende Ausführung jedoch, dass es sich nicht um eine spontane Reaktion auf die Forderung der Bundesregierung nach einem Ansprechpartner handelt, sondern dass mehrere verbandsinterne und externe Entwicklungen diesen Schritt vorbereiteten. Des Weiteren hat die Gründung des KRM nur bedingt zu Veränderungen bezüglich der Zusammenarbeit mit den politischen Akteuren geführt, da die Einzelverbände weiterhin unabhängig voneinander agieren und von Seiten der Bundesregierung als eigenständige Kooperationspartner gesehen werden.
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Frühe Kooperationsformen der muslimischen Dachverbände Nachdem die meisten Dachverbände in den 1970er und 1980er Jahren gegründet wurden, schlossen sie sich 1988 erstmals zum Islamischen Arbeitskreis in Deutschland (IAK) zusammen. Der IAK war kein eingetragener Verein, sondern ein loser Zusammenschluss, dem die Dachverbände DITIB, AMGT (später in IGMG umbenannt) und VIKZ angehörten, sowie die Islamischen Zentren in Aachen, Hamburg und München und die Union der Türkisch-lslamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATøB). Das Ziel des IAK war es, gemeinsam die Forderungen der Muslime bspw. nach einer Einführung des islamischen Religionsunterrichts oder des betäubungslosen Schächtens nach islamischem Ritus gegenüber der deutschen Öffentlichkeit zu vertreten. (Lemmen 2000: 76) Anfang der 1990er Jahre wurde dieses Bündnis durch den Austritt der IGMG (1993) und der Weigerung der DITIB (1994), sich an einer Verfestigung der Strukturen zu beteiligen, geschwächt. Nichtsdestotrotz gründeten Ende 1994 die verbleibenden Verbände des IAK den Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD). Der ZMD stellte somit neben dem IRD, der bereits 1986 gegründet wurde, den zweiten Spitzenverband der Muslime in Deutschland dar. Die Islamforen in Deutschland Bezüglich der gemeinsamen Kooperation der organisierten Muslime jenseits der Strukturen der Dach- und Spitzenverbände muss zunächst das 2002 gegründete Deutsche Islamforum erwähnt werden. An ihm sind neben den großen muslimischen Dachverbänden auch Mitarbeiter des Verfassungsschutzes16, Vertreter anderer Religionsgruppen, sowie ausgewählte Politiker und Akademiker beteiligt. (Micksch/Süssmuth 2005) Die Akteure etablierten dadurch eine gemeinsame Form der Kooperation, die durch einen kontinuierlichen Meinungsaustausch gekennzeichnet ist. Dabei wurden relevante Themen wie das Kopftuch, die islamische Charta des ZMD, die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz, die Darstellung des Islams in den Medien, die Fortbildung von Imamen und die Entwicklung eines Clearingprogramms zur Überprüfung von Missständen im Zusammenleben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen behandelt. Regionale Islamforen wurden bis Ende 2005 in chronologischer Reihenfolge in Nordrhein-Westfalen, 16
Die IGMG beteiligt sich nach eigenen Angaben aufgrund der Teilnahme des Verfassungsschutzes nicht an den Islamforen (mit Ausnahme des IGMG-Regionalverbandes Rheinland-Pfalz). Eine Zusammenarbeit suggeriert ihrer Meinung nach, dass die Muslime in Deutschland ein Sicherheitsrisiko darstellen, welches durch gemeinsamen Dialog eingeschränkt werden müsse. (Interview 24.02.2010, IGMG, KR) Dieser Kritikpunkt wird auch in der Stellungnahme des Islamrates zur DIK deutlich. (IRD 2009)
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Hessen, in den neuen Bundesländern, in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Berlin, Bayern sowie in einzelnen Städten gegründet. (http://www.interkultureller-rat.de/ projekte/deutsches-islamforum-und-islamforen-in-den-laendern/) Die Islamforen bearbeiten somit eine Reihe der Themen, die seit 2006 ebenso sowohl innerhalb der DIK als auch im KRM behandelt werden. Dabei ist hervorzuheben, dass das Bundesministerium des Inneren (BMI) sich zunächst weder personell noch finanziell an den Islamforen beteiligt hat. Ein Grund hierfür war die Beteiligung von Organisationen, die durch den Verfassungsschutz beobachtet werden. (Micksch/ Süssmuth 2005) Seit 2006 wird das „Clearingprojekt: Zusammenleben mit Muslimen“ jedoch durch das BMI, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Karl-Konrad-und-Ria-Groeben-Stiftung gefördert. (Interkultureller Rat 2009) Die Rolle der AABF ist innerhalb der Islamforen ähnlich umstritten wie innerhalb der DIK. Dies führte Ende 2003 zu ihrem Austritt aus dem bundesweiten Forum, während sie auf Länderebene weiterhin teilweise beteiligt ist. In diesem Zusammenhang bedauert Micksch, dass „manche Aleviten in Deutschland ganz bewusst eine anti-sunnitische Stimmungsmache betreiben, die das Zusammenleben erschwert“. (2005: 79) Diese Ansicht wurde teilweise auch in den Interviews vertreten. (Interview 24.06.2008, VIKZ, MK) Dabei argumentieren die sunnitischen Verbände oftmals, dass die Aleviten aufgrund ihres fehlenden eindeutigen Bekenntnisses zum Islam keine Berechtigung zur Teilnahme an einem institutionellen Dialog wie bspw. der DIK hätten, die sich ausschließlich an bekennende Muslime und deren Vertreter wenden solle. Auch an den im Folgenden beschriebenen SCHURA-Verbänden, die eine weitere Kooperationsform der Muslime darstellen, sind die Aleviten aufgrund ihres Anspruchs, eine eigenständige Religionsgemeinschaft zu sein, nicht beteiligt. Die SCHURA-Verbände und die islamischen Religionsgemeinschaften Bereits 1997 wurde in Hessen von Muslimen unterschiedlicher Herkunft die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen e.V. (IRH) gegründet. Sie hat seit ihrer Gründung zum Ziel, einen islamischen Religionsunterricht nach Art. 7 GG an den Schulen des Landes einzuführen. Diesem Beispiel folgend gründete sich 1999 die SCHURA Hamburg, der zunächst auch alle VIKZ-Moscheen und zwei DITIB-Moscheen angehörten. Anlass der Gründung war die politische Forderung nach einem Ansprechpartner für die Einrichtung muslimischer Gräberfelder mit sargloser Bestattungsmöglichkeit sowie ein lokaler Konflikt um Moscheebauten. 2002 kam es zur Gründung einer SCHURA in Niedersachsen, auf die 2006 weitere in Schleswig-Holstein und in Bremen folgten. Auf der Webseite der SCHURA Hamburg wird dieser Gründungsprozess und der Aufbau der
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SCHURAs vorgestellt: „Alle Landesverbände weisen dabei die gleiche Struktur auf (Einheit aller Moscheegemeinden und islamischen Vereine ausgenommen DITIB und VIKZ)“. (SCHURA Hamburg 2009; siehe auch Yoldas 2007) Trotz dieser regionalen Institutionalisierungsschritte bemängelten die Vertreter der SCHURAs selbst, dass auf Bundesebene weiterhin ein zentraler Ansprechpartner fehlte und kritisierten die Profilierung der Verbände auf gegenseitige Kosten. Auch die Spitzenverbände ZMD und IRD forderten nach der Jahrtausendwende eine Neuausrichtung der Strukturen, um die Forderungen der Muslime effektiver vertreten zu können. Am 26./27. Februar 2005 kam es daher auf Einladung des IRD, des ZMD und der SCHURA Hamburg zu einem Treffen der Vertreter aller größeren Verbände und SCHURAs ausgenommen der DITIB, um eine gemeinsame Zukunft zu planen. (IGMG 2005) In Bezugnahme auf diesen sogenannten „Hamburger Prozess“ (vgl. Azzaoui in diesem Band) heißt es auf der Webseite der SCHURA Hamburg (2009): „Relativ schnell fand sich ein Konsens ein, den Aufbau einer einheitlichen Organisationsstruktur anzugehen. Gemäß dem Vorschlag aus Hamburg/Niedersachsen sollte diese auf Landesverbänden basieren, die dann einen einheitlichen Bundesverband bilden“. Bereits beim Folgetreffen am 10. September 2005 in Hannover wurden erste Entwürfe für eine Landesund Bundessatzung der Islamischen Religionsgemeinschaft in Deutschland vorgelegt17. Von Seiten der Dachverbände wurde dieser Vorstoß als zu voreilig kritisiert (Interview 23.10.2009, ehemaliger ZMD Vertreter, KR) und findet in den Interviews und Pressemitteilungen häufig keine Erwähnung. Insgesamt verhinderten die mangelnde Bereitschaft der DITIB und die daran gekoppelten Bedenken des VIKZ und des ZMD, dass es zu einem Ausbau der Neustrukturierung auf Basis muslimischer Landesverbände im Sinne der SCHURA-Strukturen kam. Stattdessen wurde 2007 der KRM gegründet, dessen Ausrichtung im Folgenden näher erläutert wird.
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Auf Landesebene sind die Moscheegemeinden die ordentlichen Mitglieder, während auf Bundesebene die Religionsgemeinschaften der Länder Mitglieder der islamischen Religionsgemeinschaft Deutschlands sind. Die regionalen Religionsgemeinschaften entsenden für jeweils 10 ihrer ordentlichen Mitglieder einen Delegierten in die einmal jährlich tagende SCHURA, an der auch das gewählte Präsidium der Religionsgemeinschaft und der Senat (bestehend aus Vertretern der Dachverbände) teilnehmen. Des Weiteren fungiert ein Ulema Rat auf Bundesebene und eine Ulema Kommission auf Landesebene als Ansprechpartner für islamwissenschaftliche theologische Fragen. (Islamische Religionsgemeinschaft in Deutschland 2006)
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Die Etablierung und Zielsetzung des KRM aus Sicht der beteiligten Dachverbände Am 28. März 2007 wurde der Zusammenschluss von DITIB, IRD, VIKZ und ZMD zum KRM offiziell bekannt gegeben. Zwar wird in der ersten offiziellen Presseerklärung betont, dass der KRM die Schaffung von Länderstrukturen im Einvernehmen mit den etablierten Strukturen fördert (KRM 2007a), letztendlich kam es aber bislang nicht zur Schaffung von regionalen Einheiten des KRM. Auch sind die SCHURA-Verbände keine Mitglieder des KRM. Die SCHURA Hamburg kritisiert dementsprechend: „Der Einheitsprozess im Sinne einer Neustrukturierung war damit tot“. (SCHURA Hamburg 2009) Laut KRM-Geschäftsordnung behalten die Dachverbände innerhalb des KRM ihre Souveränität und arbeiten themenspezifisch zusammen mit dem Ziel, „eine einheitliche Vertretungsstruktur der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland zu fördern“ (KRM 2007b). Die Arbeit beinhaltet die Entwicklung gemeinsamer Positionspapiere und Pressemeldungen sowie Auftritte des KRMSprechers18 bei öffentlichen Veranstaltungen. Eine gemeinsame Satzung ist jedoch noch nicht verabschiedet worden. Auch die laut §1.3 der Geschäftsordnung angestrebte Anerkennung des KRM als Religionsgemeinschaft ist noch nicht erreicht worden. (ZMD 2008; siehe auch Chbib in diesem Band) Dabei wird von Seiten des ZMD betont, dass das vorrangige Ziel des KRM die Anerkennung als Religionsgemeinschaft und nicht als Körperschaft ist, auch wenn andere Vertreter diesbezüglich andere Standpunkte äußern. (Interview 23.10.2009, ehemaliger ZMD Vertreter, KR) Als größter Dachverband hat die DITIB als einzige Organisation ein Vetorecht und entsendet jeweils 3 statt 2 Vertreter zu der halbjährlichen Vollversammlung. (KRM 2007b: IV) An den monatlichen Tagungen des KRM nehmen circa zehn Delegierte teil. (Interview 04.03.2009b, DITIB, KR) Insgesamt zeigen die Interviews ein ambivalentes Verhältnis der Verbände zum KRM. Auf der einen Seite wird die verstärkte Zusammenarbeit der Verbände gelobt. So hebt ein VIKZ-Vertreter die Möglichkeit hervor, „gemeinsam vorzugehen und auch gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, was wir machen können“ (Interview 17.06.2008, IGMG, MK), während ein Repräsentant der IGMG unterstreicht: „[Wir] diskutieren die Themen gemeinsam, arbeiten gemeinsam Papiere aus, diskutieren gemeinsam Positionen aus“. (Interview 17.06. 2008, IGMG, MK) Bezüglich der DIK wird die Bedeutung des KRM ebenfalls gerne betont, so auch von Seiten der DITIB: „Ich denke ohne Koordinationsrat wäre diese Zusammenarbeit unter den islamischen Verbänden nicht zustande gekommen. Ich denke meiner Meinung nach sollte sowohl die Deutsche Islam 18
Der KRM-Sprecherposten wird von einem der vier Verbände besetzt und wechselt alle sechs Monate.
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Konferenz als auch der Koordinationsrat fortgesetzt werden“. (Interview 23.07.2009, DITIB, KR) Die Realität der DIK II-Fortführung im Jahr 2010 zeigt jedoch ein anderes Bild. Die Nichtteilnahme des IRD und des ZMD, deren Beweggründe weiter unten ausgeführt werden, schwächte auch die Position des KRM als Verhandlungs- und Ansprechpartner, wobei jedoch auch die fehlende Verabschiedung einer KRM-Satzung als ein Grund für die mangelnde politische Anerkennung des KRM als Repräsentanzorgan der organisierten Muslime zu nennen ist. Diese selbstkritische Erkenntnis wird auch in einer öffentlichen Stellungnahme des ZMD Generalsekretärs deutlich: „Im Nachhinein war es ein großer Fehler, dass die übrigen Verbände dem Hinhalten von DITIB, eine vereinsrechtliche KRM-Satzung zu unterschreiben, nicht entschiedener entgegen traten. Das hätte den KRM verbindlicher gemacht. Selbstkritisch sehe ich, was nun das Ergebnis ist: Die Aktionen in Sachen Islamkonferenz sind eher in die Kategorie Kakophonie einzuordnen. Der KRM bleibt sicherlich wichtiges Beratungsgremium aller muslimischen Spitzenverbände, nicht mehr aber auch nicht weniger“. (TAZ 12.04.2010)
Das oben genannte Zitat verweist auch auf die weiterhin bestehende Spannung zwischen der Entwicklung einer gemeinsamen Diskussionsplattform, wie sie im KRM zur Zeit realisiert wird, und der Umstrukturierung der Verbändelandschaft, wie sie in den Plänen für die Islamische Religionsgemeinschaft Deutschland vorgesehen waren. Der zugrunde liegende Interessenwiderspruch zwischen organisationaler Unabhängigkeit und der Notwendigkeit zur Kooperation drückt sich auch in folgendem Zitat eines DITIB-Vertreters aus: „Die Gründung der KRM, Sinn der Sache war eigentlich eine Plattform zu entwickeln eine Plattform wo alle Dachverbände über anstehende Themen zusammen eine Position entwickeln können und das auch als Vertretungsanspruch wenn es unbedingt notwendig ist als Vertreter der Muslime in die Öffentlichkeit tragen. Es ging ja darum und plötzlich wurde daraus eine Diskussion, dass der KRM alles was die Verbände bisher machen übernehmen soll. Das geht ja nicht, die Verbände sind eigenständige Organisationen, die können höchstens eine Plattform bilden“. (Interview 04.03.2009b, DITIB, KR)
Zu den Motiven der Verbände bei der Gründung des KRM zählten unter anderem das Interesse der Spitzenverbände an einer stärkeren Kooperation zur effektiveren Interessenvertretung, die Erwartungen der Organisationsmitglieder in Bezug auf eine gemeinsame Reaktion der Verbände im Anschluss an die Debatten um die Mohammed-Karikaturen (Interview 23.07.2009, DITIB, KR), und die politischen Forderungen nach einem Ansprechpartner. Demnach heißt es auch in der ersten KRM-Presseerklärung: „Mit der Gründung des KRM kommen die
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Verbände dem Wunsch der Muslime und der Erwartung der Politik und Gesellschaft nach einem einheitlichen Ansprechpartner der Muslime nach“. (ZMD 2007a) Des Weiteren hat auch die Abschwächung politischer Konflikte in der Türkei eine solch enge Kooperation vormals zerstrittener Verbände erleichtert. Vor allem die Zusammenarbeit der IGMG und der DITIB war aufgrund ihrer unterschiedlichen Positionen bezüglich der Rolle des Islams in der Türkei lange Zeit nicht möglich. Als Grund für die erstmalige Kooperation innerhalb des KRM wird in den Interviews unter anderem die Wahl des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdo÷an von der konservativen AKP-Partei im Jahr 2002 angeführt. Erdo÷an verbindet somit den „offiziellen Islam“ (Laurence 2006) der Türkei mit der islamischen Bewegung Necmettin Erbakans, dessen Fazilet Partei er bis 1998 angehörte. Erbakans islamische Parteien, die kontinuierlich verboten wurden, stehen traditionell der IGMG nahe. (Amiraux 2007; Kepel/Roberts 2002: 342ff.) Insbesondere das Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) und mit ihm die DITIB19 sind anschließend von ihrer Einstellung abgerückt, nicht mit Organisationen wie der IGMG zu kooperieren, die sich gegen die säkulare Ausrichtung der Türkei positionierten. Die politische Entspannung in der Türkei bezüglich der Rolle des Islams hat demnach Auswirkungen auch auf die Kooperationsmöglichkeiten in Deutschland. (Interview 14.10.2008, DITIB, KR) Trotz dieser Öffnung, die 2006 erstmals zu gemeinsamen Gesprächen aller Organisationen und der Gründung des KRM im Jahr 2007 führten, wird der DITIB auch weiterhin vorgeworfen, aus Eigeninteressen einen ernsthaften Einheitsprozess der muslimischen Verbände in Deutschland zu blockieren. (SCHURA Hamburg 2009) In den Interviews wird in diesem Kontext auf die Neugründung von DITIB-Landesstrukturen verwiesen, die zum Ziel haben, Kontaktpersonen für die Errichtung eines islamischen Religionsunterrichts auf Länderebene zu etablieren. Das Konfliktpotential dieses Schrittes, der auch innerhalb des KRM geplant war, ist den DITIB-Vertretern dabei durchaus bewusst. (Interview 04.03.2009a, DITIB, KR) Insgesamt ist bezüglich der Motive einer Neustrukturierung der Kooperationsformen zu beobachten, dass ein funktionierender Zusammenschluss organisierter Muslime auf Landes- und Bundesebene die individuelle Stellung der Verbände schwächt. Diesbezüglich sind vor allem die Spitzenverbände ZMD und IRD eher zu einer Auflösung ihrer Strukturen zum Zwecke der Etablierung eines
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Bezüglich der engen Beziehung zwischen der Diyanet und der DITIB, die sich aus der Vereinssatzung der DITIB ablesen lässt, siehe Seufert (1999) und Rosenow (i.E.a, b) sowie Azzaoui in diesem Band.
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neuen Zusammenschlusses bereit20. Das folgende Zitat stellt jedoch auch die Ängste der DITIB vor einem starken KRM aus Sicht des ZMD dar: „Gleichzeitig hieß es immer wieder hinter vorgehaltener Hand, dass im Prinzip diese Lösung, wir machen den KRM auf Landesebene, ist für uns […] keine Möglichkeit, weil wir Angst haben, dadurch unsere Schäfchen zu verlieren, dadurch dass der KRM auf Landesebene immer mehr an Bedeutung gewinnt und im Prinzip dann die DITIB-Moscheen dann immer wieder zum KRM gehen und nicht mehr zur DITIBZentrale. Und dass man dadurch halt die Angst hatte, Einfluss zu verlieren auf die Moscheen“. (Interview 23.10.2009, ehemaliger ZMD Vertreter, KR)
Aufgrund dieser internen Differenzen besteht zurzeit eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Zukunft des KRM und seiner Vertretungsansprüche, wie im folgenden Zitat eines ZMD-Vertreters deutlich wird. Darin werden drei Zukunftsoptionen genannt, für deren Realisierung wiederum die Entscheidung der DITIB für oder gegen eine vertiefte institutionalisierte Kooperation ausschlaggebend sein wird: eine Verfestigung des KRM auch auf Länderebene mit DITIB, eine solche Verfestigung ohne DITIB oder eine Kooperation der Länder in dieser Frage mit den Einzelverbänden an einem runden Tisch. Obwohl im folgenden Zitat und auch in den anderen Interviews die SCHURA-Verbände nicht erwähnt werden, ist ihre Rolle innerhalb der zukünftigen Aushandlungsprozesse durchaus mit zu bedenken (siehe die Beiträge von Azzaoui und Chbib in diesem Band). „Also der Stand der Dinge ist jetzt glaube ich, dass man in einer Sackgasse ist […] und dazu kommt ja noch, dass die DITIB ja die Landesverbände in der Zeit organisiert hat. Und wie gesagt, zurzeit ist man irgendwie in einer Sackgasse und man weiß nicht so richtig wie es weiter geht. Also im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten. Das eine wäre, dass es eine Art Druck gibt von der Politik und die DITIB sich sozusagen doch auf eine Kooperation auf Landesebene einlässt. Und das andere wäre, […] dass man die Politik bittet, halt mit den vier Verbänden entweder als vier Einzelverbände am runden Tisch zusammen zu arbeiten, oder dass die VIKZ, Islamrat, ZMD halt sagen […] im Prinzip treiben wir den KRM weiter fort auf Landesebene und arbeiten gleichzeitig mit der DITIB zusammen als Dachverband“. (Interview 23.10.2009, ehemaliger ZMD Vertreter, KR )
Insgesamt verdeutlichen die existierende Vielfalt an Dach- und Spitzenverbänden und ihre wechselnden Mitgliedschaftskonstellationen, dass es sich nicht um fixe sondern um flexible Kooperationsstrukturen handelt. Diese oft auch spannungsreiche Aushandlung zwischen Kooperations- und Alleinstellungsstrategien 20
Der ZMD hat dies bereits in einem Beschluss seiner Mitglieder im Jahr 2006 manifestiert. (Interview 23.01.2009, ehemaliger ZMD Vertreter, KR)
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kann einerseits durch die religiöse Vielfalt und andererseits durch sich teilweise widersprechende Interessenlagen sowohl im Ankunfts- als auch im Heimatland erklärt werden. Während sich die türkischen Organisationen zu ihrer Gründungszeit wie oben beschrieben oft in Abgrenzung von einander positioniert haben, nimmt dieser Prozess der „Profilierung“ nun allmählich ab. Dennoch bleibt ein Konkurrenzverhältnis bestehen, welches sich durch die Bedeutung von Organisationsmitgliedern für die Legitimität der Organisationen erklären lässt. Wie in Abschnitt 4 beschrieben, werden die Mitglieder daher mit unterschiedlichen thematischen Positionierungen und Serviceangeboten umworben. Die Ambivalenz zwischen einer Betonung der Gemeinsamkeiten und gegenseitiger Profilierung der Verbände ist somit traditionell thematisch, religiös und ethnisch verankert und wird durch das Werben um Mitglieder weiter verstärkt. Dieses spiegelt sich auch in der Zusammenarbeit der Verbände mit den deutschen politischen Akteuren wider, die im Folgenden analysiert wird. Die Zusammenarbeit der Dachverbände mit der Politik in Deutschland Die Beziehung der muslimischen Dachverbände zur Politik in Deutschland ist sowohl durch Anpassung als auch durch Protest gegenüber den vielfältigen politischen Erwartungen gekennzeichnet. Einerseits betonen die Verbände, dass bereits erste Fortschritte erkennbar seien, da der Islam nach langer Abwesenheit nun auf der politischen Agenda angekommen sei. Die politischen Aussagen im Jahr 2006 von Bundeskanzlerin Merkel und dem ehemaligen Bundesinnenminister Schäuble, in denen sie betonen, dass der Islam Teil Deutschlands und die deutsche Gesellschaft auf die 14,5 Millionen Einwohner mit Migrationshintergrund angewiesen sei, werden dabei als wichtige Anerkennungsschritte konservativer Politiker hervorgehoben. (Interview 23.07.2009, DITIB, KR) Dabei wird zwar auch auf die negativen Auswirkungen des vorherigen Mangels an Zuspruch verwiesen (Interview 04.03.2009b, DITIB, KR), insgesamt sind die Dachverbände jedoch bemüht, ihre Kooperationsbereitschaft zum politischen Dialog zu untermauern. Diese Zusammenarbeit schließt im Falle der DITIB und des ZMD auch verstärkt die Sicherheitsbehörden als Kooperationspartner mit ein. Andererseits herrscht bei den Dachverbänden aber auch weiterhin eine gewisse Skepsis gegenüber der politischen Ebene. Dabei wird häufig kritisiert, dass die Diskussionen zum Islam regelmäßig mit der deutschen Sicherheitspolitik verknüpft würden: „Und ich glaube dieses Gefühl schwingt immer mit bei der Beziehung zur deutschen Politik. Wie meinen sie das jetzt? Wollen sie nur die eigene Sicherheit herstellen? Oder geht es um mehr?“ (Interview 14.10.2008., DITIB, KR) Des Weiteren wird beanstandet, dass bezüglich der Forderungen
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nach rechtlicher Anerkennung als Religionsgemeinschaft und der Einführung des Religionsunterrichts bisher keine Fortschritte erzielt wurden. Die mangelnde Bereitschaft der Politik, die muslimischen Dachverbände als Religionsgemeinschaften anzuerkennen, war dann auch ein zentrales Argument, mit dem der ZMD seinen Boykott der DIK II Konferenz begründete. (ZMD 2010) Die fehlende „materielle Erneuerung“ im Bezug auf eine Anerkennungspolitik, die über die ersten oben zitierten symbolischen Schritte hinausgeht, wird auch auf die Zurückhaltung der Landespolitiker im Hinblick auf den Islam zurückgeführt. Im folgenden Zitat werden die geringen Fortschritte damit erklärt, dass sich die Landespolitiker entweder mit der Materie persönlich nicht auseinandersetzen wollten oder auf Zeit spielten, um kurz vor einer Wahl mit dem Thema Islam positive oder zumeist negative Schlagzeilen zu kreieren: „Letztendlich […] hat das Land schon eine starke […] Gestaltermöglichkeit, aber bisher werden diese ganzen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Im Gegensatz, die werden höchstens eingesetzt, um […] Zeit zu schinden oder die Diskussionen dann auf so politische Themen zu verlagern. […] Da muss mehr Druck im Kessel da sein und der ist einfach nicht vorhanden, deswegen wird das immer so hin plätschern und dann wird das kurz vor der Wahl vielleicht ausgepackt, manchmal wenn man Glück hat im positiven Sinne, aber meistens eher negativ [und] dann zieht sich das wieder über Jahre hin“. (Interview 14.12.2009, ZMD, KR)
Im folgenden Interviewausschnitt wird der Einfluss der Politik auf die muslimische Verbändelandschaft noch kritischer formuliert. Der Vorwurf lautet dabei, dass der Politik gar nicht an einem Zusammenschluss aller organisierten Muslime in Deutschland gelegen sei, sondern stattdessen von politischer Seite eher Spaltungstendenzen innerhalb der Verbändelandschaft forciert würden. Dabei lässt sich erkennen, dass sich die Verbände gegenüber der Politik trotz des oben beschriebenen Spannungsverhältnisses solidarisieren und Angriffe des Staates auf einen der Verbände durchaus kritisieren: „Sobald man merkt die [organisierten Muslime, KR] rotten sich zusammen und schaffen es nun eine Einheit zu werden, da geht man auf einen zu mit Zuckerbrot und versucht dann wieder eine Spaltung hinzukriegen. Das merken wir also schon, dass […] dann immer die Zeit für irgendeinen Verband gekommen ist mal einen auf den Deckel zu kriegen und dann wieder das Zuckerbrot zu kriegen, um eben diese […] Vereinheitlichung zu stören. Ich denke auch, dass das bewusst gesteuert wird, ich weiß nicht ob das von der Bundesregierung kommt oder von irgendeinem anderen politischen Lager aber ich denke schon, dass da Mächte im Spiel sind, die das nicht wünschen und die dann auch gezielt vorgehen. Zum Beispiel jetzt auch mit den Durchsuchungen bei der Millî Görüú, wo ja seit 14 Monaten eigentlich nichts bei
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Kerstin Rosenow/Matthias Kortmann rum gekommen ist, aber der Ruf eben extrem geschädigt worden ist“. (Interview 10.12.2009, ZMD, KR)
Schließlich wird auch auf individuelle Ängste der Muslime verwiesen: „Bei der Gemeinde selbst herrscht immer die Befürchtung, dass die Deutschen in Anführungsstrichen den Islam verändern wollen, reformieren wollen. […] Das ist glaube ich so nicht berechtigt, aber die DITIB muss mit dieser Forderung der Gemeinde umgehen“. (Interview 14.10.2008, DITIB, KR) Bei dieser Befürchtung sowie bei den unten beschriebenen Ausgrenzungserfahrungen der Gemeinden vom gesellschaftlichen und politischen Leben, zeigt sich die Bedeutung der Mitglieder für die Dachverbände. Wie in Abschnitt 3 beschrieben müssen die Dachverbände sowohl interne als auch externe Erwartungen bedienen. Daher passen sie sich nicht nur an die Forderungen der Politik an, sondern erwarten auch, dass diese die internen Entwicklungsprozesse der Verbände anerkennt und bundesweit einheitliche Lösungsmöglichkeiten bezüglich ihrer religionsspezifischen Forderungen schafft. „Und wenn die Organisationen immer wieder gehen, gehen, gehen, aber sehen da ist überhaupt keine Veränderung irgendwann mal werden die sagen, wie kann ich diese Schritte machen […] also durch dieses Verhalten werden die wie von Gummi nach hinten gezogen. Und die Gesellschaft auch, also zum Beispiel die muslimische Community, wenn wir denen sagen, ach geh doch, geh doch dahin, geh doch, mach doch da mit, mach doch hier mit, wenn die sagen, aber die schließen uns doch auch aus was redet ihr da für einen Unsinn. Das geht doch auch nicht, also wir müssen wirklich beidseitig reagieren damit dieser Weg nicht länger sondern viel kürzer [wird] und irgendwie in der Mitte wir uns treffen können“. (Interview 04.03.2009b, DITIB, KR)
Diese Forderungen nach Veränderung und Anerkennung sowie das Spannungsverhältnis innerhalb der Verbände zwischen Mitglieder- und Einflusslogik verdichten sich schließlich auf der Deutschen Islamkonferenz, wie im Folgenden ausgeführt wird. Die Deutsche Islamkonferenz (DIK) „Ja es ist natürlich glücklich und unglücklich gleichzeitig. Also das Gespräch auf das Gespräch freuen wir uns, aber dass das Gespräch nur im Rahmen der Sicherheitsdebatte zustande kommt“ (Interview, 23.07.2009, DITIB, KR).
Die Einberufung der DIK im Jahr 2006 fand unmittelbar nach dem Streit um die im September 2005 in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten veröffentlichten
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Mohammed-Karikaturen statt, der unter anderem auch als Motivationsgrund der Verbände für ihre Teilnahme angeführt wird. Sowohl die Verbandsmitglieder als auch die Politik erwarteten zu diesem Zeitpunkt eindeutige gemeinsame Stellungnahmen der Verbände. Dabei erhofften sich die Verbände – zu Unrecht, wie sich später herausstellte –, dass die Islamkonferenz abschließend die Frage der rechtlichen Stellung des Islams und ihre Anerkennung als Religionsgemeinschaft kläre. „Auf muslimischer Seite gab es auch eine Naivität die gesagt hat wir sitzen jetzt mit dem Staat auf Augenhöhe und jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann wir sozusagen den Staatsvertrag haben“. (Interview 14.12.2009, ZMD, KR) Die enttäuschte Hoffnung auf Anerkennung als Religionsgemeinschaft sowie das Ziel der Politik, stattdessen praxisrelevante Aspekte auf der DIK verbindlich zu diskutieren, haben demnach zu einem „Misstrauenseffekt“ unter den muslimischen Verbänden geführt. (Interview 04.03.2009a, DITIB, KR) Dabei wird dem Staat sogar vorgeworfen, dass er durch die DIK versuche, seine eigene Verfassung zu umgehen und theologische Fragen zu klären, die eigentlich nur mit Religionsgemeinschaften verhandelbar seien. (Ibid.) Dass das Misstrauen auf beiden Seiten auch während der ersten DIK-Phase wuchs, zeigte schließlich die Diskussion um die Zusammensetzung der DIK II. Der IRD lehnte seine Teilnahme ab, nachdem das BMI ihm lediglich eine ruhende Mitgliedschaft aufgrund laufender Ermittlungsverfahren gegen führende Mitglieder der IGMG angeboten hatte. (DIK Webseite, Neue Teilnehmer des DIK Plenums, Stand 18.05.2010) In seiner Stellungnahme betonte der IRD anschließend seine Unabhängigkeit und die Bedeutung der internen Erwartungen, an denen der Verband sich ebenfalls orientiert: „Als Feigenblatt zur Legitimierung von Positionen, die von muslimischer Seite nicht tragbar sind, standen wir weder in der Vergangenheit noch heute zur Verfügung“. (IRD 2010) Nachdem weder in den KRM-Beratungen noch in ersten Gesprächen mit dem BMI eine Einigung im Sinne des ZMD erzielt wurde, erklärte auch dieser Spitzenverband zwei Monate später seinen Austritt aus der DIK II. Insbesondere die Unverbindlichkeit der Verhandlungen, die mangelnde Anerkennung als Religionsgemeinschaft und die thematische Ausrichtung wurden als Gründe angeführt und die DIK II als ein „unverbindlicher Debattier-Club“ kritisiert. (ZMD 2010) Unsere zahlreichen Interviews mit Verbandsvertretern zeigen jedoch, dass auch während der ersten Phase der DIK bereits Kritikpunkte geäußert wurden, die auch in Bezug auf den DIK II-Prozess von Interesse sind, da unabhängig vom Austritt des IRD und des ZMD der Großteil der DIK-Struktur beibehalten wurde. Zunächst wurde in den Interviews und in den öffentlichen Stellungnahmen zur DIK I häufig die Verknüpfung von religiösen und sicherheitspolitischen Themen kritisiert. Außerdem wurde die Unkenntnis vieler Ministerialbeamten den Islam betreffend bemängelt, wobei jedoch die Anwesenheit von wissen-
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schaftlichen Experten zu bestimmten Themen sowie erste erkennbare Einstellungsänderungen der anwesenden Beamten positiv bewertet wurden. (Interview 10.12.2009, ZMD, KR) In Bezug auf die personelle Zusammensetzung sprachen sich alle Verbände gegen die Teilnahme von Islamkritikern an der Konferenz aus, wobei in diesem Zusammenhang häufig der Vergleich eines staatlichen Dialogs mit anderen Religionen gezogen wird. „Ja, man sollte sich erst mal überlegen, wie man so etwas angehen würde, wenn man mit den Kirchen so etwas machen würde, ob man dann Kirchenaussteiger, Kirchengegner, Kirchenkritiker mit den Bischöfen zusammen an einen Tisch setzen sollte, um die Gestaltung der Kirche zu diskutieren […], was ich mir kaum vorstellen kann“ (Interview 12.06.2008, IRD, MK). Auch hätten die einzelnen Vertreter nicht-organisierter Muslime keine konstruktiven Beiträge geliefert, sondern sich lediglich um öffentlichkeitswirksame Auftritte bemüht und dabei sogar die Verschwiegenheitsklausel gebrochen. „Da war sehr viel Zeitverlust, sehr viele Emotionen und sehr viele Angriffe gegenseitig und das hat einfach gestört und da ist man nicht so viel weitergekommen. Und was mich auch sehr gestört hat ist, dass man uns immer zu Zurückhaltung und Geheimhaltung der Sitzungen verpflichtet hat und woran wir uns natürlich auch gehalten haben. Aber andere haben das dann natürlich in der Presse ausgeschlachtet und […] diese Äußerungen in der Presse die haben dann auch negativ zum Islambild beigetragen“. (Interview 10.12.2009, ZMD, KR)
Ein weiterer Kritikpunkt war die öffentliche Darstellung der Verhandlungsverläufe. Zwar sei die Atmosphäre innerhalb der AGs offen und fair gewesen, doch die Protokolle und Abschlussberichte würden nicht immer mit dem eigentlichen Diskussionsverlauf übereinstimmen, sondern dokumentierten stattdessen „eher ein Wunschdenken“. (Interview 17.06.2008, IGMG, MK) Außerdem wurde beklagt, dass bei der Verabschiedung des Abschlussdokumentes Druck auf die Verbände ausgeübt worden sei, wobei angenommen werden kann, dass diese aufgrund der Einflusslogik großen Protest vermeiden wollten. Letztlich hat lediglich der Islamrat die Unterzeichnung der Schlussfolgerung des Gesprächskreises ‚Sicherheit und Islamismus‘ und der Stellungnahme der Muslime der Arbeitsgruppe 1 ‚Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens‘ verweigert21. (BMI 2009) Dies lässt sich durch die kritische Haltung der IGMG den sicherheitspolitischen Debatten gegenüber erklären, da diese Organisation am stärksten und ihrer Meinung nach zu Unrecht unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. Die Gründe
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Siehe hierzu die Stellungnahme des IRD vom 25.6.2009, in dem die zahlreichen Kritikpunkte detailliert dargestellt werden. (IRD 2009)
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der übrigen Verbände, den Schlussdokumenten schließlich zuzustimmen, werden von Seiten des ZMD im folgenden Zitat dargelegt: „Ja da ist auch sehr viel Druck ausgeübt worden, da wurden dann wirklich Schriftstücke die wahrscheinlich wochenlang von irgendwelchen Ministerien ausgearbeitet worden sind uns vorgelegt und so viel Druck ausgeübt, dass man die dann auch akzeptiert. Und da haben uns wirklich die Köpfe geraucht und ja man wollte eben kein politisches Eklat und dann hat man auch manchmal so ein bisschen mit ab gewunken was man nachher dann auch nicht so ganz toll gefunden hat“. (Interview 10.12.2009, ZMD, KR)
Bezüglich der weiteren Ergebnisse der DIK ist vor allem festzuhalten, dass die Länder letztendlich die entscheidenden Instanzen zur Umsetzung der Praxisempfehlungen der DIK sind. Zwar läuft die weitere Umsetzung hier erst langsam an, in Zukunft muss es aber – trotz der Fortsetzung der DIK auf Bundesebene – vor allem auf der Ebene der Länder zu zielführenden Kooperationen zwischen der Politik und dem organisierten Islam in Deutschland kommen. Die Bundesländer werden auch von Seiten der Verbände als die relevantere Ebene erkannt: „Die Ergebnisse sind schon mal ein erster Schritt, wir haben zwar nichts Konkretes, aber wir haben immerhin gezeigt, dass man mit Muslimen über bestimmte Themen reden muss und dass man dann Schritte machen muss, dass diese Schritte notwendig und aktuell sind. Und ich denke die richtigen Ansprechpartner sind die Länder und die haben das auch verstanden, die haben die Zeichen verstanden und da sind jetzt auch denke ich Planungen da […] wo man das auch ins Konkrete umsetzen möchte oder muss“. (Interview 10.12.2009, ZMD, KR)
Dass diese Kooperation regional unterschiedliche Formen annehmen kann, ist anhand der aktuellen Praxis und auf Grund der hier skizzierten Vielfalt der Verbändelandschaft bereits erkennbar. 6
Fazit: Verbandsstrategien zwischen Anpassung und Protest
Die Darstellung des Selbstverständnisses und der Strategien der fünf großen muslimischen Dachverbände in Deutschland hat gezeigt, dass sich Kooperationsbemühungen einerseits zwischen der Politik und dem organisierten Islam und andererseits zwischen den Verbänden untereinander in den letzten Jahren verstärkt haben. Die damit verbundene Fokussierung auf Deutschland ist zwar kein neues Phänomen innerhalb der Verbände, wird aber von der Politik getreu dem Motto der Islamkonferenz „Muslime in Deutschland – deutsche Muslime“ nun erstmals eingefordert und als Arbeitsauftrag für die Politik anerkannt. So heißt es
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auf der Website der DIK: „Dieses Motto bringt das zentrale Ziel der Deutschen Islam Konferenz auf den Punkt: Muslime in Deutschland sollen sich als Teil der deutschen Gesellschaft verstehen und von dieser auch so verstanden werden“. (DIK Webseite: Aufgaben und Ziele, Stand 27.11.2009) Bezüglich des Spannungsverhältnisses zwischen symbolischer Inszenierung und materieller Neuerung ist die DIK aus Sicht der Verbände eher der Symbolpolitik zuzuordnen, da die politischen Verhandlungen noch nicht über das Stadium von Empfehlungen hinausgekommen sind. Aus Sicht der Verbände bleibt im Hinblick auf die materielle Neuerung und die Erfüllung ihrer Anerkennungsforderungen noch viel zu tun und es bleibt zunächst umstritten, welchen Beitrag die DIK II hierzu leisten kann. Zwar ist im Sinne der eingangs präsentierten „Einflusslogik“ eine Anpassung der Verbände an die politischen Forderungen zu erwarten, diese Anpassungstendenz fällt jedoch umso stärker aus, je höher das Angebot an Ressourcen wie Status, Legitimität und finanzieller Unterstützung von deutscher Seite ist. Von den Verbänden werden die politischen Erwartungen und die Gelegenheitsstrukturen somit sehr genau und auch durchaus kritisch beobachtet und gegebenenfalls als ungenügend zurückgewiesen. Das Protestverhalten des IRD und des ZMD im Hinblick auf die DIK II kann dabei sowohl auf die mangelnden politischen Angebote als auch auf die Kritik ihrer Mitglieder im Sinne der „Mitgliederlogik“ zurückgeführt werden. Wie im theoretischen Teil ausgeführt sind neben den Erwartungen und Angeboten der politischen Arena auch die Bedürfnisse der Mitglieder sowohl nach religiösen als auch zunehmend nach nicht-religiösen Dienstleistungen zentral für die Verbände. Sie stehen somit vor der Herausforderung, diese unterschiedlichen Erwartungen in ihrem Selbstverständnis und ihren Strategien zu vereinbaren. Wie Sezgin (2010) betont werden sie somit zu „multi-tasking“-Organisationen, die nicht nur die Mitglieder- und Einflusslogik ausbalancieren, sondern auch Ankunftsland- und Herkunftslandorientierung miteinander verbinden, anstatt sich für nur eine Perspektive zu entscheiden. Dass es innerhalb der vorgestellten Dachverbände eine Vielzahl von unterschiedlichen Aufgaben gibt, lässt sich auch aus folgendem Potpourri von Wünschen ablesen, die innerhalb der Interviews auf die Frage nach Zukunftswünschen der Interviewpartner genannt wurden: „Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Religionen das ist auch ein Thema was hier auf dem Papier steht was [es] aber mehrmals umzusetzen gilt. Da wünsche ich mir, dass die Politik mit mehr Mut und noch mehr Einsicht da dran geht“; „Etablierung also nicht mehr aber auch nicht weniger (2), also Ausgrenzung auf gar keinen Fall (2), also Marginalisierung auf gar keinen Fall (2), aber auch auf der anderen Seite Entwurzelung auch nicht, also so wie wir sind uns so etablieren wie wir sind“;
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„eine Rückbesinnung auf Religiosität würde ich sagen und das sollte dann auf der deutschen Politikseite […] [dass sie] dieses authentische religiöse ernster nimmt und darauf auch eindeutig reagiert“; „dass man diese religionspolitische Integration von Muslimen, dass die […] viel stärker auch innermuslimisch diskutiert wird“; „mehr starke Frauen“; „der Axel Springer Verlag soll endlich mal die Muslime nicht als Feind oder Feindbild darstellen und [die] Frankfurter Allgemeine müsste auch mal […] mit den reformerischen Kreisen in der CDU sich auch ein bisschen reformieren“; „man ist manchmal auch so durch die ganzen Debatten und die negativen Stimmungen sage ich mal so ja hoffnungslos, dass man einfach sich nicht traut sich für die Zukunft irgendwas zu wünschen. Also ich wünsche mir, dass es nicht schlimmer wird, das ist meine Befürchtung, dass man uns einfach endlich in Ruhe lässt. Ich traue mich schon gar nicht mehr, Forderungen zu stellen, ich will einfach nur, dass man nicht noch mehr einschränkt, […] dass meine Kinder nicht noch mehr an Rechten verlieren oder an Diskriminierung leiden, und dass die sich nicht irgendwann gezwungen fühlen auszuwandern, weil das tun ja schon sehr viele“; „klingt zwar klischeehaft aber einfach Normalität, also dass man wirklich einen unaufgeregten normalen Umgang pflegt mit Menschen, die sich jeweils gegenseitig als Angehörige dieser Gesellschaft ansehen und als solche dann auch ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten wollen und mehr verlange ich eigentlich auch gar nicht“; „ich denke das Wichtigste ist, dass der Kommunikationsprozess nicht abreißt und […] beide die miteinander kommunizieren tragen dafür auch die Verantwortung […], weil es ist immer leichter, etwas kaputt zu machen, als etwas auf zu bauen und ich glaube, dass wenn man sich dessen bewusst ist, dass man etwas aufbauen möchte, dann muss man auch einiges dafür in Kauf nehmen“.
Die genannten Wünsche umfassen eine Reihe von Themen, wie die Rolle der Frauen, die Beziehungen zu den Medien, die innermuslimischen Debatten zur Integration und der Bedeutung der Religionsarbeit und die Erfahrung von Diskriminierung, welche in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes ausführlicher diskutiert werden und hier nur ansatzweise zur Geltung kamen. Gleichzeitig zeigt sich aber auch in den Schlussstatements der klare Wunsch der Verbände nach einer offiziellen Anerkennung als Religionsgemeinschaften in Deutschland und der Verfestigung der institutionellen Beziehungen zwischen dem deutschen Staat und den Vertretern des organisierten Islams in Deutschland. Obwohl dieser Wunsch und die Bereitschaft zur Kooperation auf muslimischer Seite seit langem bestehen, befindet sich die politische Umsetzung dieser Forderungen auch
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nach den ersten Schritten innerhalb der DIK noch immer im Anfangsstadium und bedarf daher weiterer Kommunikationsbemühungen, für die, wie oben treffend beschrieben, beide Seiten die Verantwortung tragen. Literatur Aksuenger, H., i.E. Die Funktion alevitischer Migrantenorganisationen in der zivilgesellschaftlichen Integration in Deutschland und in den Niederlanden (Dissertation), Universität Münster. Allen, Christopher/Nielsen, Jorgen, 2002: Summary Report on Islamophobia in the EU after 11 September 2001: On behalf of the European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia, Vienna. Amelina, A./Faist, T., 2008. Turkish Migrant Associations in Germany: Between Integration Pressure and Transnational Linkages. Revue Europeenne des Migrations Internationales, 24 (2), 91-120. Amiraux, Valérie, 2007: Breaching the infernal cycle? Turkey, the European Union and religion, in: Azmeh, Aziz A./Fokas, Effie (Hrsg.): Islam in Europe: Diversity, identity and influence, Cambridge, 183–207. Ateú, ùerif, 2006: Das Islambild in den Medien nach dem 11. September 2001, in: Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.): Massenmedien, Migration und Integration: Herausforderungen für Journalismus und politische Bildung, Wiesbaden, 153172. Atilgan, C., 2002: Türkische Diaspora in Deutschland, Chance oder Risiko für die deutsch-türkischen Beziehungen, Hamburg. Bader, V., 2007: The Governance of Islam in Europe: The Perils of Modeling, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 33 (6), 871-886. Becker, H., 2005: Der organisierte Islam in Deutschland und einige ideologische Hintergründe, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Integration und Islam, Nürnberg, 62-85. Bielefeldt, H., 2007: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld. Bock, Wolfgang (Hrsg.) 2007: Islamischer Religionsunterricht?: Rechtsfragen, Länderberichte, Hintergründe, 2., durchges. Aufl., Tübingen (Religion und Aufklärung, 13). Bundesinnenministerium (BMI), 2009: Deutsche Islamkonferenz (DIK): Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises. Vorlage für die 4. Plenarsitzung der DIK. Berlin. Campenhausen, A.F.V., 1996: Staatskirchenrecht, Ein Studienbuch, 3rd edn., München. Deutsche Islamkonferenz (DIK) Webseite. [URL: http://www.deutsche-islam-konferenz. de] (25.06.2010). Deutscher Bundestag, 2007. Stand der rechtlichen Gleichstellung des Islams in Deutschland, Drucksache 16/5033, Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Renate Künast, Monika Lazar und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 16/2085.
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Einheitliche Repräsentation und muslimische Binnenvielfalt. Eine datengestützte Analyse der Institutionalisierung des Islam in Deutschland Einheitliche Repräsentation und muslimische Binnenvielfalt
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1
Einleitung
Obwohl der deutsche Staat auf eine Organisationsbildung des Islam angewiesen ist, greifen Regierungsvertreter einiger Länder und des Bundes zur Diskussion und Regelung islambezogener Angelegenheiten auf religiöse wie auf nichtreligiöse muslimische Einzelakteure zurück.1 Einen Mangel an muslimischen Gemeinschaften und an Führungspersonen gibt es derweil nicht, das Gegenteil ist der Fall. Die organisatorische Fragmentierung des Islam in Deutschland schien lange Zeit eine lähmende Wirkung auf die Islampolitik zu haben. Auch nachdem sich die vier größten muslimischen Verbände mitsamt ihrer Mitgliedsorganisationen im Jahre 2007 zum Koordinationsrat der Muslime (KRM) zusammengefügt haben und damit eine einheitliche religiöse Vertretungsadresse geschaffen haben, bleibt die Frage nach der Repräsentanz ungelöst. Kernstück der Vorbehalte gegen den Vertretungsanspruch des muslimischen Einheitsrates bildet das Argument, welches den Verbänden geringe Repräsentanzanteile bescheinigt und die organisationsferne Vielfalt der muslimischen Bevölkerung in Deutschland hervorhebt. Im Vorfeld der von der Bundesregierung einberufenen zweiten Islamkonferenz 2010 ist diese Frage erneut kontrovers diskutiert worden. Als Dialogforum zwischen dem deutschen Staat und den Muslimen im Lande konzipiert, zielt sie auf eine bessere religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung ab.2 1
2
Nicht erst seit der Deutschen Islamkonferenz, sondern auch im Falle der Organisierung eines islamischen Religionsunterrichts wird etwa in einem Modellversuch in Erlangen mit Elterninitiativen (Bayern) oder in Köln und Duisburg (NRW) mit einzelnen Moscheegemeinden wurde an den muslimischen Organisationen vorbei zusammen gearbeitet, siehe Ebert 2008; zum Islamischen Religionsunterricht in Deutschland gibt es mittlerweile eine Fülle von Abhandlungen, zur Geschichte und Problematik siehe z.B. Sovik 2008. Für ausführliche Informationen zur Zielsetzung und zum Arbeitsprogramm der Deutschen Islamkonferenz siehe Bundesministerium des Inneren 2009.
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Bei der Auswahl der Konferenzteilnehmer wird die muslimische Dialogseite – wie schon im Jahre 2006 unter dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble – nach Maßgabe der Regierung gemäß der folgenden Argumentation besetzt: „Da die fünf muslimischen Dachverbände in Deutschland maximal lediglich ein Fünftel aller in Deutschland lebenden Muslime repräsentieren, war es – um die Vielfalt des muslimischen Lebens in Deutschland widerzuspiegeln – erforderlich, die nicht-organisierten Muslime angemessen mit einzubeziehen. Zehn ausgewählte Persönlichkeiten repräsentierten als Mitglieder des Plenums der DIK in ihrer Gesamtheit die verschiedensten Facetten der muslimischen Lebenswirklichkeit und ihrer Traditionen und somit die Vielfalt muslimischen Lebens in Deutschland.“ (Bundesministerium des Inneren 2009a)
Diese Argumentation gründet sich auf der Schätzung eines Repräsentanzanteils muslimischer Dachverbände, der von einem Fünftel aller in Deutschland lebenden Muslime ausgeht. Dem wird ein nicht-organisierter Mehrheits-Islam gegenüber gestellt, der von Regierungsseite über „ausgewählte Persönlichkeiten“, die mit Repräsentanzbefugnissen ausgestattet werden, einbezogen wird. Daraus folgt, dass Vertreter muslimischer Glaubensanhänger im Falle des Islam erstens vom Staat und nicht von den Religionsgemeinschaften selbst bestimmt werden, und dass zweitens dem in Verbänden organisierten Islam aufgrund des gering geschätzten Repräsentanzanteils der maßgebliche Vertretungsanspruch in islambezogenen Fragen abgesprochen wird. Drittens impliziert die Gegenüberstellung islamischer Dachverbände und einer durch Einzelpersonen abgebildeten muslimischen Vielfalt, dass der organisierte Islam diese Binnenpluralität nicht zu repräsentieren vermag. Diese Konzeption, die darauf beruhende, von der Regierung vorgegebene Agenda und die Einladungs- sowie Ausschlusspraxis haben zum Unmut seitens religiöser Vertreter um die Besetzung und die Inhalte der zweiten Islamkonferenz geführt, was in der politischen Konsequenz zu einer Teilnahmeverweigerung seitens des Zentralrates der Muslime (ZMD) geführt hat.3 Ausgehend von der ungelösten Kontroverse um die Einschätzung muslimischer Organisationen, soll in diesem Beitrag mit Hilfe von der im Jahre 2006 durchgeführten Studie zur systematischen Erfassung und Untersuchung der religiösen Vielfalt in NRW ein datengestützter Überblick zur muslimischen Land3
Mit großem Medienecho, z.B. „Muslim-Zentralrat boykottiert Islamkonferenz“ (http://www. spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,694536,00.html, zuletzt eingesehen 22.07.2010). „Zentralrat der Muslime steigt aus Islamkonferenz aus“ (Zeit-Online 2010) „Der Zentralrat der Muslime wird an der geplanten Islamkonferenz nicht teilnehmen“ (Presseerklärung des ZMD vom 12.04.2010).
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schaft in Deutschland geliefert werden.4 Er zielt darauf ab, auf Grundlage der für Nordrhein-Westfalen ermittelten Anzahl muslimischer Gemeinschaften, ihrer Mitglieder bzw. Besucher, ihrer Verteilung und ihres jeweiligen Anteils an dem organisatorischen Gesamtbestand, der strukturellen Dimension der vielzitierten islamischen Pluralität im Lande anhand empirischer Daten Kontur zu verleihen und ihre Grundzüge und Merkmale herauszuarbeiten.5 Einen weiteren Schwerpunkt bildet die quantitativ gestützte Abbildung muslimischer Verbände, die unter Berücksichtigung bisher wenig beachteter Segmente muslimischen Gemeinschaftslebens diskutiert wird. Die an der Kirchenmitgliedschaft angelehnte Messgröße der „Mitgliederzahl“ zur Einschätzung des Repräsentanzanteils muslimischer Organisationen wird in diesem Zusammenhang kritisch gesehen und Vorschläge zur zahlenbasierten Einschätzung der Bedeutung muslimischer Gemeinschaften unter Berücksichtigung der soziologischen Eigenart des Islam unterbreitet. 2
Die Vielfalt von Religion und das „Bochumer Pluralismus-Projekt“
Der Islam ist nicht nur Mit-Auslöser, sondern auch Bestandteil der religiösen und weltanschaulichen Pluralisierung in Deutschland, die seit einiger Zeit kaum von der Hand zu weisen ist. Das Phänomen der religiösen Vielfalt war Gegenstand eines interdisziplinär angelegten Forschungsprojekts in NordrheinWestfalen6 mit dem Ziel, wissenschaftlichen Aufschluss über die quantitative Ausprägung sowie über die strukturellen und inhaltlichen Bedingungen religiöser Vielfalt im Lande zu erlangen. Mittels einer systematischen Erfassung der Zahl und der Verteilung religiöser Gemeinschaften sowie der Anzahl ihrer „Mitglieder“ und „Sympathisanten“ (siehe Abschnitt 6) wurde in diesem bundesweit ersten Versuch, über einzelne lokale Untersuchungen hinaus, eine differenzierte Gesamtschau der religiösen Landschaft in einem großen Bundesland unternommen. (Krech 2008:29) In den nahezu 9000 erhobenen Datensätzen sind auch die religiösen Gemeinden und Ortsgruppen enthalten, die sich dem Islam zurechnen
4
5
6
Gefördert vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Exzellenzwettbewerbs „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven“ und durchgeführt am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Damit ist die Vielfalt gemeint, die aufgrund der spezifischen Form der Organisierung zustande kommt und nicht die inhaltliche Dimension, welche die Formen von Religiosität zum Gegenstand hat. Ausführliche Informationen und Zahlenmaterial auf der Internetseite www.religion-plural.org.
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oder aus islamischen Strömungen hervorgekommen sind.7 Damit bieten sich die Ergebnisse aus der Pluralismus-Studie an, um quantitativ gestützte Aussagen zur inneren Vielfalt des Islam zu treffen und den Proporz, den einzelne islamische Gemeinschaften und Organisationen an dem „glaubensgemeinschaftlichen Kuchen“ ausmachen, zu bestimmen. Da schätzungsweise ein Drittel der muslimischen Gemeinden in NRW angesiedelt ist, lässt die durch diese empirischquantitative Untersuchung gestützte Darstellung des Status quo der Institutionalisierung des Islam im bevölkerungsreichsten Bundesland tendenzielle Aussagen zu den Verhältnissen im gesamten Bundesgebiet zu. Dabei interessiert insbesondere die Frage, bis zu welchem Grad es über den Koordinationsrat der Muslime (KRM) zu einer Vereinheitlichung gekommen ist und welche Segmente des muslimischen Gemeinschaftslebens davon ausgeklammert bleiben. Welchen Anteil an der muslimischen Bevölkerung vermögen muslimische Organisationen in Deutschland durch die von ihnen bereit gestellte Infrastruktur zu bedienen? 3
Datenlage zu Islamischen Organisationen in Deutschland
Trotz der zunehmenden Thematisierung der Uneinheitlichkeit der Muslime und der Vielfalt im Islam, bleiben der faktische Bestand, die Verteilung, die Mitgliedszahlen und der Umfang an Vernetzung muslimischer Vereinigungen im Dunkeln. Zwar finden sich zu „Islamischen Organisationen in Deutschland“ solide Überblicksdarstellungen und Einzelstudien.8 Je nach Fragestellung enthalten sie Angaben zu Mitgliedsvereinigungen von Dachverbänden, zu ihren Aktivitäten, zu möglichen Verbindungen personeller Art zwischen verschiedenen Organisationen und zu deren ideologischer Nähe zu Organisationen im Heimatland. Eine Einschätzung des Wirkungsradius der Organisationen, ihrer geografischen Ausbreitung, ihrer Präsenz über Gemeinden vor Ort sowie ihrer Frequen7
8
Bezogen auf den Bereich Islam sind nur solche sozialen Kollektivformen erhoben worden, in denen primär rituelle bzw. kultische Handlungen, wie die Gebete und andere Gottesdienste vollzogen werden und die religiöse Lehre übermittelt wird. In erster Linie handelt es sich somit zumeist um Moscheegemeinden, bei der alevitischen Glaubensgemeinschaft um Cem-Häuser und sofern es um den Sufismus ging, um die jeweiligen Sufi-Gruppen. Damit sind keine muslimischen Vereinigungen und Projekte aufgenommen worden, die sich in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens ausgebildet haben, wie Sportvereine, Jugend- und Frauenvereine oder Medienprojekte. Besonders erwähnenswert ist das Standardwerk von Lemmen (2000, 2002) aber auch Überblicksdarstellungen von Feindt-Riggers/Steinbach (1997); Abdullah (1993); Sen/Aydin (2002); Spuler-Stegemann (2001), weitere muslimischer Gruppierungen werden bei Wunn (2007) thematisiert; des Weiteren existieren Einzelfallstudien zum VIKZ (Jonker 2002), zur KaplanGemeinde (Schiffauer 2000), zum Sufismus in Deutschland (Schleßmann 2003), zur Milli Görüs u.a. (Schiffauer 2004, 2010).
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tierung durch die Muslime gibt die einschlägige Literatur jedoch nicht. Zudem lassen sich nur wenige Angaben zu Gemeinschaften mit geringem Formalisierungsgrad in Untersuchungen zu religiösen Organisationen von Muslimen in der BRD finden.9 Nicht-türkische Organisationen und Gemeinschaften sind überdies, wenn überhaupt, dann nur rudimentär untersucht worden. Über die Überblicksliteratur zu muslimischen Organisationen hinaus existieren einzelne Erhebungen zu muslimischen Einrichtungen oder solche, die sie zumindest mit einbeziehen, die sich jedoch in der Regel auf eine bestimmte Kommune beziehen und die nicht auf wissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen basieren, sondern mehr informativer Natur sind.10 Wissenschaftlich fundierte Studien, die eine Bestandsaufnahme muslimischer Vereinigungen in bestimmten Bundesländern enthalten, haben entweder hauptsächlich Gemeinden und Organisationen türkischer Muslime als Gegenstand und liefern damit keinen umfassenden Überblick zur islamischen Religionslandschaft.11 Die Studie zu islamischen Organisationen der türkischen, marokkanischen, tunesischen und bosnischen Minderheiten in Hessen lässt sich als erster Versuch werten, möglichst alle Gemeinschaften muslimischer Gruppen zu erfassen und zu untersuchen. Dennoch war es im Verlauf der Untersuchung weder möglich gewesen, eine flächendeckende Bestandsaufnahme vorzunehmen, noch konnten nicht-institutionalisierte islamische Einrichtungen berücksichtigt werden, so dass es bei der Aufzählung der bestehenden Organisationen und einzelner, ihnen zugehöriger Gemeinden verblieben ist.12 (Vgl. Sen/Karakasoglu 1995) Damit vermag auch diese Untersuchung keine unabhängigen und umfassenden Zahlen zu den Mitgliedschaftsverhältnissen, zur Verteilung oder zum Bestand an muslimischen Einrichtungen in Hessen zu liefern. Die Berliner Studie zum muslimischen Gemeindeleben, die im Vergleich zu den Untersuchungen in NRW 9
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12
Damit sind Gemeinschaften oder Gruppierungen unterhalb der Ebene der formalen Organisation gemeint, die sich untereinander kaum vernetzt haben und geringe Mitgliedszahlen aufweisen, wie etwa religiöse Treffen afghanischer Muslime oder solchen aus afrikanischen Ländern, muslimische Frauengruppen und -initiativen, Jugendprojekte und religiös motivierte Netzwerke. Z.B. Ostenrath/Schneemelcher 2003; Stadt Essen 2004; Dortmunder Kontaktgruppe der Kirchen mit Moscheevereinen 2001. Den umfassendsten und durch quantitative Angaben gestützten Überblick über muslimische Gemeinden in der Stadt erhält man in Wolff 2000. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW (1995) nimmt lediglich eine Zusammenstellung aktueller Informationen über die in Deutschland aktiven muslimischen Organisationen vor und ist keine Bestandsaufnahme einzelner Gemeinden. Für das Bundesland Niedersachsen wurde durch den Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V. eine (informative) Broschüre erstellt, die dem Verband bekannte – auch ihm nicht angeschlossene – Moscheen und Gebetsstätten des Landes auflistet. (SCHURA Niedersachsen 2007) Dennoch liefert diese Studie differenzierte Einblicke in das Innenleben der Organisationen und ihrer Gemeinden unter besonderer Berücksichtigung der Integrationsprobleme, ihrer gesellschaftlichen Kontakte und der Dialogerfahrungen.
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und Hessen ein geographisch wesentlich kleineres Gebiet auf die Existenz von muslimischen Gemeinden hin abgeleuchtet hat, enthält derweil statistische Angaben zum Bestand an und zur Entwicklung von muslimischen Gemeinden im zeitlichen Verlauf sowie zu den Zugehörigkeitsverhältnissen einzelner Vereine zu verschiedenen religiösen Strömungen und Verbänden. Aggregierbare Daten zur Mitgliedschaft bzw. zu den Besucherzahlen der Gemeinden lassen sich dieser umfassenden Untersuchung, die das Innenleben wohl sämtlicher religiöser Einrichtungen in Berlin unter verschiedenen Aspekten studiert hat, allerdings nicht entnehmen. (Spielhaus/Färber 2006) Insgesamt lassen sich demnach keine explorativen Untersuchungen für NRW oder für andere Bundesländer finden, die die Gesamtheit muslimischer Einrichtungen erfassen und untersuchen.13 Im Hinblick auf die Frage nach dem Bestand an muslimischen Gemeinden deuten lokale Moscheeverzeichnisse darauf hin, dass die Bandbreite an kollektiven muslimischen Aktivitäten größer ist, als eine Vogelperspektive zu geben vermag, die von den Organisationseinheiten mit dem höchsten Formalisierungsgrad ausgeht und diese überwiegend im Blick hat. 4
Die Unsichtbarkeit muslimischer Einrichtungen vor Ort
Um ein umfassendes Bild vom gemeinschaftlich gelebten Islam zu erhalten, ist eine Vorgehensweise vonnöten, die sich der Erschließung des islamischen Feldes über eine Datengewinnung zu einzelnen Einrichtungen, und nicht über die Organisationszentralen, widmet. Solch ein Vorhaben stößt aufgrund verschiedener Gründe an seine Grenzen: a.
b.
13
Muslimische Gruppen, die nicht als Vereine eingetragen sind, können nur schwer ausfindig gemacht werden und lassen sich nicht in eine umfassende Bestandsaufnahme einbeziehen. Dementsprechend konnten in die NRWStudie nur solche Vereinigungen aufgenommen werden, die ein Mindestmaß an Formalisierung in Form einer Vereinsstruktur und an Dauerhaftigkeit aufweisen. In der Regel sind muslimische Gemeinschaften nicht in den bestehenden Verzeichnissen zu Kirche und Religion der Städte und Kommunen aufgelistet. In den seltenen Fällen handelt es sich zumeist nur um einzelne Gemeinden der größten Verbände.
Mit Ausnahme der Berliner Studie, die in der Lage war, verschiedene Aspekte der muslimischen Binnenvielfalt zu erfassen, die jedoch zum Zeitpunkt der Erhebungen in NRW 2006 noch nicht erschienen war.
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d.
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Das Gemeindeleben von Muslimen vor Ort vollzieht sich jenseits der öffentlichen Wahrnehmung. Es gibt nur selten Anstrengungen seitens der Kommunen, das muslimische Leben vor Ort zu erfassen. Die in Einzelfällen erfolgte Auflistung und Darstellung islamischer Gemeinden ist rasch überholt und zumeist nicht vollständig. Meist sind in kommunalen Medien keine Hinweise über das religiöse Leben von Muslimen zu finden, selbst wenn die Anzahl islamischer Einrichtungen recht hoch ist. Von den Muslimen selbst geht zudem nur in seltenen Fällen die Initiative aus, sich über kommunale Portale und Medien ‚sichtbar‘ zu machen. Initiativen von Muslimen, Listen zu erstellen, in denen Standorte von Moscheen erfasst werden – z.B. diverse Internetseiten – haben sich als überholt und als fehlerhaft erwiesen. Das heißt, den Muslimen selbst ist lediglich ein minimaler Ausschnitt des gemeinschaftlichen religiösen Lebens in ihrem Umfeld bekannt. Die großen Verbände führen Dateien über die eigenen Gemeinden, die weitgehend aktuell sind. Dennoch sind sie nur in seltenen Fällen der muslimischen und nicht-muslimischen Öffentlichkeit zugänglich. Nicht in Verbänden organisierte mittelgroße und kleine Gemeinden, z.B. die der Schiiten und Kurden oder die kleinerer muslimischer Gruppen aus weiteren Herkunftsländern, können nur nach dem Schneeballprinzip ermittelt werden und damit nicht vollständig erfasst werden.
Insgesamt lässt sich aufgrund dieser Erfassungsschwierigkeiten kein umfassendes Bild von der muslimischen Landschaft zeichnen, da sie in der Regel in Form einer Zusammenstellung bestehender (zumeist türkischer) Verbände präsentiert wird, die die Vielfalt an informell vernetzten oder gar nicht vernetzten (also nicht in Verbänden organisierten) religiösen Gemeinschaften nicht ans Licht bringt und damit weitgehend unberücksichtigt lässt. 5
Die organisatorische Pluralität des Islam am Beispiel NRWs
Die Vielfalt im Islam wird bereits in der frühen deutschsprachigen Literatur zum Islam in Deutschland abgehandelt und – sofern es um die strukturelle Dimension geht – über die Aufzählung der verschiedenen Organisationen und anhand der Anführung der unterschiedlichen Glaubensströmungen verdeutlicht. Im Rahmen der Bestandsaufnahme muslimischer Einrichtungen in NRW wird diese Unterteilung aufgegriffen und durch Daten und Anteilsangaben unterfüttert. Dadurch wird die Grundlage für eine Einschätzung des Standes der Institutionalisierung
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geschaffen und eine zahlengestützte Darlegung der Pluralität muslimischer Gemeinschaften ermöglicht. Der Islam in Deutschland kennt keine zentrale Organisation. Innerhalb der Hauptströmungen des Islam (der sunna und der schi´a) und der aus ihnen hervorgekommenen, eigenständigen Richtungen (Ahmadiyya, Aleviten usw.) existieren für die BRD keine einzelnen, sämtliche Gemeinschaften der jeweiligen Richtung umfassenden Organisationen. Am übersichtlichsten erscheint die Lage bei den Anhängern der Ahmadiyya-Strömung, deren Gemeinschaften vermutlich vollständig in einem Verband organisiert sind.14 Mit etwa 34 nach ethnischen, theologischen und strukturellen Gesichtspunkten identifizierbaren Organisationen, Gemeinschaften und Gruppierungsarten ist die organisatorische Ausdifferenzierung innerhalb der Kategorie „Islam“ in Deutschland, verglichen mit der anderer Konfessionen, mittelhoch.15 Diese werden von etwa 2,8% der Wohnbevölkerung NRWs aufgesucht. Die Präsenz des gemeinschaftlich gelebten Islam zeigt sich insgesamt eher in Ballungsgebieten, als in kleinstädtischen und ländlichen Regionen Nordrhein-Westfalens. Abbildung 1: Anzahl der den verschiedenen Richtungen zugehörigen Gemeinden/Gruppen in NRW
Der Blick auf die Anzahl der den verschiedenen Strömungen zugehörigen Gemeinden zeigt erwartungsgemäß ein insgesamt recht homogenes Bild vom Islam 14
15
Diese Angaben der Ahmadiyya-Zentrale, können nicht durch eigene Erhebungen nachgewiesen werden. Eigenständige, nicht zum Verband zugehörige Ahmadiyya-Gemeinden, sind im Verlauf der Erhebungen nicht zutage getreten. Im Vergleich dazu hat das Judentum in NRW nur drei Organisationen aufzuweisen, Östliche Religionen kommen auf 28 Richtungen inklusive Organisationen, die Orthodoxen Christen auf 17 Organisationen. (Vgl. Krech 2008) Eine Übersicht mit kurzgefassten Informationen zu den unterschiedlichen Richtungen und Vereinigungen in der Rubrik „Islam“ findet sich in Hero/ Krech/Zander 2008: 285ff.
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in NRW. Rund 86 Prozent der nordrhein-westfälischen Gemeinden, die dem Bereich „Islam“ zugeordnet werden, geben sich als sunnitisch aus, 3 Prozent sind schiitisch, 6 Prozent sind alevitisch und 4 Prozent gehören der Ahmadiyya an (Abb.1). Diese weitgehende Homogenität bestätigt sich, wenn man sich die Verteilung der Muslime mit Gemeindebezug auf die Einrichtungen und Gruppen der dort vertretenen Richtungen anschaut. So gruppieren sich etwa 93 Prozent aller Muslime, die einer Gemeinde nahe stehen, um eine sunnitisch geprägte Einrichtung. Diese Gemeinde-Zahlen spiegeln zwar die Tatsache wider, dass der überwiegende Teil der Muslime in NRW der sunnitischen Richtung angehört und sie daher entsprechende Gemeinden gründen und aufsuchen. Allerdings vermögen sie keine Auskunft zur Frage nach der Vielfalt innerhalb der einzelnen Strömungen zu liefern. Ein Islam, mehrere Strömungen, viele Gemeinschaften Die interne Vielfalt lässt sich auf Grundlage der Offenlegung eigenständig organisierter Zusammenschlüsse oder Gruppen innerhalb der einzelnen Strömungen veranschaulichen. Dabei weisen die verschiedenen Richtungen eine mehr oder weniger ausgeprägte organisatorische Ausdifferenzierung auf (Abb.2). Abbildung 2: Anzahl an Organisationen und an selbständigen Gemeinden/ Gruppen innerhalb der einzelnen Richtungen in NRW
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Die höchste Ausprägung findet sich innerhalb der sunnitischen Hauptströmung, die 11 eigenständige Organisationseinheiten mit mehr oder weniger formalisierten Strukturen und 162 eigenständige – d.h. nicht durch einen Verband zusammengeschlossene Ortsgemeinden – aufweist. Die Schiiten sind nur durch eigenständige Gemeinden in NRW vertreten,16 die zwar alle den Imamiten zugehören, die sich jedoch in türkischsprachige, arabischsprachige und ethnisch gemischte Gemeinden unterteilen lassen. Der Sufismus in NRW tritt über Einzelgruppen in Erscheinung, die sieben verschiedenen Sufi-Wegen zugehören. Die Aleviten haben einen Verband hervorgebracht, zu dem sich einzelne Gemeinden zusammengeschlossen haben. Aber auch hier finden sich 13 unabhängige Cem-Häuser, in denen die Aleviten ihren Gottesdiensten nachgehen. Mit einem Vertretungsanteil von zwei Dritteln der Cem-Häuser in NRW hat der alevitische Verband (AABF) die Anerkennung als selbständige Religionsgemeinschaft in NRW und damit die Legitimität zur politischen Vertretung der Aleviten erlangt. Schließlich gehören die Anhänger der Ahmadiyya der Richtung an, die den niedrigsten Diversitätsgrad aufweist, da sie nur eine formalisierte Organisationseinheit hervorgebracht hat, neben der keine weiteren Gruppierungen isoliert bestehen. Anteile der Organisationen und Gruppen an der Bereitstellung der religiösen Infrastruktur Die Bereitstellung von Räumen, in denen religiöse Riten vollzogen werden und die Pflege des eigenen Glaubens ermöglicht wird, sichert die religiöse Grundversorgung der Muslime in Deutschland. Verschiedene muslimische Gruppen und Gemeinschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten die religiöse Infrastruktur für Muslime aufrechterhalten und bieten mittlerweile vielfältige, auf muslimische Belange abgestimmte Dienstleistungen an.
