Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 655 Die Namenlose Zone
Exitus der Grenzwächter von Falk‐Ingo Klee
Ein Rob...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 655 Die Namenlose Zone
Exitus der Grenzwächter von Falk‐Ingo Klee
Ein Roboter kämpft für die Freiheit
Es geschah im April 3808. Die endgültige Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Positiven, hauptsächlich repräsentiert durch Atlan und die Solaner, und zwischen Anti‐ES und seinen unfreiwilligen Helfern, vollzog sich in Bars‐2‐Bars, der künstlich geschaffenen Doppelgalaxis. Dieser Entscheidungskampf geht überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wird gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entsteht ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agieren wird. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß in Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐ Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen und sich mit deren Rätseln und Schrecken auseinanderzusetzen. Und so dringt Atlan mit der MJAILAM erneut in das Gebiet vor, das einstmals der Verbannungsort von Anti‐ES war – und er erlebt den EXITUS DER GRENZWÄCHTER …
Die Hauptpersonen des Romans: Blödel ‐ Der Roboter wagt einen Alleingang. Daug‐Enn‐Daug und Ehennesi ‐ Zwei Emulatoren. Atlan ‐ Der Arkonide im Kampf mit Robotern. Kioltonn ‐ Ein Grenzwächter erfährt die Wahrheit. Tizzel ‐ Ein Zwerg im Leib eines Riesen.
1. Atlan und seine Begleiter hatten ihr kärgliches Mahl beendet und sich etwas von den Emulatoren abgesondert. Etliche Solaner dösten vor sich hin, andere versuchten, die Zeit mit selbstgebastelten Spielen totzuschlagen. Mit besonderen Problemen hatten die fünf Buhrlos zu kämpfen, denen der Weltraum fehlte. Ihre körperliche Verfassung war nicht sonderlich gut, doch noch schlimmer mußte es um ihre Psyche bestellt sein. Er verging keine Nacht, in der sie nicht die anderen mit ihrem Geschrei aus dem Schlaf rissen. Sie waren wirklich bedauernswerte Geschöpfe, denen der Zwangsaufenthalt auf Rostbraun von allen Besatzungsmitgliedern mit MJAILAM am meisten zu schaffen machte. Aber auch die Moral der übrigen Männer und Frauen ließ zu wünschen übrig. Die tatenlose Warterei machte sie reizbar. Hinzu kam die Ungewißheit über das Schicksal der SOL und das ihres eigenen Kreuzers. Obwohl sie nicht völlig ohne Ausrüstung waren, hatten sie keine Möglichkeit, etwas an ihrer derzeitigen Situation zu ändern. Die Aussicht, bis ans Ende ihrer Tage hier dahinvegetieren zu müssen, war dazu angetan, selbst bei robusten Naturen allmähliche Verzweiflung hervorzurufen. Der Arkonide beobachtete diese Entwicklung mit Sorge, doch ihm waren die Hände gebunden. Er konnte nur versuchen, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Ganz selbstverständlich hatte sich Nockemann zu dem Aktivatorträger und Tyari gesetzt. Ticker hockte auf einer Bodenerhebung und hatte den Kopf unter die Flügel gesteckt. »Seit zwei Wochen fristen wir jetzt schon dieses kümmerliche Dasein«, grollte der Genetiker. »Allmählich sinkt die Stimmung auf den Nullpunkt.« »Ich bin mir der Problematik durchaus bewußt, aber was soll ich tun?« »Irgend etwas müssen wir unternehmen.« Der Wissenschaftler schlug mit der Faust auf den Boden. »Mir geht diese tatenlose Warterei auf die Nerven. Das hier ist kein Ort für einen Scientologen.« »Ich kann mir auch einen angenehmeren Aufenthaltsort vorstellen.« Atlan wurde sarkastisch. »Aber soll ich den Leuten sagen, daß sie sich in eine Phantasiewelt flüchten sollen? Oder soll ich sie zu albernen Spielchen anhalten? Vielleicht Tauziehen oder Sackhüpfen?« Verdutzt starrte Nockemann sein Gegenüber an. »Sackhüpfen? Wie kommst du ausgerechnet darauf?« Er blickte an sich herunter. »Spielst du damit etwa auf meine Jacke an?« »Nein, es kam mir gerade so in den Sinn.« Der kauzige Forscher kniff die Augen zusammen und fixierte den Unsterblichen. »Unbewußt hast du ein Wort ausgesprochen, einen Begriff, den dir dein Verstand vorgegeben hat. Und wie kommen deine kleinen grauen Zellen darauf? Durch eine Assoziation. Ärmel – Tau, Jacke – Sack. Zack!« »Aber Hage …« »Nein, nicht mit mir. Wer meine Kleidung beleidigt, beleidigt auch mich. Ende der Diskussion.« »Sei doch nicht gleich eingeschnappt. Ich versichere dir, daß es mir fern lag, dich kränken zu wollen.« Der Wissenschaftler ignorierte den Arkoniden so demonstrativ, daß jeder andere wütend geworden wäre.
»Wo steckt überhaupt Blödel?« versuchte Tyari abzulenken. Dankbar griff der Galakto‐Genetiker das Thema auf. »Angeblich will er die Gegend erkunden. Wahrscheinlich kriecht er irgendwo herum und versucht, seine kümmerlichen Botanikkenntnisse zu verbessern. Dabei bringt das weder ihm noch uns etwas.« »Immerhin versucht er, sich sinnvoll zu beschäftigen.« »Und ich als sein Chef lungere einfach so herum – das wolltest du damit doch ausdrücken, nicht wahr?« Wutentbrannt erhob sich Nockemann. »Schmiedet nur weiter Komplotte, ihr zwei. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, stürmte er davon. »Warum ist er denn auf einmal so empfindlich?« in Tyaris Stimme schwang Verwunderung mit. »Ich habe doch wirklich nichts gesagt, was ihn verletzen könnte.« Der Aktivatorträger seufzte. »Er ist nicht der einzige, welcher so reagiert. Die innere Anspannung ist dafür verantwortlich, und ich fürchte, es wird noch schlimmer kommen.« Das ist richtig, kommentierte der Extrasinn. Noch ist deine Autorität ungebrochen, doch auf die Dauer wirst du die Entwicklung nicht aufhalten können. Aus einem nahe gelegenen Gebüsch war ein Rascheln zu hören. Atlan fuhr herum, doch er entspannte sich sogleich wieder. Wer sich da durchs Geäst zwängte, war niemand, den sie zu fürchten hatten. Lässig winkend schob sich die mobile Laborpositronik durchs Blattwerk. »Was ist denn mit dem Chef los? Er hat doch sonst nichts für körperliche Ertüchtigung übrig, und nun rennt er, als wollte er SOL‐ Meister im Sprint werden.« »Hage hat sich über uns geärgert.« Die Frau lächelte. »Nimmst du auch jedes Wort krumm?« »Warum sollte ich? Wie ihr wißt, bin ich geistig belastbar bis zur
Selbstabschaltung.« Der Roboter, der mittlerweile herangekommen war, beugte sich vor und flüsterte mit seiner knarrenden Stimme: »Da das bisher noch nicht vorgekommen ist, vermute ich fast, daß ich gegen alle Eventualitäten gefeit bin. Selbst Wahnsinn hoch vier verkrafte ich.« »Und was ist Wahnsinn hoch vier?« »Keine Ahnung. Weiter als bis zur dritten Potenz hat meine Erlebnisskala bisher noch nicht ausgeschlagen.« »Von deiner Sorte könnten wir jetzt mehr gebrauchen«, sagte der Arkonide leicht amüsiert. »Aber Atlan«, tat Blödel entsetzt. »So etwas darfst du nicht einmal denken. Ich bin Unikat. Nie wieder wird es einen Scientologen von meinem Format geben.« »Wie war eigentlich dein Bio‐Trip?« erkundigte sich Tyari. »Wieso Bio‐Trip?« »Nun, Hage sprach davon, daß du die hiesige Flora untersuchen wolltest.« »Ja, ganz recht. Sehr interessant die Pflanzen. Was da so alles still vor sich hin wächst … Doch nun entschuldigt mich, ich will mal nach meinem Chef sehen.« Spornstreichs eilte er davon. Kopfschüttelnd blickte die Frau ihm nach. »Botanische Begeisterung habe ich mir aber anders vorgestellt.« Atlan gab keine Antwort, weil Vorlan Brick aufgeregt winkend angerannt kam. Der Unsterbliche erhob sich. »Was gibt es?« Der dunkelhäutige Pilot blieb schnaufend stehen. »Die Roboter sind wieder aufgetaucht. Sie führen jemanden mit sich. Und ich bin mir ganz sicher, daß er zu einem Volk gehört, dem wir schon einmal begegnet sind. Komm, sieh selbst!« Hastig folgte der Aktivatorträger dem vorauslaufenden Solaner. Die Ankündigung Bricks hatte ihn neugierig gemacht, gleichzeitig aber auch sein Mißtrauen geweckt. Die Emulatoren, deren
Bekanntschaft man im Lager gemacht hatte – auch negativer Art – gehörten allesamt Rassen an, die ihm und den Solanern völlig unbekannt waren. Wie kam es, daß ausgerechnet jetzt ein Angehöriger einer Spezies, die sie kannten, gefangengenommen worden war? Hatte dieser Zufall einen Namen? Was steckte dahinter? Der von Vorlan beobachtete Trupp hatte eine Strauchgruppe umrundet und geriet nun wieder ins Blickfeld. Atlan schenkte den Automaten, die aussahen, als wären sie aus Schrott zusammengesetzt, kaum Beachtung, um so eingehender musterte er das Wesen, das sich bei ihnen befand. Der Fremde war insektoid, etwa 1,80 Meter groß und unbekleidet. Er erinnerte mit seinem mahagonifarbenen Körper an eine überdimensionale, aufrecht auf zwei Beinen gehende Ameise; darauf deutete auch der Chitinpanzer hin. Die beiden Armpaare endeten in kleinen Zangen. Der Kopf trug zwei dreißig Zentimeter lange, borstenartige Fühler, doch am auffälligsten waren die irisierenden Facettenaugen. Ausrüstung trug der Insektoide nicht bei sich. Die Schlaufen, die an einem um den Leib geschlungenen Gürtel befestigt waren, baumelten nutzlos herum. »Aber das ist ja ein Vulnurer!« rief Atlan überrascht. »Wie kommt denn ein Bekehrer zu diesem Planeten?« Darauf wußte selbst der Logiksektor keine Antwort. * Blödel hatte keineswegs seine Vorliebe für Botanik entdeckt, wie Nockemann glaubte, und er hatte auch keine Exkursionen unternommen, um Rostbrauns Flora zu studieren, im Gegenteil. Zusammen mit Wuschel hatte er in aller Heimlichkeit aus Teilen hier verrottender Raumschiffe ein Kostüm besonderer Art
hergestellt. Es bestand aus Metallstücken und rostigem Blech, die der Roboter miteinander zu einer Art Kokon verbunden hatte. Mit seinen Möglichkeiten war es ihm nicht schwergefallen, Kunststoffreste molekular so umzuwandeln, daß aus ihnen ein hochwertiger Kleber wurde, der auch Legierungen fest miteinander verschweißte. Diese Maske war die Voraussetzung für einen verrückten Plan, den die mobile Laborpositronik in die Tat umsetzen wollte. Daß er sich Tyari gegenüber so merkwürdig artikuliert hatte, war leicht erklärlich. Über Funk hatte er die Annäherung der fremden Automaten mitbekommen und gleichzeitig an der Entschlüsselung der fremden Symbole gearbeitet. Da er wußte, daß er eine gewisse Narrenfreiheit hatte, gab er sich wunderlich. Mit der Ausrede, sich um den Galakto‐Genetiker kümmern zu wollen, hatte er einen triftigen Grund, sich schnell entfernen zu können, ohne Argwohn zu erregen. Natürlich suchte er nicht nach dem Wissenschaftler, sondern schlug sich in die Büsche, nachdem er außer Sichtweite war. Er eilte spornstreichs zu der Stelle, wo er sein Kostüm versteckt hatte und streifte es über. Es war ein Mittelding aus einer skurrilen Plastik, dem Roboter Romeo, einer defekten Ritterrüstung und der Tanzmaske eines afrikanischen Medizinmanns. »Verschönert« wurde dieses Gebilde von aufgenieteten Stahlplatten mit scharfkantigen Rändern, verbogenen Drähten am Kopf und aufgesetzten Rohrstücken an Brust und Rücken. Blödel, der nun rein äußerlich einem der hier agierenden Robotertypen aufs Haar glich, schlich sich unbemerkt an die anderen Automaten heran. Wie Atlan und Brick identifizierte er den neuen Gefangenen eindeutig als Vulnurer. Zu gerne hätte er etwas über dessen Schicksal erfahren, doch das hätte bedeutet, daß er die Realisierung seiner Idee verschieben mußte. Die Solaner und der Arkonide waren mit dem Neuankömmling beschäftigt, so daß sein Verschwinden vorerst kaum auffiel. Ein unkalkulierbares Risiko
bildeten die Roboter, die ihre Aufgabe erfüllt hatten und sich zum Rückzug formierten. Die mobile Laborpositronik hatte sich auf die Kommunikation der fremden Automaten eingestellt. Da sie den Kode ermittelt hatte, konnte sie die Funkdaten nicht nur empfangen, sondern auch verstehen und sich selbst auf dieser Basis mitteilen. So entging ihr nicht der Befehl des Leitroboters Tonn‐Eins zum Abmarsch. Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Hastig verließ Blödel sein Versteck hinter mannshohen Stauden und fremdartigen Gewächsen und reihte sich einfach in die lockere Marschordnung ein. Frechheit siegt, war seine Devise. Tatsächlich blieb er unbehelligt. Weder Tonn‐Eins noch die anderen bemerkten den Vorstoß, keiner durchschaute seine Tarnung, niemandem fiel auf, daß ihre Zahl plötzlich größer geworden war. Im sturen Trott der Maschinen legte der Scientologe Meter um Meter zurück. Gemeinsam mit den anderen näherte er sich der unsichtbaren Sperre, die sich für die Solaner als undurchdringlich erwiesen hatte. So unauffällig wie möglich studierte der Roboter die Automaten, kopierte ihre Art der Fortbewegung und ahmte ihre Gesten und Bewegungen nach, um sich nicht zu verraten. »Kioltonn befiehlt, anzuhalten!« Abrupt stoppte der Trupp und mit ihm der Scientologe. Die an Vogelscheuchen aus Metall erinnernden Roboter standen so unbeweglich, als wenn sie desaktiviert worden wären. Die Anweisung des Anführers ließ nur den Schluß zu, daß der Grenzwächter selbst die ganze Aktion steuerte und Tonn‐Eins nur als Vermittler fungierte. Er mußte mit Kioltonn in direkter Verbindung stehen, ohne daß es für Blödel erkennbar war, wie ein solcher Dialog zustande kam. Außer der Order des Leitroboters hatte er keine weiteren drahtlosen Impulse empfangen. Möglicherweise verfügte die Maschine über eine besondere Anlage oder ein Spezialgerät, das auf einer unbekannten Frequenz arbeitete.
»Weiter!« Wie eine Herde Schafe folgten die Maschinen Tonn‐Eins. Natürlich hatten Roboter zu gehorchen, aber allmählich kamen sie der mobilen Laborpositronik wie stupide Befehlsempfänger ohne jegliche Eigeninitiative vor. Optisch war nichts auszumachen, aber Blödel hatte ermittelt, daß sich unmittelbar vor ihnen die energetische Kuppelwand befand. Der Leitroboter mußte sie bereits passiert haben, und auch die anderen gelangten anstandslos hindurch, aber für Nockemanns Assistenten bestand das Risiko, daß eine wie auch immer geartete Überwachungseinheit ihn entlarvte. Die Hülle war perfekt, doch das Innenleben konnte ihn verraten. Dennoch zögerte Blödel keinen Moment. Umgeben von drei »Artgenossen« schritt er mutig voran, jederzeit darauf gefaßt, zurückgeschleudert zu werden. Seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Ungehindert entkam er dem Gefängnis und marschierte weiter. Die Vegetationsinsel blieb hinter ihnen zurück und damit auch das Lager, in dem Atlan, sein Team, die Besatzung der MJAILAM und die Emulatoren gefangengehalten wurden. Der erste Teil seines Plans war erfolgreich verlaufen, doch die wiedergewonnene Freiheit war auch nur relativ. Er konnte sich nicht entfernen, ohne aufzufallen, denn es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verbergen. So weit das Auge reichte, war nichts als Wüste zu sehen. Hier und da trotzten einige Pflanzen der lebensfeindlichen Umwelt, aber meist waren es kümmerliche Exemplare. »Stop! Eintauchen!« Der Scientologe entschlüsselte die Funksymbole auf Anhieb, und gleich darauf erkannte er auch den Sinn des Befehls: Die aufgesetzten Platten und anderer vermeintlicher Zierrat, wurden abgewinkelt und verwandelten die Automaten äußerlich in eine Art riesigen Drillbohrer. Gleichzeitig rotierten sie um ihre eigene Achse und schraubten sich so regelrecht in den Sandboden, allen voran Tonn‐Eins.
Damit konnte Blödel natürlich nicht aufwarten, aber er hatte ja Wuschel dabei. In weiser Voraussicht hatte der solanische Roboter eine kabelgebundene Sende‐ und Empfangseinheit in jenem Fach seines Körpers installiert, die dem Bakwer als Unterkunft diente. So war er in der Lage, sich jederzeit mit dem Allesfresser zu verständigen, ohne daß Dritte das Gespräch abhören konnten. »Wuschel, du mußt eingreifen! Grabe uns in den Sand ein!« Durch die Montur verborgen, verließ das Pelzwesen blitzschnell sein Versteck und machte sich an die Arbeit. Er verzehrte das pulverisierte Gestein mit einer Geschwindigkeit, daß der Scientologe förmlich nach unten wegsackte, dabei aber nicht untätig blieb. Zusätzlich half er mit Chemikalien nach, so daß er sicher sein konnte, den Vorsprung der anderen Automaten aufzuholen. Seltsam war es schon, sich wie ein Wurm durch das Erdreich zu bohren, schließlich gab es bequemere Arten der Fortbewegung. Daß Tonn‐Eins und seine Truppe dennoch diesen mühseligen Weg wählten, mußte einen besonderen Grund haben, dabei schloß Blödel aus, daß es ihnen einfach nur darum ging, sich zu verbergen und erst beim nächsten Auftrag wieder aufzutauchen. Viel wahrscheinlicher war, daß es so etwas wie eine subplanetare Basis gab, vielleicht sogar eine Einsatzzentrale. Zu gerne hätte er gewußt, was ihn erwartete, aber der Roboter hütete sich, sein technisches Reservoir einzusetzen. Zu leicht konnte ihm die Aktivierung von Tastern und anderen Ortungseinrichtungen zum Verhängnis werden. Wie ein Körnchen in einer Eieruhr rutschte Blödel nach unten. Sehen konnte er nichts, um ihn herum war es stockfinster, aber überschlägig berechnet mußte er sich mittlerweile drei Meter unter der Oberfläche befinden. Die Sinkgeschwindigkeit verminderte sich, weil der Bakwer in seine Unterkunft zurückkehrte. »Ich bin auf ein Energiefeld gestoßen«, berichtete er. »Soll ich ein Loch hineinfressen?« »Nein, warte.«
Die mobile Laborpositronik hatte es mit ihren Passivsensoren ebenfalls ausgemacht und als nicht gefährlich eingestuft. Es verhielt sich etwa so wie die Wasseroberfläche, in die ein Schwimmer eintaucht. Wie eine zweite Haut schmiegte sich die eigenartige Energieform an ihn, ohne seinen Leib ganz zu umschließen. Stück für Stück glitt er durch das eigenartige Medium hindurch, seine Füße spürten keinen Widerstand mehr. Etwas verminderte sein Gewicht, dann setzte er sanft auf. Er stand in einem erleuchteten Gang. Links und rechts von ihm sanken die grotesken Gestalten nach unten. Der Roboter blickte unauffällig zur Decke. Sie wirkte massiv, war es jedoch nicht. Beine stießen durch sie hindurch, dann folgte der restliche Körper, der vorher nicht zu sehen gewesen war. Es hatte den Anschein, daß diese sicherlich einigen Aufwand erfordernde Einrichtung einzig und allein dazu diente, das Eindringen von Sand zu verhindern. Eine Schleuse mit einem Gebläse oder einer Absaugvorrichtung wäre wesentlich einfacher zu betreiben gewesen und hätte die gleichen Dienste getan, aber man hatte eine kompliziertere Methode gewählt. Das gab ihm zu denken. Der breite Flur, in dem sie gelandet waren, war nicht ein schlichter Korridor, der nur als Verbindungsweg diente, sondern ein Gang, der vollgestopft war mit Technik. Schnurdünne Lichtbänder waren oben und unten an den Wänden so raffiniert angebracht, daß sie den quadratischen Tunnel in schattenlose Helligkeit tauchten. An der rechten Seite zog sich eine durchgehende Sockelleiste in halber Höhe entlang. Sie war transparent. Module und schimmernde Glasfaserkabel waren darin zu erkennen, aber auch fremdartige Elemente, deren Aussehen keinen Rückschluß auf ihre Funktion erlaubte. Auf dem durchsichtigen Quader befanden sich in unregelmäßigen Abständen facettenartig geschliffene Kristalle, die im Ultraviolettbereich strahlten. Neben ihnen befanden sich exotische Anhängsel in allen Farben des Spektrums, die in Größe und Form einem gekrümmten menschlichen Finger »glichen«.
