Exklusion und Selbstbehauptung
Campus Forschung Band 946
Stefan Thomas, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist Dozent an ...
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Exklusion und Selbstbehauptung
Campus Forschung Band 946
Stefan Thomas, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist Dozent an der Freien Universität Berlin.
Stefan Thomas
Exklusion und Selbstbehauptung Wie junge Menschen Armut erleben
Campus Verlag Frankfurt/New York
Gedruckt mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39193-9 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2010 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Dank ......................................................................................................................... 9 Einleitung...............................................................................................................11 1. Problemstellung.............................................................................................11 2. (Individual-)Integration und Individualisierung.......................................14 3. Armut und Exklusion...................................................................................17 4. Junge Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße......................................22 5. Subjekt-Integrations-Modell (SIM)............................................................25 6. Methode..........................................................................................................31 7. Ziele und Fragestellung................................................................................35
Exklusion und Lebenswelt »Bahnhof Zoo« .....................................................................................................41 1. Bahnhofsszene...............................................................................................41 2. Bahnhofsterrain.............................................................................................43 3. Bahnhofsgänger.............................................................................................45 Exklusion und Sozialisation................................................................................52 1. Familienprobleme und Exklusion..............................................................53 2. Ökonomische Belastungen in der Familie................................................59 3. Von Familienproblemen zur Exklusion....................................................62 Exklusion am Arbeitsmarkt................................................................................65 1. Arbeitslosigkeit in der Bahnhofsszene ......................................................66 2. Vergeblichkeit der Arbeitssuche.................................................................68 3. Peripherien der Arbeitsgesellschaft............................................................71 4. Informelle Beschäftigungsfelder.................................................................79 5. Segregative Arbeitslosigkeit.........................................................................86
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Ökonomische Exklusion.....................................................................................89 1. Finanzielle Spielräume..................................................................................90 2. Destruktion des Alltags................................................................................92 3. Enge der Armut ............................................................................................95 4. Existenzsicherung und Lebensstilrealisierung..........................................97 5. Demonstration von Zugehörigkeit ..........................................................102 6. Zusammenbruch des Haushaltsmanagements.......................................106 7. »Ausschließende Armut«............................................................................109 Räumliche Exklusion .........................................................................................111 1. Wohnungslosigkeit und Alltagsorganisation ..........................................112 2. Sozialräume und Dislokalisation ..............................................................117 3. Verlust von Lebenszentrum und Infrastruktur......................................120 4. Einschließende Dislokalisation.................................................................123 5. Doppelter Ausschluss: »Marginale Orte«................................................124 6. Räumliche Dislokalisation .........................................................................130 Institutionelle Exklusion ...................................................................................133 1. Schule und institutionelle Exklusion .......................................................134 2. Ausschluss in den (Kern-)Institutionen moderner Gesellschaften ....145 3. Überdeterminierter Ausschluss aus der Welt der Erwachsenen .........155 Soziale Exklusion ...............................................................................................158 1. Soziale Exklusion durch Armut................................................................159 2. Exklusion aus sozialen Lebenssphären ...................................................163 3. Keine Freunde, viele »Kumpels« ..............................................................166 4. Soziale Isolation ..........................................................................................170 Kulturelle Exklusion ..........................................................................................172 1. »Bahnhof Zoo« als Ort der Verwerfung .................................................173 2. Ambivalenzen und Verleugnungen..........................................................176 Das Feld der Exklusion.....................................................................................182
Exklusion und Sinn Vorbemerkungen................................................................................................191 Repräsentation der Welt....................................................................................195 1. Phänographie der Alltagstristesse.............................................................198 2. Dichotomie von Bahnhof und Alltag......................................................201
INHALT
3. 4. 5. 6.
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Opazität – kognitive Repräsentation .......................................................206 Bedeutsamkeitsverlust – sinntragende Repräsentation.........................211 Ausblendung – affektive Repräsentation ................................................215 Zerrüttung der Welterfahrung ..................................................................219
Identität................................................................................................................222 1. Identität und Kohärenz..............................................................................227 2. Identität und soziale Zugehörigkeit .........................................................231 3. Identität und Handlungsfähigkeit.............................................................234 4. Heldengeschichten des Alltags .................................................................238 5. Fragmentierte Identitäten ..........................................................................243 Anerkennung.......................................................................................................249 1. Entbehrung von Liebe ...............................................................................251 2. Mensch minderen Rechts ..........................................................................269 3. Missachtung von Individualität ................................................................276 Dissoziation von Sinn........................................................................................284
Exklusion und Handlung Vorbemerkungen................................................................................................295 Motivation und Handlung ................................................................................298 1. Erwartung und Selbstwirksamkeit ...........................................................299 2. Wert der Ziele..............................................................................................305 3. Das Rubikon-Modell ..................................................................................308 Alltägliche Lebensführung ................................................................................320 1. Mangel an Tagesaktivitäten .......................................................................321 2. Handlungsstruktur und Sozialstruktur ....................................................324 3. Zyklizität und Routinisierung....................................................................329 4. Zyklizität der Alltagstristesse ....................................................................335 Hilflosigkeit, Resignation und Selbstaufgabe.................................................341 1. Erlernte Hilflosigkeit ..................................................................................342 2. Depression ...................................................................................................348 3. Verwahrlosung.............................................................................................353 4. Drogen..........................................................................................................358 5. Die letzte Chance........................................................................................363
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Selbstbehauptung am »Bahnhof Zoo«............................................................367 1. Die Freiheit des Bahnhofs.........................................................................368 2. Soziales Netzwerk und Ressourcen .........................................................371 3. Solidarität der Straße und Schattenökonomie........................................376 4. Interaktion und Kommunikation als soziales Event ............................379 5. Interaktion, Prestige und sozialer Status .................................................382 6. Identitätsversicherungen............................................................................389 Desorganisation von Handlungen...................................................................393
Schluss Eine integrative Theorie der Armut ................................................................399 1. Soziologie der Armut: Exklusion .............................................................399 2. Psychologie der Armut: Psychische Desintegration .............................404 3. Exklusions-Desintegrations-Dynamik.....................................................409 4. Was ist zu tun?.............................................................................................413 Literatur................................................................................................................417
Dank
Auch wenn das Schreiben einer Doktorarbeit nur im einsamen Rückzug an den Schreibtisch möglich ist, so hat mir bei der Erstellung dennoch eine Vielzahl an Menschen geholfen, denen ich hier meinen Dank aussprechen will. An erster Stelle möchte ich meinen Doktorvater Jarg Bergold nennen, der mir nach Abschluss des Studiums die Möglichkeit eröffnete, mit meinem wissenschaftlichen Werdegang an seinem Arbeitsbereich für Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie fortzufahren. Zudem habe ich in besonderer Weise von der einzigartigen intellektuellen Lern- und Arbeitssituation profitieret, die noch über die Studienzeiten hinaus an dem ehemaligen »Psychologischen Institut« der Freien Universität Berlin geherrscht hat. Hier war es überhaupt erst möglich, über den engen Tellerrand einer alltagsfernen Mainstream-Psychologie zu schauen, um vom Standpunkt einer der Lebenswelt aufgeschlossen gegenüberstehenden (Sozial-)Psychologie aus eine sozialwissenschaftliche Arbeit mit interdisziplinärem Anspruch zu schreiben. Besonders möchte ich Manfred Zaumseil danken, der sich als Zweitgutachter zur Verfügung gestellt und damit diese Arbeit in der vorliegenden Form mit ermöglicht hat. Ebenso möchte ich Irmingard Staeuble danken, in deren sozial- und kulturpsychologischem Colloquium ich die Möglichkeit erhielt, als Gast die Resultate meiner Forschung zur kritischen Diskussion zu stellen. Über die Freie Universität hinaus möchte ich als langjährigem, kritischwohlgesinntem Betreuer dieser Arbeit Jürgen Gries von der Katholischen Hochschule Berlin meinen Dank aussprechen. Danken möchte ich ebenso Hugh Mehan und Aaron Cicourel, die mich während eines Forschungsaufenthalts an der University of California, San Diego, sehr freundlich aufgenommen und zu einem systematischen Weiterdenken der Arbeit aufgefordert haben.
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Der Anfang dieser Dissertation geht zurück auf ein Forschungsprojekt, das im Rahmen des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Förderprogramms »Berlin-Forschung« finanziert worden ist. Die Dissertation selbst wurde durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung ermöglicht, die in jeder Hinsicht für eine professionelle Promotionsförderung als Beispiel dienen kann. Beiden Institutionen und den dort arbeitenden Menschen möchte ich für die zuteilgewordene Förderung danken. Von den vielen Freunden, die durch interessierte Nachfragen, inhaltliche Diskussionen und weiterführende Anregungen das Fortschreiten dieser Arbeit begleitet haben, möchte ich besonders Andrea Nachtigall und Erika Alleweldt herausheben. Und doch müssen trotz der Kritik und Korrektur durch Mentoren, Kollegen und Freunde alle Unzulänglichkeiten und Fehler der Verantwortung des Autors zugerechnet werden. Schließlich wäre die Arbeit ohne die Bereitschaft und Gefälligkeit der jungen Menschen am »Bahnhof Zoo«, mich an ihrer Gemeinschaft teilhaben zu lassen, nicht möglich gewesen. Ihnen möchte ich für die prägende Erfahrung danken, die ich bei meinen Feldaufenthalten, welche mich für ein ganzes Jahr immer wieder in die Westberliner Innenstadt geführt haben, machen konnte. Hierdurch haben sich meine Augen für eine ganz andere Ansicht unseres modernen Lebens überhaupt erst geöffnet. Erika Alleweldt, der das Buch gewidmet ist, möchte ich an dieser Stelle einzig sagen, es ist vollbracht. Du wirst ahnen, wie sehr ich Dir für alles danke.
Einleitung
1. Problemstellung Wer kennt sie nicht: »Die Kinder vom Bahnhof Zoo«? Am Bahnhof stehen sie immer noch, wenn heutzutage auch aus ganz anderen Gründen. Spätestens mit dem Buch über die Drogenkarriere der Christiane F., das 1976 im Stern-Verlag erschienen war, ist die Straßenszene zum medialen Platzhalter für gescheiterte Jugendliche, exzessive Drogensucht und entwürdigende Verwahrlosung geworden. Das Buch der Christiane F. kann seit Jahrzehnten seinen festen Platz im Kanon jugendpädagogischer Aufklärungsbücher beanspruchen. Wann immer es darum geht, vor den Gefahren der Straße, des sozialen Randes, den Drogen zu warnen, dann wird häufig auch auf die Berliner Bahnhofsszene verwiesen. Der »Bahnhof Zoo« gilt als der soziale Unort par excellence, bevölkert von Junkies, Strichern und Obdachlosen, die dort ihr Unwesen treiben. Sie finden sich infolge einer falschen Wahl, die mehr aus Unwissenheit, Hilflosigkeit und Überforderung getroffen worden ist, schon früh an der Endstation ihres noch jungen Lebens wieder. Im Mittelpunkt des Buches steht dabei die Verführung durch die Droge, derer sich die Kinder und Jugendlichen, einmal von falschen Freunden dazu überredet, nicht mehr aus eigener Kraft erwehren können. Aber auch schon bei Christiane F. wurde auf das kaputte Elternhaus, die seelenlose, anregungsarme Großstadt, die ablehnende, nur mit sich selbst beschäftigte Welt der Erwachsenen hingewiesen. Die sozialen Probleme, wodurch die jungen Menschen in den Bann der finsteren Bahnhofswelt gezogen werden, scheinen damit über die vergangenen Jahrzehnte die gleichen geblieben zu sein. Und doch hat sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch das jugendkulturelle Leben in der Bahnhofswelt in ganz grundlegender Hinsicht verändert. Zu Zeiten der Christiane F. war der »Bahnhof Zoo« zuallererst ein jugendkulturelles Phänomen. Trotz Verelendung und Verwahrlosung, die
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mit dem sich entgrenzenden Drogenkonsum und der Beschaffungsproblematik einhergehen, sind Gebrauch und Stilisierung der Droge ganz über die Einbindung in die Clique vermittelt. Die Drogenszene ist dabei äußerstes Extrem einer impulsiven Widerständigkeit. Die Jugendlichen, die bisher vor allem ihre Ablehnung von der Gesellschaft erfahren haben, organisieren mit viel Energie ihre Selbstzerstörung. Die Attraktivität der Droge begründet sich daraus, dass die eigene, sich regende Lebendigkeit, die in der Erwachsenenwelt keine Anknüpfungspunkte findet, durch den Rausch kontrollierbar und beherrschbar wird. In ihrem Habitus und Gestus versuchen die Heranwachsenden vor allem ihre Abgeklärtheit zur Schau zu stellen. Es ist das Heroin, das am nachhaltigsten das Versprechen nach unbedingter Coolness einlöst, weil man bis auf die Droge, die mit einem Schlag von allen drängenden Bedürfnissen befreit, nichts mehr von der Welt wissen will. Zentraler Ort für Drogenkonsum und adoleszente Selbstinszenierung, wo Souveränität und Gelassenheit allabendlich unter Beweis gestellt wird, ist das »Sound«, eine Jugenddiskothek, die zum festen Treffpunkt für die Clique der Christiane F. wird. David Bowie wird in seiner Verkörperung des emotional unterkühlten, androgynen, entsexualisierten »Heros«, der in seiner glamourhaften Erhabenheit über aller irdischen Profanität zu stehen scheint, vom Freundeskreis als Inbegriff von Coolness vergöttert. Für die Jugendlichen bleibt da nur die Droge, um sich aus der Trostlosigkeit des Alltags zu erheben. Im Vergleich zu Christiane F. muss der »Bahnhof Zoo« heutzutage als ein Armuts- und Ausgrenzungsphänomen gewertet werden. Wegen Drogenszene und Heroin kommt niemand mehr hierher – zu sehr ist der »Bahnhof Zoo« im populärkulturellen Diskurs zum paradigmatischen Ort des sozialen Abstiegs geworden. Darum wissen auch die jungen Menschen, die hier mehr aufgrund fehlender Alternativen stranden, als dass sie auf der Suche nach Anschluss an eine Jugend- und Drogenkultur wären. Der Bahnhof ist vielmehr zu einem Sammelplatz sozial desintegrierter Jugendlicher geworden. Die Lebenslage der jungen Menschen war schon vor dem Anschluss an die Bahnhofsszene von extremen Formen der Armut, sozialen Ausgrenzung und Isolation gekennzeichnet. Die jungen Menschen wissen aufgrund vorangegangener Ausschließungsprozesse schlicht um keinen anderen Ort, an den sie sich wenden könnten. Längst haben sie alle Perspektiven verloren, haben aufgrund von Problemen im Elternhaus kein Zuhause mehr, haben ohne Schulabschluss und Arbeitsstelle kaum eine Aussicht, ihren Status als Sozialleistungsempfänger jemals zu überwinden.
EINLEITUNG
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Sie sind schlicht damit überfordert, in der modernen Gesellschaft ihren eigenen Platz zu behaupten. »Bahnhof Zoo« ist nicht die Endstation eines unverhofften Abrutschens in den Drogenkonsum. Vielmehr wird der Bahnhof zur letzten Möglichkeit, um überhaupt noch irgendwo dazuzugehören und sozial eingebunden zu sein. Dagegen erscheint die Integration in die Gesellschaft aufgrund einer Vielzahl biographischer Brüche als gescheitert. Auch wenn Heroin noch immer als Droge am Bahnhof verbreitet ist, gibt es hier keineswegs mehr eine feste »Fixerszene«. Vielmehr lässt sich eine breite Mischform des Drogenkonsums beobachten, wo vor allem Alkohol eine große Bedeutung hat, aber auch Haschisch, Kokain, Pillen, Psychopharmaka, Speed. Heutzutage »ballern« sich viele mit allem voll, was nur irgendwie zu haben ist, um die perspektivlose Wirklichkeit nicht nüchtern ertragen zu müssen. Unter den Jugendlichen gibt es daher auch keine verbindliche Gruppenidentität mehr, und sei es bloß die des kaputten Fixers. Die Bahnhofsszene, obwohl sich alle untereinander kennen, zerfällt vielmehr in eine Vielzahl an Kleingruppen und einzelne Freundeszirkel. Der Leser, der im Folgenden nun ausgeschmückte Einblicke in die trostlose Welt der Armut, eine Charakterstudie im halbschattigen Milieu der Stricher, Junkies und Verzweifelten, eine bunte Beschreibung der Kämpfe und Selbstbehauptungsversuche erwartet, die das erbärmliche, entbehrungsreiche Leben auf der Straße erfordert, muss leider enttäuscht werden. Es geht hier nicht in erster Linie um die sinistere Atmosphäre der Straße, den nächsten Heroinschuss, den vulgären, sinnlichen Rausch, die käufliche Sexualität auf dem Straßenstrich. Allein eine solche Problembeschreibung ist nichts anderes als moderne Mythologie. Die Probleme und Sachverhalte, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, liegen hinter dieser populären Ebene des Unmittelbaren, das im medialen Diskurs seine festen Darstellungsformen gefunden hat. Um das Phänomen des Lebens auf der Straße zu verstehen und zu erklären, kann man nicht beim Anschaulichen und Spektakulären verweilen. Zwar bildet die Empirie die Grundlage jeder wissenschaftlichen Beschreibung, aber zu einer Erklärung der in Rede stehenden Phänomene gelangt man nur, indem man die zugrunde liegenden – sozialen und psychischen – Strukturelemente zur Sprache bringt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die Erfahrung von Armut und Ausgrenzung, die am äußersten sozialen Rand einer Gesellschaft gemacht wird, deren Reichtum sicherlich zu keiner Zeit größer war. Die Bahnhofsgänger bilden zwar nur eine kleine Randgruppe, die in den Studien zur wachsenden Armutsproblematik keine eigene Erwähnung findet. Und
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dennoch lässt sich von den Problemen sehr wohl etwas für die Gesellschaft im Allgemeinen und für die sich in den letzten Jahren verstärkenden Armuts- und Exklusionsdynamiken im Besonderen lernen. Der Szenetreffpunkt »Bahnhof Zoo« soll wie unter einem Vergrößerungsglas die Auswüchse von Armut und Exklusion enthüllen. Die zugrunde liegenden Probleme, sowohl auf der sozialen als auch auf der psychischen Ebene, scheinen mir symptomatisch für die Desintegrationstendenzen zu stehen, die auch bei jenen Bevölkerungsgruppen wirkmächtig werden, die in einer viel weniger ausgeprägten Weise von Armut und Exklusion betroffen sind (Friedrich-Ebert-Stiftung 2007; Heitmeyer 2008; Grabka & Frick 2008; Schultheis 2005). Die Bahnhofsgänger werden daher als Extremgruppe innerhalb der Armutspopulation herangezogen, um quasi in Reinform jene Armuts- und Ausschlussprozesse untersuchen zu können, die in anderen Gruppen eher in vermischten, heterogenen, vermittelten Formen auftreten. Der Grundgedanke besteht darin, dass das strukturelle Fundament, auf dem die Armutsproblematik der jungen Menschen ruht, sehr wohl verallgemeinerungsfähig ist und Auskünfte über die Verfasstheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft geben kann.