16
Stand 2007. Im Jahre 2009 wurde die bundesweite Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden gegründet, der auch schiitische Gemeinden in NRW angeschlossen sind. (Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands 2010)
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Abbildung 3: Anzahl der Gemeinden und Ortsgruppen der jeweiligen Gemeinschaften und Verbände
Dabei ging die Initiative stets von Muslimen vor Ort aus, die sich zur gemeinschaftlichen Pflege ihres Glaubens die nötigen Räumlichkeiten schafften. Erst dann haben sich einzelne Gemeinschaften zu diversen Organisationen zusam-
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mengeschlossen.17 Gemessen an der Anzahl der Gemeinden und Ortsgruppen stellt die DITIB aufgrund der vorliegenden Datenlage zu NRW, von den erfassten Gemeinden einen Drittel aller Gebetsstätten und knapp über die Hälfte der Gemeinden türkisch-sunnitischer Verbände. Auf derselben Grundlage ist sodann festzustellen, dass die türkisch-sunnitischen Verbände mit Abstand die meisten Ortsgemeinden aufweisen. Dennoch ist davon auszugehen, dass über 200 Gemeinden, also nahezu 30 Prozent, keiner türkisch-islamischen Organisation zugehören. Einige davon sind zwar türkisch geprägt, jedoch überwiegt hier ganz deutlich der Anteil derer, die anderen ethnischen Gruppierungen angehören. Besonders das Segment der verbandsunabhängigen muslimischen Gemeinden tritt hier zutage, das sich von der Anzahl her als zweitstärkste Größe organisierter Muslime herausgestellt hat. Dieses Segment lässt sich jedoch nur schwerlich und nicht vollständig erfassen. In der Studie zum muslimischen Gemeindeleben in Berlin ist der Befund noch markanter. Fünfzig Prozent der Berliner Moscheegemeinden sind diesen Ergebnissen zufolge in keinem Dachverband organisiert. Dies liege unter anderem daran, dass die meisten Gemeinden, die im vergangenen Jahrzent gegründet wurden, selbständig geblieben seien. (Spielhaus 2007) Im Verlauf der Bochumer Bestandsaufnahme ist indessen eines besonders klar geworden: Das Feld verbandsunabhängiger Gemeinden ist sehr uneinheitlich und bunt gefächert. Auch hier fällt auf, dass jüngere Gemeinden der muslimischen Neu-Zuwanderer (z.B. afghanischer, somalischer oder irakischer Migranten) unvernetzt bleiben. Daneben bestehen Gemeinschaften von Gruppen, die in vergleichsweise geringer Zahl hier leben, wie etwa somalischer oder afghanischer Muslime außerhalb der Verbände. Multiethnisch angelegte islamische Einrichtungen oder Gruppen überwiegend deutschstämmiger Muslime verorten sich ebenso selten innerhalb der bestehenden Dachorganisationen. Schließlich wählen einige Gemeinden, in denen Gruppierungen vorherrschen, die ein eigenes, andere Auslegungsweisen ablehnendes Islamverständnis vertreten, bewusst die Isolation und grenzen sich von existierenden Organisationen ab (z.B. Salafiten18). Die Tatsache, dass dieses verbandsunabhängige Segment bislang nicht in Übersichten zum Islam in Deutschland einbezogen worden ist, hat dazu geführt, dass einerseits die Verbände ihren jeweiligen Repräsentanzanteil falsch eingeschätzt haben. In Untersuchungen zu Muslimen in Deutschland wurde andererseits ein relativ großer Bereich des gemeinschaftlichen religiösen Lebens von Muslimen, der teilweise die neuere Zuwanderung und die neue Generation deut-
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Den Prozess der religiösen Etablierung der Muslime in der BRD stellt Lehmann (2004) anhand von Phasen dar. Eine aktive muslimische Gruppierung, die ein an saudi-arabischen Gelehrten orientiertes, orthodoxes Verständnis des Islam vertritt und verbreitet. (Dantschke 2007)
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scher Muslime qua Geburt widerspiegelt, außer Acht gelassen. Dieser Bereich ist durch eine große Fluktuation gekennzeichnet und liegt nach wie vor im Dunkeln. 6
Anteil an Muslimen mit Bezug zur religiösen Gemeinde
Die im Rahmen der Bestandsaufnahme religiöser Gemeinschaften erhobenen Zahlen weisen darauf hin, dass überdurchschnittlich viele Anhänger islamischen Glaubens in NRW gemeinschaftlich-religiös aktiv sind. So weisen über 50% der unter der Rubrik „Islam“ aufgenommenen Glaubensanhänger in NRW einen mehr oder weniger intensiven Bezug zu einer der erfassten religiösen Gemeinden auf. Die Ermittlung dieser Zahl der Muslime mit Gemeindebezug in Deutschland erfolgt in Anbetracht der religiös-soziologischen Eigenart des Islam, die sich ganz wesentlich von kirchlich geordneter Religion unterscheidet. Sie ergibt sich aus der Diskussion der Frage nach Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, die sich nicht nur im Falle der muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland als problematisch darstellt.19 Zugehörigkeit zu muslimischen Organisationen und die soziologische Eigenart des Islam Da der Islam zu jenen Religionen zählt, die keine mit christlichen Kirchen vergleichbare religiöse Instanz kennen, hat sich in Anpassung an die Gegebenheiten der deutschen Organisationsgesellschaft und die Regelungen aus dem Religionsverfassungsrecht das islamische Gemeinschaftsleben hierzulande überwiegend in eingetragenen Vereinen organisiert, die sich zum großen Teil zu Dachverbänden zusammengeschlossen haben. Die Organisationsformen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben, weisen jedoch keine sakralen Züge auf, wie es in der Kirchenlehre der Fall ist (Kirche als Leib Christi). Allerdings hat auch keine religiöse Vereinigung des sunnitischen und schiitischen Islam bislang die juristische Anerkennung als Religionsgemeinschaft oder als Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangt. 19
Die Frage der Mitgliedschaft bildete bei allen Religionsgemeinschaften ein zentrales Problem. Die Erfassungsschwierigkeiten beginnen bei Gemeinschaften, die zwar eine faktische Zugehörigkeit kennen, sie aber nicht über eine formale Mitgliedschaft formalisieren (etwa: Islam oder orthodoxe Kirchen). Bei anderen (v.a. christliche Großkirchen) sagt die formale Zugehörigkeit sehr wenig über das faktische religiöse Engagement aus. Aufgrund des Unvermögens, die organisatorischen Differenzen zwischen den Religionsgemeinschaften zu harmonisieren, wurden unterschiedliche Zugehörigkeitsverständnisse bei den Erhebungen berücksichtigt. (Hero/Krech/ Zander 2008: 20)
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Dementsprechend sind muslimische Gemeinden hierzulande zwar überwiegend als Vereine im Sinne des deutschen Vereinsrechts eingetragen und haben sich zum großen Teil zu Verbänden zusammengeschlossen. Auf diese Rechtsund Organisationsform, die unter anderem eine Mindestanzahl an Vereinsmitgliedern erfordert und sich prinzipiell über Spenden und Mitgliedsbeiträge am Leben erhält, wurde als Notlösung oder als Ausschöpfung der gegebenen rechtlichen Möglichkeiten des religiösen Zusammenschlusses zurückgegriffen. Untersuchungen zu muslimischen Organisationen stimmen vor diesem Hintergrund darüber überein, dass die Anzahl der formell eingetragenen Mitglieder der Vereine keine Aussagekraft hinsichtlich der faktischen Zugehörigkeit oder der Stärke des Gemeindelebens besitzt. (Z.B. Lemmen 2000, Halm 2008) Damit zeichnen sich sämtliche sunnitische und schiitische Vereine dadurch aus, dass im Vergleich zu den tatsächlichen Besuchern nur wenige Muslime eingetragene Mitglieder sind. Angesichts dieser Tatsache wurde im Rahmen des Pluralismus-Projekts neben der Ermittlung der formalen Mitgliedschaft versucht, die faktische Frequentierung zum einen über die Zahl der regelmäßigen Besucher und zum anderen über die Zahl des weiteren „Besucherkreises“ zu quantifizieren.20 Wie problematisch die Ermittlung einer „Mitgliedschaft“ und die Definition des Nutzerkreises einer muslimischen Gemeinde ist und welche Einschränkungen sich daraus in der Aussagekraft ergeben, zeigt sich im Verlauf der Datenerhebung: 1. Formale Mitgliedschaft: So eindeutig bestimmbar, wie es scheint, ist die Zahl der formalen Mitglieder nicht. So herrscht in den muslimischen Gemeinden hinsichtlich der Mitgliederzahl nicht selten Unklarheit. Einige Vereine unterscheiden eingetragene Mitglieder in zahlend und nicht-zahlend. Außerdem wird gelegentlich angegeben, dass es zahlende Mitglieder gibt, die nicht als solche in der offiziellen Liste namentlich genannt werden wollen und daher nicht verzeichnet sind.21 In diesen Fällen wurde die Gesamtzahl der dem Moscheeverein 20
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Dies ist aufgrund der Anlage der Studie geschehen, um den Vergleich zur Anhängerschaft der Großkirchen und zu anderen Religionsgemeinschaften ziehen zu können. Die aggregierte Schätzung der maximalen Besucherzahlen (z.B. an besonderen Anlässen) wurde als vergleichbare Bezugsgröße herangezogen. Diese drückt jegliche Art der Gemeinschaftsbindung (sporadische, regelmäßige und fördernde) aus. Bei sunnitischen und schiitischen Muslimen wurde diese Zahl verdoppelt, um die zugehörigen Frauen mitzurechnen. Bei Aleviten und Sufi-Gruppen wurde die Anzahl der Teilnehmer/innen an großen Veranstaltungen ermittelt. Hier sind Frauen nach Aussagen der Gemeinden zu etwa 40-50% vertreten. Bei der Ahmadiyya gibt es nur eine Angabe zur Mitgliedschaft, nämlich die der festen Gruppe, in der auch Anhängerinnen mit inbegriffen sind. Dies ist beispielsweise in Fällen von unter Beobachtung stehenden Gemeinschaften der Fall, in Fällen, wo die Verbandszentrale zur Mitgliedschaft anregt, den Gemeindemitgliedern jedoch die finanziellen Mittel zur Zahlung der Beiträge fehlen oder etwa aus Gründen der Frömmigkeit, sofern eine Unterstützung der Moschee als individuell-privater Glaubensakt angesehen wird.
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bekannten zahlenden und nicht zahlenden Mitglieder genommen. Bei allen sunnitischen und schiitischen Gemeinden liegen die Mitgliedszahlen weit unter den Besucherzahlen und klammern die Zugehörigkeit von Frauen und Kindern sowie von Personen, die keine finanzielle Unterstützung aufbringen können, in der Regel aus. 2. Regelmäßige Frequentierung: Die Frage nach der regelmäßigen Besucherzahl, die sich aus der Summe der geschätzten Zahl an Freitagsgebetsbesucher/innen und der wöchentlichen Kursbesucher/innen zusammenstellt, zieht folgende Probleme nach sich: Erstens handelt es sich hier um eine Schätzung. Insbesondere die Anzahl der Frauen, die sich in der überwiegenden Zahl der Moscheen in eigenen Frauenräumen versammeln, wird sehr willkürlich veranschlagt, wobei sie tendenziell unterschätzt wird, da den Männern kein Zugang zu den Räumlichkeiten gewährt wird und eine Ansprechpartnerin nur selten zur Verfügung steht. Ein Teil von Gemeindemitgliedern, die aufgrund ihrer Berufe nicht am Freitagsgebet teilnehmen, sich jedoch der Gemeinde zugehörig fühlen können, ist zudem nicht in den Schätzungen inbegriffen. Andererseits kommen einige zu Freitagsgebeten in eine Moschee, obschon sie sich nicht als Teil der Gemeinde verstehen. 3) Nutzerkreis/Besucherkreis: Zur Erfassung des erweiterten Besucherkreises wurde nach den regelmäßigen und sporadischen Besuchern insgesamt gefragt. Als Anhaltspunkt ist die Frage nach der Teilnahmezahl an besonderen religiösen Ereignissen, wie etwa am Festgebet, gestellt worden, wobei oftmals Hinweise seitens der Befragten darauf folgen, dass Frauen und Kinder aus Platzgründen oder in manchen Fällen aufgrund bestimmter religiöser Auffassungen nicht an solchen Veranstaltungen teilnehmen. Jede der drei Quantifizierungsmöglichkeiten einer Art Anhängerschaft zeigt damit Grenzen in ihrer Aussagekraft auf und führt die Unwegsamkeit vor Augen, die sich bei der Entwicklung von Verfahren zur zahlengestützten Bestimmung von „Zugehörigkeit“ zu muslimischen Organisationen ergibt. Diese Grenzen sind jedoch nicht als Hindernis zur Verwendung der jeweils erhobenen Werte zu betrachten. Vielmehr sollte die Aussagekraft der jeweiligen Zahl zur Gewichtung der einzelnen Organisationen und damit in der Diskussion der Frage nach der Repräsentanz ins Gedächtnis gerufen werden. Im folgenden Abschnitt wird ein Überblick über das islamische Feld in NRW präsentiert, der insbesondere die Vertretungsanteile der Organisationen herausstellt. Die Vertretungsanteile werden in Anbetracht zweier Bezugsgrößen vorgenommen (Muslime in NRW insgesamt / gemeinschaftsreligiös aktive Mus-
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lime in NRW) und unterscheiden sich je nachdem ob sie auf Grundlage der Zahl der formalen Mitglieder oder der gesamten Besucherzahl („Nutzerkreis“) aufgezeigt werden. 7
Frequentierungsgrad muslimischer Organisationen
Über die Daten zu NRW lassen sich die einzelnen muslimischen Verbände auf der Basis verschiedener Datenangaben vergleichend darstellen. Aus der komparativen Betrachtung der Anzahl ihrer Gemeinden, der Zahl ihrer formalen Mitglieder und schließlich der Besucherzahlen lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ziehen. Abbildung 4: Anzahl der erfassten Gemeindebesucher pro Verband an den in NRW lebenden Muslimen insgesamt
Die Hälfte der Muslime in NRW nutzt den Erhebungen zufolge keine der erfassten Gemeinschaften oder Gruppen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass dieser Anteil seinen Glauben außerhalb von Moscheegemeinden individuell oder möglicherweise innerhalb anderer, bisher nicht bekannter Gruppierungen, gemeinschaftlich praktiziert. Zu den nicht vergemeinschafteten Muslimen gehören darüber hinaus die religiös inaktiven Glaubensanhänger. Die andere Hälfte steht
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jedoch sehr wohl in Verbindung mit einer der hier erfassten Glaubensgemeinschaften. Davon ist der überwiegende Teil in einer verbandszugehörigen Gemeinde engagiert. Die verteilen sich zumeist auf Gemeinden türkisch-sunnitischer Verbände. Abbildung 5: Anteile der Gemeinschaften und Organisationen an Muslimen mit Gemeindebezug in NRW
Was die organisatorische Anbindung der Muslime mit Gemeindebezug (Nutzer-/ Besucherkreis) anbelangt, so ist festzustellen, dass über die Hälfte von ihnen einen Bezug zu DITIB-Moscheen hat, was etwa ein Viertel aller in NRW lebenden Muslime ausmacht. Diese beachtliche Quote resultiert unter anderem aus der Tatsache, dass der DITIB die größeren Moscheegemeinden angehören. Viele ihrer Gemeinden sind zudem in ländlichen Regionen ohne Konkurrenz zu finden. Die Hälfte der formalen Mitgliedschaften bei sunnitischen Moscheen verbucht ebenso die DITIB, wobei die Verbands- und Moscheeleitungen die Moscheebesucher zur Annahme der Mitgliedschaft anregen. Allerdings sind etwa 17% der gemeinschaftlich engagierten Muslime in Gruppen und Gemeinden organisiert, die keinem Verband zugehören. Dieser Anteil an Besuchern von verbandsunabhängigen Gemeinden, die wie oben deutlich wurde, aufgrund ihrer Vielzahl das zweitgrößte Segment organisierten muslimischen Lebens bilden, zeigt an, dass die Gemeindegröße der meisten Gemeinden hier relativ klein ist. Insgesamt weisen diese Daten darauf hin, dass knapp über 80 Prozent der erfassten Muslime in NRW, die regelmäßig oder sporadisch eine Gemeinde aufsuchen, in Bezug zu einer verbandszugehörigen Gemeinschaft stehen. Noch
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größer, nämlich ca. 94 Prozent, fällt der Anteil derer aus, die formales Mitglied einer religiösen Gemeinde sind, die einem Verband angeschlossen ist. Dies deutet an, dass die formale Mitgliedschaft in verbandseigenen Gemeinden wohl häufiger angestrebt wird, als in eigenständigen Vereinigungen. Mit Blick auf den Islam in NRW tut sich insgesamt eine recht große, messbare Kluft zwischen formaler Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft und der tatsächlichen Frequentierung auf. Die Aussageschwäche der formalen Mitgliedszahl zur Gewichtung muslimischer Organisationen wird deutlich, wenn man das Verhältnis der erhobenen Anzahl der formalen Mitglieder zur gesamten Besucherzahl betrachtet: Während in NRW zusammengenommen nur etwa 10% über eine formale Mitgliedschaft mit muslimischen Gemeinden verbunden sind, liegt die faktische Frequentierung dieser Einrichtungen bei 50%. Muslimische Gemeinden verzeichnen damit im Durchschnitt schätzungsweise über fünf Mal so viele Besucher als sie formale Mitglieder haben. 8
Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland – Einheitsvertretung einer religiösen muslimischen Vielfalt
Mit den vorliegenden Daten zu muslimischen Gemeinden und deren Besuchern im Raum, rückt nunmehr die Bildung einer Einheitsvertretung aus verschiedenen Islamischen Organisationen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zum Koordinationsrat der Muslime haben sich die vier größten muslimischen Dachverbände im Jahre 2007 zusammengeschlossen, um damit dem organisierten Islam in Deutschland eine gemeinsame Instanz und eine einheitliche Stimme zu verleihen. Das Prinzip des Zusammenschlusses ist im islamischen Organisationsspektrum der BRD nicht neu: Auf Grundlage der in den 1980er Jahren zustande gekommenen Gesprächskreise sind ethnisch und organisatorisch übergreifende Verbünde entstanden, wie der ZMD und zuvor der Islamrat. Es scheint, als finde sich der Islam in Deutschland, der aufgrund verschiedener Faktoren eine plurale Erscheinungsform angenommen hat und sich strukturell diversifiziert hat, mit Hilfe solcher Koordinationsinstanzen zusammen. Gesprächsverbünde dieser Art lassen sich somit als ein wichtiges Instrument deuten, um Einheit in der Vielfalt zu schaffen. Damit kommen muslimische Funktionäre zudem der Erwartung nach, eine überschaubare Zahl an Ansprechpartnern für gesellschaftliche und politische Institutionen zur Verfügung zu stellen. Doch das neue Gremium wird von Anfang an von einer Skepsis hinsichtlich seiner Repräsentanztauglichkeit begleitet. So stellt etwa der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) unmittelbar nach seiner Gründung klar, dass der Koordinationsrat keinen Alleinvertretungsanspruch für alle in
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Deutschland lebenden Muslime habe (Islamkonferenz 2007). Aber auch von Seiten nicht-religiöser gesellschaftlicher Akteure kommt Widerspruch auf (Kritische Reaktionen 2007). So sieht etwa die Interessengemeinschaft der Deutschlandtürken, die „Türkische Gemeinde in Deutschland“, im KRM nicht die muslimische Religionsadresse, weil er ihrer Auffassung nach eine zu konservative Interpretation des Islam vornehme (Zentralrat 2007). Der KRM selbst bezieht auf der anderen Seite seinen Vertretungsanspruch aus der ethnischen und religiösen Vielfalt der in ihm vereinigten Verbände sowie aus der Vielzahl der ihnen zugehörigen Gemeinden. Seine Sprecher sind der Auffassung, dass die unter Muslimen vorherrschende Religiosität und die meisten religiösen Einrichtungen im KRM repräsentiert sind (Köhler 2007). Mit Blick auf das Zahlenmaterial der Erhebungen zum religiösen Pluralismus lassen sich einige Aussagen darüber treffen, inwieweit das religiöse Gemeinschaftsleben von Muslimen durch den KRM abgebildet wird. Abbildung 6: Dem KRM zugehörige Bundesverbände/Gemeinschaften in NRW und ihr Anteil an gemeinschaftlich eingebundenen Muslimen (Dunkel = im KRM; Hell = nicht im KRM)
Zunächst lässt sich feststellen, dass im KRM mit Ausnahme der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (ADTÜF) sämtliche
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sunnitische und schiitische Organisationen, die muslimische Gemeinden unterhalten, vertreten sind. Der alevitische Verband (AABF) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) sind indessen nicht Teil des KRM. Allerdings sind eine alevitische Gruppierung sowie der Sufismus über einzelne Mitglieder im Islamrat bzw. des ZMD im Koordinationsrat der Muslime präsent. Des Weiteren lassen sich im bevölkerungsreichsten Bundesland etwa 84 Prozent aller im islamischen Spektrum enthaltenen Gemeinden den Mitgliedsorganisationen des KRM zurechnen. Rund 78 Prozent der Muslime in NRW mit Nähe zu einer religiösen Gemeinde stehen überdies in Bezug zu einer Einrichtung, die einem Verband des KRM zugehört. Das bedeutet, dass nahezu 40% der dem Islam zugeschätzten Bürger in NRW die Infrastruktur und Angebote der im KRM vereinten Mitgliedsverbände gelegentlich oder regelmäßig zu religiösen Zwecken nutzen. Ob sich diese Muslime auch den Organisationen, deren Moscheen sie aufsuchen, zugehörig fühlen, ist mit solchen Zahlen freilich nicht geklärt – ebenso wenig, ob sie sich von deren Vertretern repräsentiert fühlen. Über den Zentralrat der Muslime und den Islamrat ist im KRM auch das Spektrum der ab den 1990er Jahren entstandenen, ethnisch gemischten und nichttürkischen Religionsgemeinschaften von Muslimen vertreten. Zwar fallen die beiden Dachverbände (ZMD und Islamrat) gemessen an den Besucherzahlen ihrer Mitgliedsorganisationen, wie auch an der Anzahl der ihnen zuzurechnenden Gemeinden nicht so sehr ins Gewicht wie die eigenständigen ethnisch-homogenen muslimischen Dachverbände (VIKZ und DITIB). Dagegen vermögen sie die muslimische Pluralität, organisatorische Neuformierungen und weitere religiöse Aktivitäten und Zentren einzufangen und diesen im KRM eine Stimme zu verschaffen. Im Übrigen bieten sie kleineren Gemeinschaften, nichttürkischen, wie auch türkischen Gruppen sowie nicht-sunnitischen Strömungen einen Raum und den Anschluss an den organisatorisch etablierten Islam. Damit lässt sich schließen, dass zwar nicht sämtliche kollektiv-religiösen Aktivitäten der Muslime in Deutschland in den KRM eingebunden sind. Jedoch haben es die großen Dachverbände geschafft, ein Gremium zu errichten, in dem der überwiegende Teil muslimischen Gemeindelebens eingebunden ist. Muslimische Organisationen, die bisher in der Öffentlichkeit separat zu religiösen Fragen Stellung bezogen haben und die religiöse Infrastruktur bereit stellen, sind im KRM nun mit gebündelter Stimme auf der Bundesebene vereint. Daraus lässt sich freilich kein Alleinvertretungsanspruch aller Muslime Deutschlands herleiten. Aber es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass dem KRM eine wichtige Bedeutung bei der inneren Stabilisierung des Islam zukommt – einer in religionssoziologischer Hinsicht wichtigen Aufgabe angesichts der internen Vielfalt.
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Muslimische (Un-)Einheit und politische Steuerungsfähigkeit
Die strukturelle Diversität des Islam in Deutschland ist einerseits – wie bereits dargelegt – der religionssoziologischen Eigenart des Islam zu verdanken. Andererseits ist sie der Migration von Muslimen aus unterschiedlichen Herkunftsländern verschuldet. Dieser Beitrag stellt im Ergebnis fünf Elemente heraus, die diese Vielfalt ausmachen:
Die verschiedenen Glaubensrichtungen, die mit den jeweiligen Gläubigen Einzug in Deutschland gefunden haben und sich unter anderem in Form von Gemeinschaften manifestieren. Die Bandbreite an Organisationen bzw. Verbände, die auf einen fortgeschrittenen Stand der Institutionalisierung des Islam hinweisen. Die Vielzahl an verbandsunabhängigen religiösen Gruppen und Gemeinden, die schwach oder nicht vernetzt nebeneinander bestehen und – wie verbandseigene Einrichtungen auch – die ethnische Heterogenität der Anhänger des Islam und diverse theologische Richtungen und Denktraditionen widerspiegeln. Eine mit relativ hohen Besucherzahlen und mit großem Gemeindebestand belegbare solide Verbandsbildung türkischstämmiger sunnitischer Muslime, die in Kooperationsstrukturen unter sich und mit weiteren muslimischen Organisationen gemündet ist. Eine Vielzahl an religiös motivierten Netzwerken, informellen Gruppen, Initiativen und Projekten von Muslimen, die neben den primär religiösen Gemeinschaften bestehen aber aus den oben genannten Gründen nicht mit in die hier vorliegenden Übersichtsdarstellungen einbezogen werden konnten.
Aus dieser Betrachtung heraus lässt sich die Landschaft des gemeinschaftlich organisierten Islam in Deutschland in einen formal strukturierten Teil des Verbandsislam unterteilen und in den Teil der nicht im Rahmen von Verbänden organisierten islamischen Gemeinschaftsaktivitäten (Abb.7). Diese Aktivitäten werden hier nochmals unterteilt in primär religiöse, die sich in islamischen Gemeinden (v.a. Moscheen) abspielen. Daneben haben sich religiös motivierte Vergemeinschaftungsformen entwickelt, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Verbände bestehen. In beiden Teilen (des verbandseigenen/verbandsunabhängigen religiösen Lebens) wirken unterschiedliche Kräfte miteinander und aufeinander, die eine Eigendynamik auslösen, die schwer zu erfassen und zu steuern ist. Innerhalb fester Organisationsstrukturen können sie jedoch möglicherweise moderierbar werden.
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Abbildung 7: Muslimische Organisationslandschaft
Von muslimischer Seite ist auf diese Vielfalt mit der zunehmenden Bildung von Zusammenschlüssen auf verschiedenen Ebenen – wie zuletzt mit dem KRM auf Bundesebene – reagiert worden. Das heißt, die Vertreter der etablierten Organisationen haben sich in einigen Bundesländern zusammengesetzt und Landesverbünde formiert. Auch auf lokaler Ebene sind in einzelnen Städten kommunale Zusammenschlüsse unterschiedlicher Gemeinden erwachsen, was jedoch nicht die Regel sondern eher die Ausnahme darstellt. (Chbib 2008) 10 Fazit Die muslimische Präsenz in Deutschland wirft heute weitaus mehr Fragen auf als früher. Sie stehen im Kontext der zunehmenden religiösen Pluralisierung Deutschlands als Zuwanderungsland. Dies bringt die Notwendigkeit mit sich, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens politisch und recht-
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lich zu gestalten. Der Bedarf an organisierten Ansprechpartnern aus dem Bereich außerhalb der beiden christlichen Großkirchen, der mittlerweile insgesamt rund 10% an der bundesdeutschen Bevölkerung ausmacht, ist daher gewachsen. (Krech 2008) Da Religionen nicht von außen her Strukturen aufgesetzt werden können, wird man jene Gebilde berücksichtigen müssen, die sich von innen heraus entwickelt haben und weiter entwickeln. Auch die in Deutschland lebenden Muslime sind auf die Bildung von Organisationen und auf Verbünde angewiesen, wenn es darum geht, ihre Anliegen in politische Entscheidungsprozesse einzubringen und sich mit anderen gesellschaftlichen Einrichtungen auszutauschen. Diesem Organisationsimperativ haben sie sich gebeugt. Wenngleich es sich beim KRM nicht um ein auf allgemeinen Wahlen basierendes Repräsentanzgremium handelt, so erscheint es dennoch nicht sachdienlich, sein Vertretungsanliegen mit dem Verweis auf Mitgliedszahlen kurzerhand abzuqualifizieren. Der Rückgriff auf Mitgliedszahlen erweist sich angesichts ihrer begrenzten Aussagekraft als inadäquat zur Einschätzung des Repräsentanzanteils muslimischer Verbände. Auch andere Vorgehensweisen zur Quantifizierung von Zugehörigkeit, wie die der Erfassung von Besucherzahlen oder regelmäßiger Teilnehmerzahlen führen nicht zu einer sachgerechten Einschätzung des Repräsentanzanteils muslimischer Organisationen. Letztere liefern im Gegensatz zur Mitgliedszahl jedoch zumindest Hinweise auf den Einflussradius bzw. auf den Umfang der Bereitstellung religiöser Infrastruktur. Die vorliegenden Zahlen hierzu besagen, dass etwa vier Fünftel der Muslime in NRW mit religiösem Gemeinschaftsbezug Gemeinden nutzen, die dem KRM zuzurechnen sind. Dies entspricht ca. 40 Prozent der in NRW lebenden Muslime. Der überwiegende Teil der religiösen Infrastruktur des Islam in Deutschland (85 Prozent) wird im Übrigen von den Mitgliedsorganisationen des KRM bereitgestellt. Verschiedene, im islamischen Spektrum präsente Denkrichtungen und Glaubensauslegungen sind zudem in den Gemeinden vertreten, die mittelbar dem KRM zugehören. Damit ist eine große Bandbreite religiöser Traditionen, Auffassungen und Praktiken unter dem Dach des KRM indirekt vertreten. Diese datengestützte Darstellung des organisierten Islam, die dennoch den Teil der nicht primär religiös orientierten muslimischen Aktivitäten ausgeklammert, zeigt, wie wichtig es ist, sich im Umgang mit dem Islam eine Vorgehensweise anzueignen, die lang bestehende etablierte Strukturen anerkennt, die Dynamik innerislamischer Prozesse zur Kenntnis nimmt und an die Moderierungsversuche der innerislamischen Diversität seitens der Muslime anknüpft. Solange rechtliche und politische Strukturen nicht dafür angelegt sind, die außerhalb kirchlicher und nicht-kirchlicher Organisationen gelebte „unsichtbare Religion“ (Luckmann 1991) zu vergegenständlichen – und das ist im deutschen System bislang nicht vorgesehen –, ist eine Kooperation mit den bestehenden,
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von den Religionsgemeinschaften selbst entwickelten Repräsentationsgremien und kollektiven Akteuren in Religionsfragen unerlässlich. Der Versuch, individuelle Religionsauffassungen einer nicht organisierten muslimischen Mehrheit durch den Einbezug von Einzelakteuren, die als deren Repräsentanten deklariert werden, in das politische Feld einzubeziehen, um so zu Vereinbarungen zu religiösen und nichtreligiösen Fragen der Muslime in Deutschland zu gelangen, lässt sich vor diesem Hintergrund als politisch fragwürdig betrachten. Literatur Abdullah, Muhammad Salim, 1993: Was will der Islam in Deutschland? Gütersloh. Bundesministerium des Inneren, 2009: Drei Jahre Deutsche Islam Konferenz (DIK), 2006-2009, Berlin. Bundesministerium des Inneren, 2009a: Arbeitsprogramm der Deutschen Islamkonferenz. [URL: http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/PolitikGesellschaft/DtIslamKonferenz/ ArbeitsprogrammZusammensetzung/ArbeitsprogrammZusammensetzung_node.html] (zuletzt eingesehen 01.08. 2010) Chbib, Raida, 2008: Heimisch werden in Deutschland: Die religiöse Landschaft der Muslime im Wandel, in: Hero, Markus/Krech, Volkhard/Zander, Helmut (Hrsg.): Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen, Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn, 125-140. Dantschke, Claudia, 2007: Die muslimische Jugendszene. [URL: http://www.bpb.de/ themen/ZOEWPE,0,Die_muslimische_Jugendszene.html] (23.08.2010). Dortmunder Kontaktgruppe der Kirchen mit Moscheevereinen, 2001: Moscheen in Dortmund, Dortmund. Ebert, Roland, 2008: Islamischer Religionsunterricht – ein Fiasko, in: MIZ Materialien und Informationen zur Zeit 39 (4). Feindt-Riggers, Nils/Steinbach, Udo, 1997: Islamische Organisationen in Deutschland, Eine aktuelle Bestandsaufnahme und Analyse, Hamburg. Halm, Dirk, 2008: Der Islam als Diskursfeld, Wiesbaden. Hero, Markus/Krech, Volkhard/Zander, Helmut (Hrsg.), 2008: Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen, Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn. Heine, Peter, 1980: Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kehrer, Günter (Hrsg.): Zur Religionsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München, 77-92. Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands, 2010 [URL: http://www.igs-de.de/] (03.06.2010) Islamkonferenz, 2007: „Schäuble zufrieden – Muslime kritisch“ [URL: (http://www. focus.de/politik/deutschland/islamkonferenz_aid_55127.html] (zuletzt eingesehen 08.08.2010) Jonker, Gerdien, 2002: Eine Wellenlänge zu Gott: Der Verband der Islamischen Kulturzentren in Europa, Bielefeld.
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Repräsentationsprobleme bei der Deutschen Islam Konferenz
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Repräsentationsprobleme und Loyalitätskonflikte bei der Deutschen Islam Konferenz Repräsentationsprobleme bei der Deutschen Islam Konferenz
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Formen der Politisierung des Islam
Das Verhältnis von Islam und Politik hat schon immer großes Interesse geweckt. Es scheint, so das öffentliche Gemüt, eine eindeutige Sache zu sein, dass der Islam von seinem Wesen aus politisch sei. Die spiegelbildliche Antwort auf diese These, dass der Islam als Religion mit der Politik nichts zu tun hätte und schließlich lediglich politisch missbraucht, instrumentalisiert würde, liest sich allerdings ebenso leichtfertig wie apodiktisch. Löst man sich von derartigen Vorstellungen vom scheinbar eindeutigen Verhältnis zwischen Politik und Religion, was keineswegs alleine für den Islam gilt, so ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild. Ich möchte hier – nicht in systematischer Absicht – drei Exemplare aufgreifen, bei denen das Verhältnis zwischen Islam und Politik auf eine spezifische Weise thematisiert wird. 1) Zunächst einmal fällt die Politisierung des Islam durch die Muslime auf, nämlich der Gebrauch des Islam als eine machtvolle Ideologie zur politischen Mobilisierung. Hiermit ist allerdings mehr gemeint als eine bloße Instrumentalisierungsthese, die gewöhnlich besagt, dass das heile Wesen einer extrasozial verstandenen Religion für verwerfliche weltliche Zwecke illegitimerweise in Dienst genommen würde. Religion hatte aber schon immer mit der Welt zu tun. Gleichwohl zeigt sich Politisierung als ein historisches Phänomen. Der renommierte Islamwissenschaftler C. H. Becker (1910a) verlegt die Zeit der Politisierung weit zurück in die Anfänge des Islam, ohne jedoch eine Wesenseigenschaft daraus zu machen. Islam als Idee einer politischen Einheit aller Muslime – diese anfängliche Konzeption sei zwar nie aufgegeben worden; die Eroberungszüge der Araber sind jedoch nach dem bedeutsamsten Vertreter einer soziologisch aufgeklärten Islamwissenschaft mitnichten einfach als Entfaltung eines religiösen Wesenskerns zu verstehen.1 Eine weitere, für unsere Zeit folgenreiche 1
Für eine eingehende historische Darstellung s. auch Nagel 1981.
H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Aktualisierung dieses politischen Impulses zeichnet sich im Zuge des Kolonialismus im 18. Jahrhundert besonders deutlich ab und mündet später im Panislamismus zum Ende des 19. Jahrhunderts. (Schulze 1982) Mit der iranischen Revolution lebt schließlich die Politisierung des Islam durch die Muslime noch einmal auf, dessen Nachbeben noch lange nicht ausgestanden sind.2 2) Neben der intrinsischen, historisch spezifischen Politisierung des Islam durch die Muslime findet sich eine weitere Variante dieses Verhältnisses, und dessen offizielle Bezeichnung Islampolitik legt ein Zeugnis von diesem ambitiösen, vor allem geostrategisch unterlegten Unternehmen ab. Tatsächlich wurde die Islampolitik gegen Ende des 19. Jahrhunderts als ein strategisches Konzept zum Umgang der Kolonialmächte mit ihren muslimischen Untertanen und in Konkurrenz zueinander ausgearbeitet. Hier stechen neben England und Frankreich auch die Niederlande besonders hervor, zumal einer der führenden Köpfe der anhebenden Islamwissenschaft, Snouck Hurgronje (1915a), Wesentliches zur Konzeption der Islampolitik beigetragen hatte. Die Islampolitik wurde zeitgleich auch in Deutschland debattiert. (Hartmann 1910) Sie wurde einerseits mit Bezug auf die ökonomischen und demographischen Entwicklungen sowie die Ruhe und Ordnung in den Kolonien, andererseits in der intendierten Konkurrenz zur britischen und französischen Islampolitik als ein signifikanter Bestandteil der deutschen Kolonialpolitik konzipiert. Öffentlich ausgiebig debattiert wurde die Islampolitik vor allem auf den nationalen Kolonialkongressen von 1905 und 1910 in Berlin, partiell kontrovers zwischen Missionaren einerseits, die in der Islamisierung „kulturschädliche“ Effekte für deutsche Kolonien erblickten, und Becker (1910b), der entschieden auf die Einbeziehung des Islam insistierte, um allerdings in kulturpolitischer Hinsicht schlussendlich ebenfalls vor der fortschreitenden Islamisierung zu warnen. (Vgl. auch Hassing 1977) Schon damals kamen Konzepte wie Europäisierung des Islam vor, die gegenwärtig wieder als politische Ziele (so etwa der Euro-Islam) gesteckt werden. Die Islampolitik erreichte allerdings ihren Höhepunkt in „Jihad made in Germany“, so der Vorwurf von S. Hurgronje (1915b) gegen die deutsche Politik und Islamwissenschaft (vor allem gegen Becker), namentlich im, auf Andringen des deutschen Kaisers durch den türkischen Kalif-Sultan, erfolgten Aufruf zum heiligen Krieg gegen die EntenteMächte. (Heine 1984; Schwanitz 2003) 3) In das politische Regime des demokratischen Rechtsstaates eingebettet und geistesgeschichtlich von der Islampolitik des 19. und 20. Jahrhunderts völlig ab2
Die iranische Revolution ist hier als symbolischer Einschnitt genannt. Die Konzeption des Islam als Ideologie im 20. Jahrhundert fand dabei schon vorher und vielerorts statt. Unter anderen seien die Namen Seyyid Qutb und Maududi als geistige Väter einer solchen Politisierung zu nennen.
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gekoppelt steht als ein drittes historisches Experiment die Islamintegration unserer Gegenwart, die, als wollte man jede Assoziation vermeiden, bisher interessanterweise kaum mit dem spezifischen Begriff Islampolitik überschrieben wird.3 Ich lasse es hier mit dieser kurzen Skizze unterschiedlicher Exemplare der Islampolitik bewenden. Mein Interesse gilt der dritten Variante, nämlich der Islamintegration, in der gewissermaßen ein Druck dahingehend entsteht, dass sich der Islam auf eine spezifische Art und Weise, und zwar kontrolliert und in einer erwünschten Richtung, politisieren soll.4 Der Ausgangspunkt der gegenwärtigen Islamintegration ist die Feststellung, dass die Muslime nicht adäquat vertreten werden und die vordringlichste Aufgabe darin besteht, die Strukturen für diese Repräsentation zu schaffen, damit der Staat in einen Dialog5 mit den Muslimen treten kann. Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) ist der symbolisch höchst bedeutsame Akt dieser Islampolitik, die eigentlich schon länger, wenn auch ohne ein übergreifendes Dach, in Form von diversen fallgebundenen Regelungen praktisch existierte. Im vorliegenden Beitrag werde ich mich mit der ersten Phase der DIK befassen, die zwischen 2006 und 2009 stattgefunden hat. Dabei werde ich zunächst kurz erläutern, welche Bedeutungsebenen in der politischen Betrachtung des als selbstverständlich vorausgesetzten Islam impliziert sind (2). Dann werde ich der Behandlung der Repräsentationsfrage in der Debatte eine andere, meines Erachtens ebenfalls dringende Frage, nämlich, worin die Repräsentation stattfinden soll, vorschalten (3). Anschließend gehe ich kurz auf die Struktur der DIK ein, um die Breite der Themen darzulegen, mit denen sich die DIK beschäftigt hat (4). Von dort aus werde ich mich der Thematisierung der Loyalitätsfrage in der DIK zuwenden (5). Der Beitrag wird mit dem Schlusskapitel abgerundet (6).
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S. aber Peter 2008; für das aktuelle Konzept „Governance of Islam“ s. Maussen 2007; Jasch 2007. Selbstverständlich wird im öffentlichen Diskurs genau umgekehrt argumentiert, nämlich dass der Islam sich von der Politik befreien, und als Religion verstehen soll. Gewarnt wird vor einer spezifischen Form der Politisierung, die darauf abzielt, den Staatsapparat nach religiösen Regeln zu organisieren. Der Dialog als Diskursformat (Tezcan 2006; zum Kulturdialog vgl. Nassehi 2006) ist seinerseits ein geschichtliches Phänomen, das erst in den letzten Jahrzehnten öffentlich relevant geworden ist. Es ist kein Zufall, dass der vom christlich-islamischen Dialog inspirierte innenpolitische Dialog des Innenministeriums zeitlich zusammenfällt mit der außenpolitischen Dialoginitiative des Außenministeriums. (Epkenhans 2008)
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Levent Tezcan Die Bedeutungsebenen des Islam in der öffentlichen Debatte
Bevor wir die Frage stellen, wie die Muslime in den politischen Prozess einbezogen werden, sollte zunächst eine Differenzierung hinsichtlich des Begriffs des Islam vorgenommen werden. Denn wie die Repräsentationsfrage angegangen werden soll, hängt im Wesentlichen damit zusammen, was mit dem Islam gemeint ist. Ich möchte drei Bedeutungsdimensionen der Islamdefinition unterscheiden:6 a) Islam als kultische Angelegenheit: Islam gilt hier als Ausübung bestimmter Praktiken und Bekenntnis zu spezifischen Glaubenslehren.7 Er bezeichnet eine bestimmte Dimension der sozialen Existenz von Menschen. Wie Christen in Deutschland (meist) Deutsche sind, die einen Beruf und Hobbies haben, bestimmte politische Parteien wählen, Berufsverbänden angehören, so sind die Muslime ähnlicherweise Türken, Araber, Iraner (mit oder ohne Staatsangehörigkeit), Deutsche, die ebenfalls Beruf und Hobbies haben, sich ebenfalls auf unterschiedliche Weise politisch engagieren oder nicht engagieren usw. Sie gelten als Muslime bzw. kommen in ihrer muslimischen Existenz ins Spiel, sofern es um kultische Fragen geht (Beten/Gebetsräume, Religionsunterricht, Friedhofsplätze, Fasten etc.).8 b) Mit Islam werden zugleich bestimmte Organisationen assoziiert, die wie es nach der neueren religionssoziologischen Debatte heißt (so Casanova 2001), als Teil der Zivilgesellschaft operieren, ihre Forderungen stellen und mit der Politik verhandeln. Sie existieren wie andere (berufliche oder ethnische) Interessengruppen, bringen spezifische Forderungen auf die Agenda, konkurrieren dabei 6
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Bereits 1910 unternahm Becker eine Differenzierung, die ich hier auf meine Zwecke hin ein wenig modifiziere. Nach Beckers Aufteilung erscheint der Islam zunächst einmal als Religion (hier: Kultgemeinschaft); zweitens ist er eine politische Einheit (hier: Organisationen); drittens ist der Islam eine Zivilisation (hier: als Bevölkerung). (Becker 1910b) Ich sehe hier von dem Problem ab, dass die Bezeichnung Kultgemeinschaft keineswegs neutral ist. Als solche erlegt sie dem Bezeichneten eine bestimmte Daseinsform als die zulässige auf, mit der einige Mitglieder dieser Gemeinschaft mit Anspruch auf die Gestaltung aller Lebensbereiche durch die Religion nicht einverstanden sein werden. In Frankreich ist es zudem ein offizielles Konzept des staatlichen Umgangs mit Religion, womit auch die muslimische Gemeinschaft bezeichnet wird. Im türkischen Religionsregime ist mit Diyanet (Religionsbehörde) eine ähnliche Konstruktion vorgesehen, deren Aufgabenbereiche sich auf ibadet (Ritus), itikat (Glauben) und ahlak (Moral) beschränken, wobei die beiden anderen Dimensionen islamischer Religionstradition, nämlich muamelat (zivilrechtliche) und ukubat (strafrechtliche) als Bestimmungen ausgeschlossen werden. (Tezcan 2003) Diese Einschränkung islamischer Religiosität auf Diyanet (also die drei Dimensionen) war lange Zeit von der religiösen Opposition kritisiert worden. Dass die Individuen gegebenenfalls ihr Verhalten dennoch fromm an religiösen Geboten orientieren, widerspricht nicht diesem sozialen Tatbestand, der unabhängig von ihrer Praxis besteht.
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mit den nichtreligiösen Organisationen. Ihre Aktivität bezieht sich oft auf die Themen einer kultischen Gemeinschaft im oben genannten Sinne, beschränkt sich aber nicht darauf; sie sind im breiteren Sinne gesellschaftspolitisch aktiv und wollen dabei die muslimischen Migranten als muslimisches Kollektiv repräsentieren. Sie reagieren dabei auch auf die Integrationsforderung, indem sie sich darin positionieren. Inzwischen hat sich den religiösen Organisationen die Gruppe der „nichtorganisierten Muslime“ zugesellt, oder besser gesagt entgegengestellt, die wiederum mit der paradoxen Aufforderung konfrontiert ist, sich doch lieber organisieren zu müssen, damit der nichtorganisierte Islam der „schweigenden Mehrheit“ seine Stimme erhebe. c) Mit dem Islam wird schließlich in einem groben Rundumschlag die gesamte Population von Menschen mit muslimischem Glauben bezeichnet, die dann nicht mehr neben anderen Eigenschaften wie Klasse, Geschlecht, Ethnie auch eine religiöse Zugehörigkeit besitzen, sondern nunmehr von dieser religiösen Zugehörigkeit aus definiert werden.9 Diese Entwicklung vollzieht sich seit einigen Jahren in europäischen Ländern und ist kompatibel mit der Politik muslimischer Organisationen. Regierungen setzen, um die Probleme der multikulturellen Gesellschaft (mit spezifischem Fokus auf Sicherheit) anzugehen, immer stärker auf die religiöse Identität, um qua religiösen Organisationen für Ordnung im Migrantenmilieu zu sorgen, was, wie im Falle der DIK, über die Regelung kultischer Angelegenheiten hinaus geht. Als Form dieser neuen Orientierung zeichnet sich der Regierungsdialog ab, der sich derzeit in Europa in Programmen (Tezcan 2007) bzw. der Einrichtung nationaler Räte niederschlägt. (Silvestri 2005) 3
Repräsentation des Islam, aber worin?
In der Debatte über den Islam in Deutschland wie Europa lautet eine der zentralen Fragen: Wer soll die Muslime repräsentieren? Aus dieser Debatte sind kräftige Impulse ausgegangen, die schließlich zur Konstitution des Koordinationsrat der Muslime (KRM) geführt haben. Allerdings ist meiner Ansicht nach nicht alleine, ja auch nicht in erster Linie die Frage, wer die Muslime repräsentieren soll, von entscheidender Bedeutung. Viel essentieller scheint mir die bisher nicht gestellte Frage zu sein, worin die Muslime repräsentiert werden sollen. Diese Frage kann man deutlicher herausstellen: Wann werden die Muslime als Muslime repräsentiert? Sofern sie meist in normativer Hinsicht gestellt wird, ließe sie 9
So gesehen war die Islampolitik schon immer, wie Becker damals auf den Punkt brachte, zugleich eine Bevölkerungspolitik. Diese Bevölkerungsdimension wird in der gegenwärtigen Forschung noch immer nicht adäquat zur Kenntnis genommen.
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sich auch so formulieren: Wann sind die Muslime als Muslime zu repräsentieren? Im Sinne des Islam (a), also bei kultischen Angelegenheiten durch Organisationen (b), oder auch im Sinne einer Bevölkerung (c) durch Organisationen und „Nichtorganisierte“. In welcher Hinsicht, unter welchen Bedingungen ist es legitim, eine vielfältige Gruppe von Menschen, also Türken, Araber, Perser etc. als eine primär religiöse Gruppe zu adressieren und was sind Effekte einer derartigen Identitätszuschreibung, die sowohl von Akteuren selbst (z.B. muslimischen Organisationen) als auch von außen (wie mit der Konstruktion der DIK) vorgenommen wird? Diese Frage hat jedenfalls die DIK stets heimgesucht, wurde jedoch bisher nicht überzeugend beantwortet. Die DIK wollte gleichzeitig den Islam als Religion und die muslimischen Migranten durch Religion integrieren. Sympthomatisch war in diesem Zusammenhang, dass die DIK partiell den Nationalen Integrationsplan (NIP) unter dem Etikett Islam verdoppelte.10 Nun möchte ich beide vorangegangenen Abschnitte, nämlich die Bedeutungsebenen des Islam und die Repräsentationsfrage zusammenbringen, indem ich verschiedene Ebenen der Repräsentation aufzeige. Dabei passe ich mich nur unfreiwillig der üblichen Redeweise an, den Islam / die Muslime als eine pauschale, nahezu quasi-rassische Kategorie zu verwenden. Die Macht des Diskurses, also aus den Migranten Muslime zu machen, ist allerdings enorm, und nur mit Staunen kann man zusehen, wie innerhalb eines kurzen Zeitraumes, spätestens seit dem 11. September Muslim zu der dominanten Bezeichnung für Migranten muslimischen Glaubens geworden ist. Meinem Widerstand gegen die pauschalisierende „Religionszumutung“ möchte ich gleichwohl dadurch Ausdruck verleihen, dass ich das Wort Muslime an den entsprechenden Stellen in Anführungszeichen setze.11 Die Repräsentationsfrage wird in den modernen Gesellschaften, grob gesehen, nach folgendem Schema behandelt: a) Berufliche Repräsentation der „Muslime“ erfolgt gewöhnlich in den Berufsverbänden bzw. Gewerkschaften etc. Sie findet entsprechend den Erfordernissen 10
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Das führte bei den AG-Sitzungen hin und wieder dazu, dass die Beobachter des NIP dezent, aber durchaus in kritischer Absicht, auf die Überlappungen hinwiesen. Bei der Diskussion über Repräsentation halte ich mich an dieser Stelle zunächst absichtlich an die sowohl der wissenschaftlichen Forschung als auch der politischen Debatte zugrunde liegende klassische Abbildtheorie, wonach das Bezeichnete durch den Bezeichnenden lediglich zum Ausdruck gebracht werde, ohne dass der Akt und das Medium der Repräsentation Mitkonstituent von dem Bezeichneten wären. Dieses Repräsentationskonzept wurde durch poststrukturalistische Ansätze erheblich erschüttert. Dabei wurde vor allem auf die performativen Effekte des Bezeichnens bzw. Repräsentierens auf das Repräsentierte hingewiesen. Konkret heißt es, dass die Repräsentation der Migranten als Muslime nicht einfach das authentische Wesen dieser Gruppe zum Ausdruck bringe, sondern sie erst überhaupt als dieses spezifische, muslimische Subjekt mitkonstituiert.
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des jeweiligen Systems in Gemeinschaft mit den Anderen und darum auch nicht spezifisch als Repräsentation der Muslime statt, selbst wenn dabei spezifische muslimische Bedürfnisse wie Gebetsräume, religiöse Feiertage, koscheres Essen in der Kantine etc. zum Ausdruck kommen sollten. Islam kommt im Sinne kultischer Praktiken ins Spiel. b) Politische Repräsentation der „Muslime“ hat ihren Ort weiterhin in Parteien oder anderen politischen Bewegungen.12 Auch wenn Parteien inzwischen ihre Migrantenmitglieder extra als Muslime ansprechen bzw. sich so bezeichnete Gruppen innerhalb der Parteien herausbilden, werden diese nicht einfach als Muslime repräsentiert, sondern als Bürger, die zusätzlich ihre Islamität als Besonderheit mitführen. Auch hier tritt der Islam primär im Sinne kultischer Angelegenheiten in Erscheinung. c) Religiöse Repräsentation der Muslime, also Erhebung von Ansprüchen, die vor allem die kultischen Angelegenheiten betreffen, ist eine weitere thematische Ebene, und diese wird nicht ausschließlich, aber primär durch religiöse Organisationen in Anspruch genommen, was wiederum durch die nicht-organisierten Muslime bestritten wird. Sofern das wesentliche Problem für die Politik darin bestehen sollte, den Islam als Religion zu institutionalisieren und damit symbolisch einzubeziehen,13 müsste sich die Repräsentation der Muslime als Muslime theoretisch auf den Fall c) beschränken. Dann könnten die Themen zwar weiterhin als genuin integrationspolitische Angelegenheiten wie z.B. islamischer Religionsunterricht, Moscheebau, Friedhöfe etc. verhandelt werden; aber sie beträfen lediglich die religiöse Dimension der sozialen Identität der Migranten. Und nur hier wären die Muslime als Objekt und Subjekt der Repräsentation primär Muslime.14 Allein, die soziale Praxis gehorcht nicht immer der Logik analytischer Unterscheidungen. Immerhin ist der Islam (sicher nicht nur er), wie schon exakt vor 12
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Kürzlich wurde Aygül Özkan (CDU) zur ersten Sozialministerin mit muslimischem Glauben (Landtag Niedersachsen) gekürt. „Symbolische Einbeziehung“ verwende ich im Sinne der Konzeption dieses Buches, also keineswegs notwendigerweise als ein Scheinakt. Ganz im Gegenteil, die symbolische Dimension des sozialen Handelns wird hier nicht als eine verzichtbare Beilage zur Hauptsache, sondern als wesentlicher Bestandteil verstanden. Ich spreche hier aus einer Außenperspektive, sozusagen aus der Perspektive der Gesellschaft, worin die Personen als Funktionsträger in Erscheinung treten. Dies steht nicht notwendigerweise im Widerspruch zum Umstand, dass das soziale Handeln der Einzelnen in anderen Bereichen / Systemen durchaus religiös motiviert bzw. durch eine religiös getragene Ethik imprägniert sein könnte. Das wäre aber jedermanns eigene Sache, systemische Anforderungen und religiöse Ideen in Einklang miteinander zu bringen.
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100 Jahren C. H. Becker konstatierte, nicht nur ein religiöses, sondern auch ein „Bevölkerungsproblem“ für Europäer und deshalb auch Gegenstand von gouvernementalen Strategien.15 Das ist es, möchte ich mutmaßen, was zu der spezifischen Konstruktion der DIK geführt hat. Nicht alleine das Recht, das die Religionsfreiheit nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung den muslimischen Verbänden und den Muslimen überhaupt verspricht, dient hier als der regulative Mechanismus, sondern es sind zugleich die Techniken des Regierens, die nicht im Recht aufgehen und eigenen Rationalitäten folgen. Wir werden im Abschnitt Koran und Grundgesetz die konträren Positionen kennenlernen, wie die Akteure sich um die Frage Recht / Regieren positionieren, indem sie den projektierten Wertekonsens jeweils entweder auf ein Bekenntnis zum Grundgesetz zu begrenzen suchen (KRM-Verbände) oder über eine „formale Treue“ hinaus auch lebenspraktisch wirksam sehen wollen (Individualisten und teilweise die Regierungsvertreter). Die erklärten Motive, Struktur der Arbeitsgruppen und die Ergebnisse legen es jedenfalls deutlich nahe, dass die DIK durchaus von der über eine religionsrechtliche Regulation hinausgehenden Idee getragen wurde, die Risiken und Potenziale der muslimischen Bevölkerung zu ermitteln, um die Migrantenpopulation qua Religion regierbar zu machen. Im Kontext der Repräsentation des Islam sollten daher nicht alleine die sogenannten klassischen Religionsfragen behandelt werden, sondern auch Wirtschaft, Bildung und Sicherheitsfragen. Dementsprechend sah die Struktur der DIK aus. 4
Struktur und Ergebnisse der DIK
Die Struktur der Deutschen Islam Konferenz bestand in der ersten Phase von 2006 bis 2009 aus zwei Gremien.16 Das repräsentative Gremium war das Plenum. Es setzte sich aus 15 staatlichen Vertretern und 15 muslimischen Vertretern zusammen, wovon ein Drittel für die Organisationen reserviert war.17 Das Ple15
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Religion und Gouvernementalität (ein auf Michel Foucault zurückgehendes Konzept) habe ich anderswo behandelt. (Tezcan 2007) Frank Peter (2009) hat zeitgleich eine eingehende Problematisierung der DIK als politische Technologie im Sinne von Foucault vorgelegt. Unsere Überlegungen überlappen sich inhaltlich wie konzeptionell in vielen Punkten miteinander. Für diese und unten folgende Informationen s. Deutsche Islam Konferenz 2009. Diese sind die vier Dachverbände der Moscheevereine Türkisch-Islamische Union e. V. (DITIB), Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V. (ZMD), Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e. V. (IRD) und Verband islamischer Kulturzentren e. V. (VIKZ) zum einen und Alevitische Gemeinde Deutschland e. V. (AABF) zum anderen. Der IRD und der ZMD nehmen an der zweiten Runde nicht teil, während die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland e.V. und der Zentralrat der Marokkaner in Deutschland e.V. sowie die Organisation der säkularen Türken Türkische Gemeinde Deutschland hinzugekommen sind. Die individuellen Teilnehmer der ersten Phase sind in der zweiten Phase durch neue Vertreter ersetzt worden.
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num kam auf der Grundlage der Ergebnisse, die in den Arbeitsgruppen ausgearbeitet wurden, insgesamt viermal zusammen. Die Arbeitsgruppen setzten sich ebenfalls zusammen aus staatlichen Vertretern, muslimischen Vertretern und wissenschaftlichen Teilnehmern. Folgende Arbeitsgruppen haben zur Arbeit der DIK beigetragen: AG 1. Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens: Hier wurde davon ausgegangen, dass das gesellschaftliche Zusammenleben auf Werteintegration basiert.18 Die Debatte drehte sich meist um die Frage nach einem „echten Bekenntnis zur deutschen Rechts- und Werteordnung“. Wie dies gesichert werden sollte, war dem Autor dieses Aufsatzes, der ebenfalls wissenschaftlicher Teilnehmer an der AG war, nach drei Jahren noch immer nicht klar geworden. Vielleicht kam es nicht so sehr auf den Inhalt des Wertekonsenses an als vielmehr auf die Einbindung der Verbände in ein Regime des unaufhörlichen Sich-bekennen-müssen, mit dem sie ihre Berechenbarkeit unter Beweis stellen können.19 Die Ergebnisse der AG hatten denn auch so gesehen eher den Charakter einer Präambel und ihre praktischen Empfehlungen hätten genauso gut auch beim Nationalen Integrationsgipfel eingereicht werden können. Der IRD erklärte gleichwohl, dass er die Ergebnisse („die Stellungnahme der Muslime“) nicht trägt, da hier u.a. die Religiosität der Muslime primär als integrationshemmend problematisiert werde. Auch fand er, dass die Kritik der muslimischen Verbände an der Konzeption und Zusammensetzung der AG in den Ergebnissen nicht wiedergegeben werde. AG 2. Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis: Hier wurden religionspraktische Fragen wie Islamunterricht in den staatlichen Schulen, Lösungsvorschläge zu Konflikten wie beim co-edukativen Schwimmunterricht, Sexualunterricht, Klassenfahrten, Moscheebauten usw. behandelt und entsprechend Empfehlungen entwickelt. Es waren allesamt Fragen der „religiösen Repräsentation der Muslime“, ohne dass die gesamte soziale Existenz der muslimischen Migranten unter Religionszugehörigkeit verhandelt werden musste. Die Ergebnisse wurden von den meisten muslimischen Teilnehmern getragen.
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Dabei hatte Soziologe Hartmut Esser, der wissenschaftliche Teilnehmer der AG 1, in seinem Vortrag genau die Gegenthese vertreten, dass die moderne Gesellschaft sich eben nicht über Werte integriere. Auf ihn beriefen sich fortan die Moscheevertreter, obwohl sie sonst ihre gesellschaftliche Unentbehrlichkeit genau auf die Funktion bauen, für Werte und Normen zu sorgen, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft von essenzieller Bedeutung seien. Damit meine ich keineswegs, dass dies die Absicht der Initiatoren gewesen sei. Mir geht es hiermit um den Mechanismus selbst, der eine Eigendynamik entwickelt und sich folglich auch nicht in den Absichten der Teilnehmer erschöpft.
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AG 3. Wirtschaft und Medien als Brücke: Hier sollten die Leistungen der Medien und Wirtschaft zur Integration der Muslime ausgelotet werden. Es handelte sich um Themen wie Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt etc., die zuvor als „soziale Probleme der Gastarbeiter / Ausländer / Türken / Migranten“ behandelt wurden. Der einzige islamspezifische Punkt betrifft das Bild des Islam in den Medien. Das Repräsentationsverständnis, das diese AG trug, ist daher die Repräsentation der Muslime als Bevölkerung, die zuvor ethnisch definiert war und nun unter dem Begriff Muslime breiter gefasst wurde. Die Ergebnisse dieser AG wurden von allen Beteiligten geteilt. Gesprächskreis Sicherheit und Islamismus: Diese Gruppe, die formell nicht den Status einer AG hatte, befasste sich mit dem Thema Sicherheit, allerdings nur gegen diejenigen Gefahren, die vom Islamismus gegen Deutschland ausgingen. Mögliche, nicht aus dem islamischen Bereich ausgehende Gefährdungen gegen die Muslime oder Ausländerfeindlichkeit tauchten daher auch nicht im Ergebnisbericht auf. Wie die AG 2 kann auch diese AG durchaus konkrete Ergebnisse wie die Einrichtung eines Clearing-Stelle vorlegen, die als ein zwischen Moscheen und den staatlichen Stellen installiertes Frühwarnsystem gegen terroristische Entwicklungen funktionieren soll. Auch hier meldete der IRD Kritik an, die Muslime in Deutschland würden hier unter Generalverdacht gestellt. Wie wir sehen, handelte es sich bei der symbolischen Einbeziehung des Islam in Form der DIK nicht einfach um die Fragen der Religionspraxis. Vielmehr handelte es sich um die Loyalität der muslimischen Bürger, also um ihre Berechenbarkeit bei der Hinführung in das Repräsentationsregime.20 Bei den Verhandlungen wurde eigentlich auch nie ein Hehl daraus gemacht, dass es sich nicht einfach um eine religionsrechtliche Frage handelt (z.B. auf der 1. Sitzung der AG 1), die man mit der Abschließung eines Staatsvertrages geregelt hätte. Die ursprüngliche Zielsetzung, die bald zurückgeschraubt wurde, lautete gar überaus ehrgeizig: Das Innenministerium strebte im Namen der Regierung einen Gesellschaftsvertrag mit den Muslimen an. Ein Vertrag zeichnet sich dadurch aus, dass mit ihm ein spezifisches Verhältnis eingegangen wird, in dem die Vertragspartner „verbindliche Vereinbarungen“ eingehen. Zwei Aspekte will ich hervorheben: 1. Vereinbarungen kann man mit erkennbaren Gruppen treffen, die zudem über die erforderliche Legitimität verfügen, als Muslime im Namen des Islam mit der Regierung zu verhandeln. Folglich war es auch mitunter ein wichtiges Ziel der Politik, die Verbände zur Herausbildung eines repräsentativen muslimischen 20
Wobei die Totalisierung ihrer muslimischen Identität erst recht im Rahmen einer solchen politischen Adressierung gefördert wurde.
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Körpers zu stimulieren. Insofern war von Anfang an in der symbolischen Einbeziehung mitbedacht worden, dass dadurch materielle Erneuerungen in der muslimischen Milieustruktur angeregt werden sollten. Während der DIK-Verhandlungen, im April 2007, formierte sich tatsächlich der Koordinationsrat der Muslime (KRM) als gemeinsame Initiative von der DITIB, dem ZMD, dem IRD und dem VIKZ. Im Gegenzug formierte sich aber auch, wenn auch etwas diffus, die Gruppe der „nichtorganisierten Muslime“, wobei ihr Gruppencharakter nicht die organisatorische Konsistenz aufwies, die die Dachverbände und deren Zusammenschluss, KRM, besitzen. 2. Die Regierungsseite befand sich beim ganzen Unternehmen in einer Zwickmühle. Sie wollte einerseits vornehmlich das Milieu von denjenigen konservativen Muslimen erreichen, deren kulturelle Orientierung mehr oder weniger an den verschiedenen Konfliktthemen wie Kopftuch oder der Nichtteilnahme am Sportund Schwimmunterricht, an der Klassenfahrt etc. ausschlaggebend ist. Es ist auch dieses Milieu, bei dem eher ein geeigneter Boden für eine religiös motivierte Gewaltorientierung vermutet wird.21 Das Ministerium verspricht sich hier Moderation durch die Verbände, die überhaupt Zugang zu diesen Milieus haben. Andererseits ist es gerade die islamisch-konservative Orientierung dieser Verbände, die eben für diese Praktiken verantwortlich gemacht wird. Also könnte, so die Befürchtung, die Einbeziehung dieser Gruppen und ihre Aufwertung als Repräsentanten des Islam genau die Produktion dieser Kultur fördern.22 Somit erweist sich das Kontrollinteresse der Regierung deutlich mehr zu sein als die pure polizeiliche Kontrolle. Die angepasste Wertorientierung kann man als Gewähr für eine effektive Kontrolle betrachten.23 Die Organisatoren der DIK versuchten diesem Problem durch eine organisatorische Lösung Abhilfe zu leisten. Aufgrund der spezifischen institutionellen 21
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In diese Richtung weisen auch die Ergebnisse der von Brettfeld und Wetzels im Auftrag des Bundesinnenministeriums durchgeführten Studie „Muslime in Deutschland“ (2007: insb. 328). Ähnliche Ergebnisse brachte die Studie von Heitmeyer/Müller/Schröder (1997). Das war ebenfalls die Befürchtung, zugleich der Vorwurf von den Individualisten und dem alevitischen Verband. Da der Begriff der Kontrolle zumindest in diesem Kontext meist negativ konnotiert ist, sehe ich hier eine Erläuterung als angebracht an: Aus der Sicht des Staates ist die Kontrolle ein legitimes Interesse, das zum politischen Alltag auch in anderen Bereichen gehört. Die übliche negative Tadelung des Kontrollinteresses rührt aus der falschen Gegenüberstellung der Kontrolle zur (Religions-)Freiheit, wonach diesseits der Kontrolle die unbelastete Freiheit des authentischen Glaubens aufwartete. Das Kontrollinteresse besteht schließlich nicht nur auf der Seite des Staates, sondern auch auf der Seite der Organisationen, die zudem noch wie im Falle der Muslime partiell auch mit dem Kontrollinteresse anderer Staaten oder transnationaler Bewegungen verbunden sind.
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Kultur des Islam, in der der Heilserwerb der Gläubigen nicht unmittelbar an eine organisatorisch aparte Institution wie die Kirche gebunden ist, weisen selbst die Moscheeverbände, die als Unikum aus den Bedingungen des europäischen Repräsentationsregimes entstanden sind, wenige Mitglieder auf. Nach einer von der DIK selbst in Auftrag gegebenen Studie ist etwa ein Viertel aller Muslime Mitglied in muslimischen Verbänden. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009: 167ff) Nur die DITIB ist dabei einem relativ großen Anteil aller Muslime (44%) überhaupt bekannt, die anderen kommen nicht über 26% hinaus. Da diese Verhältnisse bereits vor der DIK mehr oder weniger, wenn auch ohne gesicherte Erkenntnisse, bekannt waren, hat das Innenministerium, der Hausherr der DIK, sich für die damalige Struktur entschieden: Demnach besetzen die Verbände ein Drittel der Sitze auf dem Plenum (dem Vertretungsorgan der DIK in der Öffentlichkeit), während der Rest den nicht-organisierten Muslimen zugesprochen wurde. (Ausführlich s. Deutsche Islam Konferenz 2009) Die Überlegung scheint recht einfach zu sein: Die organisierten Muslime werden von den Organisationen vertreten, die nicht-organisierte Mehrheit soll von den nichtorganisierten Individuen vertreten werden. Dabei besteht die Schwierigkeit darin, dass, während die Beziehung zwischen den Mitgliedern und ihren religiösen Organisationen überprüfbar ist, die Beziehung der nicht-organisierten Muslime (auch genannt: Individualisten) zu der „schweigenden“ breiten Masse der „nichtorganisierten Muslime“ nur auf Mutmaßung basieren kann.24 Besonderes Aufsehen erregten unter diesen vor allem Teilnehmerinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates, die in der Öffentlichkeit eigentlich lange als „Islamkritikerinnen“ beehrt worden waren.25 Die Regierungsinitiative, die eine unzulässige Form der politischen Religion nicht fördern will, regte im Grunde zu einer anderen Art Politisierung von Religion an. Wenn diese Mehrheit vertreten werden will, müsse sie sich als Muslime zu Wort melden, also sich irgendwie organisatorisch verfassen und damit den Schweigestatus verlassen. Seyran Ates selbst hat es in ihrer Rede auf dem Abschlussplenum genauso verstanden und angekündigt, dass die Nicht-organisierten, so paradox es auch klingen mag, sich doch organisieren müssen. „Die säkularen Muslime sind aber nicht organisiert. Das stimmt! Weil es dem Verständnis, dem Selbstverständnis der säkularen, fortschrittlichen, modernen, zeitgemäßen – wie auch immer sie sich bezeichnen oder bezeichnet werden – Muslime und Musliminnen widerspricht. (…) Nichtsdestotrotz sehen immer mehr säkulare 24
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Navid Kermani, Plenumsteilnehmer der ersten Runde der DIK, drückte es so aus: „Wir sind nun einmal von niemandem gewählt oder sonst wie legitimiert. Unser Mandat war ein geborgtes und provisorisches.“ (Frankfurter Rundschau, Zugriff am 30.03.2010) Schriftsteller Feridun Zaimoglu trat demonstrativ unter Protest zurück, da keine muslimische Frau mit Kopftuch vertreten war.
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Muslime, dass sich daran etwas ändern muss. Denn der Islam kann und darf nicht den existierenden Verbänden überlassen werden. (…).26“
Diese Konfrontation hat weitgehend die Arbeit der DIK bestimmt. Die offenen Konflikte verliefen meistens zwischen Teilen der Individualisten einerseits und den Moscheeverbänden andererseits, wobei das Ministerium bisweilen in die Rolle geriet, zwischen den muslimischen Gruppen zu moderieren. Bei diesen Konflikten ging es thematisch meistens darum, wem gegenüber denn die KRMVerbände wirklich loyal seien. Dafür gab es verschiedene Linien um die Loyalitätsfrage. Ich werde den bekanntesten und wichtigsten davon hier kurz ansprechen: Loyalität zum Koran und/oder Grundgesetz. 5
Aspekte des Loyalitätsverdachts
Es ist äußerst schwierig, auf der Gegenstandsebene einen direkten Zugang zur Loyalitätsproblematik zu bekommen.27 Dafür müsste vorab bestimmbar sein, wann die Loyalität tatsächlich bekundet, wann sie verweigert wird. Sicher gibt es Situationen, wo dies relativ eindeutig ist. Jedenfalls kann man das in den Analysen von A. O. Hirschman beobachten, der das Begriffspaar Abwanderung (exit) und Widerspruch (voice) konzipiert hatte, um die Leistungsabfälle in Unternehmen und politischen Verbänden zu analysieren. (Hirschmann 1974) Bei Hirschman funktioniert Loyalität als ein Scharnier zwischen den beiden Reaktionsweisen auf Leistungsabfälle einer Institution. Empfindet der Einzelne (bzw. die Gruppe) Loyalität gegenüber der Institution, verzichtet er eher auf die Option der Abwanderung und erhebt stattdessen Widerspruch, um Qualitätsverbesserung anzuregen. Selbstverständlich kann man das Verhalten verschiedener Parteien in der DIK mithilfe dieses Analysekonzepts untersuchen. Die Moscheeverbände bspw. haben trotz ihres Unmuts gegenüber der Struktur und der inhaltlichen Gestaltung der DIK, bei der das Innenministerium die Feder führte, die ersten drei Jahre kaum mit Abwanderung aus der DIK gedroht. Im Gegenteil, es wurde ihnen nahegelegt, dass die mögliche Abwanderung als Zurückweisen des einmaligen Integrationsangebots gedeutet würde. Die Moscheen stünden dann als Integrationsverweigerer da. Erst kürzlich vor dem Beginn der zweiten Runde, im März 26
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Redebeitrag während des vierten Plenums der DIK am 25. Juni 2009 in Berlin. Sie stand kurz nach dem Abschluss der ersten Phase im Zusammenhang mit einem Projekt, eine alternative Moschee aufzubauen. Es ist unter anderem diese unaufhebbare Schwierigkeit, die Loyalität dingfest zu machen (und nicht einfach die Islamfeindlichkeit), die zu solchen Instrumenten wie dem im Volksmund sogenannten „Muslimtest“ anregte.
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2010, drohten sie damit, die DIK zu verlassen, da der Islamrat wegen eines laufenden Gerichtsverfahrens aus der zweiten Runde ausgeschlossen werden sollte.28 Das wäre aber eine andere Fragestellung, die eigens behandelt werden sollte. Loyalität wäre bei einer solchen Untersuchung als Invariable im Sinne von gegeben oder nicht-gegeben gesetzt und das jeweilige Verhalten dann mit ihr relationiert. In unserem Fall hingegen ist die Loyalität nicht das analytische Mittel, mit dem man das Verhalten der Akteure untersucht, sondern der umstrittene Gegenstand der Verhandlungen. Es wird nicht falsch sein, zu behaupten, dass die DIK zu einem guten Stück mit dem Ziel ins Leben gerufen worden ist, Mechanismen zur Sicherung und Vergewisserung von Loyalität des muslimischen Subjekts zu entwickeln. Vor allem aber steht die Loyalität der wichtigsten Teilnehmer der DIK, nämlich der Moscheeverbände und somit auch des KRM, auf dem Prüfstand. Die DIK kann man also auch als eine Prüfungsinstanz der Loyalität dieser Muslime verstehen. Insofern werde ich hier die Loyalitätsfrage aus einer diskursanalytischen Perspektive als eine unter den Parteien weitaus umstrittene Angelegenheit betrachten und sie vor allem an Loyalitätserwartungen und Verdachtsmomenten als eine dynamische Interaktion angehen. Koran oder Grundgesetz Was wäre dann naheliegender als die Vermutung, dass der Loyalitätskonflikt sich hauptsächlich zwischen zwei Blöcken artikulierte: Die Regierungsvertreter und Muslime stünden hier als zwei Blöcke gegenüber, da es sich doch hierbei um einen Regierungsdialog mit den Muslimen handelt. In der Forschung über Repräsentation und Institutionalisierung des Islam wird in der Regel mit dieser Gegenüberstellung gearbeitet. Diese Erwartung wäre richtig unter der Bedingung, dass das, was das muslimische Subjekt ist, von sich aus feststünde. Wer aber dieses Subjekt ist, das öffentlich im Namen des Islam legitim sprechen und mit der Politik verhandeln darf, das war doch hier gerade der umstrittene Sachverhalt. Viel eher spielten sich Auseinandersetzungen zwischen einigen Individualisten einerseits und Moscheeverbänden andererseits ab. Die Loyalitätsforderungen kamen, auf unterschiedliche Weise, sowohl von der Regierungsseite als auch von der Seite muslimischer Individualisten.
28
Der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zum Ausschluss des Islamrats aus der neuen Runde der DIK: „Ich möchte mich nicht mit jemandem an einen Tisch setzen, gegen den wegen des erheblichen Verdachts auf Delikte wie Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ermittelt wird.“ (Süddeutsche Zeitung, Zugriff am 30.03.2010) Schließlich blieb der ZDM der neuen Runde fern und die DITIB nimmt am Dialog weiterhin teil.
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Zunächst einmal steht die Frage im Raum, was die muslimischen Verbände in dem Falle tun, wenn Bestimmungen von Koran und Grundgesetz in einen Konflikt miteinander geraten. Diese Frage könnte man natürlich bloß als ein Vorwand betrachten, um die Muslime unter einen Generalverdacht zu stellen. Das wäre aber zu einfach. Denn das Verhältnis zwischen dem Koran und dem Gesetz des Staates hat schon immer das Herzstück der weltweiten islamistischen Ideologie seit dem Beginn dieser Bewegung markiert. Es ist also keineswegs so, dass hier eine islamfeindliche Zuschreibung von außen, etwa eine Erfindung des Ministeriums oder von Islamkritikern, den Loyalitätsverdacht begründete. Dabei geht es sowohl um gewaltbereite, radikale Gruppen wie auch um legalistische wie die Milli Görüs (IGMG, die führende Organisation im IRD), die in der Türkei ursprünglich mit dem Ziel entstanden war, den Staat und die Gesellschaft (über einen legalistischen Weg) an den Bestimmungen des Koran zu orientieren. (Seufert 1997; Schiffauer 2000; Tezcan 2002) Schiffauer (2004) vertritt dabei die These, dass die IGMG sich von einer Exil-Organisation zu einer inländischen Diaspora-Organisation entwickelt, die den konservativen Islam integriert. Gleichwohl bleibt dieser Verdacht, primär auf den Berichten des Bundesamts für Verfassungsschutz basierend, weiterhin an der IGMG haften. Die schärfste Kritik an der Haltung muslimischer Verbände wurde jedoch vom Islamwissenschaftler T. Nagel, ebenfalls als wissenschaftlicher Beobachter der AG 1, formuliert. In seiner Stellungnahme „Islamische autoritative Texte und das Grundgesetz“, die er in der AG 1 abgegeben hat, konfrontiert Nagel muslimische Verbände mit der Frage, wie man mit den Stellen aus dem Koran und der Hadith (Tradition) umgehen soll, die in eklatantem Widerspruch zum Grundgesetz stünden. Für Nagel bestehen unlösbare Probleme an den Punkten wie „[der] allgemeine[n] Herabwürdigung und Verächtlichmachung Andersgläubiger und Glaubensloser“, „Verwerfung der Pluralität“, „Verweigerung der Religionsfreiheit durch Bedrohung des Austritts aus dem Islam mit der Todesstrafe“, „koranische Strafen“ usw., sofern die Muslime diesen Bestimmungen „verpflichtenden Charakter“ zumessen. Dann ist ein Konflikt mit dem Grundgesetz unvermeidlich. Solange die Muslime eine historisch-kritische, relativierende Haltung nicht annehmen, wird, so kann man Nagels Abhandlung resumieren, das muslimische Bekenntnis zum Grundgesetz und zum demokratischen Rechtsstaat ein Lippenbekenntnis bleiben. Das Lippenbekenntnis ist zusammen mit der Unzulänglichkeit der formalen Treue in der Tat der wichtigste Verdacht, der in den Verhandlungen eine zentrale Rolle spielte. Die Moscheeverbände haben also mit dem Verdacht zu kämpfen, dass sie sich lediglich formal zum Grundgesetz bekannten. Diese Debatte wurde besonders virulent um die Formulierung des angestrebten Konsenspapiers. Über mehrere Sitzungen wurde vor allem um das Wort „vollständig“ kontrovers debattiert.