Gegenüber war die Wand nicht glatt, sondern immer wieder von Nischen unterbrochen. In einigen standen zierliche Geräte, die mit Türmchen und Erkern versehen und so anmutig gestaltet waren wie Exponate aus der Zeit des Rokoko, daneben gab es nüchternsachliche Klötze, formenstreng und nach rein mathematischen Grundsätzen gestylt. Wieder andere ließen deutlich erkennen, daß sie ausschließlich nach dem Funktionsprinzip gebaut worden waren. Es drängte sich regelrecht der Eindruck auf, daß diese Anlagen aus unterschiedlichen Epochen stammten, doch dem stand gegenüber, daß alle in Betrieb waren. »Folgt mir!« Tonn‐Eins setzte sich an die Spitze und führte die Roboter durch den Gang. Die wandelnden Schrotthaufen wirkten in dieser Umgebung geradezu anachronistisch. Der Scientologe setzte sich als letzter in Bewegung. Er wollte nicht nur die Umgebung studieren, sondern auch den anderen den Vortritt lassen, um aus ihrem Verhalten Schlüsse ziehen zu können, die für ihn von Nutzen sein konnten. Obwohl Blödel sich auf fremdem Gebiet bewegte, fühlte er sich sicher, sogar überlegen. Er war nicht an Anweisungen gebunden, die jeden Schritt vorschrieben, er konnte nach Lage der Dinge selbst entscheiden. Doch dann bekam sein Selbstwertgefühl einen argen Dämpfer – Tonn‐Eins führte die Kolonne zu einer Ausbuchtung, in der eine große Maschine stand. Ein buntes Lichtband mit rasch wechselnden Farbnuancen zeigte, daß sie aktiviert war. Sie war in giftigem Grün gehalten und stach damit deutlich vom sanften Bronzeton sowohl des Hintergrunds als auch des Korridors ab. Auf den ersten Blick wirkte der Koloß wie ein zerklüftetes Bergmassiv, doch bei genauerem Hinsehen entpuppte sich das Monstrum als eine Einheit, die trotz aller Fremdartigkeit verschiedene Details aufwies, die gewisse Ähnlichkeit mit Produkten solanischer Fertigung hatten. Neben dem Giganten entstand aus dem Nichts heraus eine Art
Portal, silbrig schimmernd und scheinbar aus unzähligen Tropfen zusammengesetzt, das Tonn‐Eins als erster passierte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu erstarren, dann bewegte er sich auf ein Oval zu, das einfach im Raum stand. Es war weder Bild noch Spiegel, ein konkreter Hintergrund war nicht zu erkennen, statt dessen füllte wesenloses Wallen den eiförmigen Rahmen aus. Ohne zu zögern stapfte der Leitrobot voran und drang in das Feld ein. Es verschluckte ihn auf der Stelle. Blödel fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt: Diese Maschine war so etwas wie ein Transmitter, doch sie war kein simples Beförderungselement, sondern zugleich eine Kontrolleinheit und damit Teil eines Sicherheitssystems, das mittels Tests das Eindringen Fremder verhindern sollte. Diesmal würde ihm seine Verkleidung nicht weiterhelfen. Nacheinander entmaterialisierten die anderen Maschinen. Verständlicherweise hatte es die mobile Laborpositronik nicht eilig, durchgecheckt zu werden. Sie stellte sich als letzte in die Reihe der Wartenden und rückte immer ein Stück vor sie die noch verbliebenen Automaten. Schon waren nur noch zwei vor ihr. »Wuschel, halte dich für einen Einsatz bereit!« Das vorletzte Synthowesen wurde entstofflicht. Eigentlich hätte der Scientologe nun den schimmernden Rahmen durchschreiten müssen, doch er blieb einfach stehen. Der andere Roboter kümmerte sich nicht darum. Stur marschierte er weiter und verschwand in dem wesenlosen Wallen. »Los jetzt! Versuche, ob du das Portal anknabbern kannst!« Wie ein geölter Blitz sauste das nur acht Zentimeter durchmessende Pelzwesen mit dem blauschwarzen Fell aus seinem Fach und machte sich über einen Schenkel des ungewöhnlichen Durchgangs her. Die geordnete Formation der silbrigen Tropfen wurde jäh unterbrochen. Wie Kohlensäurebläschen im Mineralwasser stiegen unablässig schimmernde Perlen nach oben, um die Lücke zu schließen, doch die Kügelchen verschwanden alle
im Körper des schier unersättlichen Bakwers. Damit nicht genug, nahm er noch ein weiteres Stück des Portals in sich auf. Um was auch immer es sich handeln mochte – der Metabolismus des Allesfressers wurde damit fertig. Der Tanz der Silberbällchen wurde unregelmäßig und unkontrolliert. Blödel sah seine Chance. »Laß es gut sein, Wuschel!« Wieder einmal mehr zeigte sich, welch ein eingespieltes Team die beiden waren. Der Roboter stürmte heran, nahm den Bakwer, der bis zuletzt die Tropfen verzehrte, im Laufen auf und rannte durch die Testöffnung. Sein Plan ging auf. Die aus ihrem Programmrhythmus gebrachte Maschine machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten, ließ den Transmitter jedoch eingeschaltet. Der offensichtliche Defekt der Prüfvorrichtung schien nicht so gravierend zu sein, daß sich die komplette Anlage desaktivierte, zudem mußte der Koloß über eine wie auch immer geartete Wahrnehmungseinrichtung verfügen, die ihm signalisierte, daß noch eine Einheit abgestrahlt werden mußte. Der Scientologe wartete nicht ab, ob und wann das Kontrollelement oder die Steuerpositronik den Grund für die Störung herausfand. Er verminderte seine Geschwindigkeit, um die Gegenstelle nicht mit auffälligem Tempo zu verlassen, half dem Allesfresser gleichzeitig, sich wieder zu verbergen und betrat das Oval. Auch er wurde entstofflicht, gleich darauf erlosch das Transportfeld. 2. Das Wesen; das Atlan als Vulnurer identifiziert hatte, gab einige Laute von sich, die wie das Zirpen einer Grille klangen. Wenn es noch einer Bestätigung bedurft hätte, daß es sich bei diesem Geschöpf wirklich um einen Bekehrer handelte, dann waren es diese
Töne. »Verstehst du mich?« erkundigte sich Brick anstelle einer Begrüßung voll Ungeduld. Der Insektoide bewegte die Fühler und schien dem Klang der Stimme zu lauschen. Er gab einige Zwitscherlaute von sich, die den Männern jedoch nichts sagten. Der Aktivatorträger versuchte, das Verständigungsproblem auf andere Art und Weise zu lösen. Er bediente sich des Idioms der hier lebenden Emulatoren. Offensichtlich handelte es sich dabei um eine Kunstsprache, denn sie wurde von den einzelnen Gefangenen unterschiedlich artikuliert. Dank seines fotografischen Gedächtnisses war es dem Arkoniden nicht schwergefallen, diese Sprache binnen kurzem zu beherrschen. Dabei hatte er sich bemüht, sie rein und ohne Dialektfärbungen zu erlernen. Ob ihm das gelungen war, wußte er natürlich nicht. Die Vermutung, daß es sich um eine synthetische Sprache handelte, irritierte Atlan nicht. Wenn raumfahrende Rassen unterschiedlicher Herkunft sich begegneten, dann ließ es sich zumeist nicht umgehen, ein gemeinsames Kommunikationsmittel zu finden. Und da die Vulnurer bei ihrer Suche nach der Lichtquelle und ihren Bekehrungsversuchen ständig unterwegs waren und zugleich zahlreichen anderen Völkern begegneten, bestand durchaus die Möglichkeit, daß dieses Vokabular verstanden wurde. »Ich hätte es lieber gesehen, einen Verbündeten unter anderen Umständen zu treffen, dennoch begrüße ich dich – auch im Namen aller Solaner, die hier festgehalten werden. Sei willkommen, Freund!« Wieder antwortete der Bekehrer mit Zirpen. »Er versteht dich auch nicht. Möglicherweise handelt es sich um ein Exemplar seiner Art, das nicht sonderlich intelligent ist.« »Daß der Name auf seinem Brustpanzer nicht eingebrannt ist, besagt zwar, daß er zur vierten und damit zur untersten Kaste gehört, aber es ist keine Wertung, was die besonderen Fähigkeiten
dieses Volkes betrifft. Jeden Vulnurer kann man fast als natürlichen Translator bezeichnen. Du wirst sehen, daß wir uns schon in wenigen Minuten miteinander verständigen können. Er muß nur erst einmal mit den Grundlagen vertraut sein.« Erneut benutzte der Arkonide das Idiom der Emulatoren und zeigte auf den Solaner. »Das ist Vorlan. Ich bin Atlan.« »Warum willst du ihm dieses Kauderwelsch beibringen?« erkundigte sich Brick ein wenig ungehalten. »Weil ihm das in seiner jetzigen Situation nützlicher sein wird als unsere Sprache.« Er wandte sich wieder dem Insektoiden zu. »Erinnerst du dich noch an uns? Vor knapp vier Jahren sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Vielleicht nicht persönlich, aber unsere Schiffe und ihre Besatzungen. Oder warst du damals noch nicht auf der Welt?« Der Aktivatorträger erinnerte sich daran, daß die Lebensspanne dieser Weltraumbewohner recht kurz war. In der Regel wurden sie nicht älter als zehn Standardjahre, so daß nicht ausgeschlossen war, daß dieser Kontakt damals für ihn unbekannt oder schon Legende war. »Wir kommen von der SOL und sind Freunde.« »SOL, Freunde«, radebrechte das vierarmige Geschöpf. »Vorlan, Atlan.« Der Unsterbliche warf dem Piloten einen triumphierenden Blick zu, den dieser mit einem Schulterzucken beantwortete. »Das ist Vorlan.« Abermals deutete Atlan auf seinen dunkelhäutigen Begleiter. »Er heißt Vorlan – das ist sein Name. Wie lautet dein Name?« »Name ist Daug‐Enn‐Daug.« Ein wenig verwundert betrachtete der Arkonide sein Gegenüber. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Bekehrer so hieß. Alle Vulnurer, die er kannte, hörten nur auf einen Namen. »Du heißt Daug‐Enn‐Daug?« vergewisserte er sich.
»Das ist Vorlan, du Atlan, ich Daug‐Enn‐Daug.« Die Antwort war eindeutig, eine Fehlinterpretation war somit ausgeschlossen. Sollte der Insektoide vielleicht nicht ganz richtig im Oberstübchen sein, wie es Vorlan indirekt angedeutet hatte? Oder hatten sich wie auf der SOL auch bei den Vulnurern Gruppen gebildet, die mit den Traditionen brachen und andere Ziele verfolgten als die Führung? Auszuschließen war das nicht. Aber wie kam ein einzelner Bekehrer hierher? Ob er mit einem Beiboot unterwegs gewesen und die gleichen Erfahrungen gemacht hatte wie die Besatzung der MJAILAM? »Da kommt Ehennesi«, raunte Brick. Atlan blickte zur Seite. Mit gemächlichem Schritt näherte sich der Emulator der Zhu‐Umlat, der nach eigenem Bekunden noch älter war als der Arkonide. Er mußte mitbekommen haben, daß die Roboter einen neuen Gefangenen gebracht hatten. Ehennesi ähnelte in gewisser Weise einem aufrechtgehenden Bären mit vier Beinen und acht Armen. Vier Extremitäten waren an jeder Seite untereinander angeordnet, die paarigen Gehwerkzeuge hintereinander. Der Kopf glich dem eines haarlosen Menschen, doch die Augen fehlten. Ein umlaufendes Sehband von blauer Farbe erfüllte diese Funktion. Bekleidet war der Zhu‐Umlat mit einem ledernen Umhang. Das ungemein kräftige Wesen war körperlicher Gewalt abhold und setzte ausschließlich geistige Waffen ein. Es hatte sich als weise und weitblickend gezeigt und war zugleich ein geduldiger und verständnisvoller Gesprächspartner. Da sich der Arkonide und der Emulator im Lauf des Tages schon begegnet waren, fiel die Begrüßung knapp aus, doch es fehlte nicht an jener Herzlichkeit, die alle verband, die das gleiche Schicksal miteinander teilten. Das Sehband ließ ebensowenig wie die Facettenaugen erkennen, ob sich die zwei so ungleichen Geschöpfe gegenseitig musterten, aber Atlan war sich dessen sicher. Der bei beiden stark ausgeprägte Gesichtssinn bewies, daß sie sich vornehmlich optisch orientierten.
»Beherrscht der neue Leidensgenosse unser Idiom?« erkundigte sich Ehennesi. »Ein wenig versteht er schon, und es wird nicht lange dauern, bis er es auch leidlich spricht«, erwidert Atlan. »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?« »Wir sind diesem Volk schon einmal begegnet. Seine Angehörigen sind wahre Sprachgenies.« Der Emulator stieß einen Laut der Überraschung aus. »Davon müßt ihr mir erzählen!« »Bestimmt ergibt sich noch eine Gelegenheit dazu, doch ich denke, wir sollten uns zuerst einmal um unseren Freund kümmern.« »Du hast recht.« Ehennesi stellte sich vor, und auch der Vulnurer nannte seinen Namen. »Bitte nimm es mir nicht übel, daß ich dich nicht willkommen heiße. Dies ist ein Ort ohne Wiederkehr, die Stätte der Verbannten und Verfemten. Da du nun einer von uns bist, nehmen wir dich in unseren Kreis auf. Wir werden dir zur Seite stehen, doch wirklich helfen können wir dir nicht.« Der Bekehrer hatte nicht nur der kurzen Ansprache des Zhu‐ Umlat interessiert gelauscht, sondern auch aufmerksam den Dialog zwischen diesem und dem Aktivatorträger verfolgt. »Ich sein froh, daß ihr Freunde«, ließ sich der Insektoide vernehmen. »Planet hier nix gut, Roboter nix gut. Ich gefangen – sehr schlecht für mich.« Trotz aller Abgeklärtheit wirkte das bärenartige Lebewesen ziemlich verblüfft. »Bist du sicher, daß er unsere Sprache nicht schon vorher gekannt hat?« Atlan und Vorlan nickten. »Daug‐Enn‐Daug, du bist in dieser Hinsicht ein Phänomen. Ich bin in meinem Leben noch keiner Rasse begegnet, die über derartige Fähigkeiten verfügte.« »Jedes Volk zeichnet sich durch Besonderheiten aus«, erklärte der Vulnurer diplomatisch. Er hatte kaum noch
Artikulationsschwierigkeiten. »Ihr seht nicht so aus, als wenn ihr freiwillig hier leben würdet. Hat man euch auch gezwungen, auf diesen Planeten zu kommen?« »Die meisten von uns wurden deportiert und verschleppt, andere abgefangen«, antwortete Ehennesi. »Die Mehrzahl wird schon so lange festgehalten, daß sie sich kaum noch an die Zahl der Jahre erinnern können, die sie hier verbracht haben. Viele haben die lange Zeit der Gefangenschaft nicht verkraftet; sie sind verroht und geistig degeneriert, einige haben den Freitod gewählt. Es ist schlimm.« »Du bist der Emulator deines Volkes, nicht wahr?« fragte der Bekehrer zur Verblüffung aller. »Das stimmt«, bestätigte der Zhu‐Umlat, nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Woher weißt du das?« »Ich bin der Emulator der Vulnurer.« Nicht nur Brick war völlig perplex, sondern auch der Arkonide. Nie war bei den Bekehrern von einem Emulator die Rede gewesen, und nun stellte sich heraus, daß ein solcher vor ihnen stand. Emulatoren, das wußte Atlan, waren besondere Wesen, natürlich entstanden, aber sozusagen aus der Not heraus geboren. Auf ihren Heimatwelten dominierte in irgendeiner Form das Böse, und sie stellten ein Gegengewicht dar, eine Zelle des Guten. Sie sehen und sahen den Sinn ihrer Existenz darin, den negativen Kräften entgegenzuwirken und ihr Volk der positiven Seite zuzuführen. Die Erklärung Daug‐Enn‐Daugs ließ somit nur einen Schluß zu: Auch die Vulnurer waren nicht die, für die man sie gehalten hatte. Aber waren sie wirklich so schlecht, daß sie einen Emulator hervorgebracht hatten, um das Gute wenigstens im Keim zu erhalten? Deine Sympathie für den Bekehrer kann leicht in Gutgläubigkeit ausarten, warnte der Logiksektor. Bleib kritisch! Er muß erst den Beweis für seine Worte antreten. Keine Sorge, ich lasse mich nicht einlullen, gab der Aktivatorträger gedanklich zurück. Er hatte sich mittlerweile von seiner
Überraschung erholt und wandte sich an den Insektoiden. »Ich sagte bereits, daß wir deinem Volk begegnet sind, deshalb würde ich gern mehr über dich erfahren.« »Mich interessiert es auch, deine Geschichte zu hören«, pflichtete Ehennesi dem Arkoniden bei. »Allein schon der Abwechslung wegen.« »Diesen Gefallen will ich euch gern tun, aber zuvor möchte ich mich erst mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen.« Einen solchen Wunsch konnten sie dem Vulnurer nicht abschlagen. Während sie ihn führten, informierten sie ihn über das, was sie wußten oder zu wissen glaubten, nämlich daß man sie gefangengenommen hatte, um zu verhindern, daß sie weiter positiv wirken konnten. Wer dahintersteckte, war unbekannt. Die Emulatoren gingen jedoch davon aus, daß der ihnen bekannte Grenzwächter Kioltonn irgendwie mit dem Planeten Grünblau identisch war, seinerseits aber auch nur Handlanger für eine Macht im Hintergrund war. Atlan hatte noch einige weitergehende Erkenntnisse gewonnen, doch er behielt sie für sich. Manches war noch Spekulation, und er erhoffte sich vom Bericht des Insektoiden ein paar Aufschlüsse, die seine These untermauerten. Die Solaner waren nicht wenig erstaunt über das Auftauchen des Bekehrers. Selbstlos übernahm Vorlan es, ihre Neugier zu stillen, obwohl er die kleine Gruppe lieber begleitet hätte. Der Unsterbliche versprach, seine Gefährten später ausführlich zu informieren. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als der Vulnurer darum bat, den Rundgang zu beenden. »Ich glaube, ich habe genug gesehen. Dieser Ort ist fast so trostlos wie der, an dem meine Erinnerung einsetzt. Dieser Tag liegt weit in der Vergangenheit.« Daug‐Enn‐Daug wirkte selbstversunken, so, als wollte er sich jede Einzelheit wieder ins Gedächtnis rufen. Atlan und Ehennesi schwiegen, um seine Konzentration nicht zu stören. Mehr unbewußt
führte der Insektenabkömmling den Zhu‐Umlat und den Aktivatorträger zu einer Strauchgruppe und ließ sich auf dem mit Moos und Gras bewachsenen Boden nieder. Die beiden anderen taten es ihm nach. Und dann begann der Bekehrer zu sprechen … * DAUG‐ENN‐DAUG Fast war mir, als hätte ich lange und tief geschlafen, doch ich fühlte mich weder erfrischt noch ausgeruht – es war kein Erwachen des Körpers, sondern des Geistes. Bevor ich mir über diesen seltsamen Zustand Gedanken machen konnte, brach die Erkenntnis über mich herein, daß ich ein Emulator war. Ich wußte, daß ich der Emulator der Vulnurer war, gleichzeitig wußte ich auch, daß ich ein Fehlprodukt war, denn mein Volk war nicht negativ. Ich forschte in meiner Erinnerung nach, doch sie war nicht vollständig. Manches war so klar und deutlich abrufbar, als hätte ich es selbst erlebt, anderes war nebulös und schemenhaft, über den Ursprung meiner Art wußte ich nichts. Dort, wo die Entstehungsgeschichte unseres Volkes gespeichert sein sollte, gähnte in mir ein finsterer Abgrund. Ich wußte nicht, wer wir waren, woher wir stammten und auf welchem Planeten wir gelebt hatten. Eine einzige Information hatte mein ererbtes Bewußtsein aus jener Zeit herübergerettet, doch sie war alles andere als konkret: Es handelte sich um eine Legende, in deren Mittelpunkt eine sagenumwobene Lichtquelle stand. Vor mir hatte ein Emulator gelebt und gewirkt, der die Untaten der Herrschenden gegeißelt und sich gegen die Unterdrückung und Vernichtung anderer Rassen gestellt hatte. Es gelang Vulnur‐Ferr‐ Vulnur, Gleichgesinnte um sich zu scharen, und mit der Zahl seiner Anhänger wuchs auch seine Macht. Es konnte der Führung nicht verborgen bleiben, was sich da tat, und so entschloß man sich, sich
der Abtrünnigen zu entledigen, die sich nach dem Emulator Vulnur‐ Ferr‐Vulnur »Vulnurer« nannten. Drei Raumschiffe wurden gebaut, die GESTERN, die HEUTE und die MORGEN. Mit falschen Versprechungen von einem eigenen Planeten und unter Druck brachte man die Anhänger von Vulnur‐ Ferr‐Vulnur dazu, an Bord zu gehen. Der Emulator, der sich bis zuletzt beharrlich geweigert hatte, fortzugehen, wurde mit Gewalt auf einen der Raumer gebracht. Der hinterhältige Plan der Mächtigen, daß die Raumer beim Versuch, die Schockfronten zu durchdringen, zerstört wurden, ging nicht auf. Durch Einsatz seiner besonderen Kräfte gelang es Vulnur, den Schiffen die Passage zu ermöglichen, doch er verlor dabei seine Existenz. Und ich muß sein Nachfolger sein, denn dieses Wissen in mir besagt, daß jedes Volk stets nur einen Emulator hat. Was ich von der Vergangenheit wußte, war recht dürftig, wenn man es genau betrachtete. Kein Anhaltspunkt darüber, was aus den Zurückgebliebenen geworden war, kein Hinweis, ob die Vulnurer noch existierten oder wohin es sie verschlagen hatte. An diesem Punkt meiner Überlegungen angekommen, wurde mir bewußt, daß meine Art nicht untergegangen sein konnte, denn sonst hätte sie keinen neuen Emulator hervorgebracht. Ich mußte mein Volk suchen. Allein der Umstand, daß es mich gab, war der Beweis dafür, daß ich gebraucht wurde, gleichzeitig wußte ich aber auch, daß meine Rasse nicht schlecht war. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich grübelnd damit verbrachte, diesen Zwiespalt zwischen Wissen und Berufung zu überwinden. Der Verstand weigerte sich, eine wie auch immer geartete Lösung zu akzeptieren, weil die Fakten völlig konträr waren. Doch je hartnäckiger der Geist Theorien und Modelle ablehnte, um so intensiver beschäftigte ich mich mit diesem Problem, ohne mehr zu erreichen, als innere Verunsicherung und nagende Zweifel an dem, was ich war und was ich tun mußte. Ein Gedanke kristallisierte sich heraus: Ich fand nur dann Antwort auf meine Fragen, wenn ich
mich aufmachte, um mein Volk zu finden. Nur mit mir selbst und meiner Mission beschäftigt, hatte ich mich abgekapselt und verinnerlicht, ohne meiner Umgebung auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Nun nahm ich das, was um mich herum war, zum erstenmal bewußt wahr, und ich erschrak fast. Um mich herum war nur totes Gestein. Ich befand mich auf einem Planetoiden, fern von einer Sonne. Aus unerklärlichen Gründen besaß der öde Brocken jedoch eine atembare Atmosphäre und hatte eine Eigenwärme, die die Kälte des Weltraums abhielt. Weit draußen im All standen Sterne, die spärliches Licht spendeten. Ihre Konstellationen waren mir unbekannt. Ich wußte, daß ich allein war auf diesem winzigen Himmelskörper. Es war nicht die Einsamkeit, die mich bedrückte, und ich fürchtete auch nicht um mein Leben, aber wie sollte ich unter diesen Umständen meine Aufgabe erfüllen? Mir war bewußt, daß ich über besondere Kräfte verfügte, doch ich konnte keine Materie in ein Raumschiff verwandeln. Verzweiflung stieg in mir auf. Um mich abzulenken, beschloß ich, das Trümmerstück zu erkunden, obwohl ich mir sicher war, daß es nichts zu entdecken gab. Merkwürdigerweise fiel es mir erst nach einigen Schritten auf, daß die Schwerkraft exakt den Wert hatte, den ich als angenehm und normal empfand. Der kleine Planetoid konnte unmöglich über eine solche Gravitation verfügen. Sauerstoff, Temperatur, Anziehungskraft – nichts paßte zu diesem Brocken. Meine Neugier war geweckt. Dieser Himmelskörper besaß ein Geheimnis, und ich war fest entschlossen, es ihm zu entreißen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diesen Klotz umrundete. Ich untersuchte fast jede markante Stelle, doch ich hatte keinen Erfolg. Die Vergeblichkeit meines Tuns vor Augen und rechtschaffen müde, legte ich mich einfach hin und schlief erschöpft ein. Und träumte, plötzlich wach zu sein. Ich stand auf einer markanten
Gesteinsformation, die einem Podest glich, und betrachtete die verschiedenfarbigen Sonnen. Am auffälligsten waren zwei Sterne, die – so sah es aus – relativ dicht beieinanderstanden. Der eine war blau, der andere rot, und es hatte den Anschein, als wenn sie nur darauf lauerten, sich gegenseitig verschlingen zu können. Ich hatte diesen Gedanken im Traum noch nicht zu Ende gedacht, als sich beide auf einmal aufblähten und heller wurden. Mit wahnsinniger Geschwindigkeit vergrößerten sie ihren Durchmesser. Vor Schreck machte ich einen Schritt rückwärts, stolperte und kam zu Fall. Zu meiner Überraschung fiel ich nicht auf schroffe Felszacken, sondern landete weich. Ein lichterfüllter Schacht mit künstlicher Gravitation hatte sich aufgetan. Sanft schwebte ich abwärts – ins Innere des Planetoiden. Als ich erwachte, suchte ich sofort den besagten Platz auf. Jeden Stein drehte ich um, betastete Boden und Erhebungen, trat davor, riß an ihnen und versuchte, sie zu bewegen oder als verborgene Mechanismen zu identifizieren, aber es gelang mir nicht. Enttäuscht setzte ich mich auf den Sockel. Während ich noch über den Mißerfolg und mein ungewisses Schicksal nachdachte, entstand unvermittelt vor mir eine Luftbewegung, die sich zum Sturm entwickelte. Die Turbulenz riß mich nach hinten. Instinktiv versuchte ich, meine Glieder abzuspreizen, um den Aufprall zu mildern, doch der kam nicht. Mein Traum war Realität geworden. Fast gewichtslos sank ich durch eine strahlend hell erleuchtete Röhre nach unten. Angst und Unsicherheit waren wie weggewischt und wichen der Überzeugung, daß mir ein Mittel in die Greifzangen gegeben worden war, um meinen Auftrag doch noch erfüllen zu können. Ich war mir dessen sicher, ohne es logisch begründen zu können. Wie erwartet, tauchte auch nichts und niemand auf, das für mich eine Gefahr bedeutet hätte. Der schräg nach unten führende Stollen entpuppte sich als ein relativ kurzer Antigravschacht, an den sich ein Gang anschloß, der gerade so hoch war, daß ich ihn passieren
konnte, ohne mich bücken zu müssen. Nichts erinnerte mehr daran, daß ich mich im Innern eines Gesteinsbrockens befand. Vor mir öffnete sich ein Schott. Überwältigt blieb ich stehen. Die Anhäufung von Technik ließ nur den einen Schluß zu: Ich befand mich in einer Kommandozentrale. Und noch etwas erfaßte mich auf Anhieb: Der Planetoid war kein Himmelskörper, sondern ein als solcher getarntes Raumschiff. Obwohl ich mich damit nicht auskannte, wirkten die Bedienungselemente so vertraut, als wäre ich als Pilot auf die Welt gekommen. Auf Anhieb erkannte ich die verschiedenen Funktionen und zögerte nicht, die Maschinerie in Betrieb zu nehmen. Sie schien förmlich darauf gewartet zu haben. Von mir unbemerkt, setzte sich der verkappte Raumer in Bewegung, nur einige Instrumente und mehrere Bildschirme, die sich automatisch eingeschaltet hatten, zeigten an, daß Fahrt aufgenommen wurde. Meine Zuversicht, doch noch etwas bewirken und meinem Volk helfen zu können, wuchs, gleichzeitig wurde mir bewußt, daß die Technik dieser Einheit dafür verantwortlich war, daß ich Umweltbedingungen vorgefunden hatte, die mir zuträglich waren. Nun, da alles gut zu werden schien, hielt ich mich nicht lange mit derartigen Betrachtungen auf und widmete mich den Anzeigen. Eine von ihnen besagte, daß die Automatik die Steuerung übernommen hatte. Als ich die entsprechende Information über das Ziel abrief, wurde mir eine Sternenkarte präsentiert, die auch die Flugroute enthielt. Ich studierte sie aufmerksam, vermochte jedoch nichts zu entdecken, was meiner Mission förderlich gewesen wäre. Als ich mich entsprechend äußerte, hielt mir die Positronik vor, daß es Barrieren gab, die ein Raumer nicht überwinden konnte. Wahrscheinlich waren damit die Schockfronten gemeint, doch davor fürchtete ich mich nicht. Da war etwas in mir, das mir sagte, daß sie zu überwinden waren, und wenn ich es nicht schaffte, würde es der nächste Emulator tun. Meiner Erinnerung an die Vergangenheit hatte ich entnommen,
daß die Vulnurer gewaltsam vertrieben worden waren. Ich wußte also, daß sie ihren angestammten Lebensraum verlassen hatten, doch wo war der? Hatten sie Spuren hinterlassen, denen ich folgen konnte? Das Raumschiff! Natürlich, das war ein Hinweis, wie er deutlicher nicht hätte sein können. Jemand mußte es gebaut haben, und dieser Jemand mußte mir recht ähnlich sein, denn die Bedienungselemente waren so angeordnet, daß ich sie als sinnvoll empfand. Ich unterhielt mich mit der Positronik, doch sie vermochte mir nicht zu helfen. Ausgerechnet bei der Frage nach dem Startraumhafen mußte sie passen – die Koordinaten waren gelöscht worden. Als ich mich nach Einzelheiten erkundigte, erhielt ich die ominöse Antwort, daß der Geist des Schiffes dafür verantwortlich war. Was immer auch mit dem Begriff gemeint war – er mußte einen Bezug zur Realität haben. Geist – das konnte der Intellekt sein, Produkte des Gehirns oder ein körperloses Wesen, gleichzeitig mußte es eine enge Verbindung zum Raumer geben. Daher beschloß ich, den Flugkörper näher zu untersuchen. Von der Größe der Zentrale ausgehend, konnte er für maximal zwei Personen konstruiert worden sein, so daß es kein hoffnungsloses Unterfangen war, was ich mir vorgenommen hatte. Dem Lageplan entnahm ich, daß sich auf dieser Ebene nur die Steuerkanzel befand, in einer Art Verschlag daneben die Aggregate für Normal‐ und Hyperfunk und die Ortungseinrichtung. Das Deck darunter enthielt alles, was zum Betrieb eines Raumschiffs nötig war – Meiler, Triebwerke, Generatoren, Schutzschirmprojektoren, Lebenserhaltungssysteme und was der Dinge mehr sind. Das interessierte mich weniger, doch auch die oberste, als Wohnbereich ausgewiesene Plattform sah nicht so aus, als wenn sie ein Geheimnis barg. Eine Kabine mit Hygieneeinrichtung und Versorgungseinheit, an die sich eine kleine Kammer anschloß. Welchem Zweck sie diente, war nicht definiert.