2. (Individual-)Integration und Individualisierung Mit einem epochalen Beschleunigungsschub sozialen Wandels sind die Auseinandersetzungen um das widersprüchliche Verhältnis, in dem Gesellschaft und Individuum unaufkündbar miteinander verwoben sind, schon längst auf neues Terrain geführt. Unter Stichworten wie Globalisierung, Neoliberalismus, Prekarisierung formuliert sich über die Lebenswelt empirisch unterfüttert ein Lebensgefühl zunehmenden Unbehagens an den Tendenzen der Gegenwart (Bauman 1999; Honneth 2003a: 136 ff.). Auch wenn krisenförmige Entwicklungen für kapitalistische Gesellschaften generell kennzeichnend sind, so ergibt sich die besondere Dynamik gegenwärtiger Veränderungen aus der Auflösung des fordistischen Gesellschaftsmodells. Dessen Legitimation speiste sich vor allem aus der illusionären Aussicht auf ewige Vollbeschäftigung, dauerhafte Steigerung des Lebensstandards und wohlfahrtsstaatliche Absicherung gegenüber den Schicksalsschlägen des Lebens (Offe 1984; Habermas 1985: 147 ff.; Lutz 1984). Angesichts der Übermächtigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen fühlen
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sich immer mehr Menschen an die verselbständigten Rationalisierungs-, Effizienz-, Beschleunigungssteigerungen ausgeliefert, die das Versprechen der Moderne nach dem guten und schönen Leben keineswegs einlösen (Rosa 2005: 9 ff.). Eher droht die Überflüssigkeitsmachung des individualisierten S ubjekts: Massenarbeitslosigkeit, Entgrenzung der Mobilitäts-, Flexibilitäts- und Leistungsansprüche des Arbeitsmarktes, konkurrenzförmiges Ausgespieltwerden als Arbeitskraft, Absenken der Einkommensstandards, Aufbrechen von eingelebten Lebens-, Familien und Sozialformen, Eintrübung von Zukunftsaussichten et cetera (Konietzka & Sopp 2006). Die Modernisierung der Moderne räumt mit dem auf, was der beschleunigten Entwicklungsdynamik im Wege steht, nämlich mit den Gewissheiten und Sicherheiten, die sich für das Individuum bisher als beständig genug erwiesen haben, um daran mit seinen Lebensorientierungen, Handlungsentwürfen und Biographieverläufen anzuknüpfen (Ehrenberg 2008: 17 ff.). Die Situation erscheint widersprüchlich. Einerseits bringt der technologische und ökonomische Fortschritt speziell gegenüber dem Bereich der notwendigen Arbeit neue Freiheiten mit sich. Aus der Anhebung des materiellen Lebensstandards, der Erhöhung und Ausweitung sozialer Mobilität und der Bildungsexpansion ergeben sich für den einzelnen Differenzierungsmöglichkeiten seiner Individualitätsformen, die niemand mehr missen will (Beck 1986: 121 ff.; Habermas 1992). Andererseits fehlen die Halteseile, die über Erwerbsarbeit, Wohlfahrtsstaat, familienorientierte Lebensformen und eindeutige Identitätsangebote eine lebenslange Balance des biographischen Lebenslaufs garantieren. Die Chancen der Individualisierung sind nicht ohne neue Risiken und Gefährdungen zu haben (Keupp 1988). Angesichts des tiefgreifenden Sozialwandels kommt es zu einer strukturellen Um- und Neustellung des Integrationsmodus, über den das Individuum seinen Platz im funktionsteiligen Gesamt der Gesellschaft als auch in sozialen Lebensgemeinschaften einzunehmen hat (Münch 1997; Luhmann 1997). Zur Beschreibung dieses Modus möchte ich den sozialpsychologischen Begriff der Individualintegration einführen, der sich komplementär zu den beiden anderen Integrationsformen, der System- und Sozialintegration verhält. Diese Unterscheidung zweier Basisprinzipien der Integration ist von Lockwood (1969) als Prozessebenen zur Erklärung sozialen Wandels eingeführt worden. »Während beim Problem der sozialen Integration die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen der Handelnden eines sozialen Systems zur Debatte stehen, dreht es sich beim
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Problem der Systemintegration um die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen zwischen den Teilen eines sozialen Systems [Hervorheb. i. O.]« (ebd.: 125). Mit dem Begriff Individualintegration soll nun von einer dritten Seite, nämlich der des freigesetzten und auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts untersucht werden, wie System, Lebenswelt und Individuum zueinander finden und sich gegenseitig unabdingbar zur Voraussetzung haben. Gewendet auf die individualwissenschaftliche Seite bedeutet dies, dass die Integration genauso in die Basisinstitutionen des gesellschaftlichen Lebenserhaltungsapparats wie in die Sozialräume einer verständigungsorientierten und sozialintegrativen Lebenswelt die Eigenleistung des Subjekts erfordert. »Alles, was in systemtheoretischer Perspektive getrennt erscheint, wird zum integralen Bestandteil der Individualbiographie: Familie und Erwerbsarbeit, Ausbildung und Beschäftigung, Verwaltung und Verkehrswesen, Konsum, Medizin, Pädagogik usw. Teilsystemgrenzen gelten für Teilsysteme, aber nicht für Menschen in institutionenabhängigen Individuallagen [Hervorheb. i. O.]« (Beck 1986: 218 f.). Die persönliche Nutzung der Individualisierungs- und Pluralisierungsangebote setzt voraus, dass das Individuum in seiner alltäglichen Lebenspraxis die eigene Integration in Gesellschaft und Sozialwesen quasi selbst institutionalisiert, eine Aufgabe, die zuvor durch intermediäre Institutionen gewährleistet wurde (vgl. Berger & Luckmann 1969: 77; Heitmeyer 1997a: 59 ff.). In der beschleunigten Gesellschaft mithalten zu können, erfordert daher eine Persönlichkeitsentwicklung, die zur Eigensteuerung, Selbstreflexivität, Autonomie befähigt (Keupp et al. 1999: 55 f.). Die Vernachlässigung der eigenen Individualintegration mündet dagegen in der Gefahr der Ausgrenzung aus zentralen Funktions- und Lebensbereichen (Kronauer 2007: 56). Während es den Funktionssystemen gleich sein kann, welches Individuum die jeweils anvertrauten Aufgaben erfüllt, besteht das Dilemma für das Individuum darin, dass es ihm dagegen nicht gleich sein kann, ob es Zugang zu den Funktionssystemen und den darüber distribuierten Lebensbedingungen erhält (vgl. Schwinn 1995). »Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wohlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist
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und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden« (Luhmann 1997: 630). Daher droht beim Scheitern der Individualintegration der kumulative Ausschluss aus der Gesellschaft, sodass diese zur zentralen Aufgabe der individuellen Lebensbewältigung geworden ist (Beck & Sopp 1997).
3. Armut und Exklusion Mit der Umgestaltung der Integrationsmodi verändern sich auch die Formen, in denen Armut und soziale Ausgrenzung ihren Einfluss auf Gesellschaft und Individuum ausüben. Die sozialen Schichten sind durchlässiger geworden, was nicht nur bedeutet, dass durch Bildung und Leistung der soziale Aufstieg möglich wird. Die sozialen Strukturvorgaben sorgen heutzutage nicht mehr für eine derartig eindeutige Orientierung, um mit Blick auf das eigene Leben entscheiden zu können, welcher Biographieverlauf einzuschlagen ist, um Erfolg zu haben. Trotz der Zunahme sozialer Mobilität schaffen nur sehr wenige den Sprung in die oberen Etagen der Gesellschaft. Vielmehr werden immer mehr Menschen, weil sie an den gestellten Anforderungen scheitern, in den abwärts weisenden Sog der sich ausbreitenden Prekarität ihrer Arbeits- und Lebensumstände gezogen (Grabka & Frick 2008; BMAS 2008). Individualisierung von Armutslagen bedeutet demnach: Erstens, die wandelnden Integrationsformen bringen eine ausufernde Gefährdung der Bevölkerungsschichten bis weit in den Mittelstand mit sich, der sich nicht mehr durch Bildung, Eigentum und Status von den Gefährdungen des sozialen Abstiegs freikaufen kann. Für die sozial schwachen Sozialschichten verschärfen sich die Armuts- und Ausgrenzungsszenarien abermals, weil sie nun in Konkurrenz mit dem Mittelstand um die verbleibenden Plätze noch tiefer in die gesellschaftlichen Randlagen zurückgedrängt werden: prekäre Beschäftigungsformen, Arbeitsintegrationsmaßnahmen des Arbeitsamtes, vernachlässigte Wohngebieten et cetera. Zweitens wird Armut zum individuellen Schicksal, weil es keine kompensatorischen Sozialmilieus mehr gibt, vielmehr die organische Solidarität von Familie und Milieu durch die anonyme Bürokratie des Sozialleistungsstaats, über welche die Armut verwaltet und versorgt wird, ausgehöhlt worden ist. Drittens ist eine sich verstärkende Tendenz zur personalisierenden Zu-
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rechnung der Verantwortung für den sozialen Abstieg zu beobachten, weil es durch die systematische Ausblendung struktureller Bedingungen, die für das Alltagsbewusstsein kennzeichnend ist, so scheinen muss, dass es der Einzelne ist, der in der individualisierten Gesellschaft versagt hat (Böhnke 2006: 70; Terzioglu & Zaumseil 2007: 218 f.). Individualisierung ist daher kein Heilsversprechen, sondern droht mit neuen, ungewohnten und unvorbereiteten Unsicherheiten und Gefährdungen. Für die Armutsforschung besteht nun die grundsätzliche Schwierigkeit darin, Armut definitorisch in objektive Begriffe und empirische Indikatoren zu überführen. Dies liegt nicht allein an der Vielschichtigkeit und der Komplexität des Armutsphänomens. Vielmehr ist die Definitionsschwierigkeit auch auf den normativen und politischen Gehalt des Armutsbegriffs zurückzuführen (Barlösius 2005: 24 ff.). Armut ist ein wertender, politisch umstrittener Begriff, der unausweichlich kulturellen und moralischen Hintergrundüberzeugungen aufsitzt (Hanesch et al. 1994: 23). Dies wird auch in den Wissenschaften zum Problem, weil sich die normativen, wertenden Implikationen, wie diese dem allgemeinen Verständnis von Armut beigegeben werden, nicht aufheben lassen, ohne die Bedeutung des Begriffs selbst zu nivellieren. Die Mangellage lässt sich nur im Verhältnis zu kulturell eingebürgerten Vorstellungen einer zureichenden Absicherung individueller Lebenslage bestimmen. Damit spielen moralische Werturteile, anhand denen sich beurteilen lässt, was als angemessener Lebensstandard gelten kann, bei der Definition von Armut immer eine Rolle. Und dennoch kann Wissenschaft ihre empirischen Einsichten und analytischen Mittel zumindest dazu nutzen, den soziokulturellen Klärungsprozess über ein angemessenes Armutsverständnis aus interessenpolitischen Verkürzungen zu befreien und an rationale Argumente rückzukoppeln (Leibfried & Voges 1992: 13). Im Folgenden möchte ich das über die Beschreibung von multidimensionalen Lebenslagen ausdifferenzierte Armutskonzept einbetten in die aktuelle Exklusionsdebatte, um hierdurch ein theoretisches Rahmengerüst zu erhalten, das der weiteren empirischen Untersuchung von Armut und Ausgrenzung zugrunde gelegt werden soll. Wissenschaftshistorisch betrachtet sind Armutsdefinitionen einem steten Wandel unterzogen. Es gibt nicht den Armutsbegriff. Vielmehr setzt sich zunehmend eine multiperspektivische Problemsicht durch, um die empirischen Charakteristika gesellschaftlicher und individueller Wirklichkeit in ihrer ganzen Bandbreite theoretisch fundiert und methodisch qualifiziert zu beleuchten (zur Übersicht Barlösius & Ludwig-Mayerhofer 2001;
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Böhnke 2006). Dabei sind es speziell die klassischen Armutstheorien, welche die Frage nach der Ressourcenverteilung, private Ressourcenverfügung und die Kumulation von Ressourcenmangel in den Mittelpunkt stellen (Böhnke 2006: 41). Als absolute Armut wird hier eine Mangellage bezeichnet, wo die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen unterhalb des Existenzminimums liegt, sodass eine existentielle Gefährdung droht (Mangel an Nahrung, Kleidung und Unterkunft) (Townsend 1979). Dennoch spielt das Konzept der »absoluten Armut« in der Sozialberichterstattung kaum noch eine Rolle. Stattdessen wird gerade angesichts des gestiegenen Lebensstandardniveaus in entwickelten Gesellschaften von »relativer Armut« gesprochen. Armut liegt demnach beim Unterschreiten der 50-ProzentMarke des durchschnittlichen Einkommens aller deutschen Haushalte vor; »Armutsgefährdung« bei 60 Prozent und »strenge Armut« bei 40 Prozent. Nach dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht, in dem Armut anhand der 60-Prozent-Schwelle gemessen wird, unterschreiten in Abhängigkeit von der Messmethode in der Bundesrepublik zwischen 13 Prozent und 18 Prozent der Bevölkerung die Armutsrisikoschwelle (BMAS 2008: 75). Die materielle Unterversorgung dokumentiert sich aber nicht lediglich anhand der unzureichenden Einkommensverhältnisse. Bei dem Lebenslageansatz handelt es sich daher um eine notwendige Erweiterung des Fokus der Armutsforschung, indem die Mehrdimensionalität existentieller Mangelsituationen in den Vordergrund gerückt wird (vgl. Döring, Hanesch & Huster 1990; Hauser & Neumann 1992). Dieser lebenslageorientierte Ansatz bezeichnet in Abgrenzung zu einem reinen Einkommenskonzept den Versuch, für die Lebenssituation relevante Lebensbereiche zu unterscheiden und Armutsindikatoren bereichsspezifisch in Hinblick auf die tatsächliche Versorgungslage zu operationalisieren. Als Standard zur Bestimmung von Armutslagen haben sich insbesondere folgende Bereiche durchgesetzt: Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit und Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (Hanesch et al. 1994; Döring, Hanesch & Huster 1990). Durch die dimensionsspezifische Ausdifferenzierung der relativen Deprivation soll der jeweils gegebene Handlungsspielraum des Individuums bestimmt werden. »Der essentielle Gedanke dieses Konzepts ist, die Lebenslage der Menschen als eine Lebensgesamtchance zu erfassen, was über verschiedene Bereiche beziehungsweise Spielräume erreicht werden soll« (Lutz 2004: 43). Die mehrdimensionale Konzeption von Armutslagen findet ihre strukturelle Ergänzung im Begriff der sozialen Ausgrenzung (Böhnke 2006:
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65). Im direkten Vergleich mit den gängigen Armutskonzepten geht es bei Exklusion nicht in erster Linie um eine Zustandsbeschreibung individuellen Ressourcenmangels. Vielmehr rückt die Analyse der gesellschaftsstrukturellen Prozessebene in den Vordergrund, worüber der Ausschluss von der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vermittelt ist (Kronauer 2002; Bude & Willisch 2008; Häußermann, Kronauer & Siebel 2004; Paugam 2004; Hammer 2003). Die Erscheinungsformen von Armut sind daher als Resultat der fortschreitenden Kumulation von Exklusionsprozessen zu verstehen (Castel 2000b). Exklusion ist zuvorderst ein Strukturbegriff in empirischer Absicht, der auf die negative Seite, nämlich die Risiken und Gefahren der Individualisierung verweist. Vor dem Hintergrund von Armut und Ausgrenzung lässt sich damit die Brisanz gesellschaftlicher Transformationsprozesse weiter konkretisieren (Mohr 2007: 34 ff.). Das Dilemma verschärft sich für das Individuum dadurch, dass zwar durch Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Möglichkeiten die Verantwortung für Lebenslauf und Lebensführung zunehmend individuell zugerechnet wird, es aufgrund der Ausweitung sozialer Ungleichheiten aber für immer mehr Menschen an der materiellen Basis mangelt, um die strukturelle Chancen- und Optionszunahme auch als individuellen Freiheitsgewinn zu realisieren. Die Gestaltung des Lebens nach eigenen Maßgaben muss fehlschlagen, wenn es an Zugang zu den gesellschaftlichen Sozialräumen fehlt, in denen es um die Verteilung von Lebensbedingungen und Handlungsressourcen geht. Die Intention des Exklusionsparadigmas besteht darin, ein kategoriales Raster zur explorativen, problemsensitiven Erfassung lebensweltlicher Ausgrenzungsprozesse zu bieten, in dem es nicht zuerst um die Formulierung von operationalisierbaren Indikatoren geht. Dementsprechend ist die Analyse von Exklusionsprozessen auf die Hinzunahme einer qualitativen, phänographischen Problembeschreibung empirischer Ausprägungsweisen von Armut und Ausschluss angewiesen (vgl. Bourdieu et al. 1997; Honneth 2003a: 136). Durch Kombination der beiden Forschungsperspektiven – Armutslagen und soziale Ausgrenzung – kann nämlich das geleistet werden, was die Begriffe allein für sich nicht schaffen würden, nämlich eine differenzierte Charakterisierung und Bestandsaufnahme der Lebenssituation in Abhängigkeit zentraler Unterversorgungsbereiche vorzunehmen (hierzu auch Böhnke 2006: 65 f.).