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Levent Tezcan „Den Weg zu einem gedeihlichen Zusammenleben hat Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble in der Regierungserklärung vom 28. September 2006 mit dem Titel „Deutsche Islam Konferenz – Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft“ als einen Prozess beschrieben, in dem kulturelle und religiöse Unterschiede anerkannt werden und in dem die vollständige Akzeptanz der freiheitlich demokratischen Grundordnung verlangt und vorausgesetzt wird.“ (Entwurf eines Thesenpapiers zur 3. Sitzung der AG 1 am 07. März 2007)
Die KRM-Vertreter kritisierten die Formulierung „vollständig“ mit der Begründung, dass damit suggeriert würde, die Muslime würden es nicht vollständig akzeptieren. Darum schlugen sie das Streichen des Wortes „vollständig“ vor. Das würde aber, wie die Diskussionsleitung es auch anmerkte, paradoxerweise erst recht den Verdacht anregen, dass die Verbände die freiheitlich-demokratische Grundordnung nur mit Vorbehalt akzeptierten. Für den Regierungsbeamten de Talliez war „angesichts mancher muslimischer Texte dieser Zusatz erforderlich“ (Beobachtungsprotokoll zur 4. Sitzung der AG 1 am 23.04.2007). Die Kritik seitens einiger Individualisten an den KRM-Verbänden fiel überhaupt recht scharf aus. Hier wurde verlangt, dass man sich nicht alleine zum Grundgesetz und zur Werteordnung bekennen solle, sondern auch danach leben sollte. Frau Cezairli in etwa: „Man will mit dieser Formulierung von vornherein eine Ausnahmeregelung ausschließen. (…) Man soll auch sein Leben und das Leben späterer Generationen daran orientieren.“ (Beobachtungsprotokoll zur 4. Sitzung der AG 1 am 23.04.2007) Die Haltung des Alevitenverbandes ging in die gleiche Richtung. Hier wurde hervorgehoben, dass sie, die Aleviten, „an der Kultur in Deutschland und Europa partizipieren (…), nicht nur rechtstreu sind, sondern auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen.“ (Stellungnahme der Alevitischen Gemeinde Deutschland vom 17.06.2008: 2) Gegenüber solchen Forderungen, die sich allesamt auf Werteintegration beriefen, wehrten sich Moscheeverbände auf zwei Fronten. Einerseits waren sie bemüht, sich mit islamischen Positionen gegen die unterstellte Unvereinbarkeit zwischen den islamischen Geboten und dem Grundgesetz zu wehren (die Stellungnahme vom KRM zu Nagels Beitrag). Andererseits zogen sie sich als Reaktion auf den Vorwurf der „bloß formalen Treue“ erst recht in die Position eines legalistischen Verfassungspatriotismus, dass „gesellschaftlicher Wertekonsens allein Verfassungskonsens sein (kann)“. Es sei „schade, dass das Grundgesetz [aus der Sicht der Anderen, L.T.] nicht ausreichend sei“ (Kizilkaya vom IRD auf der Klausurtagung der AG 1 in Pommersfelden am 26./27.03.2009). Dies war auch die Position der anderen KRM-Vertreter, die unterstrichen, dass man von den Muslimen nicht mehr verlangen solle als vom Rest der Gesellschaft. Diese Beispiele kann man sicher vermehren, sie sollten aber genügen, um den zumin-
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dest sichtbaren Konfliktkern deutlich zu machen. So gesehen verlief sie sich in einer unproduktiven Interaktion, in der sich der Verdacht der bloß formalen Treue und das Insistieren auf ein Bekenntnis zum Grundgesetz ohne zusätzliche Formulierungen unversöhnlich, zumal auf diese Weise nicht lösbar, gegenüberstanden. Der Wertekonsens wurde angestrebt, um einen Rahmen für die Lösung gesellschaftlicher Konflikte zu kreieren. Dabei löste er paradoxerweise die heftigsten Konflikte in der DIK aus. Die Erwartungen an die DIK waren sehr unterschiedlich motiviert. Die Regierungsseite wollte die Verbände als Gesprächspartner einbeziehen. Dabei betrachtete sie dies nicht primär als eine rechtliche Angelegenheit, sondern vor allem als eine politische, bei der überhaupt erst eine wechselseitige Anerkennung auf einer erst zu schaffenden Vertrauensbasis hergestellt werden sollte. Das praktische Ziel dabei war, den Verbänden autoritative Stellungnahmen abzuverlangen, die zur Regulierung des multikulturellen Alltags bei verschiedenen Fragen wie Schwimmunterricht, Klassenfahrt, Kopftuch etc. dienen sollten.29 Dies wurde denn auch von Kerber, der Diskussionsleitung, wie folgt formuliert: „Mit einem rechtlich nicht einforderbaren positiven Bekenntnis zur deutschen Rechtsordnung und der Werteordnung des Grundgesetzes können wir uns den praktischen Problemen zuwenden.“ (Schreiben vom 04.04.2008)
Gegen den Einwand der Moscheeverbände, dass der Staat die Gesprächspartner wohl nicht unterschiedlich behandeln solle, und auch nicht seinen eigenen Islam zurechtzimmern sollte (Köhler vom ZMD), antwortete Schmid, der Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass der Staat selbstverständlich dem Islam, mit dem er reden will, ein Stück Aufklärung beibringen will. (Beobachtungsprotokoll zur Klausurtagung der AG 1 in Pommersfelden am 26./27. 03.2009) Hiermit wurde eine wichtige Differenzierung angesprochen, die in der wissenschaftlichen Debatte über Institutionalisierung des Islam allzu schnell mit dem Hinweis auf die Diskriminierung oder Ausschließung des Islam überdeckt wird. Die Einbeziehung einer Religionsgemeinschaft, und nicht nur des Islam, verhält sich zu der einzubeziehenden Religion nicht vollkommen neutral, wie es mit Blick auf die Neutralität des säkularen Staats fälschlicherweise angenommen wird. Jeder dürfe natürlich, so Schmid, seinen Islam pflegen wie er will, solange er nicht gegen die Gesetze verstoße. Demnach sei selbst ein fundamentalistischer Islam zulässig. Nur der Staat werde mit ihm nicht verhandeln. Gleichwohl dis29
Mein Eindruck aber war, dass es immer um mehr ging als um das, was artikuliert werden konnte. Dabei meine ich gar nicht, dass hier verborgene Absichten im Spiel gewesen wären. Ich habe eher die in systematischer Hinsicht relevante Vermutung, dass die Konzeption des Wertekonsens und überhaupt die Referenz auf Werte einen solchen nicht artikulierbaren Überschuss mitführen. Diese Frage wäre eine eigene Untersuchung wert.
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tanzierte sich die Diskussionsleitung von der Kritik von Nagel und einigen muslimischen Individualisten. Man wolle den Koran nicht neu schreiben.30 Und der Staat beurteile nach dem Verhalten, nicht nach Gesinnungsprüfung. (Beobachtungsprotokoll zur Klausurtagung der AG 1 in Pommersfelden am 26./27.03. 2009) Hier sehen wir das spannungsvolle Verhältnis zwischen Recht und Regieren als zwei verschiedene Regulierungsmechanismen, die sich nicht ausschließen, aber auch nicht ineinander völlig aufgehen. Jedenfalls rechnet die Regierungstechnologie, die darauf abzielt, berechenbare muslimische Subjekte zu konstituieren, die öffentlich sprechen dürfen, immer auch mit dem Recht. 6
Schlussbemerkungen
In diesem Beitrag habe ich mich auf die Frage der Repräsentation des Islam begrenzt, wie sie im Rahmen der DIK-Initiative operationalisiert wurde. Der Kernpunkt dieser Darlegung besteht darin, dass die Islamintegration, seitdem sie explizit angegangen wird, zunehmend auch als Bevölkerungspolitik betrieben wird. Damit meint sie immer schon etwas mehr als die rechtliche Eingliederung muslimischer Organisationen in das Staatskirchenrecht. Sie betrifft unmittelbar die Konstitution des muslimischen Subjekts, das in der Lage sein soll, öffentlich von sich Rechenschaft abzulegen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die DIK sicher nicht nur, aber auch, ein Mechanismus des Zurechenbarmachens. Die symbolische Inszenierung der Inklusion des Islam bringt somit zweifelsohne eine materielle Erneuerung im integrationspolitischen Feld mit sich. Es geht dabei zunächst einmal nicht einfach darum, dass die Gruppe der zu Integrierenden sich nunmehr um eine weitere Komponente, um die Religion erweitern würde. Vielmehr wird das Milieu der zu Integrierenden in das Muslimische umgedeutet. Der Impuls dazu kommt selbstverständlich zunächst vonseiten der Politik, die wiederum auf die Forderungen muslimischer Verbände für die Teilhabe reagiert. Dadurch setzt sich eine Dynamik in Gang, worin sich selbst diejenigen verfangen, die sich nicht über die Religion definieren wollen. Die Integrations- und Islamforschung sollte daher die performative Dimension der Institutionalisierungspolitik in ihre Konzeption mit einbeziehen. Die Integration erlegt den zu Integrierenden einen spezifischen Modus der Religiosität auf. Die Islamintegration wird derzeit noch immer auf eine bestimmte Art und Weise unpolitisch debattiert. Das Politische kommt entweder dort zur Sprache, wo die Diskriminierung der Muslime angeprangert wird, oder um es anzupran30
Man kann allerdings Nagels Kritik auch anders lesen. Im Grunde verlangt er eine historischkritische Lektüre des Korans, bei der der Koran keineswegs neu geschrieben, wohl aber distanziert gelesen werden solle.
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gern, wenn der Islam durch Muslime als Ideologie politisiert wird. Die gegenwärtige Islampolitik lässt sich aber nicht auf den negativen Modus der Diskriminierung und Ausschließung einerseits und „Missbrauch“ andererseits beschränken. Sie will produktiv sein, gestalten, ist darauf ausgerichtet, bestimmte Formen islamischer Religiosität zu fördern. Ihr Problem (damit auch ihr Ziel) besteht primär darin, wie man die Ermächtigung der Verbände als Integrationsagenten, die genau aus dieser aktiven Islampolitik resultiert, zugleich in ein Regime von Verpflichtungen zurück binden kann. Fordern und Fördern ist ihr Motto. Worin die Förderung stattfinden soll und was legitimerweise gefordert werden kann, das waren und sind die weiterhin umkämpften Themen. Literatur Becker, Carl Heinrich (1910a): Islam als Problem, in: Der Islam, 1-21. Becker, Carl Heinrich (1910b): Staat und Mission in der Islampolitik, in: Verhandlungen des deutschen Kolonialkongresses, Berlin, 638-651. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2009): Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg. Casanova, José (2001): Civil Society and Religion: Retrospective Reflections on Catholicism and Prospective Reflections on Islam, in: Social Research 68 (4), 1041-1080. Deutsche Islam Konferenz (2009): Drei Jahre Deutsche Islam Konferenz (DIK) 20062009. Muslime in Deutschland – deutsche Muslime, Berlin. Epkenhans, Tim (2008): Von der „Islampolitik“ zum „Dialog mit der islamischen Welt“ – Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Orientalistik und deutscher (Außen-)Politik, in: Poya, Abbas/Reinkowski, Maurus (Hrsg.), Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien, Bielefeld, 209-221. Jasch, Hans-Christian (2007): State-Dialogue with Muslim Communities in Italy and Germany – The Political Context and the Legal Frameworks for Dialogue with Islamic Faith Communities in Both Countries, in: German Law Journal 8 (4), 341380. Hartmann, Martin (1910): Deutschland und der Islam, in: Der Islam 1, 72-92. Hassing, Per (1977): Islam at the German Colonial Congresses, in: The Muslim World 67 (3), 165-174. Heine, Peter (1984): C. Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik, in: Die Welt des Islams 23/24, 378-387. Heitmeyer, Wilhem/Müller, Joachim/Schröder, Helmut (1997): Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt/Main. Hirschmann, Albrecht O. (1974): Abwanderung und Widerspruch, Tübingen. Hurgronje, Snouck (1915a): Nederland en de Islam. Leiden. Hurgronje, Snouck (1915b): Heilige Oorlog made in Germany, in: De Gids 1, 1-33.
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II. Inhalte
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Entgleisende Islamkritik Differenzierung als Fairnessgebot Entgleisende Islamkritik
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Eine neue Debattenlage
Die gesellschaftliche Debatte über den Islam hat sich in jüngster Zeit merklich verändert. Nach wie vor ist die öffentliche Wahrnehmung des Islams und der Muslime hierzulande von viel Skepsis geprägt, und wie bei anderen Themen auch haben vor allem negative Meldungen die Chance, gedruckt, gesendet und rezipiert zu werden. Was die aktuelle Debattenlage allerdings kennzeichnet, ist eine neue Komponente, nämlich eine Kritik auch der Islamkritik. Nicht nur in den engen Zirkeln von Fachwissenschaft und Antidiskriminierungsbüros, sondern in den Feuilletons der großen Zeitungen – Süddeutsche, FAZ, taz, ZEIT – werden verstärkt Fragen aufgeworfen nach den empirischen Grundlagen einer oft scharf polarisierenden Islamkritik, nach vorschnellen Pauschalisierungen sowie ganz generell nach dem politischen Projekt, das Necla Kelek, Henryk M. Broder und andere mit ihren Attacken verfolgen. Wo verläuft die Grenze zwischen religionskritischer Aufklärung und kulturkämpferischer Spaltung der Gesellschaft? Ab wann schlägt provokante Zuspitzung, die der Klarheit in der Debatte dienen kann, in die Ausgrenzung von Minderheiten um? Was soll denn politisch folgen aus der Annahme, dass der Islam aufklärungsresistent sei? Und wann wird eine Islamkritik im Namen der Integration ihrerseits zum Integrationshindernis? Dass die Metakritik an einer oft polemischen und partiell entgleisenden Islamkritik mit der Chance einer gewissen Breitenwirkung öffentlich artikuliert wird, ist neu. Der Hauptgrund dafür lässt sich leicht ausmachen: das Schweizer Minarett-Referendum vom November 2009. (Vgl. Angst 2010) Es hat Schockwellen ausgelöst, die weit über die Schweiz hinausreichen. Erstmals konnte die europäische Öffentlichkeit erleben, dass eine von anti-islamischen Ressentiments getragene Kampagne handfeste politische Folgen hat, die sich sogar in der Verfassungsstruktur niederschlagen. Kaum zu glauben: In der Verfassung einer traditionsreichen Demokratie findet sich fortan der erstaunliche Satz, dass der Bau von Minaretten verboten ist. Vielen Schweizern ist dies zu Recht peinlich. Denn was immer man über Minarette denken und empfinden mag: Kein Minarett H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_6+, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nimmt sich in der europäischen Baulandschaft annähernd so fremd aus wie das Minarettverbot in der europäischen Verfassungslandschaft. Neben Grundrechten, Staatszielbestimmungen und Staatsorganisationsnormen fällt es völlig aus dem Rahmen. Außerdem steht dieses Verbot gegen alles, was Karl Jaspers einstmals als den „Geist Europas“ beschrieben hatte: Weltoffenheit, Toleranz, Freiheitlichkeit. (Vgl. Jaspers 1983) 2
Ausgrenzung im Namen moderner Emanzipation
Wie konnte es soweit kommen? Was sind die Quellen jener verbreiteten islamskeptischen Grundstimmung, die sich in Teilen der Gesellschaft zu latenter oder sogar offener Feindseligkeit gegenüber Muslimen verhärtet hat? Der Hinweis auf die jahrhundertealte Tradition der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident trägt zum Verständnis nicht viel bei. Die aktuellen Vorbehalte stehen nicht in der Kontinuität zu den Mohammed-Attacken des frühmittelalterlichen Theologen Johannes Damascenus, zu den Kreuzzugspredigten eines Bernhard von Clairvaux oder zu Luthers rhetorischen Ausfällen gegen die Türken. (Vgl. Hagemann 1999) Sieht man von Splittergruppen wie der „Christlichen Mitte“ ab, geht es meist nicht um die Verteidigung eines spezifisch christlichen Gottesbildes – etwa der Trinitätslehre –, sondern primär um moderne Errungenschaften von Aufklärung und Emanzipation, die man durch den Islam gefährdet sieht. Das alte polemische Muster, in dem das christliche Abendland sich gegen den Ansturm einer Religion aus dem Morgenland behauptete, ist gewiss nicht verschwunden, aber doch weitgehend überlagert worden durch ein neues Muster, für das die Kontrastierung von Moderne und Vormoderne charakteristisch ist. Zwar finden sich in der einschlägigen polemischen Literatur immer wieder auch unvorteilhafte Vergleiche des Korans mit der Bibel. Weit durchschlagender aber sind die Kontrasteffekte, die man durch eine Gegenüberstellung bestimmter Koranverse mit Artikeln des Grundgesetzes oder internationalen Menschenrechtsnormen erzielt.1 Die Frauenfrage ist in diesem Zusammenhang zur entscheidenden Testfrage geworden. Eine 2006 veröffentlichte Allensbach-Umfrage zeigt generell hohe Werte für skeptische oder ablehnende Einstellungen zum Islam, den etwa 60 bis 80 Prozent der Befragten mit Rückständigkeit, Autoritarismus, Demokratieunfähigkeit oder Fanatismus assoziieren. Besonders prägnant fallen die Negativwerte 1
Vgl. zum Beispiel: Bundesverband der Bürgerbewegungen zur Bewahrung von Demokratie, Heimat und Menschenrechten e.V.: 2004. Dass hier eine Lesart des Korans unterstellt wird, die allenfalls für islamistische Hardliner zutreffen mag, wonach Koranverse wie staatliche Rechtsnormen funktionieren, stellt übrigens eine Ironie der besonderen Art dar.
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jedoch aus, wenn das Geschlechterverhältnis angesprochen wird: Mehr als 90 Prozent der Befragten geben an, dass sie den Islam mit der Unterdrückung der Frau in Verbindung bringen. (Vgl. Noelle/Petersen 2006: 5) Es war der holländische Rechtspopulist Pim Fortuyn, der vor einigen Jahren instinktsicher genau diese Vorbehalte aufgriff und die politische Landschaft in den Niederlanden damit regelrecht umpflügte.2 Fortuyn berief sich auf moderne, liberale Errungenschaften der holländischen Gesellschaft – insbesondere ein vergleichsweise hohes Maß an Geschlechtergerechtigkeit und einen toleranten Umgang mit sexuellen Minderheiten –, um daraus eine Hürde für Migranten vor allem aus islamischen Ländern zu machen. Dieses Ausgrenzungsmuster hat sich längst auch in Deutschland durchgesetzt. Es konnte nicht zuletzt deshalb verfangen, weil es an reale Probleme und Erfahrungen anknüpft, daraus aber falsche Konsequenzen zieht. Es stimmt ja, dass in manchen Einwanderermilieus extremkonservative Vorstellungen zum Verhältnis der Geschlechter existieren, dass Zwangsverheiratungen praktiziert werden und dass homophobe Vorurteile weit verbreitet sind. Daraus ergeben sich Konflikte, die politisch offen thematisiert und in Angriff genommen werden müssen. Statt die Probleme präzise und im Bemühen um Fairness anzusprechen, nahm Pim Fortuyn sie aber zum Anlass, einen fundamentalen Gegensatz von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten aufzubauen und Muslime vor die Alternative von bedingungsloser Anpassung oder Selbstmarginalisierung zu stellen. Ähnlich halten es hierzulande Kelek, Broder und andere. Wichtige, ja unaufgebbare liberale Errungenschaften der Gesellschaft werden so mit der kaum verhohlenen Intention mobilisiert, als Stolperdraht für Minderheiten zu fungieren. Liberale Substanz mit antiliberaler Funktion – so lässt sich dieses paradoxe Muster formelhaft zusammenfassen, wobei allerdings klar sein sollte, dass durch aggressive Ausgrenzungskampagnen auf Dauer die liberale Substanz der Gesamtgesellschaft Schaden nehmen muss. Das Schweizer Referendum ist dafür ein Menetekel. Dieses insbesondere am Geschlechterverhältnis als „Testfrage“ orientierte antagonistische Muster findet sich mittlerweile in den Integrations- oder Islamdebatten in ganz Westeuropa wieder. Zum Verständnis der aktuellen Islamskepsis einschließlich ihrer ideologischen und kulturkämpferischen Verhärtungen ist es vermutlich wichtiger noch als die Angst vor islamistischem Terrorismus. Denn während die Protagonisten eines starken Sicherheitsstaates auch nach dem Schock des 11. September 2001 immer noch auf Opposition stießen, musste eine Islamskepsis, die sich an Zwangsverheiratungen und Menschenrechtsverletzungen an Frauen fest machte, über das konservative Lager hinaus auch in linksliberalen und linksalternativen Milieus Resonanz finden. Dies gilt erst recht, weil 2
Zu Pim Fortuyn, der im Mai 2002 von einem fanatisierten Tierschützer ermordet wurde, vgl. Mak 2005: 51.
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Probleme wie Zwangsverheiratungen in Deutschland lange Zeit öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden waren. Erst der Mord an Hatun Sürücü im Februar 2005, geplant und durchgeführt von der eigenen Familie, wurde zum Anlass für eine breite Debatte über Verbrechen „im Namen der Ehre“, die längst überfällig war. (Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: 2007) Neben der notwendigen öffentlichen Sensibilisierung für zuvor verdrängte Problemfelder führte sie aber auch zu Gesetzesverschärfungen – insbesondere beim Ehegattennachzug – und gab bestehenden Vorurteilen gegenüber Muslimen neue Nahrung. In dieser Situation konnte Necla Kelek mit Botschaften von erschütternder Schlichtheit für einige Jahre beinahe die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit gewinnen.3 3
Parallelen zur Kulturkampfära?
Die Tatsache, dass in öffentlich geäußerten Positionen zum Islam häufig eine Sorge um Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Emanzipation mitschwingt, erklärt die breite Wirkung anti-islamischer Vorbehalte. Sie sind nicht nur im konservativen Milieu verbreitet, sondern finden sich auch bei Menschen, die sich dem linksliberalen oder linksalternativen Spektrum zuordnen. Es gibt sie bei Angehörigen der christlichen Kirchen genauso wie in kirchenfernen Kreisen. Selbst die harten Varianten regelrechter Islamfeindschaft lassen sich nicht einfach dem rechten Rand zuweisen, sondern reichen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. (Vgl. Leibold/Kühnel 2006) Durch die meist positive Bezugnahme auf die Moderne unterscheiden sich antiislamische Motive im Übrigen ganz wesentlich von antisemitischen Klischees, so dass entsprechende Vergleiche wenig Erkenntnisgewinn bringen und eher in die Irre führen.4 Bekanntlich wurden im Antisemitismus seit Ende des 19. Jahrhunderts „die Juden“ als die eigentlichen Drahtzieher wirtschaftlicher, politischer und kultureller Modernisierung und der damit einhergehenden Krisen konstruiert (Vgl. Volkov 2000): Sie galten als die Verursacher des Börsenkrachs und die heimlichen Profiteure ökonomischer Umwälzungen, als Stichwortgeber der progressiven politischen Parteien sowie als Protagonisten einer „bodenlos“ gewordenen künstlerischen Avantgarde. Das Gefühl sozialer Entwurzelung in 3
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In ihrem neuesten Buch attackiert Kelek unter dem Abschnitt „Nathan-Kitsch“ den ehemaligen Bundespräsidenten Rau, weil er sich mit seinem Plädoyer für einen behutsamen Umgang mit der Kopftuchthematik „gegen das vom Bundesverfassungsgericht erlassene Kopftuchverbot für Lehrerinnen“ gestellt habe. (Vgl. Kelek 2010: 203) Das angebliche Verbot des Bundesverfassungsgerichts gibt es jedoch überhaupt nicht. Sachfehler dieses Kalibers finden sich in Keleks Schriften nicht selten. Eher abstrakt bleibt der Vergleich etwa bei Schiffer/Wagner 2009.
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der modernen Stadtgesellschaft, die Verunsicherung angesichts der undurchschaubaren Faktoren ökonomischer Modernisierung, die Ablehnung liberaler und sozialdemokratischer Politik, die Angst vor dem Verlust einer überschaubaren Lebenswelt – all dies wurde auf eine Gruppe von Menschen projiziert, die seit je das Stigma der Heimatlosigkeit und „Wurzellosigkeit“ trugen. (Vgl. Priester 2003: 146ff.) Während „die Juden“ im Antisemitismus seit der Kaiserzeit somit für verschiedene Krisenängste herhalten mussten, die sich an die Erfahrung von Modernisierung hefteten, gilt für anti-islamische Klischees das Gegenteil. Die stereotypen negativen Zuschreibungen reichen hier von barbarischen Strafpraktiken, die oft „mittelalterlich“ genannt werden, über unaufgeklärte Schriftgläubigkeit bis hin zur Unterdrückung von Frauen und Mädchen in stickigen Familienstrukturen. Kurz: Der Islam steht in der öffentlichen Negativwahrnehmung gerade für die Vormoderne, das heißt für eine angeblich „wesenhafte“ Aufklärungsunfähigkeit und Modernitätsverweigerung.5 In mancher Hinsicht erinnert die Polemik der Islamkritiker an die antikatholische Kulturkampfrhetorik der Bismarckära. (Vgl. Nipperdey 1988: 42ff.; Wallmann 2006: 243ff.) Natürlich hat auch dieser Vergleich seine Grenzen; wenn man ihn überzieht, gerät man schnell in Absurditäten. Einige Analogien fallen aber auf. Zum einen wurde der Kulturkampf im Namen von Fortschritt und Moderne geführt, wobei die harte Haltung des offiziellen Katholizismus in Sachen „Mischehen“ (wenn man so will also in einer Gender-Frage) eine zentrale Rolle spielte. Zum anderen erregten die Katholiken mit ihren autonomen Institutionen, ihrem ausgeprägten Vereinswesen, ihren regional kompakten Milieustrukturen und einer eigenen politischen Partei den Verdacht, sich der Staatsnation zu entziehen – heute würde man von „Parallelgesellschaft“ und „Integrationsverweigerung“ sprechen. Und schließlich wurde unter dem Stichwort „Ultramontanismus“ gemutmaßt, dass sich die Katholiken einer ausländischen Macht verpflichtet fühlten und der Nationalstaat sich ihrer Loyalität nicht sicher sein könne. Bekanntlich hatte genau aus diesem Grund schon John Locke die Papstanhänger von der religiösen Toleranz ausgenommen. (Vgl. Locke 1959: 92ff.) Liberale Sorgen vor religiösem Autoritarismus sind meist nicht einfach aus der Luft gegriffen – damals so wenig wie heute. Papst Pius IX. gab mit seiner Verdammung der Religionsfreiheit und anderer „Irrtümer der Moderne“ antikatholischen Irritationen damals reichlich Nahrung, und die offizielle kirchliche Haltung zu konfessionsverschiedenen Ehen war für viele ein echtes Ärgernis. Heute können Islamkritikerinnen und -kritiker mit Recht darauf verweisen, dass die Organisation der Islamischen Konferenz in der internationalen Menschen5
Näheres dazu (mit Beispielen aus der jüngeren Literatur) bei Bielefeldt 2008.
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rechtspolitik eine fatale Bremserrolle spielt. Die vor ihr proklamierte „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ kennt weder Religionsfreiheit noch Gleichberechtigung der Geschlechter und hat mit den international verbindlichen Menschenrechtsnormen der Vereinten Nationen nichts gemeinsam. Für Kritik an religiösen Institutionen und den sie tragenden Mentalitäten, Denkweisen und Dogmen gibt es demnach durchaus Anlass. Entscheidend ist aber, dass es dabei fair zugeht, das heißt, dass Kritik nicht in Diffamierung ausartet, dass vorschnelle Generalisierungen vermieden werden und auch Zwischentöne angemessen zu Wort kommen und ernst genommen werden. Der antikatholische Kulturkampf im Namen von Fortschritt und Moderne im neuen Kaiserreich ließ es genau daran völlig fehlen und führte infolgedessen zu einer nachhaltigen Spaltung der Gesellschaft. Während damals allerdings der Machtapparat des Staates rücksichtslos eingesetzt wurde, ist die Situation heute anders. Eine schrille, gegen den Islam gerichtete Kulturkampfrhetorik ist zwar in der öffentlichen Debatte durchaus präsent, prägt in Deutschland aber – anders als neuerdings in der Schweiz – nicht das staatliche Handeln. Polarisierende und stigmatisierende Wirkung entfaltet sie gleichwohl.6 4
Für eine aufgeklärte Debattenkultur
Es gibt keine Alternative zur Aufklärung. Darin sind sich alle einig. Aber was heißt das? Es fällt auf, dass der Begriff der Aufklärung in islamkritischen Beiträgen vielfach eine aggressiv-kulturkämpferische Pointierung erfährt.7 Die Berufung auf die Aufklärung dient dabei einerseits zur Grenzziehung gegenüber dem Islam, der pauschal als unaufgeklärt bezeichnet wird, während man sich selbst gleichsam in einem post-aufklärerischen Zustand wähnt. Andererseits bietet sie den Vorwand dafür, gegen die vermeintlichen Tabus der „political correctness“ eine provokative Klartextsemantik zu bedienen, die für Differenzierungen keinen Raum lässt und nicht selten in pure Gehässigkeit abrutscht.8 Eine „Aufklärung“, die im Gestus des beherzten Tabubruchs Ressentiments gegen Minderheiten 6
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Nach einer vom Bundesministerium des Inneren publizierten Studie fühlen sich viele Muslime in Deutschland durch anti-islamische Vorurteile stigmatisiert. (Vgl. Bundesministerium des Inneren 2007: 236ff.) Bassam Tibi verwendet den Begriff der Aufklärung schon seit vielen Jahren häufig in scharfpolarisierender Weise. In seinen Büchern erfährt die umstrittene Huntington-These vom „clash of civilisations“ zwischen Westen und Islam eine gleichsam modernisierungstheoretische Wendung als Antagonismus zwischen westlicher Moderne und islamischer Vormoderne. (Vgl. Tibi 1995) Verwiesen sei nur auf die Website „Politically Incorrect“, die sich vor allem dem Kampf gegen den Islam verschrieben hat. (Vgl. http://politicallyincorrect.de)
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schürt, wäre allerdings eine Karikatur dessen, was Kant einmal unter Aufklärung verstanden hat, nämlich einen selbstkritischen Lernprozess im nie endenden Bemühen um persönliche und gesellschaftliche Freiheit. Aufklärung impliziert Fairness. Genau deshalb verlangt sie auch die Bereitschaft zur Differenzierung. Es geht um die Fähigkeit, hinzuschauen und hinzuhören, für Zwischentöne offen zu sein und die Individuen mit ihren jeweiligen Sichtweisen nicht vorschnell einem Lager zuzuschlagen oder gar unter einer vermeintlich unveränderlichen kollektiven Mentalität zu subsumieren.9 Differenzierungsbereitschaft ist in diesem Sinne mehr als ein akademisches Postulat, nämlich zuallererst ein Fairnessgebot. Dies gilt auch für die Rede vom Islam. Es geht dabei nicht etwa um Schönfärberei oder Bagatellisierung bestehender Probleme in der Einwanderungsgesellschaft, sondern um angemessene Präzision in Beschreibung und Analyse. In jeder Kopftuchträgerin ein potenzielles Opfer oder eine potenzielle Komplizin autoritärer family values zu sehen, wäre ähnlich absurd wie die Unterstellung, die meisten Muslime hegten heimliche Sympathie für terroristische Selbstmordattentäter. Muslime kollektiv in symbolische Geiselhaft für Autoritarismus und Barbarei zu nehmen, wäre gleichermaßen falsch wie ungerecht. Ein differenzierter Blick auf den Islam in Deutschland, auf seine verschiedenen Strömungen und auf die vielfältigen Einstellungen und Lebensformen hier ansässiger Muslime eröffnet eine im Grunde triviale Einsicht, die zugleich aber die Prämisse jedweder Aufklärung bildet und deren Bedeutung deshalb nicht unterschätzt werden darf: Es ist dies die Einsicht, dass Menschen auch hinsichtlich ihrer religiösen Einstellungen und Praktiken handelnde Subjekte sind. Menschen sind nicht nur „Angehörige“ einer Religion, deren Vorgaben sie passiv übernehmen, sondern sie verändern und entwickeln sich in ihren religiösen Mentalitäten und Identitäten – wobei niemand den Ausgang solcher Entwicklungen sicher prognostizieren kann. Aus dem Differenzierungspostulat folgt, dass die für eine liberale, aufgeklärte Debattenkultur entscheidende Trennlinie nicht zwischen „freundlichen“ und „unfreundlichen“ Darstellungen des Islams verläuft, sondern zwischen Offenheit und Klischee. (Vgl. Trust 1997) Wichtig ist vor allem eine fundierte Empirie. Ein in der Gesellschaft bestehendes Misstrauen gegenüber Muslimen wird sich kaum durch reklameartige Auflistung von best practice- Beispielen 9
Die entpersonalisierende und entindividualisierende Wirkung solcher Subsumption ist ein wesentliches Kennzeichen des Rassismus, der bekanntlich nie ausschließlich an biologischen oder pseudo-biologischen Merkmalen orientiert war. Solche Formen von Islamfeindlichkeit, die nicht an individueller Praxis (z.B. religiöser Praxis) ansetzen, sondern Menschen durch Zuschreibung einer kollektiven Mentalität stigmatisieren, lassen sich daher durchaus mit Rassismus vergleichen und ggf. als rassistisch bezeichnen.
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überwinden lassen, sondern eher durch nüchternen Realismus, bei dem alle Probleme auf den Tisch kommen – aber eben ohne Selbstgerechtigkeit und im Bemühen um Fairness und Genauigkeit. Daran fehlt es vielfach. Reißerische Buchtitel wie „tödliche Toleranz“10 (Lachmann 2005) schüren nur Ängste und tragen zum Verständnis und zur Bewältigung bestehender Probleme nichts bei. Erst recht gilt dies für die abstrusen Untergangszenarien, die Udo Ulfkotte an die Wand malt, wonach Europa im Begriffe sei, sich zu einem „Eurabien“ zu verwandeln, in dem binnen weniger Jahrzehnte die Scharia herrschen werde.11 (Vgl. Ulfkotte 2007: 20ff.) Das Differenzierungsgebot betrifft auch die Wahl der Kategorien, die so gestaltet sein sollten, dass sie der Vielfalt der Positionen und Lebenswege überhaupt Raum geben können. Das Fatale an einer polarisierenden Kulturkampfrhetorik besteht ja nicht in der ihr eigenen Emotionalität (warum soll es nicht ab und zu hitzig werden dürfen?), sondern darin, dass sie viele Menschen unter den Druck eines radikalen Entweder-Oder setzt, das ihnen meistens gar nicht gerecht wird. Sie sollen sich entscheiden: Religiosität oder Moderne, familiäre Loyalität oder gesellschaftliche Integration, Kopftuch oder Emanzipation, Herkunft oder Zukunft. Dass es viele Lebenswege gibt, die sich mit solchen Alternativstellungen nicht angemessen beschreiben lassen, gerät aus dem Blick, und wer sich dem schlichten dichotomischen Schema nicht fügen will, wird schnell des Eskapismus verdächtigt. Auch die Aufklärung kennt eben unterschiedliche Wege, und für den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gibt es weder eine allgemein verbindliche Wegbeschreibung noch eine Versicherung zum Schutz vor Abwegen, Verirrungen und Verweigerungen.12 Das Fairnessgebot als Postulat der Aufklärung gilt natürlich genauso für den kritischen Umgang mit den Protagonisten der Islamkritik. Die seit kurzem verstärkt einsetzende Metakritik war längst überfällig; sie kann aber nicht den Sinn haben, die Islamkritik als solche in Misskredit zu bringen. Religionskritik ist nicht nur legitim, sie ist vor allem auch notwendig. Wie die katholische Kirche sich aktuell mit unangenehmen Fragen nach strukturellen Gründen für die vielen Fälle sexuellen Missbrauchs konfrontiert sieht, auf die sie tragfähige Antworten suchen und geben muss, so müssen sich auch Muslime und ihre Organisationen schwierigen Herausforderungen in der gesellschaftlichen Debatte stellen. Mit Recht können sie darauf verweisen, dass Themen wie Zwangsverheiratung oder Frauenun10
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Auf dem Cover dieses Buches wird die deutsche Flagge von einem islamischen Halbmond durchschnitten. Für das Vorwort zu dieser von abstrusen Verschwörungsphantasien durchzogenen Schrift hat übrigens Bassam Tibi seinen Namen hergegeben. Dichotome Kategorien, die dem Phänomen oft nicht gerecht werden, durchziehen auch die zahlreichen Schriften Bassam Tibis. Dass dessen Projekt eines „Euro-Islams“ unter Muslimen kaum Zustimmung finden konnte, ist deshalb nicht überraschend. (Vgl. z.B. Tibi 1998; Tibi 2003)
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terdrückung nicht spezifisch islamisch sind; es gibt sie auch außerhalb des Islams, und sie lassen sich auch nicht schlicht auf koranische Anweisungen zurückführen. Dass solche Probleme indessen „überhaupt nichts mit dem Islam zu tun“ hätten, wie manchmal verlautet, wird niemanden überzeugen können. Hier muss auch der innerislamische Diskurs energischer und mutiger voran gehen. Die Gesellschaftskritik, von der ein freiheitliches Gemeinwesen lebt, wird auch in Zukunft Komponenten der Religionskritik und darunter der Islamkritik enthalten müssen. Es kann deshalb nicht darum gehen, eine solche Religionskritik im Falle des Islams zurückzuweisen, sondern es gilt sie zu qualifizieren und Entgleisungen aufzudecken. Erforderlich ist vor allem ein entwickeltes Sensorium für die Grunddifferenz zwischen einer Kritik, die durchaus scharf ausfallen und sich auch der Mittel von Satire und Karikatur bedienen kann, und dem Schüren von Misstrauen gegen ganze Bevölkerungsgruppen, die sich nicht mehr wirksam wehren können, wenn sich die fatale Logik des Verdachts erst einmal in der Gesellschaft festgefressen hat. Literatur Angst, Doris, 2010: Das Minarettverbot in der Schweiz. Eine Diskursanalyse mit Blick auf die Menschenrechte, in: Zeitschrift für Menschenrechte 1, 158-172. Bielefeldt, Heiner, 2008: Das Islambild in Deutschland, Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2. Auflage, Berlin. Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), 2007: Muslime in Deutschland, Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), 2007: Zwangsverheiratung in Deutschland, Baden-Baden. Bundesverband der Bürgerbewegungen zur Bewahrung von Demokratie, Heimat und Menschenrechten e.V., 2004: Bedrohte Freiheit, Der Koran in Spannung zu den Grund- und Freiheitsrechten in der Bundesrepublik Deutschland sowie zu internationalen Rechtsnormen und Verträgen, Arbeitshilfe für die geistige Auseinandersetzung mit dem Islam, 3. Auflage, Berlin. Hagemann, Ludwig, 1999: Christentum contra Islam, Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen, Darmstadt. Jaspers, Karl, 1983: Vom europäischen Geist (1946), in: Jaspers, Karl: Wahrheit und Bewährung. Philosophieren für die Praxis, München, 109-138. Kelek, Necla, 2010: Himmelsreise, Mein Streit mit den Wächtern des Islam, Köln. Lachmann, Günter, 2005: Tödliche Toleranz, Die Muslime und unsere offene Gesellschaft, München. Leibold, Jürgen/Kühnel, Steffen, 2006: Islamophobie, Differenzierung tut not, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.), 2006: Deutsche Zustände, Band 4, Frankfurt a.M., 135155. Locke, John, 1959: Ein Brief über Toleranz (1689), englisch-deutsche Ausgabe, Hamburg.
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Mak, Geert, 2005: Der Mord an Theo van Gogh, Geschichte einer moralischen Panik, Frankfurt a.M.. Nipperdey, Thomas, 1988: Religion im Umbruch, Deutschland 1870-1918, München. Noelle, Elisabeth/ Petersen, Thomas, 2006: Eine fremde, bedrohliche Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2006, 5. Priester, Karin, 2003: Rassismus, Eine Sozialgeschichte, Leipzig. Schiffer, Sabine/Wagner, Constantin, 2009: Antisemitismus und Islamophobie, ein Vergleich, Wassertrüdingen. Tibi, Bassam, 1995: Krieg der Zivilisationen, Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg. Tibi, Bassam, 1998: Europa ohne Identität, Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München. Tibi, Bassam, 2003: Im Schatten Allahs, Der Islam und die Menschenrechte, Erweiterte Neuausgabe, Düsseldorf. Trust, Runnymede, 1997: Islamophobia, A challenge to us all, London. Ulfkotte, Udo, 2007: Heiliger Krieg in Europa, Wie die radikale Muslimbruderschaft unsere Gesellschaft bedroht, Frankfurt a.M.. Volkov, Shulamit, 2000: Antisemitismus als kultureller Code, Zehn Essays, 2. erweiterte Auflage, München. Wallmann, Johannes, 2006: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, 6. Aufl. Tübingen. http://politicallyincorrect.de
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Integration durch Islamischen Religionsunterricht? Haci-Halil Uslucan
Einleitung In dem folgenden Beitrag soll zunächst die Frage thematisiert werden, ob und inwieweit in modernen Gesellschaften gegenwärtig Religionen sozialintegrative Funktionen haben. Die Frage wirft im Hinblick auf muslimische Migranten in Deutschland durchaus nicht-triviale Aspekte auf, handelt es sich dabei doch auf den ersten Blick um „doppelte Fremdheiten“: Integration von Anderen/Zugewanderten und Integration mittels einer anderen Religion. Daran anknüpfend widmet sich der Beitrag ferner der Frage, ob und welche Effekte ein Versuch der Institutionalisierung dieser Integrationsfunktion über die Schule mit sich bringt. Der Autor diskutiert hierbei einen in Niedersachsen gestarteten Schulversuch vor dem Hintergrund pädagogisch-psychologischer sowie integrationspolitischer Fragestellungen und stellt längsschnittliche Daten von Schüler- und Elternbefragungen vor. 1
Islam und Integration
Ist soziale Integration heute noch durch Religion möglich? Und wenn ja, inwieweit kann sie, was Muslime in Deutschland betrifft, durch einen islamischen Religionsunterricht erreicht werden? Zwar ist nicht zu leugnen, dass sich Religionen in modernen Gesellschaften einem wachsenden Legitimationsdruck stellen müssen, dennoch scheint Religiosität nach wie vor sozialpolitisch und pädagogisch aktuell zu sein. Exemplarisch zeigt bspw. eine Studie zur Wertebindung, dass Religiosität auch im Westen keineswegs obsolet geworden ist: Rund zwei Drittel der befragten EU-Bürger bezeichnete sich als religiös; in den USA waren es dagegen sogar rund 90%. (Bucher 2005) Wird der Blick auf den Islam in Deutschland gelenkt, so scheint der Diskurs gegenwärtig von Themen wie Terror, Fundamentalismus, Moscheebauten und „gefühlter“ Bedrohung beherrscht zu sein, wobei gelegentliche massenmedial suggerierte Szenarien einer „islamistischen Unterwanderung“ der bundesrepubH. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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likanischen Gesellschaft groteske bis wahnhafte Züge erreichen. Zwar sind die historischen Wurzeln des islamophoben Diskurses deutlich älter, (vgl. für eine historische Aufarbeitung Höfert 1997) doch sind zuletzt im Umfeld der Zuwanderungsdebatte, des Kopftuchstreites und der Diskussion um den islamischen Religionsunterricht Stimmen laut geworden, die vorschnell die Integration islamischer Zuwanderer in Deutschland für gescheitert erklärten. In der Sache ist jedoch die Frage, wie die tatsächlichen Integrationschancen muslimischer Migranten einzuschätzen sind, empirisch nicht gelöst, wenngleich sie virulenter denn je geworden ist. In Deutschland leben Schätzungen zufolge rund 3,8 bis 4,3 Millionen Menschen islamischen Glaubens; mit einem Bevölkerungsanteil von fast 5% ist der Islam in Deutschland neben dem Christentum die zweitstärkste Religion. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009) Allein durch diesen Anteil an der Gesamtbevölkerung ist der Islam nicht mehr ein fremdes Element, sondern ein die europäische bzw. deutsche Kultur mitprägendes Phänomen. Multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft ist bereits eine soziale Tatsache; der Dialog mit der islamischen Welt bzw. muslimischen Migranten erweist sich als drängender denn je, wie auch vo Bundesinnenminister Schäuble im Kontext der Deutschen Islamkonferenz (DIK) mehrfach geäußert wurde. Richtet man die Perspektive auf Kinder und Jugendliche, so zeigt sich die Notwendigkeit pädagogischer Konzepte für religiöse Differenzen noch eindringlicher. Beispielsweise besuchten bereits 2001 rund 750.000 Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens deutsche Schulen. (Müller 2001) Bundesweit sind somit ca. 6% aller Schüler islamischen Glaubens und ihre Zahl dürfte gegenwärtig aufgrund der jüngeren Altersstruktur und der höheren Kinderzahl der Bevölkerung mit Migrationshintergrund noch größer geworden sein. Die Zugehörigkeit zum Islam ist also ein fester Bestandteil der kulturellen Identität im schulischen Kontext. Doch warum ist das so? Müsste man nicht – vielleicht etwas naiv anmutend – eher von der Annahme ausgehen, dass mit zunehmender Aufenthaltsdauer religiöse Aspekte der Lebensführung auch für Menschen aus islamischen Herkunftsländern an Bedeutung verlieren, also Assimilations- und Säkularisationsbewegungen als unausweichlich annehmen? Hierzu lassen sich mehrere Antworten formulieren: 1. Vielfach charakterisiert die philosophische Anthropologie den Menschen als ein instinktarmes, aber weltoffenes Wesen. Gerade durch das Fehlen einer von Instinkten gelenkten Leitung, durch diesen konstitutiven Mangel an Handlungsund Orientierungssicherheit während seiner Frühphase, braucht der Mensch Erziehung, um in der Welt handlungsfähig zu sein und sich darin zu orientieren. Eines dieser Orientierungssysteme, die den Menschen aus seiner unmittelbaren
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Handlungssphäre hinaus weist, ihn in den Kontext von Mensch und Kosmos stellt, bildet die Religion. Eine wichtige Funktion religiöser Lehren scheint in der Sinnstiftung menschlichen Handelns zu liegen, und zwar in der Fähigkeit, Vorgänge zu deuten, die sonst sinnlos blieben. Damit machen sie die erfahrene Wirklichkeit verstehbar, helfen aber auch, die Fragilität, die Zerbrechlichkeit des Alltags und Erfahrungen des Leides zu bearbeiten. 2. Aus kulturpsychologischer Perspektive wirken religiöse Überzeugungen als Symbolsysteme, die menschliches Handeln organisieren. Sie sind dabei dynamisch, unterliegen einem sozialen Wandel und werden erst durch ihre Bedeutung im Kontext von Gebrauch und Handeln lebendig. Deshalb müssen auch einmal etablierte religiöse Sinnsysteme in der Erziehung jeder neuen Generation fortwährend aktualisiert werden. In der religionspsychologischen wie in der soziologischen Forschung besteht Einigkeit in der Deutung der Religion als einer Form der Kontingenzbewältigung, genauer: der Bewältigung von Unsicherheit und Zufälligkeit. Von den gegenwärtigen Ambivalenzen und Desintegrationserfahrungen sind Migranten deutlich stärker betroffen. (Uslucan 2005) Hier kann also Religion bzw. religiöse Orientierung einen Weg darstellen, einen Teil dieser Ambivalenzen zu ertragen, und zwar auch dann, wenn Religiosität in der Moderne selbst neue Ambivalenzen schafft (z. B. die Frage, wie eine religiöse Sinnstiftung in der säkularen Moderne noch möglich ist). Die von der religiösen Lehre vermittelte Eindeutigkeit und Klarheit verhilft zu einer Orientierung, schärft das Profil der Eigengruppe, die gelegentlich auch mit einer bewussten Selbstausgrenzungsstrategie verbunden ist, um eventuellen gesellschaftlichen Ausgrenzungen zuvorzukommen („Wir Muslime sind anders“). Dadurch wird die binnenintegrative Kraft der eigenen, islamischen Identität gegenüber den fehlenden Identitätsangeboten der Mehrheitsgesellschaft gestärkt. (Vgl. Sackmann 2001) So bekommt der Islam in der Migration mit Blick auf die erlittenen Kränkungen im Alltag, dem permanenten Rechtfertigungsdruck eine Überhöhung und wird dadurch stärker identitätsrelevant als in der Herkunftskultur; (vgl. Schiffauer 2000) gleichwohl ist auch denkbar, dass Religiosität lediglich ein individual-biografisches Merkmal besonderer transzendentaler Bindung darstellt. Der Rückbezug auf die eigene Religion scheint in Migrationskontexten insbesondere dann von Relevanz zu sein, wenn der soziale Alltag den Betroffenen häufig Vorurteile und Ausgrenzungserfahrungen bereitet bzw. Unterlegenheitsgefühle produziert. So berichteten bspw. in der Untersuchung von Heitmeyer, Müller und Schröder (1997) zwischen 34% und 39% der befragten (türkischen) Jugendlichen von Diskriminierungserfahrungen in Deutschland; rund zwei Drittel der Befragten bekundeten, der Islam bzw. die Zugehörigkeit zum muslimi-
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schen Religionskreis stärke ihr Selbstvertrauen. Ähnlich hohe Raten, zwischen 55% und 61%, ließen sich in der Studie von Boos-Nünning und Karakasoglu (2005) zeigen, bei denen muslimische Migrantinnen angaben, ihre Religion helfe ihnen, am Leben nicht zu verzweifeln bzw. ihr Selbstvertrauen zu stärken. Auch Studien zu Konversionserfahrungen zeigen, dass sich eine neue Religiosität vielfach als eine Copingstrategie (Bewältigungsstrategie), als ein Umgang mit einer Identitätskrise oder als Überwindung dieser verstehen lässt. (Bucher 2005) Diese Formen der bewussten Rückwendung sind jedoch nicht islam-, sondern vielmehr migrationsspezifisch, d.h., sie betreffen auch andere Migranten in anderen Teilen der Welt. Aber gerade die Pluralisierung der Lebenswelt bzw. die pluralen Lebensentwürfe in Deutschland können für Menschen, die aus einer eher homogenen kulturellen Umwelt stammen, wo Gewissheiten des Alltags stärker verbürgt sind, zum Problem werden, sodass eine Rückkehr, eine Zuflucht zur Religion als Reduktion von Komplexität und somit kognitiv entspannend erlebt wird. 3. Mit dem Familiennachzug bzw. der Familienbildung in Deutschland stellt sich für viele muslimische Migranten die Frage der Weitergabe der eigenen Tradition und Religion an die nachwachsende Generation. Sie wird virulenter, je stärker sich die Familien in der Fremde bedroht fühlen, Rückzugstendenzen in eigene kulturelle Muster zeigen und ein stärkeres Abgrenzungsbedürfnis erleben. Während eine religiöse Sozialisation in den islamischen Ländern häufig vom Kontext unterstützt und z. T. unreflektiert als eine Alltagsgewissheit übernommen wird und durch die umgebende Gesellschaft eine Koedukation erfolgt, ist davon auszugehen, dass in der Migrationssituation – dort, wo der bestätigende und unterstützende Kontext entfällt – eine gezielte islamische Erziehung angestrebt wird. Beispielsweise werden bestimmte Handlungen oder Unterlassungen erst im Migrationskontext als identitätsrelevant erlebt; so etwa das Befolgen des Schweinefleischverbotes in Deutschland, wo Schweinefleisch in großen Mengen zur Verfügung steht und angeboten wird. In der Türkei oder arabischen Ländern dagegen ist diese Handlung bzw. Unterlassung des Schweinefleischverzehrs kein Hinweis auf eine islamisch definierte Identität, sondern gehört zum common sense. Um die generelle Frage der Integrationsfähigkeit des Islam in den pädagogischen und sozialen Alltag der Moderne klären zu können, ist es wichtig, aus einer Innenperspektive den familiären erzieherischen Hintergrund islamischer Kinder bzw. die erziehungsleitenden Prinzipien muslimischer Eltern zu kennen, und die leitenden Motivationen der Eltern (Sorge um das Kind, Sorge um eine angemessene soziale Platzierung der Tochter/des Sohnes, Sorge um das Selbstbild in der Community bei vermeintlichen Fehlhandlungen etc.) explizit zu machen. Diese Kenntnis scheint gerade für den Schulalltag von hoher Relevanz zu
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sein. Denn Schule bildet den exemplarischen Ort, an dem sich deutsche Schüler und Schüler nichtdeutscher Herkunft begegnen: Sie ist sowohl der Ort religiöser/ ethnischer Konflikte als auch das Feld, in dem diese Konflikte am besten bewältigt und ein Zusammenleben am besten eingeübt werden können. Festhalten lässt sich jedoch, dass eine starke religiöse Erziehung, die mit Berufung auf ein religiöses Familien- und Erziehungsbild demokratische Strukturen als Auflösungserscheinung betrachtet, auf jeden Fall zu einem Integrationshindernis wird, wenn gleichzeitig Eltern aus Sorge vor negativen sozialisatorischen Konsequenzen heraus die Kinder nicht am Kindergarten, nicht an der Vorschule, an deutscher Spielumgebung für ihre Kinder teilnehmen lassen, weil sie bei zu vielen und zu frühen Kontakten mit deutscher Umgebung eine kulturelle Entfremdung befürchten. (Karakasoglu-Aydin 2000) Und diese Furcht scheint in solchen Kontexten noch größer zu sein, wo Eltern tatsächlich nur wenige Möglichkeiten haben, ihr Kind effektiv zu kontrollieren. Hier gilt es, noch mehr Transparenz für tatsächliche, und nicht nur lediglich vermutete „Gefahrenpotenziale“ zu schaffen und die Ängste und Sorgen muslimischer Eltern mit ihnen stärker zu thematisieren. 2
Islamischer Religionsunterricht in der Schule
Nach dem oben skizziert wurde, welche Facetten eine islamische Erziehung für die Frage der Integration beinhaltet, sollen im Folgenden thetisch die Argumente für und gegen einen islamischen Religionsunterricht vorgestellt werden. Zunächst sprechen folgende Überlegungen für die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts: 1. 2. 3. 4.
Muslimische Schüler könnten sich gleichberechtigt bzw. auf gleicher Augenhöhe mit den evangelischen oder katholischen Schülern fühlen; sie werden nicht ausgegrenzt, wenn diese bspw. Religionsunterricht haben. Sie können durch diesen Unterricht auch eine religiöse Mündigkeit bekommen und die eigene Religion in interreligiösen Diskussionen offen vortragen. Dadurch erfahren auch deutsche Schüler viel mehr von ihren muslimischen Mitschülern und können Vorurteile über den Islam abbauen. Durch die schulische Anknüpfung an die religiöse Orientierung der Eltern wird für die Schüler zugleich auch eine Rückbindung und ein Verstehen der Lebenswelt der Eltern gewährleistet und eine Möglichkeit der intellektuellen Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition geschaffen.
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Haci-Halil Uslucan Bei einer Gestaltung des Religionsunterrichts auf Deutsch könnten Schüler mit muslimischem Hintergrund als Nebeneffekt eine weitere Förderung ihrer Deutschkompetenzen erhalten.
Dagegen scheinen folgende Aspekte aus psychologischer Sicht eher gegen einen Religionsunterricht zu sprechen: 1.
2.
3.
4.
Mit Blick auf das interkulturelle bzw. multireligiöse Zusammenleben ist eigentlich jede Form – und nicht nur die islamische – eines bekenntnisorientierten religiösen Unterrichts problematisch: Denn die Gefahr der Bildung eines geschlossenen Überzeugungssystems, das zu einer Vereinfachung kindlichen Denkens neigt und möglicherweise zu einer Überschätzung, zu Überlegenheitsansprüchen und Abwertungen anderer Ansichten führt, ist nicht immer von der Hand zu weisen. Extremformen solchen Unterrichts, die religiös begründete Denktabus und Dogmen errichten, können entwicklungspsychologisch eine verzerrte Weltund Wirklichkeitswahrnehmung des Kindes zur Folge haben. Dies kann das kindliche Explorationsverhalten und die kindliche Kreativität beeinträchtigen. Darüber hinaus führt eine hohe Geschlossenheit zwar zu einer Sicherheit des eigenen Denkens und Empfindens, aber auch zu einem Konformitätsdruck innerhalb der Gruppe (der muslimischen Kinder): Intensive Kontakte in der „In-group“ lassen Abweichungen weniger tolerieren. Das kann dann die Entstehung eines dichotomen Weltbildes beim Kind, in Form von Wir-Ihr, Freund-Feind, gläubig-ungläubig etc., fördern. Religionsunterricht in der Schule kann bereits bestehende religiöse Erziehung im Elternhaus bestätigen und sogar bekräftigen, so dass dann die Berufung auf ein religiöses Familienbild und liberale Formen des Aufwachsens als Bedrohung erlebt werden. (Vgl. Uslucan 2009)
Zwar sind aus psychologischer Sicht die bedenklichen Aspekte von dogmatischreligiösen Erziehungspraktiken nicht zu unterschätzen, aber gleichzeitig ist auch festzuhalten: Nicht nur islamische, sondern generell religiös-traditionale Erziehungskonzeptionen stehen zum Teil im Widerspruch mit der säkularen Moderne. Was bspw. die Sexualität betrifft – wie z. B. die Überwachung der weiblichen Sexualität –, so ist der restriktive Umgang nicht nur eine spezifisch islamische Haltung, sondern ein typisches Zeichen religiös fundamentalistischer Orientierungen (z. B. der christlich fundamentalistische Gruppe der 12 Stämme, die ihre Kinder nicht in den Sexualkundeunterricht schicken). Sowohl in sozialpolitischen als auch in pädagogischen Diskursen werden vielfach Fremdheiten und kulturelle Distanzen konstruiert, indem der Islam auf
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seine antiwestlichen und explizit vormodernen Dimensionen reduziert wird. Die faktische Situation scheint jedoch eine ganz andere zu sein, wie in verschiedenen Studien dokumentiert wird: So zeigen biografische Rekonstruktionen, dass muslimische Jugendliche wie auch ihre Familien in ihrem Sozialisationsprozess nicht von homogenen eigenkulturellen oder religiösen „Blöcken“ beeinflusst werden, sondern vielfach im Alltag typische pragmatische Patchwork-Aktivitäten eingehen, d. h. sich das jeweils für sie funktional und passend erachtete Element der jeweiligen Referenzgruppe (z.B. türkische und deutsche) aneignen. (Sandt 1996) 2.1 Politisch-rechtliche Perspektive Wie kann aus politisch-rechtlicher Perspektive der islamische Religionsunterricht ein Beitrag zur Integration sein? Zunächst ist festzuhalten, dass Art. 7, Abs. 3 des Grundgesetzes ein allgemeiner Ausdruck der Religionsfreiheit ist und sich nicht auf christliche Religionen beschränkt; insofern scheint der islamische Religionsunterricht, der unter staatlicher Aufsicht von den Religionsgemeinschaften in Übereinstimmung mit ihren religiösen Grundsätzen durchgeführt wird, nichts Verwerfliches zu sein. Eher kann damit auch die politische Hoffnung verbunden werden, einen Beitrag für die Gleichbehandlung von Muslimen und dadurch für deren bessere Integration bzw. geringere Segregation/Selbstsegregation zu leisten. Nicht zuletzt lässt sich durch diesen Schritt auch begründet erwarten, dass langfristig der Etablierung eines deutschsprachigen islamischen Diskurses (von Muslimen) Vorschub geleistet wird, weil der islamische Religionsunterricht in der Schule (der auf deutsch erteilt wird) ethnisch-nationale bzw. nationalsprachliche Grenzen transzendiert, d.h. bspw. deutsche, marokkanische, bosnische und türkische Muslime einen gemeinsamen Diskurs führen können. Was jedoch die Umsetzung betrifft, so lässt sich bislang kein einheitliches und für alle Bundesländer verbindliches Modell identifizieren, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss, da diese Vielfalt auch Lern- und Experimentiermöglichkeiten in einem neuen Feld bedeutet. So wird bspw. in Berlin der islamische Religionsunterricht – nach einem gewonnenen Rechtsstreit – von der islamischen Föderation erteilt, in Nordrhein-Westfalen wird seit 2000 Islamkunde in deutscher Sprache unterrichtet und in Niedersachsen (woher auch die eigene empirische Untersuchung stammt) wurde seit 2003/2004 in Kooperation mit den islamischen Vereinigungen ein Lehrplan entworfen, der als konfessionsgebundener Unterricht von den ehemaligen Muttersprachenlehrern mit Zusatzqualifikation durchgeführt wird.
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Die bisherigen Umsetzungen verdeutlichen jedoch Folgendes: Der Bedarf an Lehrkräften mit einer entsprechenden universitären Ausbildung ist – für eine flächendeckende Einführung eines islamischen Religionsunterrichts – recht hoch: Der Wissenschaftsrat schätzt diese Zahl auf 2000 Lehrkräfte. Hierfür ist die Einrichtung von Lehrstühlen für islamische Theologie, die diese kommenden Lehrkräften ausbilden sollen, unausweichlich, will man die Ausführungen des Art. 7, Abs. 3 ernst nehmen und aus den bisherigen Modellversuchen keine Dauerlösungen machen. Darüber hinaus wird dadurch auch eine wissenschaftlich verlässliche Basis für einen interreligiösen Dialog geschaffen. Politisch werden die Forderungen nach einem flächendeckenden islamischen Religionsunterricht sowohl von der Deutschen Islam Konferenz als auch vom Wissenschaftsrat getragen bzw. empfohlen und bleiben nicht nur symbolische Selbstinszenierungen einiger Bundesländer. 3
Empirische Ergebnisse des Modellversuchs „islamischer Religionsunterricht“
In diesem Teil sollen Ergebnisse einer eigenen Untersuchung referiert werden, die von 2005 bis 2008 im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs „islamischer Religionsunterricht“ an zehn Grundschulen in Niedersachsen durchgeführt wurde. (Vgl. für detaillierte Angaben Uslucan 2007) An der Befragung der ersten Welle nahmen 214 Schülerinnen und Schüler teil. Von diesen waren 105 Jungen und 108 Mädchen; zwei machten keine Angaben zum Geschlecht. Der weitaus größte Teil der Schülerinnen und Schüler (91%) ist in Deutschland geboren; rund 5% sind in der Türkei geboren und weitere etwa 4% sind in einem anderen Land (außer Deutschland oder der Türkei) geboren. Der größte Teil der Schülerschaft (rund 85%) besuchte die dritte und vierte Klasse. In der zweiten Befragungswelle nahmen 216 Schülerinnen und Schüler aus 8 Grundschulen teil. Von diesen waren 104 Jungen und 99 Mädchen; dreizehn Schülerinnen und Schüler machten keine Angaben zum Geschlecht. Auch hier besuchte der weitaus überwiegende Teil (189) die dritte oder vierte Klasse; 37 Schülerinnen und Schüler besuchten die zweite Klasse. Was die Elternstichprobe betrifft, so nahmen bei der ersten Welle insgesamt 106 Elternteile teil. Die ältesten Elternteile waren 1950 geboren, die jüngsten 1978. Das Durchschnittsalter der Eltern lag bei 36,6 Jahren. Hinsichtlich des Geschlechts war eine stärkere Beteiligung von Müttern zu beobachten: Insgesamt 62 Mütter und 44 Väter nahmen an der Befragung teil. Bei der Nationalität der Eltern zeigte sich, dass ein Großteil von ihnen (59) türkische Staatsbürger
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waren, 23 hatten die türkische und deutsche Staatsbürgerschaft, vier von ihnen hatten nur die deutsche Staatsbürgerschaft und 19 von ihnen besaßen andere Staatsangehörigkeiten. Die Aufenthaltsdauer der nicht hier geborenen Elternteile variierte von 3 bis 38 Jahren (Durchschnitt: 20,86 Jahre). An der zweiten Erhebung nahmen lediglich 74 Elternteile teil. Auch hier war – mit insgesamt 44 Müttern und 26 Vätern – eine stärkere Beteiligung von Müttern zu beobachten. Bei der Nationalität der Eltern zeigte sich, dass auch diesmal der Großteil von ihnen (38) türkische Staatsbürger waren, drei hatten die türkische und deutsche Staatsbürgerschaft, 19 von ihnen hatten nur die deutsche Staatsbürgerschaft und 13 gaben andere Staatsangehörigkeiten an. Die Aufenthaltsdauer der nicht in Deutschland geborenen Elternteile variierte von 4 bis 36 Jahren (Durchschnitt: 20 Jahre). 3.1 Akkulturationsorientierungen der Schülerinnen und Schüler Insbesondere der Übergang vom Elternhaus zur Schule ist für Kinder in der ersten Phase ein kritisches Lebensereignis, das potenziell stressverursachend ist. Für Kinder mit Migrationshintergrund kann dieser Übergang möglicherweise noch gravierender sein, wenn sie bspw. zuvor keine Kindertagesstätte besucht haben und in der Schule zum ersten Mal mit dem unterschiedlichen eigenen ethnischen Hintergrund konfrontiert werden. Die Qualität solcher kritischen „Übergänge“ im Migrationskontext, denen Migrantenkinder und ihre Familien begegnen, ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die Eltern als auch die Schüler das doppelte Verhältnis, einerseits zur eigenen Ethnie, andererseits zur Mehrheitsgesellschaft, eigenaktiv gestalten müssen. Hierbei lassen sich kulturpsychologischen Forschungen folgend in idealisierter Form vier Optionen unterscheiden, wie dieses Verhältnis gestaltet werden kann: Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung. (Vgl. für eine ausführliche Darstellung Bourhis et al. 1997) Während bei Integration und Assimilation Handlungsoptionen stärker auf die aufnehmende Gesellschaft bezogen sind, wobei die Integration zugleich Bezüge zur Herkunftskultur bzw. zur eigenen Ethnie stärker berücksichtigt, ist Separation durch eine stärkere Abgrenzung zur aufnehmenden Gesellschaft bei gleichzeitiger Hinwendung zur eigenen Ethnie und schließlich Marginalisierung durch eine Abgrenzung sowohl von dem eigenen ethnischen Hintergrund als auch durch eine Ablehnung von Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft gekennzeichnet. Dabei können diese Optionen bereichsspezifisch variieren (bspw. können Migranten sprachlich gut integriert sein und dennoch wenige Sozialkontakte zu Mehrheitsgesellschaft haben) und bringen nicht nur Unterschiede in personenbe-
154
Haci-Halil Uslucan
zogenen Präferenzen zum Ausdruck, sondern hängen wesentlich von den Erfahrungen mit Handlungsmöglichkeiten und -barrieren in der Aufnahmegesellschaft zusammen. Mit Bezug auf dieses Modell wurde versucht, anhand einiger ausgewählter Bereiche die Akkulturationsorientierungen von Schülern und Eltern zu erfassen. Vorsichtig gedeutet können die Ergebnisse einen Hinweis darauf geben, wie „integrationsoffen“ muslimische Familien und Schüler sind, wobei jedoch im Rahmen dieser Erhebung nicht ausdrücklich erfasst wurde, aufgrund welcher eigener Erfahrungen die Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern zu diesen Einstellungen gelangt sind. Ergebnisse der ersten und zweiten Klasse Für die jüngeren Schüler wurden die Fragen vorgelesen und im Anschluss nachgefragt, ob sie den Inhalt auch verstanden haben. Zum Teil erfolgte das Gespräch in beiden Sprachen, um erneut sicher zustellen, dass die Kinder die Interviewer auch verstanden haben. Danach wurden ihre Antworten codiert bzw. schriftlich festgehalten. Tabelle 1: Akkulturationsorientierungen der ersten und zweiten Klassen; (Angaben = Fallzahlen) Itemwortlaut
Herkunftssprache/ Herkunftsfamilie 7
Sprichst du Zuhause lieber Türkisch oder Deutsch oder beides? Möchtest du lieber besser deutsch sprechen 15 können oder lieber besser türkisch? Sollte deine Familie wie Deutsche oder wie Türken 21 leben? Was gefällt dir mehr? Wie türkische Familien leben 22 oder wie deutsche Familien leben?
Deutsch
beides
4
16
3
9
1
3
1
4
In der tatsächlichen Sprachpraxis scheinen die Schüler nicht vor die Alternative gestellt, entweder Deutsch oder die Herkunftssprache sprechen zu müssen. Die meisten von ihnen (16) erklärten, beide Sprachen zu gebrauchen. Eindeutig den eigenkulturellen Kontext favorisierende Antworten gibt es bei den nachfolgenden Fragen zur Präferenz familialer Lebensformen. Allerdings ist diese eindeutige Bevorzugung in dieser Altersstufe entwicklungspsychologisch eine typische und natürliche Haltung; eher die Ablehnung der Lebensform der eigenen Familie könnte als ein Indiz für eine problematische Beziehung im Eltern-KindVerhältnis gewertet werden.
Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
155
Tabelle 2: Akkulturationsorientierungen der dritten und vierten Klassen (Angaben in Prozent) Orientierung
Integration
Itemwortlaut
manchmal
stimmt nicht
Ich möchte gut deutsch sprechen können 83.2 und auch türkisch nicht vergessen.
8.6
8.1
Mir ist beides wichtig, türkische und deutsche Freunde zu haben.
73.0
18.4
8.6
Meine Familie sollte sowohl die türkische 40.7 Lebensweise bewahren und auch die deutsche annehmen.
29.7
29.7
Ich möchte auch in meiner Familie deutsch sprechen und nicht türkisch. Assimilation
Separation
Marginalisierung
stimmt sehr
22.8
28.3
48.9
Ich möchte eher deutsche Freunde haben 17.2 als türkische.
24.7
58.0
Meine Familie sollte leben wie Deutsche und nicht wie Türken.
9.8
6.3
83.9
Ich spreche lieber türkisch; deutsch spreche ich nur, wenn es unbedingt nötig ist.
49.7
31.6
18.7
Für mich ist es wichtiger, türkische Freunde zu haben als deutsche.
31.1
31.7
37.2
Meine Familie sollte nur ihre türkische Lebensart behalten.
71.5
17.3
11.2
In meiner Familie soll alles bleiben, wie es 72.7 in der Türkei war.
22.4
4.9
Ich möchte weder mit Türken noch mit Deutschen befreundet sein.
14.3
14.3
71.4
Meine Familie sollte ihre Lebensweise aufgeben, aber auch die deutsche nicht annehmen.
17.3
11.7
70.9
Weder das türkische noch das deutsche Familienleben ist gut.
31.8
20.5
47.7
156
Haci-Halil Uslucan
Im Folgenden werden die einzelnen Items zu Konstrukten zusammengefasst:
2,49
2,38 1,57
Se pa ra tio n
As si m ila tio
In te gr at io
n
1,53
n
3 2,5 2 1,5 1 0,5 0
Ausprägung der jeweiligen Akkulturationsorientierungen
M ar gi na lis ie ru ng
Abbildung 1:
Die Abbildung zeigt (einzelne Itemmittelwerte der jeweiligen Dimension wurden addiert und dann gemittelt)1, dass in den untersuchten dritten und vierten Klassen die Orientierung in Richtung Integration die stärkste Dimension bildet, gefolgt von eher separationistischen Tendenzen; d.h., in ihrer Beziehungsgestaltung zu relevanten Aspekten der Mehrheitsgesellschaft möchten die Schülerinnen und Schüler in erster Linie sowohl Bezüge zu ihrer eigenen familialen Tradition, als auch Bezüge zu Deutschen aufrecht halten. Was Schüler dieser Jahrgänge jedoch auf jeden Fall ablehnen, ist eine eindeutige Assimilationshaltung, d. h. die Aufgabe der eigenkulturellen Bezüge und eine völlige Identifikation mit mehrheitskulturellen Aspekten. Aber auch die Haltung der Marginalisation, d. h. eine skeptische Haltung zur eigenen wie der Mehrheitskultur zugleich, wird deutlich abgelehnt. Zum besseren Verständnis der Daten ist anzuführen, dass diese Orientierungen keine Ausschlussverhältnisse anzeigen, d. h. dass die befragten Schülerinnen und Schüler sich bspw. nicht entweder für Integration oder für Assimilation etc. zu äußern hatten, sondern eher für sich quantitativ die Relevanz dieser Orientierungen gewichten sollten.
1
Jedoch ist zu erwähnen, dass die Messung der Akkulturationsorientierungen, wie in anderen kulturpsychologischen Studien mit Erwachsenen auch, stets eher dürftige Skalenreliabilitäten (Zuverlässigkeit des Messinstruments) zeigt; hier betrugen diese zwischen Cronbachs Alpha .48 und .57; erforderlich wären Werte um zumindest .65. Allerdings sind auch sehr wenige Items verwendet worden, die zum Teil diese geringen Reliabilitäten erklären. Deshalb sind diese Werte nicht als exakte statistische „Abbildungen“ der Orientierung eines Menschen zu betrachten, sondern eher als Tendenzen.
Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
157
Bei der ein Jahr später erfolgten Befragung gab es folgende Ergebnisse: Tabelle 3: Akkulturationsorientierungen der zweiten Klassen (Angaben = Fallzahlen2) Itemwortlaut
Herkunftssprache/ Deutsch Herkunftsfamilie
beides
Keine Angaben
Sprichst du zu Hause lieber Türkisch oder Deutsch oder beides?
9
4
17
0
Möchtest du lieber besser deutsch sprechen können oder lieber besser türkisch?
15
4
6
5
Möchtest du lieber türkische Freunde haben oder lieber deutsche?
7
2
20
1
Sollte deine Familie (deine Eltern und deine Geschwister) wie Deutsche oder wie Türken leben?
25
3
0
2
Was gefällt dir mehr? Wie türkische Familien leben oder wie deutsche Familien leben?
19
1
3
7
Mit Blick auf die alltägliche Sprachpraxis wird auch in der zweiten Erhebung deutlich, dass für die meisten Schülerinnen und Schüler ein gelebter Bilingualismus vorherrscht; obwohl die Frage direkt auf den häuslichen Kontext gezielt war, erklärten die meisten (17), beide Sprachen zu gebrauchen. Etwa ein Drittel spricht zu Hause die Familiensprache, die dabei in der Erhebung der zweiten Klassen folgende Sprachen umfasste: Afghanisch, Albanisch, Arabisch, Deutsch, Kurdisch, Persisch und Türkisch. Dagegen wünschten sich etwa die Hälfte der befragten Zweitklässler bessere Kenntnisse in der Sprache der Herkunftsfamilie. Erneut gab es bei den Fragen zur Präferenz familialer Lebensformen eindeutig den eigenkulturellen Kontext favorisierende Antworten.
2
Sieben Schülerinnen und Schüler der zweiten Klassen aus der Grünenberg-Grundschule in Melle nahmen fälschlicherweise an der Befragung der dritten und vierten Klasse im Gruppenverband teil. Ihre Daten werden hier herausgenommen und für die weitere Auswertung nicht berücksichtigt. Deshalb ist die Fallzahl bei den zweiten Klassen 30.
158
Haci-Halil Uslucan
Tabelle 4: Akkulturationsorientierungen der dritten und vierten Klassen (Angaben in Prozent) Orientierung
Integration
Assimilation
Separation
Marginalisierung
Itemwortlaut
stimmt sehr
manchmal
stimmt nicht
Ich möchte gut deutsch sprechen können und auch türkisch nicht vergessen.
79.2
12.4
8.5
Mir ist beides wichtig, türkische und deutsche Freunde zu haben.
77.0
18.5
4.5
Meine Familie sollte sowohl die türkische Lebensweise bewahren und auch die deutsche annehmen.
54.2
25.0
20.8
Ich möchte auch in meiner Familie deutsch sprechen und nicht türkisch.
21.1
42.3
36.6
Ich möchte eher deutsche Freunde haben 8.6 als türkische.
18.3
73.1
Meine Familie sollte leben wie Deutsche und nicht wie Türken.
5.8
8.1
86.1
Ich spreche lieber türkisch; deutsch spreche ich nur, wenn es unbedingt nötig ist.
30.3
41.6
28.1
Für mich ist es wichtiger, türkische Freunde zu haben als deutsche.
19.2
24.9
55.9
Meine Familie sollte nur ihre türkische Lebensart behalten.