Nicht sonderlich zuversichtlich gestimmt, ließ ich mich vom Antigrav nach oben tragen. Die Unterkunft war aufgeräumt und wirkte wie ein Raum, in dem in den letzten Jahrzehnten niemand mehr gewohnt hatte. Schon wollte ich mich abwenden, als mein Blick auf einige Dinge und Dekorationsstücke fiel, die persönlicher Natur waren, darunter war auch ein Bild, das mir förmlich ins Auge stach. Es zeigte eine gelbe Sonne mit fünf Planeten und winzigen Trabanten. Diese Aufnahme schien eine gewisse Bedeutung für denjenigen gehabt zu haben, der sie als Schmuck angebracht hatte, und so nahm ich sie an mich, um sie später der Positronik vorzulegen. Die Tür zum Nebenraum mußte ich manuell öffnen. Eine trüb gewordene Leuchtplatte an der Decke erhellte das Zimmer mehr schlecht als recht. Als sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, prallte ich entsetzt zurück. Auf dem Boden stand eine transparente Röhre, und darin lag – ein Vulnurer. Ich wußte sofort, daß er tot war. In Kopfhöhe befand sich auf der linken Seite ein durchsichtiger Behälter, in dem in einer grünlichen Flüssigkeit das Gehirn des Toten schwamm. Von dem Gefäß führten zahllose Verbindungen zu einem klobigen Block, dessen Anzeigen schwach glimmten. Alles wirkte heruntergekommen. Die Isolation der Kabel war brüchig geworden, Drähte waren oxidiert, Schläuche zeigten Risse, Zuleitungen waren porös. Rechts neben der Leiche verharrte bewegungslos ein Robot. Er war von meinem Volk gebaut worden, denn bis zum Brustteil sah er aus wie ein Vulnurer. Hinterleib und Beine fehlten wie üblich, statt dessen besaß er eine Art Sockel, und auf diesem Kugelstumpf ruhte der Automat. Er war desaktiviert. Ein Geräusch riß mich aus meiner Betrachtung. Zuerst dachte ich, daß der Roboter sich wieder eingeschaltet hatte, aber dem war nicht so. Schmatzend preßte eine Pumpe flüssige Substanzen oder eine Nährlösung in die abgedeckte Schale mit dem Gehirn.
»Also … doch. Ich … kann … es nicht … glauben. Ausgerechnet ich … habe … dich … gefunden.« Die Worte kamen stockend, die Stimme klang blechern und seltsam verzerrt. Auf Anhieb erkannte ich, wer da zu mir sprach: Es war das Gehirn. Es artikulierte sich mittels spezieller Lautsprechersysteme, und ich registrierte sogar so etwas wie eine geistige Aura. »Willst du damit sagen, daß du mich gesucht hast, ohne von meiner Existenz zu wissen?« »Ich mag … ein … Unwürdiger … sein, aber so … solltest du nicht … reden. Viele wurden … ausgeschickt, um … dich … zu finden, und … ich … habe … es geschafft. Lichtquelle, ich … heiße … dich im … Namen aller … Vulnurer … willkommen. Nun, da du … dich … um alle … Belange kümmern … und mein Volk, das … auch deins … ist, seiner … Bestimmung zuführen wirst, hat … mein unwürdiges … Dasein … seinen Sinn … verloren.« Da war sie wieder, die Sage von der Lichtquelle. Sie schien sich wie ein roter Faden durch die Geschichte meiner Rasse zu ziehen. »Ich bin nicht die Lichtquelle.« »Aber … du … mußt es … sein. Die mit … mir … verbundenen Sensoren … haben … angezeigt, daß … du etwas … Besonderes … sein mußt.« Ich hatte Mitleid mit dem einsamen Bewußtsein, aber rechtfertigte das eine solche Lüge, mich als Lichtquelle auszugeben? »Kannst du mich sehen?« »Nein. Seit … Ewigkeiten … lebe ich … in … Finsternis. Bist du … wirklich … nicht die … Lichtquelle?« »Mein Name ist Daug‐Enn‐Daug. Ich bin der Emulator der Vulnurer.« »Also haben … sich … die Sensoren … geirrt. Andere … werden … die Lichtquelle … finden … müssen. Meine Zeit … ist … abgelaufen.« Ich spürte, daß der Lebenswille schwächer wurde. Das Gehirn
resignierte. Wahrscheinlich hatte nur die Hoffnung dem körperlos dahinvegetierenden Geist darüber hinweggeholfen, ein solches Dasein zu fristen. Ein abgrundtiefer Seufzer erfüllte die Kammer, dann erloschen die Kontrollen. Erschüttert verließ ich den Raum und kehrte in die Zentrale zurück. Die Lichtquelle war ein Mythos, denn niemand wußte, ob es sie wirklich gab oder je gegeben hatte, und doch hatten sich Vulnurer auf die Suche danach gemacht, wie die Worte des Toten bewiesen. Welches Motiv gab es dafür, welcher Beweggrund war so stark, daß sogar das eigene Leben geopfert wurde, um eines Tages vielleicht zu erkennen, daß man einem Phantom nachgejagt war? Da ich auf meine Fragen keine Antwort fand, wandte ich mich konkreteren Dingen zu und präsentierte der Positronik das Bild, das ich gefunden hatte. Zu meiner Überraschung identifizierte der Rechner das System sofort. »Sonne Vulnur II, Daten und Koordination sind gespeichert. Willst du Einzelheiten wissen?« »Später. Veranlasse Kursänderung. Dieser Stern ist unser neues Ziel.« »Es würde dein Ende und das dieser Einheit bedeuten.« »Könntest du etwas deutlicher werden?« »Meine Informationen besagen, daß dieses Sonnensystem von einer undurchdringlichen Barriere umgeben ist – zumindest von dieser Seite aus. In der Vergangenheit wurden entsprechende Messungen angestellt.« Natürlich gab ich mich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Die betreffende Sonne hieß »Vulnur II« – einen deutlicheren Hinweis auf mein Volk konnte es kaum geben. Ich mußte dieses Gestirn unter allen Umständen erreichen, also hakte ich nach. Was ich erfuhr, war aufschlußreich, doch einige Rätsel blieben ungelöst. Das Schiff war seit eintausenddreihundertneun Jahren unterwegs. Anfangs wurde es von einem Vulnurer namens Riso‐Kell‐Riso
befehligt. Unter seiner Führung gelang es dem Raumer, die Schockfronten relativ problemlos zu durchdringen, denn eine spezielle Batterie von Meßgeräten vermochte es, Schwachstellen ausfindig zu machen und zu nutzen. Schwierig wurde es in umgekehrter Richtung. Einmal hatte Riso es versucht und war dabei fast umgekommen. Schwer beschädigt hatte sich die JEUDI zurückziehen müssen. Dann verschwand Riso‐Kell‐Riso spurlos, und der Geist des Schiffes übernahm die Befehlsgewalt. Fortan wurde es schwieriger, die unsichtbaren Absperrungen zu überwinden, und das Raumschiff war darauf angewiesen, regelrechte Spürhundqualitäten zu entwickeln, um eine Passage zu ermöglichen. Das hatte bis auf den heutigen Tag funktioniert, denn es war nur vorwärtsgegangen, und nun schwieg sogar der Geist des Schiffes. Es war unschwer zu erraten, daß der Geist des Schiffes und Riso‐ Kell‐Riso identisch waren. Um wen es sich handelte, wußte ich, denn ich hatte vor kurzem mit ihm gesprochen. Möglicherweise hatte auch die Positronik mitbekommen, daß das Gehirn nicht mehr lebte, aber insgesamt gesehen hatte sie – sah man einmal von der technischen Überwachung ab – wenig Einfluß. Sie konnte Entscheidungshilfen anbieten, doch letztendlich bestimmte ein Lebewesen, was zu tun war. Das tat ich dann auch. Mein Entschluß, die gelbe Sonne anzufliegen, war unumstößlich. Mit Überlichtgeschwindigkeit näherten wir uns Vulnur II. Insgesamt hatten wir sechs Schockfronten hinter uns zu bringen, und jedesmal warnte mich der Rechner davor. Zuletzt gellte sogar die Alarmsirene durchs Schiff, doch dank meiner Fähigkeiten brachte die JEUDI alle Hindernisse unversehrt hinter sich. Ich triumphierte innerlich, als die gelbe Sonne schließlich den ganzen Bildschirm ausfüllte. Merkwürdigerweise ließen sich kaum energetische Aktivitäten anmessen. Zwei Planeten, die pflanzliches und tierisches Leben aufwiesen, ohne eigene Intelligenzen hervorgebracht zu haben, sich
also in der Ökosphäre befanden, waren trotz der relativ günstigen Bedingungen unbesiedelt, und auch die Extremwelten zeigten keine Spur von Zivilisation. Zwischen dem zweiten und dritten Planeten bewegten sich etliche Planetoiden um das Zentralgestirn. Es waren neunundzwanzig. Alle waren von unterschiedlicher Größe. Keiner der Brocken durchmaß aber mehr als einen Kilometer. Irgendwie kamen mir diese Trabanten merkwürdig vor. Um die Reste eines Trümmerrings konnte es sich nicht handeln, dazu war die Gesamtmasse zu gering und es fehlte Gestein und Staub, außerdem war der Abstand zwischen den beiden Welten zu klein, als daß sich einst ein weiteres Objekt auf einer Umlaufbahn um die Sonne befunden hatte. Auch die Sternenkarte enthielt keine Angaben, die mich weiterbrachten. Ich konzentrierte mich auf die schwachen Energieausstöße und ermittelte, daß sie von einem der Planetoiden stammten. Bevor ich Einzelheiten herausfinden konnte, sprach das Normalfunkgerät an. Überrascht ging ich auf Empfang. Auf dem Bildschirm war das Antlitz eines Vulnurers zu sehen. »Wer bist du?« wurde ich barsch gefragt. »Daug‐Enn‐Daug«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Dieser Name ist mir unbekannt. Wie bist du zu dem Schiff gekommen?« »Als Emulator hatte ich mir einen freundlicheren Empfang vorgestellt.« Der Alte zeigte sich unbeeindruckt. Wahrscheinlich sagte ihm der Begriff »Emulator« nichts. »Ich habe dich etwas gefragt.« Das Spiel seiner Fühler verriet mir, daß er erregt war. »Antworte schnell. Drei Werfer sind auf dich gerichtet.« Ein rascher Blick auf die Anzeigen bewies mir, daß das mit ziemlicher Sicherheit kein Bluff war. Der Energiemesser war hochgeschnellt.
Was sich wirklich zugetragen hatte, war für meine Begriffe zu abenteuerlich, um glaubhaft zu klingen, also entschloß ich mich zu einer Notlüge und erzählte, daß ich der Abkömmling von Kolonisten war, die auf einem Planeten gesiedelt hatten. Ich gab vor, mit einem Kleinraumer havariert und von Riso‐Kell‐Riso gerettet worden zu sein, der als Geist des Schiffes fungierte. Bevor es mit ihm zu Ende ging, hatte er mir aufgetragen, Vulnur II anzufliegen, um von unserer Begegnung und der Existenz anderer Vulnurer zu berichten. Meine Geschichte mußte wohl überzeugend geklungen haben, denn mein Gesprächspartner entspannte sich. »Aufgrund der Albedo und der Gesteinszusammensetzung ist der Raumer als die JEUDI identifiziert worden. Sie startete vor eintausenddreihundertneunzehn Jahren, und es stimmt, daß sie von Riso‐Kell‐Riso geführt wurde. In welcher Mission warst du unterwegs?« »Ich wurde ausgeschickt, um die Lichtquelle zu finden«, schwindelte ich. »Wir mögen keine Wesen, die auf Planeten herumkriechen, aber da du ein Vulnurer bist, der wie wir nach der Lichtquelle sucht, machen wir in deinem Fall eine Ausnahme. Du kannst landen.« Das tat ich dann auch, doch wenig später erkannte ich, daß ich nicht die gefunden hatte, die ich suchte. Nicht einmal dreihundert Vulnurer bewohnten den ausgehöhlten Brocken. Wie die anderen Trabanten waren sie Teil eines Mondes, der einst den zweiten Planeten umkreist hatte. Die Vorfahren der hier lebenden Männer und Frauen hatten ihn gesprengt und für ihre Zwecke nutzbar gemacht. Kleine Trümmerstücke waren wie die JEUDI in Kleinstraumschiffe umgebaut worden. Die Planetoiden‐Kolonie war vor mehr als zwei Jahrtausenden von einer Gruppe gegründet worden, die anfangs mehr als eintausendeinhundert Köpfe gezählt hatte. Sie alle waren die Nachfahren jener, die einst vertrieben worden waren, doch was war
aus ihnen geworden? Sie wußten so gut wie nichts mehr von ihren Ahnen. Seßhaft waren sie seit ihrer Vertreibung nicht mehr geworden. Wie Vagabunden waren sie mit der GESTERN, der HEUTE und der MORGEN durch das All geflogen auf der Suche nach der Lichtquelle. Im Lauf der Zeit hatten sie eine merkwürdige Philosophie entwickelt, die besagte, daß alles Böse von den Planeten stammte. Fortan versuchten sie, jedes Volk, dem sie auf der endlosen Reise begegneten, zu bekehren. Diese Missionen erforderten natürlich einen großen Zeitaufwand. Es entstand eine Bewegung, die auf den selbsternannten Propheten Dans‐Minn‐Dans zurückging. Er forderte eine Einstellung der sinnlosen Bekehrungsversuche, weil seiner Ansicht nach die Zeit besser genutzt werden konnte – nämlich um die Lichtquelle zu finden. Diese Minderheit wurde immer radikaler und schreckte schließlich selbst vor Gewaltmaßnahmen und Anschlägen gegen Andersdenkende nicht mehr zurück. Da ein friedliches Neben‐ oder Miteinander nicht mehr möglich war und die Stimmung an Bord der drei Schiffe unerträglich belastet wurde, beschloß man, die Extremisten an einem geeigneten Ort auszusetzen. Das war die Geburtsstunde der Planetoiden‐Siedlung. Nach einer kurzen Phase der Akklimatisierung machte man sich mit religiösem Eifer daran, Sucherschiffe wie die JEUDI auszuschicken. Sie waren mit Schockfrontenspürern und den mir bekannten Lebenserhaltungssystemen für das Gehirn des Kommandanten ausgerüstet, so daß sie quasi ewig unterwegs sein konnten. Sie betrieben die Suche nach der Lichtquelle mit einem Eifer, zu dem nur Sektierer fähig sind. Was an Material und Bevölkerung verfügbar war, wurde der fixen Idee geopfert, ein Mythos zur Realität werden zu lassen. Das führte natürlich zu einem enormen Aderlaß. Trotz Nachwuchs sank die Zahl der Kolonisten rapide, und obwohl niemals ein Schiff zurückgekehrt oder über Funk einen
Erfolg vermelden konnte, hielt man an der Tradition fest. Erst wenige Tage vor meiner Ankunft hatte man ein neues Sucherschiff auf die Reise geschickt, ein weiterer Raumer befand sich bereits in Produktion. Wer immer entbehrlich war, trat den Flug ohne Wiederkehr an. Mir war klar, daß ich diesen armen Geschöpfen nicht helfen konnte. Sie waren eine Splittergruppe, ohne eine Bedeutung für mein Volk zu haben, Außenseiter, die sich selbst zuzuschreiben hatten, daß es so gekommen war. In einem unbewachten Augenblick stahl ich mich mit der generalüberholten JEUDI davon, die erneut als Sucherschiff eingesetzt werden sollte. Nach dem Hinweis, den ich erhalten hatte, sollte es mir eigentlich nicht schwerfallen, die Spur der drei Generationenschiffe aufzunehmen. Wenn sich die Besatzung wirklich so emsig als Bekehrer versuchte, brauchte ich nur auf den besiedelten Welten nachzufragen, ob man dort Kontakt mit Wesen gehabt hatte, die aussahen wie ich. Natürlich würde es nicht ganz einfach sein, und ich kalkulierte gewisse Schwierigkeiten mit ein, doch ich war sicher, daß der Tag kommen würde, da ich auf die Vulnurer stieß, deren Emulator ich bin. 3. Als Blödel die Gegenstelle verließ, hatte er den Eindruck, sich in einem gewaltigen Darm ohne Krümmungen zu befinden. Der Schlauch wirkte nicht massiv, nicht einmal materiell, dennoch war er existent. Seine Farbe war ein undefinierbares Gemisch, von Schlieren durchzogen und semitransparent. Linker Hand und über ihm befanden sich bunte Bänder, die oszillierten und der Röhre einen Hauch von Unwirklichkeit gaben, rechts huschten dunkle Schatten über die Wand, ohne daß eine
Ursache dafür erkennbar war. Angesichts der besonderen Gegebenheiten hatte Blödel keinerlei Hemmungen, wenigstens sein Defensivpotential einzusetzen. So maß er an, daß die farbigen Lichtbänder in Wahrheit dem Transport von Energie dienten, und die Schatten entpuppten sich als so etwas wie Daten‐ und Informationsfluß. Der Versuch, zusätzliche Informationen zu bekommen, scheiterte an dem Kode, der auf Anhieb nicht zu entschlüsseln war. Der synthetische Scientologe war darauf programmiert, auch scheinbaren Nebensächlichkeiten Beachtung zu schenken. So registrierte er aufgrund seiner besonderen Möglichkeiten, daß der optische Eindruck täuschte. Nicht nur die Symbole sausten vorbei, er selbst und die anderen bewegten sich mit rasender Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung. Das gab Blödel zu denken. Ein solches Multi‐Transport‐System, das nicht nur Güter und Personen befördern konnte, sondern auch Energien und Daten, war ihm bis dato unbekannt. Er glaubte, einige untrügliche Anzeichen dafür zu haben, daß er in einem der Energiestränge herausgekommen war, und ihm drängte sich die Vermutung auf, daß es sich dabei um einen verlängerten Arm des Grenzwächters handelte. Vorausgesetzt, daß seine These stimmte, wurden er und die anderen Automaten zum Planeten Grünblau befördert und damit zu dem Grenzwächter namens Kioltonn. Obwohl das Spekulation war, glaubte der Roboter, seiner Sache sicher zu sein, allerdings wäre es ihm lieber gewesen, zur MJAILAM zu gelangen. Er hatte sich ausgerechnet, daß es ihm mit Hilfe der Bordpositronik gelingen würde, Atlan und den anderen zu Hilfe zu kommen, doch dies war zumindest im Augenblick unmöglich. Er mußte, um keinen Verdacht zu erregen, das tun, was ihm die fremden Maschinen vormachten. Und sie taten – nichts. Zur Passivität verdammt, folgte die mobile Laborpositronik ihrem Beispiel. Scheinbar willenlos ließ sie sich davontragen. Der Eindruck, daß der Schlauch geradeaus verlief, entpuppte sich