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Bei der Frage, um welche Exklusionsdimensionen es sich handelt, anhand deren sich die Integration von ihrer negativen Seite her ausweisen lässt, möchte ich mich auf eine Zusammenstellung von Kronauer (1997) beziehen. Hier werden für die Individualintegration sechs besonders grundlegende Lebenssphären hervorgehoben (vgl. hierzu auch Engbersen 2004; Häußermann, Kronauer & Siebel 2004: 24): – Exklusion am Arbeitsmarkt: Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt entweder durch Arbeitslosigkeit verwehrt oder lässt sich nur durch prekäre, atypische und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse aufrechterhalten, ohne dass eine Perspektive auf Anschluss an das normative Modell der Normalerwerbsbiographie besteht. – Ökonomische Exklusion: Das Einkommen wird nicht durch eine Arbeitstätigkeit erbracht, sondern muss über Sozialtransferleistungen bestritten werden, sodass weder das Anschlusshalten an den durchschnittlichen Lebensstandard möglich noch das Eintreten von Armut zu vermeiden ist. – Räumliche Exklusion: Der Zugang zu den attraktiven Zentren der Gesellschaft bleibt verwehrt, sodass nur die ressourcenarmen Peripherien bleiben, was sich in der extremsten Form anhand von Obdachlosigkeit offenbart. – Institutionelle Exklusion: Der Anschluss an die institutionelle Versorgung mit öffentlichen und privaten Gütern und Dienstleistungen wird genauso verweigert wie die Übernahme einer legitimen Rolle und anerkannten Funktion innerhalb zentraler gesellschaftlicher Funktionsbereiche. – Soziale Exklusion: Mit der Abnahme der Anzahl an Sozialkontakten reduzieren sich zugleich die Lebenskreise auf jene Sozialgruppierungen, die nur über entwertetes Sozialkapital verfügen. – Kulturelle Exklusion: Durch Stigmatisierung individueller Personenmerkmale und der Diskriminierung sozialer Lebensformen bleibt die Einnahme eines anerkannten Platzes innerhalb des Gemeinwesens versagt. Das Bedrohliche der Exklusion resultiert daraus, dass diese kein punktuelles Phänomen bleibt (Ludwig-Mayerhofer & Barlösius 2001: 45). Wenn die Integration in die Gesellschaft an einer Stelle anfängt zu erodieren, dann verstärken sich die sozialen Abstiegsprozesse rasch über verschiedene Lebenslagen hinweg. Arbeitslosigkeit verursacht Einkommensarmut, beides führt zum Rückzug vom kulturellen Leben, sodass über eine Reduk-
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tion der Lebenskreise auch das Netzwerk an sozialen Beziehungen schrumpfen wird. Daher bedarf die Beschreibung der Lebens- und Armutslage, die eher anschaulich die alltäglichen Erscheinungsformen sozialen Ausschlusses und Leidens hervorhebt, einer Ergänzung durch den Exklusionsbegriff, der über eine Strukturanalyse die Bedingungen für die prekäre, reduzierte, ärmliche Lebenssituation benennt. Durch diese kombinierte Konzeption lassen sich dann die Verengung und die Einschränkung der individuellen Handlungsspielräume aus der Akteurperspektive in ihrem Verhältnis zu den sozialstrukturellen Bedingungen für die verengte und eingeschränkte Opportunitätsstruktur (structure of possibilities and constraints) aus der Beobachterperspektive rekonstruieren (Esser 2000a). Denn letztlich ist es nicht die Armut selbst, die Ursache der Problemlage ist, sondern hierbei handelt es sich bloß um die Erscheinungsform, während die ganze Bedrohung aus dem Scheitern der Individualintegration in die ausdifferenzierten Funktionssysteme und vielgestaltigen Sozialräume einer modernen Gesellschaft resultiert.
4. Junge Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße Die soziale Entgrenzung von Armut macht diese gegenwärtig zu einem Problem, welches die Gesellschaft wieder im Gesamten betrifft, wobei besonders junge Menschen unter dieser Misere leiden (vgl. Butterwege 2000; Chassé, Zander & Rasch 2003; Zander 2005). Armut und Exklusion sollen in den Formen, in denen sie Macht über das Leben von Menschen gewinnen, anhand einer bestimmten Gruppe untersucht werden – junge Erwachsene am »Bahnhof Zoo« in Berlin. Angesichts der Vehemenz, mit der sie von allen zentralen Sphären individueller Lebensführung exkludiert sind, lässt sich ihr Schicksal in gewisser Hinsicht als ein Negativbild gelungener Individualintegration begreifen. Der Ausgangspunkt der gebrochenen Lebenswege liegt in fast allen Fällen innerhalb der Familie, wo die jungen Menschen wegen bedrückender Probleme, endloser Konflikte, emotionaler Verwahrlosung, extremer Gewalterfahrung von zu Hause abgehauen oder von dort verstoßen worden sind. Weil sie sich sonst nirgendwo hinzuwenden wissen, finden sie sich an den jugendkulturellen Szenetreffpunkten wieder, nutzen die Kriseneinrichtungen und Wohnprojekte, kommen vorübergehend in Heimen
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oder Psychiatrien unter, werden in Obdachlosenpensionen einquartiert oder wohnen in leer stehenden Häusern (Permien & Zink 1998: 102 ff.). Vom »Bahnhof Zoo« haben alle schon gehört, auch wenn sie nicht aus Berlin kommen, sodass sich viele, nachdem sie alles verloren haben, in der Hoffnung, irgendwo Anschluss zu finden, hierher aufgemacht haben (Permien & Zink 1996). Selbst wenn das Leben auf der Straße als letzte Option erscheint, weil die Anzahl der Alternativen nur gering ist, so handelt es sich dennoch um eine eigenständige Entscheidung. Denn der Bahnhof ist nicht allein vorläufige Endstation eines verfahrenen Lebensweges, sondern zugleich Erlebniswelt, Möglichkeit zum Gelderwerb und sozialer Treffpunkt (Degen 1995: 105; Simon 2000). Die Berührungsängste sind eher gering, da die meisten die den Alltag maßgeblich bestimmende Lebenssituation der Armut bis hin zur Wohnungslosigkeit miteinander teilen, sodass man sich mit Rat und Tat gegenseitig weiterhilft (Hansbauer 1998: 46 f.). Und dennoch wäre es nicht richtig, hier allein von einer eigenen, selbst gewählten Lebensform zu sprechen. Zu sehr sind die jungen Menschen damit überfordert, eigenständig ihr Leben zu führen, für zentrale Rahmenbedingungen ihrer Daseinssicherung (Wohnung, Arbeit, Sozialleistungen) zu sorgen und eine realistische Zukunftsperspektive zu entwickeln, die aus Armut und Randständigkeit wieder herausführt. Zudem bewirkt auch die Individualisierung eine Überforderung der jungen Menschen. Angesichts der Entstrukturierung der Lebensphase Jugend werden Sozialisations- und Biographieverläufe unübersichtlicher. Für die Individualintegration eigenständig zu sorgen, gestaltet sich schon mit Blick auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit als schwierig (Ferchhoff 1999). Über das Sozialmilieu der Familie vermitteln sich keine eindeutigen Berufsorientierungen mehr. Vielmehr noch sind die Aufwärtsaspirationen von Jugendlichen aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten strikt beschränkt, was nicht selten in Demotivation mündet. Insbesondere aber droht aufgrund der Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse die Familie immer häufiger zu versagen, weil die Eltern in ihrer Verantwortung für die Kinder mit der Vermittlung von Wissen, Orientierung und Werten überfordert sind (Institut für Soziale Arbeit 1996: 24). Im Fall der jungen Menschen haben sich Problemdruck und Überforderungen schließlich so weit kumuliert, dass es ihnen mit Erreichen der Postadoleszenz nicht gelingt, sich um eine ausreichende Individualintegration zu kümmern, um die Gefahr von sozialer Ausgrenzung und Armut zu bannen. Obdachlosigkeit ist dann nur das äußerste Extrem eines sozialen
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Ausschließungsprozesses von immer mehr Lebensbereichen. Die Flucht auf die Straße ist daher als der Versuch zu werten, aus dem problembehafteten Lebenskontext auszubrechen und den massiven Schwierigkeiten und Nöten mit einem Schlag zu entgehen (Degen 1995: 6). Während die jungen Menschen schon mit Blick auf die Familie in einem belastenden Sozialisationskontext aufwachsen mussten, sind sie auf der Straße nur umso mehr mit den gesellschaftlichen Marginalisierungs- und Ausgrenzungstendenzen konfrontiert, wie sich diese in der materiellen Armut, Gewalterfahrung, Prostitution, Erfahrung mit Polizei und Justiz sowie im Drogenkonsum manifestieren (zum Beispiel Arnold & Stüwe 1992; Berger 1992; Jans 1990). Trotzdem muss der Lebenskontext Straße auch als ein Ort der Stabilisierung verstanden werden, weil der freie Fall heraus aus allen verbindlichen Lebensbezügen hier zunächst zum Stoppen kommt, indem die Straßenclique neue Formen sowohl der sozialen Integration als auch der Selbstbehauptung bietet. Für viele hat der »Bahnhof Zoo« über Jahre die Funktion eines Ersatzzuhauses gewonnen, wo sie gelernt haben abseits von den gesellschaftlichen Funktionsräumen ihren Lebensunterhalt zu sichern, ohne aber hier eine Perspektive gefunden zu haben, aus der Armut und Exklusion wieder herauszutreten (Britten 1995; Jogschies 1995). Mehr noch ist es aber gerade nicht die Obdachlosigkeit, die als zentrales Grundproblem der Straßenkinder-Problematik hervorsticht, weil die meisten der jungen Menschen eine Unterkunft haben. Ebenso müssen die moralischen Implikationen, die aus dem Themenkonnex von Betteln, Kriminalität, Prostitution und Drogenkonsum erwachsen, kritisch betrachtet werden. Entgegen der medialen Rezeptionshaltung handelt es sich gerade nicht um unschuldige Kinder, die der Unmoralität der Schattenwelten unserer Gesellschaft zum Opfer fallen. Aus der Sicht der Jugendlichen erscheint ihr eigenes Handeln kaum als abweichend, sondern als Teil ihrer tagtäglich erlebten Normalität und darin als wohl begründete Strategie zur Lebensbewältigung. Vielmehr sollte man von subjektiv funktionalen Bewältigungsstrategien und Handlungskompetenzen sprechen, mit denen sie dem sozialen Ausschluss aktiv begegnen und die Probleme ihrer Situation mit eigenen Mitteln zu lösen versuchen. So nutzen sie die Straße als Raum und Möglichkeit zur Führung eines eigenständigen Lebens, knüpfen Freundschaften und soziale Netzwerke, die ihnen zur gegenseitigen materiellen, sozialen und emotionalen Unterstützung dienen (Langhanky 1993). In der wissenschaftlichen Literatur hat sich zur Beschreibung dieser ju-
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gendkulturellen Lebensform mittlerweile der Sprachgebrauch »Junge Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße« durchgesetzt (Alleweldt & Leuschner 2004; Lutz & Stickelmann 1999; DJI 1995: 138). Besonders an der Gruppe der jungen Erwachsenen (18–25 Jahre), die in dieser Studie untersucht werden, verdeutlicht sich spätestens mit dem Eintreten in die Volljährigkeit, dass sich der desintegrative Problemhintergrund von der »broken family« hin zur Armut und Exklusion verschiebt. Anstatt mit Eintritt in die postadoleszente Lebensphase an die Perspektive einer eigenständigen, abgesicherten Lebensführung anzuschließen, in der die Versprechungen der Gesellschaft von Konsum, Selbstverwirklichung und sozialer Integration wirklich werden, wird der Alltag im harschen Griff sozialen Ausschlusses gehalten. »Das Leben auf der Straße erscheint in diesen Zusammenhängen als Endstation, als letzte Stufe gesellschaftlicher Desintegration und als Ausdruck vollständigen Scheiterns« (DJI 1995: 8). Hier kommt es zu einer Überdetermination der Armutslage, indem zentrale Integrationsbereiche in substantieller Weise ausgehöhlt werden, sodass sich auf allen genannten Exklusionsachsen der soziale Ausschluss manifestiert. Während ein Großteil sozial schwacher Schichten eine wenn auch brüchige, prekäre und unzureichende Integration in die Gesellschaft mühsam und entbehrungsreich aufrechterhalten kann, scheitern im Vergleich dazu die jungen Menschen am Bahnhof in einer ganz radikalen Weise an den Integrationshürden der Gesellschaft.
5. Subjekt-Integrations-Modell (SIM) Während die Soziologie das soziale Leben der Gesellschaft beschreibt, das für das Individuum zur Umwelt, zur zweiten Natur wird, ist die Psychologie darauf gerichtet, die psychische Situation vom Standpunkt des Individuums selbst zu erfassen. In dieser disziplinären Arbeitsteilung spiegelt sich in sachlicher Weise das unauflösbare Verhältnis von Psychischem und Sozialem (Popper 1993: 119). Dabei ist dem Konzept der Individualintegration, das nun weiter ausgearbeitet werden soll, diese Dualität von Subjektivität und Gesellschaft längst zu eigen, indem die individuelle Planung und Gestaltung der Lebenspraxis als durch die in der Lebenswelt manifesten Strukturbedingungen gerahmt gedacht wird (Bergold & Jaeggi 1987). Über die psychische Situation verortet sich das Individuum in seiner sozialen
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Umwelt, um davon ausgehend seine Handlungen zu planen und seine Lebensumstände gemäß eigener Absichten zu gestalten. Zur Ausarbeitung und Konkretisierung integrativer Schlüsselkategorien, die als begrifflicher Rahmen der empirischen Untersuchung der psychischen Situation des Individuums zugrunde gelegt werden können, möchte ich mit Kurt Lewin beginnen. Im Rahmen seiner topologischen Feldtheorie hat Lewin unter dem Begriff des Lebensraums das Konzept der »psychologischen Situation« – heutzutage würde man von psychischer Situation sprechen – in die Psychologie systematisch eingeführt (1969). Unter Situation (beziehungsweise Lebensraum) ist zunächst das Erfahrungsfeld zu verstehen, in dem die Sozialwelt dem Bewusstsein zum jeweiligen Zeitpunkt gegenwärtig ist (vgl. Bower & Hilgard 1984: 60 f.). Es geht also um »eine hinreichend eindeutige Bestimmung, wie die verschiedenen Fakten, die in der Umwelt der betreffenden Person vorkommen, zueinander stehen, wo sich die Person selbst innerhalb dieser Situation befindet, und was ihre psychologische Beziehung zu den verschiedenen Gebilden ihrer Umwelt ausmacht« (Lewin 1969: 35). Damit ist nicht allein die subjektive Sinnebene gemeint, sondern die intentionale Bezogenheit aller Bewusstseinsprozesse auf die äußere Umwelt, wodurch die subjektiven Manifestationen überhaupt erst ihren gedanklich fassbaren Gegenstand erhalten. Die psychische Situation konstituiert sich genau im Schnittfeld zwischen außerweltlichem Handlungsfeld, das seine eigenen Strukturbestimmungen als Teil der Sozialwelt aufweist, und psychologischem Wirklichkeitsfeld, wie dieses innerpsychisch repräsentiert ist (Bergold & Breuer 1987). Der Situationsbegriff leistet damit eine Vermittlungsfunktion zwischen dem Objektpol und dem Subjektpol menschlicher Erfahrung, indem die psychische Wirklichkeit nicht allein aus der Handlungsperspektive, sondern zudem aus der Beobachterperspektive erschlossen werden muss. Wenn man sich nun fragt, wodurch die psychische Situation bestimmt ist, dann treten drei Zentralperspektiven hervor: Erstens bestimmt sich das psychische Leben vor dem Hintergrund der Lebenswelt, den darin gegebenen Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten. Aus der Innenansicht der Handlungsperspektive erscheint die Lebenswelt als Möglichkeitsraum, der für die Verwirklichung individueller Intentionen und Zwecksetzungen zu ergreifen ist (Bergold & Breuer 1987: 21). Aus der Außensicht der Beobachterperspektive sind diese lebensweltlichen Bedeutungs- und Handlungsmöglichkeiten immer schon in umfassende Sozialstrukturen eingelas-
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sen. Die Analyse der Lebenswelt muss daher die gesellschaftliche Rahmung der individuellen Situation mitbetrachten, gerade um nicht die externen Funktionsvorgaben, die als Möglichkeits- und Restriktionsräume (»structure of possibilities and constraints«) durch die Sozialstruktur den Individuen vorgegeben werden, aus dem Auge zu verlieren. Hierbei wird dann die Frage nach der Individualintegration unmittelbar virulent, weil es ganz von der erlangten Sozialposition im Geflecht der funktionsteiligen Gesellschaft abhängt, über welche Handlungsoptionen jemand verfügt und welche Handlungsrestriktionen er unterworfen ist. Mit Blick auf den Subjektpol verdeutlicht sich zweitens, dass der subjektive Sinn zu rekonstruieren ist, dem die Welt durch den Akteur verliehen wird. Es kommt ganz auf die Innenperspektive an, in der die äußere Handlungssituation erlebt und als eigene Situation erfahren wird. Hier wird untersucht, wie das Subjekt die Bedeutungs- und Handlungsstrukturen der Lebenswelt durch Ausbildung subjektiver Repräsentationen internalisiert, sich in diesen positioniert, hierdurch Orientierung, Identität und Selbstwert gewinnt. Die Wirklichkeitserfahrung erfolgt nicht in Form einer direkten Widerspieglung der Situationsmerkmale, sondern als Sinnkonstitutionsakt des Bewusstseins. Der Aufbau einer mentalen, in Gedächtnisspuren überdauernden Repräsentation der Welt wird zur Voraussetzung, dass der Einzelne zu einem ausgreifenden Verständnis der äußeren Realität gelangt und sich als sprach- und handlungsfähiges Subjekt behaupten kann. Ebenso wird über die Entwicklung einer Ich-Identität eine Repräsentation des Verhältnisses des Selbst zur sozialen Umwelt aufgebaut (Erikson 1973: 52 f.). Erst die Ausbildung von Ich-Strukturen ermöglicht eine selbstreflexive Identität, in der sich die Forderungen der Welt mit den Ansprüchen des Individuums vermitteln lassen, man könnte auch sagen, in der eine Entsprechung zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip geschaffen wird. Damit geht es nun in einem zweiten Schritt darum, die Sinnbildungsphänomene des Denkens und Handelns von den aus der Beobachterperspektive rekonstruierten Bedeutungs- und Handlungsstrukturen der Lebenswelt abzuheben und in ihrer subjektiven Besonderheit zu erfassen (MerleauPonty 1966; Charlesworth 2000; Cresswell 1999: 176). Schließlich muss drittens das individuelle Handeln mit Blick auf die spezifischen Bedürfnisse und Interessen, das heißt Motivsetzungen erklärt werden, wie diese vor dem Hintergrund der individuell wahrgenommenen Situation hervortreten und als Relevanzsetzungen darüber entscheiden, was jeweils zu tun ist (vgl. Dray 1957: 118 ff.). Die Handlung ist kein kausales,
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durch äußere Gesetzmäßigkeiten determiniertes Geschehen, sondern entscheidet sich vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten, der subjektiven Wahrnehmung der eigenen Situation und den persönlichen Interessen. Die Handlungsbegründung ist Resultat eines intentionalen Abwägens, indem die einzelnen Momente der psychischen Situation so weit zueinander in Passung gebracht werden, sodass diese sich zu einer Prägnanzfigur verdichten, aus der sich für das Individuum die Handlung zwingend ergibt (Holzkamp 1996: 83). Die Herstellung und Sicherung der Individualintegration in den verschiedenen Sphären der sozialen Lebenswelt bildet dabei nicht nur den zentralen Aufgabenbereich alltäglichen Handelns, sondern ist wiederum selbst wesentliche Voraussetzung für die soziale Positionierung im sozialen Raum, wodurch sich die einzelnen Handlungsoptionen eröffnen. Lebenswelt, Sinn und Handlung sind damit drei Zentralkategorien bei der individualwissenschaftlichen Aufschlüsselung menschlicher Subjektivität, die ich nun zum »Subjekt-Integrations-Modell« verknüpfen möchte. Das Subjekt-Integrations-Modell geht von dem wirklichen, in seiner Alltagswelt engagierten Individuum aus, das in seinem Alltagsleben für zweierlei sorgen muss (vgl. auch Böhnisch 2001: 29 ff.): Einerseits muss die eigene Individualintegration in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang gesichert sein. Dies wird nun vor dem Hintergrund der sozialstrukturellen Veränderungsprozesse wie der Entstrukturierung von Lebenslagen und Lebenslauf und der Freisetzung des Individuums umso mehr zur risikoreichen und krisenhaften Herausforderung, wie soziale Desintegration, insbesondere Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung die gesellschaftliche Teilhabe von immer mehr Menschen bedroht. Die Integration ins gesellschaftliche Leben ist andererseits notwendige Voraussetzung zur Realisierung und Entfaltung von Subjektivität, was auf die Existenzsicherung und Verwirklichung der eigenen Individualität verweist. Die Anforderungen der modernen Gesellschaft nach Mobilität, rationaler Lebensführung, unverbindlicher Sozialeinbindung müssen daher in Beziehung zu subjektiven Bedürfnissen und Wünschen gesetzt werden. In dem Subjekt-IntegrationsModell werden nun die drei kategorialen Ebenen dahingehend konkretisiert, um die wesentlichen Fluchtpunkte zu erfassen, die für die Analyse der psychischen Situation, das heißt dem Erleben und Verhalten des Subjekts in seiner Lebenswelt unabdingbar sind. Hier lassen sich mit Integration, Orientierung, Identität/Selbstwert und Handlung vier Dimensionen hervorheben.