61.0
20.3
18.6
Ich möchte weder mit Türken noch mit Deutschen befreundet sein.
2.9
1.1
96.0
Weder das türkische noch das deutsche Familienleben ist gut.
6.8
12.4
80.8
Auch in der zweiten Erhebung wird deutlich, dass für alle Items die stärksten Zustimmungswerte der Akkulturationsorientierung „Integration“ gelten. Die Schülerinnen und Schüler möchten zwar die eigenethnischen Netzwerke und Ressourcen (wie etwa Freundschaften und sprachliche Fähigkeiten) erhalten wissen, sind jedoch zugleich offen für Netzwerke und Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft. Tendenziell ist nach der Integration als die favorisierte Akkulturationsstrategie die Separation die zweitstärkste Orientierung; deutlich unattraktiver
Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
159
sind dagegen die Orientierungen in Richtung Assimilation und Marginalisierung, d. h. die Ablehnung beider kultureller Referenzsysteme. Bei genauerer Betrachtung werden darüber hinaus auch Unterschiede im Hinblick auf individuelle vs. familiale Orientierungen deutlich: Was die familialen Haltungen betrifft, so sind die Schülerinnen und Schüler weniger geneigt, im Familiensystem ethnisch kulturelle Durchdringungen und Mischungen zuzulassen als in der individuellen Lebensführung und Haltung. Die auf das Individuum bezogenen Items weisen eine deutlich stärkere Integrationsoffenheit auf als das familienbezogene Aussageverhalten. Abbildung 2: 3
Ausprägung der jeweiligen Akkulturationsorientierungen 2,58
2,5
2,04
2
1,47
1,5
1,16
1 0,5
ng M
ar g
Se pa
in al is ie ru
ra t io
n
n i la t io As si m
In
te g
ra tio
n
0
In der Zusammenfassung von Abbildung 2 zeigt sich, dass auch in der zweiten Erhebung in den untersuchten dritten und vierten Klassen die Orientierung in Richtung Integration die stärkste Dimension bildet. Separationistische, eigenkulturelle Kontexte favorisierende Haltungen sind am zweitstärksten vertreten. Was Schülerinnen und Schüler dieser Jahrgänge erneut auf jeden Fall ablehnen, ist eine „kulturelle Orientierungslosigkeit“, d. h. die Marginalisation bzw. eine überzogen kritisch-skeptische Haltung zu mehrheitskulturellen und eigenkulturellen Bezügen. Dies ist entwicklungspsychologisch von Kindern dieser Altersstufe auch kaum leistbar. Zugleich werden jedoch auch eindeutige Assimilationshaltungen, d. h. die Aufgabe der eigenkulturellen Bezüge und eine völlige Identifikation mit mehrheitskulturellen Aspekten sehr skeptisch betrachtet.
160
Haci-Halil Uslucan
Abbildung 3:
Akkulturationsorientierungen im Zeitverlauf Erhebung 1
2,8
Erhebung 2
2,2
1,6
g ie ru n
n tio M
ar gi
na lis
ra Se pa
tio n As sim ila
In
te g
ra t
io n
1
Betrachtet man die Ergebnisse im Zeitverlauf, so wird deutlich, dass zum einen die Orientierung in Richtung Integration bei den dritten und vierten Klassen leicht zugenommen hat, sich bei Assimilationshaltungen kaum Veränderungen ergeben haben, aber eine deutliche Abnahme der separationistischen Orientierungen zu verzeichnen ist. Auch eine Abnahme der Marginalisierungstendenzen ist zu bemerken. Die Differenzen sind bei den Orientierungen „Marginalisierung“ und „Separation“ – trotz einer kleinen Stichprobe – auch statistisch signifikant; bei „Integration“ und „Assimilation“ verfehlen die Differenzen die Signifikanzgrenze von p<.10. Aus sozialpolitischer Sicht sind es ermutigende Tendenzen. Wenngleich die Effekte verschiedene Ursachen haben mögen, so kann doch zumindest entschieden festgehalten werden, dass von antiintegrativen Tendenzen und Entwicklungen bei dieser Stichprobe der muslimischen Schülerinnen und Schüler nicht gesprochen werden kann, sondern genau das Gegenteil vorzufinden ist: Es ist eine deutliche Abnahme der Orientierung „Separation“ bei gleichzeitiger Zunahme der „Integration“ festzustellen. 3.2 Perzipiertes Schulklima Für die Erfassung des Schul- bzw. Unterrichtsklimas in den dritten und vierten Klassen konnten etablierte Messverfahren herangezogen und in einer leicht modifizierten und adaptierten Version eingesetzt werden. (LASSO; vgl. Saldern & Littig 1987) Hier werden nur die Daten der dritten und vierten Klassen dargelegt.
Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
161
Tabelle 5: Fürsorglichkeit des Lehrers (Angaben in Prozent) Dimension
Fürsorglichkeit des Lehrers
Itemwortlaut
oft
manchmal
selten
Wenn die Schüler Fragen an den Lehrer haben, dann hat er auch Zeit für sie.
52.5
38.1
9.4
Der Lehrer hilft uns wie ein Freund.
74.2
19.4
6.5
Unser Lehrer kümmert sich um die Probleme der Schüler.
75.0
19.4
5.6
Der Lehrer achtet zu wenig darauf, wie sich die Schüler fühlen.
29.1
28.6
42.3
Der Lehrer hilft jedem Schüler, der Schwierigkeiten mit seiner Arbeit hat.
75.6
16.7
7.8
Im Islamunterricht reden wir über Fragen, die für uns wichtig sind.
69.9
20.8
9.3
Der Lehrer bemüht sich, die Wünsche der Schüler zu erfüllen.
48.9
39.0
12.1
Unser Lehrer ist bereit, mit uns zu reden, wenn uns etwas nicht gefällt.
60.7
28.1
11.2
Im Allgemeinen erleben die dritten und vierten Klassen ihre Religionslehrkräfte als recht fürsorglich und verständnisvoll; allenfalls rund 10% der Schüler zeigen sich mit den Lehrkräften unzufrieden. Die Schüler wurden ein Jahr später erneut befragt. Und auch hier zeigte sich, dass rund zwei Drittel bis drei Viertel der befragten Schülerinnen und Schüler ihre Religionslehrkräfte auch im zweiten Jahr als recht fürsorglich und hilfsbereit erlebten. Darüber hinaus wurden die Schüler gefragt, worin sie im Islamunterricht die stärksten Wissenszuwächse erfahren haben. Tabelle 6: Wissenszuwachs durch den Islamunterricht (Angaben in Prozent) Itemwortlaut
Ja, etwas
Nur ein wenig
Gar nicht
Im Islamunterricht habe ich etwas über 79.6 den Propheten Mohammed gelernt.
Ja, sehr viel
17.7
2.8
0
Im Islamunterricht habe ich einiges über den Koran gelernt.
54.1
38.1
5.0
2.8
Im Islamunterricht habe ich einiges 64.1 über die islamische Geschichte gelernt.
25.4
6.1
4.4
Die größten Wissenszuwächse scheinen die Schüler in beiden Erhebungen bei den Kenntnissen über den Propheten zu verzeichnen; ebenfalls recht hohe und im Vergleich zu der ersten Erhebung sogar leicht angestiegene Wissenszuwächse
162
Haci-Halil Uslucan
waren mit Blick auf die islamische Geschichte und den Koran festzuhalten. Nur eine geringe Rate von knapp fünf Prozent bekundete, wenige oder gar keine islamspezifischen Kenntnisse durch den islamischen Religionsunterricht erworben zu haben. Bei der Frage, ob andere Religionen genauso wichtig seien wie der Islam, gaben in der ersten Befragung rund 61% der Schüler eine eindeutig befürwortende Haltung an, knapp 18% hatten eher eine einschränkende Haltung und rund 20% lehnten dies ab bzw. drückten aus, dass andere Religionen für sie nicht genauso wichtig wie der Islam seien. Die Frage, ob sie sich mehr Kenntnisse auch über andere Religionen wünschten, befürwortete rund ein Drittel eindeutig, ein Drittel gab an, sich manchmal mehr Kenntnisse über andere Religionen zu wünschen. Knapp 12% lehnten aber mehr Kenntnisse eher ab; rund 21% wünschten explizit keine Kenntnisse über andere Religionen. Leichte positive Veränderungen waren bei der zweiten Erhebung festzustellen: Zunächst berichteten hier ca. 62% der Schülerinnen und Schüler, andere Religionen seien genauso wichtig wie der Islam, knapp 21% stimmten dieser Aussage einschränkend zu (stimmt etwas); etwa 4% lehnten diese Aussage eher ab und rund 13% erklärten, andere Religionen seien für sie nicht genauso wichtig wie der Islam. Im Zeitvergleich ist hier aber ein Rückgang um ca. 5% bei denjenigen zu verzeichnen, die die Gleichrangigkeit anderer Religionen neben dem Islam ablehnen. Insofern kann bei den älteren Jahrgängen – analog zu den Akkulturationsorientierungen – kaum von religiös-zentrierten Überlegenheitsansprüchen gesprochen werden. 4
Einschätzung der Eltern
4.1 Zufriedenheit der Eltern mit dem islamischen Religionsunterricht Recht zeitnah mit den Schülern wurden auch die Eltern zu ihrer Zufriedenheit mit den einzelnen Dimensionen des islamischen Religionsunterrichts befragt. Exemplarisch sollen hier die Daten der ersten Befragungswelle berichtet werden.
Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
163
Tabelle 7: Elterliche Zufriedenheit mit dem islamischen Religionsunterricht (Angaben in Prozent) Itemwortlaut
nicht zufrieden
eher unzufrieden
mittelmäßig zufrieden
Eher zufrieden
sehr zufrieden
Mit den Inhalten des islamischen Religionsunterrichts
0
5.0
16.0
43.0
36.0
Mit der Unterrichtsform
5.1
2.0
11.2
50.0
31.6
Mit der Kompetenz und dem Wissen des Islamlehrers
2.1
1.0
8.3
51.0
37.5
Mit dem Engagement des Islamlehrers bin ich
1.1
1.1
13.2
37.4
47.3
Mit dem Umgang des Islamlehrers mit den Kindern
0
1.1
9.6
34.0
55.3
Mit dem Lernklima im Unterricht, wie es mir von meinem Kind mitgeteilt wird
2.0
2.0
11.2
45.9
38.8
Mit der Motivation meines Kindes, weiterhin am Islamunterricht teilzunehmen
3.0
0
8.0
36.0
53.0
Mit dem Lerntempo meines Kindes im Islamunterricht
1.0
2.0
16.3
40.8
39.8
Mit den Anforderungen des Islamunterrichts an die Kinder
3.2
1.1
9.6
52.1
34.0
Mit dem Wissenszuwachs meines Kindes über den Islam
1.0
1.0
15.3
32.7
50.0
Deutlich wird, dass der überwiegende Teil der Eltern mit dem „Islamischen Religionsunterricht“ in der bisherigen Form „zufrieden“ bis „sehr zufrieden“ ist; am stärksten sind die Zustimmungsraten beim Umgang der Religionslehrkraft mit den Kindern und bei der Motivation des Kindes, am Unterricht teilzunehmen. Auch in der zweiten Erhebung scheinen die Eltern überwiegend „zufrieden“ bis „sehr zufrieden“ zu sein; rund zwei Drittel äußern sich explizit positiv über den bisherigen Verlauf. In der zweiten Erhebung lagen die stärksten Zustimmungen bei der Motivation der Kinder sowie beim Engagement und Umgang der Religionslehrkraft mit den Kindern.
164
Haci-Halil Uslucan
4.2 Kritiken der Eltern Explizit wurden die Eltern in einem freien Antwortformat gebeten zu berichten, was sie trotz des positiven Verlaufes an der Konzeption und Durchführung des Unterrichts als kritisch betrachten. Exemplarisch sollen hier einige häufige Nennungen aus der ersten Erhebungswelle aufgeführt werden: Tabelle 8: Kritik der Eltern am islamischen Religionsunterricht Obwohl die Kinder erst 7 Jahre alt sind, glaube ich, dass sie vielmehr lernen könnten, Deshalb halte ich den vermittelten Stoff als zu wenig. Dass es mit dem Türkischunterricht gemeinsam unterrichtet wird und zeitlich zu wenig ist. Zeitlich zu wenig und die Gefahr, dass der Islamunterricht evtl. wieder abgesetzt wird, beunruhigt. Es sollte im Unterricht nicht vom Weihnachtsmann geredet werden und keine Anstrengungen unternommen werden, die deutsche Religion den Kindern „schmackhaft“ zu machen. „Es wird nur oberflächlich an den Kindern vermittelt. Der eigentliche Sinn, der fehlt! Z. B. was ist Ramadan? Es ist Fastenzeit! Ja das auch, aber der Sinn ist doch, dass wir fühlen, wie es den armen hungernden Menschen geht.“ Dass Dinge behauptet werden, die es im Islam so nicht gibt. Dass der Unterricht auf Deutsch ist; im eigentlichen Sinne wird kein Unterricht gegeben. Zwar wird den Kindern was Gutes beigebracht, aber ich wünschte mir, dass sie auch Hausaufgaben bekämen. Noch mehr Zeit dafür aufbringen. Man muss den Kindern beibringen, dass der Islam keine extremistische Religion ist, wie er häufig in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Die unterrichtende Person sollte mehr Kenntnisse über die Religion haben. Nach meiner Ansicht sollte unser Staat geeignete Fachkräfte entsenden, damit die Kinder hier ihre Religion gut lernen können. Gegenwärtig läuft es eigentlich gut, aber der Dialog mit den Kindern sollte intensiviert werden. Dass der Unterricht nicht in der Muttersprache erfolgt. Ungenügende Kenntnisvermittlung durch den Lehrer. Was die Anforderungen sind, darüber haben wir kaum Kenntnis. Was mir jedoch auffällt, ist, dass der Unterricht sehr oberflächlich und sehr vereinfachend abläuft. Dass es keine Religionslehrer gibt. Die Lehrerin ist für Türkischunterricht, nicht richtige islamische Religionslehrerin. Weil mein Kind nicht so viele Gebete lernt. Es wird über Abraham gesprochen, nicht über Ibrahim (türkische Schreibweise, Anm. Uslucan). Was soll ich da noch diskutieren? Aus meiner Sicht sind wir für das, wie der Islamunterricht abläuft, sowohl als Eltern wie auch als Gesellschaft verantwortlich.
Integration durch Islamischen Religionsunterricht? 5
165
Zusammenfassung
Festzuhalten an den Ergebnissen des Schulversuchs ist, dass sich sowohl in der ersten als auch in der zweiten Erhebung bei Schülern wie bei deren Eltern hohe Zufriedenheitswerte zeigen. Aufgrund der bereits in der ersten Erhebung erzielten hohen Werte wäre statistisch eine „Regression zur Mitte“ zu erwarten, d.h., da es „nach oben“ kaum Potenziale gibt, wäre die Wahrscheinlichkeit einer Abnahme der Zufriedenheit deutlich größer. Dies trat jedoch nicht ein. Im Ganzen konnten die positiven Befunde auf einem hohen Niveau stabil gehalten werden. In der zweiten Erhebung konnte durch die Hinzunahme einer Kontrollgruppe (Schüler, die am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht teilnehmen sowie solche Schüler, die explizit am islamischen Religionsunterricht nicht teilnehmen) geprüft werden, inwiefern muslimische Schüler sich in ihrer Haltung zur Religion von christlichen bzw. nicht-konfessionellen Schülern unterscheiden. Die Ergebnisse zeigten, dass muslimische Schüler sich neben den Kenntnissen, die sie über den Islam erworben haben, auch Kenntnisse über andere Religionen wünschen und sich darin von nicht-muslimischen Schülern kaum unterscheiden. Darüber hinaus zeigte sich im Zeitverlauf, dass die religiöse Unterweisung der Schüler außerhalb des Schulkontextes (Elternhaus, Moschee etc.) tendenziell eher abnimmt; möglicherweise ist diese Entwicklung auch auf die von der Schule ausgehenden Wissensimpulse zurückzuführen, sodass muslimische Eltern sich nicht mehr genötigt sehen, zusätzliche religiöse Unterweisung für ihre Kinder zu arrangieren. Aus der kritischen Rückmeldung der Eltern kann abgeleitet werden, dass Eltern noch stärker über die didaktische Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts informiert werden sollten. Denn zentrale Aspekte elterlicher Kritiken und Wünsche betreffen die Forderung nach mehr Faktenwissen und zum Teil aber auch nach mehr Disziplin. Hier wird angeregt, muslimischen Eltern die Notwendigkeit von „soft skills“ im Unterricht zu vermitteln, d. h. die Fähigkeiten zur Perspektivübernahme, Empathie, aber auch kommunikative Fähigkeiten und Sozialkompetenzen, als wesentliche Bestandteile des islamischen Religionsunterrichts – neben Fach- und Faktenwissen. Darin scheinen mir Konfliktpotenziale zwischen den aktuellen und den elterlichen Vorstellungen über den islamischen Religionsunterricht zu liegen, den die Eltern vermutlich noch aus ihrer eigenen schulischen und religiösen Sozialisation in ihren Herkunftsländern kennen. Ferner wird an den Forderungen nach einem muttersprachlichen (meist türkischen) Unterricht des Islam bzw. der Zusammenarbeit mit bestimmten islamischen Verbänden deutlich, dass es für die Schule bzw. für die Schulpolitik notwendig ist, den äußerst heterogenen familialen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler zu kommunizieren sowie darauf hinzuweisen, dass mit einem auf
166
Haci-Halil Uslucan
Deutsch vermittelten Islamunterricht auch andere Effekte einhergehen: Und zwar sprachliche Kompetenzsteigerung im Deutschen sowie die Fähigkeit, in einen kommunikativen Austausch mit anderen über Fragen der eigenen religiösen Identität treten und sich dabei eines Vokabulars bedienen zu können, das auch deutschen Schülerinnen und Schülern verständlich ist. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung zum Schulversuch „Islamischer Religionsunterricht“ können als ein Hinweis gedeutet werden, dass die von der niedersächsischen Landesregierung angestrebten integrativen Ziele auch tatsächlich erreicht werden bzw. die Implementierung dieses Unterrichts keineswegs separationistische Tendenzen fördert. Annahmen, der islamische Religionsunterricht könnte zu einer Selbstgenügsamkeit der Muslime und zu einer Ablehnung des Kontaktes zu anderen Religionen führen, sind weitestgehend von der Hand zu weisen; denn es zeigte sich, dass muslimische Schüler genauso offen und respektvoll mit anderen Religionen umgehen möchten wie bspw. christliche bzw. nicht-konfessionelle Schüler und Schülerinnen. Zu unterstreichen ist, dass entgegen öffentlicher Wahrnehmungen und Mutmaßungen, die muslimischen Familien recht pauschal Separationsorientierungen unterstellen, sowohl bei Schülern als auch bei Eltern die vorherrschende Orientierung die Integration ist: Es besteht der Wunsch nach Teilhabe, Partizipation an der Mehrheitsgesellschaft, Kontakt und Freundschaften zu Deutschen, aber auch der Wunsch, die familialen Traditionen der eigenen Eltern beizubehalten. Politisch lassen sich die niedersächsischen Erfahrungen als ein gelungener Versuch deuten, die religiöse Integration von Muslimen zu gestalten, wenngleich langfristig die Lehrkräfte sich nicht – wie bislang – aus dem Muttersprachenunterricht rekrutieren dürfen, sondern diese ausgebildete islamische Religionspädagog/inn/en sein müssen. Zwar scheint mir aus politischer Sicht die Deutung des Modellversuchs „Islamischer Religionsunterricht“ als eine „Islamisierung der Integrationsdebatte“ überzogen zu sein, dennoch lässt sich aber festhalten, dass die vielfach unterstellte „Integrationsresistenz“ der Muslime seinerseits auch an der empirischen Realität vorbei geht und Muslime an ihrer Integration und Teilhabe an der Gesellschaft interessiert sind und sich hierzu auch kompromissbereit zeigen. Literatur Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2009: Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Forschungsbericht 6, Nürnberg. Boos-Nünning, Ursula/Karakasoglu, Yasemin, 2005: Viele Welten. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster.
Integration durch Islamischen Religionsunterricht?
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Norbert Gestring
Parallelgesellschaft, Ghettoisierung und Segregation – Muslime in deutschen Städten Parallelgesellschaft, Ghettoisierung und Segregation
Norbert Gestring
Dieser Beitrag diskutiert den Zusammenhang zwischen der residentiellen Segregation von muslimischen Migranten in deutschen Städten und der Entstehung von Parallelgesellschaften. Unter Segregation wird in der Stadtforschung die ungleiche Verteilung der Wohnstandorte sozialer Gruppen verstanden. (Dangschat 2000) Die Wohnbevölkerung verteilt sich üblicherweise nicht gleichmäßig über ein Stadtgebiet. Studenten, Wohlhabende, die „kleinen Leute“, Arbeitsmigranten, Mittelschichtsfamilien, Künstler – sie alle haben unterschiedliche Vorstellungen vom guten und richtigen Wohnen und unterschiedliche Ressourcen, diese Präferenzen zu verwirklichen. Aus dieser hoch differenzierten Nachfrage einerseits und andererseits einer Angebotsseite, die durch eine Kombination aus Marktmechanismen und politischer Regulation einen segmentierten Wohnungsmarkt mit differenzierten Teilmärkten schafft, entstehen vielfach segregierte Städte mit oft deutlich abgrenzbaren Vierteln. Während die Vielfalt der Wohngebiete und Quartiere oft den Reiz von Großstädten ausmacht, kann es infolge der Segregation zur Herausbildung benachteiligter Quartiere kommen, die sich benachteiligend auf die Lebenschancen der Bewohner auswirken und soziale Ausgrenzung verstärken können. (Vgl. die Beiträge in Häußermann et al. 2004) Das ist etwa der Fall, wenn Bewohner von Armutsquartieren aufgrund ihrer Wohnadresse stigmatisiert werden und bei der Suche nach einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz auf Ablehnung stoßen, weil sie aus dem ‚falschen‘ Viertel kommen. Während die negativen Folgen der Konzentration von sozial benachteiligten Gruppen in Wohnquartieren belegt sind (vgl. Gestring/Janßen 2005), werden die Folgen der Entstehung von Migrantenquartieren in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert. (Zu den Argumenten pro und contra vgl. Häußermann/Siebel 2004: 173-190) In der Politik gibt es einen breiten Konsens darüber, dass ethnische Segregation und die Herausbildung von Migrantenquartieren ein Indiz für das Scheitern der Integration und deshalb zu verhindern sind. Im nationalen Integrationsplan wird zwar die Losung „Integration trotz Segregation“ zitiert, sie gilt aber deutlich als zweite Wahl gegenüber dem eigentlichen Ziel der Schaffung ethH. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nisch gemischter Viertel: „Leitbild (…) ist die Schaffung und Sicherung sozial und ethnisch gemischter Quartiere“ (Bundesregierung 2007: 112). In einem Abschnitt, der von den Bundesländern verantwortet wird, wird die Segregation sogar zu dem, neben der Sprache, wichtigsten Integrationshemmnis erklärt: „Die Länder sehen die größten Hemmnisse für gelingende Integration in den fehlenden Kenntnissen der deutschen Sprache, einer sozialräumlichen Segregation und im Rückzug in eigenethnische Strukturen.“ (Bundesregierung 2007: 24)
Solche Überzeugungen gehen im medialen und politischen Diskurs häufig mit Warnungen vor Ghettos und Parallelgesellschaften einher, die infolge der Segregation in Migrantenquartieren entstehen könnten. Dabei werden die Begriffe als Topoi verwendet, die nicht hinterfragt werden können, denn dass Ghettos schlecht sind weiß jeder und dass Parallelgesellschaften, zumal muslimische, verhindert werden müssen, bedarf auch keiner weiteren Begründung. Auf der Basis theoretischer Überlegungen und empirischer Befunde befassen sich die folgenden Abschnitte mit dem Zusammenhang von Segregation bzw. räumlichen Konzentrationen von muslimischen Migranten und ihrer sozialen Integration. Dazu wird im folgenden Abschnitt das Ghetto definiert und anhand historischer Beispiele von anderen Typen von Migrantenquartieren, insbesondere den Enklaven, abgegrenzt. Der zweite Abschnitt setzt sich mit Parallelgesellschaften auseinander und fragt nach den Folgen von Migrantenquartieren für die soziale Integration. Im dritten Abschnitt werden stadtpolitische Konsequenzen im Hinblick auf die Integration – nicht nur – muslimischer Migranten skizziert. 1
Ghettos, Enklaven und die Segregation von Migranten in deutschen Städten
Ghettos In deutschen Städten gibt es keine Ghettos und auch keine Ghettoisierungstendenzen. Die Rede davon taugt zur Skandalisierung, nicht aber zur sozialwissenschaftlichen Diskussion der Frage, welcher Zusammenhang zwischen der residentiellen Segregation von Muslimen und den Formen und Folgen ihrer Religionsausübung besteht. Außerdem werden tatsächliche Ghettos dadurch verharmlost. Nach der Definition von Marcuse ist ein Ghetto „(…) ein Gebiet, in welchem Raum und Rasse miteinander verbunden sind, um eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die von der herrschenden Gesellschaft als minder-
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Norbert Gestring wertig angesehen wird, zu definieren, zu isolieren und einzugrenzen.“ (Marcuse 1998: 179)
Ein Ghetto ist nach dieser Definition ein sozialräumliches Gefängnis, das Menschen aufgezwungen wird. Vergegenwärtigt man sich historische Beispiele wie die Ghettoisierung von Juden in europäischen Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit oder die der Schwarzen in US-amerikanischen Städten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, wird deutlich, was damit gemeint ist.1 Der Begriff des Ghettos stammt aus Venedig, wo Ghetto ursprünglich der Name einer Gießerei war. Anfang des 16. Jahrhunderts wurden die ca. 2000 Juden der Stadt gezwungen, auf eine Insel zu ziehen, auf der sich die Gießerei befand. (Vgl. Sennett 1995: 269-303) Die jüdische Bevölkerung musste im Ghetto wohnen, in anderen Teilen der Stadt durften sich Juden nicht niederlassen, Christen konnten im Ghetto nicht wohnen. Tagsüber konnten die Juden ihren Geschäften in der Stadt nachgehen, aber nachts mussten sie sich im Ghetto aufhalten. Die Zugbrücken über die Kanäle, die das jüdische Wohngebiet umgaben, wurden abends hochgezogen. Dadurch entstand die für Ghettos typische Ambivalenz aus räumlicher Isolation, ökonomischer Teilhabe, sozialer Ausgrenzung und institutioneller Selbstorganisation. Wie im ersten deutschen Ghetto (das freilich noch nicht so genannt wurde), der Frankfurter Judengasse, die 1462 den Frankfurter Juden als Wohnstraße zugewiesen wurde (vgl. dazu die Beiträge in Backhaus et al. 2006), erfüllten Juden ökonomisch bedeutende Funktionen in der Stadt. Aber diese ökonomische Bedeutung wie auch das Recht, Verträge mit Christen abzuschließen, war begleitet von räumlicher Separierung und gesellschaftlicher Ächtung. Die Kehrseite dieser sozial-räumlichen Isolation war die jüdische Selbstbehauptung, die sich im Auf- und Ausbau eigener Institutionen und der Festigung der Gemeindeidentität zeigte. Im Ghetto war es den Juden erlaubt, eine Synagoge und weitere Einrichtungen einer Gemeinde zu betreiben. Auch bot der separierte Wohnort einen Schutz vor gewalttätigen Übergriffen – zumindest solange, wie die Juden im Ghetto verweilten und dort von den Christen in Ruhe gelassen wurden. Betreiberin der Ghettoisierung war seit dem HochMittelalter die katholische Kirche; verschiedene Päpste versuchten immer wieder, Kontakte zwischen Christen und Juden möglichst weitgehend zu beschränken. Seit dem Laterankonzil von 1179 wurden mehrfach Beschlüsse verkündet,
1
Auf die Ghettos, die die Nationalsozialisten ab 1939 in Osteuropa errichteten, wird hier nicht weiter eingegangen, weil sie einen Sonderfall darstellen. (Vgl. die Beiträge in Diekmann/Quinkert 2009) Die Ghettos hatten anfangs den Zweck der Separierung und Deportation der jüdischen Bevölkerung, waren dann teilweise Arbeitslager und letztlich „Wartesäle der Vernichtung“ (Benz 2008: 49)
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die darauf abzielten, Juden zu separieren. (Vgl. Mentgen 2001 sowie den Überblick über die Ghettoisierung in europäischen Ländern bei Ravid 2006) Das Nebeneinander von ökonomischer Ausbeutung und sozialräumlicher Isolation ist auch Kennzeichen der Ghettos, die den afroamerikanischen2 Migranten aufgeherrscht wurden, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus dem landwirtschaftlich geprägten Süden der USA in die sich rasch industrialisierenden Städte des Nordens und Nordostens gezogen waren. (Vgl. Massey/Denton 1993: 26-59; d’Eramo 1998: 271-294) In Städten wie Chicago und New York stießen sie auf europäische Immigranten und deren Nachfahren, die in ihnen nicht nur – wie in jeder neuen Immigrantengruppe – Konkurrenten um Arbeitsplätze sahen, sondern sie aus rassistischen Gründen prinzipiell als gleichberechtigte Stadtbewohner ablehnten. Auch hier war die räumliche Separation der Minderheit das Mittel, um Kontakte der stigmatisierten Gruppe mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die erzwungene Segregation erstreckte sich über alle Lebensbereiche, von der Erziehung über den öffentlichen Nahverkehr bis hin zu Freizeiteinrichtungen und Stränden. Durchgesetzt wurde die Ghettoisierung der Schwarzen mit offener Gewalt. Afroamerikaner, die außerhalb der für sie vorgesehenen Wohngebiete wohnten, riskierten ihr Leben. Massey und Denton beschreiben Stufen eskalierender Gewalt: wenn Drohbriefe und Geldsammlungen für den Kauf des Hauses, in dem Afroamerikaner wohnten, nicht zum Ziel führten, dann kam es oft zu Attacken von Gruppen, die sich nach einer Versammlung spontan zu einem Mob zusammenschlossen. „If the escalating violence still failed to produce the desired result, the last step was dramatic and guaranteed to attract the attention, not only of the homeowner, but of the entire black community: bombing” (Massey/Denton 1993: 35).
Allein in Chicago wurden zwischen 1917 und 1921 58 Wohnhäuser von Schwarzen bombardiert. Ab den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bewirkten institutionelle Formen der Diskriminierung, dass die Rassentrennung der Wohngebiete aufrechterhalten blieb. So sorgten Nachbarschaftsorganisationen, sogenannte neighborhood improvement organizations, dafür, dass weiße Wohngebiete weiß bleiben, indem sich die Hauseigentümer gegenseitig verpflichteten, ihre Häuser nicht an Schwarze zu verkaufen. Wie die Juden in den Ghettos der europäischen Städte der frühen Neuzeit waren auch die Schwarzen ökonomisch integriert – sie arbeiteten größtenteils im niedrigsten Segment der boomenden Industriebetriebe –, aber sozial und kulturell ausgegrenzt. Und wie die Juden organisierten auch die Schwarzen in den US-amerikanischen Ghettos ein intensives Gemeinde- und 2
Die Begriffe „afroamerikanisch“ und „schwarz“ werden hier synonym verwendet.
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Geschäftsleben. Da der kleinen schwarzen Mittelschicht die für die USA so typische Verbindung von sozialer und räumlicher Mobilität verwehrt blieb – auch Unternehmer, Ärzte und Lehrer konnten nicht außerhalb der vorgeschriebenen Gebiete wohnen – waren die Schwarzenghettos vertikal integriert. Die Mehrzahl der Bewohner gehörte zwar der Arbeiterklasse an, aber die Ghettos waren sozial gemischt, und diese soziale Mischung war die Basis dafür, dass vielfältige kulturelle und religiöse Institutionen entstehen konnten und New Yorks Harlem und Chicagos Bronzeville prosperierende schwarze Communities beherbergten, in denen kulturelle Innovationen entstanden wie etwa neue Musikrichtungen im Jazz. (Vgl. Jost 1982) Auf der Grundlage der zwei historischen Skizzen lassen sich die besonderen Merkmale von Ghettos zusammenfassen. Wacquant bezeichnet das Ghetto als „janusköpfige Institution“ (2004: 139), weil es für die Herrschenden die Funktion der „Abgrenzung und Kontrolle“ hat und für die Ghettoisierten eine „integrierende und schützende Einrichtung“ ist, die vor Übergriffen bewahrt und den Zusammenhalt stärkt. Ghettos vereinen somit scheinbar Widersprüchliches in sich: ökonomische Integration und Ausbeutung, sozialräumliche Ausgrenzung, gesellschaftliche Stigmatisierung, institutionelle Ausstattung, vertikale Integration und Gruppenidentität. Durch die Kombination dieser Merkmale lassen sich Ghettos von anderen Quartierstypen abgrenzen: dem Armutsviertel resp. benachteiligten Quartier einerseits und der Immigranten-Enklave andererseits. Die französischen banlieues, die brasilianischen favelas und die benachteiligten Quartiere in deutschen Städten sind definiert durch die überdurchschnittliche Armut und Arbeitslosigkeit, die in diesen Stadtteilen herrscht. Es sind ethnisch heterogene, sozial weitgehend homogene Gebiete, die vertikale Integration einer Bevölkerungsgruppe wie in den Ghettos findet man hier nicht. Auch die Segregation von armen Bevölkerungsgruppen hat oft Züge von Zwang, aber es ist ein ökonomisch vermittelter und kein rassistischer Zwang.3 (Vgl. Wacquant 2008) Noch ausgeprägter ist der Unterschied zum Quartierstyp Enklave. Die Mauer ist das Sinnbild des Ghettos, die Brücke das der Enklave. (Wacquant 2004: 143)
3
Allerdings kann aus einem Ghetto ein Armutsquartier werden, das die Nachteile beider Quartierstypen gleichsam potenziert. Beispiele dafür sind einige Ghettos in US-amerikanischen Städten. Aus den vertikal integrierten Ghettos sind unter anderem wegen der Abwanderung der Mittelschicht im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung sozial und ethnisch homogene „Ghettos der Ausgeschlossenen“ (Marcuse 1998: 189) geworden. (Vgl. Wilson 1987 und 1996)
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Enklaven „Eine Enklave ist ein Gebiet, in dem Mitglieder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, definiert nach Ethnizität, Religion oder anderen Merkmalen, auf einem bestimmten Raum zusammenkommen, um ihre ökonomische, soziale, politische und/oder kulturelle Entwicklung zu fördern.“ (Marcuse 1998: 186)
Der entscheidende Unterschied gegenüber dem Ghetto ist die Freiwilligkeit. Bewohner von Enklaven, die oft auch als ethnische Kolonien bezeichnet werden (vgl. Heckmann 1992: 96-116; Ceylan 2006), sind nicht gezwungen, in dem Quartier zu wohnen, sondern wählen den Wohnstandort, weil er ihren Vorstellungen vom guten Stadtviertel entspricht. Marcuse (1998: 188-191) unterscheidet im Hinblick auf heutige Städte drei Typen der Enklave: erstens, die „exklusive Enklave“ ist der Wohnort der reichen Oberschicht, die in Beverly Hills oder Blankenese unter sich wohnt und durch extreme Immobilienpreise vor Nachbarn aus der Mittel- oder gar Unterschicht geschützt ist; zweitens, die „kulturelle Enklave“ ist der Wohnort von Künstlern, Studenten und urban orientierten Angehörigen der Mittelschicht, die in innerstädtischen Altbauquartieren oft zu den Motoren von Prozessen der Gentrifizierung gehören; drittens, die „Immigrantenenklave“ ist der Wohnort von Einwanderern, die in ein Wohnviertel ziehen, in dem sie Migranten der gleichen Herkunft und Sprache und eine Infrastruktur vorfinden, die eine Eingewöhnung in der Fremde erleichtert. Massey und Denton (1993: 32-33) heben drei Unterschiede zwischen den Schwarzen-Ghettos und den Immigrantenenklaven, wie sie in US-amerikanischen Städten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bestanden, hervor: Erstens, die Ghettos waren ethnisch homogen, die Enklaven der Migranten dagegen waren ethnisch heterogen. In Chicagos „Magyar district“ und „Little Italy” beispielsweise waren die Ungarn resp. Italiener zwar die jeweils größte Bevölkerungsgruppe, aber sie waren nicht isoliert von anderen ethnischen Gruppen und stellten in der Regel nicht einmal die Mehrheit der Bevölkerung in ihrem Quartier. Zweitens lebten die meisten Immigranten nicht in Enklaven. So wohnte ca. die Hälfte der italienischen Immigranten nicht im Little Italy von Chicago, während über 90 Prozent der Afroamerikaner der Stadt im Ghetto lebten. Drittens, die Enklaven erfüllten ihre Funktion als Sprungbrett der Integration in die amerikanische Gesellschaft; sie lösten sich auf, wenn es keine weiteren Immigranten der gleichen ethnischen Gruppe mehr gab. Die Ghettos dagegen blieben über Jahrzehnte eine dauerhafte Einrichtung. Schon Robert E. Park (1967), einer der zentralen Köpfe der Chicagoer Schule der Soziologie, sah Einwandererquartiere der ethnischen Communities als Übergangszonen. Sie seien notwendig, um den Migranten zunächst einen Ort zu geben, in dem sie sich orientieren und allmählich auf die Aufnahmegesellschaft
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einlassen können. Neben den praktischen Hilfen bei der Eingliederung in die neue Gesellschaft hebt Park die positive Funktion der sozialen Kontrolle der ethnischen Communities hervor. Parks Ausgangspunkt war die Frage, wie in einer Einwanderungsstadt die soziale Ordnung aufrechterhalten bleiben kann. Seine Antwort: die soziale Kontrolle, die in den Enklaven der Immigranten die sozialisierenden und schützenden Funktionen des Dorfes übernimmen kann. (Vgl. zu den Konzepten der Chicagoer Schule zur Segregation Farwick 2009: 26-59) In der deutschen Debatte hat als erster Elwert (1982) die Binnenintegration als möglichen Zwischenschritt für die gesellschaftliche Integration betont. Die Eingliederung in die ethnische Community könne unter bestimmten Bedingungen eine Stufe im Prozess der Integration werden. Häußermann und Siebel (2004) benennen diese Bedingungen, unter denen ethnische Segregation positive Effekte haben kann, genauer: Ist sie freiwillig, können sich in den Vierteln ethnische Ökonomien und soziales Kapital entwickeln; zum Problem wird Segregation dann, wenn die Bewohner segregierter Viertel nicht in der Lage sind, in einem Wohnviertel außerhalb der Community eine Wohnung zu nehmen, weil sie diskriminiert werden. Ein weiteres Argument für Enklaven stammt von Rex (1998), der hervorhebt, dass die politischen Interessen von Migranten, die in einem Quartier leben und so leicht erreichbar sind, besser organisiert und artikuliert werden können. Diese positiven Effekte von Enklaven sind nicht unwidersprochen geblieben. So halten Esser (2001) und Heitmeyer (1998) eine Bildung von Migrantenquartieren für unvereinbar mit einer gelingenden Integration, da sie aus ihrer Sicht einer Abkehr der Migranten von der Aufnahmegesellschaft gleichkommen. Heitmeyer (1998: 453) versteht ethnische Communities sogar als „ethnischen Schraubstock“, aus dem sich die zweite Generation befreien müsse. Er vermutet, dass ethnische Eliten, die sich in den segregierten Vierteln bilden, ihre Machtposition wahren und deshalb ihre Gefolgschaft von der Aufnahmegesellschaft fernhalten wollen. Dass Quartiere mit einem hohen Anteil von Migranten in deutschen Städten keine Ghettos sind, ist offensichtlich. Ob es sich aber um Enklaven handelt, die als Brücke in die Gesellschaft fungieren oder um Orte von Parallelgesellschaften, deren Mitglieder sich nicht integrieren können und wollen, ist letztlich eine empirische Frage. Bevor im Abschnitt über die Parallelgesellschaften auf die Effekte der Migrantenquartiere eingegangen wird, ist die Frage zu beantworten, wie hoch die ethnische resp. muslimische Segregation in deutschen Städten ist.
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Segregation von Migranten in deutschen Städten Über die residentielle Segregation von Muslimen liegen keine aussagekräftigen Daten vor. Nimmt man hilfsweise Befunde zur Segregation der größten muslimische Gruppe, den türkischen Migranten,4 so zeigt sich, dass ihre Segregation erstens im europäischen Vergleich nicht sehr hoch ist und zweitens in den letzten Jahren gesunken ist. (Vgl. Janßen/Schroedter 2007; Schönwälder/Söhn 2007; van Kempen 2005) In einer detaillierten Analyse der vorliegenden Studien zur ethnischen Segregation konstatiert Friedrichs eine Abnahme der Segregation von Migranten, die „insbesondere am Beispiel der Türken zu erkennen sei“ (Friedrichs 2008: 390). Gemessen wird Segregation vor allem mit zwei Indizes: Der Segregationsindex (IS) misst die Verteilung einer Gruppe im Vergleich zur Gesamtbevölkerung einer Stadt, der Dissimilaritätsindex (ID) misst die Verteilung einer Gruppe gegenüber einer anderen Bevölkerungsgruppe. So ist beispielsweise der ID der türkischen Wohnbevölkerung Kölns gegenüber der deutschen zwischen 1984 und 1998 von 35,0 auf 33,7 gesunken. (Friedrichs 1998) In Hannover ist die Segregation der türkischen Wohnbevölkerung in den achtziger Jahren leicht angestiegen (IS von 46,0 auf 49,0) und in den neunziger Jahren (auf 44,0) gesunken. (Janßen 2004) Die errechneten Werte geben den Anteil der Bewohner an, die theoretisch umziehen müssten, um eine vollkommene Gleichverteilung im Stadtraum zu erreichen. Segregationsindizes verschiedener Städte können aus methodischen Gründen (Janßen 2004) nicht ohne Weiteres verglichen werden. Nützlich sind sie, um erste Hinweise zu bekommen für die Entwicklung der Segregation verschiedener Bevölkerungsgruppen in einer Stadt. Segregationsindizes sagen aber nichts aus über die Qualität der sozialen Beziehungen und Lebensbedingungen in Quartieren mit hohen Migrantenanteilen, über die Ressourcen, die solche Quartiere bereitstellen, und über die Frage, ob sie der Integration von Migranten dienen – die Funktion der Enklave also erfüllen – oder Räume der Selbstisolation und der Abschottung sind. Theoretisch denkbar ist zudem, dass es trotz niedriger Segregationswerte vereinzelte räumliche Konzentrationen von einzelnen Bevölkerungsgruppen gibt. Vergleichbare Daten gibt es lediglich über die Ausländeranteile auf der Ebene von Stadtteilen, und diese Daten (vgl. den Überblick für 15 Großstädte in Friedrichs/Thiemer 2009) zeigen erwartungsgemäß zwar kein einheitliches Bild, aber dass es auf der Ebene der Stadtteile, selbst dort, wo die Ausländeranteile über 50 Prozent betragen,5 keine ethnisch oder religiös homogenen Wohngebiete gibt; solche räumli-
4 5
Allerdings sind nicht alle türkischen Migranten Muslime. Solche Stadtteile gibt es im Jahr 2005 nur in Dortmund, Duisburg, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Nürnberg. (Friedrichs/Thiemer 2009: 79-108)
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chen Konzentrationen ethnischer Gruppen gibt es allenfalls in kleinräumigen Nachbarschaften auf Blockebene. (Vgl. für Bremen Farwick 2009: 204-208) 2
Die These der Parallelgesellschaft
Seit ca. einem Jahrzehnt wird von Politik und Medien vor Parallelgesellschaften vielfach gewarnt, insbesondere nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 und der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh. Was darunter zu verstehen ist, wird dabei nicht expliziert, klar scheint lediglich zu sein, dass sie „schwer durchschaubar“, „muslimisch“, selbst verschuldet und in jedem Fall zu vermeiden, da gefährlich, sind. (Vgl. Gestring 2005; Häußermann 2007; Kaschuba 2007) Auch von sozialwissenschaftlichen Autoren, die vor parallelgesellschaftlichen Strukturen warnen, wird oft auf eine Definition verzichtet.6 Die wenigen sozialwissenschaftlichen Definitionen, die es überhaupt gibt (Halm/Sauer 2006; Meyer 2002), unterscheiden sich zwar im Detail, gehen aber davon aus, dass Parallelgesellschaften in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft resp. unterschiedlichen Dimensionen entstehen könnten. Vier Dimensionen kommen dabei in den Blick, in denen Angehörige einer Gruppe eigene Strukturen unabhängig von der Mehrheitsgesellschaft unterhalten müssten, wollte man von Parallelgesellschaften sprechen:
6
in der rechtlichen Dimension wären das eine eigenständige Rechtsetzung und Gerichtsbarkeit sowie entsprechende Sanktionen, in der ökonomischen Dimension müsste die Chance bestehen, nicht nur den Konsum innerhalb der eigenen Strukturen zu organisieren, sondern auch die Produktion sowie den Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der sozialen Dimension würden parallele, selbst organisierte dauerhafte Strukturen bedeuten, dass die Betroffenen ihre sozialen Kontakte ausschließlich auf Angehörige ihrer Gruppe beschränken und in ihrem Quartier verbleiben, das zu einem Ort der Sozialisation in die eigene Kultur würde, in der kulturellen Dimension hieße das eine strikte Abschottung einer Subkultur mit eigener Sprache sowie eigenen Normen und Werten gegenüber Einflüssen der Mehrheitsgesellschaft, ein Festhalten an der (vermeintlichen) Herkunftskultur und im Fall einer muslimischen Parallelgesellschaft eine starke Religiosität.
So warnte Heitmeyer (1996), ohne den Begriff zu definieren, in einem Artikel in ‚Die Zeit‘ davor, dass „(…) religiös politische Gruppen eine schwer durchschaubare ‚Parallelgesellschaft‘ am Rande der Mehrheitsgesellschaft aufbauen könnten.“
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In den beiden erstgenannten Dimensionen sind selbstorganisierte, parallele Strukturen aus naheliegenden Gründen unter den derzeitigen Bedingungen nicht denkbar. In der rechtlichen Dimension sind sie aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols ausgeschlossen. Die sogenannten Ehrenmorde, die oft als Ausweis einer Parallelgesellschaft gelten, werden ja vor den zuständigen deutschen Gerichten verhandelt und entsprechend sanktioniert. Ein geteiltes Recht und eigene Gerichtsbarkeit, wie es in Nigeria der Fall ist, wo in den nördlichen Bundesstaaten seit 1999 nach der Scharia ein als islamisch definiertes Recht gesprochen wird (Kogelmann 2005), ist in der deutschen Gesellschaft nicht möglich. Und auch in der ökonomischen Dimension sind parallelgesellschaftliche Strukturen nicht zu erwarten. So zeigen die Forschungen zur ethnischen Ökonomie (vgl. den Überblick und die Befunde in Schuleri-Hartje et al. 2005) erstens, dass diese in deutschen Städten vergleichsweise gering ausgeprägt ist, und zweitens, dass sie verstärkt unterstützt werden sollte, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Die vorhandene ethnische Ökonomie ist schlicht nicht in der Lage parallele Angebote in verschiedenen Märkten – vom Spielzeug bis zur Wohnung – bereitzustellen. Drittens sind ethnische Unternehmer keinesfalls darauf aus, nur Angehörige der eigenen Herkunftsgruppe als Kunden und Beschäftigte zu gewinnen, vielmehr haben in diesem Segment der Ökonomie längst Prozesse der Diversifizierung stattgefunden, so dass die Unternehmen sich immer weniger ausschließlich an der eigenen Community orientieren: In einer Parallelgesellschaft wäre nicht viel Geld zu verdienen. Während in der rechtlichen und ökonomischen Dimension die Entstehung von Parallelgesellschaften in deutschen Städten somit auszuschließen ist, bleibt es dagegen theoretisch denkbar und prinzipiell möglich, dass eine Gruppe die sozialen Kontakte weitgehend auf Mitglieder der Eigengruppe beschränkt, über eigene Normen und Werte verfügt, diese an die Folgegeneration weitergibt und sich in einer sprachlich und religiös distinkten Subkultur abschottet. Es ist somit zu fragen, ob es in deutschen Städten sozial-kulturelle Parallelgesellschaften gibt und diese ihren Ort in Migrantenquartieren finden. Drei Argumente, die im Folgenden ausgeführt werden, sprechen dagegen: Erstens, die moderne Gesellschaft produziert aus sich heraus Fremdheit und kulturelle Vielfalt, und auch muslimische Migranten sind keine kulturell homogene Gruppe, zweitens, ethnisch-kulturelle Identitäten, Organisation und Segregation sind Begleiterscheinungen von Integrationsprozessen und keine Besonderheit von muslimischen Migranten und aktuellen Migrationsprozessen, drittens, die empirischen Befunde über die Effekte der ethnischen Segregation resp. der Herausbildung von Migrantenquartieren stützen die These der sozial-kulturell abgrenzbaren Parallelgesellschaft nicht.
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Kulturelle Vielfalt in der modernen Gesellschaft Wird in Fernsehberichten über muslimische Parallelgesellschaften berichtet, dann tauchen üblicherweise Bilder von kopftuchtragenden Frauen auf, die sich durch Märkte bewegen, die man eher in Istanbul vermutet als in Frankfurt oder Hamburg. Sie sagen dem Betrachter dreierlei: dass hier Fremde zu sehen sind, die kulturell anders sind als die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, dass diese Fremdheit und kulturelle Andersartigkeit potentiell gefährlich ist und dass sie von außen kommt. Fremdheit und kulturelle Vielfalt sind in der modernen Gesellschaft aber nicht nur Folge von Einwanderung, vielmehr entstehen sie auch innerhalb der Gesellschaft durch die säkularen Prozesse der funktionalen Differenzierung und Individualisierung. Die Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teil- und Subsystemen schafft eine fortschreitende „strukturelle Fremdheit“ (Nassehi 1995: 454), die bewirkt, dass Menschen sich zunehmend in funktional definierten Rollen begegnen. Sie ist aber auch Voraussetzung für eine weitere Individualisierung. Mit der Schwächung bis hin zur Auflösung traditioneller Bindungen wachsen die individuellen Entscheidungsspielräume im Hinblick auf die Wahl von Lebensformen und kulturellen Zugehörigkeiten. Dadurch ist die Pluralisierung von Lebensweisen ein Merkmal moderner Gesellschaften geworden. Lebensweisen können sich ausdifferenzieren, weil die auf der Zugehörigkeit zu einer Klasse, Nachbarschaft oder Familie basierenden Bindungen an Bedeutung verlieren. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Bildungsexpansion und die Emanzipation der Frauen haben diese Entwicklungen enorm beschleunigt. So haben die Kulturen von traditionell gewerkschaftlich orientierten Arbeitern und Dinks (double income no kids), von protestantischen oder katholischen Mittelschichtsfamilien und Yuppies (young urban professionals) oder Schwulen, von Lesben und Punks wenig Gemeinsamkeiten, so dass „(…) die Grenzen zwischen Vertrautheit und Fremdheit erheblich milieuspezifischer, schichtenspezifischer, interessengeleiteter und nicht zuletzt kontextabhängiger und arbiträrer verlaufen, als es zunächst den Anschein hat“ (Nassehi 1995: 452). Fremdheit, kulturelle Pluralität und Andersartigkeit kommen somit nicht erst durch Muslime und Migranten in die Gesellschaft. Wenn aber die Milieubildung und Differenzierung wesentliche Merkmale der modernen Gesellschaft sind, dann könnte man sie – zugespitzt formuliert – als eine Ansammlung von sozialkulturellen Parallelgesellschaften beschreiben. Unter dieser Perspektive ist es dann eine Machtfrage, welche Milieus als Parallelgesellschaft diskreditiert werden können. Wenn von muslimischen Parallelgesellschaften die Rede ist, dann wird darüber hinaus häufig übersehen, dass zum einen die Migranten keine homogene
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Teilgesellschaft bilden und dass zum anderen auch die Muslime eine heterogene Bevölkerungsgruppe sind und der Islam in Deutschland alles andere als ein monolithischer Block ist. Auch bei Migranten machen sich die Prozesse der Individualisierung und kulturellen Pluralisierung bemerkbar. Das zeigen in eindrucksvoller Weise die neueren Sinus-Studien (2008), die 2006 zum ersten Mal auch die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in ihre Lebensstilforschung einbezogen (Abb. 1). In den Studien, die der Konsumforschung dienen, werden soziokulturelle Milieus nach zwei Kriterien gebildet: der sozialen Lage, die nach hoch, mittel, niedrig unterschieden wird, und der Grundorientierung, bei der die Kategorien Tradition, Moderne und Neuidentifikation unterschieden werden. Auf dieser Grundlage werden acht Milieus unterschieden, die vom „religiös verwurzelten Milieu“, dem sieben Prozent der Migranten zugerechnet werden, und dem „traditionellen Arbeitermilieu“ (16 Prozent) bis zum „multikulturellen Performermilieu“ (13 Prozent) reichen. Abbildung 1:
Migrantenmilieus in Deutschland 2008
Quelle: www.sociovision.de
Die Autoren der Studie betonen nicht nur die „vielfältige und differenzierte Milieulandschaft“, sondern auch, dass man keine gradlinigen Schlussfolgerungen vom Herkunftsland auf die kulturellen Orientierungen und das Milieu ziehen
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kann: „Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus“ (Sinus 2008: 2). Allerdings sind in dem einzigen Milieu, in dem Religion eine relevante Rolle im Alltag spielt, dem der religiös Verwurzelten, Migranten türkischer Herkunft und Muslime deutlich überrepräsentiert. Dass der Islam in Deutschland eine vielfältige und wenig hierarchische Religion ist, wird in allen großen repräsentativen Studien über Muslime in Deutschland hervorgehoben. (Bertelsmann-Stiftung 2008; Brettfeld/Wetzels 2006; Haug et al. 2009) Die Vielfalt bezieht sich auf die nationale Herkunft und die konfessionelle Zugehörigkeit der Muslime. (Zum Folgenden Haug et al 2009: 81, 92) Von den ca. vier Millionen Muslimen kommen 2,5 Millionen aus der Türkei, die übrigen aus einer Vielzahl von Ländern vor allem aus Südosteuropa, dem Nahen Osten, Süd-/Südostasien und Nordafrika. Ungefähr drei Viertel der Muslime gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an, in der es wiederum verschiedene Strömungen gibt, daneben sind die Aleviten mit knapp 13 und die Schiiten mit sieben Prozent die größten Konfessionen. In den Studien wird die im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft hohe Religiosität der Muslime hervorgehoben, die allerdings einhergeht mit einer Vielfalt von Einstellungen. Der Umgang von Muslimen mit ihrer Religion folgt nicht einem einheitlichen Muster (vgl. auch Schiffauer 2004), so dass eine Kategorisierung als homogene Gruppe – wie es die Rede von der Parallelgesellschaft unterstellt – weder theoretisch noch empirisch gerechtfertigt erscheint. Segregation und Integration Das dominierende Leitbild der sozialen und ethnischen Mischung von Wohngebieten wird damit begründet, dass residentielle Segregation Integration behindere. Die Herausbildung muslimischer Parallelgesellschaften in Quartieren mit einem hohen Migrantenanteil gilt als der worst case. Übersehen wird dabei, dass die ethnische Segregation, die Herausbildung von Migrantenquartieren und der Auf- und Ausbau eigener Organisationen nicht nur in den USA (vgl. D’Eramo 1998: 153-175) eine häufig zu beobachtende Begleiterscheinung von Prozessen der Integration war. Dies galt und gilt vor allem für Migrantengruppen, in denen es einen hohen Anteil von niedrig qualifizierten Personen gibt. Aufgrund ihrer niedrigen und oft unsicheren Einkommen und weil sie oft zu den am stärksten diskriminierten Gruppen gehören, haben sie in der Regel sehr begrenzte Wahlmöglichkeiten auf den Wohnungsmärkten, so dass sie oft außerhalb von Migrantenquartieren nur schwerlich eine Wohnung finden. (Zur Diskriminierung von türkischen Migranten im Wohnungsmarkt vgl. Gestring et al. 2006: 65-82) Aber
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die ethnische Segregation und Quartiersbildung war nicht nur Folge von Zwängen, sondern entsprach oft auch den Präferenzen von Migranten, die die unmittelbare Nähe der ethnisch-sozialen Netzwerke und ihrer Unterstützungsleistungen suchen oder generell Nähe zu Migranten gleicher Herkunft schätzen. Deshalb kommt es teilweise auch bei hoch qualifizierten Migranten zu Segregation und räumlichen Konzentrationen, wie bei den Kubanern in Miami (Pérez 2001) und den Japanern in Düsseldorf (Glebe 1985). Historische Beispiele zeigen, dass mit der Konzentration in Quartieren in der Regel der Aufbau eigener Organisationen, die zeitweise Beibehaltung der Sprache des Herkunftslandes und eine Orientierung an der Herkunftskultur einherging. Das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Segregation, Selbstorganisation und der Bedeutung der Herkunftskultur hängen von mehreren Faktoren ab, wobei vor allem die Chancen der Migranten auf einen sozialen Aufstieg, die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Kultur und der Abbau von Diskriminierung zu nennen sind. Ein geradezu exemplarischer Fall für diese Zusammenhänge sind die sogenannten Ruhrpolen, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet kamen. (Vgl. zum Folgenden Herbert 2001: 74-84; Siebel 1997: 36-38) Vor dem ersten Weltkrieg lebten ca. 350.000 Polen und ca. 150.000 Masuren, die den Polen häufig zugerechnet wurden, im Ruhrgebiet. Die Polen, die für die Arbeit im Bergbau rekrutiert wurden, kamen aus den ländlichen Gebieten im Osten des Deutschen Reiches und waren somit deutsche Staatsbürger. Trotzdem sahen Sie sich einerseits einer massiven Diskriminierung und generellen Ablehnung durch die Bewohner des Ruhrgebiets ausgesetzt und andererseits einer Germanisierungspolitik durch die preußischen Behörden. Die polnischen Migranten sollten sich assimilieren, die Mittel, die dazu angewandt wurden, liefen auf eine Zwangsassimilation hinaus: Verbot der polnischen Sprache in polnischen Vereinen, keine Zulassung polnischer Pfarrer, Beherrschung der deutschen Sprache als Voraussetzung für die Arbeitsaufnahme in einer Zeche etc. Begleitet wurden diese Maßnahmen von einer schrillen, teilweise rassistischen Propaganda, in der etwa von der „sittlichen Überlegenheit des Deutschtums“ die Rede war, die „dem Polen (…) in vollem Umfang zugute kommen“ soll (Studt, zit. nach Herbert 2001: 78). Eine Reaktion der Polen, die sich in den Städten nach landsmannschaftlicher Zugehörigkeit in Wohngebieten konzentrierten, war eine Intensivierung der Selbstorganisation in Form von Kirchengemeinden, Arbeiter- und Turnvereinen sowie schließlich eigenen Gewerkschaften. Eine andere Reaktion bestand darin, dem Druck nachzugeben, das Ruhrgebiet zu verlassen und in die französischen oder belgischen Bergbaugebiete weiter zu wandern oder in die Herkunftsregion zurückzukehren, so dass Ende der zwanziger Jahre die Anzahl der Polen auf ein Drittel des Standes von 1908 gesunken war. Diejenigen, die
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blieben, bildeten eine polnische Subkultur mit einem deutlich höheren Niveau der „institutionellen Vollständigkeit“ (Breton 1964) als muslimische Migranten es heute in deutschen Städten erreichen. Bezieht man die polnische Subkultur des Ruhrgebiets auf die oben skizzierten vier Dimensionen möglicher Parallelgesellschaften, dann wird zum einen deutlich, dass selbst die Polen mit ihrem hohen Organisationsgrad über keine getrennte Ökonomie und kein eigenes Recht verfügten, und zum anderen, dass die sozial-kulturelle Selbstorganisation eine notwendige Reaktion auf die Ablehnung durch eine Umwelt war, die voller antipolnischer Ressentiments war. Doch diese Subkultur, die alle Ingredienzen einer auch räumlich abgegrenzten sozialkulturellen Parallelgesellschaft beinhaltete, „(…) erwies sich nun nicht nur als Element der Absonderung, sondern als wichtiger Faktor in einem längerfristigen Integrationsprozeß der Ruhrpolen“ (Herbert 2001: 83). Diese „Dialektik von (…) Abgrenzung und Integration“ (Siebel 1997: 41) zeigt sich darin, dass die Selbstorganisation verbunden war mit dem Kampf um kulturelle Anerkennung in der neuen Gesellschaft und soziale Rechte in den Zechen und Betrieben des Ruhrgebiets. Dadurch entstanden Bindungen, die letztlich dazu führten, dass diejenigen, die blieben, sich nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial integrieren konnten. Dass eine Vereinsgründung – zumal in Deutschland – nicht nur ein Zeichen der Abgrenzung, sondern eben auch der Einrichtung und Selbstbehauptung in einer teils fremden, teils feindseligen Umwelt ist, wird übersehen, wenn solche Selbstorganisationen als Ausweis einer Parallelgesellschaft gelten, die ja per se verhindert werden soll. Zweitens wird im Diskurs der Parallelgesellschaft übersehen, dass Integration ein konflikthafter Prozess ist, der von beiden Seiten – Aufnahmegesellschaft und Staat einerseits, Migranten und ihren Organisationen und Communities andererseits – gestaltet wird, drittens, dass Integration ein langwieriger Prozess ist, der Zeit braucht und viertens, dass Integration immer dann wieder neu anfängt, wenn ein Migrant ins Land kommt. Das Bild der Parallelgesellschaft lässt sich nicht in Einklang bringen mit der Dialektik und Dynamik migrantischer Selbstorganisation. Was aber sagen die Befunde sozialwissenschaftlicher Forschungen über die Konsequenzen von Migrantenquartieren für die Integration heute? Effekte von Migrantenquartieren Die erste Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu nennenswerten Effekten infolge der Segregation kommen kann, ist, dass sie ein hohes Ausmaß annimmt. Da die Segregation in deutschen Städten vergleichsweise niedrig ist, können die befürchteten Folgen einer Abschottung von muslimischen Parallelgesellschaften
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in Migrantenquartieren quantitativ nicht besonders bedeutsam sein, aber sie könnten ja dort auftreten, wo es solche Viertel gibt. Was sagen nun empirische Studien zu der Frage? Die Befunde der Forschungen über die Lebensbedingungen und sozialen Beziehungen in Migrantenquartieren sowie die Effekte der Quartiere auf die Lebenschancen von Migranten lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen (vgl. zum Folgenden die Überblicke bei Friedrich 2008: 56-59; Häußermann 2007): 1.
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Das Wohnen in Migrantenquartieren bedeutet keinen Rückzug aus der Mehrheitsgesellschaft, Kontakte von Migranten zu Einheimischen werden durch ethnische Segregation nicht eingeschränkt, entscheidend für Kontakte sind sozioökonomischer Status, Lebensstil und Sprachvermögen. (Alpheis 1990, Farwick 2009) Es gibt keine Belege für die These, dass Migrantenquartiere Orte der Sozialisation in eine abweichende Kultur sind. Die einzige Studie, die diese Frage untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass dies nur für eine sehr kleine, klar abgrenzbare Gruppe zutrifft: männliche Jugendliche mit einer niedrigen Schulbildung, die ihre Kontakte auf das Quartier beschränken und noch nie umgezogen sind. (Oberwittler 2004) Eine Parallelgesellschaft, die ihre Mitglieder in einem Quartier gleichsam festsetzt, gibt es nicht, denn ethnische Segregation verhindert nicht die räumliche Mobilität: Mit sozialem Aufstieg zeigen sich bei Migranten die gleichen Muster wie bei Einheimischen: Sie verlassen die Migrantenquartiere. (Zdrojewski/Schirner 2005) „Menschen mit Migrationshintergrund (…) äußern keine Neigung, sich in tendenziell ethnisch homogene Quartiere oder gar ‚Parallelgesellschaften‘ zurückzuziehen“. (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen 2010: 52) Auch wenn Bewohner von Migrantenquartieren die gleiche nationale Herkunft haben, bilden sie keine homogene Gruppe, wie die Rede von der Parallelgesellschaft suggeriert. Sie unterscheiden sich vielmehr nach Lebensstilen und Motiven der Wohnstandortwahl. (Hanhörster/Zimmer-Hegmann 2008) Für türkische Migranten der zweiten Generation, die in Migrantenquartieren wohnen bleiben, ist oft die Nähe zu den Eltern das ausschlaggebende Motiv für das Verbleiben im Quartier, etwaige ethnisch-religiöse Bindungen spielen dabei keine Rolle. (Gestring et al. 2006) Die sozialen Beziehungen zwischen nach Herkunft, sozialem Status und Lebensstil unterscheidbaren Bewohnergruppen sind in Migrantenquartieren vielfältiger und folgen nicht dem Stereotyp, nach dem sich muslimische Migranten in eine Parallelgesellschaft zurückziehen. So kommt eine Studie über die Sozialbeziehungen und Raumnutzung von türkischen, italienischen
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Norbert Gestring Migranten und deutschen Bewohnern in der Kölner Südstadt zu dem Ergebnis, dass es nicht immer Migranten sind, die sich selbst organisieren und entsprechende Strukturen aufbauen und dass man „(…) jedenfalls davon ausgehen (kann), daß eine ähnlich ausschließliche Raumbesetzung einschließlich der Etablierung einer weitgefächerten Infrastruktur bis hin zu eigenen Einrichtungen zur Kinderversorgung, wie sie in Teilen der Südstadt durch die alternative Szene geschieht, zweifellos als Ghettobildung in der öffentlichen Meinung kritisiert würde, wenn eine ethnisch definierte Gruppierung so vorginge“. (Eckert/Kißler 1993: 73)
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Auch die Unterstellung, in Migrantenquartieren würden sich vor allem diejenigen finden, die besonders religiös sind und kulturell auf das Herkunftsland bezogen leben, trifft nicht zu. Eine höhere Religiosität oder stärkere Orientierung an einer Herkunftskultur geht nicht mit dem Wohnen in Migrantenquartieren einher: „(…) living within an ethnic neigbourhood is not associated with a deeper involvement in one’s religion“. (Drever 2004: 1436)
Kurz zusammengefasst: Die Vorstellung, in Migrantenquartieren entstünden in Folge der Segregation parallelgesellschaftliche Milieus, die der sozialen Integration von Migranten entgegenstehen, ist empirisch nicht haltbar. Befürchtungen wie die Herausbildung von Parallelgesellschaften mit eigenen Werten und Normen, eine Sozialisation in eine abweichende Kultur und die Verweigerung der Integration halten den Befunden empirischer Forschungen nicht stand. Das Handeln von Migranten und Migrantinnen ist nicht anders zu erklären als das von Nicht-Migranten. So kommt Häußermann (2007: 465) zu dem Fazit: „Wenn man alle (…) Beobachtungen zusammenfasst, zeigt sich, dass das Sozialverhalten (Kontakte), die Sozialisation (Werte und Normen), die kulturelle Orientierung und die räumliche Mobilität vor allem von den individuellen Merkmalen der Bewohner abhängen, also von Bildung, Einkommen und Beruf der Einzelnen – und erst nachrangig von der Nachbarschaft.“
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Konsequenzen für die lokale Integrationspolitik
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht erweist sich die Rede von Ghettos und Parallelgesellschaften als „Paniksemantik“ (Bade 2004: 5), die theoretisch nicht plausibel und empirisch nicht haltbar ist. Auch die negativen Effekte von Migrantenquartieren, die in der Debatte über Parallelgesellschaften unterstellt werden, lassen sich nicht nachweisen.
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Integrationspolitik ist ein aktuelles Thema auf der lokalen Ebene. In den Städten sind seit der Verabschiedung des nationalen Integrationsplans der Bundesregierung (2007) und entsprechenden Plänen auf Landesebene eine Vielzahl von kommunalen Integrationskonzepten auf den Weg gebracht worden. (Vgl. die Beiträge in Gesemann/Roth 2009) In diesen Konzepten wird vielfach die multikulturelle Realität der Städte anerkannt und als Ressource verstanden. Andererseits finden sich im Hinblick auf ethnische Segregation auch in diesen Konzepten oft die Ambivalenzen, die für die deutsche Politik typisch sind. (Vgl. Gestring 2010) Die Integrationspolitik der Städte und Kommunen sollte sich in einigen Punkten an anderen Prinzipien als bisher orientieren. Einer Stadtpolitik, die sich am Leitbild der Mischung orientiert, fehlt der Maßstab um zu beurteilen, was eine gute resp. schlechte Mischung von Wohnquartieren ausmacht, und es fehlen ihr die Mittel, um Segregation – mit demokratischen Mitteln und ohne Diskriminierung – zu verhindern und Mischung herzustellen. Vielmehr sollte freiwillige Segregation von Migranten zugelassen werden. Dazu gehört einerseits, dass Migrantenquartiere nicht länger als Orte der Parallelgesellschaft dämonisiert werden, und andererseits eine Wohnungspolitik, die einen offenen Wohnungsmarkt kreiert, in dem Migranten nicht infolge von Diskriminierung oder ökonomischer Zwänge chancenlos sind, wenn sie außerhalb von Migrantenquartieren eine Wohnung suchen. Statt am aussichtslosen Ziel der Mischung festzuhalten, wäre es Aufgabe der Stadtpolitik, die integrativen Potentiale von Migrantenquartieren und Moscheevereinen zu stärken. (Vgl. Ceylan 2006; Färber 2008) Bisher haben sich die Hoffnungen auf das Wohnquartier als Ort der Binnenintegration kaum bewahrheitet. Das liegt zum einen daran, dass es innerhalb der Migrantengruppen keine so starke Vergemeinschaftung gibt, dass von einer engen, solidarischen Community gesprochen werden könnte. Zum anderen fehlen Migranten die Ressourcen in Form von ökonomischem und kulturellem Kapital, die notwendig sind, um beispielsweise eine ethnische Ökonomie mit einer Vielzahl von Arbeitsplätzen und Dienstleistungen zu etablieren. Die Ansätze der Selbstorganisation, zu der auch die Moscheevereine gehören, sollten begrüßt und anerkannt werden statt sie zu diskreditieren. Die Selbstorganisation sollte gestärkt werden, damit aus Migrantenquartieren Enklaven werden können, die zum Sprungbrett in die Gesellschaft werden können. Die Anerkennung von Multikulturalität bedeutet nach Ipsen (2004) für eine Stadt, dass sie zum einen Räume des Rückzugs, der Organisation und der Identifikation von Minderheitenkulturen und deren Symbole, und dazu gehören nun einmal auch Moscheen und Minarette, zulässt und fördert. Zum anderen gilt es, Räume der Interaktion zu schaffen, die Chancen der Kommunikation eröffnen
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und so etwas wie eine „Metakultur“ bestärken, die Ipsen als „das Gemeinsame im Verschiedenen“ definiert. Die grundlegende Voraussetzung für eine gelingende Integration bleibt aber auch in einer multikulturellen Stadt, dass Chancen auf eine strukturelle Integration in den Bereichen Bildung und Arbeit verbessert werden. Hier haben die Kommunen geringe Einflussmöglichkeiten und sind angewiesen auf politische Initiativen von Bund und Ländern. Ein Schulsystem, das in der Lage ist, Migrantenkinder so zu qualifizieren, dass sie gleiche Chancen im Arbeitsmarkt haben, ist überfällig. Davon würde die Gesellschaft zum einen ökonomisch profitieren in Form von Stärkung der Innovationsfähigkeit und höheren Steuereinnahmen, zum anderen wäre das der beste Schutz vor einer Ausbreitung von fundamentalistischen Ideologien. Denn letztlich geht es Muslimen in Deutschland wie anderen Migranten darum, für sich und ihre Familie sorgen und ein gutes Leben führen zu können: to make a living – wie es in der US-Amerikanischen Einwanderungsgesellschaft heißt. Literatur Alpheis, Hannes, 1990: Erschwert die ethnische Segregation die Eingliederung?, in: Esser, Hartmut/Friedrichs, Jürgen (Hrsg.): Generation und Identität, Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie, Opladen, 147-184. Backhaus, Fritz/Engel, Gisela/Liberles, Robert/Schlüter, Margarete (Hrsg.), 2006: Die Frankfurter Judengasse, Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, Frankfurt/M., 9-12. Bade, Klaus J., 2006: Integration und Politik – aus der Geschichte lernen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41, 3-6. Benz, Wolfgang, 2008: Der Holocaust, München. Bertelsmann Stiftung, 2008: Religionsmonitor 2008, Muslimische Religiosität in Deutschland, Gütersloh. [URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-2F437 7F6-2D3CE530/bst/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdf] (4.7.2010). Breton, Raymond 1964: Institutional Completeness of Ethnic Communities and the Personal Relations of Immigrants, in: American Journal of Sociology 70, 193-205. Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter, 2006: Muslime in Deutschland, Berlin. [URL: http:// www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/139732/publicationFile/14975/Muslime %20in%20Deutschland.pdf] (4.7.2010). Bundesregierung, 2007: Der Nationale Integrationsplan, Berlin. [URL: http://www.bun desregierung.de/Content/DE/Publikation/IB/Anlagen/nationalerintegrationsplan,property=publicationFile.pdf] (4.7.2010). Ceylan, Rauf, 2006: Ethnische Kolonien, Wiesbaden. Dangschat, Jens S., 2000: Segregation, in: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Großstadt, Soziologische Stichworte, Opladen, 209-221. d’Eramo, Marco, 1998: Das Schwein und der Wolkenkratzer, Eine Geschichte unserer Zukunft, Reinbek.
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Religiosität und Geschlechtergleichheit – Ein Vergleich türkischer Immigranten mit der deutschen Mehrheitsbevölkerung1 Religiosität und Geschlechtergleichheit
Claudia Diehl/Matthias Koenig
Einleitung Die religiöse Dimension der Integration von Einwanderern hat in den letzten Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. In Europa sind es vor allem muslimische Einwanderer, auf die sich die öffentliche Debatte konzentriert. Anders als in den USA, wo eher die integrativen Momente von Religion betont werden, gilt der Islam in Europa als eine markante symbolische Grenze, die die Eingliederung von Immigranten im christlich-säkularen Europa erschwert. (Césari 2004; Alba 2005; Casanova 2006; Koenig 2007; Foner/Alba 2008) Von zentraler Bedeutung für diese symbolische Grenze sind Fragen der Geschlechterbeziehungen. Tatsächlich bieten viele Anerkennungsforderungen muslimischer Immigranten, vom Tragen des Kopftuchs, über die Befreiung von koedukativem Schwimm- oder Sportunterricht bis zur Berücksichtigung islamischer Regeln im Ehe-, Scheidungs- und Erbrecht, Anlass für Debatten um das richtige Verhältnis von Religionsfreiheit und Geschlechtergleichheit. Als vermeintliches Symbol für die Unterdrückung von Frauen ist vor allem das Kopftuch europaweit zum Gegenstand politischer Kontroverse geworden. (Vgl. nur Joppke 2009) In Belgien, Frankreich und Spanien haben Parlamente jüngst sogar gesetzliche BurkaVerbote verabschiedet, mit denen das Prinzip der Geschlechtergleichheit gegenüber einer zugestandenermaßen kleinen Gruppe radikaler Muslime durchgesetzt werden soll. Wie immer man diese Maßnahmen im Einzelnen beurteilt, sie zeugen von einem mittlerweile einflussreichen Deutungsmuster, wonach das Prinzip der Geschlechtergleichheit gegen „den” Islam oder zumindest gegen einige seiner Spielarten zu verteidigen sei. (Vgl. auch Korteweg/Yurdakul 2009)
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Dieser Beitrag beruht auf unserem gemeinsam mit Kerstin Ruckdeschel verfassten Aufsatz „Religiosity and gender equality – comparing natives and Muslim migrants in Germany”, Ethnic and Racial Studies 32/2: 278-301 (2009).