als optische Täuschung. Er besaß sehr wohl Windungen, doch sie waren langgestreckt und ohne scharfe Kurven und Knicke. Mit einem irrsinnigen Tempo sausten sie ihrem Ziel entgegen. Die Kraft, die dafür verantwortlich war, ließ sich mit den Passivinstrumenten nicht ermitteln. Es war weder Sog noch Schub, weder Druck noch Zug, auch kein Rollband. Eher kamen da schon Abstoßimpulse wie bei Magnetfeldern in Frage, aber davon konnte er ebensowenig anmessen wie von wechselnden Gravitationseinflüssen. Blödel hatte das Gefühl, sich wie ein Raumschiff beim Überlichtflug durch ein übergeordnetes Medium zu bewegen. Die Geschwindigkeit verlangsamte sich ohne erkennbaren Grund und sank binnen achtundsiebzig Sekunden auf null. Dieser Vorgang war nicht weniger mysteriös als der Transport, denn der Roboter konnte nicht ausmachen, wie dies bewerkstelligt wurde. Er war nicht abgebremst worden, sondern hatte einfach Fahrt verloren wie ein Flugkörper, dessen Antrieb abgeschaltet wurde – nur eben viel schneller. Der Scientologe konnte erkennen, daß der Energiestrang in eine Halle überging und dort endete. Ein eigentümliches Licht erfüllte sie. Ob der merkwürdige Schein dafür verantwortlich oder der kuppelförmige Raum ohne Ecken und Kanten in einem blaugrünem Ton gehalten war, ließ sich aus dieser Entfernung nicht ausmachen. Auffällig war, daß es nur rundliche Formen gab, Boden, Decke und Wände gingen weich und fließend ineinander über. »Unser Auftrag ist beendet, Kioltonn wird uns wieder in sich aufnehmen. Vorwärts!« Tonn‐Eins setzte sich in Bewegung, und die anderen Automaten folgten ihm. Diszipliniert und nunmehr in strenger Marschordnung, stapften die Maschinen hinter dem Leitroboter her. Notgedrungen tat Blödel es ihnen gleich. Innerlich triumphierte er und beglückwünschte sich selbst dazu, daß der Trupp – von Tonn‐Eins abgesehen – nur aus
stumpfsinnigen Exemplaren ohne Handlungsfreiheit bestand. Die Information, die er eben bekommen hatte, besagte nicht mehr und nicht weniger, als daß es sich bei Grünblau nicht um einen Planeten handelte, sondern um den Grenzwächter Kioltonn selbst. Die Spitze der Gruppe hatte mittlerweile die Halle erreicht und marschierte auf eine Nische zu, die vorher nicht einzusehen war. Nockemanns Assistent trottete im gleichen Schrittrhythmus und passierte als letzter die kaum erkennbare Verbindungslinie zwischen Energiestrang und dem riesigen Rund. Mehr noch als die Röhre erinnerte das von diffusem Leuchten erfüllte Gewölbe an etwas, das organischen Ursprungs sein mußte, und dieser Eindruck verstärkte sich, als der Scientologe den Boden des Raumes betrat. So federte und verhielt sich eigentlich nur lebendes Gewebe. Aufmerksam musterte er seine Umgebung. Was glatt und wie aus einem Guß gewirkt hatte, stellte sich bei näherer Betrachtung als eine in sich strukturierte Fläche heraus, durchaus homogen, aber eben gerastert. Kapillaren waren zu erkennen, Poren und all die unzähligen Details, die einem geübten Auge verrieten, daß es sich um einen lebenden Organismus handelte. Die vermeintliche Halle war demnach ein Hohlraum biologischen Ursprungs, und das konnte nur bedeuten, daß der Grenzwächter nicht aus Gestein, Mineralien und Erzen bestand und auch keine planetenumspannende Intelligenz war, die sich eine Welt Untertan gemacht hatte, sondern Kioltonn war ein riesiger organischer Ball, ein monströses Lebewesen, das sich jeder Vorstellung in Bezug auf mögliche Existenzformen entzog. Ganz entfernt erinnerte diese Kugel an die Staubflieger, aber eine eigentliche Verwandtschaft zu ihnen gab es nicht, das bewiesen schon die Energiestränge. Offensichtlich erzeugte Kioltonn sie aus sich selbst heraus. Einige, wie der, der sie herbefördert hatte, schienen als tote Enden in den Raum zu führen, doch Blödel zweifelte nicht daran, daß andere wie Extremitäten in weite Ferne reichten und der Verbindung zu unbekannten Grenzwächtern
dienten. Dabei konnte einstweilen dahingestellt bleiben, ob sie ausschließlich als Nachrichtenmedium eingesetzt wurden oder auch zum Austausch von Materialien untereinander. Die Roboter, Tonn‐Eins eingeschlossen, stellten sich in Reih und Glied in der Nische auf und verharrten inaktiv. Der Scientologe folgte ihrem Beispiel, allerdings blieb er nicht untätig. Zeitlupenhaft bugsierte er eine hauchdünne Sonde durch seine Montur und bohrte das winzige Instrument in die Wand hinter sich. Vorsichtig zog er den Tentakel wieder ein und begann sofort mit der Analyse der Probe. Anders als sonst konnte er nicht sein gesamtes Arsenal einsetzen, ohne sich zu verraten. Die fremden Automaten hatten sich abgeschaltet und waren energetisch kaum noch anmeßbar. So begnügte er sich mit chemischen Methoden. Immerhin fand er heraus, daß es sich tatsächlich um lebendes Gewebe mit aktiven Zellen handelte. Die Aminosäuren und Enzyme unterschieden sich nicht wesentlich von anderen Lebewesen, allerdings waren die Zellmembranen anders aufgebaut. Sie erfüllten neben dem Stoffaustausch in ungewohntem Maß gleichzeitig Stützfunktionen, die ungewöhnlich waren. Nockemanns Assistent hätte sich gern noch näher damit befaßt, aber das unerwartete Auftauchen eines Hominiden veranlaßte ihn, seine wissenschaftliche Neugier einstweilen zurückzustellen. Der Fremde ähnelte in Größe und Gestalt einem Menschen. Seine Haut war bläulich, bekleidet war er mit einem orangefarbenen Trikot, das aussah, als wäre es gestrickt. Die Füße steckten in metallisch schimmernden Sandalen, die Hände – vierfingrig – endeten in dunklen, fast schwarzen Krallen. Sie hielten ein unscheinbares Kästchen umklammert. Der kahle Kopf mit der aufgeworfenen Stirn wurde beherrscht von einem Paar Glotzaugen, die sich unabhängig voneinander bewegen ließen. Seitliche Hörmembranen, angedeutete Nasenlöcher und der einem Fischmaul gleichende Mund deuteten an, daß die Vorfahren
dieses Wesens Wasserbewohner waren oder amphibisch gelebt hatten. Langsam ging der Blauhäutige an der Front der Maschinen entlang und richtete den Gegenstand in seinen Händen auf jede einzelne. Blödel empfing jedesmal eine kurze Symbolfolge, doch die Funkzeichen waren so fremdartig, daß er sie nicht zu entschlüsseln vermochte. Wahrscheinlich diente der Kodegeber dazu, die Roboter zu identifizieren und ihre Vollzähligkeit festzustellen. Es war gar keine Frage, daß ihn der fischähnliche Zweibeiner entlarven würde. Da dem Scientologen daran gelegen war, seine Bewegungsfreiheit zu erhalten, entschloß er sich dazu, sich abzusetzen. Als nur noch fünf Automaten zu überprüfen waren, fuhr er zwei mit einer Art Skalpell versehene Instrumentenarme aus und setzte sie hinter seinem Rücken ein. Wie Wachs schnitten sie in die organische Wand. Noch drei Maschinen, die zu kontrollieren waren! Plötzlich rollte der Prüfer mit beiden Augen. Sein breiter Mund öffnete sich, gurgelnde Laute wurden ausgestoßen. Blödel blickte unauffällig nach unten. Auf dem Boden hatte sich eine bräunliche Lache gebildet, die ständig größer wurde – vermutlich Blut oder ein ähnliches Körpersekret. Der Roboter von der SOL gab sein Versteckspiel endgültig auf. Ohne sich um den Fremden zu kümmern, wandte er sich um, schaufelte das durchgetrennte Gewebe beiseite und zwängte sich durch die Öffnung, die er selbst geschaffen hatte. Dabei erwies sich die faserige Masse zwar nicht direkt als Hindernis, aber sie war dicker als erwartet. Unablässig waren die rasierklingenscharfen Messer in Betrieb. Mit beiden Armen half er nach, um schneller vorwärts zu kommen, und schon steckte er mittendrin in der weichen Zellsubstanz. Oberflächensensoren meldeten ihm, daß sich der verletzte Organismus heftig wehrte und ihn mit Säure überschüttete. Teile seiner Maske begannen sich aufzulösen. Das trieb ihn zu noch größerer Eile an. Ohne Rücksicht bohrte, schob und drückte er sich
vorwärts, unterstützt von den sausenden Klingen. Ein heller Schimmer wurde erkennbar. Noch einmal verstärkte er seine Anstrengungen, und dann hatte er es geschafft. Daß seine Verkleidung dabei zum Teufel gegangen war, störte ihn nicht weiter. Da er mit Verfolgern rechnete, nahm er sich nicht die Zeit, um sich zu reinigen. Er orientierte sich kurz und rannte los. Auch hier herrschte wieder jenes diffuse blaugrüne Licht. Blödel war in einem langgestreckten Schlauch herausgekommen, der eindeutig organischer Natur war und sich deutlich von einem Energiestrang unterschied. In regelmäßigen Abständen wurde die glatte Innenwand von Wülsten überzogen, die von ihrer Anlage her Ringmuskeln sein konnten. Ein glitschiger Film bedeckte das Gewebe. Er erschwerte dem Roboter das Fortkommen und stellte sein Stabilisierungssystem manchmal vor fast unlösbare Aufgaben, wenn er auf dem schleimigen Untergrund ins Rutschen kam. Sechs oder acht Beine wären jetzt von Vorteil gewesen. Ein unterschwelliges Rauschen ließ ihn aufhorchen. Bevor er das Geräusch lokalisieren konnte, setzten heftige Kontraktionen ein. Die Bewegungen der Wülste waren dafür verantwortlich, daß sich das Gewebe raupenartig zusammenzog und wieder streckte. Das kam für ihn so unerwartet, daß er den Halt verlor und der Länge nach hinschlug. Vergeblich versuchte er, sich wieder aufzurappeln. In einiger Entfernung, für ihn jedoch noch deutlich auszumachen, entstand eine Öffnung, die sich rasch vergrößerte. Das biologisch geschulte Auge des Scientologen erkannte sofort, daß dort ein Schließmuskel an der Arbeit war. Und genauso konnte er sich zusammenreimen, daß er in das Äquivalent eines Verdauungstrakts geraten war. Das Rauschen wurde lauter, fast ohrenbetäubend. Und dann schoß aus dem gewaltigen Schlund eine riesige Woge heraus und rollte wie eine Springflut durch die sich krümmende Röhre. Schon
war die übelriechende Flüssigkeit heran und zerrte mit Urgewalt an der mobilen Laborpositronik, die sich verzweifelt in dem weichen Gewebe festkrallte. Es folgte Welle auf Welle, als wäre irgendwo eine Staumauer geborsten. Pausenlos überflutete die stinkende Brühe Nockemanns Assistenten, der es nur seinen robotischen Kräften verdankte, noch nicht mit fortgerissen worden zu sein. Endlich, nach fast zwei Minuten, verebbte der Sturzbach und versickerte in irgendwelchen Kanälen. Der Roboter wartete, bis sich auch die Öffnung wieder geschlossen hatte, dann stemmte er sich mühsam hoch. Der Schlauch war noch rutschiger geworden. Eine Anzahl daumendicker, zehn Zentimeter langer grauer Würmer hatte sich auf seiner Außenhaut festgesetzt. Entsetzt stellte er fest, daß sie fast die Eigenschaften des Bakwers hatten, denn sie machten sich daran, seine Körperhülle anzufressen. Ohne zu fackeln packte er zwei, um sich von ihnen zu befreien, aber sie saßen an ihm wie festgeschweißt. Sein Plasmateil geriet fast in Panik. Mit Brachialgewalt riß er an den beinlosen Körpern, und diesmal hatte er Erfolg. Um jegliches Risiko auszuschließen, schleuderte er sie weit von sich. Um eine Erfahrung reicher geworden, setzte er seinen Weg fort und stieß nach einer Weile auf den schon beobachteten mächtigen Schließmuskel. Da die einzige Alternative Umkehr hieß, entschloß er sich zur Vorwärtsstrategie, doch er mußte erkennen, daß diesem organischen Verschluß sogar mit seinen übermenschlichen Kräften nicht beizukommen war. Da es ihm widerstrebte, einem lebenden Wesen ohne zwingenden Grund Schaden zuzufügen, beschloß er, die Möglichkeiten des eingebauten Labors einzusetzen. In kürzester Zeit stellte er eine ausreichende Menge eines Betäubungsmittels her, das seine Qualitäten als Anästhetikum und Narkotikum auch bei fremdartigen Organismen unter Beweis gestellt hatte und sich durch gute Verträglichkeit und schnell einsetzender Wirkung gleichermaßen auszeichnete. Vier Injektionen
schienen ihm für eine lokale Narkose ausreichend zu sein. Er wartete gut eine Minute und versuchte erneut, den Muskel aufzustemmen. Diesmal hatte er Glück. Ohne daß ihm merklicher Widerstand entgegengesetzt wurde, konnte er die zentnerschweren Fasern wegschieben und durch die selbstgeschaffene Lücke hindurchschlüpfen. Rein äußerlich hatte sich die Umgebung nicht viel verändert: Das typische Licht, wieder ein organischer Hohlraum, aber keine grundlegende Veränderung. Was Blödel in maßloses Erstaunen versetzte, war die Vielzahl von Lebewesen, die sich hier tummelten. Auf Anhieb konnte er fünf verschiedene Spezies unterscheiden, und dabei handelte es sich durchaus nicht um so einfach gebaute Geschöpfe wie die Würmer, die ihm ans Leder gewollt hatten, sondern um Wesen, die allein von ihrer äußeren Gestalt her auf eine höhere Entwicklungsstufe schließen ließen. Der Roboter stand auf einer aus Zellen gebildeten Erhebung und beobachtete das Treiben um sich. Von Koexistenz schien man nie etwas gehört zu haben, es herrschte Krieg, obwohl keine Waffen eingesetzt wurden, und ständig wechselten Fronten und Verbündete. Trotz seiner leistungsfähigen Positronik vermochte er in den Attacken keinen Sinn erkennen, denn es ging weder um Nahrung noch um Territorien. Das ergab sich aus den Befehlen und Dialogen, die er mühelos verstand, weil das Idiom der fremden Automaten benutzt wurde. Offensichtlich war das die Einheitssprache auf und in Grünblau. Eine Horde gut metergroßer Wesen, die aussahen wie riesige Tulpenblüten auf kurzem Stiel, balgte sich mit mehreren schwammartigen Gebilden. Obwohl kleiner und in der Minderzahl, trieben sie die zitronengelben Angreifer mit herausschnellenden Nesselfäden immer wieder zurück. Endlich waren die Tulpen, wie Blödel sie nannte, der Attacken überdrüssig und ließen von ihren wehrhaften Gegnern ab. Sogleich wurde nach neuen Opfern Ausschau gehalten. Lautes
Geschrei der mit keinen sichtbaren Wahrnehmungsorganen ausgestatteten Geschöpfe bewies, daß sie den Scientologen entdeckt hatten. Mit ihren Stummelfüßchen bewegten sie sich behende auf ihn zu. Blödel ließ sie ein Stück herankommen und stürmte los, ihnen entgegen. Damit hatten die Tulpen wohl nicht gerechnet. Sie verharrten, stießen gegeneinander oder stürzten. Wer noch auf den Beinen war, suchte sein Heil in der Flucht, und nur zwei, drei ganz mutige Exemplare versuchten, den Roboter mit ihren Rankenarmen zu umschlingen und festzuhalten. Sein Schwung riß sie einfach um. Die mobile Laborpositronik lief weiter. Fünf vierschrötige Gestalten verstellten ihr den Weg. Die wandelnden Fleischberge waren mehr als zwei Köpfe größer als Nockemanns Mitarbeiter und sahen furchterregend aus. Auf dem massigen robbenähnlichen Körper thronte ein kleiner runder Kopf mit mächtigen Hauern an beiden Seiten und drei handlangen Hörnern auf der Stirn. Die teigigen Gesichter schienen nur aus Narben zu bestehen, die kaum sichtbaren Augen funkelten tückisch. Die drohend geöffneten Rachen ließen mehrere Zahnreihen hintereinander erkennen, Raubtiergebissen gleich. Sie bewegten sich schwerfällig auf einem kurzen Beinpaar, dafür besaßen ihre muskulösen Arme Überlänge. Beide wuchsen links und rechts aus dem Rumpf, doch zusätzlich verfügten sie noch über zwei ausrollbare Tentakel, die über diesen Extremitäten aus den Schultern ragten. Blödel erkannte, daß er diese Kolosse mit dem struppigen grauen Fell nicht umrennen konnte, und stoppte ab. Einer der fünf stieß unverständliche Knurrlaute aus und griff nach dem Synthowesen. Gedankenschnell schlug dieses die Pranke zu Seite, doch schon faßten die Tentakelarme nach und versuchten, ihn auszuhebeln. Um ein Haar wäre es gelungen – trotz seines Gewichts. Der Roboter sah ein, daß diesen Muskelpaketen selbst mit seinen körperlichen Mitteln nicht beizukommen war. Kurz entschlossen versprühte er den kleinen Vorrat an selbstproduziertem
Narkosegas. Die Wirkung trat auch prompt ein. Sein unmittelbarer Widersacher hatte die volle Dosis abbekommen und wich taumelnd zurück. Er gab winselnde Töne von sich, die die anderen anstachelten. Mit wütendem Gebrüll drangen sie gemeinsam auf den einäugigen Scientologen ein, dem nichts anderes übrigblieb, als sich Schritt für Schritt zurückzuziehen. Unerwartet kamen ihm drei Intelligenzen zu Hilfe, die an Fabelwesen erinnerten. Der Leib glich dem eines gerupften Perlhuhns, der von unzähligen Borstenfortsätzen getragen und fortbewegt wurde. Aus dem stämmigen Hals wurden nach mehreren Zentimetern drei, die beweglich waren und Schlangenköpfe ohne Augen trugen, dafür federartige Rudimente in der Schädelmitte. Anstelle von Zähnen waren die Münder mit messerscharfen Hornleisten bewehrt. »Wir helfen dir!« sagten die drei ununterbrochen. Ohne zu zögern, attackierten die kaum zu beschreibenden Geschöpfe die fast doppelt so großen Fellträger. Es gelang ihnen, diesen einige recht schmerzhafte Bisse zu versetzen, aber auch die Kolosse teilten ordentlich aus, bis ihre Bewegungen immer langsamer wurden und sie endlich betäubt zusammenbrachen. »Danke!« Blödel hatte kaum ausgesprochen, als die drei gemeinsam über ihn herfielen und nach ihm schnappten. Schraubstöcke konnten nicht fester zupacken als diese Kiefer. Sie rissen an ihm und zerrten ihn hin und her, als wäre er ein Beutestück. Nockemanns Assistent war alles andere als undankbar, aber die Reaktion des Trios ließ nur den Schluß zu, daß es lediglich eingegriffen hatte, um das zu vollenden, was die vierschrötigen Burschen vergeblich versucht hatten. Ärgerlich schüttelte er die bissigen Hohlraumbewohner ab, hielt sie mit seinen Teleskoparmen auf Distanz und machte sich davon. »Haltet ihn!« schrien die Dreiköpfigen, doch niemand kümmerte sich darum.