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GESELLSCHAFT
differenziert sich in Funktionsbereiche/ Institutionen und lebensweltliche Sozialräume
verändert über Teilnahme und Teilhabe
bedingt über structure of opportunities and constraints interpretiert über Kultur, Praxis, Sprache, Diskurs
Integration
SOZIALE SITUATION (Institutionen und Sozialräume)
Handlung verändert
Sinn interpretiert
PSYCHISCHE SITUATION (Subjektive Wirklichkeit)
Handlungsgründe Klärung von Bedürfnissen und Interessen
Aufschichtung biographischer Erfahrung Orientierung Aufbau eines kognitiven Repräsentationsmodells
Identität Aufbau von IchStrukturen (Realitäts-/ Lustprinzip)
Abb. 1: Subjekt-Integrations-Modell
Integration (Lebensweltebene): Als zentrale gesellschaftliche Bedingung individueller Handlungsfähigkeit ist die Integration in die Institutionen, Basisinstitutionen und Sozialräume der Lebenswelt notwendig. In seiner Lebensbewältigung ist das Individuum daher an seine soziale Position gebun-
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den, wodurch im Sinne einer »structure of possibilities and constraints« der Möglichkeitsraum an Chancen und Risiken des Alltagslebens vorgegeben ist (Esser 2000a). Erst durch die eigene Individualintegration kann das Individuum sein »social functioning« – Existenzsicherung und Individualitätsentfaltung – über ausreichende Verfügung über allgemein zugängliche Güter und Ressourcen sicherstellen (Sen 2006). Auf der IntegrationsDimension ist daher zu zeigen, wie im Hinblick auf das Ausmaß an System- und Sozialintegration die Möglichkeiten auf Teilhabe und Teilnahme aus der Handlungsperspektive hervortreten. Orientierung (Sinnebene): Als psychische Voraussetzung individueller Handlungsfähigkeit bedarf es eines ausreichenden Maßes an Orientierung nach außen. Ein sachgerechtes Verstehen von und Eingreifen in alltagspraktische Lebenszusammenhänge macht den Aufbau eines subjektiven Repräsentationsmodells notwendig, das in den eigenen Lebenserfahrungen fundiert über die Bedeutungen und Funktionen der sozialen Welt informiert (Neisser 1979). Erst durch Ausdifferenzierung der internalisierten Wissens- und Repräsentationsstrukturen wird eine feinkörnige Wahrnehmung und Erfassung situativer Gegebenheiten, wachsendes Verstehen der Zusammenhänge von Ereignissen und Strukturen der Umwelt, fortschreitende Fähigkeit zur Gestaltung und Beherrschung der äußeren Realität möglich. Daher steht mit Blick auf das Orientierungsvermögen die Untersuchung der kognitiven Repräsentationsformen der sozialen Welt im Mittelpunkt der Analyse. Identität/Selbstwert (Sinnebene): Zur psychischen Handlungsfähigkeit gehört zugleich, dass jeder Mensch wissen muss, woher er kommt, wer er ist und was er will, sodass er nach innen eine Identität auszubilden hat (Erikson 1973). Die Konstituierung von Identität macht es daher erforderlich, dass die biographischen Erfahrungen als eigene Lebensgeschichte angeeignet werden, um zu einem mehr oder weniger kongruenten Selbstbild zu gelangen, in dem man sich als handlungsfähige und zurechnungsfähige Person selbst anschauen und reflektieren kann. Dies schließt ein, dass man sich in seiner Identität als durch die Sozialwelt geschätzte Person erfährt. Denn nur durch äußere Bestätigung der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten kann sich ein ausreichendes Maß an Selbstwert aufbauen, um sich die Lebensbewältigung innerhalb der Sozialwelt auch zuzutrauen. Bei der Untersuchung von Identität und Selbstwert geht es also um die Bestimmung des personalen Welt- und Selbstverhältnisses, das
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heißt, wie sich die Person über die Ausbildung subjektiver Sinnanschlüsse innerhalb der Sozialwelt selbst verortet. Handlung (Handlungsebene): Handlungsfähigkeit erfordert schließlich die Ausbildung von Motivations- und Handlungsstrukturen, die es ermöglichen, am Leitfaden eigener Bedürfnisse, Interessen und Absichten für die Bewältigung und Gestaltung der eigenen Situation zu sorgen. Über die alltägliche Lebensführung sind ständig neue Aufgaben und Herausforderungen zu meistern. Einerseits muss dazu strategisch-instrumentell in die soziale Welt eingegriffen werden, um sich den Zugang zu relevanten Sozialräumen zu erschließen und in kooperativen Kommunikationszusammenhängen gemeinsame Situationsdefinitionen und Handlungsziele auszuhandeln. Andererseits müssen kognitiv-affektive Handlungskompetenzen aufgebaut werden, um zielbezogen und ausdauernd die persönlichen Handlungsziele verfolgen zu können, ohne sich vorschnell von auftretenden Hindernissen und Schwierigkeiten entmutigen zu lassen. Es werden hier sowohl die subjektiven Motive und Gründe als auch die situationsübergreifenden Handlungsstrukturen untersucht, durch welche die jungen Menschen vor dem Hintergrund der in ihrer Lebenswelt gegebenen Möglichkeiten, der erfahrungsbestimmten Welt- und Selbstsicht und ihrer Bedürfnisse und Interesse die alltägliche Lebenssituation zu bewältigen versuchen.
6. Methode Bei der Ethnographie als der methodische Rahmen, der in dieser Untersuchung zur Anwendung gelangt ist, handelt es sich um die klassische Methode zur Erforschung der sozialen Lebenswelt (Hammersley & Atkinson 1983; Thomas 2010). Die Untersuchung richtet sich auf das »wirkliche« Leben, wie dieses von den Menschen in ihrer Alltagswelt erlebt und gelebt wird (Blumer 1969; Cicourel 1974: 28; Glaser & Strauss 2005: 230). Ethnographie bezeichnet daher keine einzelne Methode, sondern es handelt sich vielmehr um einen Sammelbegriff, der die Anwendung des ganzen Arsenals an Instrumentarien und Verfahrensweisen unterstützt, welche die Sozialforschung zu bieten hat, unabhängig davon, ob diese dem qualitativen oder dem quantitativen Paradigma zuzuordnen sind (Denzin 1989: 157 f.). Durch das methodenplurale Vorgehen der Ethnographie wird der An-
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spruch nach Gegenstandsangemessenheit der Methodik am strengsten gewährleistet. Die Grundprämisse besteht darin, dass die Datengewinnung im Kontext der Alltagssituationen des untersuchten Sozialbereichs lokalisiert wird (Bergold 2000, Abs. 7; Filstead 1970; Gerdes 1979). Das Forschungsfeld konstituiert sich daher nicht erst als spezifischer Forschungskontext. »Die meisten Soziologen scheinen vergessen zu haben, daß Wirklichkeit ausschließlich in der empirischen sozialen Welt existiert und nicht in den Methoden, die die Soziologen anwenden, um sie zu messen« (Filstead 1979: 32). Trotz dieser methodischen Offenheit gehört zum festen Kernbestandteil jeder ethnographischen Studie die »teilnehmende Beobachtung«. Für den Ethnographen besteht die Herausforderung darin, das »wirkliche« Leben erst einmal aufzustöbern, damit in Kontakt zu treten und es sukzessive von innen her zu erschließen. Die Beobachtungen dienten dazu, Daten zur Beantwortung von Fragen nach der Art zu generieren: Wie wird tatsächlich gehandelt? Wie ist die Situation zu beschreiben? Welche Situationsmerkmale definieren den (Handlungs-)Kontext? Dementsprechend wurde auf die Verwendung von strukturierten Beobachtungsleitfäden verzichtet, um eine möglichst unvoreingenommene Haltung gegenüber dem sozialen Leben am Treffpunkt »Bahnhof Zoo« einzunehmen. Die Relevanz der zu beobachtenden Ereignisse sollte in der Lebenswelt der jungen Menschen selbst hervortreten, ohne diese im Vorhinein nach willkürlichen Kriterien festzulegen. Teilnehmende Beobachtung möchte aber mehr, als nur vom äußeren Standpunkt des unbeteiligten Beobachters Einblicke in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Erst die Teilnahme an dem Forschungsfeld ermöglicht es dem Forscher hinter seine kulturell und wissenschaftlich geprägten Vorannahmen, Vorkenntnisse und Vorurteile zurückzutreten, um sich die fremde Welt in ihrer Eigenwilligkeit und Eigenstrukturiertheit aus der »Sicht des Subjekts« zu erschließen (Bergold & Breuer 1987). Der Forscher gewinnt auf diesem Wege die einzigartige Möglichkeit, die Menschen und ihre Wirklichkeit im Kontext ihrer Alltagswelt aus der Innenperspektive – der Perspektive des »Insiders« (Hitzler & Honer 1995) – zu ergründen. Die Teilnahme zielt auf den Aufbau einer kommunikativen Forschungssituation, in der die Sicht-, Begründungs- und Reflexionsformen von den Akteuren zur Sprache gebracht werden (Girtler 1984). Es geht gerade darum, vertraut mit der untersuchten Lebenspraxis zu werden, die vorherrschenden Reflexions- und Praxisformen zu erlernen, um die Spielregeln des Fel-
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des anwenden und beherrschen zu können. Die über die Kommunikations- und Verständnisprozesse zu erfassenden Daten sollten daher eine Antwort auf folgende Fragen liefern: Wie stellt sich die Welt vom Standpunkt des Akteurs dar? Wie wird ein Ereignis, eine Handlung oder eine besondere Situation vom Informanten beurteilt? Welche Absichten und Ziele werden in der Situation verfolgt? Die teilnehmende Beobachtung habe ich über die sich ad hoc ergebenden Stegreiferzählungen, Diskussionen und Fragemöglichkeiten auf dem Bahnhofsgelände hinaus mit der Durchführung von Interviews kombiniert, um in einer strukturierten Erhebungssituation einzelne Themengruppen zu exlaborieren und in ihrer subjektiven Bedeutung und Systematik zu erfassen. Als Befragungsmethode wurde das »Problemzentrierte Interview« (PZI) verwendet, wie dies von Witzel (1982; 1985; 2000) konzeptualisiert wurde. Durch diese Form des leitfadengesteuerten Interviews soll zweierlei erreicht werden: Einerseits werden lebensgeschichtliche Erzählungen über die eigene Biographie, einzelne Episoden, Lebensentscheidungen und Wegverläufe, andererseits subjektive Meinungen, Sichtweisen und Einstellungen erfragt (vgl. Flick 2007; 2000). Die Untersuchungsgruppe konzentriert sich aufgrund der Fragestellung meiner Untersuchung auf junge Erwachsene im Alter von 18–26 Jahren. Zwar sind auch Jugendliche von Armuts- und Exklusionsprozessen betroffen, aber die Problematik Lebensort Straße stellt sich bei ihnen aufgrund der Minderjährigkeit in einem anderen Licht dar. Sie sind nicht im gleichen Maße in die Verantwortung gezogen, sich den sozialen Schwierigkeiten zu erwehren und für ihre eigene Individualintegration zu sorgen. Diese Altersgruppe der jungen Erwachsenen bildet zugleich die größere Gruppe unter den jungen Menschen, die in der Bahnhofsszene anzutreffen sind, neben den Jugendlichen, die nur in seltenen Fällen jünger als 15 Jahre sind, wohingegen Kinder im Alter bis 13 Jahren so gut wie nicht anzutreffen sind. Der Feldeinstieg fand nicht am »Bahnhof Zoo« statt, sondern auf einer Teamsitzung des Streetworker-Projekts der Treberhilfe Berlin e.V. (Treberhilfe Berlin e.V. 1997: 10). Anstatt Monate in den Aufbau von Kontakten zu investieren und die damit verbundenen Unwägbarkeiten zu riskieren, kontaktierte ich die Sozialarbeiter mit der Bitte, bei ihnen als Forschungshospitant über den Zeitraum von einem Jahr am Bahnhof arbeiten zu können. Dabei scheint die Praktikanten-Rolle für die Durchführung teilnehmender Beobachtung in institutionellen Praxiszusammenhängen ideal zu sein, weil man die Menschen im Feld bei der Ausübung ihrer Tätigkeit
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möglichst wenig stört, die ganze Zeit interessiert zuschauen kann und keine Frage zu dumm ist, als dass sie nicht gestellt werden dürfte. Über den Zeitraum von neun Monaten war ich jede Woche zweimal in den Nachmittags- und Abendstunden und einmal zu einem Frühstücksangebot in der nahe gelegenen Beratungsstelle »Die Hardenberger« am »Bahnhof Zoo«. Schließlich begann ich meine Feldkontakte wieder zu reduzieren, indem ich die Beobachtungen nur noch einmal in der Woche durchführte und die frei gewordene Zeit für die Organisation der Durchführung der Interviews nutzte. Die Datenauswertung zielte darauf, die psychosoziale Situation der jungen Menschen analytisch aufzuschließen, sodass derjenige, der etwas über das Leben, das jeder Einzelne am Bahnhof führt, in Erfahrung bringen will, sagen kann: Angesichts der Situation, in der der Akteur stand, angesichts der spezifischen Sichtweise, die der Akteur von dieser Situation besaß und angesichts der besonderen Zwecke und Absichten, die der Akteur vor dem Hintergrund seiner Sicht auf die Situation verfolgte, tat er genau das, was in dieser Situation zu tun war (vgl. Dray 1985). Dies machte eine dichte, aufeinander verweisende Beschreibung der vier empirischen Sachverhalte: Situation, Orientierung, Identität und Handlung erforderlich. Die Datenauswertung erfolgte in Form einer generativen Theoriebildung über die abstrahierende Kodierung des Datenmaterials in Anlehnung an die Grounded Theory Methode (GTM), die schließlich in einer »Dichten Beschreibung« von Alltagssituationen und -praxis mündete (vgl. Glaser & Strauss 1967; Strauss 1987; Glaser 1992; Geertz 1983a; Burawoy 1991). Grounded Theory zielt auf die Entdeckung in Daten gegründeter Theorien, wobei die komparative Analyse zentrale Strategie ist (Glaser & Strauss 1967, Strübing 2004). Der erste Schritt der GTM besteht im »offenen Kodieren«. Hierunter verstehen Strauss & Corbin eine Analysestrategie, die auf die Konzeptualisierung der Daten zielt (Charmaz 2006). »Offenes Kodieren ist der Analyseteil, der sich besonders auf das Benennen und Kategorisieren der Phänomene mittels einer eingehenden Untersuchung der Daten bezieht« (1996: 44). Dazu wird der Bedeutungsgehalt einzelner Textsegmente durch genaues Lesen systematisch von innen heraus erschlossen (Glaser 1998: 24 f.). Während das Kodieren der initialen Konzeptualisierung der Daten dient, wird durch die Kategorisierung der dabei entstandenen Kodes die Begriffe der Theorie entwickelt. Die einfachste Form der Kategorisierung ist die Erstellung von Listen thematisch verwandter Kodes, die schließlich
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in Form einer Überschrift kodiert werden (Jaeggi, Faas & Mruck 1998). Die theoretische Verdichtung von Kodes und Kategorien wird durch das »axiale Kodieren« weiter intensiviert. Hierbei steht die Entwicklung zentraler Theorieachsen, im Sinne von Begriffsclustern, im Mittelpunkt der Datenauswertung (Strauss & Corbin 1996: 169 ff.). Die Achsenkategorien werden für die Bearbeitung zentraler Themenaspekte des Interviews zum archimedischen Ausgangspunkt, von dem aus die Kodes und Unterkategorien in Richtung einer in sich schlüssigen Theorie geordnet werden. Der konzeptuelle Rahmen für das axiale Kodieren findet sich in dieser Studie in Form des Subjekt-Integrations-Modells mit den vier Zentraldimensionen, auf denen das Phänomen Armut untersucht worden ist. Die entwickelten Achsenkategorien wurden schließlich durch das selektive Kodieren analytisch zu einer Kernkategorie zusammengezogen. Dabei wurde die Kernkategorie in ihrem Verhältnis zu den zentralen Achsenkategorien ausgearbeitet. Die Struktur der Theorie wird daher von der Hauptkategorie getragen, worunter sich über verschiedene Unterkategorien verzweigt das empirische Material anordnet. Das Kernkonzept dieser Arbeit lautet Exklusions-Desintegrations-Dynamik, durch welches die psychosoziale Situation der jungen Menschen, im Sinne einer formalen Theorie, gefasst werden sollte (Glaser 2007), indem diese alle entwickelten Achsenkategorien in sinnvoller Weise zusammenschließt. Auf dem Wege der über die drei Kodierverfahren aufsteigenden Konzeptualisierung des Datenmaterials soll letztendlich gewährleistet sein, dass die Kategorien, die das Datenmaterial in eine neue Ordnung, das heißt eine neue Theorie übertragen, diesem nicht äußerlich gegenüberstehen (Charmaz & Mitchell 2001).