H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Angesichts dieser Entwicklung verdient der Zusammenhang von islamischer Religion und Geschlechtergleichheit im Migrationsgeschehen genauere Aufmerksamkeit. Im folgenden Beitrag untersuchen wir, wie sich hohe individuelle Religiosität bei Migranten muslimischer Herkunft auf ihre Einstellungen und ihr Verhalten im Bereich der Geschlechterbeziehungen auswirkt. Um den besonderen Einfluss islamischer Religiosität zu erfassen, vergleichen wir diese Migranten mit einer überwiegend christlichen Kontrollgruppe der europäischen Mehrheitsgesellschaft. In unserer Untersuchung konzentrieren wir uns auf Deutschland, wo die öffentliche Sichtbarkeit der etwa 4 Millionen Muslime Gegenstand öffentlicher Kontroversen geworden ist. Die meisten dieser Muslime sind türkischer Herkunft. Zu ihnen gehört neben den „Gastarbeitern”, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen, die so genannte zweite (und dritte) Generation, die in Deutschland aufgewachsen ist. Aus der bisherigen Forschung ist bekannt, dass sowohl Türken in der Türkei als auch türkische Immigranten in Deutschland tatsächlich deutlich konservativere Einstellungen zu Geschlechterrollen haben als Deutsche. (Vgl. Nauck 1990; Inglehart/Norris 2003; Gerhards 2007) Es ist jedoch noch nicht systematisch untersucht worden, inwieweit diese traditionalen Orientierungen auf die Stärke ihrer Religiosität sowie deren spezifisch islamischen Charakter zurückzuführen sind. Zumindest teilweise rührt diese Forschungslücke aus Begrenzungen verfügbarer Datensätze. In dieser Situation eröffnen die „Generations and Gender Surveys“ (GGS), die auf umfangreichen Stichproben von Deutschen und Türken basieren, neue Möglichkeiten, den Zusammenhang von muslimischer Religiosität und Geschlechtergleichheit systematisch zu untersuchen. Sie beinhalten nämlich Informationen sowohl über die individuelle Religiosität beider Gruppen als auch über Einstellungen zu Geschlechtergleichheit und Verhaltensdimensionen der Geschlechterbeziehungen wie die Art der Arbeitsteilung im Haushalt. Ausgehend von diesen neuen Daten fragen wir im Folgenden, inwieweit die zwischen und innerhalb der Gruppen beobachtbaren Unterschiede in geschlechterbezogenen Einstellungen und Verhaltensmustern von Türken und Deutschen auf Unterschiede im Grad der Religiosität zurückgeführt werden können. Beide Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich vieler Charakteristika, die sich nachweislich auf geschlechterrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen auswirken, wie insbesondere Bildung, Frauenerwerbstätigkeit und Sozialisationskontexte. Daher wird der Beitrag im Folgenden zum Gegenstand haben, das relative Ausmaß abzuschätzen, in dem Grad und Inhalt der Religiosität die Gruppenunterschiede relativ zu anderen Faktoren beeinflussen. Da anzunehmen ist, dass ein von egalitären Geschlechtsrollenorientierungen geprägter Sozialisationskontext den Einfluss muslimischer Religiosität verringert, muss ferner untersucht wer-
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den, wie sich der Zusammenhang von Religiosität und Geschlechterbeziehungen in der Generationenabfolge türkischer Einwanderer verändert. Wir beginnen mit einer kurzen Darstellung wichtiger theoretischer Argumente und empirischer Befunde zum Verhältnis von Religion und Geschlecht im Allgemeinen und bei muslimischen Einwanderern im Besonderen. Sodann präsentieren wir unsere Daten und geben einen deskriptiven Überblick über die Verteilung unserer relevanten Variablen für Deutsche sowie Türken der ersten und zweiten Generation. Auf dieser Grundlage analysieren wir, wie sich Religiosität auf geschlechterbezogene Einstellungen und Verhaltensmuster bei den drei Gruppen auswirkt. Mit einer kritischen Diskussion unserer Befunde schließt unser Beitrag. Religion und Geschlecht im Migrationskontext: Theoretische Argumente und empirische Befunde Die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Religion und Geschlechterbeziehungen hat durchaus eine längere Tradition in den Sozialwissenschaften. Besondere Schwerpunkte der Forschung waren beispielsweise die Bedeutung von Geschlecht in religiösen Identitätskonstruktionen von Migrantinnen (Alumkal 1999; Amir-Moazami/Jouili 2006), die Aktivitäten von Frauen in Diasporagemeinden (Werbner 2002) und der Einfluss religiöser Erziehungsziele auf die Transmission von Geschlechterrollen in Migrantenfamilien (Idema und Phalet 2007). Wie Cadge und Ecklund (2007: 365) in ihrem Überblick über die amerikanische Forschung über Religion und Migration feststellen, gibt es jedoch wenige Studien, die das Zusammenspiel von Geschlecht und Religion außerhalb religiöser Organisationen untersuchen. In der europäischen Forschung gibt es zwar eine reichhaltige Literatur zu öffentlichen Diskursen über Religion und Geschlecht (Gaspard/Koshrokhavar 1995; Bowen 2006), aber wenige Studien untersuchen ihr Verhältnis auf der Individualebene. Im Folgenden diskutieren wir einige Hypothesen über die Bedeutung religiöser Traditionen und individueller Religiosität als potentielle Faktoren für traditionale Einstellungen und Verhaltensmuster im Bereich der Geschlechterbeziehungen. Dabei beziehen wir „konventionelle“ Theorien von Säkularisierung und Assimilation ebenso mit ein wie alternative Theorien religiös-kultureller Prägung und reaktiver Ethnizität. Wir erörtern ihre prima facie Plausibilität im Lichte existierender empirischer Befunde über türkische Migranten in Deutschland und diskutieren mögliche Annahmen über den Wandel der Bedeutung von Religiosität in der Generationenabfolge.
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Zum Einfluss von Religion auf Geschlechtereinstellungen und -verhalten Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die Geschlechtereinstellungen und -verhalten beeinflussen, darunter nicht zuletzt der Grad gesellschaftlicher Modernisierung. (Inglehart/Norris 2003: 47) So zeigen viele Studien, dass Geschlechtereinstellungen mit individuellen Merkmalen korreliert sind; höher Gebildete, Frauen und jüngere Altersgruppen haben typischerweise eher egalitäre Einstellungen. Ebenso ist das tatsächliche Geschlechterrollenverhalten – z.B. die Teilung häuslicher Arbeit oder finanzieller Verfügungsmacht – abhängig von der jeweiligen Ressourcenausstattung der Partner. (Blood/Wolfe 1960; Becker 1981; Treas 1993; Bianchi et al. 2000; Blossfeld/Drobnic 2001; Breen/Cooke 2005; Grunow/Schulz/Blossfeld 2007) Da jene Studien allerdings auch darauf hindeuten, dass eine Angleichung der Ressourcenausstattung nicht unbedingt mit Geschlechtergleichheit einhergeht, scheinen Einstellungen und Verhalten im Bereich der Geschlechterbeziehungen auch durch kulturelle Werte und soziale Normen bedingt zu sein. Im breiten Spektrum von Werten und Normen kommt religiösen Traditionen nun eine besondere Prominenz bei der Erklärung ungleicher Machtverteilung zwischen Männern und Frauen zu. Viele Religionen regulieren die Sphäre der Reproduktion, insbesondere der weiblichen Sexualität, indem Geschlechterunterschiede an symbolische Distinktionen von Heiligem und Profanem und die rituelle Trennung von Reinem und Unreinem geknüpft werden. Dadurch können Ungleichheiten und hierarchische Beziehungen zwischen den Geschlechtern sowohl innerhalb als auch außerhalb religiöser Institutionen legitimiert werden. (Brinkerhoff/MacKie 1985) Bei Individuen mit starken religiösen Bindungen müssten demnach eher traditionale Geschlechtereinstellungen und -verhaltensmuster beobachtbar sein. Und tatsächlich finden empirische Studien starke Korrelationen zwischen Religiosität und weniger egalitären Geschlechtereinstellungen, selbst unter Kontrolle anderer Faktoren wie beispielsweise dem Bildungsgrad. (Inglehart und Norris 2003: 67; zu Variationen zwischen ethnischen Gruppen vgl. diesbezüglich Kane 2000: 434) Nun gehen konventionelle Säkularisierungstheorien davon aus, dass Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung zu einem Rückgang individueller Religiosität führen, deren praktische Relevanz verringern und in beiderlei Hinsicht egalitäre Geschlechterbeziehungen fördern. Im Kontext vermeintlich säkularisierter europäischer Gesellschaften dürfte daher nicht überraschen, wenn Migranten aus weniger modernisierten Ländern mit höherem Religiositätsniveau, wie zum Beispiel Türkinnen und Türken ceteris paribus weniger egalitäre Einstellungen als die Bevölkerungsmehrheit hegen.
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Das in öffentlichen Debatten geradezu stereotyp wiederholte Argument lautet jedoch nicht, dass muslimische Immigranten einfach qua ihrer relativ starken Religiosität gegenüber westlichen Prinzipien der Geschlechtergleichheit resistent seien. Vielmehr wird behauptet, dass die spezifischen Inhalte ihrer Religion traditionale Geschlechtereinstellungen mit sich brächten. Insbesondere den heiligen Schriften und Überlieferungen des Islam, Koran und Hadith wird vielfach unterstellt, sie seien ein Hindernis für egalitärere Geschlechterbeziehungen. (Zur Diskussion vgl. Mir-Hosseini 2000) Tatsächlich konnten in der Forschung religionsspezifische Variationen in Einstellungen zur Rolle von Frauen und zur Bedeutung von Familie gefunden werden. (Lenski 1963; Porter/Albert 1977; Heaton/Cornwall 1989) Inglehart und Norris (2003: 47, 67) konnten feststellen, dass zeitgenössische Juden, Protestanten und Katholiken – ähnlich wie nichtreligiöse Individuen – höhere Durchschnittswerte auf der „gender equality scale“ aufweisen als Buddhisten und Muslime, selbst unter Kontrolle individueller und gesellschaftlicher Hintergrundvariablen. Auch wenn Inglehart und Norris davon ausgehen, dass die Werte und Normen ganzer Bevölkerungen durch religiöse Kulturen geprägt sind, lässt sich a fortiori die Hypothese formulieren, dass vor allem Muslime mit hoher Religiosität ceteris paribus konservativere Geschlechtsrollenorientierungen haben als Christen. Wie tragfähig diese verschiedenen Annahmen sind, kann auf der Basis verfügbarer empirischer Befunde zu türkischen Muslimen in Deutschland nicht abschließend beurteilt werden. Einige Studien bestätigen, dass Einwanderer aus der Türkei deutlich religiöser sind als die deutsche Mehrheitsbevölkerung und als andere Gruppen ehemaliger Gastarbeiter. (Frick 2004; Fuchs-Heinritz 2000; zu Mädchen und jungen Frauen vgl. auch Boos-Nünning und Karakasoglu 2005) Darüber hinaus unterstützen einige Daten die Annahme, dass die zumeist aus traditionalen ländlichen Kontexten eingewanderten und nur selten hochgebildeten Türken insgesamt weniger egalitäre Einstellungen haben als die Mehrheitsbevölkerung. Auch bei hochreligiösen muslimischen Einwanderern lassen sich – im Gegensatz zu säkular orientierten – Anhaltspunkte für eine geringere Zustimmung zu Geschlechtergleichheit finden. (Für Sekundarschüler vgl. z.B. Brettfeld und Wetzels 2003: 331) Und auf der Verhaltensebene konnte zudem gezeigt werden, dass höhere Religiosität mit weniger weiblicher Autonomie in türkischen Einwandererhaushalten einhergeht. (Nauck 1985) Insgesamt betrachtet lässt die existierende Literatur jedoch keinen Rückschluss darüber zu, in welchem Ausmaß traditionale Geschlechtereinstellungen und -verhaltensmuster bei türkischen Migranten eher durch ihren sozio-ökonomischen Hintergrund, ihre Religiosität oder spezifische Merkmale des Islam zu erklären sind.
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Religion und Geschlecht bei der zweiten Generation türkischer Einwanderer Aus konventionellen Theorien von Säkularisierung und Assimilation lassen sich auch Annahmen über das Verhältnis von Religion und Geschlecht bei der zweiten Einwanderergeneration ableiten. Üblicherweise führen ein höherer Bildungsgrad und eine fortgeschrittene Arbeitsmarktintegration zu einer Abschwächung religiöser Orientierungen. (van Tubergen 2006) Da viele im Aufnahmeland geborene Kinder von Einwanderern die von jenen noch besetzten ethnischen Nischen verlassen haben, ist zu erwarten, dass sie weniger religiös sind als ihre Eltern. Ein Wandel der kulturellen und ökonomischen Umwelt der Töchter von Einwanderern (Jones-Correa 1998) sowie Kontakt mit den egalitären Geschlechternormen der Mehrheitsgesellschaft müssten ferner auch die Handlungsrelevanz von Religiosität abschwächen. Anders gesagt, da das Leben in einer säkularen Gesellschaft die sozialen und ökonomischen Opportunitätskosten einer strikten Befolgung religiöser Verhaltensvorschriften erhöht, dürfte die Religiosität von Einwanderern sich im Zeitverlauf nicht nur abschwächen, sondern müsste auch privat und „symbolisch“ werden. (Gans 1994) Man könnte also vermuten, dass sich der Zusammenhang zwischen Religiosität und Geschlechtereinstellungen und -verhalten zwischen erster und zweiter Generation in markanter Weise verändert. Nun sind Theorien der Säkularisierung und der Assimilation teils scharfer Kritik ausgesetzt. Für unsere Fragestellung ist insbesondere das Argument von Interesse, dass ethnische Bindungen und Identität unter besonderen Umständen von der zweiten Generation aufrechterhalten oder gar revitalisiert werden können. (Portes/Rumbaut 2001: 148) Eine solche „reaktive” Identitätsbildung ist insbesondere unter Bedingungen von Diskriminierung, verweigerter sozialer Anerkennung und erschwerter Aufwärtsmobilität zu erwarten, die ein Bedürfnis nach alternativen Quellen von sozialem Status erzeugen. Insoweit als Religion für viele Immigrantengruppen eine Quelle ethnischer Identitätsbildung ist, müsste dieser Mechanismus auch für religiöse Akkulturationsprozesse greifen. (Greeley 1971) Da eine solche Persistenz im Generationenverlauf sowohl die Stärke religiöser Überzeugungen als auch deren Einfluss auf Einstellungen und Verhalten in nicht-religiösen Sphären betreffen sollte, müsste man annehmen, dass der Zusammenhang zwischen Religiosität und Geschlechtereinstellungen und -verhalten bei der zweiten Generation stark bleibt oder sogar stärker wird. Auch hier lässt die empirische Forschungslage eine Entscheidung zwischen beiden theoretischen Alternativen nicht zu. Auf den ersten Blick scheint es, als würde Religiosität im Generationenverlauf abnehmen; Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) beispielsweise zeigen, dass Einwanderer der zweiten Generation aus der Türkei und Jugoslawien, gemessen an Moscheebesuch und religiöser Selbsteinschätzung, weniger religiös sind als die erste Generation.
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(Frick 2004; Diehl/Schnell 2006) Unklar ist indessen, ob diese durchschnittlichen Veränderungen womöglich nur auf Kompositionseffekte (z.B. Alters- und Bildungsunterschiede) zurückzuführen sind. Man könnte ja mit gutem Grund annehmen, dass türkische Einwanderer in Deutschland durchaus eher dem Muster „reaktiver Ethnizität” als klassischer Assimilation folgen. Obwohl die zweite Generation von Türken in Deutschland höhere Bildungsabschlüsse erzielt hat, besser in den Arbeitsmarkt eingebunden ist und über mehr Kontakte mit Deutschen verfügt als die erste Generation, verläuft ihre strukturelle, kognitive und soziale Integration nachweislich langsamer als die anderer als „Gastarbeiter“ zugewanderter Gruppen und sie sind nach wie vor stärker mit negativen Stereotypen konfrontiert. (Kalter/Granato 2002; Diehl/Schnell 2006; Wasmer/Koch 2003). Dies alles könnte auch die kulturelle Integration verlangsamen und zur Aufrechterhaltung oder Reaktivierung ethnischer Identitäten und religiöser Normen beitragen. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass viele Eltern in Migrantenfamilien sich gezielt um den Erhalt kultureller Traditionen bemühen. So ist beispielsweise die intergenerationale Kontinuität in der Transmission religiöser Normen in türkischen Familien recht hoch, insbesondere zwischen Vätern und Söhnen. (Nauck 1995; 2000) Empirische Befunde deuten außerdem darauf hin, dass die Kinder von Immigranten mit religiösen Erziehungszielen konservativere Geschlechtervorstellungen haben als Kinder, die in eher säkularen Sozialisationskontexten aufwachsen, wobei dies wiederum insbesondere für die VaterSohn-Dyaden gilt. (Idema/Phalet 2007) Was den generationalen Wandel auf der Verhaltensebene angeht, beschränken sich die empirischen Befunde bislang auf qualitative Studien, in denen argumentiert wird, dass Religion bei der zweiten Generation muslimischer Einwanderer einen Bedeutungswandel erfährt. Manche in Deutschland aufgewachsenen Frauen mit türkischem Hintergrund beispielsweise konstruieren ähnlich wie junge urbane und gebildete Musliminnen in der Türkei (Göle 1996) eine scharfe Unterscheidung zwischen Religion und Tradition, wobei sie die islamische Religion nicht als repressiv, sondern geradezu als Quelle einer emanzipatorischen Identität betrachten. Die ‚Neo-Muslima‘ reklamieren sowohl im religiösen als auch im öffentlichen Bereich eine größere Gleichberechtigung der Frau und pflegen gleichermaßen mit ihren Partnern, die dem „wahren Islam“ folgen sollten, zwar nicht egalitäre aber durchaus weniger traditionale Beziehungen als ihre Eltern. (Nökel 2002: 251) Welche zahlenmäßige Bedeutung dieser Gruppe unter den Türkinnen insgesamt zukommt, ist allerdings bislang unklar. Wie unsere knappe Skizze der Forschungsliteratur zeigt, lassen sich die alternativen theoretischen Annahmen über den genauen Einfluss der Religiosität auf Geschlechtsrollenorientierungen und entsprechende Verhaltensmuster bei
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türkischen Einwanderern der ersten und zweiten Generation mit den vorliegenden empirischen Befunden nicht abschließend bewerten. Im nächsten Schritt präsentieren wir daher eigene empirische Analysen, die sich auf neue Daten der „Generations and Gender Surveys“ stützen. Daten und Messungen Unsere Analysen beruhen auf den bereits erwähnten „Generations and Gender Surveys“, die als Teil einer internationalen Panelstudie zum Thema Familienbeziehungen in den Jahren 2005 und 2006 am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden durchgeführt wurden. In zwei getrennten Erhebungen wurden 10.000 deutschsprachige Personen und 4.000 Türken im Alter von 18 bis 79 Jahren anhand standardisierter Erhebungsinstrumente persönlich (CAPI) befragt. Gegenstand dieser Interviews waren vor allem die Familienbiographie der Befragten, ihre Beziehung zu Partnern, Eltern und Kindern, Werte und Meinungen zum anderen Geschlecht, zum Familienleben und zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen sowie religiöse Orientierungen. In beiden Gruppen wurde dasselbe Erhebungsinstrument verwendet, mit Ausnahme einiger zusätzlicher Fragen, die den Migranten zu ihrer Immigrationsgeschichte und individuellen Integration gestellt wurden. (Für Daten und Methoden vgl. Ruckdeschel et al. 2006; Ette et al. 2007) Die Stichprobenziehung variierte in den beiden Gruppen. Das erste Sample war begrenzt auf deutschsprachige Personen, wobei die Auswahl der Interviewpartner auf der Grundlage einer Random-Route-Erhebung erfolgte. Dieses Verfahren ist bei kleinen Gruppen nur unter hohem Aufwand durchführbar, deshalb basierte die Erhebung in der Gruppe der türkischen Migranten und ihrer Nachkommen auf einer melderegisterbasierten Personenzufallsstichprobe. Aus diesem Grund wurden ausschließlich türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (unabhängig davon, ob diese zusätzlich zur türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen) befragt. Da ca. 20% aller in Deutschland lebenden Personen türkischer Abstammung mittlerweile durch Einbürgerung Deutsche geworden sind – und zwar vor allem diejenigen, deren Assimilation besonders fortgeschritten ist – können die Ergebnisse nicht auf die gesamte Population der in Deutschland lebenden Personen mit türkischer Herkunft verallgemeinert werden. (Salentin/Wilkening 2003; Diehl/Blohm 2007).2 2
In der hier relevanten Gruppe der erwachsenen türkischstämmigen Befragten, die unter Aufgabe ihrer alten Staatsbürgerschaft eingebürgert wurden, liegt die Quote bei 21,7% (eigene Berechnungen auf der Grundlage des Scientific Use Files des Mikrozensus 2005, gewichtet mit dem Standardhochrechnungsfaktor). Im deutschen Sample befand sich nur eine geringe Anzahl natu-
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Das Befragungsinstrument beinhaltet eine Reihe von Indikatoren, die sich für die Untersuchung der uns interessierenden Variablen eignen. Zur Messung von Geschlechtsrolleneinstellungen haben wir unter Rückgriff auf die „Gender Equality Scale” (GES) nach Inglehart und Norris (2003) einen Index konstruiert, dessen fünf Items jeweils Zustimmung zu Geschlechtergleichheit abfragen.3 Auf der Verhaltensebene wird Geschlechtergleichheit über die Arbeitsteilung im Haushalt zwischen Partnern gemessen. Wir bezeichnen die Arbeitsteilung als „traditional” dann, wenn die Frau für typisch „weibliche” Aufgaben (Kochen und Spülen), der Mann für typisch „männliche“ Aufgaben (Reparaturen und Finanzen) zuständig ist. Alle anderen Varianten der Arbeitsteilung, also wenn der Mann typisch „weibliche“ Aufgaben übernimmt (und umgekehrt), wenn der Haushalt von einer dritten Person erledigt wird oder wenn Frau oder Mann sämtliche Aufgaben übernehmen, werden als „nicht-traditional“ bezeichnet. Was die Religionszugehörigkeit angeht, unterscheidet das Befragungsinstrument zwischen Christen, Muslimen, anderen und solchen, die keiner Religion angehören. Der Grad individueller Religiosität wird über drei Indikatoren gemessen: die Häufigkeit der Gottesdienstteilnahme, die Bedeutung religiöser Zeremonien bei wichtigen biographischen Stationen wie Geburt, Heirat oder Tod, und die Erwähnung von Religion als einem der drei wichtigsten Erziehungsziele. Legt man Glocks (1962) mehrdimensionales Konzept von Religiosität zu Grunde, so decken diese drei Indikatoren die öffentlich-rituelle und die ethische Dimension ab. Kognitive, glaubens- und erfahrungsbezogene Dimensionen von Religiosität wurden in der Befragung leider nicht erhoben. Doch allein die Tatsache, dass überhaupt ein mehrdimensionales Konzept verwendet werden kann, ist für einen Vergleich von Angehörigen des Christentums und des Islam von nicht unerheblicher Relevanz, da sich beide Religionen hinsichtlich der dogmatischen und praktischen Bedeutung der einzelnen Dimensionen voneinander unterscheiden. So hat die Gottesdienstteilnahme, in der quantitativen Religionsforschung der Standardindikator für die öffentlich-rituelle Dimension von Religiosität, in Christentum und Islam eine unterschiedliche Bedeutung, ganz zu schwei-
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ralisierter Türken, die, da sie unterrepräsentiert waren, nicht in unsere Analysen einbezogen wurden. Folgende vier Originalitems der „Gender Equality Scale“ wurden in den GGS erhoben: (1) Männer sind bessere politische Führer als Frauen; (2) Wenn Arbeitsplätze knapp sind sollten Männer in ihrem Anrecht auf einen Arbeitsplatz gegenüber Frauen bevorzugt werden; (3) Glauben Sie, dass für das persönliche Lebensglück einer Frau die Mutterschaft notwendig ist oder nicht? (Zustimmung niedrig kodiert); (4) Eine Frau wünscht sich ein Kind und möchte dieses als Alleinstehende ohne stabile Beziehung zu einem Mann erziehen; Stimmen Sie dieser Entscheidung zu oder lehnen Sie sie ab? Das fünfte Originalitem wurde nicht erhoben und daher durch folgendes Item ersetzt: Die Führung des Haushalts und die Erziehung der Kinder bieten genauso viel Zufriedenheit wie bezahlte Arbeit. Die so modifizierte (einfaktorielle) „Gender Equality Scale“ hat ein Cronbachs Alpha von 0,59.
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gen davon, dass sie, wie auch die Daten zeigen, für muslimische Frauen weniger ins Gewicht fällt als für muslimische Männer. Um besonders intensive Religiosität zu messen, haben wir daher einen Index gebildet, der solche gruppenspezifischen Manifestationen von Religiosität berücksichtigt. Wir bezeichnen diejenigen Befragten als hochreligiös, die in mindestens zwei der drei erwähnten Indikatoren Höchstwerte erzielen (mindestens wöchentlicher Gottesdienstbesuch; eindeutige Zustimmung zur Bedeutung religiöser Zeremonien; Religion eines der drei wichtigsten Erziehungsziele). Wie oben erwähnt ist auch der soziale Hintergrund zu berücksichtigen, will man den relativen Einfluss von Religiosität auf Geschlechtereinstellungen und verhalten untersuchen. Wir beziehen daher Alter, Geschlecht und Familienstatus (in Ehe oder Partnerschaft lebend versus alleinstehend) in unsere Analysen mit ein. Als Indikator für die Ressourcenausstattung verwenden wir Variablen wie den individuellen Bildungsgrad (Umkodierung der CASMIN Klassifikation in „niedrig“ bei nicht beendeten oder elementaren Bildungsabschlüssen versus „höher“ bei höheren Bildungsabschlüssen),4 Beschäftigungsstatus (voll- oder teilerwerbstätig oder arbeitslos versus in Ausbildung, Rentner, Hausfrau) sowie die Verantwortung für Kinder. Zusätzliche Indikatoren für die relative Ressourcenausstattung des Partners (auf Haushaltsebene) betreffen die Altersdifferenz zwischen den Partnern (Frau mehr als drei Jahre jünger versus Frau gleich alt oder älter als ihr Mann) und Beschäftigungsstatus des Paares (ein Partner beschäftigt versus beide Partner beschäftigt). Um den Kontakt mit den insgesamt eher egalitären Geschlechterorientierungen der Mehrheit zu messen, haben wir zusätzliche Analysen zur sozialen Assimilation der türkischen Befragten durchgeführt. (Idema/Phalet 2007: 85) Da diese nicht direkt gemessen wurde, haben wir die vorrangig gesprochene Sprache (deutsch versus türkisch) sowie (auf Haushaltsebene) die Herkunft des Partners (Partner türkisch versus Partner deutsch oder andere Herkunft) mit in die Untersuchung einbezogen. Empirische Befunde Wir beginnen mit einer Beschreibung der einzelnen Variablen für die erste und zweite Generation der Türken sowie für die Deutschen. Im nächsten Schritt wenden wir uns näher der Beziehung von Religiosität, Nationalität und Generation 4
Diese Grobunterscheidung ist aufgrund der großen Unterschiede zwischen den Gruppen erforderlich. Während die meisten Türken der ersten Generation keinen oder nur einen Bildungsabschluss an der Grundschule erreicht haben, ist die Anzahl der Deutschen in dieser Kategorie sehr gering.
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zu, um vor diesem Hintergrund schließlich beurteilen zu können, ob und inwieweit Religiosität die innerhalb der und zwischen den drei Gruppen beobachtbaren Unterschiede in geschlechterrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen erklären kann. Geschlecht, Religion und sozio-strukturelle Hintergrundmerkmale: Ein deskriptiver Überblick Die drei Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich der untersuchten Variablen beträchtlich. In Übereinstimmung mit einem Großteil der bisherigen Literatur können wir feststellen, dass Türken der ersten Generation seltener dem Prinzip der Geschlechtergleichheit zustimmen und auch deutlich seltener eine egalitäre Arbeitsteilung im Haushalt praktizieren als Deutsche. Türken der zweiten Generation liegen auf der Einstellungsebene genau zwischen diesen beiden Gruppen, wohingegen sie auf der Verhaltensebene eher den Türken der ersten Generation ähnlich sind und sich von Deutschen markant unterscheiden (vgl. Tabelle 1). Die drei Gruppen unterscheiden sich ferner auch hinsichtlich der für uns im Vordergrund stehenden Variable Religiosität. Detailanalysen zeigen, dass 70% der Deutschen das Christentum als ihre Religion bezeichnen, während mehr als 90% der Türken sich als Muslime verstehen. Wichtiger als die bloße Religionszugehörigkeit ist hingegen der jeweilige Anteil hochreligiöser oder „orthodoxer“ Personen in allen drei Gruppen. Dass nur 6% der Christen als hochreligiös gemäß unseres Index einzustufen sind, kann vor dem Hintergrund der religionssoziologischen Datenlage ebenso wenig überraschen wie der Umstand, dass 21% der Türken der zweiten und 27% der Türken der ersten Generation bei mindestens zwei der drei Religiositätsindikatoren (wöchentlicher Gottesdienstbesuch, Bedeutung religiöser Zeremonien, religiöse Erziehungsziele) Höchstwerte aufweisen. Dabei ist zu betonen, dass die Hochreligiösen eine Minderheit nicht nur innerhalb der deutschen Bevölkerung (vgl. auch Norris/Inglehart 2004: 74), sondern auch, ganz gemäß der Polarisierungsthese (Merkens 1997: 63), innerhalb der türkischen Bevölkerung darstellen. Türken der zweiten Generation sind jünger als die beiden anderen Gruppen und leben daher tendenziell seltener in Ehe oder Partnerschaft beziehungsweise mit Kindern. Der Anteil von Individuen mit höheren Bildungsabschlüssen und festem Beschäftigungsstatus ist unter der zweiten Generation höher als unter der ersten Generation der Türken – allerdings sind Deutsche die Gruppe mit dem höchsten Anteil an Beschäftigten. Die in Deutschland aufgewachsenen Türken sprechen häufiger Deutsch als die erste Generation der türkischen Einwanderer, was vermutlich auf mehr Sozialkontakte mit Deutschen hinweist.
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Tabelle 1: Verteilung der abhängigen und unabhängigen Variablen nach Nationalität und Generation (Mittelwerte oder %) Türken Türken Deutsche 1. Generation 2. Generation (n=2721) (n=1161) (n=8594) Abhängige Variable (Individualebene) Gender Index (Mittelwerte)* 2,5 2,9 3,4 Abhängige Variable (Haushaltsebene)** egalitäre Arbeitsteilung 42 45 59 Unabhängige Variablen (Individualebene) hochreligiös 27 21 6 wöchentlicher Gottesdienstbesuch 28 19 8 hohe Bedeutung religiöser Zeremonien 38 35 21 religiöse Erziehungsziele 30 26 5 weiblich 48 45 54 Alter (Mittelwerte) 42 28 49 verheiratet oder zusammenlebend 82 50 62 Eltern 82 46 67 Bildung: höherer Abschluss als elementarer 28 49 Bildungsabschluss 63 Beschäftigungsstatus: erwerbstätig 41 47 51 Assimilation: spricht meistens deutsch 20 49 Unabhängige Variablen (Haushaltsebene)** Partner im gleichen Alter / Frauen älter 56 67 65 beide Partner erwerbstätig 17 25 42 Herkunft des Partners deutsch 9 22 andere Generation als Befragter 17 39 * Gender Index: 1= Ablehnung von Geschlechtergleichheit, 5= Zustimmung zu Geschlechtergleichheit ** nur zusammenlebende Paare
Blickt man auf Ressourcenasymmetrien im Haushalt, so zeigen die Daten erwartungsgemäß, dass Türken der ersten und zweiten Generation deutlich weniger oft in Beziehungen leben, in denen beide Partner beschäftigt sind, als Deutsche. Der Anteil von Frauen, die ähnlich alt oder älter als ihre männlichen Partner sind, liegt für Türken der zweiten Generation und Deutsche bei zwei Dritteln, wohingegen der entsprechende Anteil bei Türken der ersten Generation deutlich geringer ist. Hinzu kommt, dass weniger als 10% türkischer Einwanderer der ersten Generation einen Partner oder eine Partnerin nicht-türkischer Herkunft haben, während der entsprechende Anteil bei Türken der zweiten Generation doppelt so hoch liegt. Auch der Anteil derjenigen Türken mit einem Partner, der einer anderen Einwanderergeneration angehört, ist bei der zweiten Generation höher.
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Religiosität von Migranten im Generationenverlauf Bevor wir uns dem Einfluss von Religiosität auf Geschlechtereinstellungen und verhalten zuwenden, lohnt es sich einen genaueren Blick auf die Religiosität der türkischen Migranten im Generationenverlauf zu werfen. Während bivariate Ergebnisse auf einen Wandel der Religiosität hinzudeuten scheinen, zeigt Abbildung 1, dass dieser Eindruck ausschließlich altersbedingten Kompositionseffekten zuzuschreiben ist. Kontrolliert man das Alter, so sind Türken der zweiten Generation in etwa so religiös wie die der ersten Generation. Abbildung 1:
Brutto- und Nettounterschiede im Anteil der Hochreligiösen nach Generation und Nationalität (odds ratios)
Bruttounterschiede 1,2
plus Kontrolle von
plus Kontrolle von Alter,
Alter und Geschlecht
Geschlecht und Bildung
odds ratios
1 0,8 0,6
2. Generation Türken Deutsche
0,4 0,2 0
Anmerkung: Unterschiede sind statistisch signifikant, abgesehen von den Nettounterschieden für die 2. Generation (p<.10), Referenzkategorie: 1. Generation Türken
Hier nicht präsentierte getrennte Analysen für Männer und Frauen zeigen, dass türkische Männer der zweiten Generation sogar etwas religiöser sind als die der ersten Generation, während sich bei Frauen ein geringfügiger (allerdings statistisch nicht signifikanter) Rückgang der Religiosität abzeichnet. Darüber hinaus zeigt Abbildung 1, dass die Unterschiede zwischen Türken und Deutschen nach Kontrolle der demographischen Zusammensetzung der Gruppen größer werden. Gäbe es ähnlich viele junge Männer bei den Deutschen wie bei den Türken der ersten Generation, wären sie sogar noch weniger religiös als sie es ohnehin schon sind. Dieses Bild bleibt auch bei Kontrolle des Bildungsgrads stabil. Die Befunde zeigen also, dass Religiosität im Gegensatz zu klassischen Theorien der Assimilation und Säkularisierung im Generationenverlauf nicht
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zurückgeht, jedenfalls wenn man sich, wie hier geschehen, auf die Hochreligiösen konzentriert. Andererseits lassen sich auch alternative Theorien einer religiösen Revitalisierung der zweiten Generation anhand der empirischen Daten nicht bestätigen. Religion und die Zustimmung zu Geschlechtergleichheit Wir haben bereits gesehen, dass Türken der zweiten Generation dem Prinzip der Geschlechtergleichheit eher zustimmen als die der ersten Generation, aber weniger stark als die Deutschen. Unklar ist bislang jedoch, ob sich diese Unterschiede womöglich allein auf Gruppenunterschiede in den relevanten individuellen Hintergrundvariablen zurückführen lassen oder ob auch Stärke und Inhalt der Religiosität der Migranten für ihre Erklärung heranzuziehen sind. Um diese Fragen zu beantworten, präsentieren wir Regressionsmodelle für die Zustimmung zur Geschlechtergleicheit, zunächst unter Ausschluss, dann unter Einschluss von Religiosität (Modelle I und II). Ein Modell mit Interaktionseffekten von Gruppenzugehörigkeit und Religiosität gestattet uns sodann, die gruppenspezifischen Unterschiede des Effekts starker Religiosität auf Geschlechtereinstellungen zwischen Muslimen und Christen sowie zwischen erster und zweiter Generation der Türken zu prüfen (Modell III). Getrennte Modelle für die drei Gruppen runden das Bild ab, indem sie einen genaueren Einblick in die relative Bedeutung von religiösen Überzeugungen, Hintergrundvariablen auf Individual- und Haushaltsebene sowie – für die Türken – den Grad sozialer Assimilation geben (Modelle IV bis VIII, vgl. Tabelle 2). Die Modelle bestätigen zunächst einmal, dass türkische Einwanderer und teilweise auch die Angehörigen der zweiten Generation deutlich konservativere Geschlechterorientierungen haben als Deutsche, und zwar auch nach Kontrolle individueller Hintergrundvariablen, die jene Orientierungen bekanntlich ebenfalls beeinflussen. Ferner können wir dem Modell II entnehmen, dass Religiosität einen negativen Effekt auf die Zustimmung zu Geschlechtergleichheit hat. Allerdings zeigen die Analysen auch, dass die Gruppenunterschiede auch bei Einschluss von Religiosität recht stabil bleiben. Offenbar können die Unterschiede zwischen Deutschen und Türken also nur zu einem sehr geringen Ausmaß durch den Faktor der Religiosität erklärt werden.
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Tabelle 2: Zustimmung zu Geschlechtergleichheit (unstandardisierte Koffizienten einer linearen Regression) Alle
Gruppe:
Türken 1. Generation Türken 2. Generation
Türken 1. Generation M IV MV
Deutsche M VIII
MI
M II
M III
-
-
-
-
-
-
-
-
,185 (,023) ,731 (,015)
-
-
-
-
-
-
,247 (,011)
religiös
-
weiblich
,247 (,011)
,181 (,023) ,676 (,016) -,258 (,018) ,242 (,011)
Alter
-,006 (,000)
-,005 (,000)
-,005 (,000)
verheiratet oder zusammenlebend
-,077 (,013)
-,071 (,013)
-,078 (,013)
-,234 (,028) ,115 (,027) -,002 n.s. (,001) -,174 (,035)
Elternteil
-,030 (,014)
-,028 (,014)
-,035 (,014)
-,097 (,035)
-,090 (,034)
Deutsche
Türken 2. Generation M VI M VII
-
-
-
-
-
-
-,230 (,028) ,133 (,027) -,001 n.s. (,001) -,157 (,034)
-,225 (,048) ,260 (,041) ,006 n.s. (,003) -,204 (,055) -,105 n.s. (,057) ,286 (,040) ,076 n.s. (,042)
-,209 (,048) ,271 (,041)
-,299 (,027) ,272 (,013)
,007 (,003)
-,007 (,000)
-,197 (,055) -,099 n.s. (,057) ,268 (,040) ,067 n.s. (,041) ,148 (,040)
-,039 (,014) ,003 (,016)
Bildung:
> elementarer Bildungsabschluss
,261 (,012)
,258 (,012)
,270 (,012)
,182 (,028)
,157 (,028)
Beschäftigungsstatus:
erwerbstätig
,136 (,012)
,130 (,012)
,133 (,012)
,090 (,027)
,071 (,027)
-
-
-
-
,234 (,031)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
2,734 ,08 2607
2,647 ,10 2607
2,617 ,15 1080
2,524 ,16 1080
3,345 ,18 8366
Assimilation: Interaktionsterme:
spricht meistens deutsch 1. Gen. relig. Türken 1. Gen. säkulare Türken 2. Gen. relig. Türken 2. Gen. säkulare Türken religiöse Deutsche säkulare Deutsche
Konstante R2 N
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
2,610 ,32 12053
2,656 ,33 12053
,089 (,026) -.011 n.s. (,043) ,276 (,030) ,326 (,030) ,771 (,023) 2,540 ,32 12053
,259 (,014) ,125 (,014) -
Anmerkung: p<.05 (Koeffizienten sind signifikant, sofern nicht anders angegeben), Referenzkategorien kursiv markiert, SE in Klammern
206
Claudia Diehl/Matthias Koenig
Um zu testen, ob und in welchem Ausmaß der Zusammenhang zwischen Religiosität und eher traditionalen Geschlechtsrollenorientierungen für Muslime stärker ist als für Christen, und für Türken der ersten Generation stärker als für die der zweiten Generation, fügen wir in Modell III Interaktionsterme zwischen Religiosität und Nationalität bzw. Generation ein (Dummy-Variablen für hochreligiöse und nicht-hochreligiöse Türken erster und zweiter Generation und Deutsche). Die Ergebnisse zeigen nochmals sehr deutlich, dass Religiosität für alle drei Gruppen einen negativen Einfluss auf die Zustimmung zu Geschlechtergleichheit hat – die Zustimmungsraten bei Türken sind aber auch unabhängig davon niedriger als bei den Deutschen: Hochreligiöse Deutsche sind immer noch weniger traditional eingestellt als säkulare Türken. Getrennte Modelle für Türken der ersten und zweiten Generation und für Deutsche eröffnen einen genaueren Einblick in die relative Bedeutung der hier betrachteten Faktoren. Insbesondere gestatten sie es, für die türkische Gruppe auf die Bedeutung sozialer Kontakte mit der Mehrheitsgesellschaft einzugehen, die ja im Durchschnitt ein eher egalitäres Verständnis von Geschlechterbeziehungen hat. Die Analysen zeigen einige interessante Gemeinsamkeiten der Gruppen (vgl. Tabelle 2). Frauen und höher Gebildete neigen bei allen drei Gruppen eher zu egalitären Geschlechtereinstellungen, insbesondere bei den Türken der zweiten Generation und den Deutschen. Nur für die Türken gilt indessen, dass Ehe, Partnerschaft und Kinder mit konservativeren Geschlechtereinstellungen einhergehen. Und schließlich lässt sich erkennen, dass diejenigen Türken, die meistens Deutsch sprechen, eher dem Prinzip der Geschlechtergleichheit zustimmen.5 Festzuhalten ist abschließend auch, dass die Einstellungen der Türken der ersten Generation in dem Sinne als „diffus” bezeichnet werden können, als sie, wie die schlechte Modellpassung zeigt, durch die hier betrachteten Variablen kaum erklärt werden. Möglicherweise spielen für diese Gruppe andere – unbeobachtete – Merkmale eine wichtige Rolle, z.B. eine urbane oder ländliche Herkunft. Religion und Geschlechtsrollenverhalten Wir wenden uns nun dem Einfluss der Religiosität auf das Rollenverhalten in Geschlechterbeziehungen zu. Wir beschränken unsere Analyse dabei auf Paare, verheiratet oder unverheiratet, und untersuchen die Faktoren, die ihre Arbeitsteilung im gemeinsamen Haushalt beeinflussen. Ansonsten verwenden wir ähnliche Regressionsmodelle wie im vorangegangen Abschnitt. 5
Es ist allerdings zu beachten, dass der Kausalzusammenhang zwischen sozialer Assimilation und egalitären Geschlechtereinstellungen anhand von Querschnittsdaten nicht geklärt werden kann.
Religiosität und Geschlechtergleichheit
207
Tabelle 3: Nicht-traditionale Arbeitsteilung im Haushalt (logistische Regression) Alle
Gruppe:
Türken 1. Generation Türken 2. Generation Deutsche
religiös weiblich Alter Elternteil > elementarer Bildungsabschluss Zustimmung zu Geschlechtergleichheit Assimilation: spricht meistens deutsch Bildung:
Frau gleich alt oder älter beide erwerbstätig Herkunft des Partners:
Interaktionsterme:
M II
M III
-
-
-
-
-
,053 n.s. ,052 n.s. (,099) (,099) ,331 ,285 (,068) (,070) -,251 -,369 ,-329 (,071) (,104) (,108) ,186 ,183 ,180 -,225 -,103 n.s. (,048) (,048) (,048) (,093) (,098) ,005 ,005 ,005 ,007 ,014 (,002) (,002) (,002) (,004) (,004) -,314 -,309 -,310 -,400 -,315 (,063) (,063) (,063) (,140) (,149) -,047 n.s. -,044 n.s. -,037 n.s. -,056 n.s. -,088 n.s. (,052) (,052) (,052) (,103) (,109) ,305 ,290 ,303 ,335 ,302 (,039) (,039) (,039) (,075) (,078) ,229 n.s. (,127) ,102 ,106 ,107 ,187 ,167 n.s. (,048) (,048) (,048) (,092) (,095) ,139 ,133 ,140 ,458 ,434 (,054) (,054) (,054) (,123) (129)
Türken 2. Generation M VI M VII
Deutsche M VIII
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-,378 n.s. -,219 n.s. -,105 n.s. (,212) (,224) (,116) ,520 ,548 ,328 (,180) (,192) (,060) ,040 ,040 ,002 n.s. (,014) (,015) (,002) -,231 n.s. -,164 n.s. -,292 (,243 (253) (,075) ,160 n.s. ,084 n.s. -,074 n.s. (,185) (,195) (,065) ,399 ,419 ,236 (,141) (,146) (,049) ,210 n.s. (,194) ,241 n.s. ,279 n.s. ,048 n.s. (,188) (,198) (,060) ,290 n.s. ,329 n.s. ,008 n.s. (,211) (,226) (,063)
gleiche Generation ,959 (,203) ,032 n.s. (,137)
-
-
-
-
andere Generation
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
1. Gen. relig. Türken 1. Gen. säkulare Türken 2. Gen. relig. Türken 2. Gen. säkulare Türken
säkulare Deutsche
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-1,162 ,05 7719
-1,093 ,06 7719
,257 (,099) -,160 n.s. (,188) ,319 (,128) ,350 (,125) ,493 (,096) -1,406 ,06 7719
-
,364 n.s. (,319) ,384 n.s. (,209)
deutsch
religiöse Deutsche
Konstante Nagelkerke R2 N
MI
Türken 1. Generation M IV MV
-
-
-
-
-
-
-
-1,086 ,05 2092
-1,517 ,08 1980
-2,850 ,09 557
-3,316 ,10 516
-,443 ,02 5070
Anmerkung: p<.05 (Koeffizienten sind signifikant, sofern nicht anders angegeben), Referenzkategorien kursiv markiert, SE in Klammern
208
Claudia Diehl/Matthias Koenig
Die in Tabelle 3 dargestellten Ergebnisse zeigen, dass Deutsche deutlich eher von sich behaupten als Türken, die häusliche Arbeit gleichberechtigt zu teilen. Zwischen Türken der ersten und zweiten Generation sind indessen keine signifikanten Unterschiede mehr erkennbar, wenn man Hintergrundvariablen auf Individual- und Haushaltsebene kontrolliert. Teilweise sind diese markanten Unterschiede zwischen Deutschen und Türken darauf zurückzuführen, dass die nunmehr berücksichtigten Türken der ersten und zweiten Generation in gewisser Hinsicht ein selektives Subsample darstellen. Schon im vorigen Abschnitt hatten wir ja gezeigt, dass Türken, die in Partnerschaft leben, deutlich konservativer als Singles sind, während der entsprechende Unterschied bei Deutschen nur sehr klein ist. Berücksichtigte man diesen Selektionseffekt, würden sich die Unterschiede zwischen Deutschen und Türken vermutlich reduzieren, die zwischen erster und zweiter Generation aber wahrscheinlich stabil bleiben. Nach Aufnahme der Religiosität in das Modell bestätigt sich nochmals, dass die Unterschiede zwischen Türken und Deutschen nur marginal auf Gruppenunterschiede im Grad der Religiosität zurückgeführt werden können – dies zeigen die stabilen Gruppenkoeffizienten in Modell II im Vergleich zu Modell I. Die Gruppeninteraktion in Modell III zeigt dagegen einen interessanten Unterschied zwischen Einstellungs- und Verhaltensebene im Bereich der Geschlechterbeziehungen: Religiöse Überzeugungen scheinen traditionale Formen der häuslichen Arbeitsteilung nur bei den Türken, nicht aber bei den Deutschen nach sich zu ziehen (die Dummy-Koeffizienten für religiöse und säkulare Deutsche sind sich in Modell III recht ähnlich). Zudem sehen wir, dass der insgesamt ausbleibende generationale Wandel im Geschlechtsrollenverhalten vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die Gruppe der religiösen Türken der zweiten Generation genauso konservativ ist wie religiöse Türken der ersten Generation. Bei den säkularen Türken der zweiten Generation ist indes im Vergleich zu den säkularen Türken der ersten Generation durchaus eine Entwicklung hin zu einem egalitären Rollenverhalten zu beobachten. Auch hier präsentieren wir separate Modelle (IV bis VIII), um die relative Bedeutung der einzelnen betrachteten Faktoren für die drei Gruppen abzuschätzen und um für die türkischen Migranten den Einfluss des Kontakts zur Mehrheitsgesellschaft zu prüfen. Die Modelle bestätigen, dass Religion nur für Türken, nicht aber für Deutsche negativ mit einer egalitären Arbeitsteilung im Haushalt korreliert ist. Religiöse Türken beider Generationen neigen weniger zu egalitärem Rollenverhalten als säkulare Türken. Und wiederum ist der Einfluss der Religiosität für die erste und zweite Generation etwa gleich groß.6 Der Einfluss der Religiosität wird bei Türken der zweiten Generation abgemildert, wenn 6
Die statistisch nicht-signifikanten Koeffizienten (p = .9) bei der zweiten Generation sind auf die kleine Fallzahl in dieser Gruppe zurückzuführen.
Religiosität und Geschlechtergleichheit
209
der soziale Kontext berücksichtigt wird. Gehört der Partner einer anderen Generation an, so hat dies einen geringfügig positiven Effekt auf liberale Arbeitsteilung im Haushalt. Dieser zunächst überraschende Effekt lässt sich leicht erklären: Analysiert man beide Geschlechter getrennt, so zeigt sich, dass er ausschließlich auf Frauen der zweiten Generation zurückgeht, deren Partner aus der Türkei eingewandert sind (und damit der ersten Generation angehören). Bei diesen Paaren ist die Arbeitsteilung im Haushalt offenbar häufiger nichttraditional, weil die Frauen aufgrund ihrer größeren Vertrautheit mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft eine bessere Verhandlungsposition innerhalb der Beziehung innehaben. (Vgl. ähnlich Nauck 1985) Die positiven Alterseffekte für Türken der ersten und zweiten Generation unterstreichen nochmals, dass konservative junge Türken häufiger in einer Partnerschaft leben als egalitär orientierte Türken, die sich womöglich an das für post-industrielle Gesellschaften charakteristische Muster einer späten Eheschließung angepasst haben. In allen drei Gruppen besteht ein Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum Prinzip der Geschlechtergleichheit und einer nichttraditionalen Arbeitsteilung im Haushalt, wobei dieser Effekt besonders bei Türken der zweiten Generation auffällt. Kulturelle Faktoren wie religiöse Überzeugungen oder Geschlechtsrollenorientierungen scheinen insgesamt für Türken relevanter zu sein als für Deutsche, bei denen die Arbeitsteilung im Haushalt wohl von anderen, hier nicht untersuchten Faktoren abhängt (daher auch die schlechte Modellpassung).7 Fazit Unser Anliegen in diesem Beitrag war es zu klären, inwieweit sich Unterschiede in geschlechterrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb und zwischen den drei Gruppen von Deutschen, Türken der ersten und Türken der zweiten Generation auf Religiosität zurückführen lassen. Aus unseren Analysen neuer Daten der „Generations and Gender Surveys” lassen sich vor allem vier Befunde herauskristallisieren. Erstens: Während die bisherige Forschung den Assimilationsprozess türkischer Migranten in Deutschland als vergleichsweise langsam, aber durchaus beständig charakterisiert hat, scheint ihre Religiosität im Generationenverlauf eher stabil zu bleiben. Zumindest gilt dies für diejenigen 7
In hier nicht dargestellten Analysen haben wir weitere Indikatoren eingefügt, von denen bekannt ist, dass sie die Arbeitsteilung im Haushalt beeinflussen – z.B. Dauer der Partnerschaft, Heiratsmigration, Bildungsgefälle zwischen Partnern. (Vgl. Grunow/Schulz/Blossfeld 2007) Die Modelle sind dadurch jedoch nicht wesentlich besser geworden. Die Berücksichtigung von Einkommensunterschieden zwischen den Partnern war aufgrund fehlender Fälle nicht möglich.
210
Claudia Diehl/Matthias Koenig
(vor allem jungen und männlichen) Türken mit starken religiösen Überzeugungen, die, wie wir betonen wollen, innerhalb der türkischen Bevölkerungsgruppe eine Minderheit darstellen.8 Zweitens: Unsere Befunde deuten darauf hin, dass die Hochreligiösen, auch nach Kontrolle relevanter Hintergrundvariablen, typischerweise konservativere Geschlechtereinstellungen haben als die weniger Religiösen, und zwar sowohl bei Türken als auch bei Deutschen. Starke religiöse Überzeugungen wirken sich allerdings bei deutschen Paaren nicht auf die Arbeitsteilung im Haushalt aus, während dies bei türkischen Paaren durchaus der Fall ist. Bei diesen ändert sich der Einfluss von Religiosität auf die alltägliche Lebensführung auch dann nicht, wenn sie, wie die zweite Generation, in Deutschland aufgewachsen sind. Die Religiosität türkischer Einwanderer scheint mithin weniger „symbolisch” zu sein und eine größere Bedeutung für das Alltagsverhalten zu besitzen als die der Deutschen. Drittens konnten wir recht eindeutig nachweisen, dass für die Erklärung der durchschnittlich konservativeren Geschlechtereinstellungen und traditionalen Rollenmuster bei den türkischen Einwanderern hohe Religiosität nur einer von vielen Faktoren ist – und zwar nicht einmal ein besonders relevanter. Auch wenig religiöse Türken sind konservativer als Deutsche mit ähnlichem Hintergrund. Es ließe sich daher argumentieren, dass sich hier der viel beschworene Einfluss „des“ Islam auf kulturelle Normen von Geschlechterbeziehungen bestätigt. Der derzeitige Forschungsstand legt jedoch Zurückhaltung hinsichtlich solcher Schlussfolgerungen nahe. Die Bevölkerung vieler nicht-islamischer Länder in Süd- und Südosteuropa hat ähnlich traditionale Geschlechtsrollenorientierungen wie die der Türkei (Gerhards 2007); und die konservativen Erwartungen bezüglich der geschlechtsspezifischen Einbindung von Kindern in Haushaltsaufgaben sind auch von anderen Migrantengruppen bekannt (vor allem von Griechen, vgl. Nauck 2000: 369). Es bedarf weiterer Forschung, um den relativen Einfluss der islamischen Kultur von anderen Aspekten des kulturellen Hintergrunds von Migranten – etwa einer agrarisch geprägte Lebensweise – zu trennen. Viertens: Obwohl der Religiosität nur eine untergeordnete Rolle bei der Erklärung geschlechtsrollenbezogener Unterschiede zwischen Türken und Deutschen zukommt, zeigen unsere Analysen, dass starke Religiosität durchaus zur Kontinuität von traditionalen Einstellungen und Verhaltensmustern im Generationenverlauf beiträgt. Nur die weniger religiösen Türken der zweiten Generation bilden stärker egalitäre Geschlechtsrollenorientierungen und -verhaltensmuster aus als die erste Generation. Anders gesagt, starke Religiosität scheint die An8
Wir sind möglichen Erklärungen für die intergenerationale Stabilität von Religiosität inzwischen an anderer Stelle im Detail nachgegangen. (Vgl. Diehl/Koenig 2009)
Religiosität und Geschlechtergleichheit
211
gleichung türkischer Migranten an typisch post-industrielle Geschlechterbeziehungen zu verlangsamen. Es ist abschließend nochmals zu betonen, dass unsere Befunde sich nicht auf die gesamte in Deutschland lebende Bevölkerung mit türkischem Migrationshintergrund verallgemeinern lassen. Da eingebürgerte Türken, die häufig weniger religiös sind, in unserem Datensatz nicht enthalten sind, könnte die durchschnittliche Religiosität der türkischen Bevölkerung überschätzt sein (zu Einbürgerungsraten, die sich übrigens zwischen erster und zweiter Generation kaum unterscheiden, vgl. Diehl/Blohm 2008). Nationalitätenunterschiede auf der Verhaltensebene könnten ebenfalls wegen des bereits erwähnten Selektionsbias (Türken in Partnerschaften sind konservativer als Singles) überschätzt sein. Doch trotz dieser Begrenzungen lässt unsere Analyse einige klare Schlussfolgerungen zu: Religiösität geht bei allen hier betrachteten Gruppen mit eher traditionalen Geschlechtereinstellungen einher, wenngleich er nur bei der türkischen Bevölkerungsgruppe auch Einfluss auf die alltägliche Lebensführung hat. Dieser allgemeine Befund sollte angesichts von Jahrzehnten der Forschung über die religiöse Dimension von Geschlechterbeziehungen nicht überraschen. Angesichts so mancher stereotyper Zuschreibungen im öffentlichen Diskurs, ist er aber dennoch aufschlussreich, besagt er doch auch, dass die spezifischen Inhalte des Islam das Gefälle zwischen Türken und Deutschen in der Zustimmung zu liberalen Geschlechtereinstellungen und in der Einnahme egalitärer Geschlechterrollen nicht hinlänglich erklären können. Anders gesagt, die empirische Erklärungskraft des Faktors (islamischer) Religiosität bleibt hinter seiner Prominenz im öffentlichen Diskurs deutlich zurück. Man sollte der Betonung der Geschlechterbeziehungen für symbolische Grenzziehungen zwischen Europa und dem Islam offenbar mit Skepsis begegnen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass das Thema der Geschlechtergerechtigkeit, das gegenwärtig auf der Tagesordnung der Deutschen Islamkonferenz steht, für den Islam in Europa nicht von großer Bedeutung wäre. Im Gegenteil, sowohl die theologische Aneignung des modernen Prinzips der Geschlechtergleichheit als auch die rechtliche Verhältnisbestimmung von Geschlechtergleichheit und Religionsfreiheit verlangen behutsames religionspolitisches Handeln.
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Claudia Diehl/Matthias Koenig
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Religiosität und Geschlechtergleichheit
III. Reflexionen
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Islamische Verbände in verbandsökonomischer Perspektive
219
Islamische Verbände in verbandsökonomischer Perspektive Begrenzte staatliche Formung durch endogene Ressourcenbildung Islamische Verbände in verbandsökonomischer Perspektive
Andreas Blätte
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Ansprechpartnersuche und Formungsbemühungen
Ein einheitlicher Ansprechpartner, der in der Lage wäre, „den Islam“ in Deutschland zu repräsentieren, ist ein fortwährender Wunsch der deutschen Politik. Dieser erscheint zum Beispiel als erforderlich, um verbindliche Absprachen zum politisch durchaus gewollten bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht treffen zu können. Auch für weitere Fragen, die Auslöser wiederkehrender Kontroversen sind und die einer Regelung bedürfen, wird ein Ansprechpartner gesucht. Es geht um Klärungen zur Teilnahme von Mädchen am Schwimmunterricht, das Schächten und islamische Speisevorschriften oder um Bestattungsordnungen. Dabei entsprechen Ansprechpartnersuche und Ansprechpartnerwunsch einer korporatistischen Tradition der Bundesrepublik, bei der eine Kooperation des Staates mit verpflichtungsfähigen Verbänden eine eingeübte Praxis zur politischen Steuerung und Problemregulierung ist. (Benz 1994) So ist auch im Islamdiskurs die Erforderlichkeit eines einheitlichen Ansprechpartners eine regelmäßig wiederkehrende und wirkmächtige Aussage. Sie entspricht gängigen Mustern und ist also gewissermaßen „typisch deutsch“. An Stelle des ersehnten einheitlichen Ansprechpartners findet „der Staat“ allerdings ein von Heterogenität und Pluralität gekennzeichnetes Verbändefeld vor. Es gibt mit den Dach- und Spitzenverbänden DITIB, dem VIKZ, der IGMG, der Alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF) sowie dem Islamrat (IRD) und dem Zentralrat der Muslime (ZMD) sechs größere islamische Verbände.1 Zwi1
Der gängigen Praxis entsprechend werden bei der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. / Diyanet Isleri Türk Islam Birgili), dem VIKZ (Verband der Islamischen Kulturzentren e.V.) und der IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.) die Akronyme jener Organisationen verwendet. Bei der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. (auch AABF, für Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu), dem Islamrat und dem Zentralrat sind sowohl die Nutzung des Akronyms als auch des vollen Organisationsnamens üblich. Eine Einführung in das
H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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schen diesen Verbänden gibt es mindestens eine Konkurrenzsituation, zum Teil auch Spannungen und Polarisierung. Dies war jedenfalls die Ausgangssituation vor Beginn der Deutschen Islamkonferenz (DIK) im September 2006. Von jener sollten allerdings Impulse zu einer Überwindung von Fragmentarisierung und Polarisierung, zu einer Neustrukturierung des islamischen Verbändefeldes ausgehen. So äußerte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, hier mit Bezug auf die Frage des islamischen Religionsunterrichts: „[wir] brauchen […] – beispielsweise wenn wir an staatlichen Schulen Islamunterricht einführen wollen – einen Partner, weil es nicht gut wäre, wenn der Staat dabei allein handeln würde. Dass uns ein solcher Partner zur Verfügung gestellt wird, ist eine weitere Erwartung, die wir an die Arbeit der Islamkonferenz haben“ (Schäuble 2006: 7). In der Tat wurde schon kurz nach dem Auftakt der DIK mit dem Koordinationsrat der Muslime (KRM) ein Zusammenschluss der größten islamischen Verbände gegründet. Die Resonanz war dementsprechend positiv. Der SPDInnenexperte Wiefelspütz sah in der KRM-Gründung einen „Schritt in die erwünschte Richtung“ (Spiegel Online, 05.03.2007), für den nordrhein-westfälischen Integrationsminister Armin Laschet (CDU) war sie „ein wichtiger Schritt, auf den wir lange gewartet haben” (Süddeutsche Zeitung 2007, 11.04.2007: 6). Aufgrund der zeitlichen Nähe des Auftakts der DIK und der Gründung des KRM – die Planungen zur Gründung des KRM waren tatsächlich schon vor der Ankündigung der DIK in Angriff genommen worden – wurde diese zum Teil als Zeichen gewertet, dass eine aktive Islampolitik das Feld der islamischen Verbände modellieren könne. Nun war schon während der ersten Runde der DIK, der KRM-Gründung zum Trotz, das Fortbestehen von Divergenzen im Feld der islamischen Verbände deutlich. Zur zweiten Runde der DIK wurde der Islamrat nicht eingeladen, doch konnten sich die anderen Verbände nicht auf eine einheitliche Linie verständigen, wie sie es mit der DIK halten würden. Der Zentralrat der Muslime blieb der DIK fern, andere Verbände (VIKZ, DITIB und Alevitische Gemeinde) folgten der Einladung. Von einer starken Tendenz zur Einheit der Muslime in Deutschland kann vor diesem Hintergrund kaum gesprochen werden. Gerade weil die Prozesse keineswegs linear ablaufen, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer gestaltenden staatlichen Islampolitik: Inwieweit können staatliche Maßnahmen die Strukturierung des Feldes der islamischen Verbände Feld der islamischen Verbände kann dieser Beitrag nicht geben, als Überblick eignen sich nach wie vor Lemmen 2000 und 2001. Zum VIKZ und zur IGMG liegen mit Jonker (2002) bzw. Schiffauer (2010) fundierte ethnographische Studien vor. Die folgende Diskussion rückt die DITIB, den VIKZ, die IGMG und die Alevitische Gemeinde in den Mittelpunkt, weil diese als Dachverbände an erster Stelle eine Lösung des Organisationsdilemmas finden müssen, das im Mittelpunkt der Überlegungen dieses Beitrags steht.
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beeinflussen? Die reine Beobachtung führt zu keiner Antwort, sie ergibt vielmehr ein unsicheres Bild, welche Entwicklungstendenzen wohl greifen mögen und inwiefern der Staat Entwicklungen gezielt hervorrufen kann. Hier soll eine theoretisch fundierte Argumentation zur genannten Frage entwickelt werden. Es geht um die Möglichkeiten, durch intentionale staatliche Politik eine Veränderung der Beziehungen der Verbände zueinander oder sogar einen Konzentrationsprozess hervorzurufen. Für einen solchen, durch politische Akteure hervorgerufenen Veränderungsprozess bei den islamischen Verbänden benutze ich den Begriff der „Formung“.2 Die in der wissenschaftlichen Diskussion bislang dominierende institutionalistische Perspektive ist in ihren praktischen Konsequenzen formungsoptimistisch. Sie geht von einer starken strukturierenden Wirkung politischer Gelegenheitsstrukturen aus. Hier hingegen wird die These der Formung qualifiziert. Dies resultiert aus einer Perspektive, die ich der Deutlichkeit halber als „verbandsökonomische Perspektive“ ausweise: Beachtet man die politische Ökonomie islamischer Verbände, so zeigen sich bei diesen weitreichende Fähigkeiten zur endogenen Ressourcenbildung. Sie befinden sich dadurch nicht in einer Abhängigkeit von einer Gewährung von „Patronage“ durch staatliche Akteure. Mit einer Verbandsökonomie, die sie unabhängig von einer staatlichen Förderung vorläufig stabil betreiben können, gewinnen sie Freiheitsgrade, die sie von staatlichen Strukturierungsversuchen unabhängig macht. Die Folgerung daraus wird sein, dass bisherige, der institutionalistischen Perspektive folgende Arbeiten zu islamischen Verbänden die politische Ökonomie dieser Verbände (ihre „Verbandsökonomie“) zu wenig berücksichtigen und in Folge dessen den Grad der Beeinflussung der Verbände durch die externe politische Umwelt und „politische Gelegenheitsstrukturen“ überschätzen. Die Möglichkeiten staatlicher Politik, einen Ansprechpartner zu generieren, sind daher bei einer Beachtung verbandsökonomischer Zusammenhänge geringer einzuschätzen als von Institutionalisten angenommen wird. 2
Theoretische Perspektiven der Erklärung von Organisationsverhalten
Die Fragmentarisierung und Polarisierung im Feld der islamischen Verbände ergibt sich nicht unmittelbar und strukturell determiniert aus grundlegenden sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, sondern vermittelt durch 2
Alternative Begriffe wären „Steuerung“, „Strukturierung“ oder „Modellierung“. Gegen die beiden erstgenannten Begriffe spricht, dass diese durch die Steuerungstheorie bzw. die Theorie der Strukturierung bereits stark besetzt sind. Gegenüber dem Begriff der Modellierung spricht für „Formung“, dass letzterer bildlich die Vorstellung eines formenden Subjekts und eines geformten Objekts zum Ausdruck bringt.
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das Organisationsverhalten jener Verbände. Verbandseliten werden für dieses von besonderer Bedeutung sein. Die Ausgangsfrage lässt sich also spezifizieren: Inwiefern können staatliche Akteure die Eliten der islamischen Verbände dazu bewegen, dass mit einer Abkehr von einem kompetitiven Organisationsverhalten die Polarisierung und Fragmentarisierung im Verbändefeld überwunden wird? Was das Organisationsverhalten islamischer Verbände prägt, bleibt dabei zunächst noch offen. Die Analyse der für die Polarisierung zwischen den islamischen Gruppen relevanten Entscheidungen der Verbandseliten erfordert keine eigenständige Theorie des Verhaltens islamischer Verbände. Der religiöse Charakter islamischer Verbände ist zwar ein relevanter Unterschied zu nicht-religiösen Verbänden; es macht, auch wenn dies in der folgenden Argumentation keine zentrale Rolle spielen wird, selbstverständlich einen Unterschied, ob ein Verband religiöser oder nicht-religiöser Art ist. Dieser Unterschied ist allerdings nicht hinreichend groß, islamische Verbände als Organisations- bzw. Verbandstyp sui generis zu betrachten, der eine vollkommen eigenständige Theoriebildung – eine Theorie der islamischen Verbände – erforderlich machen würde.3 Greift man auf entwickelte soziologische und politikwissenschaftliche Theoriebestände zurück, die bei der gegebenen Fragestellung von Bedeutung sind, so können die Organisationen Eingewanderter sowohl als „Migrantenorganisationen“ als auch als „Einwandererverbände“ untersucht werden. Die Einordnung als Verband betont stärker Funktionen bei der politischen Interessenvermittlung, die als Migrantenorganisation stärker Aktivitäten an der Basis jener Organisationen. Die beiden, mit diesen unterschiedlichen Kategorien einhergehenden und im Folgenden genauer diskutierten Perspektiven stehen nicht in einem einander ausschließenden Verhältnis. Hier wird allerdings die politikwissenschaftliche, verbandstheoretische Perspektive stark gemacht.
3
Vgl. hierzu die Diskussion, ob die (christlichen) Kirchen als Interessenverbände kategorisiert werden können (Als Überblick siehe Willems 2007: 318ff. sowie Thielking 2005: 44ff.). Autoren, die mit dem Begriff des Verbands allein politische Interessenvermittlung und die Realisierung materieller Eigeninteressen verbinden, stehen einer Einordnung der Kirchen als Verbände skeptisch gegenüber. Bei einer breiteren Sicht auf Verbände, die deren Multifunktionalität berücksichtigt, erscheint die Untersuchung der Kirchen im Rahmen einer Verbändeforschung wenig problematisch. Diese Erwägungen gelten analog für die politikwissenschaftliche Analyse islamischer Organisationen.
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2.1 Migrantenorganisationen und die starke Formungsthese der Institutionalisten Den islamischen Organisationen in Deutschland gehören zwar auch Autochthone islamischen Glaubens (d.h. Konvertiten) an, der weit überwiegende Teil der Mitglieder islamischer Organisationen verfügt aber über einen Migrationshintergrund. Die islamischen Organisationen können daher als Migrantenorganisationen verstanden werden. Das Feld der islamischen Organisationen als Teilmenge des Feldes der Migrantenorganisationen zu verstehen, ist in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Literatur eine gut begründete und gängige Perspektive. Migrantenorganisationen bieten ihren Mitgliedern – mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – in einer zunächst fremden Umgebung einen sozialen Raum zur Pflege sozialer Netzwerke und zur Orientierung in einer fremden Gesellschaft. Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migrantenorganisationen wurde dabei, beginnend in den 1980er Jahren, von der Frage dominiert, ob diese eher „integrationsförderlich“ (vgl. Elwert 1982) oder „integrationshemmend“ (vgl. Esser 1986) seien. Unter dem Gesichtspunkt der Frage nach den Bestimmungsgründen des Organisationsverhaltens von Migrantenorganisationen ist diese Frage hier jedoch von nachgeordneter Bedeutung. (Pries 2010: 20) Wichtiger erscheinen Studien, die tatsächlich Organisationsformen und Organisationsverhalten von Migrantenorganisationen zum Gegenstand der Analyse machen und die dies im Zusammenhang der politischen Mobilisierung von Einwanderern untersuchen. In dieser Literatur dominiert heute eine Perspektive, welche von einer starken Formung des Verhaltens von Migrantenorganisationen durch die politischen Institutionen und die politischen Gelegenheitsstrukturen der Aufnahmegesellschaft ausgeht. Diese Perspektive wird als „institutionalistisch“ gekennzeichnet.4 Das institutionalistische Argument wurde zunächst im Zuge vergleichender Studien zur politischen Mobilisierung von Migranten in Europa entwickelt. Diese sind, mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, an der Schnittstelle einer Forschung zu Staatsbürgerschaftsregimen und der Bewegungsforschung angesiedelt. In einer wegweisenden Studie zu den Organisationen von Migranten in Europa hat zunächst Yasemin Soysal gezeigt, dass diese maßgeblich durch die sozialen und politischen Institutionen einer Aufnahmegesellschaft geprägt werden. (Soy4
In einer früheren Diskussion des Forschungsstands unterschied Ireland neben der institutionalistischen Theorie Klassentheorien (grundlegend: Castles/Kosack 1973) sowie Theorien der Ethnizität (Ireland 1994: 5-11). Zur Rezeption dieser Einteilung siehe Diehl/Blohm 2001: 402-405, Bousetta 2000. Klassentheorien und Theorien der Ethnizität haben gegenüber der institutionellen Theorie ihre Bedeutung bei der Erklärung der politischen Mobilisierung von Migranten weitgehend verloren.
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sal 1994) Soysal knüpft an die Diskussion um Typen von Staatsbürgerschaftsbzw. Inkorporationsregimen an und argumentiert, dass sich mit einer Transformation hin zu einer postnationalen Zugehörigkeit eine grundlegende Veränderung der Bedeutung nationaler Staatsbürgerschaft vollziehe. Konkreter auf eine Erklärung der Organisationsformen, der politischen Mobilisierung und des politischen Handelns von Migranten ausgerichtet sind allerdings jene institutionalistischen Forschungsarbeiten, die sich im Kontext der Bewegungsforschung entwickelt haben. Bei diesen steht der Begriff der „politischen Gelegenheitsstrukturen“ im Mittelpunkt von Erklärungen. (Kitschelt 1986; Tarrow 1991; Tarrow 1998)5 Mit den politischen Gelegenheitsstrukturen betonen die Forscher dieser Ausrichtung die Kontextfaktoren, welche die politische Mobilisierung von Migranten (einschließlich ihrer Organisationsbildung) erklären. Analysen, die auf diesem Konzept basieren, weisen also auf die Bedeutung externer Faktoren für die Erklärung der politischen Mobilisierung einer sozialen Gruppe hin. Dieser Ansatz hat eine ganze Reihe empirischer Studien inspiriert. (Ireland 1994; Ireland 1996; Diehl/Blohm 2001; Bousetta 2000; Anwar 2001) In einem international groß angelegten Forschungsprojekt wurde insbesondere gezeigt, wie stark sich Migrantenorganisationen in ihren politischen Forderungen den diskursiven Gegebenheiten einer Aufnahmegesellschaft anpassen. (Koopmans 1999; Koopmans et al. 2005) Die institutionalistische Perspektive ist ausdrücklich auch zur Erklärung einer Anpassung von Muslimen und ihrer Organisationen an die institutionellen Bedingungen von Aufnahmegesellschaften verwendet worden. (Statham et al. 2005; König 2007) Die Institutionalisten gehen mit der „Macht der Institutionen“ (Ireland 1996) von der Bedeutung externer Formen aus, die das Organisationsverhalten und die Organisationsformen von Migranten prägen. Dieses Primat der organisationsexternen Faktoren als „Markenkern“ der institutionalistischen Theoriebildung bleibt bei Fortentwicklungen erhalten, welche die Wirkung der politischen Gelegenheitsstrukturen einer Aufnahmegesellschaft um eine Beeinflussung des Organisationsverhaltens von Migrantenorganisationen durch die Fortwirkung der politischen Gelegenheiten des Herkunftslandes erweitern. (Ögelman 2003; ØstergaardNielsen 2003; Lyon/Ucarer 2005) Es gilt schließlich auch bei neueren Studien, welche den institutionalistischen Argumentationen der Bewegungsforschung aus der Perspektive der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie ein differenzier5
Die politischen Gelegenheitsstrukturen (political opportunity structures) können dabei in einem erweiterten Sinne verstanden werden: „The political opportunity structure includes the immigrants’ legal situation; their social and political rights; and host-society citizenship laws, naturalization procedures, and policies (and nonpolicies) in such areas as education, housing, the labor market, and social assistance that shape conditions and immigrants’ responses.” (Ireland 1994: 10)
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tes theoretisches Fundament verleihen und die insbesondere der transnationalen Dimension grenzüberschreitender Migrantenorganisationen ihre Aufmerksamkeit widmen. (Pries et al. 2010) Allerdings findet sich hier in der konzeptionellen Beschreibung des Ansatzes eine Betonung konzeptioneller Offenheit. (Pries 2010: 15) Das Primat der externen Faktoren wird abgelöst durch eine starke Betonung der externen Faktoren, gleichwohl werden verbandsinterne Dynamiken zunehmend beachtet. (Sezgin 2010; Rosenow 2010) Die Akzentuierung der Abgrenzung eines „verbandsökonomischen“ Arguments vom „institutionalistischen“ sollte mögliche Berührungspunkte mit dieser aktuellen Theorieentwicklung nicht überdecken. Die institutionalistische Forschung zu Migrantenorganisationen ist durch vergleichende Fallstudien und detaillierte Einzelfallstudien entwickelt worden. In jener wird die These einer Formung des Organisationsverhaltens von Migrantenorganisationen durch externe Faktoren vertreten – insbesondere durch die Institutionen und die Politik der Aufnahmegesellschaft, die mit dem Begriff der „politischen Gelegenheitsstrukturen“ analytisch erfasst werden. Entsprechend dem Primat organisationsexterner Faktoren, den die Institutionalisten sehen, kann von einer „starken Formungsthese“ gesprochen werden, welche diese vertreten.6 2.2 Theorie der Verbände und Verbandsökonomie: Autonomie und begrenzte Formung In den Forschungsarbeiten zu Migrantenorganisationen steht im Vordergrund, wie sich diese Organisationen gegenüber dem institutionellen Kontext einer Aufnahmegesellschaft verhalten und wie sie durch diesen geprägt werden. Die Aufmerksamkeit der Arbeiten der Institutionalisten richtet sich auf lokale Organisationen oder auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch bewegungsförmiges Handeln. Strategien der politischen Einflussnahme und Chancen des direkten Zugangs zum politischen Prozess stehen weniger im Mittelpunkt des Interesses. Rückt aber die Frage in den Mittelpunkt, welche Chancen die Verbände Eingewanderter (auch die der Muslime) im politischen Prozess auf Zugang und Einfluss haben, werden also ihre Organisationen als Interessenorganisationen bzw. Verbände betrachtet, so gewinnt die Frage nach ihren Ressourcen an Bedeutung. Auch wenn es sich dabei insgesamt um eine Verengung des Ressourcenbegriffes handelt, so ist für die Handlungsmöglichkeiten eines Verbandes im politischen Prozess dessen Ausstattung mit materiellen Ressourcen 6
Vertreten wird diese in der politikwissenschaftlichen Verbändeforschung bei einem historisch ausgerichteten und international vergleichenden Zugang, der zeigt, wie Verbandssysteme durch „administrative Interessenvermittlung“ geprägt werden. (Lehmbruch 1987)
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von entscheidender Bedeutung. Ohne professionalisierte Verbandsbürokratie ist die effektive Vertretung von Interessen nur sehr eingeschränkt möglich. Um diese aufzubauen und um darüber hinaus gehende Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen, bedarf es erheblicher finanzieller Mittel.7 Hier wird die These vertreten, dass die institutionalistische Perspektive der Frage der Ressourcenbildung zu wenig Aufmerksamkeit widmet. Die Theorie des kollektiven Handelns (Olson 1965) ist die klassische Fassung der Analyse der Problematik der Ressourcenbildung. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht das Organisationsdilemma, mit dem Interessengruppen konfrontiert sind. Jeder Verband steht vor dem Problem des Trittbrettfahrertums. Wenn ein Verband Lobbying für ein politisches Thema betreibt, so haben mögliche Verbesserungen einer politischen Situation meist den Charakter eines nicht-ausschließlichen Kollektivguts. Doch wenn ein Vorteil genossen werden kann, auch ohne zu diesem (finanziell) beizutragen, so entfällt für nutzenmaximierende Individuen der Anreiz, Mitgliedsbeiträge zu entrichten. Olson argumentiert daher, dass Verbände nur in zwei Varianten tragfähig organisiert werden könnten: Im ersten Modell wird ein Verband von einer umgrenzten Gruppe mit klar definierten materiellen Interessen gebildet. Ein zweites Modell beschreibt hingegen die Verbandsbildung bei großen Gruppen. Es wird realisiert, wenn durch ein Angebot sogenannter „selektiver Anreize“, d.h. durch Angebote, die ausschließlich der eigenen Mitgliedschaft zur Verfügung stehen, eine Mobilisierung von Ressourcen erreicht werden kann, die zum Aufbau einer Verbandsbürokratie genutzt werden können. Diese Verbandsbürokratie hat primär den eigenen Mitgliedern Dienstleistungen anzubieten, sie kann aber auch eine ergänzende Außenvertretung des Verbandes leisten. In der Analyse Olsons entstehen also effektive und ressourcenreiche Verbandsbürokratien, weil diese der Mitgliedschaft eines Verbandes „selektive Anreize“ anbieten, d.h. sie bieten Leistungen an, die nicht (wie Kollektivgüter) von jedem konsumiert werden können, sondern die ausschließlich von den Mitgliedern eines Verbandes genutzt werden können. Die Ressourcenbildung primär für verbandsinterne Zwecke, d.h. Organisation als Maschinerie zur Generierung von selektiven Anreizen für die Mitgliedschaft, erscheint als Königsweg der Ressourcenbildung. Eine so entwickelte Organisation kann dann auch für politisches Lobbying eingesetzt werden. Lobbying entsteht als Nebenprodukt. Olson argumentiert: „An organization that did nothing except lobby to obtain a collective good for some large group would not have a source of rewards or positive selective incentives it 7
Dieser Zusammenhang ist in der politikwissenschaftlichen Verbändeforschung ein Gemeinplatz, doch auch in der Bewegungsforschung ist die Frage der Ressourcenmobilisierung als entscheidender Faktor identifiziert worden. (McCarthy/Zald 1977; McCarthy/Zald 2006)
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could offer potential members. Only an organization that also sold private or noncollective products, or provided social or recreational benefits to individual members, would have a source of these positive inducements. Only such an organization could make a joint offering or ‚tied sale‘ of a collective and a noncollective good that could stimulate a rational individual in a large group to bear part of the cost of obtaining a collective good.” (Olson 1965: 133f.)