Für den Roboter war der Weg frei. Als er sich umdrehte, war von einem Verfolger nichts zu sehen. Die Tulpen hatten die Gelegenheit genutzt, um die konsternierten Fabelwesen anzugreifen, und die Schwämme, die sich über die bewußtlosen Muskelpakete hermachen wollten, mußten sich mit rotgefärbten Geschöpfen auseinandersetzen, die Plasmakugeln glichen und ihren Körper amöbenhaft verformen konnten. Dem ungebetenen Gast von der SOL war das nur recht. Ihm lag nichts an zusätzlichen Schwierigkeiten, dennoch bedauerte er die Zwischenfälle nicht, denn er hatte einige wertvolle Erkenntnisse gewonnen. Zum einen hatte er erfahren, daß in dem Grenzwächter verschiedene andere Wesen lebten, teils Tiere oder Parasiten, teils intelligent, und zumindest einige konnten ihm recht gefährlich werden, zum anderen wußte er nun, daß Kioltonn diesen Winzlingen in seinem Innern keine Beachtung schenkte. Speziell für ihn bedeutete das, daß er offensichtlich nicht gezielt gejagt wurde, wenn er nicht durch spektakuläre Aktionen auf sich aufmerksam machte. Er hatte also zumindest vorerst die Chance, sich umsehen zu können, ohne befürchten zu müssen, unversehens in eine Falle zu tappen. * Seit Stunden schon tappte Blödel durch dieses organische Labyrinth aus Röhren, Kammern und Hohlräumen. Wiederholt war er anderen Lebensformen begegnet, die teils recht aggressiv waren und ihn in Gefahr gebracht hatten, dann aber hatte er ein intelligentes Wesen getroffen, das eine entfernte Ähnlichkeit mit Wuschel hatte. Der Roboter und der Bakwer hatten sich mit dem gutmütigen Kerl namens Tizzel angefreundet. Der Kleine war alles andere als ein Dummkopf, doch von den wirklichen Verhältnissen hatte er keine Ahnung. Die Umgebung
war für ihn Realität, es war »seine« Welt. Hier kannte er sich aus, hier fühlte er sich zu Hause. Tizzel berichtete von allerlei seltsamen Räumen und merkwürdigen Dingen, die er gesehen hatte, aber weder verstand noch eindeutig beschreiben konnte. Der Scientologe vermutete, daß es sich um technische Anlagen oder Apparaturen handelte, und sofort war seine Neugier geweckt. »Könntest du uns dorthin führen?« »Ja, aber es ist gefährlich, den gewohnten Lebensraum zu verlassen. Dort draußen lauern Feinde auf mich und auch auf euch.« »Blödel und ich sind zusammen unschlagbar«, tönte der Allesfresser großspurig. »Wir sind überall als unbezwingbare Kämpfer gefürchtet.« »Du kannst dich auf uns verlassen«, sagte Nockemanns Assistent beruhigend. »Mit lebenden Gegnern werden wir schon fertig.« Der Kleine mit dem schwarz‐weiß gefleckten Fell und den lustigen Knopfaugen blinzelte schelmisch. »Also stehe ich unter eurem persönlichen Schutz?« »Ja, ab sofort«, versicherte der Scientologe ernsthaft. »Niemand wird dir etwas zuleide tun.« »Gut, dann kommt mit!« Eilfertig wieselte das zwanzig Zentimeter durchmessende Wollknäuel voraus. Blödel, mit Wuschel in sich, folgte ihm, froh, nun nicht mehr ziellos umherirren zu müssen. Tizzel entpuppte sich als ein ganz vorzüglicher Führer mit ausgezeichneten Ortskenntnissen. Mit traumwandlerischer Sicherheit lotste er den Roboter durch ein Gewirr von Schläuchen und Tunneln, Nischen, Hallen und Energiebahnen. Mehrmals mußte die mobile Laborpositronik exotische Angreifer in die Flucht schlagen, die den Kleinen als willkommene Beute betrachteten, doch alles in allem kamen sie gut voran. »Nun ist es nicht mehr weit«, zwitscherte Tizzel, als sie auf einen schlundartigen Gang trafen, dessen Wände von einem Netz
perlmuttfarbener dünner Stränge durchzogen wurden. Interessiert musterte der Scientologe die Umgebung. Für ein paar Sekunden war er unachtsam, und das wäre ihrem Führer um ein Haar zum Verhängnis geworden. Ein schriller Piepston alarmierte ihn – Tizzel hatte ihn in höchster Not ausgestoßen. Blödel reagierte mit der nur Automaten eigenen Geschwindigkeit. Er erfaßte gleichzeitig, daß das Pelzwesen von einer fleischigen Zunge erfaßt worden war, die zurückschnellte, und sie gehörte einer riesigen Kröte, deren Tarnfarbe sich kaum von der Struktur des Hintergrunds unterschied. Das zu erkennen und die Teleskoparme auszufahren, war eins. Gerade bevor der hilfsbereite freundliche Bursche im aufgerissenen Maul des fetten Vierbeiners verschwand, bekam der Roboter das muskulöse Organ zu fassen und hielt es eisern fest. Das Tier wehrte sich heftig, knurrte und gebärdete sich wie ein tollwütiger Hund, doch er ließ nicht locker, bis Tizzel sich hinter ihm in Sicherheit gebracht hatte. Erbärmlich jaulend, hüpfte die Kröte mit weiten Sprüngen davon. »Das war aber ziemlich knapp, Alter«, ließ sich der Bakwer vernehmen, der vorwitzig aus seinem Wohnfach lugte. »Ich dachte schon, ich müßte eingreifen und diesem prallen Frosch die Zunge anknabbern, damit ihm bewußt wird, daß unsere Freunde keine Nahrungsmittel sind.« »Ich werde in Zukunft noch aufmerksamer sein«, versprach der Roboter. »Warum machst du Blödel Vorwürfe? Er hat mich doch gerettet.« »So kann man es natürlich auch sehen.« Wuschel zog sich zurück, und die Klappe schloß sich wieder. Dumpf tönte es von drinnen: »Deinem Naturell nach zu urteilen, scheinst du zu den Ober‐ Optimisten zu gehören, frei nach dem Motto ›Hurra, ich lebe noch‹.« »Stimmt es denn nicht?« fragte der Kleine arglos. Ein undeutbarer Laut war die Antwort. »Sollte ich ihn beleidigt haben?«
»Nein, nein, Tizzel, er ist manchmal etwas seltsam. Laß uns weitergehen.« Erneut huschte der kleine Kerl davon, gefolgt von Blödel. Nachdem sie eine Abzweigung passiert hatten, blieb Tizzel vor einer ovalen Öffnung stehen. »Wir sind am Ziel. Das ist einer der Räume.« 4. »Abenteuerlicher kann selbst eine erfundene Geschichte nicht sein.« Ehennesi zeigte sich beeindruckt. »Ich kenne niemanden hier im Lager, der eine solch bewegte Vergangenheit hinter sich hat.« »Du hast wirklich einiges erlebt«, pflichtete Atlan bei. Da könntest du aber viel mehr erzählen, kommentierte der Logiksektor ironisch. Spare dir deine Anmerkungen für meine Memoiren auf, gab der Arkonide bissig zurück. Von mir ist jetzt nicht die Rede. »Ein wenig merkwürdig ist, wieso du ausgerechnet auf diesem Planetoiden erwacht bist, der sich als Raumschiff entpuppte. Findest du es nicht auch seltsam?« »Allerdings, aber ich bin bis heute nicht dahintergekommen, ob es ein Zufall war oder mit meinen Fähigkeiten als Emulator zusammenhängt.« Nachdenkliches Schweigen breitete sich aus. Unauffällig beobachtete der Aktivatorträger die so ungleichen Wesen. Beide waren ihm sympathisch, doch was sie dachten, konnte er nicht einmal erraten. Einer von ihnen treibt ein falsches Spiel, warnte der Extrasinn. Und wer? dachte Atlan. Das muß sich noch herausstellen, lautete die ausweichende Antwort. Der Zhu‐Umlat hat sich bisher als verläßlicher und zuverlässiger Partner erwiesen, formulierte der Unsterbliche gedanklich. Und der
Vulnurer hat keinen Grund, unaufrichtig zu sein, denn er ist ein Gefangener wie wir. Was also hast du für Anhaltspunkte für deinen Verdacht? Wie ich dich kenne, willst du Beweise, und die habe ich noch nicht, dennoch rate ich zur Vorsicht. Gegen dich war das Orakel von Delphi regelrecht geschwätzig, zürnte der Arkonide. Für Weissagungen, Visionen, Horoskope und Zukunftsdeutungen aller Art bin ich nicht zuständig, konterte der Logiksektor. Da Ehennesi erneut eine Frage stellte, verzichtete Atlan auf eine geistige Erwiderung. »Daug, mich irritiert, daß dein Volk nach deiner Aussage positiv ist, und dennoch hat es nicht nur dich, sondern auch einen anderen Emulator hervorgebracht. Hast du eine Erklärung dafür?« »Nein, darüber habe ich mir vergeblich den Kopf zerbrochen.« »Und wie ging die Geschichte dann weiter?« Der Insektoide setzte sich bequem und fuhr mit seinem Bericht fort. * DAUG‐ENN‐DAUG Ich weiß nicht mehr, wieviel Monate und Jahre meine Suche dauerte. Systematisch flog ich alle bewohnten Planeten an, denen ich auf meiner Reise begegnete. Obwohl ich anfangs nichts in Erfahrung bringen konnte, ließ ich mich nicht entmutigen und machte weiter. Endlich traf ich die ersten Planetarier, die Kontakt mit meinem Volk gehabt hatten. Sie standen auf einer recht niedrigen Entwicklungsstufe und konnten mir nicht weiterhelfen, aber da ich die Spur der Generationenschiffe aufgenommen hatte, konnte ich gezielt suchen. Dabei stützte ich mich vor allem auf die Technik der JEUDI und die
Hochrechnungen der Positronik, die eine Route ermittelte, die sich dann auch als richtig entpuppte. Nirgends wurde ich mit offenen Armen empfangen. Je nach Mentalität reagierten die verschiedenen Intelligenzen unterschiedlich. Manche zeigten sich gleichgültig, einige hielten meine Vulnurer für weltfremde Spinner, andere verhielten sich ablehnend und betrachteten die Bekehrungsversuche als Einmischung in die inneren Angelegenheiten, doch die meisten jagten mich davon oder zwangen mich mit Waffengewalt, abzudrehen, bevor ich ihren Welten überhaupt einen Besuch abstatten konnte. Mehr als einmal war ich dem Tod ziemlich nahe, weil Raumforts oder Flottenverbände mein Schiff unter Beschuß nahmen. Die aggressiven Rassen traf ich fast ausnahmslos in Sektoren zwischen den Schockfronten an. Das änderte sich erst, als ich eine besonders mächtige Barriere durchstieß und in einen Raumabschnitt gelangte, in dem es diese Abriegelungen nicht gab. Es kam mir so vor, als wäre ich in ein anderes, positiveres Universum gelangt, in dem es keine Schranken zwischen den Sonnensystemen gab. Ich war guten Mutes, bald auf mein Volk zu treffen. Anfangs lagen zwischen den Bekehrungsversuchen und meinem Eintreffen Jahrhunderte, nun wurden die Zeitabstände immer kürzer und verlagerten sich von der Vergangenheit zunehmend in die Gegenwart. Als ich Intelligenzen traf, die mit meinesgleichen erst vor wenigen Wochen Kontakt gehabt hatten, wußte ich, daß ich mein Ziel so gut wie erreicht hatte. Und dann, einige Tage später, ortete ich die GESTERN, die HEUTE und die MORGEN. Ich hatte mein Volk gefunden, aber hatte ich das wirklich? Waren das die Vulnurer, deren Emulator ich bin? Sie hatten ihren Bekehrerwahn zu einer Art Religion gemacht, lebten in Kasten und betrachteten sich als Kinder des Weltraums. Angeblich bestimmte ein von Priestern gewählter Mond die
Geschicke der Vulnurer, doch er war nur eine Marionette. In Wahrheit übten sieben Priesterinnen die Macht aus, genau besehen eigentlich nur die Oberpriesterin, die den Titel »Lichtquelle« trug. Diese heimlichen Herrscherinnen hatten die fixe Idee mit der Missionierung im Lauf der Zeit zu einem regelrechten Kult erhoben und mit Schriften und Riten verbrämt, die zwar Eingang in den Alltag gefunden hatten, andererseits jedoch so geheimnisvoll waren, daß der gutgläubige Laie sie nicht zu durchschauen vermochte. Mir behagte weder das fanatische Bekehrertum noch die Art der Führung, da ich in dieser Hinsicht ganz andere Vorstellungen hatte. Auch bei den Bewohnern der Generationenschiffe spielte die Lichtquelle eine wesentliche Rolle, allerdings war stets vom Auffinden der »Wiedergeborenen Lichtquelle« die Rede – was immer das auch bedeuten mochte. Unzufrieden mit meinen Beobachtungen, mischte ich mich unerkannt unter die Bewohner der HEUTE. Bestürzt mußte ich erkennen, daß meine Artgenossen sich in die völlig falsche Richtung entwickelt hatten. Riso‐Kell‐Risos Gehirn hatte mich mittels Sensoren als etwas Besonderes eingestuft und mich sogar für die ominöse Lichtquelle gehalten, hier erlebte ich fast das Gegenteil. Ich fiel weder auf, noch entdeckte ich jemanden, der eine wie auch immer geartete Beziehung oder gefühlsmäßige Bindung zu mir entwickelte. Es gelang mir, mich unbemerkt abzusetzen. Enttäuscht und in dem Bewußtsein, dem falschen Volk gefolgt zu sein, kehrte ich in jenen Teil des Alls zurück, in dem sich die Schockfronten befanden. Es mußte – das wurde mir immer klarer – negative Vulnurer geben, und die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden, war in dieser Zone größer als anderswo. Erneut begann ich mit der Suche. Jahrzehntelang war ich unterwegs, und dann ereilte mich das Schicksal. Beim Anflug auf einen Planeten wurde die JEUDI angegriffen und getroffen. Es gelang mir noch, mich auszuschleusen, bevor sie zerstört wurde,
doch ich verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in der Gewalt von Robotern, die mich hierherbrachten. * Nachdenklich betrachtete Atlan den Vulnurer. Er war also nicht mit seinem Raumschiff in die energetische Falle dieses Systems geraten, sondern anderswo abgefangen und auf diesen Planeten verschleppt worden. Für ihn bestand kein Zweifel daran, daß Daug‐Enn‐Daug ein Verbündeter war, aber einen Zusammenhang zwischen der Geschichte des Emulators und den Verhältnissen in der Namenlosen Zone vermochte er nicht zu erkennen. Nur so viel war für ihn klar: Es mußte eine unbekannte Macht im Hintergrund geben, der daran gelegen war, die positiven Elemente zu isolieren und damit auszuschalten. Daß sich in diesem Gefängnis – von ihm und den Solanern einmal abgesehen – ausschließlich Emulatoren befanden, mußte einen bestimmten Grund haben, und den glaubte der Arkonide zu kennen. Daugs Bericht nach mußte dieser die Namenlose Zone verlassen haben und auch wieder in diese eingedrungen sein. Bei der Detailgenauigkeit des Vulnurers war zu erwarten, daß er die Benutzung eines Nabels erwähnt hätte. Daß er davon nichts gesagt hatte, bestärkte den Aktivatorträger in seiner Ansicht, daß er es ohne derartige Hilfen geschafft hatte, was wiederum nur den einen Schluß zuließ, daß es sich um einen sehr starken Emulator handeln mußte. Aber: Gab es die negativen Vulnurer wirklich? Hatte sich Daug‐Enn‐Daug nicht selbst als ein Fehlprodukt bezeichnet? Widerstreitende Gefühle beherrschten Atlan. Sei wachsam! Einer der beiden Emulatoren verstellt sich! Erneut warnte ihn der Logiksektor, ohne konkret zu werden. Log Daug? Sein Bericht klang eigentlich plausibel, und er hatte ungefragt Einzelheiten erwähnt, die nur ein Eingeweihter wissen
konnte. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus erkundigte sich der Arkonide: »Wie hieß die Oberpriesterin, als du auf der HEUTE geweilt hast?« »Lichtquelle‐Mara«, kam prompt die Antwort. Überrascht starrte der Aktivatorträger sein Gegenüber an. »Dann mußt du auf dem Schiff gewesen sein, kurz bevor wir deinem Volk begegnet sind!« rief er verblüfft. »Du kennst Lichtquelle‐Mara?« fragte der Emulator nicht weniger erstaunt. »Nein, nicht persönlich. Die Priesterin mit diesem Namen, der ich begegnet bin, wurde von mir und meinen Freunden als ein Fremder entlarvt, als ein Bösewicht, der deine Artgenossen im Namen seines Herrn dazu bringen wollte, einen Vernichtungskampf gegen die SOL zu führen. Es mißlang.« Mit wenigen Worten verdeutlichte der Unsterbliche seinen Zuhörern die Hintergründe und zeigte die positive Entwicklung der Bekehrer seit Jactas Amtsantritt als Führerin der Priesterschaft auf. »Die Vulnurer haben sich gewandelt – zu ihrem Vorteil gewandelt. Lichtquelle‐Jacta hat eine neue Epoche eingeläutet.« »Nun, da ich weiß, daß mein Volk sich auf andere und bessere Werte besonnen hat, bedaure ich es sehr, nicht dort geblieben zu sein.« Daug‐Enn‐Daug bewegte die Fühler. »Zwar erscheint mir ihr Streben, die Lichtquelle zu finden, als eine Überreaktion, aber es beweist, daß sie auf der positiven Seite stehen. Ich glaube, daß sie in der Namenlosen Zone, wie du diesen Sektor genannt hast, eine entscheidende Rolle spielen könnten.« Atlan nickte beifällig. Auch er war davon überzeugt, daß die Vulnurer in diesem undurchsichtigen Machtkampf ein Faktor waren, der geeignet war, das Böse einzudämmen und die negativen Kräfte entscheidend zu schwächen. Und was die Lichtquelle anging, so vermutete er, daß sie mit jener auf der Basis des früheren Ersten Zählers identisch war, hütete sich jedoch, diesen Gedanken laut
werden zu lassen. Die Warnung seines Extrasinns fiel ihm wieder ein. Unwillkürlich mußte er lächeln. Wahrscheinlich hörte dieser wieder einmal die Flöhe husten, wie die Terraner zu sagen pflegten. Er selbst sah jedenfalls keinen Grund, seinen Gesprächspartnern zu mißtrauen. »Entschuldige, wenn ich euer trautes Beisammensein störe, aber weißt du, wo Blödel steckt?« Der Arkonide blickte zuerst auf sein Chronometer und dann zu dem Wissenschaftler hoch. »Nein, in den letzten Stunden habe ich ihn nicht gesehen.« Nockemann zwirbelte seinen Bart. »Das ist sehr merkwürdig. Niemandem ist er seit dem – äh – Mittagessen begegnet.« »Seltsam. Er tauchte kurz nach unserem von dir abrupt abgebrochenen Gespräch bei mir auf und ging gleich darauf wieder, weil er nach dir sehen wollte.« »Bei mir ist er nicht gewesen. Jeden habe ich gefragt, keiner weiß etwas über seinen Verbleib. Allmählich mache ich mir Sorgen.« Tyari kam angerannt. Sie winkte heftig und rief schon von weitem: »Alarm! Die Heruntergekommenen greifen wieder an! Kommt zurück!« Atlan und Ehennesi sprangen sofort auf. Gemeinsam halfen sie dem Vulnurer auf die Beine, der sich verständnislos umwandte. »Was ist los?« »Die primitiv gewordenen, verblödeten Emulatoren wollen über uns herfallen«, grollte der Galakto‐Genetiker. »Und ausgerechnet jetzt ist Blödel nicht zur Stelle. Sie werden ihm doch hoffentlich nichts angetan haben?« Die Frage galt dem Arkoniden, aber der Platz, an dem er eben noch gestanden hatte, war leer. Der Wissenschaftler bekam große Augen, Anzeichen von Panik zeigten sich auf seinem Gesicht. »Los, weg hier, bevor es uns auch noch erwischt!« Er stieß die beiden Emulatoren zur Seite, umfaßte die Hand der
Frau und zerrte sie davon, obwohl sie sich sträubte. »Ich muß zu Atlan! Laß mich los!« »Den Teufel werde ich tun«, keuchte der Scientologe. »Es genügt, wenn er weg ist.« »Du gehörst zu seinem Team«, sagte Tyari. »Es ist deine Pflicht, ihm zu helfen.« Beschwörend setzte sie hinzu: »Wir müssen ihn retten!« »Zuerst einmal muß es uns gelingen, den Überfall dieser Verrückten abzuwehren.« Hage Nockemann schnappte nach Luft. »Verdammt, dieser Planet schafft mich. Blödel ist spurlos verschwunden, Atlan löst sich vor unseren Augen in Luft auf, und die degenerierten Emulatoren starten einen Angriff. Das kann kein Zufall sein.« Tyari gab keine Antwort. Sie näherten sich dem Ort des Geschehens. Ein Kampf Mann gegen Mann war entbrannt. Mit primitiven Waffen, Knüppeln und einfachen Werkzeugen gingen die heruntergekommenen Gestalten gegen die Solaner und die geistig intakten Internierten vor, ohne Hemmungen oder Skrupel zu zeigen. Wild droschen sie auf alles ein, was sich bewegte, und brachten die Angegriffenen in arge Bedrängnis. Schon stürzten sich einige auf den Genetiker und Tyari, Daug und Ehennesi. Selbst dem friedliebenden Zhu‐Umlat blieb keine andere Wahl, als sich mit körperlichen Mitteln zu verteidigen. Und damit steckten die vier mitten im Getümmel. 5. Aufmerksam sah sich der Roboter um. Tizzel hatte nicht übertrieben. Die Maschinen waren so fremdartig, daß sie kaum zu beschreiben waren – ganz zu schweigen von ihrem Verwendungszweck. Sie waren in die Substanz des Grenzwächters integriert, bestanden aber nicht selbst aus organischer Materie, wie
Blödel feststellte. Nachdenklich betrachtete er eine Ansammlung metallisch schimmernder Körper, die von ihrer Konzeption her zwar geometrisch waren, aber das ursprüngliche Aussehen nur noch erahnen ließen. Sie glichen Würfeln, Pyramiden und Kegeln aus Wachs, die man durch Hitze verformt hatte. Alles war verfremdet, nichts wirkte funktionell. Er konzentrierte sich auf das Gewebe. Es hatte die Anlagen überwachsen, und es hatte den Anschein, als wenn die Zellen mit der Struktur des synthetischen Materials eine Verbindung eingegangen wären. Plötzlich entdeckte er über sich einen Gewebestrang, der heller gefärbt war als seine Umgebung und auch eine andere Struktur besaß. Der Scientologe wußte sofort, daß es sich um Nervenfasern handelte. Er folgte der Leitung und sah, daß sie zum Anfang eines Energieschlauchs führte und dort einmündete. Und schon hatte er eine Idee, wie er möglicherweise doch noch zu interessanten Informationen kommen konnte. Wieder einmal erwiesen sich seine biologischen Kenntnisse als vorteilhaft für sein Vorhaben. Blödel hielt es für so gut wie ausgeschlossen, daß dieser Strang zum Lebensnervensystem gehörte, das Körperfunktionen wie Atmung und Stoffwechsel steuerte, und er glaubte auch nicht, daß es sich um jene Fasern handelte, die die Erregung von Sinneszellen zu Erfolgsorganen wie Drüsen und Muskeln weiterleiteten. Am einfachsten wäre es gewesen, mit einer feinen Sonde in die Nervenbahnen hineinzustechen und so das Aktionspotential der Zellen zu messen, doch eine solch mechanische Schädigung wäre an eine Kontrollinstanz weitergeleitet worden, und daran war ihm wirklich nicht gelegen. Der Roboter nahm sich daher die Zeit, ein bereits vorhandenes Instrument geringfügig abzuändern und quasi als »Anzapfer« einzusetzen. Das Gerät war nun in der Lage, das
Informationsmedium der Nerven – elektrischen Strom in einer Stärke von Millivolt – aufzunehmen und so zu verstärken, daß seine Positronik die Impulse verwerten und entschlüsseln konnte. Tatsächlich ging eine Sendung über das organische Kabel, aber es waren unverständliche Schwingungen. Fast zwei Minuten brauchte sein Rechner, bis er den genabhängigen körperlichen Kode des riesigen Lebewesens »geknackt« hatte. Seine Erwartung, bedeutsame Dinge zu erfahren, wurde enttäuscht. Es handelte sich um eine Art Plausch zwischen Kioltonn und anderen Grenzwächtern, in denen sie sich darüber beklagten, daß es in der letzten Zeit – umgerechnet etwa fünfhundert Jahre – Lücken in ihrer Erinnerung gab. Sie hatten keine Erklärung dafür, allerdings äußerten sie übereinstimmend den Verdacht, von anderen für ihre Aufgaben umfunktioniert worden zu sein, die nicht mit ihren ursprünglichen übereinstimmten und ihrem eigentlichen Daseinszweck widersprachen. Wer oder was sie manipuliert hatte, wußten sie allerdings nicht. Einer glaubte sich zu erinnern, einmal Befehle von einem gewissen Pagen erhalten zu haben, war sich aber nicht sicher. Im Verlauf der Unterhaltung wurde Nockemanns Assistent deutlich, daß die Grenzwächter keineswegs Bösewichte waren, sondern mißbrauchte Geschöpfe, deren Dasein eine gewisse Tragik anhaftete. Es waren hilflose Riesen, unwissend und gutmütig. Die Laborpositronik überkam regelrechtes Mitleid mit diesen Kolossen und ihrem freudlosen Schicksal. Schon wollte Blödel seinen Horchposten aufgeben, weil ihm der Dialog nicht weiterhalf, als er plötzlich hellhörig wurde. »Wann gibst du endlich zu, daß du auf deinem Planeten etwas gefangen hältst? Was ist es?« »Ich verstehe die Frage nicht. Ich bin ein Grenzwächter wie ihr.« »Das stimmt nicht, denn du bist eine Ausnahme. Wir anderen dürfen niemanden passieren lassen, ohne zu wissen, was wir abriegeln und zu schützen haben.«
»In dieser Hinsicht habe ich euch nichts voraus. Ich kenne nur mein eigenes Sonnensystem.« Ausgerechnet jetzt, da es interessant zu werden versprach, mußte der Roboter den Kontakt abbrechen. Eine Horde der in Kioltonn wohnenden Wesen hatte sich zusammengerottet, darunter auch die robbenähnlichen Hornträger und die bissigen Dreihalse. Sie befanden sich in einer solchen Überzahl, daß sich der Scientologe zur Flucht entschloß. »Komm, Tizzel, wir müssen verschwinden!« Der Kleine, der sich ängstlich fiepend an seinen solanischen Beschützer geschmiegt hatte, schien auf eine solche Entscheidung nur gewartet zu haben. Wie von der Sehne geschnellt schoß er davon, so daß Blödel Mühe hatte, ihm zu folgen. Wieder betätigte sich das schwarzweiße Fellbündel als Führer. In hohem Tempo ging es durch organische Gänge, Hallen und Flure. Das wütende Gebrüll der nachsetzenden Verfolger wurde immer leiser und erstarb schließlich ganz. Anscheinend hatten sie eingesehen, daß ihnen das Opfer entkommen war. Vielleicht wären sie weniger enttäuscht gewesen, wenn sie gewußt hätten, daß die vermeintliche Beute ohnehin ungenießbar war. Unvermittelt stoppte Tizzel ab. »Was ist?« »Weiter bin ich noch nie gekommen. Ich weiß nicht, was sich vor uns befindet.« »Es dürfte nicht schwer sein, das herauszufinden.« »Sollen wir nicht lieber umkehren? Ich fürchte mich.« »Das brauchst du nicht. Ich werde vorausgehen.« Nach den bisher gemachten Erfahrungen hatte Blödel keinerlei Hemmungen, sein gesamtes Instrumentarium einzusetzen. So entging ihm nicht, daß ganz in der Nähe Energien freigesetzt wurden, die eine Komponente aufwiesen, die seine Aufmerksamkeit weckte. Zielstrebig, aber mit der gebotenen Vorsicht, näherte sich der Scientologe diesem Ort.