7. Ziele und Fragestellung Das Ziel dieser Studie besteht darin, die elementaren Gestaltungsformen von Armut und Exklusion in der modernen Gesellschaft anhand einer Extremgruppierung der Armutspopulation, den jungen Menschen vom »Bahnhof Zoo«, zu erforschen. Ein besonderes Augenmerk liegt angesichts des Anspruchs dieser Arbeit, einen Bogen zwischen Soziologie und Psychologie zu schlagen, auf der Untersuchung des Wechselverhältnisses von strukturellen Sozialbedingungen und psychischen Verarbeitungs- und Reaktionsformen. Die Armutslage soll in ihrer lebensweltlichen Ausprägung
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so weit konkretisiert werden, dass sich daran die psychische Situation, wie diese vom Standpunkt und aus der Perspektive der betroffenen Jugendlichen als alltägliche Lebensrealität hervortritt, nachzeichnen lässt. Hier kann es daher nicht darum gehen, durch abstrakte Parameter subjektive Einstellungen, Meinungen, Werturteile zu erheben, wo die Beziehung auf und Relevanz für die reale Lebenspraxis ungeklärt bleibt. Subjektivität muss vielmehr als die lebendige Organisation menschlichen Erlebens und Handelns überhaupt gefasst werden. Dies schließt ein, dass auch die Leidensformen, die Marginalisierung und Entbehrungen mit sich bringen, in den Betrachtungsfokus einbezogen werden – als dem eigentlich brisanten Kern, der dem Armutsthema ungebrochene Relevanz verleiht. Die Fragestellung dieser Arbeit richtet sich dabei auf die Dynamiken zwischen sozialen und psychischen Desintegrationsprozessen, sodass Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in immer größere Entfernung rücken. Mit Blick auf das Subjekt-Integrations-Modell, das dieser Studie als kategorialer Rahmen dienen wird, lässt sich die Fragestellung nun in folgender Weise auf den Punkt bringen: Wie wirken sich Armuts- und Exklusionsprozesse vermittelt über die individuelle Lebenswelt auf die individuelle Situation und die damit gegebenen Möglichkeiten und Beschränkungen aus? Wie wird die Situation vor dem als Repräsentation internalisierten Erfahrungshintergrund wahrgenommen? Wie wirken sich Armut und Ausgrenzung auf die Bildung von Identität und Selbstwert aus? Wie prägt die soziale Randständigkeit das Motivations- und Handlungssystem? Entlang der kategorialen Entfaltung der Fragestellung wird sich der Aufbau der Arbeit in drei Hauptteile gliedern: Lebenswelt, Sinn und Handlung. In dem ersten Hauptteil wird die Lebenswelt in Hinblick auf die einzelnen Exklusionsdimensionen (siehe oben) in ihrer den Individuen zugekehrten Bedeutungsstruktur untersucht. Nach einer hinführenden Skizzierung des Alltagslebens am »Bahnhof Zoo« wird in den einzelnen Kapiteln die Situation des sozialen Ausschlusses unter der Perspektive jeweils einer der für die Bahnhofswelt zentralen Ausgrenzungsformen dargestellt. In der Gesamtschau wird sich zeigen, dass sich das Scheitern der jungen Menschen an der Individualintegration über die verschiedenen system- und sozialintegrativen Bereiche zum übergreifenden »Feld der Exklusion« verdichtet. Ein Ausweg aus der Zone des Ausschluss wird von den Bahnhofsgängern kaum noch gesehen. Daran schließt sich im zweiten Teil die Frage nach den subjektiven Sinnsetzungsformen an. In jeweils einem eigenen
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Kapitel wird entlang der Themen Orientierung, Identität und Selbstwert das Welt- und Selbstverhältnis der jungen Menschen herausgearbeitet. Durch das systematische Aufgreifen des subjektiven Erfahrungsstandpunktes soll deutlich werden, wie Armut und Exklusion zur genuinen Lebenswirklichkeit der jungen Menschen werden. Im dritten Teil werden schließlich die Reaktions- und Verhaltensformen der jungen Menschen beleuchtet. Zunächst wird gezeigt, dass schon die Motivationsgrundlage zur Ausführung einzelner Handlungen erodiert, um in einem zweiten Schritt auf die Desorganisation übergreifender Handlungsstrukturen einzugehen, wie diese in der alltäglichen Lebensführung organisiert sind. Armut und Exklusion bewirken schließlich Resignation und Hilflosigkeit, sodass sich die soziale Ausgrenzung über Formen des Selbstausschlusses verstärkt und beschleunigt. Und dennoch muss gerade das soziale Leben am »Bahnhof Zoo« auch als ein Versuch der Selbstbehauptung verstanden werden. Am Ende schließt die Arbeit mit der Formulierung eines integrativen Armutsmodells ab, in dem die systematische Beziehung zwischen der sozialen und der psychischen Seite von Armuts- und Exklusionsprozessen herausgearbeitet wird.
Exklusion und Lebenswelt
»Bahnhof Zoo«
1. Bahnhofsszene In Berlin stößt man am »Bahnhof Zoo« auf die größte und bekannteste Straßenszene in Deutschland. Unter den Bahnhofsgängern erlangt der jugendkulturelle Treffpunkt seine Attraktivität, Faszination und Anziehungskraft gerade aus der Geselligkeit, Erfahrungsdichte und dem Erlebnisreichtum des jugendkulturellen Straßenlebens. Dennoch verbindet sich mit dem Bahnhof jene zweite, weniger heitere und unbeschwerte, dafür aber weitaus populärere Ansichtsseite. Diese entlehnt sich dem berüchtigten, schmuddeligen Image der düsteren Bahnhofs- und U-Bahnschachtwelt, welche die Westberliner Innenstadt nahverkehrstechnisch erschließt. Die Zugehörigkeit zum Szenetreffpunkt »Bahnhof Zoo« ist für die jungen Menschen unvermeidbar mit dem Stigma der sozialen Randständigkeit verbunden. Der »Bahnhof Zoo« gilt weit über Deutschland hinaus als Sammelort von Außenseitern und Randgruppen, zu denen auch die bekannteste, in dieser Studie beschriebene Clique an Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehört. Die Prominenz des jugendkulturellen Treffpunkts geht zurück auf das in hoher Auflage erschienene Buch »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« (1976), in dem die Stern-Autoren Kai Hermann und Horst Rieck nach Tonbandaufnahmen die Lebensgeschichte der Christiane F. niederschrieben. Für die Protagonistin wird der »Bahnhof Zoo« zum Synonym ihres sozialen Abstiegs. Ihre erste, schon nicht mehr ganz unschuldige Begegnung des Bahnhofs wird dort folgendermaßen beschrieben: »Wir gingen in eine Pinte im ›Bahnhof Zoo‹. Ich kam sofort ganz mies drauf. Ich war zum ersten Mal auf dem ›Bahnhof Zoo‹. Es war ein ungeheuer mieser Bahnhof. Da lagen Penner in ihrer Kotze, überall hingen Besoffene herum. Was wusste ich, dass ich in ein paar Monaten hier jeden Nachmittag verbringen würde« (S. 73).
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Infolge der beachtlichen Publizität hat der »Bahnhof Zoo« in Deutschland längst die Funktion übernommen, der paradigmatische Ort zu sein, wenn es um soziale Missstände wie Drogensumpf, Straßenstrich, Obdachlosigkeit und Elend geht (Lutz 2000). Jede Gesellschaft verfügt über eine Sammlung solcher symbolisch überdeterminierten Orte, die als »starke Tropen« die Wahrnehmung durch eine intrusive Flut an Bilderserien überschwemmen, die gerade wegen ihres allegorischen Charakters faktengleiche Evidenz beanspruchen (Clifford 1995; Appadurai 1988: 46; Warzecha 1999). Das Vertrautsein des Lesers mit der »subkulturellen Jugendszene« stillschweigend voraussetzend ist dem Internet-Magazin SPIEGEL ONLINE zu entnehmen: »Berlin-Besucher erwarten hier das ChristianeF.-Gefühl, suchen verstohlen den Kick aus Ekel, Voyeurismus, Mitleid, wenn sie von Skeletten in Lumpen mit stecknadelgroßen Pupillen um ein paar Cents angeschnorrt werden« (2002). »Bahnhof Zoo« ist die Inszenierung des gesellschaftlichen Verworfenen (Bergschmidt 2004). Als grausigwollüstiges Jahrmarktereignis lassen sich die Angehörigen der Bahnhofsszene immer wieder medienwirksam zur Schau stellen. Der Bahnhof wird zur Bühne einer zynischen Inszenierung der untersten Schicht des aus der Gesellschaft abgeschiedenen Bodensatzes. In einer routiniert einstudierten Dramaturgie wird den jungen Menschen nun seit dreißig Jahren die Rolle der finsteren Schauer- und Schreckfiguren zugewiesen. Fixer und Stricher, die durch rauschhafte, sexuell lustvolle, perverse Penetration ihres Körpers derart vehement jede Moralität verletzen, reizen den wollüstigen Ekel, die interessierte Abscheu des etablierten Publikums. Als Politikum ruft das Stück zugleich die Bekundung tief wurzelnder Empörung hervor. Der allgemeinen Anschauung gemäß wird der urbane Verkehrsknotenpunkt von nutzlosen Tagedieben, die auf Kosten der Passanten im Drogenrausch am Bahnhof herumgeistern, für ihre zwielichtigen Zwecke in Beschlag genommen. Skandal und Provokation sind ihr lohnendes Geschäft, sodass sie sich in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit als gespenstige Helden vom »Bahnhof Zoo« sonnen können (Birtsch, Kluge & Trede 1993; Alert 1994: 408 f.; Langhanky 1993). Indessen korrespondiert die bildgebende Matrix des Phantasmas »Bahnhof Zoo«, aus der sich immer neue Geschichten des immer gleichen Plots über das gesellschaftlich Verworfene ranken, nicht unbedingt mit den tatsächlichen Gegebenheiten. Gerade was die jungen Menschen betrifft, so lässt sich das Stigma ihrer sozialen Randständigkeit und moralischen Verworfenheit nicht auf den ersten Blick anhand von Äußerlichkeiten ablesen
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(Goffman 1975: 9). Der flüchtige Passant wird, ohne dass er sich Zeit nimmt und die Szenerie für eine Weile beobachtet, auf die vereinzelt, in kleinen Gruppen herumstehenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich über das Bahnhofsareal verstreuen, gar nicht aufmerksam. Erst auf den zweiten Blick lässt sich spekulieren, ob es sich bei dem einen oder anderen, der die Halle durchstreift, um einen ganz »normalen« Jugendlichen beim Einkaufs- und Schaufensterbummel in der Innenstadt handelt oder um einen der Bahnhofsgänger, der zum berüchtigten Treffpunkt der Drogendealer, Stricher und Junkies gehört.
2. Bahnhofsterrain Am »Bahnhof Zoo« zeigt sich eine Zweiteilung der Öffentlichkeit sehr deutlich in der für viele großstädtische Hauptbahnhöfe typischen Opposition von Vorder- und Hinterausgang (Neckel 2000). Das Gebäude öffnet sich zur Vorderseite, dem Hardenbergplatz mit den Haltestellen für die Busse des öffentlichen Nahverkehrs, von wo aus nur in wenigen Schritten Gedächtniskirche und Breitscheidplatz zu erreichen sind. Gerade der breite Bürgersteig, der vor dem Bahnhof liegt, dient als erste Anlaufstelle für diejenigen, die soeben von zu Hause, von ihren Wohnprojekten, von Freunden kommend eingetroffen sind. In dem Getümmel der Passanten, das sich in Richtung der Westberliner Einkaufsmeile zur Tauentziehnstraße und zum Kudamm verdünnt, ist auch für die Etablierten schnell der Überblick verloren, wer hier zu der eigenen Gruppe der Bahnhofsgänger zu zählen ist. Das Territorium des jugendkulturellen Treffpunkts endet deshalb schon an der das Bahnhofsgebäude umlaufenden Bordsteinkante. Der vordere Eingang in die kleinere Halle, dem gegenüberliegend eine Treppe aus dem Gewölbe der U-Bahn aufsteigt, ist ganz in den eiligen Strom der Menschen, der im Fahrplantakt an- und abflaut, bestimmt. Das Gedränge ist zu groß und das Getriebe zu hektisch, um hier zum gemütlichen Plausch beisammenzustehen. Ohne Deckung bietende Nischen und Pfeiler wird man von der Brandung der Menge umspült und droht von unaufmerksamen Passanten überrannt zu werden. Es ist daher der zweite, größere Eingang, wenige Schritte entfernt in Richtung des ruhiger gelegenen Tiergartens, wo die meisten zuerst vorbeischauen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, wer schon so alles da ist.
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Von hier aus braucht man nur noch durch die Eingangstür zu treten, um inmitten der Bahnhofshalle, dem eigentlichen Zentrum des jugendkulturellen Treffpunkts zu stehen. Das Gebäude wirkt im Vergleich zu anderen städtischen Bahnhöfen sehr klein und überschaubar, fast beengend. Dem »Bahnhof Zoo«, der 1882 eröffnet worden ist, war keineswegs die repräsentative Funktion als Fernbahnhof zugedacht, sondern die einer lokalen Haltestelle der Berliner Stadtbahn, die den damals weit vor den Stadttoren liegenden Zoologischen Garten verkehrstechnisch erschließen sollte (Gottwaldt & Nowak 1991). Eine kleine Einkaufsgalerie teilt den Innenraum in einen kleineren und einen größeren Hallenbereich. Es ist vorwiegend der Kleinbedarf der Berufspendler und Reisenden, der sich in den Läden decken lässt, während sich zwischen den Vordereingängen ein größerer Bistrobereich erstreckt, wo an den Verkaufstheken der FastFood-Ketten eine breite Auswahl an Imbissen, aber auch an Backwaren und anderen Lebensmitteln zu haben ist. Die jungen Menschen zerstreuen sich in kleinen Gruppen über die Bahnhofshalle, rücken entlang der Wände, vor den Schaufensterauslagen und den Eckbereichen ungestört zusammen, beobachten gelangweilt das Geschehen oder unterhalten sich angeregt. Insbesondere im Fast-Food-Bereich finden sich immer einige der Bahnhofsgänger, die an den Bistrotischen in ständig neuen Konstellationen im Gespräch über Gott und die Welt vertieft sind, während die Unwirklichkeit der lauten Bahnhofsszenerie bald vergessen ist. Im starken Kontrast dazu zeigt sich das Stadtleben, wenn man auf der rückliegenden Seite durch den »Hinterausgang« auf die Jebenstraße tritt, wo die dunkle, triste Charme der verwitterten Kalksteinfassade vorherrscht, wohingegen die dekorierenden, neonerleuchteten Werbetafeln, die das Stadtbild am Vordereingang prägen, gänzlich fehlen. Während sich hierher, wo nur parkende Autos und Bürogebäude zu finden sind, kaum ein Passant, Reisender oder Tourist verirrt, ist zu den Hauptzeiten des Treffpunkts der Bürgersteig an den Ausgangstüren immer wieder von kleineren und größeren Gruppen junger Menschen belagert, die im lebhaften Gespräch untereinander sich ganz zwanglos den Raum zu eigen machen. Neben dieser Möglichkeit, ungestört von der getriebenen Hektik der Großstadt zusammenzustehen, hat sich hier auch der Berliner Straßenstrich für Männer etabliert, an dem sich vor allem »Heroinkonsumenten« ihr Geld für den Kauf von Drogen verdienen. Aber auch der »normale« Bahnhofsgänger geht zur Einkommensverbesserung der Prostitution nach, um sich nicht ganz von den herrschenden Konsumstandards abhängen zu
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lassen. In spielerischer Aneignung des Bahnhofsterritoriums wechseln die jungen Menschen zwischen diesen beiden Sphären der respektablen Öffentlichkeit und der marginalen Stadträume, die gleich in der Seitenstraße, als Hinter- und Lieferanteneingänge, an die glänzenden Fassaden grenzen. Was dem »Bahnhof Zoo« aber fehlt, ist das typische, historisch gewachsene Bahnhofsviertel, das seine genuine Identität über die schon mittags vom Biergeruch geschwängerten Klausen, die billigen Hotels, Pensionen und Absteigen, die zwielichtigen Establishments des Rotlichtmilieus erhält. Nicht dass eine solche Infrastruktur halbseidener Institutionen, die außerhalb der vorherrschenden Vorstellungen von Achtbarkeit und Rechtschaffenheit stehen und sich an die diskreten Bedürfnisse kleinbürgerlicher Extravaganzen wenden, vereinzelt nicht auch im umgrenzenden Berliner Stadtteil Charlottenburg zu finden wären. Dennoch sind diese großstädtischen Angebote räumlich beschränkt auf eine etwas heruntergekommene Einkaufspassage, die vom Hardenbergplatz weiterführend in direkter Richtung zum Kudamm weist, der sich dann wenige Meter weiter ein eher hochwertiger Erotikshop mit dem viel versprechenden Namen »World-ofSex« anschließt. Doch der nähere Blick zeigt, dass sich in den Hauptstraßen die schmuddelige Bahnhofsviertelatmosphäre allein deswegen nicht durchsetzen konnte, weil die Einkaufshäuser, Modegeschäfte und Boutiquen längst den innerstädtischen Raum okkupiert haben, während in den kleinen Nachbar- und Nebenstraßen schon immer die herrschaftlichen Wohnadressen zu finden waren. Die großflächige World of Sex-Filiale muss dann auch mehr als touristisches Spektakel der Großstadt gewertet werden. Und doch nutzen die am Bahnhof »anschaffenden« Männer die kostengünstige Möglichkeit, sich mit ihren Kunden ungestört in die Videokabinen zurückzuziehen.