Olsons Argument wurde als Kritik der ursprünglichen pluralistischen Position formuliert, die von der Organisierbarkeit aller gesellschaftlichen Gruppen ausging und annahm, dass ein Verbandssystem die sozialstrukturellen Bedingungen einer Gesellschaft abbilde. Organisationsfähigkeit erscheint demgegenüber in der Logik des kollektiven Handelns als nicht-triviales Problem, das nicht von allen Gruppen gelöst werden kann, sondern nur von solchen, die ein Organisationsmodell finden, das über selektive Anreize die Mobilisierung von Ressourcen in der Mitgliedschaft ermöglicht. Die Möglichkeiten der Bildung politisch effektiver Verbände sind damit ungleich verteilt, weil nicht in jedem Fall selektive Anreize angeboten werden können. Politische Interessenvertretung kann als kollektives Gut nicht unmittelbar angeboten werden, sie entsteht vielmehr als Nebenprodukt einer Organisation, die primär Leistungen für die Mitgliederbasis erbringt. Nicht alle Gruppen finden ein Organisationsmodell, das diesen Anforderungen entspricht, ein oft genanntes Beispiel ist die Gruppe der Arbeitslosen. Die Theorie des kollektiven Handelns wird damit zu einer Theorie der Verbände, deren theoretischer Anspruch ist, die Struktur des Verbändefelds erklären zu können. Als Theorie der Verbände stellt sie handlungstheoretisch fundierte Hypothesen auf, welche Gruppen eine verbandsförmige Organisation finden können und welche hierbei auf erhebliche Hürden treffen. Die konsequente Entwicklung der Theorie des kollektiven Handelns auf der Grundlage von Handlungsmodellen der rationalen Wahl machte das innovative Potenzial des Ansatzes aus und löste zugleich eine Kontroverse um die Stichhaltigkeit der Rationalitätsprämissen aus. (Schubert 1992; Green/Shapiro 1994) Vor allem aber hat die Theorie des kollektiven Handelns den Test anhand der Empirie nicht bestanden. Gerade in den USA ist festgestellt worden, dass sich Verbände herausgebildet haben, die es nach den Analysen der Theorie des kollektiven Handelns eigentlich nicht geben dürfte. (Baumgartner/Leech 1998: 73) Dies gilt insbesondere für solche Verbände mit gemeinwohlorientiertem Charakter, bei denen nicht erkennbar ist, dass sie ihren Mitgliedern die von Olson als so entscheidend angenommenen selektiven Anreize anbieten können. Diese Kritik wurde von Jack L. Walker (1991) in einer umfassenden Studie zum amerikanischen Verbandssystem systematisch belegt – zugleich bietet Walker eine auf der Grundlage der Empirie entwickelte Lösung an. Als theoretische Antwort auf das empirische Scheitern der reinen Theorie des kollektiven Handelns führte Walker in die Theorie der
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Verbände die Annahme ein, dass verschiedene Formen der „Patronage“ erklären können, wie das Organisationsdilemma überwunden werden könne bzw. seine Bedeutung verliere. Patronage bedeutet dabei, dass Verbände in ihrer Gründungsphase oder im regulären operativen Betrieb von Einzelpersonen oder kollektiven Akteuren wie Ministerien materielle Ressourcen oder operative Fähigkeiten zur Verfügung gestellt bekommen. Die Patronagethese modifiziert und erweitert so die Theorie der Verbände und macht diese dadurch aussagekräftiger, aber auch komplexer und weniger „schlank“. Grundlegende Annahmen der Theorie des kollektiven Handelns werden allerdings beibehalten. Erstens wird das Problem des kollektiven Handelns als potentiell gravierend akzeptiert, d.h. aufgrund der Kollektivgutproblematik bzw. des Organisationsdilemmas können manche Interessen kaum organisiert werden. Hier setzt Walker allerdings an: Es sei in vielen Fällen feststellbar, dass Probleme der Ressourcen- und Organisationsbildung durch Patronage überwunden würden. Wo eine endogene Ressourcenbildung aus strukturellen Gründen nicht gelingt, springen wohlhabende Einzelpersonen oder institutionelle Förderer ein, die ausreichend Mittel zur Verfügung stellen, die einem Verband Operationsfähigkeit verleihen. Mit der Einführung der Möglichkeit der Patronage in die Theorie der Verbände wird diese empirisch fundiert weiterentwickelt. Die grundlegende Bedeutung der Ressourcenausstattung eines Verbandes für eine effektive Interessenvertretung bleibt ein zentraler Aspekt der Theorie. Patronage ist also eine Erweiterung der ursprünglichen Perspektive Olsons (1956), aber keine grundlegende Revision oder Alternative. Man kann hier in beiden Fällen von einer Perspektive der politischen Ökonomie der Verbände oder kurz von einer verbandsökonomischen Perspektive sprechen. Diese Perspektive erklärt nicht nur die Mobilisierung und Organisation von Interessen, sondern trifft auch Aussagen zum politischen Handeln von Verbänden. Die politische Ökonomie eines Verbandes hat entscheidende Bedeutung für das Verständnis des Organisationsverhaltens: „The choice of political strategies by any interest group, in other words, reflects the financial, organizational, and political realities it faces.“ (Walker 1991: 192) Inwieweit ein Verband von externen Ressourcen abhängig ist, um eine Verbandsbürokratie unterhalten zu können, ist für das Handeln von Verbandseliten von Bedeutung. Die Nebenprodukt-Theorie verweist auf ein Organisationsmodell, das Verbänden eine relative Autonomie von staatlichen Einflussnahmen sichert. Die Nebenproduktthese kann daher auch im Sinne einer Autonomiethese verstanden werden: Wenn Verbände auf einem Kalkül selektiver Anreize beruhen, gewinnen sie eine relative Autonomie von staatlichen Formungsversuchen. Ein Verband hingegen, der von Patronage abhängig ist – sei dies ein Einzelförderer, ein anderer Verband oder eine Form der ministeriellen Patronage – befindet sich
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gegenüber diesem Förderer in einem Abhängigkeitsverhältnis. Dies erfordert eine Abstimmung des Organisationsverhaltens auf diesen Umstand. In der folgenden Analyse des Verbändefeldes der Einwandererverbände wird deutlich werden, dass insbesondere ministerielle Patronage für die Organisationsbildung in diesem Feld in Teilen Bedeutung hat. Ministerielle Patronage fördert akkomodative Verbandsstrategien. Die Vermutung ist plausibel, dass die Formungsmöglichkeiten des Staates umso größer sind, je bedeutsamer ministerielle Patronage für die ökonomischen Grundlagen eines Verbandes ist. Insofern begründet die weiterentwickelte Theorie der Verbände ebenso wie die institutionalistische Theorie der Migrantenorganisationen eine Formungsperspektive. Allerdings wird diese nicht wie bei der institutionalistischen Theorie über die Orientierung des Handelns an dem, was aus Gründen der Legitimität im Organisationsfeld erforderlich erscheint begründet, sondern über die Abwägungen einer Abbildung 1: Exogene und endogene Faktoren der Ressourcenbildung
Verbandselite, welche die ökonomischen Grundlagen einer Organisation zu gewährleisten hat. Dementsprechend tritt eine Formung auch nur dann auf, wenn tatsächlich eine Abhängigkeit von Patronage vorliegt. In der verbandsökonomischen Perspektive lässt sich daher nur eine konditionierte Formungsthese be-
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gründen. Im Zuge folgender Beobachtungen zum Feld der Einwandererverbände soll gezeigt werden, dass die islamischen Verbände in Deutschland weitgehend ein Modell der endogenen Ressourcenbildung verfolgen und sie dementsprechend über Freiheitsgrade verfügen, die ihnen gegenüber staatlichen Versuchen der Strukturierung des Verbändefeldes Unabhängigkeit geben. In Abbildung 1 werden die erläuterten Zusammenhänge und Gesichtspunkte der Analyse in einem Schaubild zusammengefasst. 3
Islamische Verbände zwischen Formung und Autonomie
Die institutionalistische und die verbandsökonomische Perspektive lenken bei der Analyse islamischer Verbände die Aufmerksamkeit des Beobachters auf unterschiedliche Merkmale untersuchter Organisationen. Beide Perspektiven zeichnen sich dabei durch spezifische Selektivitäten aus. So übersehen die dem institutionalistischen Zugang folgenden Arbeiten die verbandsökonomischen Grundlagen der internen und externen Handlungsfähigkeit islamischer Verbände. Die verbandsökonomische Perspektive blendet hingegen die Wirkung von Diskursen und einer Orientierung an einer Logik der Angemessenheit bzw. der Legitimität aus. Mit dem Hinweis auf die jeweiligen Selektivitäten der Perspektiven ist die Auffassung verbunden, dass jene sich nicht grundsätzlich unvereinbar gegenüberstehen, sondern dass sich mit diesen unterschiedliche Aspekte des Untersuchungsgegenstands erschließen lassen. In der Frage der Formung führen allerdings die beiden Perspektiven zu divergierenden und konkurrierenden Einschätzungen. Welche Perspektive die bessere Erklärung anbieten kann, ist eine Frage empirischer Art. Hier soll argumentiert werden, dass die verbandsökonomische Perspektive mit einer Analyse der verbandsinternen und verbandsexternen Grundlagen der Ressourcenbildung eine wichtige Grundlage des Organisationsverhaltens islamischer Verbände erkennbar macht, die von der institutionalistischen Perspektive nicht erfasst wird. Die Formungsthese in ihrer qualifizierten Fassung erscheint daher hier als stichhaltiger, wenn es um die Frage nach den Möglichkeiten der Strukturierung der Beziehungen islamischer Verbände durch staatliches Handelns geht. Eine wichtige Grundlage für die Entwicklung dieses Arguments ist die Annahme, dass islamische Verbände eine Teilmenge des Feldes der „Migrantenorganisationen“ bzw. der „Einwandererverbände“ sind. Bei den Einwandererverbänden können als Typen neben den religiösen Verbänden drei Typen nichtreligiöser Verbände gebildet werden, nämlich parteinahe Verbände, solche mit allgemeinpolitischer Ausrichtung und fachlich spezialisierte Verbände. (Blätte 2011) Dabei zeigt sich als Resultat eines Verfahrens der Fallkontrastierung (Kel-
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le/Kluge 2006) des Weiteren, dass die religiösen Verbände im Gegensatz zu nicht-religiösen Verbänden erhebliche Möglichkeiten einer endogenen Ressourcenbildung entwickelt haben. Im Sinne der konditionierten Formungsthese bedeutet dies, dass sie mit ihrer Unabhängigkeit von ministerieller Patronage Autonomie bzw. Unabhängigkeit von staatlichen Strukturierungsversuchen gewinnen. Im Folgenden ist aber zunächst auszuloten, welchen Erklärungswert die institutionalistische Perspektive hat und wo diese an ihre Grenzen stößt. 3.1 Der Erklärungshorizont der institutionalistischen Perspektive Migrantinnen und Migranten erfahren die politischen Verhältnisse einer Aufnahmegesellschaft nicht als einen neutralen und grenzenlosen Handlungsraum, sondern als eine Umwelt, die zum Teil Handlungsmöglichkeiten einschränkt, oftmals Barrieren errichtet, zum Teil aber auch Handlungskorridore eröffnet. Dies gilt auch für Verbände. Die Verbände von Einwanderern stellen sich auf einen solchermaßen strukturierten Möglichkeitsraum der politischen Gelegenheitsstrukturen ein. Dies ist in einer Reihe von Studien, auch für den Fall Deutschlands, gezeigt worden. (Soysal 1994; Koopmans et al. 2005; Koenig 2005) Ein dem institutionalistischen Argument entsprechender Wirkungszusammenhang zeigt sich etwa bei dem Streben islamischer Verbände nach einem Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Bei den islamischen Verbände zeigen vielfältige Bemühungen, eine Organisationsform zu finden, welche die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts oder als Religionsgemeinschaft ermöglicht, die von der institutionalistischen Perspektive angenommene handlungsstrukturierende Wirkung politischer Gelegenheitsstrukturen. Die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) brächte Verbänden die als „Privilegienbündel“ bezeichneten Rechte und Vorteile, etwa öffentlich-rechtliche Organisationsgewalt, Dienstherrenfähigkeit, institutionalisierte Mitspracherechte (z.B. in Rundfunkräten) und nicht zuletzt ein Besteuerungsrecht. Die Anerkennung als Religionsgemeinschaft gilt als Voraussetzung für das Angebot eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts. Die Anerkennung als KdöR ist jedoch mit hohen Hürden verbunden, insbesondere das in der Rechtsprechung entwickelte Kriterium der Dauerhaftigkeit ist für die islamischen Verbände eine problematische Hürde. (Oebbecke 2003) Der Islamrat hat gerade in dieser Hinsicht weitreichende Anstrengungen unternommen, diese Hürde zu nehmen. Organisatorische Veränderungen beim Islamrat sollen hier als Illustration gelten. Der Islamrat wollte schon mit der Einführung des Amtes des Scheikh ul-Islam, dessen Aufgabe es ist, in strittigen Glaubensfragen Entscheidungen zu fällen, eine wesentliche Funktion
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einer Religionsgemeinschaft übernehmen. Das Signal war, dass der Islamrat mehr als nur eine politische Interessenvertretung ist. Um Dauerhaftigkeit beanspruchen zu können, sind weitere organisatorische Schritte unternommen worden: 1997 fusionierte der Islamrat mit dem „Islamischen Weltkongress Deutschland“. Dadurch sah sich der Islamrat als Rechtsnachfolger des am 31. Oktober 1932 gegründeten Vereins Islamischer Weltkongreß Zweigstelle Berlin. Der Islamrat reklamierte auf dieser Grundlage, „zu den ältesten islamischen Verbänden Deutschlands“ (Oebbecke 2003: 66) zu gehören. Die Fusion sollte eine Anerkennung des Islamrats als Körperschaft des öffentlichen Rechts vorbereiten und den Nachweis der Dauerhaftigkeit erleichtern. Erweitert man den Blickwinkel über adaptive Prozesse dieser Art hinaus und nimmt man die Entwicklungen des Feldes der Einwandererverbände insgesamt in den Blick, so kann eine Wirkung politischer Gelegenheitsstrukturen in Deutschland insbesondere die Fragmentarisierung und Polarisierung im Verbändefeld nur mit Einschränkungen erklären. Doch gerade um diese Verhältnisse der islamischen Verbände zueinander geht es hier. Die islamischen Verbände, die heute im Feld der Einwandererverbände eine zentrale Stellung einnehmen, nahmen in der Anfangsphase der Herausbildung von Einwandererverbänden eine weniger prominente Rolle ein. Die als „Gastarbeiter“ gekommenen Arbeitsmigranten aus muslimischen Ländern, das gilt gerade auch für jene aus der Türkei, waren in der Phase der Gastarbeiteranwerbung oft gewerkschaftlich organisiert. (Yurdakul 2009) Viele der von ihnen gegründeten Organisationen waren dem linken politischen Spektrum zuzuordnen. (Özcan 1991) Eine intensivierte Herausbildung islamischer Organisationen setzte in den 1970er Jahren ein und stand im Zusammenhang mit dem verstärkten Familiennachzug und dem Bemühen Eingewanderter, über islamische Organisationen ihren Kindern kulturellreligiöse Traditionen zu vermitteln. (Sezer/Thränhardt 1983) In diesem Prozess kam es zu erheblichen Spannungen gerade zwischen den Organisationen türkischer Einwanderer. Bruchlinien verliefen zwischen linken, säkular orientierten Gruppen und nationalistischen und religiösen Gruppierungen. Auch innerhalb dieser Strömungen kam es zu teils massiven politischen Auseinandersetzungen. Grundlegende Merkmale dieses stark polarisierten Verbändefelds können nur sehr eingeschränkt mit der politischen Gelegenheitsstruktur der Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmegesellschaft erklärt werden. Die Strukturen des Verbändefeldes entwickelten sich in einer Phase, in der die Bundesrepublik nach der Formel „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ dezidiert keine aktive Integrationspolitik betrieb. Die Ausländervereine unterlagen besonderen Meldepflichten, die politische Betätigung von Ausländervereinen wurde zum Teil sehr kritisch gesehen. Radikalere Organisationen wurden und werden vom Verfassungsschutz beobachtet und finden regelmäßig in Verfassungsschutzberichten
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Erwähnung, darunter befinden sich kontinuierlich auch etliche nicht-religiöse Organisationen. (Bundesministerium des Innern 2010: 244) Auch die religiösen Organisationen wurden zum Teil kritisch beäugt, doch sie konnten sich durchaus in einem Raum entwickeln, der weitgehend frei von staatlichen Interventionen war. Das grundlegendste Merkmal der politischen Gelegenheitsstruktur in Deutschland für die islamischen Verbände war die grundrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit. Das islamische Leben in Deutschland entwickelte sich in einer Situation der Nicht-Anerkennung, aber dies im Sinne weitgehender permissiver Ignoranz und nur punktueller Repression seitens der deutschen Politik. – Anzumerken ist dabei selbstverständlich, dass die Repression gegen als islamistisch eingestufte Gruppen nach dem 11. September 2001 deutlich zugenommen hat. Insbesondere in den Anfängen wurde die Gründung islamischer Vereine und Verbände zwar oft skeptisch beäugt, aber ansonsten weder gefördert noch unterdrückt. Die islamischen Verbände der ersten Stunde waren der VIKZ und Vorläuferorganisationen der heutigen IGMG. Der VIKZ ging 1980 durch Namenserweiterung sowie Umwandlung in einen Verband aus dem im September 1973 gegründeten „Islamischen Kulturzentrum e.V.“ in Köln (IKZ) hervor. Nachdem sich weder der türkische Staat noch andere religiöse Organisationen um die religiösen Belange der türkischen Arbeiter in Deutschland gekümmert hatten, fand die Süleyman-Gemeinschaft in Deutschland ein für ihre Anliegen gut erschließbares Rekrutierungsfeld vor. Als im Zuge des Familiennachzugs zunehmend türkeistämmige Kinder nach Deutschland kamen, waren die vom IKZ in Köln und in angebundenen Zentren angebotenen Korankurse eine Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der islamischen Identität in der Fremde, die Resonanz unter den Muslimen fand. Auch bei der IGMG kann von einer ursächlichen Wirkung der politischen Gelegenheitsstruktur nur die Rede sein, wenn man das Konzept völlig undeterminiert einsetzt. Die Gründung der IGMG-Vorgängerorganisation der „Türkischen Union in Deutschland“ erfolgte bereits im Jahre 1972. Aus ihr ging 1995 im Zuge einer Reorganisation die IGMG hervor. Skepsis und Repression von staatlicher Seite schlug der vom Verfassungsschutz observierten IGMG (Schiffauer 2006) und auch dem VIKZ (hier durch Durchsuchungen von Vereinsräumen) später durchaus entgegen. Die Gründungsphase von VIKZ und Milli Görüs-Bewegung fand in Deutschland in einem geschützten rechtlichen Rahmen statt. Kann dann noch von einer Wirkung politischer Gelegenheitsstrukturen gesprochen werden, wenn es vor allem der grundrechtlich gewährleistete Freiraum war, in dem sich die frühe Verbandsentwicklung vollzogen hat? Die politische Gelegenheitsstruktur in Deutschland erscheint hier als unterdeterminiertes erklärendes Konzept.
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Die These der Wirkung politischer Gelegenheitsstrukturen gewinnt erst dann erklärende Kraft, wenn von transnationalen Gelegenheitsstrukturen ausgegangen wird. Das Engagement von Akteuren der Süleyman-Gemeinschaft und der Milli Görüs-Bewegung in Deutschland reflektierte eine Situation, in der diese in der Türkei wurzelnden religiösen Strömungen ebendort in ihren Entfaltungsmöglichkeiten massiv beschränkt waren. In diesem Zusammenhang zeigt insbesondere die Gründung der DITIB, wie die politischen Entwicklungen in der Türkei und in Deutschland miteinander verbunden waren. Die 1984 erfolgte Gründung des bundesweiten Dachverbands der DITIB als Auslandsorganisation der türkischen Religionsbehörde spiegelte die Sorge wieder, dass sich unter den Türkeistämmigen in Deutschland die Süleyman-Gemeinschaft und die islamistische Bewegung Necmettin Erbakans ausbreitete. Die DITIB sollte die türkischen Staatsbürger in Deutschland wieder an die vom türkischen Staat akzeptierte und geförderte laizistische Fassung des sunnitischen Islam binden. (Seufert 2004: 18) Schon aus dem Namen der DITIB geht eine enge Verbindung mit dem türkischen „Präsidium für Religionsangelegenheiten“ (Diyanet øúleri BaúkanlÕ÷Õ, DIB) hervor. Ein zweiter exemplarisch anzuführender Fall der Verflechtung politischer Gelegenheitsstrukturen in Deutschland und in der Türkei ist die Gründung der Alevitischen Gemeinde in Deutschland. Im Zuge der Arbeitsmigration aus der Türkei kamen Bektaúi-Aleviten nach Deutschland, weitere kamen nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 als Asylsuchende. Erst die politische Entwicklung in der Türkei nach dem Militärputsch führte dazu, dass Aleviten in der Türkei und in Deutschland ihre religiöse Identität stärker betonten. Hier liegt eine erhebliche Rückwirkung der Gelegenheitsstrukturen in der Türkei auf die Situation in Deutschland vor. Eine flächendeckende Bildung von Vereinen der Aleviten setzte in Deutschland erst in den 1980er Jahren ein, zurückzuführen ist dies auf das beschriebene späte Erwachen des alevitischen religiösen Selbstbewusstseins. Der erste alevitische Dachverband wurde im Januar 1991 mit der „Föderation Alevitischer Gemeinschaften in Deutschland“ (Almanya Alevi Cemaatleri Federasyonu) gegründet. Heute nennt sich der Dachverband der Aleviten in Deutschland „Alevitische Gemeinde in Deutschland“ (Sökefeld 2008). Die um eine transnationale Dimension erweiterte institutionalistische Perspektive ermöglicht in Verbindung mit dem Konzept der transnationalen Gelegenheitsstrukturen in vielen Aspekten die Erklärung des Feldes der Verbände der Eingewanderten in Deutschland. Dies gilt nicht nur für die religiös orientierten Verbände, sondern gerade auch für die nicht-religiösen Einwandererverbände. So folgt beispielsweise das Spektrum der politisch links orientierten Verbände türkeistämmiger Einwanderer den Konfliktstrukturen des türkischen Parteiensystems. Die institutionalistische Perspektive kann somit die ursprüngliche Frag-
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mentarisierung und Polarisierung des Verbändefelds erklären. Diese Ausgangslage prägt Organisationsverhalten, erklärt dieses aber nicht vollständig. Im folgenden Abschnitt wird diskutiert, wie stark differenziert die Organisationsverhalten prägenden Prozesse der Ressourcenbildung verlaufen sind. 3.2 Differenzierte Ressourcenbildung und Verbandsökonomie Die institutionalistische Perspektive stößt an Grenzen, wenn nicht nur die ursprüngliche Struktur des Verbändefelds, sondern auch die Variation der Ressourcenentwicklung der Verbände erklärt werden soll. Diese erscheint von maßgeblicher Bedeutung, insofern Organisationsverhalten stark von den ökonomischen Bedingungen eines Verbandes beeinflusst wird. Das folgende verbandsökonomische Argument wird durch Fallkontrastierungen zweierlei Art gestützt. Unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenbildung ist erstens festzuhalten, dass die religiösen Verbände insgesamt deutlich ressourcenstärkere Organisationen geworden sind, als die nicht-religiösen Verbände. Noch deutlicher hervor tritt dies – zweitens – durch die Beobachtung, dass jene nicht-religiös ausgerichteten Verbände Eingewanderter, die als relativ ressourcenreiche Organisationen gelten können, dies weitgehend durch eine Strategie der Ressourcenbildung durch Projektarbeit bewerkstelligt haben. Eine solche Strategie besteht in der Durchführung öffentlich geförderter Projekte und wird hier als Quasi-Patronage gewertet. Die Abhängigkeit ressourcenreicher nicht-religiöser Verbände von öffentlichen Mitteln unterstreicht, dass die islamischen Verbände tragfähige Modelle zur endogenen Ressourcenbildung gefunden haben. Zunächst sind die behaupteten Unterschiede des Stands der Ressourcenentwicklung darzustellen. Dies kann hier nicht in großer Tiefenschärfe erfolgen, aber schon die Darstellung im Umriss mag genügen, eine feststellbare und erklärungsbedürftige Variation aufzuzeigen: Jenseits der Auseinandersetzungen um die Frage, welcher islamische Verband wie viele Mitglieder repräsentiert, ist festzustellen, dass die islamischen Verbände erstens flächendeckende Organisationen entwickelt haben. Mit dem Eigentum an Räumlichkeiten vor allem für Moscheen verfügen sie zweitens über ein erhebliches Immobilienvermögen und drittens über eine Verbandsbürokratie, die hauptamtlich Verbandsarbeit leistet. Einige Hinweise zu den wichtigsten Organisationen türkeistämmiger Muslime mögen diese Thesen untermauern. Dem VIKZ gehören deutschlandweit 300 Vereine an. Der VIKZ gibt in der Selbstdarstellung an, 160 Einrichtungen stünden im Eigentum des Verbandes. Der Immobilienbesitz des VIKZ beläuft sich Medienberichten von 2005 zufolge auf über 100 Millionen Euro. (Senyurt/Stoll
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2005)8 In den Gemeinden des VIKZ seien „größtenteils hauptamtliche islamische Gelehrte“ angestellt (VIKZ 2007). In der IGMG sind nach eigenen Angaben in Deutschland 323 Moscheevereine organisiert, die in fünfzehn Regionalverbänden als mittlere Organisationsebene organisiert sind. Nachdem gemäß der Milli-Görüú-Ideologie der Islam für alle Lebensbereiche von Bedeutung ist, beschränkt sich das Angebot für IGMG-Mitglieder nicht auf religiöse Aspekte, sondern umfasst Angebote für alle Altersklassen und verschiedene Lebensbereiche. Der IGMG gehören neben Moscheevereinen auch Frauen-, Jugend-, Studenten- und Sportvereine an; die IGMG gibt in der Selbstdarstellung eine Gesamtzahl von 1833 lokalen Einrichtungen an. Die IGMG ist eng verbunden mit der „Europäischen Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft“ (EMUG). Die EMUG verwaltet die Immobilien der IGMG-Zentrale und der lokalen Milli-Görüú-Gemeinden, die IGMG kümmert sich um die eigentlichen religiösen, sozialen und kulturellen Belange der Mitglieder. (Lemmen 2001: 68) Belastbare Angaben zum Immobilienvermögen der EMUG gibt es nicht. Schätzungen belaufen sich auf 50 Millionen Euro. Als ressourcenreich kann auch die DITIB gelten: Im Gründungsjahr 1984 gehörten der DITIB 230 lokale Vereine an, die Zahl der Mitgliedsvereine hat sich nach eigenen Angaben bis 2010 auf 896 gesteigert.9 Projekte zum Bau repräsentativer Moscheen zeugen von erheblichen mobilisierbaren Ressourcen, bei der Zentrale der DITIB in Köln hat sich eine beachtliche zentrale Verbandsbürokratie herausgebildet. Im April 2003 gehörten der AABF 93 Mitgliedsvereine mit 12.000 eingetragenen Mitgliedern an. (Kaplan 2005) Spuler-Stegemann (2003) geht davon aus, dass nur die Familienvorstände eingetragene Mitglieder der AABF sind und geht daher von 36.000 Personen aus, die von der AABF vertreten werden. Der Entwicklungsstand der Verbände ist bemerkenswert, vor allem wenn man bedenkt, dass diesen Verbänden – zumindest bislang – der Zugriff auf öffentliche Mittel in Deutschland verwehrt ist. Die Mobilisierung von Ressourcen erfolgt aus der Mitgliederbasis heraus. Einzelspenden spielen zweifellos bei Moscheebauprojekten eine Rolle, aber insgesamt gibt es jenseits von Spekulationen keine belastbaren Informationen, dass „reiche saudische Scheichs“ hinter der Organisationsentwicklung der islamischen Verbände stecken. Hingegen kann 8
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Neben Spenden spielen für den VIKZ auch Unternehmen, die mit dem Verband verbunden sind, eine Rolle. Mit der Merkez Handels GmbH sowie der Econom GmbH, welche türkische Supermärkte im Umkreis von VIKZ-Moscheen beliefern, findet – wenigsten zum Teil – eine Selbstfinanzierung des Verbandes durch Eigenunternehmen statt. Die wichtigste Leistung des Verbandes ist die Vermittlung von Vorbetern an die Mitgliedsvereine, die vom türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten bezahlt werden. Im Jahr 2006 waren nach Angaben der DITIB rund 500 Religionsbeauftragte in Deutschland beschäftigt. Die Bezahlung der Vorbeter durch den türkischen Staat sowie die Zuschüsse der DITIB zu Moscheebau-Projekten entlastet die lokalen Vereine.
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man leicht überschlagen, dass mit moderaten monatlichen Beiträgen von hundert Familien in einer Moscheegemeinde (in der Größenordnung der Kosten eines Zeitungsabos oder eines gehobenen Mobilfunkvertrags) Miete und Unterhaltskosten für eine Hinterhofmoschee und das Gehalt eines Vorbeters bestritten werden können. Dem Mitgliedsbeitrag und der Spende steht ein Gegenwert gegenüber. So bemerkt Werner Schiffauer in einer Studie zur IGMG: „Es ist eine Frage der Anständigkeit, den Moscheeverein auch finanziell zu unterstützen, dessen Leistungen man in Anspruch nimmt. Schließlich tragen sich die Vereine – anders als Kirchen – selbst.“ (Schiffauer 2006: 128) Die DITIB erfährt allerdings vor allem mit der Bezahlung der Imame durch den türkischen Staat eine erhebliche finanzielle Entlastung. Diese Entlastung eröffnet Spielräume an anderer Stelle, die repräsentativen Moscheebauten in Deutschland werden weit überwiegend von der DITIB bewerkstelligt. Aber eine im Sinne transnationaler Gelegenheitsstrukturen verstandene Unterstützung der DITIB durch den türkischen Staat kann nicht der ausschlaggebende Faktor für die Stärke der islamischen Verbände in Deutschland sein, denn auch die Organisationen, die nicht vom türkischen Staat unterstützt werden, die von diesem mit unterschiedlichen Konjunkturen unterdrückt werden, haben in Deutschland eine beachtliche Ressourcenbildung vollzogen. Die Wirkung transnationaler Gelegenheiten scheidet damit als Erklärung für den Entwicklungsstand der islamischen Verbände in Deutschland aus. Die islamischen Verbände haben erhebliche Möglichkeiten der Mobilisierung von Ressourcen in ihrer Mitgliederbasis. Dies wird durch den Vergleich mit nicht-religiös orientierten Verbänden deutlich. Hier gibt es eine große Zahl von Migrantenselbsthilfeorganisationen oder von parteinahen Verbänden, die rein ehrenamtlich organisiert sind und die von der Möglichkeit der Beschäftigung einer professionalisierten Verbandsbürokratie weit entfernt sind. Gerade jene wenigen Verbände, die ressourcenstärkere Organisationen hervorgebracht haben, bestätigen diese Regel. Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) zeigt dies besonders deutlich. Der Vorsitz der TGD wird seit 2005 von Kenan Kolat geführt, der zugleich Vorsitzender des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg (TBB) ist. Der TBB konnte in einer Sondersituation des Stadtstaates Berlin einen organisatorischen Grundstock durch eine institutionalle Förderung durch die Stadt Berlin entwickeln, die von der ehemaligen Ausländerbeauftragten Berlins, Barbara John, eingeführt worden war. Darauf aufbauend hat der TBB eine große Zahl von Projekten akquiriert, etwa zum Kampf gegen Diskriminierung oder Drogenmißbrauch, oder für Jugendliche auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. (Yurdakul 2009) Damit entstand ein Apparat, der eine Expertise herausbildet, die für die Beratung im politischen Prozess und politische Einflussnahme relevant ist. Die organisatorischen Möglichkeiten des TBB stehen durch die
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Personalunion von TBB und TGD in der Person Kenan Kolats für bundespolitisches Lobbying der TGD mindestens indirekt zur Verfügung. Die institutionelle Förderung des TBB durch die Stadt Berlin kann im Sinne der Begrifflichkeit der verbandsökonomischen Perspektive als Patronage bezeichnet werden, die gewährten öffentlichen Mittel zur Projektdurchführung durch den TBB als Quasi-Patronage. Zu beobachten ist insgesamt, dass ressourcenstarke nicht-religiöse Verbände ihre Ressourcen durch Formen der Patronage bzw. eine Strategie der Ressourcenbildung durch Projektarbeit bilden.10 Hingegen erfolgt die Ressourcenbildung bei den islamischen Verbänden endogen. Sie sind auf Patronage nicht angewiesen. Die verbandsökonomische Perspektive kann dies folgendermaßen erklären: Die Ressourcenbildung gelingt den islamischen Verbänden, weil sie ihren Mitgliedern relevante selektive Anreize anbieten können. Der Mitgliedsbeitrag oder die Spende für die Moscheegemeinde gehört zu den Pflichten eines religiösen Moslems. Aber man kann auch einen profaneren verbandsökonomischen Zusammenhang sehen. Vereins- und Gemeindemitglieder erhalten bei den islamischen Vereinen und Verbänden einen konkreten Gegenwert zu ihren Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Die oft festgestellte „Multifunktionalität“ islamischer Verbände bedeutet, dass diese ihren Mitgliedern nicht nur ein religiöses Angebot machen, sondern ihnen auch als Knotenpunkt sozialer Netzwerke dienen. Im Angebotsprofil einer Moschee gibt es oftmals vielfältige kulturelle Angebote. Zentrale Verbandsbürokratien bieten konkrete Serviceleistungen an, die von der einzelnen lokalen Moschee nur schwer organisiert werden können, etwa Unterstützung bei der Organisation von Pilgerfahrten, Rechtsberatung oder Hilfen bei Bestattungen. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen den religiösen und den allgemeinpolitischen Verbänden: Erstere machen konkrete Angebote, die nur von Familien in Anspruch genommen werden können, die einen Verband unterstützen. Der allgemeinpolitische Einsatz gegen Diskriminierung etc. führt hingegen im Falle des Erfolgs zu einem allgemeinen Gut, das allen Migranten zugute kommt und einen individuellen Nutzen bringt, der auch dann genossen werden kann, wenn man selbst keine Beiträge zu einem Verband leistet. Es gibt Organisationsmodelle einer erfolgreichen Verbandsentwicklung bei den nicht-religiösen Einwandererverbänden, diese sind jedoch anderer Art als bei den religiösen Verbänden. Vor allem beim TBB und bei der TGD ist festzustellen, dass diese sich mit Projektmitteln „exogene“ Quellen für die Ressourcenbildung in erheblichem Umfang erschlossen haben und damit die für die Ressourcenbildung ansonsten fehlende Möglichkeit, der Mitgliedschaft selektive Anreize anzubieten, ausgeglichen wurde. Religiöse 10
Jenseits der Verbände der Türkeistämmigen gilt das auch für die Bundesvereinigung der Immigrantenverbände in Deutschland (BAGIV), die als zweiter ressourcenstarker nicht-religiöser Einwandererverband gelten kann.
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Verbände sind hinsichtlich der Ressourcenbildung in einer prinzipiell günstigeren Lage, da sie mit den religiösen und den zumeist damit verknüpften sozialen und kulturellen Angeboten stets selektive Anreize anbieten. Die Folge: Religiöse Verbände haben es geschafft, aus sich heraus – „endogen“ – erhebliche organisatorische Ressourcen aufzubauen. Den allgemeinpolitischen Verbänden ist dies nicht erkennbar gelungen, sie bleiben bei der Ressourcenbildung auf externe Finanzierungsquellen angewiesen. Ein Modell, das auf einer endogenen Ressourcenbildung beruht, steht einem verbandsökonomischen Modell gegenüber, das ohne Formen der Patronage nicht auskommt. Dies hat Folgen für das Organisationsverhalten der Verbände. Insofern diesen eine endogene Ressourcenbildung gelingt, verfügen sie über eine größere Autonomie gegenüber dem Staat. Dies ist bei den islamischen Verbänden der Fall: Die religiös-islamischen Verbände sind nicht von Patronage abhängig, sie gewinnen durch ihre Fähigkeiten zum Angebot selektiver Anreize und die daraus resultierenden Möglichkeiten zur endogenen Ressourcenbildung Autonomie. Die Fallkontrastierung zeigt einen Zusammenhang, der allzu oft unterschätzt wird. Die Organisationsfähigkeit der Muslime ist hoch, der Kategorie der „schwachen Interessen“ (Willems et al. 2000) sollten sie nicht zugeordnet werden. Den islamischen Verbänden gelingt eine endogene Ressourcenbildung. Ihre organisatorischen Ressourcen sind weit entwickelter als die vieler nicht-religiöser Migrantenorganisationen. Dies kann mit der in der Theorie des kollektiven Handelns entwickelten Nebenprodukttheorie der Interessengruppen erklärt werden. Islamische Verbände bieten ihren Mitgliedern spezifische selektive Anreize religiöser, sozialer und kultureller Art an, die einen weitgehend stabilen Zusammenhang zwischen den Mitgliedsbeiträgen und Spenden einfacher Mitglieder und den religiösen, aber auch sozialen und kulturellen Angeboten eines Verbandes und seiner Mitgliedsvereine generieren. Anders als viele andere Verbände sind islamische Verbände nur beschränkt davon abhängig, politische Erfolge vorweisen zu können. Ihre organisatorischen Zusammenhänge werden nicht von einer „Einflusslogik“, sondern von einer „Mitgliedschaftslogik“ bestimmt. Ihre bisherigen verbandsökonomischen Bedingungen machen es erforderlich, dass die islamischen Verbände bei einer Spannung von Mitgliedschafts- und Einflusslogik zugunsten der Mitgliedschaftslogik entscheiden, schließlich ist die Aussicht auf sprudelnde öffentliche Mittel etwa durch eine Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts nur vage, die Erfordernis, die finanzielle Unterstützung der Mitgliedschaftsbasis zu mobilisieren, ständig konkret. Diese Analyse der verbandsökonomischen Zusammenhänge ergibt, dass bei den islamischen Verbänden eine unbedingte Offenheit für staatliche Strukturierungsversuche nicht erwartet werden kann.
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Der Zusammenhang, auf den die verbandsökonomische Perspektive hinweist, erlaubt also eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der staatliche Strukturierungsversuche zu einer Defragmentierung und Konzentration oder zumindest zu einer Depolarisierung unter den islamischen Verbände führen. Nachdem die islamischen Verbände bislang ein stabiles Modell der selektiven Anreize und der Ressourcenbildung haben, müsste ein den Verbänden ausgehandeltes Modell, das eine Neuorientierung des Organisationsverhaltens herbeiführt, aus Sicht der Verbände den status quo der Ressourcenbildung erkennbar verbessern.11 Weil den islamischen Verbänden eine Lösung des Organisationsdilemmas und die endogene Ressourcenbildung gelingt, müssen diese für Strukturierungsund Formungsversuche nicht rezeptiv sein. 4
Zivilgesellschaftliche Autonomie und Akzeptanz des Pluralismus
Abschätzungen möglicher Entwicklungsdynamiken bei den islamischen Verbänden erfordern ein Verständnis ihrer politischen Ökonomie. Dies ist die zentrale These dieses Beitrags. Der Versuch, den Ertrag einer „verbandsökonomischen“ Perspektive theoretisch und empirisch zu begründen, ist dabei keineswegs als Grundsatzkritik am bisherigen Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung gemeint. Die institutionalistisch ausgerichtete Forschung bleibt für das Verständnis der Verbände Eingewanderter unerlässlich. Die Theorie der Verbände ist blind gegenüber der kulturellen Dimension der Einwandererverbände und erfasst ihre Einbettung in ein gesellschaftliches Normensystem nicht. Auch für die Analyse der Verbandsbildung und Ausrichtung der Verbandsarbeit bei den islamischen Verbänden ist, wie in der sonstigen Verbändeforschung, ein „mehrdimensionales Konzept“ erforderlich, das den komplexen und variierenden Zusammenhängen von Mobilisierung und Organisation von Interessen entspricht. (Reutter/Rütters 2007: 125) Mit ihrer politisch-ökonomischen und materialistischen Ausrichtung erfasst die verbandsökonomische Perspektive den kulturellen Sinn und die religiöse Bedeutung islamischer Verbände nicht. Die verbandsökonomische Sicht kann institutionalistische Analysen und andere Zugänge zu den Verbänden von Muslimen nicht ersetzen. Aber sie stellt die Analyse in einem wichtigen Punkt vom Kopf auf die Beine. 11
Die Berücksichtigung verbandsökonomischer Zusammenhänge sollte bei der Bewertung der Handlungsmöglichkeiten islamischer Verbände auch sonst eine größere Rolle spielen. So bleibt nach Auffassung des Autors etwa bei Forderungen an die DITIB, eine Abnabelung vom türkischen Staat zu vollziehen, in aller Regel die Frage unberücksichtigt, wie dann eine Finanzierung von Imamen erfolgen könnte. Wer sich eine Trennung der DITIB vom türkischen Staat ernsthaft wünscht, müsste ein tragfähiges Finanzierungskonzept anbieten, das nicht zum Zusammenbruch der personellen Strukturen in den Moscheegemeinden führt.
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Es gibt einen Wettstreit um die bessere Erklärung bei der Einschätzung, ob und inwiefern eine Formung des Verbändefelds durch staatliche Strukturierung möglich ist. Hier war argumentiert worden, dass die verbandsökonomische Perspektive auf Zusammenhänge aufmerksam macht, welche Qualifikationen der Formungsthese erforderlich machen, wie sie von den Institutionalisten vertreten wird. Der These der Formung bzw. der „Macht der Institutionen“ liegt die Annahme eines Primats exogener Faktoren bei der Strukturierung eines Verbändefelds zugrunde. Die Möglichkeit staatlicher Strukturierung durch Patronage wurde hier anerkannt, doch wurden auch mögliche Modelle einer endogenen Ressourcenbildung angesprochen, die von den islamischen Verbänden realisiert werden und diesen Freiheitsgrade bieten. Jenen, die institutionalistisch argumentieren, geht es um problemadäquate Erklärungen, nicht um einen normativen Appell. Die institutionalistische Perspektive hat jedoch normative Implikationen und gewinnt regelmäßig eine gesellschaftskritische Konnotation. Diese scheint bei vielen Autoren zu sein, dass es in den Händen einer Aufnahmegesellschaft liege, Eingewanderten ein Inkorporationsangebot zu machen. Eine Kernaussage der institutionalistischen Argumentation ist schließlich, dass eine Adaption der Verbände an das jeweilige soziopolitische Umfeld zu erwarten sei. Insofern dieses intentional gestaltet werden könne, seien Angebote im Hinblick auf eine politische Integration möglich, mit Aussicht auf erwünschte politische Reaktionen bei den Betroffenen. Der Zusammenhang zwischen empirisch-explanatorischem Interesse sowie normativen und praxisorientierten Implikationen gilt analog auch für die verbandsökonomische Perspektive. Die normative Implikation besteht allerdings nicht darin, jeglichen politischen Gestaltungsanspruch zu verwerfen. Die verbandsökonomische Perspektive, wie sie hier vertreten wird, geht lediglich davon aus, dass es in einer freiheitlichen Gesellschaft bei Verbänden organisatorische Zusammenhänge gibt, die sich der Verfügungsgewalt des Staates entziehen. Die Formungsthese wird hier qualifiziert, nicht verworfen. Diese Erkenntnis und die rationalistischen handlungstheoretischen Prämissen der verbandsökonomischen Perspektive müssen aber keinen Umsturz in eine rein sozialtechnische, normativ entkernte Gedankenwelt bedeuten. Sie findet eine normative Flankierung in der Idee einer Zivilgesellschaft als Sphäre zumindest relativer Autonomie, die sich dem bedingungslosen Zugriff des Staates entzieht. Die Argumentation dieses Beitrags, auch dies gehört zu den normativen Implikationen, hat Folgerungen auch für das eingangs angesprochene Bestreben staatlicher Stellen, seitens der Muslime einen „einheitlichen Ansprechpartner“ zu gewinnen. Die Suche und die Sehnsucht nach einem „einheitlichen Ansprechpartner“ ist kein für das Verhältnis von Staat und Muslimen eigentümliches Phänomen. Sie ist vielmehr bei Interaktionen von Staat und Verbänden in Deutsch-
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land gängig und entspricht einer von korporatistischen Traditionen geprägten Verwaltungskultur, die mit spezifischen Konzeptionen politischer Steuerung verbunden ist. Wo der Staat ein Kooperationsverhältnis mit Verbänden anstrebt, Staatshandeln durch die Verpflichtungsfähigkeit von Verbänden entlastet werden soll und so durch die Mithilfe von Verbänden Steuerungszugewinne erreicht werden, erscheint ein polarisiertes und fragmentiertes Verbändefeld als Problem. Wenn die Interessenaggregation nicht im Verbandswesen erfolgt, würden bei einer Kooperation mit Verbänden, die in einem polarisierten Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, Konflikte in unerwünschter Weise in die staatliche Sphäre importiert. Eine Verwaltungstradition, die auf Kooperation setzt und verhandlungs- und verpflichtungsfähige Verbände erfordert, stößt daher dort an Grenzen, wo sich kein „einheitlicher Ansprechpartner“ auffinden lässt. Das Argument dieses Papiers begründet allerdings Skepsis gegenüber der oft angenommenen Gestaltungsfähigkeit, einen einheitlichen Ansprechpartner bei den Muslimen durch staatliches Handeln und auch durch bewusst gestaltete Anreizsysteme hervorrufen zu können. Aus Gründen der Religionsfreiheit verbieten sich Drohungen mit Statusverschlechterungen. Aus der Reflektion verbandsökonomischer Zusammenhänge und eine Besinnung auf die Idee der Zivilgesellschaft folgt vielmehr, dass Politik selbstkritisch ihre Möglichkeiten der Formung des Verbändefeldes nicht überschätzen sollte. Es ist bei den islamischen Verbänden von einem fortbestehenden Pluralismus auszugehen. Der Koordinationsrat der Muslime ist eine wichtige Plattform zur Koordination der islamischen Verbände untereinander, aber es ist unwahrscheinlich, dass dieser die bestehenden Verbände vollständig überwölben kann. Die Islampolitik in Deutschland sollte sich auf fortbestehenden Pluralismus einstellen – auch wenn dies eine Abkehr von der Tradition des Wunsches nach einem „einheitlichen Ansprechpartner“ bedeutet. Literatur Anwar, Muhammad, 2001: The Participation of Ethnic Minorities in British Politics, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 27, 533-549. Baumgartner, Frank R./Leech, Beth L., 1998: Basic Interests. The Importance of Groups in Politics and in Political Science, Princeton. Benz, Arthur, 1994: Kooperative Verwaltung. Funktionen, Voraussetzungen und Folgen, Baden-Baden. Blätte, Andreas, 2011: Zugang, Normen und Tausch. Einwandererverbände und politische Planungs- und Entscheidungsprozesse 1998-2006, Wiesbaden. Bousetta, Hassan, 2000: Institutional Theories of Immigrant Ethnic Mobilisation. Relevance and Limitations, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 26, 229-245. Bundesministerium des Innern, 2006: Verfassungsschutzbericht 2005, Berlin.
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Andreas Blätte
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Muslimische Gemeinschaften in Deutschland
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Muslimische Gemeinschaften in Deutschland zwischen Religionspolitik und Religionsverfassungsrecht – Schieflagen und Perspektiven Muslimische Gemeinschaften in Deutschland
Mounir Azzaoui
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Einleitung
Die Anerkennung muslimischer Gemeinschaften in Deutschland als Religionsgemeinschaften wird seit etwa zehn Jahren intensiv diskutiert, bisher mit wenig konkreten Ergebnissen. Mit dem vorliegenden Text soll auf einige Schieflagen in dieser religionspolitischen Diskussion hingewiesen werden, insbesondere der bundespolitischen. Im Wesentlichen basiert dieser Beitrag auf persönlichen Erfahrungen aus der praktischen Beratungs- und Verbandsarbeit. An einigen Stellen wird dabei zur Veranschaulichung auf Regierungsdokumente und Interviews von Politikern verwiesen. Darüber hinaus wird auch der Versuch unternommen praktische Empfehlungen abzugeben. In einem ersten Schritt werde ich versuchen zu verdeutlichen, weshalb man sich bei der strukturellen Integration muslimischer Gemeinschaften auf die Moscheen konzentrieren sollte. (Kapitel 2) Im Anschluss soll kurz nachgezeichnet werden, welche organisatorischen Entwicklungen von Moschee-Verbänden in Gang gebracht wurden, um den rechtlichen und politischen Anforderungen nachzukommen, und an welchen Stellen diese Prozesse ins Stocken gekommen sind. (Kapitel 3) Anknüpfend daran wird dargelegt, dass die Politik die Bedeutung der Moscheen mit Blick auf die religionsverfassungsrechtliche Diskussion nicht angemessen würdigt. Auch die Bestrebungen, die Moscheen und ihre Zusammenschlüsse in Deutschland stärker zusammen zu führen, finden kaum eine Unterstützung in der Politik. Stattdessen werden ständig neue Hürden in der religionspolitischen Diskussion aufgestellt, welche keine rechtlichen Grundlagen haben. (Kapitel 4) Darüber hinaus gibt es die Tendenz zu versuchen etablierte muslimische Verbände in Deutschland zu delegitimieren. In diesem Zusammenhang soll insbesondere die Deutsche Islamkonferenz kritisch beleuchtet werden. (Kapitel 5) Gleichzeitig gibt es aber auch in der muslimischen Organisationslandschaft strukturelle Defizite, welche einer Bearbeitung bedürfen, um bei den religionspolitischen Diskussionen voran zu kommen. Dazu gehört eine Fixierung H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Mounir Azzaoui
auf die Herkunftsländer, die fehlende Professionalisierung in der Verbandsarbeit und der Mangel an innermuslimischen Debatten zu grundsätzlichen Fragen der Entwicklung muslimischer Strukturen. (Kapitel 6) Zum Schluss soll anhand der Situation in Niedersachsen eine Übergangslösung vorgestellt werden, die einen Weg aufweist, wie eine Kooperation zwischen muslimischen Verbänden und Landesregierungen beim islamischen Religionsunterricht möglich ist, ohne abwarten zu müssen bis alle rechtlichen und politischen Fragen im Detail abschließend geklärt worden sind. (Kapitel 7) 2
Moscheen – Lokale Religionsgemeinschaften
Die Moscheen sind zentral für das religiöse Leben der Muslime in Deutschland: Tägliche Gemeinschaftsgebete, Freitagsgebete, Festgebete an Feiertagen, besondere Gottesdienste im Fastenmonat Ramadan, Religionsunterricht, Jugendarbeit, Eheschließungen, Seelsorge, Dialog- und Informationsveranstaltungen, Wohltätigkeitsprojekte, Unterstützung bei Bestattungen. Die erste umfangreiche Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu Muslimen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass bis zu 70 Prozent der befragten Muslime religiöse Veranstaltungen besuchen und die Mitgliedschaft in religiösen Vereinigungen bei etwa 20 Prozent liegt. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009: 161 u. 167)1 Die etwa 2500 Moscheen in Deutschland und die an sie angegliederten Vereine, etwa im Jugendbereich, werden damit von etwa 2,2 Millionen Muslimen besucht und etwa 650 000 sind dort Vereinsmitglieder.2 Auch wenn es in diesem Bereich sicherlich weiterer wissenschaftlicher Forschung bedarf, kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Moscheen quantitativ eine Größe sind, die man nicht übergehen kann. Weder mit der Feststellung, dass es doch eine große Kluft gebe zwischen den offiziellen Vereinsmitgliedern und den tatsächlichen Gemeindebesuchern und schon gar nicht mit dem Hinweis, der Islam kenne
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In den Fragen ging es nicht speziell um Moscheebesuche oder die Mitgliedschaft in Moscheen, sondern allgemein um den Besuch religiöser Veranstaltungen bzw. die Mitgliedschaft in religiösen Vereinen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die überwältigende Mehrheit dieser Angaben auf Moscheen entfallen, da es kaum religiöse Riten oder Organisationsformen außerhalb der Moscheen gibt. Wenn man von dem Mittelwert von 4 Millionen Muslimen ausgeht, dann kommt man auf etwa 2,8 Millionen Muslime, die religiöse Veranstaltungen besuchen und etwa 800 000 Vereinsmitglieder. Davon sind jedoch nur etwa 80% Sunniten und Schiiten, um die es in diesem Beitrag in erster Linie geht. Deshalb wurden jeweils 20 Prozent abgezogen. Damit sind in den oben genannten Zahlen Aleviten, Ahmadis und weitere kleine Gruppen nicht berücksichtigt.
Muslimische Gemeinschaften in Deutschland
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keine Kirche und es fehle damit auf muslimischer Seite an verfassten Ansprechpartnern. Die Moscheen kommen dem deutschen Verständnis des Begriffs „Religionsgemeinschaft“ auf der lokalen Ebene am nächsten. Nach der gängigen Definition von Gerhard Anschütz ist eine Religionsgemeinschaft „[...] ein die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses für ein Gebiet zusammenfassender Verband zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben“. (Anschütz 1960: 620) Die Moschee ist solch ein „Verband“. Sie ist ein Zusammenschluss von Vereins- bzw. Gemeindemitgliedern und gibt Muslimen die Möglichkeiten ihre Religion umfassend auszuüben. In Deutschland findet sich keine andere Form der religiösen Selbstorganisation von Muslimen, welche sowohl in der Qualität als auch in der Quantität mit den Moscheen vergleichbar wäre. Vor dem Hintergrund der hier beschriebenen tatsächlichen und rechtlichen Bedeutung der Moscheen sollten diese Vereine, ihre Vereinsmitglieder und Gemeindebesucher bei der Frage nach der Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften in Zukunft im Mittelpunkt der Diskussionen stehen.3 Dabei geht es nicht darum, am Ende jede einzelne dieser Moscheen als Religionsgemeinschaft anzuerkennen, sondern die Moscheen als die Bezugsgröße für organisierte muslimische Religion auf der untersten Ebene zu nutzen. Wenn es in diesem Punkt eine Einigung gibt, dann sollte man sich in den anstehenden Diskussionen auf folgende zentrale Fragen konzentrieren: Wer spricht für die 2500 Moscheen auf der Landes- und Bundesebene? Wie kann der Staat möglichst umfassend und föderal mit diesen 2500 Moscheen in eine Kooperation treten? Welche religionsverfassungsrechtlichen Anpassungen sind nötig, damit die Zusammenschlüsse dieser Moscheen als Religionsgemeinschaft(en) anerkannt werden können? In welchen Zusammenhängen und bis zu welchem Grad wird es nötig sein, dass die Moscheen eindeutig die Namen ihrer Vereinsmitglieder bzw. Gemeindebesucher offenlegen? Wie organisiert man einen transparenten und effektiven religionspolitischen Dialog zu diesen Fragen? 3
Moschee-Verbände zwischen Wandel und Stagnation
Neben den seit Jahrzehnten bestehenden türkischen Moschee-Verbänden (Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), Islamrat für die Bundesrepublik 3
Nach dem deutschen Religionsverfassungsrecht gibt es keine zwingend erforderliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft, etwa um sich so zu bezeichnen. Die Anerkennung als Religionsgemeinschaft bedeutet in diesem Text, dass eine muslimische Organisation Anspruch auf einen Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG geltend machen kann.
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Mounir Azzaoui
Deutschland (IRD), Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) und dem multiethnischen Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD)) auf der nationalen Ebene, haben sich in den letzten Jahren zunehmend neue multiethnische Moschee-Zusammenschlüsse auf der Landes- und Lokalebene etabliert.4 Die meisten Moscheen, welche durch die sog. Gastarbeiter gegründet wurden, galten lange Zeit als Provisorien bis zur Rückkehr in die Heimat. Eine an den Ethnien orientierte Moscheen-Landschaft machte da noch Sinn, weil man so neben der Religion auch die Sprache und Kultur bewahren konnte. Die Moscheen sind heute keine Provisorien mehr. Für die in Deutschland geborenen Muslime mit türkischem, arabischem oder bosnischem Hintergrund wirken die an den Ethnien orientierten Moscheen zunehmend fremd. Diese jungen Muslime besuchen gemeinsam die Schule und Sportvereine, sie verbringen ihre Freizeit miteinander und entdecken viele Gemeinsamkeiten. Langfristig wird dies die Moscheen-Landschaft sehr stark verändern, hin zu Moscheen von deutschen und europäischen Muslimen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen. Doch auch schon jetzt, obwohl die meisten Führungspositionen in den Moscheen heute noch weitgehend von der – ohne Frage wohlverdienten – ersten Generation von Muslimen geführt werden, zeigen sich bereits Entwicklungen in Richtung einer Annäherung. Die Entstehung der neuen Landesverbände und lokalen MoscheeRäte ist der Einsicht geschuldet, dass eine Zusammenarbeit über die ethnischen Zugehörigkeiten notwendig ist, um die anstehenden Herausforderungen, etwa die religiöse Bildung der Kinder oder die Einrichtung von islamischen Friedhöfen, effektiv angehen zu können. Die Entstehung dieser neuen Zusammenschlüsse und die Kooperation zwischen den etablierten nationalen muslimischen Verbänden ist aber auch eine Reaktion auf Forderungen aus der Politik, dass sich die muslimischen Organisationen zu einer „einheitlichen Vertretung“ zusammenschließen sollten, um z.B. als Partner für die Einführung von islamischem Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG zur Verfügung stehen zu können. (Siehe Kapitel 4.2) Vor diesem Hintergrund kam es im Jahr 2005 zum sog. „Hamburger Dialog“. An diesem intensiven Dialog-Prozess waren – bis auf die DITIB – alle großen Moschee-Verbände auf Bundes- und Landesebene beteiligt.5 Das Ziel bestand darin, „[…] einheitliche, demokratische und föderale Organisationsstrukturen zur Vertretung der Muslime auf Landes- und Bundesebene zu schaffen.“ (Elyas 2005: 18) Die Idee war im Prinzip sehr einfach: Man gründet in allen (westlichen) Bundesländern „Landesreligionsgemeinschaften der Muslime“, mit 4
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Vgl. beispielsweise den Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V. (Schura Niedersachsen) oder den Rat der Muslime in Bonn. Dazu gehörten u.a.: Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V., Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V., Islamische Religionsgemeinschaft Hessen e.V., Islamische Föderation in Berlin e.V.
Muslimische Gemeinschaften in Deutschland
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dem Ziel, die Mitglieder umfassend bei der Erfüllung ihrer Religionsausübung zu unterstützen und zu betreuen und ihre Interessen nach außen zu vertreten. Jede Moschee sollte einen Vertreter in eine Landesversammlung entsenden und hat dort eine Stimme. Diese Landesversammlung wählt einen Vorstand, welcher die Geschäfte leitet und die Landesreligionsgemeinschaft nach außen repräsentiert. Religiöse Vereine, welche keine Moschee haben, etwa Studenten-, Jugendund Frauenorganisationen sollten als assoziierte Mitglieder in die Landesversammlung aufgenommen werden, jedoch ohne Stimmrecht.6 In einem „UlemaRat“ sollten muslimische Gelehrte sich mit islamwissenschaftlich-theologischen Fragen befassen. Auf der Bundesebene sollten die verschiedenen Landesreligionsgemeinschaften zusammen kommen und anteilig an der Zahl der Mitgliedsmoscheen Vertreter in eine Bundesversammlung entsenden. Diese Versammlung sollte dann einen Bundesvorstand wählen, welcher die Moscheen auf der Bundesebene vertreten sollte. Angedacht war, dass im Prinzip alle Moscheen, ob bisher zu einem Verband gehörend oder nicht, in diesen Strukturen ihren Platz finden könnten. Die bereits bestehenden Verbände sollten auf Bundesebene in eine Art „Senat“ aufgenommen und ihnen ein begrenztes Mitspracherecht eingeräumt werden. So wollte man die etablierten Bundesverbände zum einen für die Entwicklung einer neuen föderalen Moschee-Struktur in Deutschland gewinnen und zum anderen dadurch aber auch auf ihre Erfahrungen und Ressourcen zurückgreifen können. Nachdem die Satzungen formuliert waren, wollte man in einer zweiten Phase das ambitionierte Projekt umsetzen. Dabei zeigte sich nicht nur, dass die Umsetzung gerade in großen Bundesländern wie NRW mit hunderten von verbandsunabhängigen Moscheen einen enormen Arbeitsaufwand bedeutete und die nötige interne Kommunikation solcher Veränderungsprozesse in die Verbände hinein unterschätzt wurde. Hinzu kam auch, dass sich der VIKZ entgegen ursprünglicher Ankündigungen nicht an dem Neustrukturierungsprozess beteiligen wollte. Die interne Umstrukturierung des VIKZ, welche zu dem Zeitpunkt im Gang war und die Ortsvereine von der VIKZ-Zentrale in Köln rechtlich unabhängiger machen sollte, war nach Angaben des VIKZ die Begründung dafür, weshalb man sich nicht noch auf weitere Neustrukturierungen einlassen könne. Doch Beobachter sahen den Hauptgrund für den Rückzug des VIKZ aus dem „Hamburger Dialog“ darin, dass der VIKZ 6
Damit sollte vermieden werden, dass die Landesreligionsgemeinschaften durch religiöse Vereine dominiert werden, welche nicht der umfassenden Glaubensausübung dienen. Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.02.2005, wonach eine Religionsgemeinschaft nicht durch religiöse Vereine dominiert werden darf. (BVerwG 6 C 2.04) Ein anderer Aspekt war, dass von einigen auf die Möglichkeit des Missbrauchs hingewiesen wurde, indem religiösen Vereinen ohne echtes Vereinsleben als Karteileiche ein Stimmrecht zugesprochen werden müsste. Bei Moscheen, bei denen zumindest das Abhalten des Freitagsgebets nachzuwiesen ist, könnte dies ausgeschlossen werden.
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einer neuen Moschee-Struktur, welche ohne die DITIB errichtet worden wäre, keine Aussicht auf Erfolg bei der Anerkennung durch staatliche Stellen einräumte. Mit Blick auf die Tatsache, dass am Ende eines solchen Neustrukturierungsprozesses dann weder die DITIB noch der VIKZ beteiligt gewesen wären, hat der ZMD darauf gesetzt, den Hamburger Dialog zu verlangsamen und zu versuchen, die beiden Verbände, insbesondere die DITIB, durch weitere Gespräche auf einer anderen Ebene doch noch zu einer Kooperation zu bewegen. So kam es dann dazu, dass der Hamburger Prozess Anfang 2006 erst mal zum Erliegen kam und gleichzeitig die Kooperation zwischen den Bundesverbänden ZMD, Islamrat, VIKZ und der DITIB im Laufe des Jahres 2006 an Fahrt aufgenommen hat. Dies führte schließlich in der zweiten Jahreshälfte 2006 zur Gründung des Koordinationsrats der Muslime in Deutschland. (Siehe Rosenow/Kortmann in diesem Band) Die im Hamburger Dialog involvierten Landesverbände waren damit zunächst nicht mehr an dem geplanten Neustrukturierungsprozess beteiligt. Nach der Gründung des KRM knüpften der ZMD, Islamrat und VIKZ an die Struktur-Vorschläge aus dem Hamburger Prozess an und versuchten die DITIB auf dieser Grundlage zu einer Vertiefung der Kooperation auf der Landesebene zu bewegen.7 Die DITIB erklärte sich anfangs grundsätzlich dazu bereit, diesen Prozess der Vertiefung mit zu gehen, bat jedoch um Zeit, um die Satzungsentwürfe aus dem Hamburger Dialog zu prüfen und ggf. zu überarbeiten. Im Jahr 2008 zeichnete sich dann aber langsam ab, dass die DITIB doch nicht bereit war, diesen umfassenden Vertiefungsprozess des KRM mit zu vollziehen. Die DITIB gründete eigene Landesverbände und der Prozess, den KRM auch auf Landesebene 7
Die Vertiefung des KRM hätte in einzelnen Bundesländern, je nach Gegebenheiten und bereits bestehenden Landesstrukturen, unterschiedliches bedeutet: In NRW hätte man etwa einen neuen Landesverband der Moscheen gründen können, in den die vier Verbände ihre Moscheen entsenden und die Struktur so offen gestalten können, dass auch Moscheen, die bisher noch keinem Verband angehören, aufgenommen werden können. In Niedersachsen hätte man auf einen bereits bestehenden Prozess der Konsolidierung aufbauen können. Denn von den etwa 150 Moscheen im Land Niedersachsen gehören 65 Moscheen dem im Jahr 2001 gegründeten Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V. an, darunter die Moscheen die zum VIKZ, Islamrat und ZMD gehören. Weitere 63 Moscheen gehören zur DITIB. In Niedersachsen hätte man den Landesverband der Muslime und die DITIB-Moscheen im Land zusammenführen können bzw. ein stabiles Kooperationsverhältnis aufbauen können. Im Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V. (Schura) sind 31 Moscheen organisiert, darunter die Moscheen, die zum ZMD und Islamrat gehören. In Hamburg ist nicht nur die DITIB mit 8 Moscheen eigenständig, sondern auch der VIKZ mit 7 Moscheen. Hier wäre es also darum gegangen, zu versuchen, diese drei Akteure zusammen zu bringen (Schura, DITIB und VIKZ). Die Hamburger Verhältnisse veranschaulichen zudem, dass die DITIB in den Städten bzw. Stadtstaaten im Vergleich zu den Flächenstaaten einen deutlich kleineren Anteil an den Moscheen hat und somit in diesen Gebieten selbst bei einer gebündelten Abstimmung der DITIB-Moscheen in den Moschee-Versammlungen nicht unbedingt Mehrheiten organisieren könnte.
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zu etablieren kam damit erst mal zum Erliegen. Nach Einschätzungen von Beobachtern ist das darauf zurückzuführen, dass die Verantwortlichen bei der DITIB in einer vertieften Kooperation mit den anderen Mitgliedern im KRM auf Augenhöhe und auf der Grundlage demokratischer Grundsätze – etwa ohne ein Vetorecht, wie z.Zt. in der KRM-Geschäftsordnung festgelegt – eine Untergrabung ihres Führungsanspruchs sahen. Hinzu kam wohl die Einschätzung, dass der Einfluss der DITIB auf ihre Mitglieds-Moscheen langfristig verloren gehen könnte, da ein neuer Zusammenschluss mit der Übernahme neuer Aufgaben immer wichtiger für die Gemeinden vor Ort werden könnte. Im KRM arbeitet man weiter projektbezogen zusammen, etwa bei der Festlegung der Islamischen Feiertage für Deutschland oder dem bundesweiten Tag der offenen Moschee. Eine Perspektive, wie man sich eine Entwicklung des KRM vorstellt bzw. welche konkreten Maßnahmen man ergreifen möchte, um sich auf der Landesebene geschlossen für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts einzusetzen sind bisher nicht bekannt. Die zuvor beschriebenen Entwicklungsprozesse sollten zeigen, dass auf der Seite muslimischer Organisationen einiges im Wandel ist. Es besteht, trotz des Abbruchs des Hamburger Dialoges und der Aussetzung einer Vertiefung des KRM, bei der Mehrheit der muslimischen Verbände auf Bundes- und Landesebene die Bereitschaft, demokratische und föderale Moschee-Vertretungen aufzubauen, die über die bisher etablierten Verbände hinausgehen, um die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen zu erleichtern. Doch diese Umstrukturierungen konnten bisher nicht im erhofften Maße umgesetzt werden, da zum einen bei bestimmten Verbänden die Bereitschaft zu umfassenden Transformationsprozessen nicht hinreichend vorhanden ist; zum anderen aber auch die Politik es bisher versäumt hat, die Entwicklungen in der muslimischen Organisationslandschaft in einer konstruktiven Weise zu begleiten. (Vgl. dazu Kapitel 4 u. 5) Auf muslimischer Seite kommen erschwerend die auf das Herkunftsland orientierten Denkmuster und Strukturen hinzu und die mangelnden Fähigkeiten, solch komplexe Transformationsprozesse in einer langfristig angelegten, professionalisierten und transparenten Weise umsetzen zu können. (Vgl. dazu Kapitel 6) 4
Schieflagen in der Politik
4.1 Ausblendung der Moscheen Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen zentralen Bedeutung der Moscheen für das religiöse Leben der Muslime in Deutschland ist es erstaunlich, dass die Rolle der Moscheen in den politischen Diskussionen um eine Anerken-
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nung von muslimischen Religionsgemeinschaften kaum Erwähnung findet. In der über vierhundertseitigen Dokumentation der 1. Islamkonferenz finden sich zwar Beiträge zum Moscheebau und zu Dialogseminaren mit Imamen. Doch es findet sich kein einziger Hinweis darauf, dass die Moscheen die zentralen Einheiten der muslimischen Religionsgemeinschaften sind. (Deutsche Islamkonferenz 2009) Für eine Konferenz, die drei Jahre lang dauerte und die sich insbesondere mit der religionsverfassungsrechtlichen Integration von muslimischen Gemeinschaften auseinandergesetzt hat, ist dies bemerkenswert. Die 2. Islamkonferenz soll nach Bundesinnenminister Thomas de Maizière die „strukturelle oder institutionelle Integration“ der Muslime fördern. Doch weder in seiner Eröffnungsrede beim ersten Treffen noch im aktuellen Arbeitsprogramm vom 17. Mai 2010 wird die Bedeutung der Moscheen in diesem Zusammenhang erwähnt. (de Maizière 2010; Deutsche Islam Konferenz 2010b) Nun kann man zu Recht einwenden, dass die Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften Ländersache sei und nicht die Aufgabe des Bundes. Doch dann stellt sich die Frage, wie das BMI den Erfahrungsaustausch und eine Koordination zur institutionellen Integration leisten will, wenn das Kind – die Moscheen – nicht beim Namen genannt wird? In der Flut von Dokumenten, Pressemitteilungen und Interviews von an der Islamkonferenz beteiligten Politikern bzw. der Bundesregierung konnten nur zwei – sehr kurze – Stellen gefunden werden, in denen die Rolle der Moscheen angedeutet wird. Zum einen heißt es in einem Dokument der Bundesregierung aus dem Jahr 2007: „Die örtliche Moscheegemeinde ist als kleinste Organisationseinheit zu betrachten.“ (Bundesregierung 2007: 6) Im Jahr 2009 stellt der Initiator der Islamkonferenz und ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble kurz vor dem Abschluss der 1. Islamkonferenz fest: „Ich glaube, die Anerkennung wird von den Moscheegemeinden ausgehen, denn da findet die Glaubensausübung statt.“ (Schäuble 2009) Hier wird die Bedeutung der Moscheen für den Prozess der Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften – nach dem vorliegenden Kenntnisstand – zum ersten und vorerst letzten Mal von einem Vertreter der Bundesregierung formuliert. Diese beiden kurzen Aussagen sind als Randerscheinungen zu werten, die mit Sicherheit nicht geeignet sind, eine substantielle politische und öffentliche Debatte über den Weg hin zu einer religionsverfassungsrechtlichen Integration der Moscheen in Deutschland anzuregen. Nicht nur die Bedeutung der Moscheen, sondern auch die Rolle der sie zu einem großen Teil vertretenden muslimischen Verbände wird nicht angemessen berücksichtigt. So antwortete der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, seinerzeit Innenminister in Hessen und Islamkonferenz-Mitglied, auf die Frage
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eines Journalisten, wie man zu einer „Gleichstellung der muslimischen Gemeinschaften mit den christlichen Kirchen“ kommen kann: „Bei den muslimischen Gemeinden haben wir das alles nicht [wie bei den christlichen Kirchen, MA]. Da ist jede Gemeinde für sich selbstständig. Dort gibt es keine Ansprechpartner, die für eine andere Gemeinde mitsprechen könnten. (…) Daraus folgt, dass wir in Deutschland bis heute keinen Ansprechpartner für Religionsunterricht haben.“ [Hervorhebung, MA] (Bouffier 2009)
Implizit wird hier zwar auch auf die Bedeutung der (Moschee-)Gemeinden hingewiesen, doch gleichzeitig stellt Bouffier hier die Behauptung auf, dass die (Moschee-)Gemeinden alle vereinzelt für sich selbst sprechen würden und keine Zusammenschlüsse hätten und daraus folgert er, dass man keine Ansprechpartner – etwa für den Religionsunterricht – habe.8 Das ist jedoch falsch. Die Mehrheit der Moscheen in Deutschland gehört zu einem Verband, der durchaus berechtigt ist, für seine Mitgliedsgemeinden zu sprechen. (Bundesregierung 2007: 6; Chbib in diesem Band) Statt konkrete Fragen in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen, etwa welcher Verband wie viele der Moscheen in Deutschland vertritt und welche konkreten rechtlichen Anpassungen diese Organisationen vornehmen müssten, damit man sie als Religionsgemeinschaften anerkennen kann, werden immer wieder abstrakte Debatten über die „Integration des Islam“ geführt. 4.2 Fortlaufend neue Hürden Lange Zeit war die Diskussion um die Anerkennung muslimischer Religionsgemeinschaften eine Auseinandersetzung vor Gerichten, insbesondere über die Auslegung des Begriffs der „Religionsgemeinschaft“. Insbesondere ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2005 hat hier für Aufklärung gesorgt und den klagenden muslimischen Verbänden in wichtigen Punkten zugestimmt. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass auch Dachverbände, die als mehrstufige Verbände nur indirekt über natürliche Mitglieder verfügen, Religionsgemeinschaften sein können. (Bundesverwaltungsgericht 2005) Dies wurde von der Landesregierung NRW zuvor in Abrede gestellt und war das Hauptargument weshalb man den Antrag des ZMD und Islamrats, der vom VIKZ unterstützt wurde, auf Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts ablehnte. Die muslimischen Verbände einigten sich mit dem Land NRW nach dem Urteil von 2005 darauf, das Verfahren ruhen zu lassen, um zu einer politi8
Solche Aussagen können bis heute noch regelmäßig in Qualitätsmedien gemacht werden, ohne dass der betreffende Journalist eine kritische Nachfrage stellt.