Er entpuppte sich als ein überschaubarer Raum organischen Ursprungs, in dem lediglich ein Gerät stand, das von einem Roboter bedient wurde. Die Maschine war in Betrieb, und sie war weit weniger exotisch als die Anlagen, die Nockemanns Mitarbeiter vorher zu Gesicht bekommen hatte. Aus einem scheunentorgroßen dunklen Schlund mit konturlosem Hintergrund tauchte ein leuchtender Brocken auf, der von bläulichen Fesselfeldern sofort in Form gepreßt wurde. Blödel identifizierte ihn als Sternenmaterie, die offensichtlich bei der Energieversorgung oder der Nahrungsaufnahme Kioltonns eine Rolle spielte. Zweifellos handelte es sich dabei um die Substanz der Sonne NZ‐3, und damit stand für den Roboter fest, daß es sich bei dem Gerät um so etwas wie einen Materietransportator oder um einen Transmitter handelte. Als der Automat mit seiner Fracht abzog, pirschte sich der Scientologe an die Maschine heran und untersuchte sie. Da ihm der Verwendungszweck bekannt war, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, die Anordnung der Bedienungselemente zu begreifen. Er vergewisserte sich bei Tizzel, der am Eingang Wache hielt, daß niemand in der Nähe war, dann schaltete er das Gerät an. Leuchtskalen zeigten, daß es betriebsbereit war. »Laß den Unsinn!« zeterte Wuschel, der neugierig aus seinem Fach lugte. »Das bringt uns nur eine Menge Ärger und Unannehmlichkeiten. Vielleicht explodiert das Ding sogar.« »Unsinn!« Ohne auf die Warnungen des Bakwers zu hören, nahm Blödel verschiedene Schaltungen vor und beobachtete das Ergebnis seiner Bemühungen auf mehreren Sichtschirmen. Anhand von eingeblendeten Koordinatennetzen korrigierte er die Feineinstellung, justierte die Empfangsstelle auf diesen Raum und richtete die Sendeeinrichtung auf Rostbraun und dort auf eine ganz bestimmte Person. Noch einmal kontrollierte er die eingegebenen Funktionen, dann gab er durch einen Tastendruck die
Energiezufuhr für den Transportvorgang frei. Sein verrückter Plan hatte Erfolg. Wenige Meter von ihm entfernt materialisierte Atlan. * Der Arkonide war völlig überrascht – nicht nur darüber, daß er versetzt worden war, sondern auch wohin. Fast noch mehr erstaunte ihn jedoch, ausgerechnet hier auf Blödel zu treffen. Mit knappen Worten unterrichtete der Roboter den Aktivatorträger über alle wissenswerten Ereignisse und berichtete ihm auch von dem belauschten Gespräch zwischen Kioltonn und den anderen Grenzwächtern. Atlan war ein Mann, der sich den gegebenen Umständen sofort anzupassen verstand. Aufgrund früherer Erlebnisse stimmte er mit Nockemanns Assistenten in der Beurteilung der Grenzwächter überein, daß sie nicht grundsätzlich negativ waren. Da er und die gefangenen Solaner keine Emulatoren waren, konnten sie eigentlich keine Feinde des Riesenwesens sein, und deshalb war ihm daran gelegen, direkt Kontakt zu Kioltonn zu bekommen. Das sagte er Blödel auch. Der hatte keine Einwände dagegen, zumal er sich selbst schon Gedanken darüber gemacht hatte. Bevor sie verschwanden, nahm der Roboter an dem Materietransportator noch einige Manipulationen vor. Damit war gewährleistet, daß sie sich bei Gefahr abstrahlen und in Sicherheit bringen konnten, denn das Gerät war jetzt auch mittels Funkimpulsen per Fernschaltung zu bedienen. Da Tizzel dieses Gebiet nicht kannte und Atlan in der ungewohnten Umgebung noch Orientierungsschwierigkeiten hatte, übernahm es Blödel, vorauszugehen und aufzupassen, daß sie nicht überrascht wurden. Zugleich hielt er Ausschau nach einer Einrichtung, die es ermöglichte, unmittelbar mit dem Grenzwächter
zu reden. Sie trafen nur einmal auf katzenähnliche Sechsbeiner, die allerdings zu klein waren, um ihnen gefährlich werden zu können, dafür bekamen sie mehr Technik zu Gesicht – skurrile Maschinen und ins Gewebe eingefügte Apparate, wie sie der Roboter in ähnlicher Ausführung bereits kannte. Es hatte den Anschein, daß dieser Sektor von den Lebewesen gemieden wurde. Nach fast zwanzigminütigem Marsch durch das organische Labyrinth und vorbei an fremdartigen Apparaturen gelangten sie zu einer eiförmigen Höhle, die auf den ersten Blick leer zu sein schien. Es war der Kleine, der halb verborgen hinter Hautlappen und Zellverbänden eine Nische entdeckte. Sie war der Eingang zu einem gut zwei Meter durchmessenden Stollen, der schnurgerade weiterführte und in eine Halle mündete, in der ein Kreuzer bequem Platz gefunden hätte. Eine Menge technischer Geräte war zu sehen, aber auch Bildschirme, die in das organische Material integriert waren. Sie waren desaktiviert, doch einige Maschinen waren in Betrieb. Ein feines Summen lag in der Luft, in verwirrendem Rhythmus gingen Kontrollichter an und aus. Der Raum erweckte den Anschein eines Überwachungszentrums, doch was von hier aus gesteuert wurde, war nicht einmal andeutungsweise zu erkennen. Weder fremde Tiere und Intelligenzen noch Roboter hielten sich hier auf. Wahrscheinlich arbeitete die Anlage vollautomatisch. Interessiert gingen Atlan und Blödel von Pult zu Pult, doch da war nichts, was Ähnlichkeit mit einem Interkom‐Anschluß oder einer Sprecheinheit hatte. Schon wollten die beiden das Gewölbe durch den gegenüberliegenden Ausgang verlassen, als Tizzel sie zurückrief. »Seht mal, was ich gefunden habe!« Der Arkonide und sein Begleiter kehrten um. Verdeckt durch zopfähnliche, herabhängende Gebilde organischen Ursprungs war eine Einbuchtung auszumachen, in der ein kastenförmiges Etwas
stand. Blödel schob die Quasten zur Seite. »Wir haben gefunden, was wir suchen!« Das Gerät hatte wenig Ähnlichkeit mit denen, die auf der SOL gebräuchlich waren, war allerdings nicht so exotisch wie andere Einrichtungen. Einem geschulten Auge verriet es durchaus seine Funktion. Der Roboter überließ es dem Aktivatorträger, den Kommunikator in Betrieb zu nehmen, der allein der Verständigung diente und nicht mit einem Aufnahmegerät zur optischen Übermittlung verbunden war. »Kioltonn, hörst du mich?« Eine Antwort blieb aus. Der Arkonide glaubte schon an einen Fehlschlag, als sich eine Stimme meldete. »Wer spricht da zu mir?« »Mein Name ist Atlan. Ich gehöre zur Besatzung des Raumschiffs, das du zur Landung auf Rostbraun gezwungen hast.« »Wie bist du in mich gekommen?« »Mein Begleiter gelangte im Gefolge deiner Roboter in einen der Energieschläuche. Er hat eine der technischen Einrichtungen in deinem Körper benutzt, um mich nachzuholen.« Bewußt hatte der Unsterbliche das Wort »Transmitter« vermieden. Falls der Grenzwächter sie doch als Feinde betrachtete, wollte er ihm nicht ihre einzige Fluchtmöglichkeit verraten. »Von welchen technischen Einrichtungen sprichst du?« klang es überrascht. Er weiß davon nichts. Kläre ihn auf – er wird es als einen Freundschaftsdienst betrachten. »In dir befinden sich eine Menge Maschinen und Apparate«, sagte der Arkonide und folgte damit dem Rat seines Logiksektors. »Und Roboter besorgen für dich die Nahrung.« »Das stimmt«, bestätigte der Koloß, »aber von Maschinen ist mir nichts bekannt. Jemand muß sie mir eingepflanzt haben.« »Und du hast keine Ahnung, wer das war?«
»Nein, meine Erinnerung ist lückenhaft.« »Es waren jene fremden Mächte, die dich auch dazu gezwungen haben, diese Aufgabe zu erfüllen, die deinem eigentlichen Dasein völlig widerspricht.« Geschickt setzte Atlan die Informationen ein, die er von Blödel bekommen hatte. »Man mißbraucht dich, dich und die anderen Grenzwächter.« »Woher hast du dein Wissen? Gehörst du etwa selbst zu den Unbekannten?« »Nein, denn würde ich sonst zu dir sprechen? Ich will, daß du erkennst, daß meine Gefährten und ich Freunde sind.« Er gab einen Schuß ins Blaue ab. »Du bist der einzige Grenzwächter, der auf seinem Planeten Gefangene hält.« »Ich muß es tun«, jammerte Kioltonn. »Du weißt genau, daß wir keine Emulatoren sind«, setzte der Arkonide nach. »Warum hältst du uns trotzdem fest?« »Ich darf niemand passieren lassen.« »Vielleicht könnten wir dir helfen, dich aus der Versklavung zu befreien, aber dazu müßtest du uns freilassen und uns unser Schiff zurückgeben.« »Ich kann es nicht, selbst wenn ich es wollte.« Die Stimme schwankte und wurde leiser. »Kioltonn, was ist mit dir?« »Da ist etwas in mir, das mich zwingen will, den Kontakt mit euch abzubrechen«, drang es kaum verständlich aus dem Lautsprecher. »Es ist euch feindlich gesinnt und versucht, mein Bewußtsein zu überlagern …« »Du mußt dich wehren, Kioltonn«, schrie Atlan, der nunmehr sicher war, in dem Grenzwächter einen – wenn auch zur Untätigkeit verdammten – Verbündeten gewonnen zu haben. »Widersetze dich den Impulsen!« »Es … hetzt die … Roboter … auf euch«, ertönte es stockend und von Krachen überlagert. »Es hat sich … mir als … Hauptrobotik zu … erkennen gegeben, deren Befehle … ich zu befolgen … habe.«
»Du darfst diesen Anweisungen nicht gehorchen! Du mußt nicht!« Mit aller Deutlichkeit wurde dem Arkoniden bewußt, daß die fremde Macht im Hintergrund sich nicht damit begnügt hatte, die Grenzwächter nur umzufunktionieren, sondern zusätzlich noch ein Kontrollelement in Form einer Positronik eingebaut hatte. Und wahrscheinlich war es in Wahrheit auch das kybernetische System, das den Riesen und die Automaten unter Ausnutzung dessen besonderer Fähigkeiten lenkt. Die Frage war nun, ob es ihm gelang, sich dieser Beeinflussung zu entziehen und erfolgreich zu widersetzen. »Ich kann die Befehle abblocken«, verkündete der Koloß freudig erregt. »Ich werde euch beistehen, so gut ich kann.« »Danke, Freund Kioltonn!« Atlan wollte noch mehr sagen, doch Blödel winkte heftig. »Wir müssen weg hier. Roboter sind im Anmarsch.« Der Scientologe eilte voraus. Zur Überraschung des Arkoniden benutzte er den Durchlaß, durch den sie hergekommen waren. Wahrscheinlich konzentrierte sich das technische Potential und damit auch die Automaten mehr auf den Innenraum, während die Außenbezirke von fremdrassigen Lebewesen bevölkert wurden. Tizzel trippelte wie ein Hund neben dem Roboter her. Sie hatten gerade den Stollen hinter sich gebracht, als unerwartet etwa zwanzig Gestalten vor ihnen auftauchten. Angeführt wurde der Trupp von zwei muskulösen Echsenabkömmlingen, die bestimmt 2,50 Meter groß waren. Einer von ihnen hielt eine Waffe in der linken Pranke, die fatale Ähnlichkeit mit einem Strahler hatte. »Stehenbleiben!« herrschte er die drei an und entblößte sein furchterregendes Gebiß. »Typen wie euch habe ich noch nie hier gesehen. Wo kommt ihr her?« »Aus dem Innenbereich«, log Blödel. »Und was habt ihr dann hier zu suchen?« »Wir sind auf der Flucht. Roboter sind hinter uns her, und sie werden bald hier sein. Sie machen Jagd auf alles, was lebt.«
»Genau wie wir.« Die Augen in dem plattgedrückten Schädel funkelten tückisch. »Los, alles abliefern, was ihr bei euch habt.« »Wie du siehst, bin ich unbekleidet – genau wie der Kleine.« »Dann seid ihr für uns wertlos!« Bevor der Scientologe es verhindern konnte, hatte der Riese seine Waffe abgefeuert. Tizzel war auf der Stelle tot. In ohnmächtiger Wut mußte Atlan mit ansehen, wie das hochgewachsene Monstrum den Strahler auf Blödel richtete. Der war gewarnt und wußte, daß sein Gegner keine Skrupel kannte. Seine Teleskoparme schossen vor und entrissen dem anderen das Mordinstrument mit solcher Gewalt, daß der Echsenabkömmling eine Kralle verlor. Entsetzt starrte er auf sein lädiertes Greiforgan. Der Roboter wartete nicht, bis sich die Wegelagerer wieder gefaßt hatten, sondern warf dem Arkoniden die Waffe zu. Der fing sie geschickt auf und hielt damit die anderen in Schach, während Blödel den Anführer packte und gegen die Wand preßte. »Wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet, geht es euch verdammt schlecht«, drohte Nockemanns Assistent. »Mein Begleiter hat nämlich einen sehr nervösen Zeigefinger.« Er gab den Hünen frei. »Hau ab, du Mörder, bevor ich es mir anders überlege!« Die Reaktionsgeschwindigkeit und die ungewöhnlichen Kräfte des Roboters mußten ihn ziemlich beeindruckt haben, denn er suchte sein Heil in der Flucht. Hals über Kopf folgten ihm seine Kumpane. »Das war ziemlich knapp«, sagte der Aktivatorträger. »Mir tut der unschuldige kleine Kerl leid. Armer Tizzel! Er hat seine selbstlose Hilfe mit seinem Leben bezahlt.« Blödel schwieg. Er nahm das auf, was von dem Pelzknäuel übriggeblieben war und bettete die sterblichen Überreste in eine organische Nische. »Danke für alles, kleiner Freund!« Er wandte sich Atlan zu. »Wir müssen weiter. Komm!« Wieder setzte sich der Scientologe an die Spitze. Mit strammem
Schritt, dicht gefolgt von dem Arkoniden, marschierte er los. Dabei war er gezwungen, immer wieder die Richtung zu ändern, weil die fremden Automaten versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden. Sie wurden mittlerweile per Funk dirigiert. Es war für Blödel kein Problem, die Anweisungen zu entschlüsseln, nur mit den Koordinaten vermochte er wenig anzufangen. So mußte er sich vorrangig auf sein körpereigenes Instrumentarium verlassen. Und dann gerieten sie doch in eine Falle. Der Roboter hatte ermittelt, daß die Hauptrobotik damit begonnen hatte, sie einzukreisen. Notgedrungen wichen die beiden von der SOL dorthin aus, wo noch keine anderen Automaten aufmarschierten. Die Halle, in die sie dabei gerieten, erwies sich als Sackgasse. Es gab keinen zweiten Ausgang und kein wie auch immer geartetes Versteck. Wohl befanden sich etliche Maschinen in diesem Raum, aber dahinter verbergen konnten sie sich nicht, denn sie waren ins Gewebe eingefügt. Möglicherweise hätte es ihnen Kioltonn noch nicht einmal übelgenommen oder überhaupt bemerkt, wenn sie sich gewaltsam einen Fluchtweg bahnten, doch für den Aktivatorträger wäre es wohl trotz seiner relativen Unsterblichkeit das Ende gewesen. Von einem Säureregen überschüttet zu werden, wie es Blödel passiert war, überlebte niemand, der aus lebenden Zellen bestand. Daß es zu spät war, um umzukehren, bewiesen die auftauchenden Automaten. Sie waren unbewaffnet und glichen jenem Exemplar, das Nockemanns Assistent beim Materietransportator beobachtet hatte. Weder Atlan noch sein Begleiter gaben sich irgendwelchen Illusionen hin. Gewiß, sie verfügten über einen Strahler, und die Taschen seiner Kombination enthielten auch noch einiges, das durchaus dazu geeignet war, um Angreifer abzuschrecken und zu vertreiben, doch zu einem Sieg würde es nie reichen, dazu war die Übermacht einfach zu groß. »Zurück!« In seiner Not versuchte es der Arkonide mit einem Bluff. »Zurück, oder ich zerstöre die Anlagen hier!«
Der Vormarsch der Maschinen geriet ins Stocken. Augenscheinlich war dem Rechner daran gelegen, daß die Schäden so gering wie möglich gehalten wurden. Blödel, der nach wie vor den Funkverkehr überwachte, bestätigte das. »Die Roboter hier haben Anweisung bekommen, nicht aktiv zu werden und uns notfalls nur daran zu hindern, den Raum zu verlassen. Tonn‐Eins und seine Schrottarmee befinden sich auf dem Weg hierher.« »Dann haben wir überhaupt keine Chance mehr. Wir müssen einen Ausbruch riskieren.« »Zwei gegen fünfzehn ist kein gutes Verhältnis.« »Mich hast du wohl vergessen, was?« empörte sich der Bakwer. »Wenn wir hier ein Feuerwerk abbrennen, bleibst du gefälligst in mir, sonst geht es dir am Ende noch wie Tizzel.« Atlan hatte einige Sprengkapseln hervorgezogen und gab dem Roboter ein halbes Dutzend. »Wir versuchen, sie tiefer in den Raum zu locken. Sie müssen vom Ausgang weg.« Blödel verstand sofort, was der Arkonide vorhatte. Er zog sich in die rückwärtige Hälfte zurück und ging zu dem Aktivatorträger auf Distanz, so daß sie beide größere Bewegungsfreiheit hatten. Ohne Vorwarnung nahm Atlan eine Maschine unter Beschuß. Knallend zerplatzte die Abdeckung, heftige Schläge erschütterten das Gerät. Eine grelle Stichflamme schoß empor und versengte das umgebende Gewebe, dann flog der wuchtige Apparat donnernd auseinander. Kopfgroße Brocken sausten durch die Luft, bohrten sich in Decke und Wände und blieben dort stecken. Ein Splitterregen prasselte auf die Automaten herab, dunkler Qualm breitete sich aus, es roch nach verkohlter Haut und verschmortem Plastik. Die Sicht verschlechterte sich zusehends. Die Roboter stürmten allesamt auf den Arkoniden zu, weil sie ihn für den gefährlicheren Gegner hielten. Darauf hatte der Scientologe
gewartet. Er machte zwei der winzigen Sprengsätze scharf und schleuderte sie in den Pulk. Auf minimale Verzögerung eingestellt, explodierten sie noch über dem Boden in Brusthöhe. Eine Maschine wurde regelrecht zerfetzt, drei weitere gingen demoliert weiter, stürzten dann jedoch und rissen zwei andere dabei um. Diejenigen, die der Detonation am nächsten gewesen waren, wirkten angeschlagen und hatten Mühe, der Druckwelle zu widerstehen. Torkelnd und taumelnd kämpften sie um ihr Gleichgewicht. Atlan und sein synthetischer Mitstreiter witterten Morgenluft und setzten sofort nach. Während der Arkonide eine weitere Anlage zerstörte und dann die Roboter unter Feuer nahm, setzte Blödel noch einmal eine brisante Landung ein. Vier weitere Automaten verwandelten sich in Schrott, einer erhielt einen Volltreffer und verging im Strahl konzentrierter Energien. Hier und dort züngelten Flammen empor, der Rauch wurde immer dichter, prasselnde Kurzschlüsse erzeugten Funkenströme und fahle Blitze. Der Sauerstoff wurde knapp, und es stank ganz erbärmlich. Von den Schergen der Positronik hatten sie nichts mehr zu befürchten. Die paar, die noch einigermaßen intakt waren, standen hilflos inmitten des Chaos und versuchten vergeblich abzuwägen, welche Aufgabe nun vorrangig war. Ganz sicher waren sie für den Kampf nicht programmiert worden. Der Scientologe eilte zu Atlan und führte ihn zum Ausgang. Keuchend, hustend und mit tränenden Augen lehnte sich der Arkonide gegen die Wand. »Du bist ja verletzt!« »Ein kleiner Kratzer, mit dem mein Zellaktivator leicht fertig wird.« Er würgte. »Viel schlimmer ist dieser bestialische Gestank. Mir ist speiübel.« »Ich werde dir gleich etwas dagegen geben und auch nach deiner Wunde sehen, aber zuerst müssen wir von hier verschwinden. Soll ich dich tragen?«
»Bin ich Hage?« entrüstete sich Atlan. »Es hat nicht den Anschein. Gehen wir also.« Im Geschwindschritt ging Blödel voraus und vergewisserte sich dabei, daß der Aktivatorträger dicht hinter ihm blieb. Erst nachdem sie fast einen Kilometer zurückgelegt hatten, blieb der Roboter stehen. Er verabreichte Atlan ein Medikament gegen die Übelkeit und kümmerte sich dann um die Verletzung am rechten Oberarm. Es war zum Glück nur eine Fleischwunde, aber der Metallzacken steckte noch im Gewebe. Nockemanns Mitarbeiter betätigte sich als Medo, entfernte den Splitter, reinigte den Riß und verschloß ihn mit einem Sprühverband. Eine schmerzstillende Injektion bildete den Abschluß der Behandlung. »So, ich denke, in Kürze wirst du wieder ganz der alte Kämpfer sein.« »Das will ich doch hoffen.« Der Unsterbliche konnte sogar schon wieder lächeln. »Eine Amme ist mit meinem Image nämlich nicht vereinbar.« »Ich möchte mir auch verbitten, als Mutterersatz angesehen zu werden – Scientologen sind harte Burschen.« »Im Ernst: Ich bin in Ordnung und voll einsatzfähig, und deshalb habe ich mir überlegt, ob wir nicht eine andere Taktik anwenden sollen, doch zuvor möchte ich wissen, wie du die Schädigungen beurteilst, die Kioltonn durch unseren Einsatz erlitten hat.« »Alles ist relativ. Ein Solaner, der eine Tablette nimmt, belastet seinen Organismus damit sicherlich mehr als wir vorhin den Grenzwächter. Für einen solch gewaltigen Körper bedeutet das nicht einmal einen Nadelstich. Da bin ich mir ziemlich sicher, denn sonst hätte ich die Mikrosprengkapseln bestimmt nicht eingesetzt.« »Ich teile deine Ansicht, wollte sie aber noch einmal aus berufenem Munde hören. Nun, da ich Gewißheit habe, steht meinem Plan eigentlich nichts mehr entgegen.« »Und wie sieht der aus?« »Der eigentliche Feind von Kioltonn und uns ist die Hauptrobotik
mit den ihr untergeordneten Robotern und Maschinen. Wir können die Position des Rechners nur entscheidend schwächen und gleichzeitig unserem Freund helfen, wenn wir die Positronik bekämpfen, und zwar dort, wo sie am verwundbarsten ist: Das sind ihre technischen Ableger und die ausführenden Organe. Zugegeben, es ist riskant, aktiv vorzugehen, aber wir können nicht ewig fliehen. Ich weiß natürlich, daß wir keine offene Auseinandersetzung wagen können, doch ich denke, daß unvorhergesehene Überfälle unseren Gegner fast noch mehr irritieren.« »Gut. Kehren wir also um.« * Erste Opfer der neuen Strategie wurden einige Roboter, die Tonn‐ Eins anführte. Drei Mikrosprengsätze dezimierten den Trupp der Häscher um sieben Exemplare und sorgten für Verwirrung in den Reihen der Automaten, so daß Atlan und Blödel unbehelligt entkommen konnten. Auf dem Rückzug betätigte sich der Arkonide als eine Art Maschinenstürmer, allerdings war er klug genug, immer wieder falsche Spuren zu legen. So zerstrahlte er nicht wahllos alle Anlagen, denen sie begegneten, sondern nahm vornehmlich solche Apparaturen unter Beschuß, die zwar auf ihrem Weg lagen, jedoch in die falsche Richtung führten. Immer wieder drang er, von Blödel geleitet, in Hallen und Gänge ein, die technische Einrichtungen enthielten. Der Roboter, der sich wie sein Herr und Meister der Biologie und damit dem Leben verschrieben hatte, erklärte sich mit dem Vorgehen des Aktivatorträgers ausdrücklich einverstanden, schließlich ging es nicht gegen andere Intelligenzen – im Gegenteil. Es war Kioltonn, dem man beistand und der geschützt werden sollte.
Recht schnell fand der Scientologe heraus, daß man nicht unbedingt im Besitz einer Waffe sein mußte, um die Anlagen zu beschädigen oder eine Zwangsabschaltung hervorzurufen. Oft genug genügte es, das Gewebe abzuheben und ein Kabel zu durchtrennen, dann wieder ließ sich das Gerät problemlos herausnehmen und durch mechanische Gewalt unbrauchbar machen. Wuschel beteiligte sich auf seine Art daran, die Position der Hauptrobotik zu schwächen. Dutzende von Maschinen blieben angeknabbert und defekt zurück, und noch immer schien der Appetit des Allesfressers auf solch ungewöhnliche Nahrung nicht gestillt zu sein. »Zurück in dein Fach, Wuschel!« »Was ist denn nun schon wieder?« beschwerte sich der Bakwer. »Von links nähert sich ein Roboter.« »Mit dem werde ich alleine fertig.« »Keine Widerrede!« Brummelnd verschwand der Kleine im Leib der mobilen Laborpositronik, die vorsichtig weiterging und Atlan mit ihrem Körper zu decken versuchte. Der hielt den Strahler schußbereit. Der Automat tauchte aus einem nicht einzusehenden Gang auf. Er sah die beiden und stürmte los, direkt auf sie zu. Er war unbewaffnet, schien es aber darauf abgesehen zu haben, sie über den Haufen rennen zu wollen. Der Arkonide wollte gerade das Feuer eröffnen, als etwas geschah, mit dem niemand rechnen konnte. Mitten im Lauf sprengte sich der heranrasende Roboter selbst in die Luft. Für eine Abwehrreaktion blieb keine Zeit mehr. Wenige Meter vor ihnen entstand ein ultraheller Lichtblitz, der sogar durch die geschlossenen Lider drang, gleich darauf erschütterte eine heftige Detonation den Stollen. Ein Schauer von Metallstücken und Splittern ergoß sich über Mensch und Maschine, die das meiste abbekam. Wie tödliche Hagelkörner prasselten sie
gegen den Scientologen und sausten mit häßlichem Kreischen als Querschläger davon. Orgelnd raste eine Druckwelle heran, die Gestank und Hitze nach sich zog und Blödel fast umriß. Geistesgegenwärtig krallte er sich an der Wand fest und konnte so verhindern, daß er davongeschleudert wurde. Und dann war der Spuk vorüber. Ein Häufchen zerfetzten Metalls, ein Krater im Boden, versengte Zellverbände und übelriechender, zäher Rauch, der nur langsam abzog, waren alles, was noch von dem heimtückischen Anschlag zeugte. Der Roboter kümmerte sich sofort um Atlan. Wie durch ein Wunder war dieser unverletzt geblieben. Durch die Wucht der Explosion hatte sich von der Decke ein großes Stück Gewebe gelöst und war auf ihn gefallen. Wie ein lebender Schutzschirm hatte es ihn davor bewahrt, von den herumfliegenden scharfkantigen Teilen getroffen und verletzt zu werden. Unzählige Splitter steckten in dem organischen Schild. »Das war verdammt knapp!« stieß der Arkonide ein wenig atemlos hervor, nachdem er sich mit Blödels Hilfe von dem fast einen halben Zentner schweren fladenähnlichen Brocken befreit hatte. »Ein wahrhaft teuflischer Einfall der Positronik, einen an sich harmlosen Roboter in eine wandelnde Bombe zu verwandeln.« »Immerhin sind wir jetzt gewarnt.« Nockemanns Assistent entfernte ein verschmortes Haar seines grünen Plastikbarts. »Fast wäre ich verstümmelt worden! Ohne das äußere Zeichen meiner Männlichkeit könnte ich dem Chef nicht mehr unter die Augen treten.« »Ich denke, uns hätte Schlimmeres passieren können.« »In der Tat. Verlassen wir also diese unselige Stätte.« Das war dem Aktivatorträger nur recht. Seite an Seite stapfte das so ungleiche Paar vorwärts. Wieder nahmen sie die Anlagen aufs Korn, und als ihnen der nächste Automat begegnete, gingen sie kein Risiko mehr ein. Atlan zerstörte ihn, bevor er ihnen zu nahe kommen konnte.