3. Bahnhofsgänger Während meiner Feldforschung bedeutete es für mich immer einen radikalen Wechsel der Wirklichkeitssphären zu vollziehen, sobald ich die Treppen, die aus dem Schacht der U-Bahn-Linie U2 hochsteigen, hinter mich gelassen hatte und wieder am »Bahnhof Zoo«, vorne auf dem Hardenbergplatz unterhalb der Zooterrassen stand, um an einem weiteren Tag in die Bahnhofswelt, die ihren ganz eigenen Regeln und Relevanzen folgt,
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einzutauchen. Trotz des hektischen, anonymen und unwirklichen Großstadtlebens handelt es sich beim »Bahnhof Zoo« auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Geographie um einen sehr überschaubaren Raum. Unter den Bahnhofsgängern kennt man sich, weil sich alle als Angehörige einer großen Gemeinschaft ansehen und es kaum möglich ist, längere Zeit hier herzukommen, ohne mit den anderen in Kontakt zu treten. Zur Konstituierung der eigenen Zugehörigkeit bedarf es wenig mehr als der Bereitschaft, auf andere Menschen offen und unverstellt zuzugehen. Der »Bahnhof Zoo« wird für die einen, die keine feste Bleibe haben, zu einem alternativen Zuhause, das zentraler Bezugspunkt in ihrem Leben wird, während sie sich sonst nirgendwo hinzuwenden wissen. Für die anderen übernimmt der Treffpunkt die Funktion einer um die Ecke gelegenen Stammkneipe beziehungsweise eines erweiterten Wohnzimmers, weil man hier alle kennt, sodass sich trotz der Öffentlichkeit ein nahezu privater, intimer Raum des freien Zeitvertreibs bietet. Aber erkundigt man sich einmal nach den Gründen für das tägliche Kommen, so stellt man fest, dass kaum jemand sagen kann, warum der Bahnhof eine fast magische Anziehungskraft ausübt (vgl. hierzu auch Metje 2005: 96; Marquardt 2000). Mike: »Un det is wie’n MaGNET. … Ich hab mich SO oft uffjeregt, ich dachte: Mensch is überhaupt nüscht los hier Bahnhof, wat mach ick hier eigentlich? … Warum geh ich nich nach Hause Fernseh kucken?« Am heutigen Tage gehe ich nach dem Heraustreten aus der U-Bahn als erstes, wie an den meisten anderen Tagen meines Feldaufenthalts auch, in Richtung des Eingangs zur großen Haupthalle. Ich sehe gleich, dass Karin, Willy und Michael, die Streetworker, mit denen ich hier nachmittags immer verabredet bin, schon vor mir eingetroffen sind. Sie stehen inmitten einer Gruppe von Jugendlichen, auf die ich zusteuere. Ich begrüße alle Anwesenden, wie sich dies am Bahnhof gehört, mit festem Handschlag, wechsle ein paar Worte und stelle mich schließlich, weil Karin im privaten Gespräch mit Franziska vertieft ist, zuerst einmal zu Willy und Michael, die sich mit Mike unterhalten. Am Bahnhof gilt Mike als die würdevolle Hoheit, von allen gekannt und weithin geachtet. Seine Akzeptanz und Wertschätzung zu verlieren, bedeutet, sich aus der schützenden Hemisphäre herauszubewegen, die durch das verbindende Band der Gruppenloyalität gestiftet wird. Eine gewaltvolle Relegation aus den Zusammenkünften der verstreuten Kleingruppen muss zwar niemand befürchten. Die ständig fluktuierende Gesamtgruppe an Bahnhofsgängern erweist sich als zu heterogen und beläuft
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sich auf einige hundert junge Menschen, wovon sich an einem durchschnittlichen Tag eine Teilgruppe von fünfzig bis hundert Szeneangehörigen hier einfindet. Und dennoch würde ein belastetes Verhältnis zu Mike zur Konsequenz haben, von den Zusammenkünften, die sich um ihn herum an den Bistrotischen versammeln und für die kommunikative Integration der Szene eine große Bedeutung haben, ausgeschlossen zu sein. Mit seinen 28 Jahren gehört er schon zu den Älteren und behauptet seinen Einfluss und Respekt durch seine ruhige, aber bestimmte Art, die vertrauensvoll wirkt. Vor allem ist es aber sein distinguierter Habitus, der ihn heraushebt. Er weiß um die entscheidende Bedeutung, bei der Aushandlung von Rang und Ansehen diesen kleinen Überschuss an Distanz in der Interaktion zu wahren, ohne dadurch herablassend oder arrogant zu wirken. So geht Mike jeden Tag zum Bahnhof, um sich beim Bierchen seine Zeit zu vertreiben und trotz aller Randständigkeit zumindest ein Stück weit ins wirkliche Leben, das hier umsonst zu haben ist, einbezogen zu sein. »Bloß für MICH is der Bahnhof ZOO ein// ein// ein Treffpunkt wie// n andrer trifft sich, sagen we ma, in der Kneipe oder äh äh … uff// uff’m Breitscheidplatz oder woanders ooch immer … oder in der Wohnung. Un ich treff mich DA dann. Ich MUSS det do’ nich machen.« Franziska, 21 Jahre, begrüßt mich, nachdem sich Gerd in einer offensichtlich dringenden Angelegenheit an Karin gewandt hat, ein zweites Mal in überschwänglicher und guter Laune. Sie ist eine gesellige, extrovertierte und lebenslustige junge Frau, der nicht anzumerken ist, dass der Bahnhof zu einem Fluchtort vor der Herabwürdigung und Missachtung geworden ist, die sie im Elternhaus erfahren hat. Schon die Kindheit war von der Gleichgültigkeit und dem Desinteresse ihrer Eltern geprägt: »weil ich echt … Schulzeit nur … im Kinderzimmer rumgesessen habe, Langeweile geschoben, Fernsehen geguckt, was weiß ich nicht. … Ja. … Meine Eltern warn auch nich der Meinung, irgendwas ma mit mir zu unternehmen.« Die familiären Konflikte, die mit dem Heranwachsen zunehmen, kumulieren in der schmerzlichen Kränkung, die ihr durch den von der Mutter geäußerten Zweifel und Unglaube zugefügt wird, als Franziska dieser erzählt, dass sie vergewaltigt worden sei; ein Ereignis, das zu dem Zeitpunkt, als sie sich anvertraut, immerhin ein Jahr zurückliegt. »Und … ja, dann hab ich das mit … kurz vor mei’m fünfzehnten Lebensjahr hab ich das dann … meiner dann erzählt. Und sie so, hä, du lügst ja, blah, blah, blah. Und dementsprechend wollte sie halt auch, dass ich dann [von zu Hause] rausfliege.« Im Vergleich zu den meisten anderen Lebensgeschichten müssen der erfah-
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rene Mangel an Liebe und die erlittene Vernachlässigung aber noch als das kleinere Übel erscheinen. Die jungen Menschen berichten durchweg von einem kaum vorstellbaren Ausmaß an psychischen Erniedrigungen und körperlicher Gewalt. Nachdem Franziska mir den weiteren Fortgang des letzten Abends erzählt hat, beschließen wir, uns in Begleitung von Mike in der Bahnhofshalle umzuschauen. Beim Eintreten winken uns sogleich Claudia und Manuela zu, die sich mit drei anderen Jungs, die ich nicht kenne, an einem der unmittelbar an den Eingangsbereich angrenzenden Stehtische der Imbissketten versammelt haben. Während über einen Trupp vorbeilaufender Wachschützer einige Späße gemacht werden, ist auch Martin, 20 Jahre, an unserem Tisch eingetroffen. In souveräner Pose begrüßt er alle Anwesenden per saloppen Handschlag, schaut dabei jeden Einzelnen mit geradem Blick kurz in die Augen und setzt dann wieder sein schiefes Lächeln auf. Er wendet sich kurz seinem in einer Schaufensterscheibe reflektierenden Spiegelbild zu, bringt seine Haare mit dem Kamm, der stets in der hinteren Tasche seiner Jeanshose steckt, in Ordnung, streicht die Falten aus seinem Hemd und zieht den Sitz seiner Hose gerade. Sein Geld bessert er sich hinten in der Jebenstraße durch Prostitution auf, gibt es für Klamotten, für Diskothekenbesuche und manchmal auch für Drogen aus. Die Einbindung an den jugendkulturellen Szenetreffpunkt, wo ihn alle kennen, steht im völligen Kontrast zur Integration in die etablierte Welt. Außerhalb der Wohnprojekte, der sozialpädagogischen Betreuungsangebote und der Straßenszene gelingt ihm die Etablierung seiner Lebensbezüge nicht. Manchmal, so erzählte er mir einmal, werde er mitten in der Nacht von panischen Ängsten aufgeschreckt, ohne sich dies selbst erklären zu können. Er müsse dann vor Schmerzen so lange schreien, bis sich jemand aus dem Wohnprojekt seiner annehme und ihn zu beruhigen versuche. Frederik, 23 Jahre alt, treffe ich mit drei seiner Freunde, hinten am Ausgang zur Jebenstraße, wo er mich gleich ein Stück zur Seite zieht, damit wir ungestört sprechen können. Gestern Morgen sei er von der Firma, wo er seine Arbeitsmaßnahme absolviere, fristlos entlassen und wieder nach Hause geschickt worden. Einige Wochen zuvor war Frederik noch hocherfreut, dass es mit dem Praktikumsplatz endlich geklappt hat. Es sei ihm dann aber äußerst schwer gefallen, sich in das Berufsleben einzufinden, wobei ihm nicht nur das häufige abendliche Weggehen und der damit verbundene Konsum von Ecstasy und anderen Partydrogen im Wege standen. Dass er einige Fehlzeiten angesammelt habe, erkläre er sich mit der Tren-
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nung von Arne, die ihn vollkommen aus der Bahn geworfen habe. Andererseits habe Frederik schon von Anfang an Probleme mit seinem Chef gehabt, durch den er sich kontrolliert, ungerecht behandelt und schikaniert gefühlt habe. Der Entlassung sei nun ein heftiges Streitgespräch vorangegangen, in der er seinem Chef einmal die Meinung gesagt habe. Angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit und Armut muss es fast als Hochmut wirken, wenn Frederik seinen Stolz zu bewahren versucht und sich weigert, seinen Platz in den unteren Rängen der Gesellschaftshierarchie einzunehmen. Und dennoch weiß er sich zumindest auf der Straße durchzuschlagen, wo er sein eigener Herr ist. Anton steht wie jeden Tag unter der metallenen Überdachung hinten auf der Jebenstraße. Anton ist ein magerer, blasser Junge, dessen Heroinkonsum ihm deutlich anzusehen ist. Mit seinen 17 Jahren ist er fast volljährig, und doch ist er schon seit zwei Jahren am Bahnhof, wo er fast täglich »anschaffen geht«, um sich das obligatorische Päckchen Heroin leisten zu können. Man sieht ihn nur selten im Gespräch mit anderen Jugendlichen, obwohl ihn alle kennen. Vielmehr läuft er die meiste Zeit tief in sich versunken den Straßenstrich auf und ab und wartet auf Kunden. Für das Leben am Bahnhof interessiert er sich nicht viel, spricht hauptsächlich von der Plackerei des »Anschaffen-Gehens«, von Kunden, die ihn ablinken, von der Polizei, die ihm Platzverweise erteilt, von den ganzen Freizeitstrichern, die ihm die besten Freier wegnehmen. Als ich ihn einmal frage, ob er nicht vom Strich und den Drogen wegkommen will, antwortet er fast genervt, dass er sich schon lange keine Hoffnung mehr mache, dass sich in seinem Leben noch einmal etwas ändern wird. An eine Zukunft glaube er nicht. Zurückgezogen in seinen betäubenden Drogenrausch wirkt er in seiner Abgeklärtheit der ganzen Welt enthoben. Während ich auf der Jebenstraße weiter hinaufgehe, um über die Herzstraße unter der oberen Bahnüberführung hindurch wieder zurück auf die Vorderseite zu gelangen, treffe ich an der Bahnhofsmission auf Manuela, 20 Jahre. Letzte Woche noch kam sie ganz aufgelöst und verzweifelt auf Karin zugelaufen, brach sogleich in Tränen aus und erzählte davon, dass sie in der Nacht zuvor, auf dem Weg nach Hause, im Tiergarten vergewaltigt worden sei. Als ich mich heute erkundige, wie es ihr gehe, äußert sie unwirsch, dass alles okay sei. Auch auf meine Frage, ob sie bei der Polizei Anzeige erstattet habe, entgegnet sie mir bloß, dass dies eh nichts bringe. Ohne genau die Gründe angeben zu können, drängen sich mir Zweifel am Wahrheitsgehalt der Vergewaltigung auf. Die jungen Menschen erzählen
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immer wieder Geschichten, die sich nicht als wahre Begebenheiten erweisen. Aber selbst wenn man einfach davon ausgehen würde, dass es sich bei der Erzählung um eine reine Erfindung handelt, dann würde dies nur umso mehr die Verlassenheit und Verzweiflung verdeutlichen, die die jungen Menschen im Alltag erleiden. Hier geht es nicht mehr darum, das Leiden an der eigenen Lebenssituation in einen produktiven Handlungsentwurf umzuarbeiten, der auf eine substantielle Änderung und Verbesserung der Lebensumstände gerichtet ist. Die irreale Verdrängung und Verschiebung des subjektiven Leidens, wie diese etwa auch durch die Schnitzereien, die Suizidversuche, den zerstörerischen Drogenkonsum zum Ausdruck kommen, erhalten ihren Sinn, weil Traurigkeit, Wut und Verzweiflung hierdurch wieder substantialisiert, an ein fassbares Objekt gebunden und damit zum Ausdruck gebracht werden können (Scarry 1992: 241 ff.). Der jugendkulturelle Zeitvertreib der Bahnhofsgemeinschaft ist aber keineswegs derart ablenkungsreich und spektakulär, als dass sich die gebotenen Möglichkeiten, die sich allein aus den sozialen Kontakten unter Deklassierten entwickeln, nicht rasch erschöpfen würden. Die jungen Menschen werden auch am jugendkulturellen Treffpunkt bald wieder von Trübsal und Langeweile eingeholt. Die Neugier und das Interesse wandeln sich schon nach einiger Zeit in eine gewisse Abgeklärtheit der sich zunehmend Etablierenden. Mehr noch wird anhand des unausweichlichen Kreislaufs der tagtäglichen Begegnungen nur allzu sehr deutlich, dass das Bahnhofsleben einzig einen marginalen Ort abseits der Gesellschaft bietet, ohne Bezugspunkte, die zurück in die Gesellschaft führen. Franziska: »So und ähm … Tagesablauf … ja, sehr eintönig irgendwie, […] man setzt sich halt auf die Treppen, freut sich, dass man noch’n Platz// n guten Platz ergattert hat, und ähm … ja, … quatscht .3. wartet, dass das Foyer [ein Cafe für obdachlose Menschen] aufmacht, … um denn Kaffee zu trinken oder so.«
Es vergeht kaum ein Tag meines Feldaufenthaltes, an dem ich nicht auch in einer Runde stehe, in der alle Beteiligten schweigend aneinander vorbeiblicken, ohne dass eine Unterhaltung aufkommen will. Während alle auf das Eintreten von irgendetwas Unbestimmtem warten, vergeht selbst am Bahnhof die Zeit beschwerlich und langsam. Jeder scheint in seine eigene Gedankenwelt versunken zu sein, ohne die anderen noch darin einbeziehen zu können. Nach längeren Pausen wird wieder ein Wort gewechselt, aber aus den kargen Beiträgen will sich kein Gesprächsthema entwickeln. Doch trotz der Langeweile, der sich niemand entziehen kann, bleiben alle am Tisch stehen. Niemand weiß etwas Besseres mit seiner Zeit anzufan-
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gen. Alle warten hier gemeinsam darauf, dass etwas passieren wird. So bleibt im vertrauten Kreis der Bekannten allen – wenn schon nicht die Langeweile – zumindest das Alleinsein erspart. So umkreisen die jungen Menschen den Bahnhof, der für viele zum Lebenszentrum geworden ist, ohne noch genau zu wissen, auf welchen Pfaden sie hierher gekommen sind, mehr noch aber, wie sie von hier aus in ein anderes, besseres Leben wieder aufbrechen können. Zumindest am Bahnhof finden sie eine Welt vor, wo sich Anschlüsse ergeben, sie ihre sozialen Kontakte pflegen, sich mit dem Notwendigsten zum Leben versorgen, sodass dieser oftmals zum wichtigsten Bezugspunkt in ihrem Alltag geworden ist. Hüseyin: »… wie ich da hinkomm, weiß ich nich so genau, aber … irgendwann ma hab ich (jetz) alles kennen gelernt, so aus Neugierde […] mit der Zeit bin ich dann ÖFters dahingekommen un hab dann gesehn, dass da … überwiegend äh Schwule und … auch Obdachlose … sonst eigentlich äh Bahnhof nur für REIsende is, aber … die sich da aufhaltn also treffen, … ja, … auch Drogenabhängige so oder … Leute die, also Jugendliche … von … zu Hause abgehaun sind oder rausgeschmiss’n wurden von den Eltern…. Da(nn) hat man so Bekanntschaften getroffen (und denn) … einmal da und dann, … na ja. … Auch äh … hab ich da … HASCH konsumiert. … Äh später dann … hab ich äh … DIEBstähle begangen, weil ich auch harte Drogen genommen habe.«
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Die Straßenkarrieren müssen auf die schwierige Biographie rückbezogen werden, wie diese sich in den am Bahnhof erzählten Lebensgeschichten offenbaren. Spätestens mit der Adoleszenz werden bei den Bahnhofsgängern die Diskontinuitäten, die sich aus familiären Dauerbelastungen und -konflikten entwickeln, bestimmend für den weiteren Biographieverlauf. Entweder sind die jungen Menschen aus der unerträglichen Situation des Elternhauses geflohen oder von den Eltern auf die Straße gesetzt worden. Die Exklusion von jenen gesellschaftlichen Weltsphären, die einer selbständigen Lebensführung vorausgesetzt sind, wird damit durch die Familie vorbereitet. Dagegen handelt es sich um einen Mythos, dass der Drogenkonsum, die unregulierten Freizeitformen, die Faszination der Schattenwelten die jungen Menschen verführen; vielmehr ist der Bahnhof so gut wie immer Fluchtort vor den Unzumutbarkeiten, die zuerst von der Familie, später aber von der Gesellschaft ausgehen. In der sozialwissenschaftlichen Forschung sind gerade diese familiären Ursachen unter dem wissenschaftlich unpräzisen, damit aber umso öffentlichkeitswirksameren Titel »Straßenkinder« ausführlich untersucht worden (Alleweldt & Leuschner 2004; Pfennig 1996; Institut für soziale Arbeit 1996; Hansbauer 1998; Permien und Zink 1998; Warzecha 2000a; Metje 2005; Thomas 2005). In den USA spricht man dagegen von »runaways«, wobei Di Paolo (1999) kritisch anmerkt, dass die Bezeichnung »throwaways« wohl angemessener sei: »They leave home whether by force or reluctant choice, because of the disturbing conditions within families« (S. 3). Aufgrund der thematischen Wichtigkeit soll in einem ersten Schritt die Charakteristik der familiären Situation hervorgehoben werden, die der sozialen Exklusion als persönliche Hintergrundproblematik vorausgeht (1). Daraufhin soll die transgenerationale Persistenz der Armut dargestellt werden, indem die zwischenmenschlichen Probleme im Elternhaus auf die soziale Deprivation und Randständigkeit der Familie bezogen werden (2).