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schen Lösung dieser Angelegenheit zu kommen. Nach über fünf Jahren gibt es immer noch keine Aussicht auf einen islamischen Religionsunterricht in NRW. An diese Phase der rechtlichen Auseinandersetzungen schloss sich dann eine zweite Phase der religionspolitischen Diskussion an, die etwa bis Ende des Jahres 2006 andauerte. Politiker aller Parteien entgegneten auf die Frage, weshalb bisher noch kein Religionsunterricht eingeführt worden sei, die muslimischen Organisationen hätten bisher noch nicht den einen Ansprechpartner gebildet. (Akgün 2008) So auch Armin Laschet im April 2006, seinerzeit Integrationsminister in NRW: „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass wir den Religionsunterricht einführen. Aber im Moment fehlt uns der Ansprechpartner, mit dem wir verbindlich über Lehrinhalte sprechen können. Insofern ist unsere Aufforderung an die Verbände, sich auf eine einheitliche Vertretung zu einigen. Das ist nicht so einfach.“ (Laschet 2006)
Die Forderung nach dem einen Ansprechpartner bedeutete vor allem, dass sich die vier großen Moschee-Verbände (DITIB, Islamrat, VIKZ und ZMD) zusammenschließen sollten, um dann gemeinsam etwa in NRW als Ansprechpartner für den Religionsunterricht zur Verfügung zu stehen. Das Argument des einen Ansprechpartners hatte in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion einen festen Platz. Überall konnte man dieses Argument von Politikern und vermeintlich gut informierten Bürgern hören. Eine differenzierte Diskussion fand kaum statt, die Bringschuld lag nach dieser Logik bei den muslimischen Organisationen. Die Gründung des KRM zum Ende des Jahres 2006 durch die vier großen muslimischen Verbände, wie bereits oben beschrieben, war eine Reaktion auf die Forderung aus der Politik nach dem einen Ansprechpartner. Die vier muslimischen Dachverbände schlossen sich zusammen und damit hatte man eine Organisation die etwa 80% der deutschen Moscheegemeinden vertritt. (Siehe Chbib in diesem Band) Damit kann der Beginn einer dritten und vorerst letzten Phase der religionspolitischen Diskussion markiert werden. Armin Laschet würdigte die Gründung des KRM zunächst als einen „großen und wichtigen Schritt“, relativierte jedoch seine Bedeutung indem er feststellte, der KRM vertrete „nur eine Minderheit der Muslime“ und man müsse doch auch mit den übrigen 75% in irgendeiner Weise sprechen. (Laschet 2007; Laschet 2009) Argumentierte Laschet anfangs, dass die muslimischen Verbände sich untereinander einigen sollten, um das Hauptproblem des fehlenden Ansprechpartners aus dem Weg zu räumen, heißt es nach der Gründung des KRM, dass die Verbände nur ein Viertel der Muslime vertreten würden. Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit änderten sich also von einem Jahr auf das andere die Anforderungen an eine legitime muslimische Religionsgemeinschaft. Nachdem zuvor von den Verbänden über mehrere Jahre hinweg gefordert wurde, sich zusammenzuschließen, wird, nach-
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dem es auf muslimischer Seite zu Bewegungen gekommen ist, einfach ein neues Kriterium als Maßstab angelegt: Die Vertretungsleistung der Verbände mit Blick auf eine Gesamtzahl von vier Millionen Muslimen. Diese neue Position wurde seit Ende 2006 unter Integrations- und Innenpolitikern unterschiedlicher Parteien vorherrschend. Damit wurde eine Argumentationslinie übernommen, welche von der Bundesregierung ab Mitte 2006 vertreten wird und aus Sicht vieler Muslime einen Versuch darstellt, die etablierten muslimischen Organisationen zu delegitimieren. Diese neue Position bildete die Grundlage für die Konzeption der 1. Islamkonferenz und die darauf folgenden Diskussionen um die angeblich fehlende „Repräsentativität“ muslimischer Verbände. (Siehe Kapitel 5) Über diese Richtungsänderung in der Politik gab es bisher keine öffentliche Debatte. 9 Für viele Muslime war dieses Vorgehen der Politik enttäuschend. Die Anstrengungen von muslimischen Organisationen, sich in Deutschland an das religionsverfassungsrechtliche System anzupassen und auf religionspolitische Forderungen einzugehen – durch die Gründung des KRM – wurden danach von der Politik nicht angemessen gewürdigt. Die Bereitschaft von Verantwortlichen in muslimischen Organisationen, weitere organisatorische Anpassungen vorzunehmen oder bei religionspolitischen Fragen Kompromisse einzugehen hat dadurch mit Sicherheit abgenommen. Sollte die Politik diese Art des Umgangs pflegen, indem ständig neue Kriterien für die Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften in die Diskussion eingebracht werden, dann kann man davon ausgehen, dass muslimische Verbände mittelfristig kaum weitere substantielle organisatorische Anpassungen vornehmen werden. (Siehe Blätte in diesem Band) Der Versuch einer weiteren Delegitimierung dieser kann auch dazu führen, dass muslimische Organisationen sich in bestimmten Bereichen stärker aus der religionspolitischen Diskussion verabschieden und private Institutionen, etwa Schulen und Einrichtungen zur Ausbildung von Imamen, auf- bzw. ausbauen werden. Eine andere wohl realistischere Option wird sein, dass man die Auseinandersetzungen vor Gericht weiter fortführen wird. Ob dies wirklich gute Optionen sind, bleibt fraglich.
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Diese Richtungsänderung der Bundesregierung bedarf sicherlich weiterer Untersuchungen. Interessant wäre dabei auch zu prüfen, inwieweit die Empfehlungen von Johannes Urban – seinerzeit als Referent in der Grundsatzabteilung des BMI mit der Islamkonferenz befasst – im Rahmen der Terrorismusbekämpfung etablierten muslimischen Organisationen „das angemaßte Vertretungsmandat zu entziehen“ und „echte Alternativen“ zur Interessenvertretung zu schaffen, dabei eine Rolle spielten. (Urban 2006: 155, 339)
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4.3 Hürden ohne Rechtsgrundlage Politiker verweisen regelmäßig zu Recht darauf, dass eine Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften nur auf der Grundlage des Religionsverfassungsrechts vollzogen werden kann. Doch die vorgestellten zentralen politischen Argumente, die Notwendigkeit einer „einheitlichen Vertretung“ und die „fehlende Repräsentativität“, welche gegen eine Anerkennung ins Feld geführt werden bzw. wurden, haben keine Grundlage im Religionsverfassungsrecht. Das ist nicht nur die herrschende Meinung hinsichtlich des Religionsverfassungsrechtes. Auch in einem – in der Öffentlichkeit bisher wenig beachteten – Ergebnispapier der 1. Islamkonferenz wurde dies festgehalten. Die vom Religionsverfassungsrechtler Heinrich De Wall entworfene „Positivliste“, die sich mit den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen eines islamischen Religionsunterrichts befasst, wurde von einer Arbeitsgruppe, die aus Vertretern der LänderKultusministerien, der Bundesministerien für Inneres und Justiz, muslimischer Organisationen und Religionsverfassungsrechtlern bestand, überarbeitet und im Konsens beschlossen.10 Darin heißt es: „Es ist nicht erforderlich, dass eine Religionsgemeinschaft in ihrem jeweiligen örtlichen Bereich alle oder auch nur die Mehrheit der Angehörigen einer Religion oder einer Glaubensrichtung umfasst.“ (Deutsche Islamkonferenz 2009: 56)
Religionsverfassungsrechtlich ist es also gar nicht notwendig, dass sich alle Muslime bzw. alle muslimischen Organisationen zusammenschließen müssen, um Rechte als Religionsgemeinschaften in Anspruch zu nehmen. Es ist auch nicht notwendig, dass eine muslimische Organisation auch nur die Mehrheit der Muslime in Deutschland vertreten muss, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Es spielt im Prinzip keine Rolle, ob man fünftausend, fünfzigtausend oder fünf Millionen Muslime als Mitglieder hat. Wenn man die wesentlichen Kriterien für eine Religionsgemeinschaft erfüllt, dann ist man Religionsgemeinschaft unabhängig von der Mitgliederzahl.11 10
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Nur zum letzten Absatz „Mögliche Übergangslösungen“ konnte kein Einvernehmen hergestellt werden. (Vgl. Kapitel 7) Die Größe einer Religionsgemeinschaft spielt erst eine Rolle bei der Frage, ob eine Religionsgemeinschaft auch eine gewisse Gewähr der Dauer bietet und in den Schulen genügend Schüler aufbringen kann, welche den Religionsunterricht besuchen. Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass die muslimischen Verbände bzw. die ihnen angeschlossenen Moscheen auch in Zukunft in Deutschland bestehen werden (vgl. dazu Meyer/Schubert in diesem Band) und in bestimmten Schulen sich die nötige Klassenstärke, je nach Bundesland, von ca. 6-12 Schülerinnen und Schüler finden wird. Alleine in NRW gibt es immerhin 310 000 Schüler mit einem muslimischen Hintergrund in den öffentlichen Schulen, die potentiell in Frage kommen.
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Die Forderung nach dem „einheitlichen Ansprechpartner“ oder nach einer „repräsentativen Vertretung“ der etwa 4 Millionen Muslime in Deutschland hat keine Grundlage im Religionsverfassungsrecht, auch wenn dies von Politikern und der Bundesregierung suggeriert wird. Im Zusammenhang mit der Frage, wie eine islamische Religionsgemeinschaft beschaffen sein muss, um als Partner beim Religionsunterricht geeignet zu sein, heißt es etwas umständlich: „Hier wie in den anderen Fällen des Verhältnisses von Staat/Religion setzt eine Kooperation in bestimmten Fragen mindestens einen repräsentativen Partner auf der Seite der Anhänger der Religion voraus.“ (Bundesregierung 2007: 72) Im Folgenden soll anhand der Islamkonferenz versucht werden, der Frage nachzugehen, was die Bundesregierung denn unter einem „repräsentativen Partner“ versteht und wie dies zu bewerten ist. 12 5
Repräsentation und Deutsche Islamkonferenz
Die Einberufung der Deutschen Islamkonferenz hatte sicherlich einige positive Effekte für den Integrationsprozess von Muslimen in Deutschland, etwa indem das Bewusstsein der Bevölkerung dafür geschärft wurde, dass Muslime ein Teil Deutschlands sind und bleiben werden. Insgesamt jedoch hat die Islamkonferenz für die religionspolitische Debatte, wie man zu einer Gleichstellung muslimischer Organisationen mit den etablierten Religionsgemeinschaften kommen kann, zu mehr Unübersichtlichkeit beigetragen.13 Verantwortlich für diese Unübersichtlichkeit ist das Argument der fehlenden Repräsentativität muslimischer Verbände, welche die Grundlage für die Konzeption der Islamkonferenz bildete. Dies soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Das Verständnis der Bundesregierung von Repräsentativität wird aus dem folgenden Auszug einer Regierungserklärung von Wolfgang Schäuble deutlich:
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Der Eindruck, dass es sich bei diesen politischen Argumenten um rechtliche Kriterien handelt, wird dadurch verschärft, dass in den Medien diese Argumente nicht in Frage gestellt werden. Eine Durchsicht des Autors der Presseartikel von großen deutschen Tageszeitungen (SZ, FR, FAZ, TAZ, Die Welt, Rheinische Post, Neue Ruhr Zeitung, WAZ, Tagesspiegel, Hamburger Abendblatt) vom 18.06.09 bis 2.07.09 anlässlich der letzten Plenumssitzung der 1. Islamkonferenz hat gezeigt, dass von keinem – selbst nicht von den erfahrenen – Journalisten die Frage gestellt wurde, was die beteiligten Politiker eigentlich unter „Repräsentativität“ verstehen würden, auf welcher rechtlichen Grundlage diese gefordert wird und wie dies überhaupt organisiert werden könnte mit Blick auf die Diversität der Muslime. Dies gilt auch, obwohl die Arbeitsgruppe „Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis“ durch das Ausleuchten bestehender rechtlicher Spielräume Wege zur Einführung von islamischem Religionsunterricht aufgezeigt hat und damit eine wichtige – leider bisher wenig beachtete – Grundlage für weitere Diskussionen geschaffen hat. (Vgl. Kapitel 7)
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Mounir Azzaoui „Ich habe Vertreter der mitgliederstärksten muslimischen Dachverbände mit religiöser Prägung eingeladen. Sie repräsentieren, wenn man die Mitgliederzahl großzügig schätzt, 15 bis 20 Prozent der bei uns lebenden Muslime. Wenn man in diese Schätzung die Zahl der regelmäßigen Moscheebesucher einbezieht, dann kann man hinsichtlich der Repräsentanz der Verbände sogar mit Wohlwollen auf ein Drittel kommen. Daraus ergibt sich aber auch, dass die breite Mehrheit von religiösen und nicht religiösen Muslimen durch die Verbände nicht hinreichend repräsentiert ist und dass niemand den Anspruch erheben kann, nur er allein repräsentiere die Muslime. Deswegen habe ich zur Konferenz bewusst ebenfalls Vertreter der nicht organisierten Muslime eingeladen, die die verschiedensten Facetten der muslimischen Lebenswirklichkeit in unserem Lande repräsentieren.“ [Hervorhebungen, M.A.] (Schäuble 2006: 17)
Der ehemalige Bundesminister des Innern geht hier also davon aus, dass die muslimischen Verbände etwa 15-30 Prozent der vier Millionen religiösen und nichtreligiösen Muslime vertreten würden und deshalb als Ansprechpartner nicht ausreichend seien. Dieser Logik schloss sich dann auch sein Nachfolger als Bundesinnenminister, Thomas de Maizière, bei der Einberufung der 2. Islamkonferenz an, indem unterstrichen wurde, man werde auch „säkulare, verbandskritische Muslime“ zur Islamkonferenz einladen. (Deutsche Islamkonferenz 2010a: 4) Auch wenn es den Versuch im BMI gab, bei der 2. Islamkonferenz neue muslimische Einzelpersönlichkeiten einzuladen, die z.T. durchaus einen stärkeren Rückhalt in den muslimischen Gemeinden haben, bleibt diese Konzeption aus verschiedenen Gründen problematisch. 5.1 Ethnisierung von Religion Wieso sollten „nicht-religiöse Muslime“ bei einer Islamkonferenz oder in einer muslimischen Vertretung repräsentiert sein? Das BMI befindet sich hier in einem deutlichen Widerspruch zum Religionsverfassungsrecht. Wie bereits oben gezeigt wurde, geht es bei Fragen der religionsverfassungsrechtlichen Kooperation ja gerade darum, dass der Staat mit Organisationen zusammenarbeitet, welche sich für die „umfassende Glaubensverwirklichung“ ihrer Mitglieder einsetzen. Doch eine Glaubensverwirklichung für nicht-religiöse Muslime zu leisten, ist nicht möglich. Nun wird man einwenden können, dass doch auch „nicht-religiöse Muslime“ gewisse gesellschaftliche Probleme etwa auf dem Arbeitsmarkt oder im Berufsleben haben und auch irgendwie repräsentiert sein müssen. Das ist richtig, doch diese Herausforderungen fallen dann in Bereiche wie Bildungspolitik, Sozialpolitik und Integrationspolitik, und nicht in den Bereich Religionspolitik.
Muslimische Gemeinschaften in Deutschland
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(Vgl. dazu auch Meyer/Schubert in diesem Band) Es ist auf der einen Seite Aufgabe unserer gewählten Volksvertreter die sozialen Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund aufzugreifen und Lösungen zu erarbeiten. Auf der anderen Seite ist es eine Herausforderung für zivilgesellschaftliche Organisationen, welche von Migranten und Nicht-Migranten betrieben werden, hier Probleme und Lösungswege aufzuzeigen und den nötigen politischen Druck zu erzeugen. Die Forderung nach einer Repräsentation von nicht-religiösen Muslimen bei einer Islamkonferenz, etwa um soziale Probleme anzugehen, ist politisch unangemessen und steht in der Tendenz im Widerspruch zum deutschen Religionsverfassungsrecht. Die Formulierung „nicht-religiöse Muslime“ ist zudem sehr anschaulich und verdeutlicht den Versuch von staatlicher Seite, Religion zu ethnisieren. Alle Menschen, die aus Ländern mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung stammen, werden nur noch aus der religiösen Brille betrachtet, andere Aspekte ihrer Identität treten zurück. (Spielhaus 2006)14 Vor diesem Hintergrund ist die Einladung der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) zur 2. Islamkonferenz zu sehen. Das BMI erläutert die Einladung wie folgt: „Die TGD ist kein islamischer Dach- oder Spitzenverband. Mit der Einbeziehung der TGD sollen insbesondere türkisch-stämmige laizistische (säkulare) Muslime Deutschlands – über die Einzelpersonen im Plenum der DIK hinaus – repräsentiert werden.“ (Deutsche Islam Konferenz 2010a: 4)15
Treffend wurde die Einladung der TGD von Barbara John damit kommentiert, dass diese Organisation „mit dem Islam als Religionsgemeinschaft“ so viel zu tun habe „wie etwa der Verein Deutsche Sprache mit dem Christentum.“ (John 2010) Genau diese Art von Migrantenselbstorganisation ist gefragt, wenn es um die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aspekte von Integration geht. Bei religiösen Fragen können diese jedoch nicht Ansprechpartner des Staates sein, da sie weder die Kompetenz dazu haben, noch erfüllen sie im Geringsten die religionsverfassungsrechtlichen Mindeststandards für eine solche Kooperation. Mit dieser von der Bundesregierung betriebenen Ethnisierung von Religion wird ein verheerendes Signal an Organisationen und Aktive gesendet, welche versuchen, sich von ihren Herkunftsgesellschaften zu emanzipieren, um einen „deutschen 14
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Es gibt hier auch einen gegenläufigen Prozess der Selbst-Ethnisierung von Religion, indem nicht-religiöse Menschen sich selbst mit der religiösen Kategorie „Muslim“ definieren. Doch das verwundert nicht. Wenn man diese Menschen ständig in Politik und Medien als Muslime anspricht bzw. sie ausfragt, wie etwa in bestimmten wissenschaftlichen Studien, dann verstehen sich bisher nicht-religiöse Mitbürger zunehmend auch als nicht-religiöse Muslime. An dieser Stelle kann nicht auf die begrifflichen Unschärfen des BMI eingegangen werden, die Begriffe laizistisch, säkular und nicht-religiös synonym zu verwenden.
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Islam“ zu etablieren. Die Orientierung von Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund an den Herkunftsländern wird damit von der deutschen Politik unterstützt. (Siehe Kapitel 6.1)16 5.2 Tendenz zum Staatsislam Auch wenn die Organisatoren der Islamkonferenz betonen, dass die Islamkonferenz „keine Vertretung der Muslime im religionsgemeinschaftlichen Sinne“ sei, sondern nur eine „Dialogplattform“ (Deutsche Islam Konferenz 2010c), macht die Konzeption und Kommunikation des BMI sehr deutlich, dass es darum geht, den „Selbstorganisationsprozess“ von Muslimen zu beeinflussen, indem man die etablierten Organisationen relativiert und einseitig vorgibt, wer in welchem Verhältnis an Gesprächen mit dem Staat teilnehmen darf. (Kerber 2010) Dies ist eine klare Einmischung in die inneren Angelegenheiten der muslimischen Religionsgemeinschaften und verstößt gegen das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates. Es ist offensichtlich ein Versuch, vermeintlich progressive Muslime, die vom BMI auch als säkular, laizistisch und verbandskritisch bezeichnet werden, gegen vermeintlich konservative Muslime aus den Moscheen und Verbänden zu organisieren. Vor diesem Hintergrund hat der Staatskirchenrechtler Hans-Michael Heinig zu Recht darauf hingewiesen, dass es grundgesetzwidrig wäre zu versuchen, einen „Staatsislam“ zu etablieren: „Dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat (…) bleibt nichts anderes übrig als mit den islamischen Verbänden zusammenzuarbeiten, die die Gesellschaft hervorbringt. Sich einem ihm besonders genehmen Partner schaffen darf er nicht.“ (Heinig 2010)
Wer sich von den angeblich Konservativen in den Verbänden nicht vertreten fühlt, der soll sich selbst organisieren. Der Staat kann und darf diese Aufgabe nicht übernehmen oder einseitig unterstützen. Er darf auch nicht den in Verbänden und Moscheen organisierten Muslimen ihre im Grundgesetz verbrieften 16
Die Ethnisierung von Religion in der Politik trägt zudem auch dazu bei, dass soziale Probleme von Menschen mit einem Migrationshintergrund aus islamisch geprägten Ländern in der Öffentlichkeit zunehmend als religionsspezifische muslimische Probleme angesehen werden. Die Ursachen für soziale Problemen werden damit der Religionszugehörigkeit zugeschrieben und nicht mehr sozialen Faktoren. Die hohen Zustimmungsraten bei Umfragen in der Bevölkerung für die Thesen von Thilo Sarrazin, der die sozialen Probleme von Menschen mit einem arabischen oder türkischen Migrationshintergrund auf die Zugehörigkeit zum Islam zurückführt, ist ein Beleg für diese verbreitete Wahrnehmung. Das beste Beispiel, dass solche Schlüsse falsch sind, ist die Erfahrung von Muslimen in den USA, die sozioökonomisch der Mittelklasse zuzurechnen sind. (Azzaoui 2010)
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Rechte vorenthalten, weil sie ihm nicht schmecken. Es geht hier um Rechtsansprüche und nicht um inhaltliche Zustimmung. Wenn man jedoch Ausschau nach religiös-organisierten Muslimen hält, die nicht durch den KRM vertreten werden, dann wird man durchaus fündig. Dazu gehören vor allem die Mitglieder und Besucher der etwa 500 verbandunabhängigen Moscheen in Deutschland. Diese sind bisher weder bei der Deutschen Islamkonferenz vertreten, noch finden sie Erwähnung in den Konzepten des BMI. Statt sich mit der Frage zu befassen, wie man diese Moscheen und die in ihnen organisierten Muslime in den religionspolitischen Dialog integrieren kann, wird bisher eine Scheindebatte über nichtreligiöse und nicht-organisierte Muslime geführt. Es gibt also durchaus Bereiche, in denen es legitim wäre, dass die Politik aktiv wird, etwa indem der innermuslimische Dialog zwischen den Moschee-Verbänden und zwischen diesen und den verbandsunabhängigen Moscheen unterstützt wird. Nun kann man mit Sicherheit nicht hunderte von Organisationen an einen runden Tisch bringen, doch die Aufgabe der Islamkonferenz wäre es, genau zu dieser Frage Empfehlungen auszuarbeiten: Wie können die einzelnen Bundesländer möglichst viele der Moscheen in ihrem Gebiet in den religionsverfassungsrechtlichen Diskussionsprozess einbeziehen? Nach dem bisher vorliegenden Arbeitsprogramm gibt es keine Anzeichen dafür, dass die 2. Islamkonferenz hier zu konkreten Empfehlungen kommen wird.17 Es wird nötig sein, sich von dem Repräsentations-Konzept zu verabschieden, welches sich an der Zahl von vier Millionen Muslimen orientiert und durch die Islamkonferenz in die Welt gesetzt wurde. Der Versuch durch runde Tische von nicht-religiösen, vermeintlich progressiven und konservativen Muslimen einen modernen Islam produzieren zu können, wird und kann nicht aufgehen. (Schäuble 2008: 26) Ein in Deutschland verankertes und gemeinwohlorientiertes muslimisches Leben wird sich nur von unten, vor allem über die Moscheegemeinden, weiterentwickeln können und kann nicht staatlich organisiert werden. 5.3 Fehlkonzeption als Modell In Gesprächen mit Vertretern des BMI wird von diesen eingewendet, man solle die DIK nicht überbewerten, schließlich könnte man keine bindenden Beschlüsse 17
Der Vorschlag des ZMD, in einer Arbeitsgruppe in der DIK mit Vertretern der muslimischen Organisationen, der Länder und dem BMI diesen Fragenkomplex zu behandeln, wurde vom BMI abgelehnt. Der ZMD hat daraufhin u.a. aus diesem Grund seine Teilnahme an der DIK abgesagt. Mit der Nichtteilnahme des ZMD und dem Ausschluss des Islamrates sind damit weniger als die Hälfte der 2500 Moscheen in Deutschland an der 2. Islamkonferenz beteiligt. (Zentralrat der Muslime in Deutschland 2010)
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fassen und die Anerkennung von Religionsgemeinschaften sei ja sowieso Ländersache. Diese Argumentation trägt nicht, da die Relativierung der muslimischen Verbände und Moscheen auf der Bundesebene eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung hat. Dies zeigt sich etwa in den Anfang des Jahres 2010 vorgelegten Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Etablierung von Instituten für Islamische Studien im staatlichen Hochschulsystem. In den insgesamt konstruktiven Empfehlungen wird unterstrichen, dass der Staat bei der Einführung eines Theologiestudiums oder der Ausbildung von Religionslehrern auf die Kooperation mit der jeweiligen Religionsgemeinschaft angewiesen ist und der KRM hier ein wichtiger Partner sein sollte. Doch der Wissenschaftsrat empfiehlt auch, die „Mehrheit nichtorganisierter Muslime“ sollte im Beirat durch die Berufung von „muslimischen Frauen und Männern als Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ repräsentiert werden. (Wissenschaftsrat 2010: 83) Der Wissenschaftsrat als wichtigstes wissenschaftspolitisches Beratungsgremium in Deutschland übernimmt somit in der Tendenz die Konzeption der Islamkonferenz als Vorbild für die Einrichtung von Beiräten, indem Einzelpersonen Rechte zuerkannt werden, welche nach dem deutschen Religionsverfassungsrecht bisher alleine den Religionsgemeinschaften vorbehalten waren. Die Fehlkonzeption des BMI entfaltet damit eine Signalwirkung und könnte auch Landesregierungen dazu verleiten zu versuchen, die strukturelle Integration von Muslimen auf einer rechtlich unhaltbaren und politisch – mit der Ethnisierung von Religion – kurzsichtigen Grundlage vorantreiben zu wollen. Damit die in ihrer Gesamtheit wichtigen Empfehlungen des Wissenschaftsrats konstruktiv genutzt werden können, wird es darauf ankommen, ein neues Verständnis von „muslimischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ zu etablieren. Die Aufgabe dieser Einzelpersönlichkeiten sollte es sein, theologischen Sachverstand einzubringen und unterschiedliche islamische Rechtsschulen zu vertreten, falls dies von den im Beirat vertretenen muslimischen Verbänden nicht schon angemessen geleistet wird. Bei der Berufung für die Beiräte sollte man sich auf Führungspersönlichkeiten aus Moscheen oder anderen etablierten muslimischen Frauen-, Jugend- oder Studentenverbänden konzentrieren oder auf Persönlichkeiten, die zumindest über einen breiten Rückhalt im Umfeld von Moscheegemeinden verfügen. Dabei wird es für das Funktionieren des Beiratsmodells auch darauf ankommen, dass man bei der Berufung dieser Einzelpersönlichkeiten Mechanismen entwickelt, welche sicherstellen, dass ein Konsens mit den beteiligten Moschee-Verbänden erzielt wird. Da die Berufung von Einzelpersönlichkeiten an sich bereits einer Einmischung in ihren Aufgabenbereich gleichkommt, sollte den Moschee-Verbänden zumindest das letzte Wort dabei zukommen, wem die Möglichkeit gegeben werden sollte, die Arbeit im Beirat zu unterstützen.
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Schieflagen bei muslimischen Organisationen
6.1 Orientierung an Herkunftsländern Muslimische Organisationen in Deutschland sind nicht selten durch politische und religiöse Organisationen und Bewegungen aus den Herkunftsländern geprägt. Die Art und Intensität dieser Prägung variiert dabei sehr stark. Dies reicht zum einen von lediglich historischen Verbindungen, etwa indem (ehemalige) Führungspersönlichkeiten von muslimischen Organisationen in Deutschland in den 1960er oder 1970er Jahren in Oppositionsaktivitäten in ihren Heimatländern involviert waren, bis hin zu einer andauernden engen Anbindung von muslimischen Organisationen in Deutschland an die Herkunftsländer, was das Personal oder die inhaltliche Ausrichtung angeht. Eine verstärkte kritische Reflexion dieses Erbes bzw. der Loslösung von bestehenden Abhängigkeiten ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines dynamischen und relevanten muslimischen Lebens im deutschen Kontext. Hier ist bereits einiges im Gange, doch es ist immer noch nicht ausreichend, verläuft sehr langsam und wird auch nicht angemessen in die Öffentlichkeit kommuniziert. Inwieweit der Vorschlag von manchen muslimischen Jugendlichen, dass sich diese Diskussionen durch das Ableben der ersten Generation biologisch lösen werden, sinnvoll ist, bleibt mehr als fraglich. Denn es geht nicht nur um einzelne Personen, sondern um langlebige institutionelle Strukturen und Denkmuster, die einer Bearbeitung bedürfen. Diese Diskussionen werden in Deutschland oftmals nicht zuletzt durch die Arbeit des Verfassungsschutzes erschwert, indem muslimische Organisationen, die gewaltfrei sind und die Gesetze achten, als „Verfassungsfeinde“ isoliert werden. (Seidel 2010; Schiffauer 2010: 273-281) Vertreter muslimischer Organisationen, die immer noch in einer romantischen Verklärung auf die Herkunftsländer fixiert sind, werden weder die in Deutschland geborene muslimische Jugend angemessen ansprechen können, noch den sonstigen Anforderungen, welche die deutsche Gesellschaft an sie stellt, nachkommen können. Eine kritische Reflexion des religiös-politischen Erbes der ersten Generation durch junge Muslime in Deutschland ist überfällig. Dieser Prozess sollte im eigenen Interesse der Muslime in Deutschland liegen, oder um es etwas poetischer frei nach Goethe zu formulieren, es geht darum, die Glut aus der Asche der Vorfahren zu nehmen. Mit über 2,5 Millionen türkischstämmigen Mitbürgern in Deutschland gehört hierzu insbesondere eine kritische Reflexion der türkischen Nationalstaatsgründung von 1923 und der damit einhergehenden Kontrolle von Religion durch den türkischen Staat. Die radikalen Reformen von Kemal Atatürk begründeten einen türkischen Nationalismus und eine De-Islamisierung, in dessen Folge man
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auch ein Religionsministerium (Diyanet) gründete. Dieses hatte das Ziel, nur noch einen staatskonformen Islam predigen zu lassen. In Deutschland ist die DITIB mit Sitz in Köln eng an das türkische Religionsministerium in Ankara gebunden und damit auch von einem kemalistischen Verständnis von Religion und seiner Rolle in der Gesellschaft geprägt. Nach außen sichtbar drückt sich dies vor allem in den türkischen (und deutschen) Fahnen vor und den Kemal Atatürk-Portraits in den Gebäuden der DITIB-Moscheen aus. Diese Organisation ist mit über 800 Moscheegemeinden nicht nur der größte muslimische Dachverband in Deutschland, sondern zweifellos auch ein sehr wichtiger, der in vielen Bereichen erfolgreiche Dialog- und Bildungsarbeit leistet. Die DITIB ist auch eine Organisation nach dem deutschen Vereinsrecht, doch die Verflechtungen mit dem türkischen Religionsministerium sind nicht zu verkennen: Zum Vorsitzenden der DITIB wird regelmäßig ein Diplomat der türkischen Botschaft in Berlin gewählt. Mehrere hundert Imame werden aus der Türkei als Beamte des türkischen Staates für vier Jahre nach Deutschland gesandt und von dort bezahlt, um ihren Dienst in DITIB-Moscheen zu leisten. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die DITIB hier nur exemplarisch aufgeführt wird, weil sie für die hier beschriebene grundsätzliche Problematik sehr anschaulich ist. Die Notwendigkeit nach einer verstärkten kritischen Reflexion gilt – hier nur mit Blick auf den türkischen Kontext – nicht nur für die Mitglieder der DITIB, sondern auch für Gruppen und Bewegungen, die in Reaktion zum Kemalismus entstanden sind. Dazu gehört in Deutschland etwa der VIKZ, welcher auf den türkischen Imam Süleyman Hilmi Tunahan zurückgeht oder die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, welche auf den türkischen Politiker Necmettin Erbakan zurückgeführt werden kann. (Schiffauer 2010; Jonker 2002) Es ist naheliegend, dass die DITIB-Imame aus der Türkei – mit ihrer Sprache und Sozialisation – es immer schwerer haben werden, einen Zugang zu jungen Muslimen in Deutschland zu finden und es deshalb im eigenen Interesse der DITIB-Mitglieder sein müsste, diesen Zustand zu überwinden. Eine Loslösung der DITIB vom türkischen Religionsministerium ist jedoch auch aus rechtlichen Gründen notwendig. Die Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften beim Religionsunterricht ist ein Ausdruck der religiös-weltanschaulichen Neutralität des deutschen Staates. Die Entwicklung der Lehrpläne für den Religionsunterricht oder die Einsetzung der Professuren zur Ausbildung von Religionslehrern kann der Staat nicht von sich aus vornehmen. Er muss deshalb eine Kooperation mit den Religionsgemeinschaften eingehen. Wenn man den Landesregierungen eine solche Einmischung nicht einräumt, dann gilt dies erst recht für ausländische Staaten. Dies würde ansonsten bedeuten, dass man einem
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ausländischen Staat – hier der Türkei – Hoheitsrechte einräumt, die der deutsche Staat nach den Regelungen des Grundgesetzes selbst nicht hat. 18 Dieser Prozess der Loslösung ist jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe auch der deutschen Politik, welche jahrelang dieses Outsourcing von religiösen Diensten in die Türkei unterstützt hat, weil man ja davon ausging, dass die sog. türkischen Gastarbeiter mal in die Heimat zurückgehen würden. Deutsche Politiker sollten hier ein klares außenpolitisches Profil aufbauen, welches den Partnern auf türkischer Seite klar macht, dass die Unabhängigkeit türkisch-muslimischer Organisationen eine wichtige Voraussetzung darstellt, um diese Organisationen voll in das religionsverfassungsrechtliche System in Deutschland integrieren zu können. Zum anderen sollte innenpolitisch deutlich gemacht werden, dass das türkisch-laizistische Verständnis der Kontrolle von Religion nicht mit dem deutschen Verständnis der Trennung und Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften vereinbar ist.19 Es ist aber auch eine Aufgabe der DITIB-Mitglieder und Verantwortlichen – vor allem der jüngeren Generation – in den vielen hundert Moscheen selbst diesen Prozess der Loslösung einzuleiten. Dabei wäre es etwa wichtig, zeitnah ein Konzept zu erarbeiten und umzusetzen, damit die Imame des türkischen Religionsministeriums nicht mehr alle vier Jahre ausgetauscht werden, etwa indem die Arbeitsaufenthalte deutlich verlängert oder gar unbefristet gelten. Mittelfristig wäre es auch wichtig, dass diese Imame ihren Lohn nicht mehr vom türkischen Religionsministerium erhalten, etwa indem sie von den DITIB-Gemeinden in Deutschland selbst bezahlt werden, so wie es die meisten Moscheen in Deutschland handhaben. Eine andere Maßnahme wäre, dass der DITIBVorsitz von einer Persönlichkeit übernommen wird, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt hat und nicht mehr ein türkischer Diplomat ist.
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Das Argument, auch die katholische Kirche würde formale Beziehungen zum Vatikan unterhalten, kommt hier nicht zum Tragen, da es im Falle der katholischen Kirche Ausdruck religiösen Selbstverständnisses ist und nicht auf einseitig obrigkeitlicher Bestimmung durch den türkischen Staat beruht. Nicht selten erlebt man in Deutschland bei Veranstaltungen Lobreden deutscher (insbesondere christlich-konservativer) Politiker auf den türkisch-kemalistischen Laizismus: Die Kopftuchverbote der türkischen Universitäten werden gelobt und im Laufe der Veranstaltung spricht sich derselbe Politiker dann gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU aus, weil dort neue religiöse Gemeinschaften keine Kirchen bauen dürfen. Letzteres stimmt, doch dabei wird übersehen, dass beides eine Einschränkung der Religionsfreiheit darstellt und auf den Kemalismus zurückgeführt werden kann.
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6.2 Mangel an Professionalisierung und politischer Arbeit Die Integration von muslimischen Organisationen in Deutschland ist ein komplexer politischer und rechtlicher Prozess, welcher Expertenwissen und eine professionalisierte Arbeitsweise auf verschiedenen Ebenen erfordert. Hier gibt es noch einen großen Nachholbedarf. Defizite gibt es etwa bei der religionsverfassungsrechtlichen Expertise, die immer wichtiger wird, insbesondere bei konkreten Verhandlungen mit den Landesregierungen. Dazu gehört auch historisches Hintergrundwissen über die Entwicklung des deutschen Religionsverfassungsrechts. Auch Kenntnisse über eingebaute Kontrollmechanismen von staatlicher Seite bei der Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen, um etwa im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht pädagogische oder wissenschaftliche Standards zu gewährleisten, sind wichtig. Unkenntnisse über an sich übliche Verfahrensweisen können auf muslimischer Seite dazu führen auch dort eine Einmischung von staatlicher Seite zu wittern, wo dies nicht – zumindest nicht einseitig – der Fall ist. Wenn die religionsverfassungsrechtliche Integration muslimischer Gemeinschaften als gesamtgesellschaftliches Anliegen gesehen wird, dann sollten in Zukunft von kirchlichen, politischen und privaten Stiftungen Initiativen unterstützt werden, die Muslime durch Fort- und Weiterbildungen in die Lage versetzten die religionsverfassungsrechtliche Diskussion mit dem Staat auf gleicher Augenhöhe führen zu können. Andererseits zeigt sich bei muslimischen Organisationen oftmals die fehlende Fähigkeit, innermuslimische Dialogprozesse nachhaltig zu führen. So kamen etwa im Hamburger Dialog bei einem ersten Treffen im Februar 2005 nach vielen Jahren erstmals zahlreiche unterschiedliche muslimische Verbände, wie bereits oben beschrieben, zusammen. Statt eines Dialogs, der darauf Wert legt erst mal die verschiedenen Positionen in aller Offenheit auszutauschen, wurde das Gespräch sehr schnell in einem emotionalen Überschwang sehr stark begrenzt. Einige wichtige Akteure präsentierten bei dieser ersten Sitzung bereits Organigramme, die als Grundlage genommen werden sollten, um die neuen Strukturen auf der Länderebene zu entwickeln. Dieser wichtige innermuslimische Dialog wurde damit sehr schnell in feste Bahnen gelenkt, eine offene Diskussion als Grundlage zur Entwicklung langfristiger Perspektiven war so nicht mehr möglich. (Elyas 2005: 17) Auch die personelle Ausstattung der muslimischen Verbände ist nicht geeignet, um die anstehenden religionspolitischen Herausforderungen angemessen zu bearbeiten. So sind in den Bundesverbänden – ganz zu schweigen von den Landesverbänden und regionalen Moschee-Räten – in der Regel nicht einmal eine Handvoll Referenten zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, die politische
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Arbeit, rechtliche Fragen und Mitgliederbetreuung; sie halten im ganzen Bundesgebiet Vorträge und leisten Gremienarbeit. Die politische Arbeit kommt dabei sehr kurz und reagiert in der Regel nur auf öffentliche Diskussionen. Ein aktiver und regelmäßiger Kontakt und Austausch zu den zuständigen Ministern, Ministerialbeamten oder den Regierungs- und Oppositionsfraktionen, um eigene Konzepte voranzubringen, besteht meist nicht. Auf der lokalen Ebene wird trotz eines weiten Netzes von Moscheegemeinden kaum politische Arbeit geleistet, indem man etwa versucht, Landtags- und Bundestagsabgeordnete vor Ort für bestimmte Anliegen etwa in Düsseldorf oder Berlin zu gewinnen. Dabei gäbe es hierzu reichlich Gelegenheiten, etwa im Rahmen von Ramadan-Fastenbrechen Abenden oder im Rahmen von Wahlkämpfen, bei denen Politiker immer öfter versuchen, um die Stimmen von Muslimen zu werben. Bei solchen Veranstaltungen hört man von muslimischer Seite selten die Forderung nach einem islamischen Religionsunterricht oder eine Aufforderung an die Politik, mit den muslimischen Verbänden zusammen Lösungen für bestimmte Anliegen zu erarbeiten. Dies basiert nicht zuletzt auf einem – durch die Herkunftsländer geprägten – Staatsverständnis, wonach die „Untertanen“ sich um Harmonie mit der Politik bemühen sollten anstatt als Bürger konkrete Interessen und Herausforderungen zu benennen. Der Mangel an Professionalisierung, politischer Partizipation, personellen und finanziellen Ressourcen kann sicherlich im Wesentlichen auf sozioökonomische Faktoren unter Muslimen zurückgeführt werden. Muslimische Verbände sollten jedoch – durch eine Verschiebung von Prioritäten – versuchen, die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen stärker in ihre Basis, die Moscheegemeinden, zu kommunizieren. Konkret sollte aufgezeigt werden, wie die Moscheen und ihre Mitglieder und Besucher die Arbeit auf Bundes- und Landesebene durch finanzielle Mittel oder gezielte Gespräche mit der Politik vor Ort unterstützen könnten. Es gibt hier durchaus noch Potential, welches ausgeschöpft werden kann. Auf diese Weise könnte auch dem sich ausbreitenden Eindruck einer fehlenden Legitimität muslimischer Verbände wirkungsvoll entgegen getreten werden. Eine Professionalisierung der Arbeit auf allen Ebenen ist dringend notwendig, damit ein Dialog auf Augenhöhe überhaupt stattfinden kann. Vor diesem Hintergrund ist ein zu beobachtender „Brain Drain“ besorgniserregend. Dieser besteht darin, dass gut ausgebildete junge religiöse Muslime, die weiterhin die Moscheen für religiöse Anliegen aufsuchen, kein Interesse daran zeigen, Führungspositionen in Moscheen und muslimischen Organisationen zu übernehmen. Doch gerade in der heutigen Zeit sind muslimische Organisationen auf kommunikative Führungskräfte angewiesen, die innovative Ansätze einbringen und professionell umsetzen können. Diese Abwanderung hat wohl zum einen damit
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zu tun, dass diese jungen Muslime den Eindruck bekommen haben, dass das zivilgesellschaftliche Engagement in muslimischen Institutionen von der Gesellschaft nicht gewürdigt wird. Zum anderen haben diese Jugendlichen nicht selten, etwa in Moscheen, die frustrierende Erfahrung gemacht, dass die Strukturen festgefahren sind und angestoßene Veränderungsprozesse kaum Aussicht auf Erfolg haben. Hier ist ein wichtiger Ansatzpunkt für speziell noch zu entwickelnde Programme für junge gut ausgebildeten Muslimen, indem sie dabei unterstützt werden Fähigkeiten zu entwickeln, um Führungspositionen in Moscheen und muslimischen Institutionen zu übernehmen und diese nachhaltig weiter zu entwickeln. 6.3 Fehlende Transparenz und Innermuslimische Debatten Die Debatte über die Anerkennung als Religionsgemeinschaft(en) oder Fragen über die Entwicklung muslimischer Strukturen sind innermuslimisch weitgehend eine Elitediskussion von Verbandsspitzen und durch wenig Transparenz gekennzeichnet. Es gibt kaum innermuslimische Diskussionen etwa auf Konferenzen und Tagungen zu diesen Themen. Wenn es Gespräche gibt, dann finden sie in – von Männern dominierten – geschlossenen Gremiensitzungen und auf halböffentlichen Klausurtagungen statt. Selten finden sich Berichte oder Kommentare in muslimischen Medien wie der Islamischen Zeitung und islam.de. Dies ist bemerkenswert, da diese religionspolitischen Diskussionen und Entscheidungen richtungsweisend sind für die zukünftigen Organisationsformen muslimischer Gemeinschaften. Eine vertiefte und transparente Diskussion wäre zu erwarten und wünschenswert. Die Debatte wird jedoch bisher kaum geführt und dort wo sie stattfindet, gibt es wenig Transparenz: So heißt es beispielweise in der verabschiedeten Geschäftsordnung des KRM aus dem Jahr 2007, man möchte mit der Gründung des Gremiums zur Schaffung einer „einheitlichen Vertretungsstruktur“ der Muslime beitragen und mit „den bestehenden muslimischen Länderstrukturen sowie den vorhandenen Lokalstrukturen an der Schaffung rechtlicher und organisatorischer Voraussetzungen für die Anerkennung des Islams im Rahmen von Staatsverträgen“ arbeiten. (Koordinationsrat der Muslime 2007) Ging es anfangs darum, relativ zügig den Ausbau und die Vertiefung des KRM voranzutreiben, heißt es in einer Rede eines KRM-Sprechers im Jahr 2009, dass der KRM ein mehr oder weniger unverbindliches „Beratungsgremium“ sei. (Alboga 2009) Bereits oben wurden einige Einschätzungen von Beobachtern wiedergegeben, wie es zu diesem Wandel wohl gekommen ist. Doch die (muslimische) Öffentlichkeit hat wohl auch einen Anspruch darauf, vom KRM eine direkte Stellungnahme dar-
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über zu erhalten, wie es zu dieser Entwicklung kam, wo der KRM jetzt steht und vor allem welche konkreten Ziele und Perspektiven dieser Zusammenschluss hat. Über die Zukunft des KRM hinaus geht es aber auch um grundsätzliche Fragen, die einer vertieften Diskussion bedürfen: Sollen in zukünftigen muslimischen Vertretungsstrukturen nur Moscheegemeinden (Religionsgemeinschaften) oder auch muslimische Frauen-, Studenten- und Akademikervereine (Religiöse Vereine) ein Stimmrecht erhalten? Ist es angemessen Moscheegemeinden mit sehr unterschiedlichen Mitgliederzahlen (zwischen wenigen Dutzend und mehreren hundert) das gleiche Stimmrecht zu geben? Welche Möglichkeiten gibt es, die Mitgliederzahlen von Moscheegemeinden bei den Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen und dabei einem muslimischen Selbstverständnis von Gemeinschaft – ohne obligatorische Mitgliedschaft – gerecht zu werden? Ist es überhaupt nötig und sinnvoll über die Anerkennung als Religionsgemeinschaft hinaus auch den Körperschaftsstatus zu beantragen? Wie kann die Beteiligung von Frauen in Führungspositionen muslimischer Organisationen und Moscheen erhöht werden? 7
Übergangslösungen
Man kann davon ausgehen, dass es mit Blick auf die oben beschriebene, facettenreiche Diskussion kurzfristig wohl kaum zur offiziellen Anerkennung von einem der etablierten muslimischen Verbände auf Bundes- oder Landesebene oder dem KRM kommen wird. Der parteiübergreifende Konsens zur Einführung von islamischem Religionsunterricht und die Errichtung von entsprechenden Lehrstühlen an den Universitäten in Münster und Osnabrück zeigen jedoch, dass ein weiteres Zuwarten nicht möglich ist und man pragmatische Lösungen finden muss. In diesem Zusammenhang gibt es den Vorschlag einer Übergangslösung, welcher im Laufe der 1. Islamkonferenz auf Initiative der Vertreter der LänderKultusministerien eingebracht wurde und bei den beteiligten Bundesministerien und Religionsverfassungsrechtlern große Unterstützung fand. Dieser Vorschlag hat Eingang gefunden in eine sog. Positivliste, welche nicht nur der Frage nachgegangen ist, unter welchen Voraussetzungen der Religionsunterricht eingeführt werden muss – im Sinne eines gerichtlich durchsetzbaren Anspruchs –, sondern auch, unter welchen Voraussetzungen er eingeführt werden kann, indem rechtliche Spielräume ausgeleuchtet und genutzt werden. (Deutsche Islam Konferenz 2009: 53-54) Die vorgeschlagene Übergangslösung lautet:
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Mounir Azzaoui „Wegen der besonderen Bedeutung des Religionsunterrichts für die Religionsfreiheit der Schüler und Eltern sollte seine Einführung bei Bedarf nicht daran scheitern, dass die Qualifikation einer Organisation als Religionsgemeinschaft noch nicht endgültig feststeht. In solchen Fällen ist es als Übergangslösung zu einem Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG denkbar, mit im Land verbreiteten Organisationen zu kooperieren, die Aufgaben wahrnehmen, welche für die religiöse Identität ihrer Mitglieder wesentlich sind. Damit ist die Erwartung verbunden, dass diese Organisationen innerhalb einer absehbaren Frist alle Merkmale einer Religionsgemeinschaft unzweifelhaft erfüllen.“ (Deutsche Islamkonferenz 2009: 63)
Im Prinzip heißt das: Man arbeitet bei der Einführung von islamischem Religionsunterricht mit Organisationen zusammen, die in dem betreffenden Bundesland breit – über Moscheen – vertreten sind, ohne damit automatisch bestimmte Organisationen als Religionsgemeinschaften anzuerkennen. Gleichzeitig wird damit aber auch umgekehrt nicht ausgedrückt, dass die betreffende(n) Organisation(en) eben keine Religionsgemeinschaft ist bzw. sind. Im Rahmen der Islamkonferenz wurde dieser Vorschlag von den muslimischen Verbänden abgelehnt. Dies war der einzige Absatz in dem Ergebnispapier, welcher nicht im Konsens verabschiedet wurde. Die im KRM organisierten muslimischen Verbände sahen hierin einen Versuch, ein Sonderrecht für Muslime zu schaffen und die Frage der Anerkennung damit in weite Ferne zu schieben. Diese Vorsicht ist nachvollziehbar, doch mit Blick auf die verfahrene Diskussion bedarf es eines aufeinander Zugehens und vertrauensbildender Maßnahmen. Dieser Vorschlag kann zu einem Durchbruch verhelfen, da er hinsichtlich der Einführung von islamischem Religionsunterricht die Möglichkeit einer Arbeitsbeziehung zwischen den Landesregierungen und muslimischen Verbänden eröffnet. Es ist ein Kompromiss, der geeignet wäre, Vertrauen zwischen Politikern, Ministerialbeamten und Vertretern muslimischer Verbände aufzubauen. Auf dieser Grundlage könnte dann auch ein Fahrplan entwickelt werden, welche weiteren Organisationsentwicklungen auf muslimischer Seite zu erfüllen sind, um dann in einer näher zu bestimmenden Zeitspanne zu einer vollständigen religionsverfassungsrechtlichen Integration zu gelangen. In Niedersachsen wird es nach Informationen aus dem Vorstand des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen (Schura-Niedersachsen) ab 2012 auf Grundlage dieser Kompromiss-Formel zu einem ordentlichen Religionsunterricht nach Art. 7.3 kommen, welcher den seit 2003 stattfindenden Schulversuch „Islamischer Religionsunterricht“ ablösen soll. Es ist kein Zufall und auch nicht ein Ergebnis der Islamkonferenz, dass man in Niedersachsen soweit ist. Hier gibt es eine über mehrere Jahre gewachsene Zusammenarbeit. Die niedersächsische Landesregierung – sowohl unter rot-grün als auch unter schwarz-gelb – hat als einziges Bundesland die Bedeutung der Moschee-Verbände erkannt und
Muslimische Gemeinschaften in Deutschland
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arbeitet – mit Unterstützung durch den ZMD – seit 2002 mit der SchuraNiedersachsen und der DITIB-Niedersachsen, die jeweils etwa 45 Prozent der 150 Moscheen im Land vertreten, an einem Runden Tisch zusammen. (Altiner 2005) An diesem runden Tisch wurde der Schulversuch „Islamischer Religionsunterricht“ entwickelt, welcher dann im Jahr 2003 startete und inzwischen an 42 Grundschulen über 2000 Schülerinnen und Schülern dabei hilft, eine religiöse Identität im deutschen Kontext zu entwickeln. Für das Gelingen des für 2012 angekündigten ordentlichen islamischen Religionsunterrichts kommt es auf zwei Dinge an. Zum einen wird es darum gehen, dass die DITIB und die SchuraNiedersachsen eine tragfähige Plattform der Kooperation schaffen, welche dann etwa 90 Prozent der Moscheen in Niedersachsen vertritt und es der Landesregierung so erleichtert die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Der KRM kann hier eine wichtige Rolle spielen, indem er die Zusammenarbeit zwischen der Schura-Niedersachsen und der DITIB-Niedersachsen stärkt. Zum anderen sollte die niedersächsische Landesregierung deutlich machen, dass man im Falle einer Verweigerung der innermuslimischen Kooperation ggf. auch nur mit einem der beiden Partner in Niedersachsen den ordentlichen Religionsunterricht einführt. Dies ist die zweitbeste Lösung und wird öffentlich schwieriger zu kommunizieren sein, doch rechtlich ist es möglich und es wäre der einzige Weg, um beim islamischen Religionsunterricht voran zu kommen. Niedersachsen kann zum Modell für andere Bundesländer werden, wenn die niedersächsische Landesregierung, die muslimischen Landesverbände und die im KRM organisierten Bundesverbände ihre Verantwortung gegenüber den muslimischen Schülerinnen und Schülern in den öffentlichen Schulen ernst nehmen. 8
Ausblick
Die Diskussion um eine religionspolitische Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften sollte sich in Zukunft auf die etwa 2500 Moscheegemeinden in Deutschland konzentrieren. Dazu wird es nötig sein sich von dem Repräsentations-Konzept, welches sich an vier Millonen Muslimen orientiert, zu verabschieden und weitere Versuche muslimische Verbände grundsätzlich das Vertretungsmandat für die bis zu 2000 Moscheen, die in ihnen als Mitglieder organisiert sind, zu unterlassen. In diesem Rahmen wird es darum gehen einen Fahrplan zu entwickeln, wie man möglichst weitgehend die etwa 500 verbandsunabhängigen Moscheen einbeziehen und die Gespräche und Verhandlungen zwischen den muslimischen Gemeinschaften und den Landesregierungen föderal organisieren kann. Um bei der Einführung von islamischem Religionsunterricht
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an den öffentlichen Schulen voran zu kommen sollte man vorhandene Spielräume im Religionsverfassungsrecht und religionspolitische Kompromisse nutzen, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und eine Grundlage für eine vollständige Religionsverfassungsrechtliche Integration zu schaffen. Literatur Akgün, Lale, 2008: Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Vortrag an der Katholischen Akademie, Dezember 2008. [URL: http://www.laleakguen.de/article/431. religionsunterricht_an_oeffentlichen_schulen.html] (12.03.2010). Alboga, Bekir, 2009: Rede des neuen KRM-Sprechers Bekir Alboga vom 9.10.2009. [http://zentralrat.de/14285.php] (13.02.2010). Altiner, Avni, 2010: Kein Sonderrecht für Muslime – Stellungnahme der Schura Niedersachsen zu den geplanten Imam-Lehrstühlen, in: Islamische Zeitung von August 2010, 18. Altiner, Avni, 2005: Erfahrungen in der Kooperation am Beispiel des islamischen Religionsunterrichts aus Sicht des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen, in: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Integration und Flüchtlinge (Hrsg.): Islam einbürgern – Auf dem Weg zur Anerkennung muslimischer Vertretungen in Deutschland (Dokumentation einer gleichnamigen Fachtagung am 25. April 2005 in Berlin), Berlin, 14-18. Anschütz, Gerhard, 1960 [zuerst 1933]: Die Verfassung des Deutschen Reichs, Kommentar, Neudruck der 14. Auflage, Darmstadt, zitiert nach: Hesse, Konrad, 1994: Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 521-559. Azzaoui, Mounir, 2009: Similarities in Difference: The Challenge of Muslim Integration in Germany and the United States, American Institute for Contemporary Studies, Issue Brief 33, Washington DC. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Integration und Flüchtlinge (Hrsg.), 2005: Islam einbürgern – Auf dem Weg zur Anerkennung muslimischer Vertretungen in Deutschland (Dokumentation einer gleichnamigen Fachtagung am 25. April 2005 in Berlin), Berlin, 14-18. Bouffier, Volker, 2009: „Das ist ohne Alternative“, Interview vom 25.06.2009 im Deutschlandfunk. [URL: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/9883 74/] (12.03.2010). Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), 2009: Muslimisches Leben in Deutschland – im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz, Nürnberg. Bundesregierung, 2007: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Josef Philip Winkler u.a. und der Fraktion Bündnis90/Die Grünen, BTDrucksache Nr. 16/2085 vom 29. Juni 2006. [URL: http://www.bmi.bund.de/Shared Docs/Downloads/DE/Veroeffentlichungen/Parlamentarisches/Gro_Anfrage_Islam.p df?__blob=publicationFile] (17.09.2010).
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Inklusion des Islam in die deutsche Gesellschaft
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Inklusion des Islam in die deutsche Gesellschaft – Aufgaben an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik Inklusion des Islam in die deutsche Gesellschaft
Dirk Halm/Hendrik Meyer
Einleitung Die gegenwärtig durch die DIK angestoßenen Diskussionen sind Ausdruck einer neuen Stellung der Politik zum Islam. Dabei stehen die einzelnen islamspezifischen Themen in einem deutlichen Zusammenhang mit den Integrationsbemühungen, die von der Bundespolitik unternommen und gegenwärtig intensiviert werden. Wurde der Islam lange kaum und schließlich als eine für die „westliche Welt“ bedrohliche Religion wahrgenommen und beschrieben, soll er nun durch neue Initiativen fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft werden. Das hinter den Integrationsinitiativen stehende politische Interesse kann dabei als ein Doppeltes bezeichnet werden. Zum einen sollte der Islam eben nicht länger als etwas Fremdes und Bedrohliches wahrgenommen werden, sondern als funktionale Religion, die sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft versteht. Zum anderen sollten auch die Muslime selbst ihre Stellung zum deutschen Staat überdenken. Laut dem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sollen die Muslime „diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und realisieren auch ihre Aufgabe ist. Dieser Satz gilt analog für die Muslime in Deutschland. Nehmen sie ihn ernst, werden sie deutsche Muslime.“ (FAZ vom 27.10.2006) Dies kann gegenwärtig als zentrales Integrationsziel bezeichnet werden, welches bei politischen, aber auch zivilgesellschaftlichen Akteuren weitgehend unstrittig ist. Strittig bleibt auch hier allerdings die Frage, wie dieses doppelte Ziel erreicht werden kann. In dieser Frage kommt der Wissenschaft bzw. den sich in diesem Feld betätigenden unterschiedlichen Wissenschaften eine entscheidende Bedeutung zu. Denn ihre Aufgabe besteht nicht allein in der sachlichen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung etwa des Verhältnisses von Politik und Islam. Zunehmend geht es auch darum, Ergebnisse aufzuarbeiten, so dass Entscheidungsträger auf dieses Wissen zurückgreifen können: „Ihr Bedarf an wissenschaftlicher Expertise wächst, während gleichzeiH. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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tig die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure als Bereitsteller der Ressource Wissen an Bedeutung gewonnen hat.“ (Novy/Schwickert/Fischer 2008: 171) Angesichts der wachsenden Bedeutung der Wissenschaften als „Bereitsteller der Ressource Wissen“ für Entscheidungsträger, sieht sie sich einem zunehmenden Legitimationsdruck ausgesetzt. Wissenschaft, die keine direkt verwert- bzw. verwendbaren Erträge liefert, wird nicht selten in Frage gestellt. Das dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegende Wissenschaftsverständnis macht sich diese Argumentation nicht zu Eigen. Denn immerhin sind Untersuchungsresultate denkbar, die sich entweder nicht direkt durch Entscheidungsträger verwenden lassen oder gar bestimmte politische Praktiken grundsätzlich in Frage stellen. Umgekehrt soll jedoch nicht behauptet werden, dass sich die hier versammelten Erträge nicht sinnvoll durch die Politik und andere zivilgesellschaftliche Akteure nutzen ließen. Daher ist es auch Anspruch dieses Beitrages, zukünftige Aufgaben an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu skizzieren. Dazu soll nach den strukturellen politischen Bedingungen gefragt werden, die die Inklusionsvoraussetzungen für den Islam verbessern können. Auf der Basis der in diesem Buch vorgestellten Artikel werden so zentrale Ergebnisse der Beiträge noch einmal pointiert herausgestellt. Gleichzeitig wird dabei auch nach Forschungsdesideraten gefragt, die sich möglicherweise für die Politik- und Sozialwissenschaften ergeben können. Der vorliegende Text wertet also die Beiträge aus und verdichtet die Argumente mit Blick darauf, was Wissenschaft an der Schnittstelle zur Politik zu leisten hat. Dabei wird insbesondere auf die Schwerpunkte Islam als Diskursfeld, die Repräsentationsfrage, der Steuerbarkeit von Inklusion, den sozioökonomischen sowie den transnationalen Kontext fokussiert. Islam als Diskursfeld Ausgehend von Überlegungen Werner Schiffauers (1998: 419) wurde der Islam als „Diskursfeld“ beschrieben – als ein Bereich, in dem unterschiedliche Akteure, ausgestattet mit verschieden großer Diskursmacht, um die Definition des Islam ringen und ein gesellschaftlich hegemoniales Bild entwerfen, das dann die Modi der Inklusion oder Exklusion bestimmt.1 Der Islam war in Deutschland bis zur Jahrtausendwende ein „unbeschriebenes Blatt“, und vorausgegangene erste Bemühungen um die Einführung islamischen Religionsunterrichts auf der Ebene der Bundesländer sowie vereinzelte gerichtliche Auseinandersetzungen über die Vereinbarkeit deutscher Rechtsordnung und islamischer Glaubensvorschriften 1
Siehe zu diesem Konzept und seiner Begründung ausführlich Halm 2008.
Inklusion des Islam in die deutsche Gesellschaft
279
waren eher für Experten und Fachpolitiker von Belang als für die breite Öffentlichkeit und Politik. Erst die sicherheitspolitisch motivierte Debatte in der Folge des 11. Septembers 2001, im Wechselspiel mit einer sich zur gleichen Zeit etablierenden Einwanderungs- und Integrationspolitik des Bundes, haben das Zusammenleben mit den Muslimen und die gesellschaftliche Integration des Islam sehr plötzlich in die breite Öffentlichkeit gebracht – eben in einer Situation, in der das Wissen um Glaubensgrundsätze, Organisationsstrukturen, konfessionelle Richtungen, Lebensumstände der Gläubigen und einiges mehr kaum vorhanden oder systematisch erschlossen war. Selbst die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen muslimischen Glaubens konnte lange Jahre nur auf Grundlage von Schätzungen angegeben werden, und erst die jüngere Zeit zeigt Versuche, sich dieser Frage zumindest methodisch reflektiert zu nähern.2 Die Frage, ob angesichts der Inklusionsversuche des Islam eher von „symbolischer Politik“ als von „materieller Neuerung“ gesprochen werden kann, bedarf einer differenzierten Antwort. Die vielfach beschriebene „abnehmende Steuerungsfähigkeit des politischen Systems, [wird] von politischen Akteuren mit einer Flucht in die symbolische Politik und damit einer Aufwertung der Darstellungsebene des Politischen gegenüber der Entscheidungsebene kompensiert.“ (Baringhorst 2004: 129) Der Islam als „Diskursfeld“ legt allerdings nahe, die beiden Pole „symbolischer Inszenierung“ und „materieller Neuerung“ nicht als Alternative zu verstehen – vielmehr hängt beides eng zusammen, indem sich erst aufgrund eines Systems diskursiver Opportunitäten die gesellschaftliche Integration materialisieren kann. Ein gutes Beispiel dafür stellt die DIK selbst dar, die zunächst einmal als eine symbolische Inszenierung seitens der Bundespolitik gewertet werden kann. (Vgl. auch Rosenow/Kortmann in diesem Band) Die Konferenz allerdings allein als Inszenierung zu begreifen, würde weder dieser Initiative noch der Idee der Initiatoren gerecht. Neben dem unmissverständlichen Signal an die Mehrheitsgesellschaft, Muslime als gleichberechtigten Teil der deutschen Gesellschaft anzunehmen, stellt sie eine flexibles „Übergangsformat“ dar, welches sehr wohl in der Lage ist, wichtige integrationspolitische Impulse zu geben. Dabei kann die DIK allerdings nur in dem Maße Wirkung entfalten, wie ihre Empfehlungen durch die an der Konferenz beteiligten Akteure und Dritte berücksichtigt und umgesetzt werden. (Vgl. dazu Busch/Goltz in diesem Band) Zwar ist derzeit noch nicht abzusehen, ob aus der DIK etwa neue Integrationsgesetze oder weitgehende Maßnahmen zur Institutionalisierung des Islam in Deutschland folgen. Gleichwohl wirken bereits jetzt Mechanismen, so Tezcan, die unmittelbar die Konstitution des muslimischen Subjekts betreffen: „Die symbolische Inszenierung der Inklusion des Islam bringt somit zweifelsohne eine 2
Siehe zu einem solchen Ansatz Haug/Müssig/Stichs 2009.
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materielle Erneuerung im integrationspolitischen Feld mit sich.“ (Tezcan in diesem Band) Als Beispiel einer materiellen Neuerung kann dabei die Einrichtung von Zentren für islamische Studien an den Universitäten Münster, Osnabrück und Tübingen gewertet werden, die auch Gegenstand von Diskussionen während der DIK waren. Worin weitere Neuerungen im Einzelnen bestehen, wird eine Frage späterer Analysen sein, die sich etwa mit dem Output und Outcome der zweiten Phase der DIK befassen. Festzuhalten bleibt allerdings, dass es nicht allein bei bloßer symbolischer Politik bleiben kann. Auch wenn die Inszenierung als unverzichtbares Mittel zur Inklusion des Islam bezeichnet werden kann, ist sie kein Ersatz für materielle Maßnahmen. (Vgl. dazu auch Baringhorst 2004: 144) Inwiefern die DIK dem Anspruch als Impulsgeber für eine tatsächliche Inklusion gerecht wird, muss sich zeigen. Für die Beheimatung des Islam in Deutschland ist es unabdingbar, dass die Sozialwissenschaft bestehende Wissenslücken schließt. Diese Bedeutung der Sozialwissenschaften haben Politik und Institutionen der Wissenschaftsförderung durchaus in breitem Umfang erkannt, wovon der sprunghafte Anstieg von Forschungsprojekten zum Thema zeugt. Gerade auf dem konkurrierenden Interessen unterliegenden Diskursfeld Islam kommt Wissenschaft besondere Autorität, aber auch Verantwortung zu. Die wichtigsten Forschungsdesiderate werden von den im vorliegenden Band versammelten Beiträgen adressiert, darunter auch besonders kontroverse Themen – etwa der Zusammenhang von muslimischer Religiosität und Geschlechterrollen, die vermeintliche Existenz von „Parallelgesellschaften“ oder das Islambild in der deutschen Öffentlichkeit, das seitens mancher Kommentatoren als „islamophob“ qualifiziert wird. Weniger breit öffentlich diskutiert, aber nicht weniger bedeutend, sind Erkenntnisse über die Organisationslandschaft der Muslime in Deutschland, denn solche Erkenntnisse sind Voraussetzung für die Klärung politischer Kernfragen der Interessenvertretung und der Repräsentation der Gruppe. Über diesen Beitrag zur Erhellung des Gegenstands „Islam in Deutschland“ hinaus fällt speziell der Politikwissenschaft noch eine weitere Aufgabe zu, die im vorliegenden Band ebenfalls ausführlich thematisiert wird. Das normative Ziel der gesellschaftlichen Integration des Islam setzt voraus, sich der Bedingungen für die politische Steuerung eines solchen Prozesses zu vergewissern. Wie etwa kann staatliches Handeln das Verbändefeld strukturieren? Wie können komplexe und voraussetzungsvolle Prozesse wie die individuelle Sozialintegration von Muslimen in Deutschland durch Politik beeinflusst werden? Welche strukturellen Voraussetzungen kann Politik schaffen, um die Inklusionsvoraussetzungen für den Islam zu verbessern? Vor dem Hintergrund dieser Fragen stellen wir abschließend die sich für die Politik- und Sozialwissenschaft ergebenden zukünf-
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tigen Aufgaben unter Rückgriff auf die Beiträge des vorliegenden Bandes nochmals pointiert heraus. Repräsentation als Voraussetzung für Inklusion? Im Rahmen der DIK stellte sich immer wieder die Frage nach der Repräsentanz der deutschen Muslime durch die Verbände. (Vgl. dazu insbesondere Busch/ Goltz, Chbib und Tezcan in diesem Band) Auch hier formulierte Innenminister Schäuble zu Beginn der ersten Phase der DIK die Zielvorstellung der Politik: „Vielleicht können wir Impulse geben, dass sich die Muslime so organisieren, dass wir repräsentative Gesprächspartner haben. Die Muslime wollen vom Staat gleichberechtigt behandelt werden, so wie die christlichen Kirchen. Dann müssen sie aber auch die organisatorischen Voraussetzungen schaffen.“ (SZ vom 26.09.2006) Indem die Islamkonferenz dazu geführt hat, dass sich das Feld der politischen oder zumindest der diskursiven Opportunitätsstrukturen gewandelt hat, waren auch Veränderungen im Verbändefeld zu registrieren, so durch die Bildung des Koordinationsrates durch Islamrat, Zentralrat, VIKZ und DITIB. Trotz erster wissenschaftlicher Annäherungen an die Frage, welche Verbände wie viele der deutschen Muslime vertreten, besteht hier nach wie vor große Unsicherheit. Dies liegt auch daran, dass es schwierig ist, zu einem allgemein anerkannten Erhebungsinstrumentarium zu finden, da „formale“ Mitgliedschaften in den islamischen Organisationen nicht die Regel sind. Je nachdem, ob die Organisationsbindung, die Mitgliedschaft, die Inanspruchnahme von Angeboten oder die Vertretung abgefragt wird, ergeben sich unterschiedliche Anteile derjenigen, die in den islamischen Gemeinden organisiert sind.3 Die Methodenwahl erhält dabei unausweichlich eine politische Qualität, weil die auf ihre Grundlage festgelegten „Vertretungsquoten“ sowohl die Legitimation der Organisationen als Interessenvertretung in der deutschen Gesellschaft bestimmen als auch von großer Relevanz für das Machtgefüge innerhalb des Verbändefelds sind. Zugleich fehlt bisher weitgehend die dynamische Betrachtung der Organisationsentwicklung: Es gibt keine längerfristig vergleichenden Untersuchungen über die Entwicklung der Verbände und ihrer Klientel. Für die Ausgestaltung eines kooperativen Verhältnisses zwischen Verbänden und Staat, das Ergebnis der Integration des Islam in Deutschland sein könnte, wären Informationen darüber, in welchem Verhältnis etwa fortschreitende Assimilierung der muslimischen Bevölkerung und Inanspruchnahme von noch weitgehend landsmannschaftlich orientierten Organisationen steht, sehr bedeutsam. In Berlin ist heute rund die Hälfte der 3
Siehe zu einer ausführlichen Diskussion dieses Problems Halm 2010.
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Gemeinden keinem der etablierten Dachverbände angehörig, (vgl. Spielhaus 2006: 15), ein Befund, der 2006 bei der Veröffentlichung große Beachtung fand. Diese alternative Forschungsrichtung, die die Ausrichtung der Gemeinden betrachtet, wird im vorliegenden Band durch den Beitrag von Raida Chbib repräsentiert. Die Autorin ist Mitglied der Forschergruppe um Volkhard Krech, die 2007 eine Bestandsaufnahme von Moscheegemeinden für NRW unternommen hat, mit dem Ergebnis, dass nach DITIB, die 45% der organisierten Muslime und weniger als ein Viertel der Muslime insgesamt vertritt, die zwar gemeindegebundenen, aber keinem Verband zugehörigen Muslime die nächstgrößte Gruppe sind. (Vgl. Krech 2008: 193) Eine Bestandsaufnahme der muslimischen Organisationen in Deutschland, die Krech, gefördert durch den Europäischen Integrationsfond im Jahr 2009 durchgeführt hat, bestätigt diese Befunde grundsätzlich. Die Feststellung, dass auf DITIB als wichtigsten Verband gleich die unabhängigen Organisationen als nächstgrößte Gruppe folgen, stimmt auch hier. Auch ist die Zahl dieser unabhängigen Organisationen höher als die der anderen, neben DITIB direkt oder indirekt (durch Islamrat und ZMD) im KRM vertretenen Organisationen. Dennoch zeigt sich beim Blick auf die Gemeindenzahl, stärker als in Studien zur individuellen Vertretung der Muslime durch die einzelnen Organisationen, eine durchaus starke Bedeutung der im KRM organisierten, eher traditionell orientierten Organisationen – sie stellen weit über die Hälfte der Datenbank, wobei ihr tatsächlicher Anteil noch leicht höher liegen dürfte, da bei einigen Organisationen ohne Mitgliedschaftsangabe eine Nähe zu diesen Verbänden denkbar ist. Im Ergebnis einer Befragung des Bundesamtes für Migration und Flüchlinge (BAMF) aus dem Jahr 20084 fühlten sich demgegenüber nur 25% der Muslime von den im Koordinationsrat der Muslime zusammengeschlossenen Verbänden Islamrat, DITIB, ZMD und VIKZ vertreten. Dies ist zunächst kein Widerspruch, sagt die Zahl der Organisationen doch nichts über die individuellen Mitglieder aus. Auch ist davon auszugehen, dass eine beträchtliche Zahl Menschen mit muslimischer Identität gar nicht organisiert sind, was zwangsläufig bei der Betrachtung ausschließlich der Organisationen für die Verbände ein günstigeres Bild ergibt. Dennoch bedarf dieser Befund weiterer Abklärung.5 Auch Levent Tezcan greift die Frage, wer die Muslime repräsentieren soll in seinem Beitrag auf und ergänzt sie um die wichtige Frage, worin die Muslime repräsentiert werden sollen: „Wann sind Muslime als Muslime zu repräsentieren? […] In welcher Hinsicht, unter welchen Bedingungen ist es legitim, eine vielfältige Gruppe von Menschen, also Türken, Arabern, Persern etc. als eine 4 5
Siehe zu einem solchen Ansatz Haug/Müssig/Stichs 2009. Neben anderen methodischen Einwänden ist auch zu beachten, dass die BAMF-Studie die Interviewpartner zwar nach der Vertretung durch Islamrat und ZMD, nicht aber durch die den Spitzenverbänden zugehörigen Dachorganisationen gefragt hat.