Die Freude über die bisher erzielten Erfolge währte jedoch nicht lange und machte jähem Entsetzen Platz, als der Boden unter ihren Füßen plötzlich nachgab und sie in die Tiefe stürzten. Die Erkenntnis, daß sie erneut in eine als solche nicht zu erkennende Falle des hinterlistigen Rechners getappt waren, kam zu spät. Sie fielen etwa drei Meter tief und landeten unsanft auf dem Boden einer darunterliegenden organischen Höhle. Blödels Stabilisatoren sorgten dafür, daß er nicht zu Fall kam, und auch Atlan blieb auf den Beinen. Reflexhaft hatte er sich auf den Aufprall eingestellt und federte sofort wieder hoch, brachte den Strahler in Anschlag – und erstarrte förmlich. Sie waren von Robotern umstellt, und es waren nicht irgendwelche, sondern Tonn‐Eins und seine Garde. Alle hatten ihre Waffe auf ihn und Blödel gerichtet. Gegenwehr war sinnlos, und an ein Entkommen war nicht zu denken. Die Lage war aussichtslos. Eine Chance hast du noch. Versuche, den Leitrobot zu verwirren, indem du den Rechner ins Spiel bringst und seine Gegnerschaft zu Kioltonn! Er wird von der Existenz der Positronik nichts wissen und ist davon überzeugt, daß der Grenzwächter veranlaßt hat, daß ihr festzusetzen und unschädlich zu machen seid. Es ist nicht sicher, aber sehr wahrscheinlich. Denke an Blödels Bericht und erinnere dich an die Aussage von Tonn‐Eins, daß der Herr, der die Roboter dirigiert, Kioltonn heißt! Danke für den Hinweis! »Laß den Strahler fallen!« Der Arkonide kam der Aufforderung sofort nach. Mit einem dumpfen Laut schlug die Waffe auf. »Der Herr hat befohlen, euch zu töten, doch zuvor will er mit euch sprechen. Kommt mit!« »Welchen Herrn meinst du? Kioltonn, der unser Freund ist, oder die Hauptrobotik, die dich und alles hier steuert?« Tonn‐Eins zögerte fast eine Sekunde lang, bevor er antwortete: »Deine Aussage ist widersprüchlich und ergibt keinen Sinn. Nur der Grenzwächter selbst ist berechtigt, uns Anordnungen zu geben.«
»Habt ihr Anweisung, eure Waffen einzusetzen, wenn wir versuchen sollten, zu fliehen?« »Selbstverständlich.« »Wir halten uns in Kioltonn auf – wenn ihr auf uns schießt, verletzt ihr ihn auch. Wie vereinbart sich das mit eurer Aufgabe, ihn zu schützen?« Der Arkonide deutete nach oben, wo sich das Loch befand, das ihnen zum Verhängnis geworden war. »Bis auf eine dünne Schicht ist dort das ganze Gewebe manuell oder chemisch entfernt worden. Kioltonn ist ein Lebewesen. Meinst du, daß er der Zerstörung seiner eigenen Substanz zugestimmt hätte, nur um unserer habhaft zu werden?« Der Leitroboter blieb stumm. Schon glaubte Atlan, einen Erfolg erzielt zu haben, als er schnarrte: »Meine Befehle sind eindeutig. Ihr sollt gefangen und vorgeführt werden. Los jetzt!« Drohend ruckte seine Hand mit dem Strahler hoch. Der Aktivatorträger sah ein, daß ihm keine andere Wahl blieb, und setzte sich in Bewegung. Flankiert von den Automaten, marschierten die beiden Gefangenen aus dem Raum. Atlan unternahm einen neuen Vorstoß. »Der Rechner, dem du gehorchst, ist ein Feind des Grenzwächters! Du tust etwas, was Kioltonn nicht will! Es schadet ihm sogar! Das ist mit deinem Programm unvereinbar.« »Ich stehe mit dem Herrn in Ver …« Abrupt brach Tonn‐Eins ab und blieb stehen. Auch die anderen Maschinen verhielten mitten in der Bewegung. »Die Positronik ist besiegt«, klang es dröhnend aus einem verborgen angebrachten Lautsprecher. »Ich danke euch, meine Freunde. Ohne eure Unterstützung hätte ich es nicht geschafft und wäre ein unwissender Sklave geblieben.« »Der Kampf ist aus und gewonnen.« Blödel gab mit seiner männlich klingenden, knarrenden Stimme das Äquivalent eines Lachens von sich. »Sieg auf der ganzen Linie.«
»Aber erst im letzten Moment.« Der Arkonide entspannte sich. »Es sah noch vor zwei Minuten wirklich nicht gut aus für uns.« »Ende gut, alles gut.« Der Scientologe wandte sich in die Richtung, aus der die Worte des Grenzwächters gekommen waren, und trompetete: »Kioltonn, kannst du mich hören?« Entsetzt hielt Atlan sich die Ohren zu. »Ja, doch du brauchst nicht zu schreien.« »Bist du in Ordnung?« »Ich habe mich noch nie besser gefühlt. Ich weiß jetzt wieder, wer und was ich bin und kann mich an Dinge aus der Vergangenheit erinnern. Das hat die Ausschaltung der Hauptrobotik und die Zerstörung der Maschinen bewirkt. Durch sie wurde mein Gedächtnis blockiert.« Der Roboter stieß einen mißtönenden Pfiff aus, was ihm einen verweisenden Blick des Aktivatorträgers eintrug. »Und wer und was bist du?« fragte Atlan gespannt. »Ich gehöre zu jenen, die ich auf Rostbraun gefangenhalten mußte. Ich bin ein Emulator.« * Der Arkonide stieß hörbar die Luft aus. Er war ein Mann, der sich für gewöhnlich in der Gewalt hatte, doch diesmal ließ sogar seine Mimik erkennen, wie überrascht er war. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit, daß Kioltonn ein Emulator war. Ein Emulator, der, seines Willens beraubt, dem Bösen gedient hatte! »Ja, ich bin ein Emulator, und die anderen Grenzwächter sind es auch. Wir Emulatoren stellen in diesem Teil des Universums das einzig wirklich Positive dar, und so hat es in der Vergangenheit nie an Versuchen gefehlt, uns auszuschalten, umzufunktionieren und für andere Zwecke einzusetzen. Ihr seid auf meinem Planeten den Emulatoren der unterschiedlichsten Völker begegnet und wißt um
ihr Leiden, an dem ich schuldig bin. Mein Status ist euch nun bekannt, dagegen ist das Schicksal einiger Emulatoren, die zu Zounts umgewandelt wurden, ebenso ungeklärt wie die Frage, ob es noch Emulatoren gibt, die dem ursprünglichen Sinn ihres Daseins leben können.« Atlan schwindelte fast, so unglaublich klang es, daß die Zähler ebenfalls Emulatoren waren, dennoch hatte er an der Aussage Kioltonns keinen Zweifel. Es war ein Puzzleteil, das genau ins Bild paßte. Mit wenigen Sätzen informierte er den Grenzwächter über die Begegnungen der Solaner mit den Manifesten und ihre Befreiung durch diese. Kioltonn zeigte sich erfreut und erleichtert zugleich über den positiven Ausgang. »Ihr seid uns Emulatoren in eurer Gesamtheit recht ähnlich, deshalb bedaure ich das, was ich euch angetan habe, um so mehr. Ich würde euch gerne weiterhelfen, aber ich weiß so gut wie nichts in dieser Hinsicht. Du hast die Schlafenden Mächte erwähnt – ich habe von ihnen gehört, doch ich kenne sie nicht.« »Nach eigenem Bekunden war es deine Aufgabe als Grenzwächter, etwas zu schützen. Um was handelt es sich dabei?« »Dieses Geheimnis vermag ich selbst jetzt nicht zu lösen. Auch die anderen Grenzwächter wissen nichts darüber.« Man konnte nicht sagen, daß der Aktivatorträger völlig enttäuscht war, denn immerhin hatte er einige interessante Einzelheiten erfahren, aber Hinweise auf die Mächte im Hintergrund und die eigentlichen Drahtzieher hatte er nicht bekommen. Sollte er weiter in Kioltonn dringen, um vielleicht doch noch zu versuchen, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen? Wenn er mehr wüßte, hätte er es bestimmt gesagt. Du kannst ihm vertrauen. Blödel schien zur gleichen Einsicht gekommen zu sein, denn er verzichtete auf entsprechende Fragen. Er orientierte sich durchaus an der Realität, als er sich erkundigte: »Kommen die gefangenen Emulatoren und unsere Begleiter frei?
Können wir wieder über unser Raumschiff verfügen und abfliegen?« »Es wird sich alles finden«, lautete die orakelhafte Antwort. »Was hast du vor?« »Ich fühle mich nicht nur als freier Emulator, ich besitze auch meine ursprünglichen Kräfte wieder. Mit ihrer Hilfe werde ich nicht nur meine Missetaten sühnen, sondern auch dafür sorgen, daß die Grenzwächter und die anderen Emulatoren nie wieder mißbraucht und manipuliert werden können.« »Für das, was du unter Zwang und Beeinflussung getan hast, kann dich niemand verantwortlich machen«, sagte der Arkonide mit Nachdruck. »Juristisch vielleicht nicht, moralisch schon. Die Taten, die ich begangen habe, sind mit meinen Wertvorstellungen absolut nicht zu vereinbaren. Daß ich es tun mußte, lasse ich nicht als Entschuldigung gelten. Niemals darf das Gute zum Werkzeug des Bösen werden.« »Willst du dir etwas antun?« fragte Atlan ahnungsvoll. »Ich werde mich selbst töten und …« »Das darfst du nicht tun! Kioltonn, du bist ein Emulator!« »Und die anderen Grenzwächter dazu«, fuhr das riesige Lebewesen ungerührt fort. »Mein Körper wird sich in kosmisches Gift verwandeln und durch meine Energieadern strömen. Es wird alle Grenzwächter erreichen, und sie werden sterben – ob sie es wollen oder nicht.« »Du kannst nicht Schicksal spielen!« »Die Ethik der Emulatoren entzieht sich Außenstehenden. Es ist meine Pflicht, so und nicht anders zu handeln.« »Nein, du willst es so.« »Meine Motive sind weder verwerflich noch oberflächlich, wie du möglicherweise glaubst, sondern in jenen geistigen Werten begründet, die die Existenz eines Emulators erst ermöglichen und ihn bis ans Ende seiner Tage begleiten. Es würde zu weit führen, dir
das jetzt näher zu erläutern, und an den Tatsachen ändert es ohnehin nichts, denn ich habe den Auflösungsvorgang bereits eingeleitet. Er läßt sich nicht mehr rückgängig machen.« Angesichts dieser Tatsache verzichtete der Aktivatorträger darauf, zu versuchen, Kioltonn doch noch umzustimmen. Obwohl die Emulatoren ebenso wie er selbst quasi unsterblich waren, gab es wenig, was sie verband. Ihrem Wesen nach waren sie Philosophen, Leuchttürme des Positiven in der vom Bösen beherrschten Finsternis, Kämpfer, deren Waffe der Geist war. Von ihrer Anlage her mußten sie wohl so sein, um in einer negativen Umwelt bestehen zu können, ohne gleich unterzugehen, aber es war eben nicht die Mentalität des Arkoniden. Auch bei ihm rangierten Verstand und Verständigung an oberster Stelle, aber ein Pazifist, der jede Waffe für Teufelswerk hielt, war er nicht. Im Verlauf seines mehr als zehntausendjährigen Lebens war er abgeklärt geworden. Taktik, Strategie und List galten ihm mehr als Werfer und Strahler, denn er wußte, daß Gewalt Gegengewalt erzeugt, doch leider ließ sich eine Auseinandersetzung oft nicht umgehen, weil Worte versagten und guter Wille als Schwäche ausgelegt wurde. Weder Hidden‐X noch Anti‐ES waren nur durch die positive Gesinnung der SOL‐Bewohner besiegt worden – im Gegenteil, die beiden hatten alles aufgeboten, um ihnen den Garaus zu machen und waren dabei vor keiner Gemeinheit zurückgeschreckt. »Atlan, wir sollten von hier verschwinden!« Die Stimme Blödels riß ihn aus seinen Betrachtungen. Auf Anhieb erkannte der Arkonide, daß sich die Umgebung zu verändern begann. Die Wände schienen auf einmal zu pulsieren, und das typische Grünblau wurde blasser und bekam einen schwachen Rotton, der leicht violett wirkte. Vorher nicht erkennbare weiße Stränge durchzogen das Gewebe. Sie verzweigten sich und schickten zeitlupenhaft Ausläufer in die Nebenrichtungen. Wo immer sie auf normale Zellen trafen, wurden diese dunkel, fast schwarz, und sie zogen sich zusammen wie Ballons, in die man
hineingestochen hatte. Auch Boden und Decke blieben von dem Phänomen nicht verschont. Hatte sich der Untergrund vorher elastisch und federnd gezeigt, so war er nun auf einmal knochenhart, uneben und voller Mulden und Krater. Wie die Nebenarme eines Flusses im Mündungsdelta, der nach langer Trockenzeit wieder Wasser führte, bahnten sich die milchigen, wurmartigen Gebilde einen Weg durch die Substanz des Grenzwächters. Dabei nahm ihr Volumen zu, sie wurden dicker und traten hervor wie Zornesadern. Die dunkle Masse änderte ihren Aggregatzustand. Zähflüssig wie Sirup tropfte das tote Zellplasma nach unten, dünne Bäche, Magma gleich, rannen an den Wänden entlang und bildeten Lachen. »Zurück zum Transmitter!« Blödel rannte los, gefolgt von Atlan, der ihm dicht auf den Fersen blieb. Von den Automaten hatten sie nichts mehr zu befürchten, wohl aber von den Lebewesen, die Kioltonn als ihre Heimat betrachteten. Trotz ihrer Eile waren sie daher auf der Hut. Der Selbstzerstörungsprozeß schritt ziemlich rasch fort. An tiefer gelegenen Stellen entstanden knöcheltiefe Pfützen, durch die sie hindurchwaten mußten. Wie Pech klebte der schwarze Brei an den Stiefeln und erschwerte das Fortkommen. Eine abwärtsführende Röhre, die der Scientologe benutzen wollte, erwies sich als unpassierbar. Wie Lavaströme wälzte sich von allen Seiten die halbflüssige Masse heran und ergoß sich in den Schacht. Notgedrungen mußten sie einen Umweg in Kauf nehmen. Das Laufen in diesem Morast wurde immer schwieriger. Der Untergrund hatte sich in eine glitschige Rutschbahn verwandelt, so daß an schnelles Laufen nicht mehr zu denken war. Mit rudernden Armbewegungen und schlurfenden Schritten kämpften sie sich Meter um Meter vorwärts. Immer deutlicher wurden nun die Auflösungserscheinungen. Durch faustgroße Öffnungen konnte man in darunter‐ und darüberliegende Ebenen und in angrenzende Räume sehen. Es
würde nicht mehr lange dauern, und der Körper des Grenzwächters war durchlöchert wie ein Schweizer Käse. »Das Zeug beginnt sich zu erwärmen«, meldete der Roboter. »Die Konsistenz verändert sich ebenfalls. Es wird flüssiger.« Der Arkonide blickte nach unten. Wie im Sumpf stiegen Blasen an die Oberfläche und zerplatzten. Träge wälzte sich der Zellschlamm durch den Gang. Es blubberte und schmatzte, wenn er durch die immer zahlreicher werdenden Löcher sickerte. »Arbeitet der Materietransportator noch?« »Ja, aber unter diesen Umständen wohl nicht mehr lange«, rief Nockemanns Assistent. »Kannst du ihn auf die MJAILAM einstellen?« »Schon geschehen.« Nun stellte auch Atlan fest, daß sich das Zellplasma erhitzte und seine Zähflüssigkeit zunehmend verlor, gleichzeitig erhöhte sich die Strömungsgeschwindigkeit. Der Pegelstand sank. Rauschend floß die trübe Brühe durch die unzähligen Löcher ab. Die Temperatur stieg rapide an. Überall, wo sich die dunkle Flüssigkeit sammelte, zischte und brodelte es. Sie verdampfte und setzte ein unsichtbares, stechend riechendes Gas frei. Blödel erkannte die Gefahr für seinen Begleiter sofort. »Hier, nimm diese Sonde! Ich leite reinen Sauerstoff hindurch.« Dankbar schob sich der schweißüberströmte Aktivatorträger das biegsame Rohr in den Mund und hielt sich gleichzeitig die Nase zu. Dicht hintereinander hetzten sie durch den Gang, der zum Transmitterraum führte. Als sie ihn endlich erreichten, fuhr Atlan der Schreck in alle Glieder. Die organische Höhle glich einem Sieb. Das Gerät war zwar noch in Betrieb, doch es wurde nur noch von zwei Gewebestegen getragen und konnte jeden Moment in die Tiefe stürzen. »Schnell!« Ohne lange zu fackeln, hechtete der Arkonide nach vorn und verschwand in dem scheunentorgroßen dunklen Schlund des
Abstrahlfelds. Sofort folgte ihm Blödel. Keine Sekunde zu früh. Einer der aus Zellmaterial bestehenden Träger bog sich langsam durch, dabei neigte sich der Transportator zur Seite. Der ohnehin beschädigte Steg vermochte das Gewicht nicht mehr zu tragen und brach auseinander. Funkensprühend und mit einem grellen Blitz stellte die Anlage ihren Betrieb ein und fiel wie ein Stein nach unten. 6. Wie vorgesehen, materialisierten sie in der Zentrale der MJAILAM. Sie stand noch am alten Platz und wirkte auf den ersten Blick unversehrt. 24. Mai 3808, 17.03.32 Uhr verkündete die Datumsanzeige. Atlan bediente sich am Getränkeservo und ließ sich ausgepumpt in den Sessel des Piloten fallen. Mehrmals atmete er tief durch, dann machte er sich sofort an die Arbeit und überprüfte alle Funktionen des Raumers. Alles war in Ordnung, so daß einem Start nichts im Wege stand. »Soll ich dir helfen?« fragte Blödel. »Ist schon alles erledigt«, sagte der Arkonide aufgeräumt. »Die kurze Strecke bis zum Lager schaffe ich mit Unterstützung der Positronik allein.« »Wir sollten uns beeilen.« Der Roboter hatte die Anzeigen einiger Instrumente studiert. »Draußen wird es allmählich ungemütlich. Der Auflösungsprozeß Kioltonns zeigt bereits Wirkung. Das Gravitationsgefüge gerät in Unordnung.« »Dann nichts wie los.« Atlans Hoffnung, daß die MJAILAM nicht mehr durch eine unbekannte Kraft am Boden festgehalten würde, erfüllte sich. Sanft hob das Schiff ab, stieg wie vorgesehen auf sechs Kilometer Höhe und ging dann in einen Horizontalflug über. Gleich darauf
erschütterten mehrere Schläge den Raumer und brachten ihn außer Kurs. Alles, was der Navigation diente, spielte plötzlich verrückt, Taster und Orter waren so gut wie unbrauchbar. »Du hast schamlos untertrieben, mein Lieber. Von wegen ›ungemütlich‹ – auf Rostbraun und im ganzen System muß die Hölle los sein.« »Jetzt sicherlich. Vor wenigen Sekunden sind die Energiestränge verschwunden und … Sieh doch! Kioltonn fällt in sich zusammen – er ist weg. Grünblau existiert nicht mehr!« Die Außenkameras arbeiteten nach wie vor einwandfrei, und sie hatten jene Bilder geliefert, die der Scientologe kommentiert hatte. Der Aktivatorträger hatte keine Zeit gefunden, das Geschehen auf dem Schirm mitzuverfolgen. Er war vollauf mit der Steuerung beschäftigt und bemühte sich verbissen, den Raumer wieder unter Kontrolle zu bringen. Wie ein Blatt im Wind wurde das Beiboot der SOL herumgewirbelt. Erst als er auf Vollast schaltete, gelang es ihm, den entfesselten Gewalten zu trotzen. Immer noch schlingernd, schwenkte die MJAILAM wieder auf die vorgesehenen Koordinaten ein. Ein rechnergestütztes, optisch sichtbar gemachtes Diagramm und einige antiquierte Geräte ohne positronische Komponente ersetzten notdürftig die hochwertige Technik, die eigentlich obligatorisch war. Der Arkonide ließ den Raumer auf tausend Meter absinken, verzichtete jedoch darauf, die Schutzschirme zu aktivieren, weil die Wechselwirkung zwischen dem eigenen Defensivsystem und den Fremdenergien nicht kalkulierbar war. Dagegen zeigte sich, daß die Maßnahme, auf eine geringere Höhe zu gehen, durchaus als Erfolg gewertet werden konnte, denn die Fluglage stabilisierte sich. Relativ langsam im Verhältnis zu dem, was der Antrieb zu leisten vermochte, bewegte sich das Schiff auf sein Ziel zu. Deutlicher als je zuvor empfand Atlan, wie öde und trostlos diese Welt doch war. Außer Vegetation in einigen wenigen Zonen hatte der Planet kein eigenes Leben hervorgebracht. Mit Rostbraun
verbanden ihn fast ausnahmslos negative Erinnerungen, und dennoch wurde ihm ein wenig schwer ums Herz, wenn er daran dachte, daß dieser Trabant der Sonne NZ‐3 dem Untergang geweiht war. Noch spendete ihr Lieht den Tag und die Wärme, doch in Kürze würde sie zum Moloch werden, der erst zerstörte und dann alles verschlang. Die eingeblendete, beim Anflug vom Raum aus aufgenommene Geländeformation deckte sich exakt mit jener, die gerade aufgenommen wurde – ein Beweis dafür, daß das Hilfsprogramm optimal funktionierte. Gleichzeitig signalisierte es dem Arkoniden aber auch, daß das Lager nicht mehr weit weg sein konnte. Er drosselte die Geschwindigkeit auf ein Minimum und ließ den Raumer noch weiter absinken. Gemessen am hiesigen Standard mußte es früher Morgen sein, doch das Zentralgestirn leuchtete so hell wie sonst zur Mittagszeit, ohne jedoch den Zenit erreicht zu haben. Es blitzte und wetterleuchtete ununterbrochen, ohne daß es regnete oder sich eine dunkle Wolke zeigte. Die Atmosphäre war in Aufruhr, Stürme fegten über das Land. Tausende von Tonnen Sand wurden emporgewirbelt, die vorübergehend die Sonne verdunkelten. Die Pflanzenarten, die sich an das karge Leben angepaßt hatten, wurden verschüttet, abgebrochen, abgerissen und davongewirbelt, größere Exemplare duckten sich unter den Böen, als wären es Peitschenhiebe. Die Vegetationsinsel mit den bekannten Hütten und Verschlägen kam in Sicht. Der Aktivatorträger desaktivierte die Triebwerke und nahm die Antigrav‐Einrichtung in Betrieb. Das Raumschiff schwebte dem Boden entgegen, doch was sonst Routine war, gestaltete sich hier zum Problem. Immer wieder erschütterten Turbulenzen den Raumer, und Atlan mußte sein ganzes Können aufbieten, um eine Bruchlandung zu vermeiden. Trotz der widrigen Umstände setzte die MJAILAM weich auf. »Ein Hoch dem Piloten für diese Glanzleistung.«