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Schließlich werden die Konsequenzen skizziert, welche die Flucht aus dem Elternhaus für den weiteren Werdegang und die Integration ins gesellschaftliche Leben nach sich zieht (3).
1. Familienprobleme und Exklusion Die biographische Problembelastung der Jugendlichen ist als wesentliche Ursache für die Hinwendung zur Bahnhofsszene anzusehen. Einerseits wird die Straße zum Ersatz- und Fluchtort, weil sich die jungen Menschen nirgendwo sonst hinzuwenden wissen und mit dem Aufbau einer eigenständigen Lebensführung zugleich überfordert sind (Gries 1998). Andererseits mag die Freiheit der Straße, weil es sich um einen weitgehend unrestringierten Lebensraum handelt, der abseits der Kontrolle und Überwachung durch die Erwachsenenwelt liegt, ihre eigene Attraktivität entfalten (Zieher & Zieher 1994; Zieher 1994; Zinnecker 1979; 2001). Die Hinwendung zur Bahnhofsszene und die Verstetigung der Szenezugehörigkeit begründen sich daher aus einer typischen Konfiguration an Pull- und Pushfaktoren (Permien & Zink 1998; Hansbauer 1996). Und dennoch ist es gerade die Alternativlosigkeit an Zufluchtsstätten, warum die Straße zum letzten Rückzugsort wird. In der Bahnhofsszene handelt sich eher um die große Ausnahme, einen Jugendlichen aus behütetem Elternhaus anzutreffen, der in der Schule keine Probleme hatte und in einen Freundeskreis sozial integriert ist. Obwohl das deviante Bahnhofsleben eine eklatante Gefährdung der Jugendlichen darstellt, geschieht es äußerst selten, dass jemand leichtfertig in die Szene abrutscht, weil er hier die »falschen Freunde« gefunden oder gedankenlos mit Drogen zu experimentieren begonnen hat. Und selbst einfache Schulprobleme, pubertätsbedingte Anpassungskonflikte, Verlusterfahrung nahestehender Bezugspersonen führen selten zu einer derartigen Verstetigung des sozialen Abstiegs, dass der Kontakt zur Gesellschaft dauerhaft verloren geht und kein Ausweg mehr aus dem sich dynamisierenden Kreislauf von Armut und Exklusion gesehen wird. Die jungen Menschen, die nicht die Erfahrung von Ablehnung, Missachtung und Gewalt im Elternhaus gemacht haben, scheinen eine ausreichende innere Stabilität entwickelt zu haben, sodass nach einem gewissen Zeitraum der Überforderung und Krise doch wieder eine Stabilisierung eintritt und durch Mobili-
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sierung von Motivationspotentialen ein Ausweg aus der Misere des sozialen Randes gefunden wird. Welche biographische Bürde die jungen Menschen zu ertragen hatten, verdeutlicht sich, wenn Kindheit und Familie in den Gesprächen am Bahnhof doch einmal zum Thema werden. Denn in der Regel vermeiden es die jungen Menschen, über ihren familiären Hintergrund zu sprechen, und versuchen erst recht jeder weitergehenden Thematisierung auszuweichen. Die typischen Familienkonstellationen, die das Verhältnis zu den Eltern und die häusliche Atmosphäre belasten (Chassé, Zander & Rasch 2003: 194 f.), lassen sich auf folgende Dimensionen hin kondensieren: – Strukturelle Liebes- und Anerkennungsdefizite: In einem emotional unterkühlten und bedrückenden Familienklima fehlt es am partnerschaftlichen, akzeptierenden Umgang. Die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern ist geprägt von mangelnder Zuwendung und Sorge, von Gleichgültigkeit und Vernachlässigung, von Ablehnung und Missachtung, gerahmt von einem überforderten, traditionell-autoritären Erziehungsstil. Liebe und Anerkennung wurden nicht erfahren. – Probleme und Krisen der Eltern: Zu den alltäglichen Belastungen, die einer unbeschwerten Kindheit und einem expansiven Entwicklungsprozess im Wege stehen, gehören Drogen- und Alkoholabhängigkeit der Eltern, psychische Probleme wie Depression, Krankheit und Tod von Familienangehörigen, aber auch tragische Lebensereignisse, die für den Heranwachsenden eine einschneidende bis traumatische Bedeutung haben. – Verlust von primären Bezugspersonen: Die jungen Menschen verfügen über keine verbindlichen und verlässlichen Sozialbindungen. Es werden solche Probleme virulent wie instabile, wechselnde Partnerschaften der Eltern, Scheidung, undurchsichtige leibliche Elternschaft, ein belastetes Verhältnis zu den Stiefeltern. Die Kinder werden an Großeltern abgegeben oder wechseln zwischen Stief- und Adoptivfamilie sowie Heimen hin her, was eine ständige Gewöhnung an neuen Bezugspersonen erzwingt. – Physische und psychische Gewalterfahrung: Dauerkonflikte mit den Eltern manifestieren sich in verbalen Entgleisungen und Verunglimpfungen, psychischen Erniedrigungen, überstrengen Sanktionen, Verboten und Hausarresten, körperlichen Züchtigungen. Zudem berichten viele Bahnhofsgänger von sadistischer Gewaltanwendung und sexuellem Missbrauch.
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– Ökonomische Belastungsfaktoren: Die jungen Menschen entstammen durchweg sozial benachteiligten Schichten, in denen Armut und Arbeitslosigkeit, Miet- und andere Schulden, Elend und Verwahrlosung allgegenwärtig sind und als psychosoziale Stressfaktoren eine Verschärfung der familiären Situation bewirken. Zugleich wachsen sie in einem transgenerationalen Tradierungszusammenhang sozialen Ausschlusses auf, über den Arbeitslosigkeit, Sozialleistungsbezug und Armut von den Eltern auf die Kinder übergehen (vgl. Klocke & Hurrelmann 2001). Metje (2005) bezeichnet die Familie der Jugendlichen von der Straße als Nicht-Ort. Der Kontakt zu den Eltern ist in der Regel abgebrochen worden, wenn sich die jungen Menschen durch den Auszug aus der elterlichen Wohnung erst einmal aus der für sie unerträglichen Situation befreit haben. Durch die Flucht auf die Straße entziehen sie sich dem Einfluss von Familie als primärem Sozialisationskontext, wodurch sie zu einer vorgezogenen Selbständigkeit gedrängt werden. Und doch sollte in zugespitzter Form von der Familie wohl eher als Un-Ort gesprochen werden, weil Missachtung, Erniedrigung und Gewalt zum alltäglichen Erfahrungshintergrund gehörten. Im Interview macht Oliver schon in der ersten Entgegnung auf meine Einstiegsfrage deutlich, dass er über alle Begebenheiten, die seine Familie betreffen, nicht sprechen will: »Alles klar also, war jewesen damals, bin ick von meine Eltern halt abjehaun, weil ick Stress hatte, … warum und wie auch immer is ejal halt und so, aber ick habs da halt nich mehr ausjehalten.« Während Oliver es im Interview rundum ablehnt, in die erzählerischen Fänge seiner Biographie gezogen zu werden, kommt er bei anderer Gelegenheit darauf zurück, über seine Kindheit zu sprechen. Niemand aus seiner Familie habe sich für ihn interessiert, seinen Eltern sei er vollkommen gleichgültig gewesen, die er die meiste Zeit betrunken erlebt habe. Er habe sich allein darum kümmern müssen, morgens pünktlich zur Schule zu gehen, während seine Eltern noch schliefen. Die Familie konnte dem jungen Menschen keinen Halt geben, weil weder für ein behütetes Zuhause gesorgt war, noch ihm ausreichende Zuwendung und Unterstützung zuteil wurde. Die Eltern konnten als significant others den jungen Menschen nicht in seinen ausgreifenden Entwicklungsschritten der Weltaneignung durch Zuneigung, Ermunterung und Wertschätzung unterstützen. Aufgrund der strukturellen Liebes- und Anerkennungsdefizite waren die Bahnhofsgänger weitgehend auf sich allein gestellt. Franziska sagt dazu: »Und, ja, irgendwie hab ich mich dann eindeutig DORT [am Breitscheidplatz und am Bahnhof Zoo] wohler gefühlt als zu Hause. … Weil, zu
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Hause war’s dann bloß so, dass ich mich halt nur in mei’m Zimmer verkrochen hatte /Interviewer (I.): Hm/ weil, so bald ich rauskam, … meinte meine Mutter, ja, mach dies, mach das, mach jenes, und das war genauso wie damals auch, weswegen ich auch … mehr oder weniger rausgeflogen bin, also rausgegangen bin.« Das Verleugnen der eigenen Familiengeschichte etwa durch Verschweigen, durch das Überlenken auf unbedenklichere Themen, durch die Verwendung von sich zurechtgelegten Coverstorys kann es aber nicht vermeiden, dass diese immer wieder zum Thema wird. Als Martina, 21 Jahre, erzählt, dass auf Initiative des Jugendamtes ein Treffen mit ihren Eltern, die sie seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen habe, arrangiert worden sei, zu dem sie aber am liebsten nicht gehen wolle, bringt Sabine, eine Freundin, freimütig ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck, dass sie sich gar nicht auf das Wiedersehen freue. Martina entgegnet, dass sie eigentlich mit diesem Kapitel ihrer Vergangenheit abgeschlossen habe. Sie wolle keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, nachdem sie mit 15 Jahren von zu Hause ausgerissen sei. Sabine entgegnet in fast provozierender Weise, dass sie sehr glücklich wäre, wenn sie endlich wissen würde, wer ihre Eltern seien und wo sie leben. Sie sei als junges Mädchen in eine Pflegefamilie gekommen, in der sie sich aber nie wohl gefühlt habe und aus der sie später dann ausgerissen sei. Am nächsten Tag, als Martina zum Bahnhof kommt, wirkt sie verstört, apathisch und desinteressiert, bis sie sich schließlich unter Tränen mir erklärt, dass sie gestern nach dem Gespräch mit Sabine nicht habe schlafen können und sich die ganze Nacht mit der Frage gequält habe, warum sie sich auf das Treffen mit ihren Eltern nicht freue. Sie meint, sich dann im Halbschlaf daran erinnert zu haben, dass sie von ihrem Vater früher missbraucht worden sei. Sie wisse einfach nicht, ob sie den undeutlichen Erinnerungsbildern Glauben schenken könne, was sie aber umso mehr verzweifeln ließe. Selbst wenn man um die Brisanz biographisch-familiärer Leidensereignisse weiß, tun sich am Bahnhof bei den unscheinbarsten Gesprächsthemen immer wieder regelrechte Abgründe auf. Die Oberfläche der alltäglichen Normalität und Integrität ist zu dünn, als dass die seelischen Narben und Verwachsungen nicht ständig wieder aufzubrechen drohen. Dieser Gleichgültigkeit und Verwahrlosung der Eltern-Kind-Beziehung liegen nicht selten persönliche Probleme und Krisen der Eltern zugrunde: Bei Franziska hat sich die Mutter als unfähig und überfordert erwiesen, eine emotionale und haltende Beziehung aufzubauen. Sie ist selbst in eine Le-
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bensgeschichte verstrickt, die es ihr kaum ermöglicht, in ein offenes und unbefangenes Verhältnis zur Tochter zu treten. »… das war gerade so die Zeit, wo ich von meiner Mutters Vergangenheit reichlich viel rausgekricht habe durch meine andre Schwester halt, und ähm … ja, ich meine, … nich jede Tochter will von// von sei// also von der Schwester hörn, dass … die Mutter ma auf’n Strich gegangen is. Dass man … von dem angeblichen Erzeuger gar nich stammen tut. Das fand ich mal ganz witzig, dass mich meine ganze Familie angelogen hat.« Während die Eltern der Bahnhofsgänger schon damit überfordert waren, ihre eigenen Lebensumstände zu ordnen, wird die Verantwortung für das Kind dann zur weiteren Belastung. Im Fall von Franziska scheinen sich die familiären Rollen zu verkehren: »… ja, meine Mutter is so, die … will immer Mitleid, … will immer ganz, ganz viel Mitleid.« Franziska ist diejenige in der Eltern-Kind-Beziehung, die Verständnis für ihre Mutter aufzubringen hat, während sie immer wieder beschreibt, wie sie sich von den Bedürfnissen der Mutter überfahren fühlt. »… also gerade jetzt ist sie auch der Meinung, die Fehler, die sie damals mit mir gemacht, oder mit meiner großen Schwester, wie auch immer, …, ja, wiedergutmachen zu müssen, aber es geht nicht, … nicht so einfach, wie sie sich das vorstellt.« Die psychosoziale Belastetheit der Eltern hat für die Bahnhofsgänger zur Konsequenz, dass nicht ausreichend Raum für die Entfaltung und Befriedigung eigener Bedürfnisse zur Verfügung stand. Der Verlust von primären Bezugspersonen ist ein weiterer Grund, warum sich die jungen Menschen nicht aufgehoben, sondern immer wieder von neuem verstoßen fühlen. Die Brüchigkeit und Problembehaftetheit des familiären Sozialisationssystems führt typischerweise zur Diskontinuität zwischenmenschlicher Beziehungen. So kommt etwa Sven nach der Scheidung seiner Eltern mit den wechselnden Partnerschaften seiner Mutter nicht zurecht. In der Zurücksetzung gegenüber dem neuen Lebenspartner verdeutlicht sich ihm nur die eigene Bedeutungs- und Wertlosigkeit. In besonderer Weise aber ist es die physische und psychische Gewalterfahrung, welche den jungen Menschen ihre persönliche Integrität raubt (Hansbauer 1998: 43). Sie können sich nicht als Subjekt erfahren, das durch eigene Aktivität regulierend auf die Situation einwirken kann, um darüber für Schutz und Autonomie zu sorgen. Auf meine arglose Nachfrage nach den Gründen dafür, dass Claudia nicht bei ihren Eltern aufgewachsen ist, antwortet sie mir geradewegs, dass die Mutter früh verstorben sei und der Vater, bei dem sie aufgewachsen sei, sich nicht um sie gekümmert habe. Er sei von Kokain und anderen Drogen abhängig gewesen, habe das ganze
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Haushaltsgeld »versoffen« und »verballert«, während die Wohnung immer mehr verwahrloste. Ab dem neunten Lebensjahr sei sie von ihm sexuell missbraucht worden, bis schließlich mit zwölf Jahren das Jugendamt auf ihren Fall aufmerksam geworden sei und sie in einem Heim untergebracht habe. Das Drama des ungeliebten Kindes, das ständig seine Missachtung, Aberkennung und Negation erfahren musste, findet mit der Flucht aus dem Elternhaus kein Ende. Die jungen Menschen sehnen sich auch weiterhin nach der so schmerzlich vermissten Anerkennung. Die Hoffnung, dass die Eltern sich eines Besseren besinnen oder sich die belastende Vergangenheit einfach vergessen lässt und alles wieder gut wird, bleibt auch noch in der Adoleszenz bestehen. Und dennoch bringt dieses Festhalten an dem Wunsch nach einer Wiederannährung an das Elternhaus in der Regel nur eine Fortsetzung der Enttäuschungen mit sich. Für Karsten bricht die Welt zusammen, nachdem er am Vormittag mit seiner Mutter telefonierte, die in seiner Kindheit mit der Scheidung von seinem Vater jeden Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Er sei bei seinem Vater aufgewachsen, der ihn regelmäßig verprügelt habe. Dreimal sei er mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Mehrfach sei er ausgerissen, aber immer wieder zu seinem Vater zurückgekehrt, weil er sich nirgendwo sonst hinzuwenden gewusst, aber auch weil er gehofft habe, dass sich die Situation zu Hause verbessern würde. Die Telefonnummer seiner Mutter habe er durch einen Zufall beim Jugendamt in Erfahrung gebracht, als sein Ordner für kurze Zeit unbeaufsichtigt auf dem Schreibtisch gelegen hätte. Er habe sich daraufhin ein wenig Mut angetrunken und dann angerufen. Seine Mutter sei sehr überrascht gewesen, ihn am Telefon zu sprechen, habe ihm dann aber in wenigen Worten erklärt, dass sie keinen Kontakt mehr wünsche. Sie wolle nicht mehr an die alten Sachen erinnert werden und habe nicht umsonst ein neues Leben begonnen. Obwohl Karsten kaum noch stehen kann, als er mir seine Geschichte erzählt, weil er sich mit einem ganzen Cocktail an Drogen »dicht gemacht« habe, scheint er noch immer von dem Schmerz, allein und verlassen zu sein, ganz gefangen zu sein.