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primär religiöse Gruppe zu adressieren und was sind Effekte einer derartigen Identitätszuschreibung […]?“ (Tezcan in diesem Band). Die Repräsentationsfrage ist also nicht nur von (bundes-)politischer Relevanz. Die oben beschriebenen methodischen Probleme sind untrennbar mit Fragen der kulturellen und religiösen Identitäten verknüpft und verweisen erneut auf die Bedeutung des innermuslimischen Pluralismus. Weder die Politik noch die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen können diesen Aspekt unberücksichtigt lassen. Dennoch steht der wissenschaftliche Überblick über muslimische Vielfalt in Deutschland insgesamt erst am Anfang. Sowohl die Qualität „unabhängiger“ Gemeinden muss noch erforscht werden als auch das religiöse Spektrum, das in den Verbänden abgedeckt wird. Exemplarisch für Milli Görüs wurde dies unlängst von Werner Schiffauer (2008) geleistet. Ungeachtet dieser Forschungsdesiderate machen die Beiträge von Chbib und Azzaoui aus Sicht der Integrationspolitik und der (organisierten) muslimischen Community klar, dass angesichts der geschilderten Schwierigkeiten (die, wie oben gezeigt, bis in die Wissenschaft reichen) der Repräsentationsdiskurs als Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Einbeziehung des Islam inzwischen Relativierungen unterliegt. Diese bestehen etwa darin, dass die Politik nach pragmatischen Lösungen sucht, wie etwa bei der Einführung von Religionsunterricht. (Vgl. dazu auch den Beitrag Meyer/Schubert in diesem Band) Und auch die Muslime versuchen, alternative Bezugssysteme – bei Azzaoui die Moschee – zu etablieren. Dann ist aber zugleich vollkommen unklar, inwieweit eine solche Umorientierung die Erfüllung rechtlicher Mindeststandards als Grundlage für die Kooperation zwischen Verbänden/Gemeinden und Staat ermöglicht und in wiefern hier Politik begünstigend intervenieren kann. Lässt sich die Inklusion des Islam politisch steuern? Vor diesem Hintergrund diskutiert Andreas Blätte in seinem Beitrag die Frage, inwiefern staatliches Handeln auf die Organisationen der Muslime einwirken kann und kommt zu einer insgesamt skeptischen Schlussfolgerung hinsichtlich der diesbezüglichen „Formungsfähigkeit“. Die politische Opportunitätsstruktur, d.h. die Einflussmöglichkeit verschiedener Interessengruppen, kann die Beschaffenheit und die Programmatik der Organisationen beeinflussen, allerdings verbleiben organisationenspezifische Determinanten, die die Wirksamkeiten von Veränderungen in der Opportunitätsstruktur begrenzen. Insofern erscheint es hier sinnvoll, dass der häufig mit hierarchischer Regierungspraxis assoziierte Begriff der politischen Steuerung durch den Begriff der Regulation ersetzt wird. Die Organisationsentwicklung des Islam wird selbstverständlich von einer Vielzahl
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von Faktoren beeinflusst, u.a. das Organisationsfeld, diskursive Opportunitätsstrukturen, Ressourcen der Verbände etc. Die Etablierung des Koordinationsrates einerseits und seine stockende Weiterentwicklung etwa in Form der Einpassung ins föderale System durch Regionalisierung andererseits verweisen unmittelbar auf die Plausibilität von Blättes Argument. Gerade die Innenansicht muslimischer Organisationen ist in der Sozialwissenschaft aber kaum bearbeitet, womit sich vor dem Hintergrund von Blättes Überlegungen ein beträchtliches Forschungsdesiderat ergibt. In diesem Zusammenhang wäre auch zu prüfen, inwiefern bestehende Befunde zu unterschiedlichen Phasen der Entwicklung von Migrantenorganisationen, in denen einmal externe Faktoren wie Opportunitätsstrukturen und dann wiederum organisationsinterne Merkmale überwiegen, (Vermeulen 2005), auf die muslimischen Organisationen übertragen werden können. Hier kann der von Rosenow/Kortmann unternommene Blick auf das Selbstverständnis und die Strategien muslimischer Dachverbände durchaus hilfreich sein. Auch weist Blätte auf etwas anderes hin: Wenn die Formbarkeit des Verbändefelds durch staatliches Handeln begrenzt ist, dann muss auch der Staat reflektieren, inwiefern neue Formen von „corporate governance“ möglich sind, die den Einbezug der Muslime unter den bestehenden organisatorischen Voraussetzungen vereinfachen – eine Überlegung, die gut anschlussfähig ist an Azzaouis Vorschlag zur Moschee als zukünftigem Referenzpunkt für eine Partnerschaft zwischen Muslimen, deutscher Gesellschaft und Politik. Auch hier tut sich ein wichtiges Arbeitsfeld für die Politikwissenschaft auf. Angesichts der sich abzeichnenden Schwierigkeiten des Staates, die Inklusion des Islam top-down voranzutreiben bzw. zu verordnen, muss aber auch nach weiteren Alternativen zur Inklusion gesucht werden. Neben den Moscheen als dauerhafte Einrichtungen können auch konkrete Projekte und Modellversuche auf kommunaler und Landesebene Erfolge erzielen. Durch wissenschaftliche Evaluationen können diese Erfolge messbar gemacht werden, um sie so mit anderen Modellversuchen in Relation zu setzen. Durch den systematischen Vergleich unterschiedlicher Ansätze bleiben Erfolge also nicht regional begrenzt, sondern können als „Exportschlager“ durchaus überregionale Wirkungen entfalten. Ein gutes Bespiel ist hier etwa die Einführung islamischen Religionsunterrichts. So kann etwa an dem von Haci-Halil Uslucan beschriebenen Schulversuch in Niedersachsen gezeigt werden, welch große Bedeutung auch Schülerund Elternbefragungen haben können. Diese Evaluationsmethode ist dabei nicht nur sachlich angemessen, da der islamische Religionsunterricht die Interessen der Schüler und Eltern unmittelbar tangiert. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung zum Schulversuch werden von Uslucan auch als Hinweis gedeutet, dass die von der niedersächsischen Landesregierung angestrebten integrativen Ziele auch tatsächlich erreicht werden.
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Inklusion des Islam und sozioökonomische Kontextualisierung Bereits an den oben skizzierten Beispielen wird deutlich, dass die Debatte über die Inklusion des Islam überaus facettenreich ist. Wenngleich soziale und sozioökonomische Aspekte keinen direkten Zusammenhang zum Verhältnis von Politik und Islam erkennen lassen, scheinen diese jedoch zentral zu sein. Einzelne Beiträge des Sammelbandes zeigen: Die sozialwissenschaftliche Analyse zum Islam kann in bestimmten Bereichen nicht getrennt vom ökonomischen System untersucht werden. Dass die Lebensrealität der Muslime in Deutschland eben nicht in erster Linie durch ihre Religion, sondern vor allem durch das sozioökonomische Umfeld bestimmt wird, zeigt Norbert Gestring in seinem Beitrag zu Muslimen in deutschen Städten. (Vgl. dazu auch Meyer/Schubert in diesem Band) Darin skizziert er einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu Migrantengruppen (die sich zu einem Großteil eben auch zum Islam bekennen), ihrem hohen Anteil von niedrig qualifizierten Personen, ihrem oft niedrigen und unsicheren Einkommen, sowie ihren daraus resultierenden begrenzten Wahlmöglichkeiten auf den Wohnungsmärkten. Auch bezüglich der islamischen Verbände muss der soziale und ökonomische Kontext berücksichtigt werden. Rosenow/Kortmann und Blätte tun dies aus unterschiedlichen Perspektiven. Während Rosenow/Kortmann darauf hinweisen, dass die meisten islamischen Verbände neben ihren religiösen Aufgaben auch soziale Ziele verfolgen (wenn auch in unterschiedlicher Intensität), zeigt Blätte, wie stark das Organisationsverhalten von den ökonomischen Bedingungen und den materiellen Ressourcen eines Verbandes beeinflusst wird. Die Einbeziehung der ökonomischen Variable kann helfen, strategisches Verhalten von Verbänden besser nachzuvollziehen. Es zeigt sich also auch hier, was für viele Politikbereiche gilt: Ohne die adäquate Berücksichtigung der ökonomischen Verhältnisse, in denen Politik stattfindet, bleibt die Analyse häufig unvollständig. Der Bezug zum sozioökonomischen Kontext eröffnet auch der Wissenschaft neue Ansätze. Wann und inwiefern lassen sich religiöse Themen nicht von wirtschaftlichen Aspekten trennen, etwa wenn es um die Rolle der islamischen Religion bei der Konkurrenz um Arbeitsplätze geht? Jenseits des nationalstaatlichen Rahmens Bei der Befassung mit dem Verhältnis von Politik und Islam in Deutschland scheint der Bezugsrahmen, in dem die Diskurse stattfinden, zunächst eindeutig vorgegeben. Die Politik eröffnet die DIK, in der sich in Deutschland tätige islamische Verbände etwa mit Loyalitätskonflikten gegenüber dem einladenden
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Staat befassen, mit islamischem Unterricht an deutschen Schulen und der Frage der Institutionalisierung des Islam nach deutschem Recht. Aufgrund des spezifischen rechtlichen und institutionellen Rahmens werden etwa die regelmäßig wiederkehrenden Forderungen nach einem einheitlichen Ansprechpartner als „typisch deutsch“ (Blätte in diesem Band) bezeichnet. Dennoch lässt sich an zahlreichen Beiträgen dieses Bandes zeigen, dass eine analytische Beschreibung und Erklärung des Verhältnisses zwischen deutscher Politik und Islam ohne die Berücksichtigung des transnationalen Kontextes häufig zu kurz greift. Zunächst einmal weisen Rosenow/Kortmann auf einen zentralen Kritikpunkt der Politik an der hiesigen islamischen Verbandslandschaft hin: Die fortbestehende Herkunftslandorientierung insbesondere der türkisch-sunnitischen Verbände unterlaufe die Integration der türkischstämmigen Muslime im deutschen Aufnahmeland. Azzaoui greift diese Kritik auf und argumentiert, dass eine Loslösung von politischen Parteien und Regierungen der Herkunftsländer sowie eine kritische Reflexion dieses Erbes eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung des Islam in Deutschland sei. In der Tat tut sich mit Blick auf die diesbezügliche Ausrichtung der Verbände ein interessantes Forschungsfeld auf. Denn zum einen muss geklärt werden, inwiefern die Orientierung am Herkunftsland die Integration im Aufnahmeland beeinträchtigt bzw. behindert. Und zum anderen ist nach den jeweiligen strategischen Motiven für ein Festhalten am bzw. für eine Loslösung vom Herkunftsland zu fragen. In diesem Zusammenhang spielt auch die kulturelle Dimension eine entscheidende Rolle. So zeigen Chbib und Blätte, dass sich Muslime unterschiedlicher Herkunft auch unterschiedlich organisieren, da bei der Entstehung und Entwicklung islamischer Organisationen und Verbände auch die „transnationalen Gelegenheitsstrukturen“ (Blätte in diesem Band) eine wichtige Rolle spielen. Und auch die Beiträge von Diehl/Koenig und Uslucan verweisen in ihrem jeweiligen Feld auf die Bedeutung kultureller Normen und (Wert-)Vorstellungen. Der Blick jenseits nationalstaatlicher Grenzen kann aber auch in anderer Hinsicht hilfreich sein. So weisen Rosenow/Kortmann am Beispiel des Vergleichs mit den Niederlanden auf die besonderen Bedingungen hinsichtlich der Gründung türkisch-islamischer Verbände hin. Während beispielsweise in Deutschland das Staatskirchenrecht eine zentrale Rolle für die islamischen Verbände spielt, orientieren sich niederländische Verbände aufgrund des fehlenden Anerkennungssystems für religiöse Organisationen „an der offiziellen niederländischen Minderheitenpolitik, welche stattdessen die Förderung und Einbeziehung von ethnisch-kulturellen Gruppen ermöglicht.“ (Rosenow/Kortmann in diesem Band) Der Vergleich der unterschiedlichen Bedingungen, mit denen islamische Organisationen aber auch individuelle Akteure konfrontiert sind, kann auch helfen, Lösungen jenseits von Pfadabhängigkeiten zu suchen. Es zeigt sich also
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insgesamt, dass das Verhältnis von Politik und Islam ohne Berücksichtigung transnationaler Aspekte eindimensional bleibt und damit an Erklärungskraft verliert. Zur Notwendigkeit der kritischen Distanz Eingangs wurde auf das Konzept des Islam als „Diskursfeld“ und auf die Bedeutung diskursiver Opportunitätsstrukturen verwiesen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur Aufgabe von Sozialwissenschaft, Forschungslücken zu füllen und zu einem „objektivierten“ Bild des Islam in Deutschland beizutragen, vielmehr kann und sollte auch der Diskurs selbst Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung werden. Denn nur die Reflektion derjenigen diskursiven Zusammenhänge und dahinter liegenden Interessen, denen sich auch die Erzeugung und Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnis nicht vollkommen entziehen kann, ermöglicht letztendlich eine wirklich emanzipierte Sicht. Vor dieser Folie können die Artikel von Bielefeldt, Diehl/Koenig und Gestring gelesen werden, in denen sie einen Beitrag dazu leisten, vermeintliche Selbstverständlichkeiten und diskursmächtige Topoi – hier Islamfeindlichkeit, Geschlechterungleichheit im Islam und Parallelgesellschaft – „gegen den Strich zu bürsten“ bzw. einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Es obliegt der Wissenschaft, derartige Vorstellungen auf ihre Wirklichkeitstauglichkeit zu prüfen, wo nötig zu differenzieren oder zu verwerfen – und sich dabei mit keiner der diskurswirksamen Interessen gemein zu machen. Exemplarisch für diese Notwendigkeit, aber auch Beleg für die großen Schwierigkeiten, ist die Auseinandersetzung mit Islamfeindlichkeit, Islamophobie oder auch Islamskepsis der deutschen Gesellschaft – schon diese alternative Begriffswahl verdeutlicht die Probleme eines „unabhängigen“ Zugangs zu dieser Thematik. (Vgl. dazu auch Eickhof 2010) Systematische Verfahren und allgemein akzeptierte Methoden zur Beschreibung der Einstellungen in der deutschen Gesellschaft zum Islam fehlen bisher weitgehend, trotz zahlreicher Studien zu Einstellungen der Bevölkerung und dem durch Medien vermittelten Bild. Wie wäre eine legitime Auseinandersetzung über divergierende Werte, Einstellungen und kulturelle Konflikte zu führen, die nicht stereotyp und angstbestimmt verläuft? Was wären die Merkmale, die eine solche legitime Debatte von „islamophoben“ Diskursen abgrenzen? Hierauf ist die Sozialwissenschaft bisher Antworten schuldig geblieben. Aber auch dort, wo bereits Antworten gefunden wurden, muss die Wissenschaft immer wieder auf entsprechende Studien verweisen. Ein Beispiel ist hier der politisch aufgeladene Diskurs zur Parallelgesellschaft, in die sich Muslime zurückziehen würden. Trotz der Ergebnisse von Gestring, aber auch von Halm/Sauer (2006), ist derzeit davon auszugehen, dass
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bereits empirisch klar widerlegte Behauptungen weiterhin Teil der öffentlichen und politischen Debatten bleiben. Dies gilt auch im Zusammenhang mit dem islamischen Religionsunterricht. Entgegen der unterstellten Seperationsorientierung von muslimischen Schülern und Lehrern konnte gezeigt werden, dass die Integration die vorherrschende Orientierung darstellt und die oft noch behauptete „Integrationsresistenz“ völlig an der empirischen Realität vorbei geht. (Vgl. dazu Uslucan in diesem Band) Hier muss die Wissenschaft einerseits ein gewisses Beharrungsvermögen an den Tag legen und andererseits die Interessen hinterfragen, die zur möglicherweise willentlichen und wissentlichen Ausblendung bestimmter Ergebnisse führen. Literatur Baringhorst, Sigrid, 2004: Soziale Integration durch politische Kampagnen? Gesellschaftssteuerung durch Inszenierung, in: Lange, Stefan/Schimank, Uwe (Hrsg): Governance und gesellschaftliche Integration, Wiesbaden, 129-146. Böhmer, Maria, 2007: Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht. Herausforderungen und Leitlinien, in: Frech, Siegfried/Meier-Braun, Karl-Heinz (Hrsg.): Die offene Gesellschaft, Zuwanderung und Integration, Schwalbach/Ts., 41-58. Eickhof, Ilka, 2010: Antimuslimischer Rassismus in Deutschland, Theoretische Überlegungen, Berlin. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 27.10.2006. Halm, Dirk, 2010: Muslimische Organisationen in Deutschland – Entwicklung zu einem europäischen Islam?, in: Pries, Ludger/Sezgin, Zeynep (Hrsg.): Jenseits von „Identität“ oder „Integration“, Über die Rolle von transnationalen Migrantenorganisationen, Wiesbaden. Halm, Dirk, 22008: Der Islam als Diskursfeld, Bilder des Islams in Deutschland, Wiesbaden. Halm, Dirk/Sauer, Martina, 2006: Parallelgesellschaft und ethnische Schichtung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2, 18-24. Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja, 2009: Muslimisches Leben in Deutschland, BAMF Forschungsbericht 6, Nürnberg. Krech, Volkhard, 2008: Religion und Zuwanderung, Die politische Dimension religiöser Vielfalt, in: Hero, Markus/Krech, Volkhard/Zander, Helmut (Hrsg.): Religiöse Vielfalt in NRW, Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn, 190-203. Novy, Leonard/Schwickert, Dominic/Fischer, Thomas, 2008: Von der Beraterrepublik zur gut beratenen Republik? Ein Diskussionsbeitrag zur Situation und Zukunft von Politikberatung in Deutschland, in: Zeitschrift für Politikberatung 1 (2), 170-190. Schiffauer, Werner, 2008: Parallelgesellschaften: Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz, Bielefeld.
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Schiffauer, Werner, 1998: Ausbau von Partizipationschancen islamischer Minderheiten als Weg zur Überwindung des islamischen Fundamentalismus?, in: Bielefeldt, Heiner/Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Politisierte Religion, Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt/Main, 418-437. Spielhaus, Riem, 2006: Organisationsstrukturen islamischer Gemeinden, in: Spielhaus, Riem/ Färber, Alexa (Hrsg.): Islamisches Gemeindeleben in Berlin, Berlin, 12-17. Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 26.09.2006. Vermeulen, Floris F., 2005: The Immigrant Organising Process, The emergence and persistence of Turkish immigrant organisations in Amsterdam and Berlin and Surinamese organisations in Amsterdam, 1960-2000, University Dissertation, Amsterdam.
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Vielfalt als Potential – Implikationen aus dem Verhältnis von Politik und Islam Implikationen aus dem Verhältnis von Politik und Islam
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Einleitung Die zunehmende Wahrnehmung der gegebenen Vielfalt religiöser Gruppen in Deutschland wird häufig als problematisch und konfliktträchtig beschrieben. Dabei wird der politische Diskurs wesentlich von theologischen und religiösweltanschaulichen Auseinandersetzungen mitbestimmt. (Augustin et al. 2006: 9) Parallel zu den zahlreichen Stimmen, die sich kritisch zu Fragen des religiösen Pluralismus äußern, gibt es aber in jüngster Zeit von Seiten der Politik immer wieder auch Versuche, diese Vielfalt positiv zu konnotieren. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Antrittsrede von Bundespräsident Christian Wulff im Juli 2010: „Unser Land ist reich an alledem. Seine größte Stärke sind die Menschen, die hier leben. Ihre Vielfalt und ihre Talente machen Deutschland lebens- und liebenswert. […] Aber wir müssen auch offen sein für die Kooperation mit allen anderen Teilen der Welt auf der Grundlage gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens. Dazu müssen wir andere Kulturen besser kennen und verstehen lernen, müssen wir auch hier auf andere zugehen und den Austausch verstärken. Das können wir schon hier bei uns einüben, in unserer Bundesrepublik, in unserer bunten Republik Deutschland. Unsere Vielfalt ist zwar manchmal auch anstrengend, aber sie ist immer Quelle der Kraft und der Ideen und eine Möglichkeit, die Welt aus unterschiedlichen Augen und Blickwinkeln kennenzulernen.“ (Wulff 2010) Die Rede von der ‚bunten Republik Deutschland‘, die auch auf die aktuellen Debatten um die Integration von Muslimen anspielt, bestätigt nicht nur erneut deren hohen politischen Stellenwert. Darüber hinaus wird die Vielfalt explizit als Chance beschrieben. Bereits zuvor stellten sowohl Bundesinnenminister de Maizière als auch sein Vorgänger Schäuble mit Blick auf die religiöse Vielfalt klar, dass der Islam bzw. die Muslime in Deutschland willkommen sind. (Schäuble 2006; de Maizière 2009). Wenn die religiöse Vielfalt jedoch nicht nur als Problem, sondern auch als Potential wahrgenommen wird, stellt sich die Frage, wofür diese Vielfalt positive Möglichkeiten bieten kann.
H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dieser Beitrag nimmt die Befunde des vorliegenden Buches zum Anlass, danach zu fragen, welche Schlüsse aus der komplexen Beschreibung des Verhältnisses von Politik, Gesellschaft und Islam gezogen werden können. Dazu gliedert sich der Beitrag in sechs Abschnitte. Um das Potential der Vielfalt bestimmen zu können, ist es zuvor notwendig festzuhalten, worin diese Vielfalt besteht. Der erste Abschnitt zur Vielfalt in Deutschland (Kapitel 2) soll daher zeigen, dass bereits die Prämissen der Debatte häufig korrekturbedürftig sind. Das dort ausgeführte Argument zur genaueren Differenzierung vermeintlich homogener Gruppen wird in einem nächsten Schritt auf den Islam (Kapitel 3) und dann am Beispiel der Deutschen Islam Konferenz (DIK) und der Einführung des Faches ‚Islamische Studien‘ an verschiedenen deutschen Universitäten auf die islamische Verbandslandschaft (Kapitel 4) übertragen. Vor dem Hintergrund der Beschreibung der Vielfalt und den daraus resultierenden Problemen bei der Abbildung islamischer Interessen, stehen die nächsten beiden Abschnitte für konkrete Lösungsvorschläge. Diese beziehen sich zum einen auf die Dezentralisierung der Integrationspolitik, genauer: die Verlagerung der maßgeblichen Integrationsarbeit auf die kommunale Ebene (Kapitel 5) sowie auf den Vorschlag zu einer loseren Kopplung der Bereiche Religion und Integration. (Kapitel 6) Das letzte Kapitel soll die beschriebene Vielfalt deutlich als Potential für eine aktive Integrationspolitik thematisieren. (Kapitel 7) Dabei soll auch vermittelt werden, dass die Debatte um das Verhältnis von Politik und Islam als ein, wenn auch derzeit sehr prominentes Anwendungsbeispiel für den Umgang mit Vielfalt fungiert. Der wissenschaftlich fundierte Überblick über muslimische Vielfalt in Deutschland steht erst am Anfang.1 Diese, für die Forschung unbefriedigende, Situation bezieht sich allerdings nicht allein auf methodische Fragen, die – wie gezeigt wurde – auch durchaus politische Implikationen haben können. (Vgl. Halm/Meyer in diesem Band) Dem enormen Aufklärungsbedarf in diesem Feld kann auch entsprochen werden, indem über den grundsätzlichen Umgang mit (religiöser) Pluralität diskutiert wird. Das ist ebenfalls Ziel dieses Beitrags.
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Daher startete beispielsweise der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität unter der Leitung des Soziologen Detlef Polack im Sommer 2010 eine der bislang größten Bevölkerungsumfragen zur religiösen Vielfalt in Europa. Ziel dieser repräsentativen Erhebung ist es herauszufinden, welche Regeln sich die Bevölkerung von insgesamt fünf Ländern angesichts der wachsenden Vielfalt wünscht. Dabei geht es insbesondere um die Einstellung gegenüber dem Islam und die Fragen, ob der Islam „in unsere westliche Welt passt“ und ob Muslime sich an die westliche Kultur anpassen sollten. (Exzellenzcluster Religion und Politik; vgl. dazu auch Kap. 2 in diesem Beitrag)
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Vielfalt in Deutschland In der Debatte um die Integration von Muslimen lassen sich zahlreiche Widersprüche aufdecken. Auf der einen Seite wird beispielsweise nachgewiesen, dass muslimische Migranten einen deutlichen Willen zur Integration haben, (Haug 2009; vgl. auch Uslucan in diesem Band) bzw. dass der größte Teil der Muslime längst angekommen ist und bereits eine „postintegrative Perspektive“ (Foroutan 2009: 31) eingenommen hat. Auf der anderen Seite wird jedoch genau das durch die öffentliche Meinung bestritten, indem immer wieder auf den vermeintlich unvereinbaren Gegensatz zwischen Islam und ‚westlicher Welt‘ verwiesen wird. (Vgl. u.a. Kastoryano 2002: 184; Leggewie 2009: 605; Lerch 2006) Der Islam gilt dabei als Symbol für den scheinbaren Gegensatz zwischen Okzident und Orient. (Hejazi 2009: 306) Dementsprechend gelten Muslime als „troublemaker“, (zit. nach Leggewie 2005: 6), die nicht in diese westliche Welt passen. Die pauschale Gegenüberstellung von Islam und ‚westlicher Welt‘ stellt allerdings bereits eine Unterstellung dar, die einer dringenden Differenzierung bedarf. Erstens muss der Versuch, die ‚westliche Welt‘ als homogene Einheit näher zu bestimmen, notwendig scheitern, da sich die Gesellschaften der westlichen Staaten selbst sowohl in einem normativen als auch in einem empirischfaktischen Sinne als freie, pluralistisch verfasste Gesellschaften definieren. Daher ergeben sich auch keine einheitlichen Entwicklungen, so dass z.B. die französische und britische Gesellschaft als vielfältiger – im Sinne Wulffs: bunter – erscheint, als die deutsche. Insofern ist die ‚westliche Welt‘ also zumindest in einem zweifachen Sinne pluralistisch verfasst: Verschieden aus gesellschaftlich vergleichender Perspektive und binnenpluralistisch, d.h. innerhalb der nationalen Gesellschaften. Die aktuelle politische Diskussion in Deutschland zeigt, dass sowohl von staatlicher Seite, als auch in der breiten Öffentlichkeit die gegebene interne Vielfalt wahrgenommen und zunehmend auch akzeptiert wird. Freilich darf die nun eintretende positive Konnotation nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Binnenpluralismus mit differierenden und oft auch widerstreitenden Wertvorstellungen, Interessen und Zielen einher geht. Getrennt von religiösen Fragen zeigt sich also bereits, dass mitnichten pauschal von einer westlichen Welt im Singular gesprochen werden kann. Angesichts dessen relativiert sich bereits hier der Antagonismus Islam und ‚westliche Welt‘ deutlich. Zweitens: Bezieht man die Religion als weiteren Faktor mit ein, differenziert sich das Bild noch stärker. Wesentlicher Bestandteil der Gegenüberstellung von Islam und westlicher Welt ist die Vorstellung, dass sich eine homogene religiöse Landschaft plötzlich mit einer neuen, fremden Religion auseinander setzen muss. Ein genauerer Blick auf die Karte der religiösen Landschaft zeigt jedoch deutlich, dass religiöser und weltanschaulicher Pluralismus auch völlig
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getrennt vom Islam eine gesellschaftliche Realität sind. Neben den christlichen Großkirchen existiert ein breites Spektrum an religiösen Strömungen. Dies reicht von kleineren christlichen Gemeinden, über die Orthodoxe Kirche und jüdische Gemeinden bis zu den östlichen Religionen, neureligiösen Strömungen und esoterischen Zirkeln. Allein in Nordrhein-Westfalen wurden rund 8.500 Gemeinden und Ortsgruppen gezählt, die einer von 228 religiösen Organisationen oder Strömungen angehören. (Hero/Krech/Zander 2008: 31) Nimmt man diese Vielfalt zur Kenntnis, ergibt sich auch eine geänderte Perspektive auf die Integrationsdiskurse und die vermeintliche Homogenität der Mehrheitsgesellschaft. So fragt Oberndörfer (2001: 13) angesichts der Pluralität, was eigentlich ein integrierter Deutscher ist: „Wer die Integration der Ausländer in die deutsche Kultur fordert, müsste die Frage beantworten können: was ist ein integrierter Deutscher? Sind Süd- oder Norddeutsche, Katholiken, Protestanten, säkularisierte und kirchlich–konfessionell nicht gebundene Bürger, zum Islam oder Buddhismus konvertierte Deutsche, Akademiker oder Bauern, Mitglieder der SPD oder der CSU jeweils das Modell für Integration und den integrierten Deutschen?“ Moderne Gesellschaften produzieren aus sich heraus, d.h. unabhängig von Migrationsfragen, soziale Differenz, kulturelle Vielfalt und Fremdheit. Die Pluralisierung der Lebenswelt und von Lebensweisen ist insofern ein elementares Merkmal moderner Gesellschaften. Dies trifft nun aber auch auf die in Deutschland lebenden Muslime zu, die ebenfalls keine kulturell homogene Gruppe sind. (Vgl. auch Gestring in diesem Band) Vielfalt im Islam Analog zur Pluralität der deutschen Mehrheitsgesellschaft tritt auch der hiesige Islam nicht als geschlossene Einheit auf. Auch hier kann zunächst einmal getrennt von der religiösen Zugehörigkeit festgestellt werden, dass die Muslime aus unterschiedlichen Ländern kommen und unterschiedlichen Ethnien angehören. Auch wenn die meisten Muslime der sog. ersten Generation hauptsächlich als ‚Gastarbeiter‘ aus der Türkei kamen, lässt sich diese Gruppe nicht allein über ihre Religion definieren. Dies trifft verstärkt auf die zweite und dritte Generation der hier lebenden Muslime zu. Wie die Mehrheitsgesellschaft verteilt sich auch diese Gruppe auf unterschiedliche Klassen und soziale Schichten und findet sich in unterschiedlichen kulturellen und Bildungszusammenhängen. (Roald 2005: 181) Hinzu kommen noch die aus der Mehrheitsgesellschaft stammenden deutschen Konvertiten, die das Bild des Islam in Deutschland weiter ausdifferenzieren.
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Betrachtet man zusätzlich die einzige vermeintliche Gemeinsamkeit, nämlich das Bekenntnis der Muslime zum Islam, zeigt sich ein noch komplexeres Bild. Die Muslime unterscheiden sich hierzulande nicht nur zwischen Sunniten und Schiiten. (Vgl. Chbib in diesem Band) Innerhalb dieser Gruppe gibt es noch einmal zahlreiche Unterschiede etwa zwischen schriftgläubigen und liberalen Muslimen, zwischen sittenstrengen und ausgesprochen lebensfrohen Muslimen, zwischen Muslimen, die einen spirituellen Weg verfolgen und solchen, die der Mystik fern stehen. Manche Muslime sehen in der Politik eine wichtige Dimension ihrer Religion, andere wiederum lehnen Politik im Namen des Islam strikt ab. Dabei reichen die unterschiedlichen Möglichkeiten, den Islam zu verstehen bzw. als Glauben zu praktizieren, weit in die Geschichte zurück. In der Gegenwart treten diese Möglichkeiten mit eigenen, spezifisch modernen Akzenten auf. (Krämer 2007: 172; zur Vielfalt des Islam vgl. auch Haug et al. 2009; Hejazi 2009; Bertelsmann-Stiftung 2008; Brettfeld/Wetzel 2006; Hartmann 2006; Meier 1995) Angesichts dieser unterschiedlichen Ausprägungen und Herangehensweisen bildet auch der Islamismus, der regelmäßig im Zentrum öffentlicher Debatten über den Islam steht, nur eine von zahllosen Möglichkeiten, islamische Lehren auf die individuelle Lebensführung und auf die gesellschaftliche Ordnung anzuwenden. (Krämer 2007: 172) „Während die Terroristen [im Koran] Rechtfertigung für Gewalt suchen und finden, stöbern Liberale nach friedfertigen Passagen, die das Zusammenleben ermöglichen.“ (Abdel-Samad 2009) Der nach wie vor durch Politik und (Medien-)Öffentlichkeit geprägte Zusammenhang von Islam und Terrorismus verlangt dabei immer wieder den Verweis auf die Relationen. Laut Verfassungsschutz betätigen sich etwa ein Prozent der in Deutschland lebenden Muslime in Verbänden mit islamistischem Hintergrund. Dabei verfügt der „islamische Extremismus“ selbst noch einmal über zahlreiche Facetten: „Es konnte der Eindruck entstehen, dass alle Islamisten, ja gar Muslime allgemein, potentielle Attentäter wären. Dieses Bild zurechtzurücken und eine klarere Einschätzung der Bedrohungslage zu geben, ist auch eine der Aufgaben des Verfassungsschutzes.“ (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2008: 20) Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass sich der Islam in seiner Binnenpluralität weder vom Christentum, (Roy 2006: 8) noch von anderen Weltreligionen unterscheidet. (Krech 2008: 25) Auch der Fundamentalismus ist keine spezifische Eigenschaft des Islam, sondern kennzeichnet auch andere Religionen.
Ein Ansprechpartner für die Politik? Die Vielfalt des Islam in Deutschland lässt sich auch an der islamischen Verbandslandschaft ablesen. Die bloße Existenz der zahlreichen islamischen Organi-
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sationen und (Dach-)Verbände muss als Ausdruck der islamischen Binnenpluralität interpretiert werden. Insofern spiegeln die islamischen Organisationen die vielfältigen Erwartungen der Muslime zu Wahrung und Durchsetzung ihrer Interessen wider. (Vgl. Chbib in diesem Band) Andererseits sind die Organisationen auch eine Antwort auf die Erwartungen der Politik. (Kastoryono 2002: 185) Die Erwartung der Politik an die islamischen Verbände äußerte sich immer wieder in der Forderung nach einem einheitlichen Ansprechpartner, der entsprechend einheitliche islamische Positionen und Ansprechpartner vorgibt. In Analogie zu den beiden großen Kirchen in Deutschland sollten so Aushandlungsprozesse zwischen Politik und Islam vereinfacht bzw. überhaupt erst ermöglicht werden. Die staatliche und rechtliche Struktur zwingt insofern die muslimischen Verbände in Deutschland, sich um die Anerkennung als Religionsgemeinschaft zu bemühen. Das Problem besteht allerdings nicht allein darin, dass islamische Verbände die Struktur von ‚Quasi-Staatskirchen‘ nachahmen sollen, was ihnen – auch aufgrund der fehlenden offiziellen Mitgliedschaft im Islam – nicht eigen ist. Dieser „Zwang zur Homogenisierung“ (Spielhaus 2006: 32) eine gemeinsame Interessenvertretung zu formieren, reduziert den oben beschriebenen Pluralismus der muslimischen Community bzw. begrenzt tendenziell die Möglichkeiten der offenen Zustimmung zu einem gesellschaftlichen Pluralismus. Gleichzeitig lässt die Forderung nach einem einheitlichen Ansprechpartner und die Vorstellung, muslimische Interessen durch eine einzige Vertretung zu repräsentieren, die Vielfalt der Menschen mit muslimischem Hintergrund außer Acht. (Spielhaus 2006: 3233) Die Problematik der Abbildung eines ‚islamischen‘ Interesses lässt sich insbesondere an zwei Beispielen skizzieren: zum einen an der DIK und zum anderen an der virulenten Diskussion über die Einführung Islamischer Studien. Nachdem in der ersten Phase der DIK alle vier Verbände des Koordinationsrates der Muslime (KRM), der Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), die Türkisch-Islamische Anstalt für Religion (DITIB) und der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD) teilgenommen haben, sind in der gegenwärtigen Phase allein DITIB und der VIKZ vertreten. Während der IRD aufgrund zahlreicher Ermittlungsverfahren gegen führende Mitglieder von de Maizière faktisch ausgeladen wurde, verzichtete der ZMD auf eine Teilnahme aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung der DIK. Dadurch wurden weitreichende Konfliktlinien und konkurrierende Strategien innerhalb des KRM deutlich, mit denen sich einmal mehr die religiöse und politische Heterogenität des Islam in Deutschland zeigte. (Schubert/Meyer 2010: 3) Getrennt von dem Streit über die konkrete Zusammensetzung der DIK und die Legitimation organisierter und nicht-organisierter Muslime ist der Versuch einer Vereinheitlichung muslimischer Interessen selbst dort nicht von Dauer, wo sie explizites Ziel war. Immerhin sollte der KRM die Aufgaben des insti-
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tutionalisierten, legitimierten und mit genügend Autorität ausgestatteten Ansprechpartners für den Staat in wichtigen Fragen des Islam sein. Hier zeigt sich bereits: Über die Forderung nach Gleichstellung und Gleichbehandlung mit den anerkannten Glaubensgemeinschaften hinaus, ist es schwierig, gemeinsame Interessen der Muslime auszumachen – auch, wenn die im KRM vertretenen Dachverbände insgesamt eher als konservativ gelten. (Vgl. Leggewie 2009: 604) Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang auch die Neugründung des Liberal-Islamischen Bundes (LIB) zu sein, der zweifellos einen bewussten Gegenentwurf zu den bereits bestehenden Dachverbänden darstellt. Anspruch des LIB ist es, muslimische Bürgerinnen und Bürger zu vereinen und zu repräsentieren, die sich mit ihrer liberalen Auffassung des Islam in den bisherigen Debatten und politischen Prozessen in Deutschland und Europa nicht angemessen vertreten fühlen: „Viele Musliminnen und Muslime, die in Deutschland bzw. in Europa heimisch sind, fühlen sich nicht mehr allein durch das Islamverständnis der Herkunftsländer ihrer Eltern angesprochen. Ihr Lebensmittelpunkt ist Deutschland/Europa. Innerhalb der pluralistischen Gesellschaft in Europa stellen sie eine nicht unbeträchtliche Gruppe dar, die ihr Recht auf öffentliche Wahrnehmung ebenso wie die damit einhergehende Verantwortung wahrnehmen möchte.“ (Liberal-Islamischer Bund) Hier zeigt sich, dass es sowohl zwischen den im KRM organisierten Verbänden Interessengegensätze gibt, als auch zwischen eher konservativ und eher liberal ausgerichteten Verbänden. Dieser politisch konnotierten Konfliktlinie zwischen konservativ und liberal wird zukünftig vermehrt Beachtung zu schenken sein. Die politische Vorstellung, einen einheitlichen Ansprechpartner für die Belange ‚des‘ Islam zu haben, um damit etwa an neokorporatistische Organisationsformen und Erfahrungen (Konzertierte Aktion, Bündnis für Arbeit) anknüpfen zu können, scheint unter dem Faktum einer eher noch weiter zunehmenden Pluralisierung recht aussichtslos. Auch am Beispiel der Debatte um die Einführung ‚Islamischer Studien‘ lässt sich das Repräsentationsproblem und die Schwierigkeit der Abbildung muslimischen Pluralismus illustrieren. Bereits in den vergangenen Jahren wurden an verschiedenen Orten in Deutschland Professuren für Islamische Religionspädagogik eingerichtet, die häufig im Kontext von Schulversuchen zur Einführung islamischen bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts standen. (Vgl. Uslucan in diesem Band) An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wurde beispielsweise 2004 im Centrum für Religiöse Studien die erste Professur für die „Religion des Islam“ geschaffen. Dennoch hat bislang kein Bundesland islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach eingeführt. Da muslimische Gemeinden das eigene geistliche Personal nicht an deutschen Hochschulen ausbilden können, haben sich externe Bildungseinrichtungen entwickelt, die islamwissenschaftliche Forschung und Lehre betreiben – deren Status und Finanzierung jedoch nicht
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immer klar erkennbar ist. (Wissenschaftsrat 2010: 41-43) Vor dem Hintergrund eines steigenden Beratungsbedarfs von Politik und Gesellschaft, der wachsenden politischen Bedeutung der Ausbildung von Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht, (Wissenschaftsrat 2010: 74) sowie der förmlichen Gleichbehandlung mit den christlichen Kirchen (Walter 2009: 268), rät der Wissenschaftsrat erstmals zur Etablierung theologisch orientierter Islamischer Studien in Deutschland. Um die Pluralität islamischen Glaubens in der Bundesrepublik Deutschland adäquat berücksichtigen zu können empfahl der Wissenschaftsrat zwei bis drei Standorte für Islamische Studien. (Wissenschaftsrat 2010: 77) Mit den ersten Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sollen in Münster, Osnabrück und Tübingen Zentren für Islamische Studien entstehen. Aufgrund der rechtlich gewachsenen Rahmenbedingungen für das Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften gilt es, kreative Lösungen für die Einrichtung islamischer Theologie auf der Basis der vorhandenen Strukturen zu entwickeln. Aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften stellt der Staat zwar den organisatorischen Rahmen in Form der universitären Infrastruktur zur Verfügung – kann aber weder Lehrinhalte noch Prüfungsgegenstände festlegen. (Walter 2009: 264-265) „Das deutsche Modell von Kooperation ermöglicht es, dass der weltanschaulich neutrale Staat sich nicht an die Stelle von Religionsgemeinschaften stellt. […] Erst durch dieses Modell wird gesellschaftlicher und religiöser Pluralismus erlaubt und ermöglicht.“ (Ucar 2009: 166-167) Wie allerdings die konkrete Umsetzung aussieht und wer die Religionsgemeinschaft Islam in welchem Umfang und mit welchen Kompetenzen vertritt, ist Gegenstand der Debatte. Aufgrund der zahlreichen Strömungen des Islam auch unterhalb der Trennung von Sunnismus und Schiismus schlägt der Wissenschaftsrat theologisch kompetente Beiräte vor, um die verfassungsrechtlich erforderliche Mitwirkung der islamischen Gemeinschaften an der Ausgestaltung der Islamischen Studien zu realisieren. Diese mit Vertretern der Muslime besetzten Beiräte sollen u.a. für die Ausarbeitung der Studiengänge, als auch für die Berufung von Professoren zuständig sein. (Wissenschaftsrat 2010: 80) Zwar ist es richtig, dass für das Gelingen der Errichtung von Lehrstühlen für Islamische Theologie die institutionelle Verfasstheit der Muslime grundlegend ist. (Ucar 2009: 162) Wer allerdings genau mit welchen Kompetenzen in den Beiräten sitzt, wird derzeit lebhaft diskutiert. Dabei muss der islamische Pluralismus auf drei Ebenen abgebildet werden: erstens innerhalb des Curriculums, zweitens bei der Berufung der Professoren und drittens eben bei der Zusammensetzung der Beiräte selbst. Auch wenn der Wissenschaftsrat die Position vertritt, dass sich die Beteiligung in den Beiräten „am besten über eine Mitwirkung des Koordinatonsrates der Muslime (KRM) sicherstellen [lässt]“, (Wissenschaftsrat 2010: 81) ist dies noch keine abschließende Antwort auf das oben beschriebene Problem der Vielfalt sowohl innerhalb des
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KRM, als auch zwischen KRM und anderen muslimischen Organisationen und Gruppen. Kommunalisierung der Integrationspolitik Dass die Kooperation zwischen Staat, Universitäten und islamischen Religionsgemeinschaften bezüglich der Einführung Islamischer Studien nicht zentral zu regeln ist, ist damit zu erklären, dass sich ‚der Islam‘ nicht uniform repräsentieren lässt. Dies wirft die Frage nach möglichen Alternativen auf, wie eine solche Kooperation aussehen könnte. Die Politik hat dieses Problem erkannt und schlägt, wie Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), kommunale Lösungen vor: „Wir können nicht einfach unsere Erfahrungen mit den Kirchen auf den Islam übertragen. Die Besonderheiten dieser Religionsgemeinschaft legen VorOrt-Wege nahe. Das halte ich für ein wichtiges integrationspolitisches Zeichen.“ (Berliner Zeitung vom 14.07.2010) Mit der Neuausrichtung der Integrationspolitik ist auch das Interesse an lokalen Integrationsprozessen in Politik und Wissenschaft gewachsen. Dabei geht es insbesondere um die Handlungsmöglichkeiten und Erfolgsbedingungen einer Integrationspolitik von Städten, Kreisen und Gemeinden. (Vgl. Gesemann/Roth 2009) Die „Integration von Zuwanderern vor Ort“ ist ein Thema, welches in Deutschland wieder Hochkonjunktur hat. (Schweitzer 2007: 126) Dies hängt auch damit zusammen, dass man vor dem Hintergrund globaler Religionskonflikte auf der lokalen Ebene eine ganze Palette religiös motivierter bzw. kodierter Konflikte konstatieren kann. Diese beruhen zum einen auf der Diskriminierung religiöser Minderheiten durch die Mehrheitsgesellschaft und zum anderen auf religiös motivierten Straftaten. (Vgl. Leggewie 2009: 600) Die verstärkten gesellschaftlichen Integrationsprobleme haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass auch die Politikwissenschaft ihren Blick wieder stärker auf die lokale Ebene richtet. Dies hängt mit einem gewachsenen Bewusstsein darüber zusammen, „dass die Funktionen, die die lokale Ebene für das gesamte politisch-administrative System wahrnimmt, auch zu einer Reduzierung der gesellschaftlichen Integrationsprobleme beitragen können.“ (Bogumil/Holtkamp 2004: 147) Am Beispiel der Kommunen kann gezeigt werden, dass der Dissens in der Sache in pluralistischen Gemeinwesen nicht nur das normativ und empirisch Übliche ist. Dieser Dissens kann – positiv bewertet – auch zur Entwicklung moderner Gesellschaften beitragen. (Leggewie 2009: 602) Die Kommunalpolitik kann dabei als Experimentierfeld für Reformen beschrieben werden, (Andersen 1998) auf dem verschiedene Lösungen erprobt werden können, und die im Erfolgsfall auch zu anderen Regelungen auf Landes- oder Bundesebene führen
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können. (Bogumil/Holtkamp 2004: 147) Dass die kommunale Ebene als Experimentierfeld fungiert, zeigen die vielen unterschiedlichen Regelungen etwa zum Moscheebau, zum Muezzinruf, aber auch zu den verschiedenen Schulversuchen zur Einführung islamischen Religionsunterrichts. Die in den Kommunen auftretenden Interessenkonflikte zwischen Muslimen, Politik und Bürgern unterscheiden sich dabei von Konflikten auf der Bundesebene. Prinzipielle Wertdiskussionen werden hier schneller zu Sach- und Organisationsfragen. So können religiöse Konflikte auf lokaler Ebene durch neutrale Instanzen, also der geschickten Moderation und Mediation abgeschwächt bzw. überwunden werden. (Vgl. auch Leggewie 2009: 603) Eine besondere Bedeutung kommt hier dem persönlichen Verhältnis der betroffenen Akteure zu. Diese persönliche Nähe auf kommunaler Ebene hat eine nicht zu unterschätzende integrative Wirkung. Dabei ist die kommunale Ebene den Problemen der Bürger nicht nur am nächsten. (Bogumil/ Holtkamp 2004: 147) Am Beispiel der Integration von Muslimen zeigt sich auch die Bedeutung der unterschiedlichen Integrationsebenen. Während sich unter den Muslimen eine Zurückhaltung gegenüber der Identifikation mit Deutschland beobachten lässt, überrascht die häufige und weitreichende Identifikation mit dem Wohnort bzw. dem Viertel. (Schiffauer 2008: 99) Für eine pragmatische Arbeit und für Verhandlungserfolge ist die Identifikation neben dem persönlichen Verhältnis ein wichtiger Faktor. Die wesentlichen Integrationsleistungen müssen folglich insbesondere in den Städten und Kommunen geleistet werden. Hier sind die Moscheegemeinden als „Zentren des religiösen Lebens“ (Azzaoui 2010) ein wichtiger Ansprechpartner sozialer und politischer Integrationsbemühungen. Gleichzeitig muss die Bundesregierung hier den Rahmen setzen, (Schubert/Meyer 2010: 3) der sich durchaus zunächst auf der symbolischen Ebene bewegen kann. So müssen lokalspezifische Konfliktschlichtungen durch überlokale und überregionale Arrangements – wie etwa die DIK – flankiert werden. (Vgl. auch Leggewie 2009: 603) Am Beispiel der Einführung Islamischer Studien bestätigt de Maizière die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen politischen Ebenen: „Denn wir sind bei diesem Projekt alle aufeinander angewiesen. Nicht nur der Bund auf die Kooperation mit den Ländern und Kommunen und umgekehrt. Aber ‚angewiesen‘ muss nicht nach ‚abhängig‘ klingen. Angewiesen heißt ja auch, wechselseitig aufeinander verwiesen zu sein. Die Hauptarbeit hat sowieso nicht der Staat, sondern die Zivilgesellschaft zu leisten.“ (de Maizière 2010) Durch die Regionalisierung religionsspezifischer Probleme können trotz des Pluralismus erstens vereinfacht pragmatische Lösungen gefunden werden, die zweitens eine Vorbildfunktion für überregionale Konfliktlösungen haben können. Darüber hinaus gibt es aber weitere Möglichkeiten im Umgang mit dem islamischen Pluralismus.
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Partielle Entkopplung von Religion und Integration Der Islam in Deutschland sieht sich häufig einem anti-islamischen Klischee ausgesetzt, dessen negative Zuschreibung sehr umfangreich ist. Gängige Stereotypen sind hier etwa mittelalterliche Strafpraktiken, unaufgeklärte Schriftgläubigkeit und die Unterdrückung von Frauen. In der öffentlichen Negativwahrnehmung steht der Islam also häufig für eine Religion der Vormoderne, dem eine ihm immanente Aufklärungsunfähigkeit und Modernitätsverweigerung unterstellt wird. (Bielefeldt 2008; Meier 1995) Diehl/Koenig weisen jedoch am Beispiel von Geschlechterbeziehungen darauf hin, dass der derzeitige Forschungsstand bezüglich des viel beschworenen Einflusses ‚des‘ Islam auf kulturelle Normen deutliche Zurückhaltung nahe legt. „Es bedarf weiterer Forschung, um den relativen Einfluss der islamischen Kultur von anderen Aspekten des kulturellen Hintergrunds von Migranten – etwa eine agrarisch geprägte Lebensweise – zu trennen.“ (Diehl/Koenig in diesem Band) So zeigt etwa Gerhards (2007), dass die Bevölkerungen auch vieler nicht-islamischer Länder in Süd- und Südosteuropa vergleichbare traditionale Geschlechterrollen-Orientierungen haben, wie die der Türkei. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass der häufig unterstellte Zusammenhang von Islam und fehlender ‚Aufklärung‘ kein zwangsläufiger ist. Es ist ebenso denkbar (und Faktum), dass Muslime Geschlechtergleichheit befürworten, wie es denkbar und Tatsache ist, dass Nicht-Muslime Geschlechtergleichheit ablehnen. Der häufig unterstellte Zusammenhang zwischen traditionalistischen und patriarchalischen Strukturen und ‚dem‘ Islam wird auch von Hejazi zurückgewiesen. Die Ressentiments und Ablehnung der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird dagegen mit den Traditionen dörflich-ländlicher Lebensweisen erklärt, die auch im christlichen Europa lange Zeit bestand hatten: „Mit Religion hat dies wenig zu tun […].“ (Hejazi 2009: 306) Diese scheinbar banale, angesichts der öffentlichen Debatten allerdings notwendige Feststellung legt aber auch noch einen weiteren Schluss nahe. Wenn es im Feld der negativen Zuschreibung zu einer Überbetonung der Rolle der Religion kommt, muss der Stellenwert der Religion auch in anderen Bereichen der Integration von Muslimen einer Prüfung unterzogen werden. Seit dem 11. September 2001 sind Probleme der Muslime in öffentlichen Debatten in wachsendem Maße allein oder vor allem als religiöses Phänomen behandelt worden.2 „Komplexe Sachverhalte in Gesellschaft und Kultur werden unter den Begriff des Islam als Religion subsumiert und dadurch entsäkulari2
Zu Recht weisen Halm et al. darauf hin, dass der 11. September 2001 für das Zusammenleben von Muslimen und Mehrheitsgesellschaft in Deutschland insgesamt keinen Wendepunkt darstellt. Der Zusammenhang von Islam und Terrorismus war längst vorher etabliert, „wenn auch im geringerem Ausmaß.“ (Halm et al. 2007: 12)
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siert.“ (Wissenschaftsrat 2010: 75) Die (Über-)Betonung der Religion des Islam in Integrationsdiskurse bzw. die gänzliche Reduzierung von Muslimen auf die Religion ist aus mehreren Gründen problematisch. Die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ etwa konnte zeigen, dass sich hinsichtlich des Besuchs religiöser Veranstaltungen keine signifikanten Unterschiede zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Gruppen erkennen lassen. (Vgl. Haug 2009: 162) Wenn sich diesbezüglich also keine Unterschiede feststellen lassen, bedeutet eine Reduzierung der Integrationsdiskurse auf den Islam eine Ungleichheit im Diskurs. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass ein großer Anteil der aus Ländern mit nennenswerter muslimischer Bevölkerungszahl stammenden Menschen Religion oder gar Religionsausübung nicht als wesentlich für eine Vertretung nach außen hin ansieht. Berufliche Identitäten und ihre politischen Einstellungen bestimmen den Lebensalltag der meisten Menschen oftmals stärker als religiöse Bindungen. (Spielhaus 2006: 32-33) Kulturelle und soziale Differenzen lassen sich nicht auf religiöse Stereotypen reduzieren. So hat etwa das Bochumer Pluralismus-Projekt gezeigt, „dass es nicht nur von der Religion, sondern auch von vielfältigen sozio-ökonomischen Bedingungen abhängt, ob eine Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern gelingt.“ (Hero/Krech/Zander 2008: 22) Wie die einzelnen Faktoren jeweils zu gewichten sind, hängt vom Erkenntnisinteresse ab. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich Muslime in ihrem Alltag eben nicht nur als Gläubige definieren, stellt die Reduzierung von Muslimen auf ihre Religion eine Verkürzung dar. Denn genauso wie Christen, bekennen sich Muslime zwar einerseits zu ihrer Religion. Gleichzeitig sind sie eben nicht nur Anhänger ihrer Religion, sondern treten in ihrem Alltag in einer Vielzahl von Funktionen und einer Vielzahl spezifischer Interessen an, die auch völlig getrennt von religiösen Bezügen existieren („overlapping membership“). Diese sachliche Trennung religiöser, kultureller und sozialer Integrationsfragen stellt eine Herausforderung für zivilgesellschaftliche und politische Akteure im Feld der Integration dar, die teilweise bereits wahrgenommen wurde: „Wir haben möglicherweise das Thema Integration zu sehr unter dem Aspekt diskutiert – wie integrieren wir die, die aus anderen Kulturen zu uns kommen? Zur Wahrheit gehört auch, dass wir desintegrierende Kräfte haben, die nicht nur mit kultureller Prägung zu tun haben, sondern oft mit der Frage sozialen Aufstiegs, mit Bildung, mit zivilisatorischen Fähigkeiten. Den Blick auf diese Form von Integration zu richten, haben wir möglicherweise versäumt.“ (de Maizière 2009: 8) Die Versuche, Integration von Muslimen ausschließlich über theologische Themen wie die Etablierung von ‚Islamischen Studien‘ und die Einrichtung von islamischem Religionsunterricht zu definieren, sind nicht ausreichend. Diese Ansätze müssen notwendig durch Angebote zur sozialen Integration ergänzt werden. Die soziale Integration muss als ein zentrales Betätigungsfeld verstärkt werden. Denn die
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tatsächlichen Integrationsschwierigkeiten sind häufig auf die materiellen und ökonomischen Verhältnisse zurückzuführen, die die Lebensrealität der Muslime in Deutschland wesentlich bestimmen. (Vgl. Gestring in diesem Band) Dies zeigt sich auch dort, wo es um die Erklärung der Radikalisierung von Muslimen und den ‚Nährboden‘ für islamistischen Fundamentalismus geht. So wird die Entstehung des islamischen Fundamentalismus unter anderem mit den vielfältigen sozialen Benachteiligungen begründet. (Vgl. u.a. Heitmeyer et al 1997; Leibold et al 2006; Heijazi 2009: 307) Die Entkopplung, zumindest aber losere Koppelung der Themen Religion und Integration kann aber auch umgekehrt dazu führen, dass integrationspolitische Fragen an Bedeutung verlieren. So stellt der Generalsekretär des Zentralrates der Muslime, Aiman Mazyek, über die DIK fest: „Der Grundfehler [der Islamkonferenz] ist, dass der Innenminister sie als Integrationskonferenz versteht. Die Islamkonferenz macht aber nur dann Sinn, wenn sie religionspolitisch begriffen wird und eng an verfassungsrechtlichen Prinzipien arbeitet.“ (Mazyek 2010) Auch wenn sich die Bereiche der religiösen, kulturellen und sozialen Integration nicht immer trennscharf auseinander halten lassen – ein differenzierter Umgang mit den unterschiedlichen Bereichen kann nicht nur bei der Erklärung, sondern auch bei der Lösung integrationspolitischer Probleme hilfreich sein. Eine gewisse Entkopplung der Bereiche Integration und Religion hat auch Implikationen für die islamische Verbandslandschaft. Statt des „Zwangs zur Homogenisierung“ (Spielhaus 2006: 32) der islamischen Verbandslandschaft erscheint umgekehrt eine weitere Ausdifferenzierung nach der jeweils spezifischen Interessenlage sinnvoll. Da die Interessen der islamischen Verbände nicht ausschließlich religiös-theologischer Natur sind und sie daher nicht nur als Religionsgemeinschaften verstanden werden können, muss dem auch im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung Rechnung getragen werden. Ein Beispiel für diese Ausdifferenzierung ist DITIB: „Unser Vereinsziel ist es, Musliminnen und Muslimen einen Ort zur Ausübung ihres Glaubens zu geben und einen Beitrag zur Integration zu leisten. Darüber hinaus engagieren wir uns intensiv im sozialen Bereich.“ (DITIB) Religionsausübung und Wahrnehmung weltlicher Aufgaben können also getrennt voneinander behandelt werden, wie auch die Beispiele der Caritas bzw. der Diakonie für die beiden christlichen Großkirchen in Deutschland zeigen. Auf dieser Grundlage lassen sich bestehende Konflikte weiter abbauen und schneller lösen. Eine weitere Ausdifferenzierung der islamischen Verbandslandschaft könnte auch das Problem relativieren, dass etwa nichtpraktizierende Menschen mit muslimischem Hintergrund kaum daran interessiert sind, durch religiöse Organisationen vertreten zu werden. Denn politische Forderungen, auch diese Bürger und Bürgerinnen durch islamische Organisationen vertreten zu lassen, werden dem gegebenen Pluralismus nicht gerecht. (Vgl. auch
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Spielhaus 2006: 33) Eine derartige Entkopplung würde nicht nur die Vielzahl der Verbände fortschreiben und möglicherweise weiter ausbauen. Die derzeitige Entwicklung einer Vereinheitlichung (wie sie über den KRM angestrebt wird) könnte sich so mit weitreichenden Auswirkungen auf die innerverbandliche Struktur umkehren. Zusätzlich darf die politische Auseinandersetzung mit konkreten ‚Problemen‘ der Vielfalt den Blick auf Alternativen auch jenseits der nationalstaatlichen Grenzen nicht verstellen. Hier bietet sich ein Blick in die Niederlande an. Zwar hat sich dort in den letzten Jahren der Diskurs über den Islam deutlich geändert. Während die Niederlande einst als Vorzeigland für eine gelungene Integration galt, wird nun vermehrt ihr Scheitern diskutiert. Dennoch kann ein Studium der niederländischen Integrationsdiskurse und der institutionellen Voraussetzungen durchaus auch der deutschen Debatte wichtige Impulse geben. Im Unterschied etwa zu Deutschland ist die Integration des Islam in den Niederlanden auch ohne die Anerkennung als Religionsgemeinschaft möglich. Dort fungiert die Religion als Teil- bzw. Unteraspekt der Kultur. (Kortmann 2010) Die Betonung der ethnisch-kulturellen Komponente in den Integrationsdiskursen und die schärfere Trennung zwischen Religion und Staat kann (und sollte) zwar nicht als Modell auf die Bundesrepublik übertragen werden. Die Politik muss hier aber offensiv die konstruktive und mitunter auch ergebnisoffene Auseinandersetzung suchen. Denn die offene Auseinandersetzung mit anderen Ideen eröffnet die Möglichkeit für die Politik, pragmatische Lösungen jenseits von Pfadabhängigkeit und Tradition zu finden. Insgesamt zeigt sich, dass eine Reduzierung auf die religiöse Identität im Widerspruch zum deutschen Verständnis von Demokratie und Zivilgesellschaft steht. (Spielhaus 2006: 34) Integrationspolitische Akteure sollten vor dem Hintergrund der Anerkennung religiöser Vielfalt öfter von der Möglichkeit Gebrauch machen, prinzipielle Religionsfragen von speziellen Integrationsfragen zu trennen. Denn es zeigt sich, dass die Betonung der Rolle der Religion oftmals erst der Grund dafür ist, dass Integrationsprozesse ins Stocken geraten bzw. gänzlich abgebrochen werden. Ein Beharren auf den eigenen religionspolitischen Vorstellungen bedeutet eben gelegentlich den Ausschluss alternativer Möglichkeiten einen Konsens bzw. Kompromiss zu finden. Vielfalt als Potential Die gängigen Vorstellungen von Integration stehen häufig im Kontext von Konvergenz und Assimilation, d.h. eine gelungene Integration wird am Grad der Homogenisierung bzw. am Grad der Anpassung der Muslime abgelesen. Wäh-
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rend aber in weiten Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft die Legitimität von Unterschieden innerhalb der Mehrheitsgesellschaft nicht infrage gestellt wird bzw. unkritisch bleibt, existiert gegenüber Muslimen die Vorstellung sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Dies muss als Ungleichheit im Diskurs bezeichnet werden. Die Frage, ob religiöse Pluralität Konflikte nährt oder, ob die Vielfalt zu mehr Toleranz führt (Krech 2008: 30) ist nicht pauschal zu beantworten. Dort jedoch, wo sie zu Konflikten führt, ist nach den Gründen zu fragen. Ein Großteil dieser Konflikte basiert etwa auf der Fortschreibung einer diskriminierenden Dichotomisierung von „Wir “ (die deutsche Mehrheitsgesellschaft) und „Ihr“ (die Muslime). Auch wissenschaftliche Studien machen da keine Ausnahme. „Offenbar gehen die Studien von einer als wesenhaft betrachteten, normierten, jedenfalls unhintergehbaren Unterscheidung zwischen ‚den Deutschen‘ und ‚den MuslimInnen‘ bzw. als solchen Markierten aus, die so internalisiert ist, dass sie selbst in kritischen Studien […] nicht dekonstruiert, sondern im Gegenteil unhinterfragt wiedergegeben und damit weiter vertieft wird.“ (Eickhof 2010: 21) Das in den einschlägigen Debatten verwandte kollektive „Wir“ erweist sich häufig bei näherer Betrachtung als sachlich nicht haltbar und als Argumentationsmuster wenig hilfreich. Dies trifft auch und insbesondere auf die Debatte um den Umgang mit dem Islam zu. Die antagonistischen Kategorien „Wir“ und „Ihr“ unterstellen Gemeinsamkeiten auf beiden Seiten, die der Realität nicht gerecht werden. Dabei wird nicht nur die beschriebene Vielfalt negiert. Die Konstruktion dieser Kategorien zielt auf eine Differenz (hier: Islam vs. Westliche Welt), in denen vom konstruierten Klischee abweichende Personen als Ausnahme abgetan werden. Gleichzeitig werden etwa islamistische Positionen, die auch innermuslimisch keine Mehrheit haben, zu typischen Wesenszügen islamischer Lebensweise erhoben. (Vgl. auch Spielhaus 2006: 34) Der pluralistische Ansatz kann in diesem Zusammenhang als Gegenentwurf bezeichnet werden, da er die Vielfalt auch innerhalb vermeintlich homogener Gruppen anerkennt und so unsachliche Verallgemeinerungen zurückweist. Aus pluralistischer Sicht besteht die Welt aus einer unübersehbaren Vielfalt von Dingen, Eigenschaften und Erfahrungen, die eigenständig und unabhängig voneinander existieren und nicht auf ein ewiges, universales oder singuläres Grundprinzip rückführbar sind. (Schubert 2003: 30) Dass die ‚dem‘ Islam zugeschriebenen Eigenschaften ebenfalls nichts Ewiges und Unveränderbares sind, ist ein wichtiger Schluss aus pluralistischer Sicht. Während der pauschalen Differenzierung in „Wir“ und „Ihr“ die Annahme zugrunde liegt, „dass die religiösen und kulturellen Konzepte dieser Gruppen unveränderlich sind“, (Spielhaus 2006: 35) ist die Kultur Deutschlands inklusive der muslimischen Migranten „nichts statisches, sie wandelt und pluralisiert sich.“ (Oberndörfer 2001: 13; vgl. auch Roald 2005: 188) Wenn also davon ausgegangen werden kann, dass durchaus kritikwürdige
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Ausprägungen nichts Statisches sind, impliziert dies auch ihre grundsätzliche Veränderungs- und Verbesserungsfähigkeit. In diesem Zusammenhang stellt der Pluralismus zwar kein allumfassendes Lösungskonzept dar. Durch die Anerkennung von Vielfalt kann aber sehr wohl die Intensität von Konflikten reduziert, zumindest aber dazu beigetragen werden, das Konfliktniveau insgesamt zu senken. Aus pluralistischer Sicht stellt sich daher „nicht die Frage, welche Position zugelassen wird, sondern ‚nur‘, wie weit sich welche Interessen umsetzen lassen. Keine Position ist grundsätzlich ausgeschlossen, aber aus fundamentalen, aus Grundsatzkonflikten werden Interessenkonflikte und Interessenunterschiede, die theoretisch, vor allem aber praktisch verhandelbar sind. Die Aufgabe des ‚Prinzipiellen‘ bedeutet aber auch, von der Vorstellung Abstand zu nehmen, dass Konflikte ein-für-alle-mal gelöst werden.“ (Hegelich/Schubert 2008: 657) Die Vorstellung zeitlich begrenzter Lösungen kann bereits in der Aushandlungsphase helfen, Konflikte zu versachlichen und zu ‚entdramatisieren‘. Trotz der Veränderbarkeit und Veränderungsfähigkeit von Politik und Islam muss aber gleichzeitig festgestellt werden, dass der religiöse Pluralismus in Deutschland eine Tatsache bleibt. Die dauerhafte Präsenz des Islam kann weder geleugnet noch überwunden werden. Sie ist ein unverkennbarer und irreversibler Faktor, den jede Integrationspolitik in Rechnung stellen muss. (Leggewie 2009: 593; Kastoryono 2002: 184) Zwar gibt es Möglichkeiten, etwa durch Dialog und politische Intervention, mögliche negative, konflikthafte Folgen der Vielfalt abzuschwächen. Die Politik muss sich jedoch darauf einstellen, es dauerhaft mit vielen unterschiedlichen muslimischen Funktionsträgern zu tun zu haben, die dann auch unterschiedliche Interessen vertreten können. Dies relativiert nicht nur die Suche nach einem einheitlichen Ansprechpartner, sondern zeigt auch die Grenzen einer ‚Integration von Vielfalt‘ durch top-down-Steuerung. Die Anerkennung der Vielfalt ist Voraussetzung für eine pragmatische und nichtassimilative Integration. Das Potential dieser Vielfalt ist dabei so umfassend wie die Vielfalt selbst: „Integration und Gleichstellung des Islam müssen auf breiterer und pluralistischer Basis erfolgen. Je vielstimmiger der Islam auftritt, desto besser, und die europäischen Gesellschaften werden sich daran gewöhnen müssen, dass Muslime laut, sichtbar und politisch auftreten.“ (Leggewie 2009: 606) Dazu muss jedoch auch die generell immer noch geringe Akzeptanz gesellschaftlichen Pluralismus (Oberndörfer 2001: 13) überwunden werden. Es geht dabei nicht allein darum, die bestehende Vielfalt einfach hinzunehmen. Vielmehr geht es darum, die gegebenen Unterschiede positiv zu besetzen. Unter diesen Umständen ist Vielfalt insofern als Potential zu betrachten, als dass kulturelle und religiöse Eigenarten in der Tat eine gegenseitige Bereicherung darstellen. Zwar wird der Religionspluralismus in westeuropäischen Gesellschaften als Herausforderung für die christlichen Kirchen beschrieben. (Gabriel 2009) Für Deutsch-
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land folgt aber konkret daraus, dass die Kirchen den religiösen Pluralismus akzeptieren und ihren Alleinvertretungsanspruch im gegenseitigen Austausch und Dialog werden relativen müssen. (Steinacker 2006: 688) Dieser Verlust muss jedoch nicht notwendig zu neuen Problemen führen. Religiöser Pluralismus unterliegt nicht zwangsläufig Konfliktmechanismen, „sondern kann sich auch als konstruktiver Wettstreit oder zumindest als friedliche Koexistenz gestalten.“ (Hero/Krech/Zander 2008: 22) Der Islam in Deutschland muss vor diesem Hintergrund weniger als Bedrohung, denn vielmehr als eine nützliche Bereicherung bezeichnet werden. Um die Vielfalt als Potential für eine gesamtgesellschaftliche Integration allerdings positiv nutzbar machen zu können, bedarf es einiger notwendiger Vorbedingungen. So ist das Wissen voneinander – neben der prinzipiellen gesellschaftlichen Bereitschaft – zentrale Voraussetzung. Hier trägt auch die (Politik-)Wissenschaft eine gewisse Verantwortung. Nimmt man die empirisch gegebene Vielfalt und die oben beschriebene Idee des Pluralismus ernst, verlieren Theorien kultureller Blockbildung auf religiöser Basis ihre Wirkmacht. Annahmen wie die von Samuel Huntington, der vom „Clash of Civilizations“ (Huntington 1998) spricht, haben zwar nach wie vor Konjunktur. Sie führen jedoch sowohl hinsichtlich des geopolitischen Konfrontationsdenkens, als auch empirisch in die Irre. „Welchen Sinn soll beispielsweise die Rede vom ‚christlichen Abendland‘ haben, wenn sie beansprucht, mehr als ein ideologisches Programm für eine europäische ‚Leitkultur‘ zu sein?“ (Krech 2008: 25) Vor dem Hintergrund der Anerkennung von Unterschieden, der Anerkennung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse sowie einer sachlichen Ausdifferenzierung von Interessen vermeintlich homogener Gruppen zeigt sich auch, dass der pluralistische Umgang mit dem Islam lediglich ein Anwendungsbeispiel ist. Der Pluralismus verdient auch hinsichtlich anderer gesellschaftlicher Konfliktthemen als Gegenentwurf zu ideologischen und dogmatischen Positionen weiterhin Beachtung. Das zukünftige Thema moderner Gesellschaften wird daher nicht ‚Integration‘ heißen, sondern „Wie mit Vielfalt umgehen?“. Zum Beispiel: „Wie kann in Anspruch genommene Differenz von Diskriminierung abgegrenzt werden?“, „Wie kann Vielfalt nützlich und Einfalt unschädlich gemacht werden?“,„Welche Rolle wächst in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft den unterschiedlichen staatlichen Ebenen zu?“ Die zukünftigen Themen moderner Gesellschaften werden sich um den politischen Umgang mit bzw. dem ‚politischen Management‘ von Vielfalt und Differenz drehen. Je früher mit dieser Debatte – und der wissenschaftlichen Begleitung dieser Debatte – begonnen wird, desto besser.
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Literatur Abdel-Samad, Hamed, 2009: Vom Glauben zum Wissen, Wie findet der Islam zur Moderne? Bis heute sind Versuche von religiösen Reformen am Fels der Orthodoxie gescheitert, in: Neue Züricher Zeitung vom 3. Dezember 2009, 23. Andersen, Uwe, 1998: Kommunalpolitik als Experimentierfeld für Reformen – eine Einführung, in: Politische Bildung 31, 5-17. Augustin, Christian/Wienand, Johannes/Winkler, Christiane, 2006: Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, Eine Vorbemerkung, in: Augustin, Christian/Wienand, Johannes/Winkler, Christiane (Hrsg.): Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, Wiesbaden, 9-11. Azzaoui, Mounir, 2010: Auf die Moscheen bauen, Kommentar in die tageszeitung (taz) vom 22. März 2010. [URL: http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/aufdie-moscheen-bauen/] (14.08.2010). Berliner Zeitung vom 14.07.2010. [URL: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/ archiv/.bin/dump.fcgi/2010/0714/politik/0155/index.html] (17.08.2010). Bertelsmann Stiftung, 2008: Religionsmonitor 2008, Muslimische Religiosität in Deutschland, Gütersloh. [URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID2F4377F6-2D3CE530/bst/xcms_bst_dms_25864_25865_2.pdf] (20.8.2010). Bielefeldt, Heiner, 2008: Das Islambild in Deutschland, Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Berlin. Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars, 2004: Local Governance und gesellschaftliche Integration, in: Lange, Stefan/Schimank, Uwe (Hrsg.): Governance und gesellschaftliche Integration, Wiesbaden, 147-166. Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter, 2006: Muslime in Deutschland, Berlin. [URL: http:// www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/139732/publicationFile/14975/Muslime %20in%20Deutschland.pdf] (20.8.2010). De Maizière, Thomas, 2009: „Der Islam ist uns willkommen“, Ein CDU-Innenminister, der wie ein Grüner klingt: Thomas de Maizière will Sicherheit vermitteln, Imame ausbilden und von der Internetszene lernen, in: Die Zeit Nr. 50 vom 3. Dezember 2009, 8. De Maizière, Thomas, 2010: „Auch am Küchentisch diskutieren“, Minister de Maizière zur anstehenden Islamkonferenz, Interview mit domradio.de vom 10.05.2010. [URL: http://www.domradio.de/aktuell/63752/auch-am-kuechentisch-diskutieren. html] (17.08.2010). DITIB [URL: http://www.ditib.de/default.php?id=5&lang=de] (17.08.2010). Eickhof, Ilka, 2010: Antimuslimischer Rassismus in Deutschland, Theoretische Überlegungen, Berlin. Exzellenzcluster Religion und Politik [URL: http://www.uni-muenster.de/Religion-undPolitik/aktuelles/2010/aug/PM_Ankuendigung_Emnid_Umfrage.html] (13.08.2010). Gabriel, Karl, 2009: Religionspluralismus in westeuropäischen Gesellschaften als Herausforderung für die christlichen Kirchen, in: Könemann, Judith/Loretan, Adrian (Hrsg.): Religiöse Vielfalt und der Religionsfrieden, Herausforderungen für die christlichen Kirchen, Zürich, 15-30.
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Implikationen aus dem Verhältnis von Politik und Islam
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Hendrik Meyer/Klaus Schubert
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Autorenverzeichnis
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Autorenverzeichnis
Mounir Azzaoui, M.A., ist ehemaliger Pressesprecher des Zentralrats der Muslime und Mitbegründer des „Arbeitskreises Grüner MuslimInnen“. Von 2006 bis 2008 arbeitete er in der Deutschen Islamkonferenz als Vertreter des Zentralrats der Muslime in Deutschland mit. Im Rahmen seiner Promotion forschte er an der Georgetown University in Washington DC und der RWTH Aachen zu amerikanisch-muslimischen Interessenorganisationen. Heiner Bielefeldt, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit Juni 2010 ist Bielefeldt Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit des UN-Menschenrechtsrats. Andreas Blätte, Prof. Dr., ist Juniorprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die NRWLandespolitik und bundesländervergleichende Politikforschung, politische Steuerung und Governance im Mehrebenensystem, Politikbereiche mit Querschnittscharakter, insb. Migrations- und Integrationspolitik sowie Neoinstitutionalismus. Reinhard Busch ist Jurist und Ministerialrat im Bundesministerium des Innern in Berlin. Er ist seit 2006 verantwortlich für die Deutsche Islam Konferenz und den Interkulturellen Dialog. Raida Chbib, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und wirkt an der DFG-Forschergruppe zur „Transformation von Religion in der Moderne“ im Teilprojekt „Religion und Migration“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien mit. Im Rahmen des Forschungsvorhabens zur Erhebung und Untersuchung der Religiösen Vielfalt in Nordrhein-Westfalen war sie zuvor für den Bereich „Muslimische Gemeinschaften in NRW“ zuständig. Claudia Diehl, Prof. Dr., ist seit 2009 Professorin für Migration und Ethnizität an der Universität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Integrationsprozesse von Einwanderern, Migration sowie politische Partizipation und soziale Bewegungen. H. Meyer, K. Schubert (Hrsg.), Politik und Islam, DOI 10.1007/978-3-531-93022-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Norbert Gestring, Dr., ist Stadtsoziologe und vertritt zurzeit die Professur für Stadtforschung an der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Stadtentwicklung, Migration und Integration sowie Sozialstruktur der Städte. Gabriel Goltz, M.A., ist Islamwissenschaftler und im Bundesministerium des Innern u.a. für die Deutsche Islam Konferenz zuständig. Dirk Halm, PD Dr., ist wissenschaftlicher Angestellter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) an der Universität DuisburgEssen sowie Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migration und Sozialstruktur, Zivilgesellschaft und Einwanderung, Islam in westlichen politischen Systemen. Matthias Koenig, Prof. Dr., ist seit 2006 Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Religionssoziologie an der Universität Göttingen. Matthias Kortmann, Dr., ist Politikwissenschaftler und Postdoktorand im Graduiertenkolleg „Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. In seiner Dissertation vergleicht er das Selbstverständnis, die Strategien und das Integrationsverständnis von (muslimischen) Migrantenverbänden in Deutschland und den Niederlanden vor dem Hintergrund unterschiedlicher nationaler Political Opportunity Structures. Hendrik Meyer, M.A., ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Exzellenzcluster Religion und Politik“ der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster und arbeitet dort im Projekt „Der Koordinationsrat der Muslime – Integration durch politische Steuerung?“ Kerstin Rosenow, Dipl. Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2007-2010 war sie Doktorandin der Ruhr-University Research School und Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung der Fakultät für Sozialwissenschaften. Ihre Dissertation analysiert das Verhalten muslimischer Dachverbände in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus organisationssoziologischer Perspektive. Klaus Schubert, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Politik und Politikfeldanalyse und Leiter des Projektes „Der Koordinationsrat der Muslime – Integration durch politische Steuerung?“ im Exzellenzcluster Religion und Politik.
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Levent Tezcan, Dr., ist Assistenzprofessor in der Abteilung Kulturstudien an der Universität Tilburg in den Niederlanden und war Mitglied der ersten Phase der Deutschen Islam Konferenz. Er hat bisher zu Modernisierung in der Türkei, Islamismus sowie zum Themenkomplex Migration, Religion und Integration in Deutschland geforscht. Haci-Halil Uslucan, Prof. Dr., ist seit 2010 wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) sowie Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. psychosoziale Belastungen von Migrantenfamilien sowie religiöse Sozialisationsmuster und -felder.