»Du bist ein alter Schmeichler.« »Mein Chef könnte ohne Streicheleinheiten überhaupt nicht leben«, behauptete der Roboter kühn. »Jedes Lob ist für ihn Stimulanz.« »Als ich in seinem Alter war, habe ich vielleicht ähnlich empfunden, aber mittlerweile sind einige tausend Jahre vergangen, und ich bin inzwischen abgeklärter geworden.« Er schnallte sich los und stand auf. Die Außenoptiken übertrugen, daß zwischen den arg gezausten Bäumen einige Gestalten auftauchten, die heftig winkten. Es waren Solaner. * Unter ganz erheblichen Anstrengungen war es gelungen, die dekadenten Emulatoren zurückzuschlagen. Sie hatten sich dann auch zurückgezogen, aber nicht endgültig. Versteckt zwischen Gebüsch und Gestrüpp hatten sie auf eine neue Chance gewartet. Die hatten sie auch mehrmals zu erkennen geglaubt und waren erneut über die anderen Emulatoren und die Raumschiffsbesatzung hergefallen, doch jedesmal konnte der Angriff pariert werden. Das hatte die heruntergekommenen Intelligenzen nicht daran gehindert, sich wieder auf die Lauer zu legen. Seit Atlans Verschwinden war man in diesem Teil des Lagers vorwiegend damit beschäftigt gewesen, sich vor Überfällen und Attacken zu schützen. Erst als der Planet durch die Selbstvernichtung Kioltonns von Unwettern heimgesucht wurde, waren die abgerissenen Gestalten endgültig abgezogen. Auch jetzt fand man nicht die nötige Zeit, sich ernsthaft auf die Suche nach Blödel und dem Arkoniden zu machen. Man hatte alle Hände voll zu tun, um das eigene Leben zu retten und die Unterkünfte so zu verankern, daß sie den Urgewalten standhielten. Abgeknickte Kronen und umstürzende Stämme krachten zu
Boden und brachten die Gefangenen immer wieder in Gefahr, erschlagen zu werden. Wesentlich größere Angriffsflächen als die Bäume boten die Hütten und Verschlage dem Sturm. Heulend riß und zerrte er an den nicht sonderlich stabilen Konstruktionen. Manche wurden eingedrückt wie Streichholzschachteln, andere verloren Dächer und Wände. Wie Papierschnipsel trieb sie der Orkan vor sich her und schmetterte sie gegen die hölzernen Riesen. Ein Schauer von Metallteilen und zersplitterten Ästen prasselte herab. Einen Schutz davor gab es nicht. Immer wieder mußten die Männer und Frauen ihre scheinbar sichere Deckung verlassen, um nicht getroffen und verletzt oder gar getötet zu werden. Gleichmütig reagierten die Emulatoren. Sie unternahmen keine ernsthaften Anstrengungen, um sich zu retten. Einige hatten sich auf dem Boden niedergelassen und schienen zu meditieren, die meisten hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden und diskutierten. Vornübergebeugt, um von den Böen nicht umgerissen zu werden, stapfte Brick zu einer Schar von Emulatoren, unter denen sich auch Ehennesi und Daug befanden. »An eurer Stelle würde ich den Plausch auf später verschieben!« brüllte Vorlan, um das Orgeln der brausenden Luftmassen zu übertönen. »Warum versucht ihr nicht, euch in Sicherheit zu bringen?« Erst im letzten Augenblick hörte er das Krachen über sich im Gezweig. Mit aller Kraft warf er sich zur Seite und entging so knapp dem herabstürzenden Stammteil. Die Emulatoren hatten sich nicht von der Stelle gerührt. »Verdammt, um ein Haar hätte es euch erwischt«, erregte sich der dunkelhäutige Pilot. »Zeige uns den Ort, der ohne Gefahr ist«, sagte Ehennesi, und Daug ergänzte: »Dies ist erst der Anfang. Es wird noch schlimmer kommen. Uns wird das Schicksal auf diesem Planeten ereilen, nur die Stunde ist
noch ungewiß.« Entgeistert starrte der Solaner auf die Versammelten. »Ihr wollt euer Leben einfach wegwerfen?« »Wir haben unsere Gründe, aber du würdest sie nicht verstehen.« Ein dunkler Schatten raste heran. Brick blickte hoch und erkannte eine massive Metallplatte, die zum Spielball der entfesselten Naturgewalten geworden war. Plötzlich verlor sie an Höhe, wurde noch einmal angehoben und weggeschleudert. »Vorsicht!« Mit einem verzweifelten Sprung nach hinten brachte sich Vorlan in Sicherheit, doch die Emulatoren reagierten nicht auf seine Warnung. Da war der tonnenschwere Brocken auch schon heran. Mit einem dumpfen Laut bohrte er sich in das Erdreich und begrub zwei der fremden Lebewesen unter sich. Daß zwei aus ihren Reihen den Tod gefunden hatten, schien die Überlebenden nicht sonderlich zu berühren. Sie setzten ihr Gespräch fort, als wäre nichts geschehen. »Ihr seid ja biologische Roboter!« brüllte der Solaner, der nicht verstand, daß die nach eigenem Bekunden positiven Geschöpfe so hartherzig sein konnten. Er stand auf und wollte sich wütend entfernen, als er Tyari erkannte. Gegen den Wind gestemmt, kam sie ihm entgegen. »Was gibt es?« »Ticker ist so unruhig wie schon lange nicht mehr.« Eine Verständigung war nur noch schreiend möglich. »Einiges glaube ich zu erkennen, aber es ergibt kein klares Bild. Es muß mit Atlan und Blödel zu tun haben und mit Grünblau. Wenn ich Tickers Instinkt richtig interpretiere, muß er zerstört worden sein und die Energiebahnen ebenfalls, doch in welchem Zusammenhang stehen Atlan und der Roboter damit?« Der Pilot zuckte die Schultern. »Das ist mir auch ein Rätsel, aber immerhin ist es doch ein deutlicher Hinweis, daß beide wohlauf sind. Natürlich machen wir
uns alle Sorgen, warum und wohin sie verschwunden sind, aber daß Tickers Instinkt sie erfaßt hat, scheint mir ein gutes Zeichen zu sein.« Er faßte die Frau am Arm. »Komm, laß uns zu den anderen zurückgehen.« »Und was ist mit den Emulatoren?« »Sie wollen hier auf ihr Ende warten.« »Das kannst du nicht zulassen, Vorlan. Wir müssen ihnen helfen.« »Siehst du die Platte dort?« Brick deutete auf das Metallstück. »Sie hat zwei von ihnen erschlagen, aber die anderen hat das völlig kalt gelassen. Ich habe sie gewarnt, doch sie haben nicht einmal versucht, auszuweichen. Sie suchen den Tod.« Erschüttert ließ sich Tyari fortführen. * Gemeinsam verließen der Arkonide und der Scientologe das Schiff. Der Sturm war noch stärker geworden. Schaurig heulend orgelte er über den Raumer hinweg, Orkanböen jagten über das Land, die gewaltige Sandmassen vor sich hertrieben und in die Atmosphäre verfrachteten. Wie ein düsteres rotes Auge beobachtete NZ‐3 die düstere Szenerie. Atlan und Blödel hatten Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Die Turbulenzen rissen und zerrten an ihnen, Staub und winzige Steinsplitter prasselten gegen ihre Körper und machten jeden Atemzug zur Qual. Schritt für Schritt kämpften sie sich vorwärts. Die winkenden Gestalten lösten sich vom Waldrand und kamen ihnen entgegen. Bei dem herrschenden Zwielicht hatte der Scientologe das bessere Auge. »Da kommen Vorlan, Tyari, mein Chef und Brons, die anderen folgen ihnen. Merkwürdig!« »Was ist merkwürdig?« schrie der Aktivatorträger mit vorgehaltener Hand, um nicht noch mehr Sand zwischen die Zähne
zu bekommen. »Ehennesi und Daug fehlen – es ist überhaupt kein Emulator bei ihnen. Was mag das zu bedeuten haben?« »Wir werden es bald wissen.« Etwa hundert Meter von der MJAILAM entfernt trafen sie zusammen. Das unsichtbare Energiefeld, das das Gefängnis vorher hermetisch abgeriegelt hatte, existierte nicht mehr. Angesichts der widrigen Umstände fiel die Begrüßung kurz aus, dafür aber um so herzlicher. Die Erleichterung beider Seiten, sich gesund wiederzutreffen, war unverkennbar, dabei hatten die Internierten doppelten Grund zur Freude, denn sie hatten ihre Freiheit zurückerhalten und ihr Raumschiff dazu. Tyari umarmte den geliebten Mann überschwenglich und ließ es sich nicht nehmen, ihm einen Kuß auf die sandverkrusteten Lippen zu drücken. Atlan genoß es, ihren Körper zu spüren und ihre Nähe zu fühlen, aber für den Austausch von Zärtlichkeiten war jetzt weder die Zeit noch der richtige Ort. Er löste sich von ihr und fuhr Ticker übers glatte Gefieder. Mit dem Anflug eines Lächelns beobachtete er, was sich zwischen den beiden Scientologen abspielte. Ein Liebespaar hätte die Szene nicht rührender gestalten können, doch dann hielt auch bei ihnen der Alltag wieder Einzug. »Chef, warum schleppst du denn diesen Klotz mit dir herum?« »Diese dumme Frage ist wieder typisch für dich – damit ich nicht fortgeweht werde, natürlich. Ein denkender Geist belastet sich nicht mit wuchernden Pfunden, Speck und Muskeln. Meinen Ballast werfe ich wieder ab, wenn er nicht gebraucht wird. Wo hast du überhaupt gesteckt? Ich wurde halbverrückt vor Sorge …« Atlans Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, weil Brick ihn ansprach. »Die Emulatoren machen mir Kummer.« Er legte seinen Mund an das Ohr des Arkoniden, um nicht so schreien zu müssen, und formte seine Hände zu einem Trichter. Mit wenigen Worten berichtete er über die Weigerung der Emulatoren, sich helfen zu
lassen. »Willst du noch einmal mit ihnen reden?« »Ja, und zwar auf der Stelle. Blödel wird mich begleiten, ihr anderen geht schon mal an Bord.« »Willst du nicht vorher einen Raumanzugüberstreifen?« erkundigte sich Tyari besorgt. »Ein Individualschirm würde dich zusätzlich schützen.« »Ich möchte ihnen nicht mit einem Übermaß an Technik kommen, das könnte sie möglicherweise in ihrem Vorhaben nur noch bestärken.« Der Arkonide winkte den Roboter heran. »Bis später!« Während sich das Gros zur MJAILAM aufmachte, schlugen die beiden den entgegengesetzten Weg ein. Blödel bewegte sich so, daß Atlan in seinem Windschatten gehen konnte und so ein klein wenig vor den Böen geschützt wurde. Dennoch war es ein mühsames Vorwärtskommen, kräftezehrend und zeitraubend dazu. Endlich erreichten sie den Rand des Wäldchens. Noch widerstanden die meisten Pflanzen den tobenden Luftmassen, brachen ihre Urgewalt und schützten vor den peinigenden Sandkörnchen, aber lange vermochten sie dem Orkan nicht mehr zu trotzen. Abgeknickte Bäume legten Zeugnis davon ab, daß der Sturm der Stärkere war. »Kommt mit uns!« rief Atlan. »Die Energiesperren bestehen nicht mehr. Mit unserem Raumschiff können wir euch retten. Es befindet sich ganz in der Nähe. Es dauert nicht mehr lange, bis dieser Planet untergeht.« »Dein Angebot ehrt dich, aber wir werden davon keinen Gebrauch machen«, brüllte Ehennesi gegen das Toben des Sturmes an. »Wir konnten zum Teil auf geistiger Ebene verfolgen, was Kioltonn dachte, bevor es mit ihm zu Ende ging. Wir wollen sein Schicksal nicht teilen. Es ist besser, zu sterben, damit die unbekannten Mächte uns nicht an die Stelle der Grenzwächter setzen können. Nie wieder darf ein Emulator zum Werkzeug des Bösen werden.« »Was ist mit eurer Aufgabe, die ihr zu erfüllen habt? Für eure Völker seid ihr die Keimzelle des Guten.« »Wir waren es einmal. Da hast gesehen, was dieser Planet aus
einigen der Unsrigen gemacht hat, und selbst die Vereinigung unserer besonderen geistigen Kräfte hat es nicht vermocht, aus diesem Gefängnis zu entkommen.« Tiefe Resignation sprach aus den Worten des Zhu‐Umlat. »Niemand von uns weiß, ob seine Art überhaupt noch besteht. Unser Dasein ist sinnlos geworden.« »Daug, du weißt, daß du noch gebraucht wirst. Dein Volk existiert noch. Ich verspreche dir, daß wir dir helfen werden, die Vulnurer zu finden!« Trotz des aufrüttelnden Appells blieb auch Daug‐Enn‐Daug bei seiner ablehnenden Haltung. »Ich werde hierbleiben und mit den anderen sterben. Der Gedanke, wie die Grenzwächter mißbraucht zu werden, ist so unerträglich, daß ich den Tod vorziehe. Du …« Ein dumpfes Grollen übertönte nicht nur die Stimme des Insektoiden, sondern auch das Brausen der Turbulenzen. Der Untergrund bewegte sich. »Wir müssen zurück zum Schiff, bevor das Beben stärker wird!« schrie Blödel mit seiner auf maximale Lautstärke hochgeschalteten Sprecheinheit. Mehrere heftige Stöße erschütterten den Boden, kleine Risse entstanden, aus denen Dampf und Gase entwichen. Zwei, drei der ohnehin schon angeschlagenen Bäume neigten sich und rissen im Fallen Schneisen in das lichte Unterholz. Krachend schlugen sie auf. Das Grollen verstärkte sich noch, wurde fast ohrenbetäubend. Heftiger wurden auch die Stöße. Wie Wellen mit wachsender Intensität durchzogen sie das Erdreich. Einige Emulatoren stürzten. Hinter der Gruppe riß die Planetenkruste auf, glühendes Magma quoll daraus hervor. Gräser und Kräuter verkohlten und verbrannten, an den Gehölzen leckten Flammenzungen empor. Eine unerträgliche Hitze breitete sich aus, aber das war erst der Beginn der Apokalypse. Wie ein feuriger Bach bahnte sich die Magmaflut einen Weg durch die Vegetation und ließ eine Spur der Verwüstung zurück. Es
zischte und brodelte allenthalben, Asche und Funken wurden davongetragen, neue Brandherde entstanden. Einige Spalten füllten sich mit der Schmelze und wurden zu Seen mit einer Temperatur von über tausend Grad, andere Risse verbreiterten sich zu abgrundlosen Gräben. Feuer, Wasser und Luft, die man früher auf der Erde für Elemente gehalten hatten, gingen eine unheilvolle Allianz ein und schickten sich an, Rostbraun den Todesstoß zu versetzen, bevor ihn seine Sonne verschlang. Eine Verständigung war nicht mehr möglich. Durch Zeichen deutete Atlan an, die MJAILAM herbeizurufen. Blödel bestätigte und signalisierte, daß sie unterwegs war. Brick hatte sie bereits gestartet, bevor der Roboter zu senden begann. Allmählich wurde der Sauerstoff knapp, die Hitze trocknete die Schleimhäute aus. Der Arkonide fühlte eine gewisse Lethargie in sich aufsteigen, hervorgerufen durch die Gase. Sie betäubten und trübten das Bewußtsein, der Wunsch, einfach einzuschlafen, wurde immer mächtiger. Die gleiche Wirkung, die er an sich selbst beobachtete, war auch bei den Emulatoren zu erkennen, doch sie wehrten sich nicht dagegen, obwohl es aus diesem Schlaf kein Erwachen mehr gab. Nahezu gleichzeitig legten sie sich auf den Boden, um den Tod zu erwarten. »Ihr seid keine Märtyrer! Ich lasse nicht zu, daß ihr Selbstmord begeht!« Atlan zog seinen Strahler und richtete ihn auf die Liegenden. »Los, steht auf!« Selbst wenn ihn jemand verstanden hätte – niemand schien die Waffe als Bedrohung zu empfinden. Sie hatten mit ihrem Leben abgeschlossen, und es war ihnen egal, ob sie verbrannten, erstickten, durch die Giftgase starben oder zerstrahlt wurden. Es war diese Gleichgültigkeit der eigenen Existenz gegenüber, die den Aktivatorträger fast rasend machte, zudem blieb nicht mehr viel Zeit. Mit jeder Minute wurde das Chaos größer, und es boten sich nur noch zwei Fluchtwege an.
Der Magmastrom war so breit geworden, daß er ohne Hilfsmittel nicht mehr zu überwinden war. Links verhinderten Spalten, Krater und glutflüssige Seen ein Entkommen, auf der anderen Seite ließen Geysire und brennende Büsche und Sträucher nur einen schmalen Steg frei. In der Richtung, aus der sie gekommen waren, wirkte das Land noch relativ intakt, aber just dort war ein Teil der Vegetationsinsel weggesackt. Der Raumer tauchte auf und senkte sich wie ein riesiger Greif nach unten. Ein Gefühl der Erleichterung überkam Atlan. Vielleicht konnten doch noch alle gerettet werden. Eilig lief er zu den Emulatoren, doch bevor er sie erreichte, verlor er den Boden unter den Füßen und wurde emporgeschleudert. Blödel konnte ihn im letzten Augenblick auffangen und davor bewahren, sich etliche Knochenbrüche zuzuziehen. Vorsichtig setzte er ihn wieder ab. »Danke!« Ohne sich aufhalten zu lassen, marschierte der Arkonide weiter. Die Protestschreie von Daug und Ehennesi gingen im Tosen unter, als er sie hochriß und dem Roboter in die Arme stieß. Beide wehrten sich, hatten jedoch keinen Erfolg. An sich gefesselt, schleppte der Scientologe sie zum knapp über dem Boden schwebenden Raumer und übergab sie zwei solanischen Automaten, die sie ins Schiff beförderten. Der Aktivatorträger wartete das Ergebnis nicht ab, sondern startete erneut, um auch die anderen Emulatoren in Sicherheit zu bringen. Er hatte sie noch nicht erreicht, als sich vor ihm ein Abgrund auftat und die verschlang, die er hatte retten wollen. Wie versteinert blickte er in die Tiefe, die bodenlos zu sein schien. Für ein paar Augenblicke vergaß er, was sich um ihn herum abspielte. Du mußt endlich an Bord gehen! Atlan sah sich um, und er erkannte, daß er sich beeilen mußte, wenn er nicht auf ein Opfer jener Gewalten werden wollte, die durch Kioltonns Selbstauflösung nicht mehr zu kontrollieren waren.
Er entschloß sich zum Rückzug. Vorlan schien das geahnt zu haben. Virtuos dirigierte er den Raumer direkt über den Arkoniden. Der fühlte sich von einem Fesselfeld gepackt und hochgehoben. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen und halfen ihm ins Schiff. Der Roboter gelangte auf die gleiche Weise an Bord. Sofort nahm der Kreuzer Fahrt auf und beschleunigte. Der dem Untergang geweihte und zum Grab der Emulatoren gewordene Planet fiel zurück und wurde kleiner. Von seiner ursprünglichen Farbe war nichts mehr zu erkennen. Er war zu einem Glutball geworden, der seine Sonne an Leuchtkraft fast übertraf. * Mit Mühe und Not war man dem Chaos entkommen. Es hatte schon der Erfahrung eines Piloten wie Vorlan bedurft, um die MJAILAM aus einem System herauszuführen, in dem die physikalischen Gesetze keine Gültigkeit mehr zu haben schienen. Atlan hatte sich in seine Kabine zurückgezogen, um ungestört nachdenken zu können. Nach allem, was er von den Emulatoren erfahren und selbst herausgefunden und beobachtet hatte, mußte die Namenlose Zone ursprünglich ein Teil des normalen Universums gewesen sein, in der sich zunächst jene Sonnen und Planeten sammelten, die von negativen Völkern bewohnt wurden. Dabei gerieten diese Systeme in die sogenannten Schockfronten, unsichtbare und undurchdringliche Barrieren. Als vor Urzeiten eine große Zahl solcher Welten hinter diesen »absoluten Mauern« vorhanden war, riegelte sich das ganze Raumgebiet vom übrigen Universum ab. Welcher Mechanismus zu dieser Veränderung führte, wußte er nicht, aber er war überzeugt davon, daß es nicht auf das Eingreifen oder Einwirken der Kosmokraten zurückzuführen war. Vielmehr hatte es den Anschein,
daß der Kosmos über Selbstheilungskräfte verfügte und das Böse in die Verbannung schickte. Es hatte sich gezeigt, daß sich bei allen negativen Völkern Emulatoren entwickelt hatten, also Wesen, die das nur noch in Spuren vorhandene Gute in sich vereinigten. Sie waren quasi unsterblich, und erst, wenn ihre Art einen neuen und besseren Emulator hervorgebracht hatte, konnte der alte sterben, allerdings war es ihm auch möglich, sein Dasein aus eigenem Willen zu beenden, wie es auf Rostbraun geschehen war. Wie Kioltonn erzählt hatte, stellten sie das einzige wirklich Positive in der Namenlosen Zone dar, und irgend jemand hatte ein Interesse daran, die Wirkung der Emulatoren zu neutralisieren, ja, mehr noch, sie umzufunktionieren und für eigene und gänzlich andere Zwecke zu mißbrauchen. Daß es dabei unterschiedliche Ergebnisse dieser Umwandlungen gegeben hatte, irritierte den Arkoniden nicht. Was die Zounts, die Zähler, mithin also die Manifeste betraf und damit auch Anti‐ES, so lag wohl ein indirektes Eingreifen der Hohen Mächte vor. Sie waren in ihrer negativen Erscheinungsform verschwunden und konnten allein schon deshalb nicht mit jenen Kräften im Hintergrund in Zusammenhang gebracht werden, die jetzt in der Namenlosen Zone herrschten. Anders war das bei den Grenzwächtern. Sie dienten einem Herrn, der ganz offensichtlich noch existent war. Daß diese Macht selbst noch nicht offen in Erscheinung getreten war, konnte bedeuten, daß sie sich noch relativ sicher fühlte und über weitere hochkarätige Vasallen und Abwehrmechanismen verfügte. Selbst ein so mächtiges Wesen wie Anti‐ES war ja letztendlich an den Grenzwächtern gescheitert. Nicht ganz in dieses Konzept paßten andere Wesen, die man in der Namenlosen Zone angetroffen hatte, wie die Neutralschweber oder die Miniaturisierer. Atlan stufte sie als die Nachkommen untergegangener Arten ein, die im gegenwärtigen Geschehen keine
große Rolle spielten und von dem oder den Unbekannten als ungefährlich und harmlos eingestuft wurden. Eine Ausnahme bildeten – das wurde ihm ganz deutlich – lediglich die Vulnurer und die Lichtquelle, die wahrscheinlich mit der auf der Basis des Ersten Zählers identisch war. Unklar blieb nur, ob es tatsächlich negative Vulnurer gab, oder ob Daug‐Enn‐Daug eine Fehlentwicklung war, wie sie die Natur immer wieder als Experiment der Evolution hervorbrachte. Immerhin mußte er ein sehr starker Emulator sein, denn andernfalls wäre es ihm wohl nicht gelungen, die Namenlose Zone zu verlassen. So sehr er den Tod der Grenzwächter und der anderen Emulatoren bedauerte, so sehr befriedigte ihn, daß er Daug‐Enn‐ Daug und Ehennesi hatte retten und an Bord bringen können. Das war ein Fehler. Einer der beiden treibt ein falsches Spiel. Unsinn, gab Atlan gedanklich zurück. Hätte ich sonst Gewalt anwenden müssen? Du wirst sehen, ob sie noch von Nutzen für uns sind. Warten wir es ab, lautete der lakonische Kommentar des Extrasinns. 7. Nicht alles im Sonnensystem NZ‐3 war untergegangen und vernichtet worden. So gab es noch eine unversehrte Überwachungseinheit, die dem Rat der Pagen berichtete, was vorgefallen war, und um neue Instruktionen nachsuchte. Die Antwort erfolgte prompt. KEINE AKTIONEN, POSITION BEIBEHALTEN. DIE EINDRINGLINGE HABEN ETWAS AN BORD GENOMMEN, DURCH DAS IHR TOD BEREITS EINGELEITET IST. ENDE
Die Geheimnisse der Namenlosen Zone beginnen sich allmählich zu lüften. Vor allem zeigt es sich, daß der so leer und sternenlos wirkende Raum Sonnen und Planeten enthält. Zum Beispiel Solist, den Planeten der Emulatoren. Dort befinden sich auch DIE KINDER DER BRISBEE … DIE KINDER DER BRISBEE – unter diesen Titel haben wir auch den nächsten Atlan‐Band gestellt. Als Autor des Romans zeichnet Hubert Haensel.