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2. Ökonomische Belastungen in der Familie In modernen Gesellschaften sind Kinder und Jugendliche weitgehend der Sozialisationsinstanz »Familie« anvertraut, die sich normalerweise aus mindestens einem der beiden leiblichen Elternteile zusammensetzt. Der Familie ist der Verantwortungsbereich übertragen worden, für ein sicheres Sozialisations- und Entwicklungsfeld zu sorgen, in dem die Bedürftigkeit des heranwachsenden Kindes aufgehoben ist und die lernenden und aneignenden Schritte bis zur Eigenständigkeit begleitet werden. Mit dieser Verantwortung sind die Familien, aus denen die jungen Menschen der Bahnhofsszene kommen, überfordert. Ein wesentlicher Grund findet sich darin, dass die Eltern einer sozialen Schicht angehören, in der die Not des sozialen Abstiegs nah ist und die Annehmlichkeiten und Sicherheiten des Mittelstandes fernliegen (Institut für soziale Arbeit e.V. 1996: 212). Die Angehörigkeit einer unteren Sozialschicht bedeutet nicht, dass die Familien unmittelbar von Armut betroffen sind, und dennoch zeigt sich am Beispiel der Bahnhofsgänger besonders deutlich, wie sich der soziale Ausschluss über die Generationen hinweg reproduziert. Unter Armut haben Kinder – als die schwächsten Familienmitglieder – sowohl wegen der angespannten finanziellen als auch der bedrückenden sozialen Situation in besonderem Maße zu leiden (Lutz 2000: 190 ff.). Sorgen und Belastungen entstehen nämlich schon dann, wenn der Lebensunterhalt nur knapp die monatlichen Ausgaben deckt oder sich aufgrund eines ungesicherten Beschäftigungsverhältnisses die Einkommenssituation jederzeit verschlechtern kann (vgl. Klocke 2001: 308 f.). Aus der Knappheit der Ressourcen entwickelt sich leicht eine innerfamiliäre Konkurrenzsituation, in der die Lebensansprüche der Kinder den Entfaltungsmöglichkeiten der Eltern entgegenstehen. Die jungen Menschen berichten, dass in ihrer Familie nicht nur ihre Lebensansprüche wenig zählen, sondern dass die Eltern von ihnen Besitzgegenstände entwenden, persönliche Wertsachen verkaufen und finanzielle Leistungen wie Unterhalt, Rente und Kindergeld einbehalten. So sind die geringen Verteilungsspielräume, die ein Zurücktreten hinter die partikulären Ansprüche jedes einzelnen Familienmitgliedes nicht erlauben, ein wesentlicher Grund für die konfliktreichen Beziehungen unter den Familienmitgliedern (Neuberger 1997: 99 f.). Im Hinblick auf die Realisierung eigener Lebensvorstellungen fühlt sich jeder schnell vom anderen übervorteilt und betrogen.
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In den Familien der jungen Menschen treten über diese aus der materiellen Knappheit resultierenden Schwierigkeiten eine Vielzahl weiterer Belastungen auf. Es »kommen in den meisten Fällen gravierende zusätzliche Probleme hinzu, die das Familienleben und die häusliche Atmosphäre belasten und somit auch Auswirkungen auf die Muße- und Regenerationsspielräume haben dürften. Neben der häuslichen Mangelsituation spielen zusätzlich vor allem Erwerbslosigkeit, Miet- und andere Schulden, soziale Isolation, Stigmatisierung, Partnerkonflikte und Gewalt in der Familie in die Eltern-Kind-Beziehung hinein« (Chassé, Zander & Rasch 2003: 194 f.). Die Gewinnung von Unabhängigkeit gegenüber den sozioökonomischen Erschwernissen und den psychosozialen Belastungen der Armutslage, die zum sorgenvollen und bedrückenden Alltag werden, manifestieren sich immer wieder auch in der Überforderung, die eigenen Kinder in angemessener Weise zu unterstützen und zu fördern (Dangschat 1996: 168 ff.). Ebenso ist es den Eltern aufgrund kultureller Deprivation, formaler Bildung, praktischen Erfahrungswissens und der sozialen Position nicht möglich, ihre Kinder über den engen Erfahrungshorizont ihrer marginalen Lebenssituation hinaus zu begleiten und für eine ausreichende gesellschaftliche Integration zu sorgen. Erstens sind die Eltern aufgrund von persönlichen Unsicherheiten, die sich aus dem geringen sozialen Status ableiten, kaum in der Lage, als Rollenmodelle einen souveränen Umgang mit Institutionen des öffentlichen Lebens (Schule, Ämter, Vermieter, Arbeitgeber) zu vermitteln. Zweitens erfordern eine zureichende Orientierung und ein zweckgemäßes Eingreifen in gesellschaftliche Handlungszusammenhänge auch ein praktisches Umgangswissens – ob dies nun ein Bewerbungsschreiben um eine Arbeitsstelle, die erforderlichen Schritte bei der Wohnungsbewerbung oder die Beantragung von Leistungen auf einem Amt betrifft. Drittens erfahren die Kinder keine Unterstützung bei der Erledigung von Hausarbeiten, keine Förderung von lernorientierten Freizeitaktivitäten oder musischen und sportlichen Aktivitäten (vgl. Chassé, Zander & Rasch 2003: 194 f.). Dies trägt dazu bei, dass die meisten entweder keinen Schulabschluss oder nur einen unterdurchschnittlichen Hauptschulabschluss vorweisen können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die auf die Verbesserung ihrer Lebenslage am ehesten angewiesen wären, sind daher in der Konkurrenz um materielle Lebensvoraussetzungen, um Bildung und um sozialen Status zugleich am stärksten benachteiligt. Als junge Menschen stehen Kinder ihren Eltern in einem überdeterminierten Abhängigkeitsverhältnis gegenüber – emotional, materiell und all-
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tagspraktisch. Dies bringt es schließlich mit sich, dass sie sich in der paradoxen Situation befinden, von der Zuneigung und Anerkennung der Eltern als den maßgeblichen Bezugspersonen abhängig zu sein, von denen sie aber zugleich abgelehnt, übervorteilt und zurückgestoßen werden. Die familiären Probleme schieben sich derart in den Vordergrund, dass die jungen Menschen, wenn sie auf ihre Eltern angesprochen werden, vor allem über das Ausgeliefertsein an willkürliche Entscheidungen und über die ihnen zugemuteten Entwürdigungen und Erniedrigungen sprechen. Die Familie versagt als ein erstes Erprobungsfeld der Weltaneignung und der Selbständigkeit. Die Entwicklung eines Selbstwertgefühls und von Kontrollerwartungen, das heißt von Zutrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten war kaum möglich. Die Armutseffekte kumulieren in den familiären Problemen, weil es den Eltern selbst am Glauben in die eigene Stärke mangelt, an der Zuversicht in die eigenen Chancen, an einer positiven Lebensorientierung und ausreichenden Kapazitäten, sich auf die Bedürfnisse des Kindes einzulassen. Angesichts der psychosozialen Belastungen verwandelt sich das Alltagsleben in einen ständigen Kampf um Selbstbehauptung, ohne aber den sozialen Ausschluss wirkmächtig zurückdrängen zu können. Was Jessica Benjamin (1990) hier über die Mutter sagt, soll natürlich für beide Eltern gelten: »Eine Mutter, die durch ihre Isolation allzu deprimiert ist, kann sich nicht freuen, wenn ihr Kind laufen oder sprechen lernt. Eine Mutter, die sich vor anderen Menschen fürchtet, wird Angst haben, wenn sich ihr Kind mit anderen Kindern anfreundet. Eine frustrierte Mutter, die ihren eigenen Ehrgeiz und ihre Wünsche erstickt, kann sich nicht empathisch auf die Erfolge und Misserfolge ihres Kindes einstimmen. Die Anerkennung, die ein Kind braucht, kann die Mutter nur aufgrund ihrer eigenen selbständigen Identität geben« (S. 26 f.). Es scheint gerade dieses Selbstbewusstsein zu sein, dem es vielen Eltern aus sozial schwachen Schichten mangelt. So werden soziale Benachteiligungen, so unspezifisch und unsichtbar diese am Einzelfall in Erscheinung treten, von Generation zu Generation weitergegeben. Die Kinder sind schon durch die vom Elternhaus mitgebrachten Startvoraussetzungen derartig ins Hintertreffen gelangt, sodass die Wahrscheinlichkeit, sich in Konkurrenz um die begehrten Plätze in der Gesellschaft durchsetzen, sehr gering ist (Reutlinger 2003: 125). In der Regel gibt es gegenüber dem Verbleib in der Familie bis in die späte Jugend kaum eine Alternative, um den familiären Problemen zu entgehen. Die Angebote der Jugendhilfe sind nur unzureichend in der All-
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tagswelt der jungen Menschen verankert, um kurzfristig auf Belastungssituationen reagieren und ein adäquates Betreuungsangebot unterbreiten zu können (Permien & Zink 1998: 328 ff.). Ebenso gelingt es nur schwer, in professionell betreuten Sozialisationsfeldern für eine Kompensation des Verlusts primärer Bezugspersonen zu sorgen und eine stabile Sozialbeziehung aufzubauen, in der die Erfahrung des Aufgehobenseins möglich wird. Dies ist gerade umso mehr der Fall, wo eine Beziehung zu Erwachsenen, in der Anerkennung, verlässliche Unterstützung und emotionale Zuwendung erfahrbar wurden, nie kennen gelernt worden ist, sodass die jungen Menschen misstrauisch gegenüber jeden Erwachsenen eingestellt sind. Die jungen Menschen weichen dann häufig lieber auf den Lebensort »Straße« aus, als sich durch »fremde« Erwachsene in die Gestaltung eigener Belange hineinreden zu lassen.
3. Von Familienproblemen zur Exklusion Die Aufnahme einer Straßenkarriere ist bei den meisten Jugendlichen Ausdruck einer dramatischen Zuspitzung der Familiensituation, wobei Konflikte, Missachtung und Gewalt das biographische Panorama schon von Kindheit an gebildet haben. Mit der Adoleszenz bricht diese Situation auf, weil sich den jungen Menschen mit der sich erweiternden Selbständigkeit die Möglichkeit eröffnet, den beengten und bedrückenden Sozialkosmos der elterlichen Wohnung nicht weiter ertragen zu müssen. Daher muss die Flucht auf die Straße sehr wohl als kompensatorische Problemlösestrategie von Schwierigkeiten und Diskontinuitäten angesehen werden, für die vom Standpunkt des Betroffenen keine anderweitige Veränderungsperspektive mehr gesehen wurde. Durch den gesellschaftlich zugewiesenen Erziehungs- und Sozialisationsauftrag übernehmen die Eltern die maßgebliche Verantwortung für die Absicherung, Versorgung und Betreuung der Kinder. Bis zum Abschluss der Adoleszenz bedarf es eines sozialen Rahmens, der als geschütztes und abgesichertes Lern- und Entwicklungsfeld den jungen Menschen schrittweise in die gesellschaftlichen Anforderungsstrukturen einführt. Die über einen stabilen Lebenszusammenhang vermittelte Zuwendung und Anerkennung der Eltern bilden eine wesentliche Voraussetzung, dass sich der Heranwachsende in der sozialen Welt aufgehoben fühlt (Schneewind
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1991). Dagegen vollzieht sich die Hinwendung zum Lebensort Straße in den allermeisten Fällen als krisenförmiger Ablöseprozess von den Eltern, weil das soziale Beziehungs- und Versorgungssystems Familie versagt (Walper 1995: 189 f.). Die jungen Menschen flüchten sich auf die Straße, weil sie sich nirgendwo anders hinzuwenden wissen. Damit verlagert sich der Problemdruck, die Entwurzelung und die Haltlosigkeit, die im Elternhaus erfahren wurden, nun zum Bahnhof. Eine Sicherstellung aller Lebensnotwendigkeiten gelingt allein schon aus dem Grund nicht, da die jungen Menschen aufgrund ihres jungen Alters und ihrer unzureichenden Erfahrung mit der Führung eines eigenständigen Lebens überfordert sind. Der typische Verlauf einer Straßenkarriere mündet im umfassenden Verlust des Zugangs zu Lebensbereichen, die sowohl einem abgesicherten Alltag als auch einer subjektiv befriedigenden Verwirklichung persönlicher Interessen, Zielsetzungen und Zukunftspläne wesentlich vorausgesetzt sind. Mit dem Wegfall der integrativen Bindungen an gesellschaftliche Sozialräume müssen sie schließlich ihre Exklusion vom gesellschaftlichen Leben erfahren: Es wird keine sichere und dauerhafte Unterkunft gefunden; die jungen Menschen kommen von den Biographie- und Sozialisationspfaden ab, die über Schule und Ausbildung auf eine Integration in die Arbeitswelt zielen; es fehlt an eigenem Einkommen, um für das Lebensnotwendigste zu sorgen; und die sozialen Kontakte gehen mit der sozialräumlichen Einbindung verloren. Besonders aber gibt es für die Bahnhofsgänger als letzte Alternative, wenn eigene Verselbständigungsversuche und Lebensentwürfe gescheitert sind, nicht die Option, einfach wieder bei den Eltern einzuziehen, um darüber eine materielle Absicherung und eine emotionale Stabilisierung ihrer prekären Lebenssituation zu erreichen. Zugleich führen die psychischen Belastungen, die aus dem Scheitern der Beziehung zu den Eltern resultieren, zu Niedergeschlagenheit, Kränkungen und Selbstzweifeln. Aufgrund dieses Desintegrationsprozesses wird ein Wiederanknüpfen an reguläre Integrationsformen immer schwieriger. Die Schwierigkeiten, einen langfristig abgesicherten Lebenszusammenhang aufzubauen, lassen sich aber nicht in jedem Fall auf den familiären Bereich reduzieren. Die jungen Menschen erzählen von Problemen in der Schule und im Arbeitsleben. Sie werden durch Lebensentwürfe aus der Bahn geworfen, die sich nicht als realitätstauglich erwiesen haben, weil die eigenen Ansprüche und Vorstellungen weit über den Rahmen des Möglichen hinausgehen. Ebenso kann das Abgleiten ins soziale Abseits und die
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Aufnahme einer Straßenkarriere über die Verführungen der Straße erfolgen, insbesondere wenn das Risiko, das im Gebrauch von Drogen liegt, unterschätzt wird, sodass mit der Ausweitung des Konsums bald kein Ausweg aus der sich verdichtenden Misere erscheint. Dennoch ist auch in diesen Fällen eine Dynamisierung und Verstetigung des sozialen Abstiegs fast immer nur im Zusammenhang mit Vernachlässigungen, Missachtungen und Gewalterfahrung im familiären Bereich zu beobachten. Spätestens wenn die jungen Menschen am Bahnhof angelangt sind, taugt zur Erklärung des Straßen- und Bahnhofsphänomens der alleinige Verweis auf die Familienprobleme nicht mehr. Zur interpersonellen Erfahrung der Missachtung gesellt sich die Erfahrung des Scheiterns an den Institutionen der Gesellschaft. Dabei steht die biographische Hintergrundproblematik, die im sozialen Raum der Familie angesiedelt ist, in gewisser Hinsicht quer zum sozialen Ausschluss, der spätestens mit dem Eintritt in die Volljährigkeit vorherrschend wird. Die Desintegration der Lebensführung in ihren Kernbereichen – Wohnung, Arbeit, Einkommen, soziale Integration – verstärkt nur die Überlastung und Krise in den alltäglichen Bemühungen, für einen abgesicherten Lebenszusammenhang zu sorgen. Exklusion kommt darin zum Ausdruck, dass die jungen Menschen nur noch den Bahnhof haben, um sich über das Netzwerk an Sozialkontakten mit dem Notwendigsten zu versorgen. Der soziale Treffpunkt wird zu einem Ort gelebter Solidarität, weil man sich, wenn auch in gebrochenen Formen, angesichts der Betroffenheit von einem ganz ähnlichen Lebensschicksal gegenseitig weiterhilft. Sie finden hier am gesellschaftlichen Rand aber keine geeigneten Mittel vor, die Misere in grundlegender Weise zu bewältigen. Der Verlust einer weiterführenden Zukunftsperspektive führt dann schließlich dazu, dass sich die jungen Menschen umso verdrossener dem Straßenleben und den auf die Gegenwart bezogenen Möglichkeiten des Zeitvertreibs zuwenden, um dem im Gesamten problematisch gewordenen Lebenszusammenhang zu entkommen. Damit strukturieren sich die Probleme auf der Straße neu, die nun unter Fokussierung auf die Gruppe der jungen Erwachsenen entlang des Begriffs der Exklusion erörtert werden sollen.
Exklusion am Arbeitsmarkt
Im Zentrum der Exklusionsproblematik steht mit der Dreieinigkeit von Bildung-Beruf-Einkommen nach wie vor die Frage nach Arbeit (vgl. Bude & Willisch 2008; Castel 2000a; Kreckel 1985: 39). Arbeit hat eine objektive und eine subjektive Seite: Einerseits ist sie Quelle gesellschaftlichen Reichtums, andererseits spielt sie als soziale Institution eine herausgehobene Rolle für die Selbstverwirklichung des Menschen (Kieselbach & Beelmann 2006; Liessmann 2000; Jahoda 1983). Mit Blick auf das Individuum ergibt sich in der modernen Erwerbsgesellschaft die Funktion von Arbeit nicht allein aus der notwendigen Sicherung der Existenzgrundlage. Eine Arbeitsstelle zu haben, ist zur zentralen Bedingung geworden, um als Individuum im tätigen Verhältnis zur Welt zu stehen und als Bürger aktiv am sozialen Leben teilzunehmen. Erwerbsarbeit ist damit der zentrale Schlüssel zur Erlangung von Integration und Einkommen, Identität und Anerkennung und zur Behauptung von Würde und Selbstachtung (Negt 2001; Offe 1984; Tham 1999: 50). »Die Industriegesellschaft ist auch außerhalb der Arbeit in der Schematik ihres Lebens, in ihren Freuden und Leiden, in ihrem Begriff von Leistung, in ihrer Rechtfertigung von Ungleichheit, in ihrem Sozialrecht, in ihrer Machtbalance, in ihrer Politik und Kultur durch und durch eine Erwerbsarbeitsgesellschaft [Hervorheb. i. O.]« (Beck 1986: 222). Ökonomische Exklusion hat ihre Wurzeln in Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeitsmarkteinbindung. Der Ausschluss aus der Arbeitswelt ist zum bedrohlichen Schicksal geworden, da alternative Formen – subsistentielle Selbstversorgung und Eigenarbeit, soziale Unterstützung durch die Familie, informelle Produktions- und Versorgungsnetzwerke –, die bis zum 20. Jahrhundert die Sicherungsfunktion für den Lebensunterhalt mitgetragen hatten, in der arbeitsteiligen Gesellschaft ihre Bedeutung verloren haben (Kronauer 2002: 108). Für den Betroffenen hat die Außerwertsetzung seiner Arbeitskraft existentielle Konsequenzen, weil die Individualintegra-
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tion in das gesellschaftliche Leben kaum noch aufrechtzuerhalten ist, ein Herausfallen aus den materiellen Gratifikations- und moralischen Anerkennungsstrukturen droht und ein zentraler Bezugspunkt zur Sinn gebenden Alltagsgestaltung verloren geht (Siegrist 1996). Der Weg der Analyse beginnt in diesem Kapitel mit dem Aufweis der konkreten Arbeitslosigkeitsformen, in denen die jungen Menschen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind (1). Danach werden die Schwierigkeiten, der »Zone der Exklusion« zu entkommen, exemplarisch an dem Versuch eines der jungen Erwachsenen, eine Arbeitsstelle zu finden, beschrieben (2). Vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit, Strukturwandel und Rückzug des Sozialstaates werden dann die lebensweltlichen Formen herausgearbeitet, in denen sich Arbeitslosigkeit in der Lebenswelt der jungen Menschen manifestiert, wo Arbeit und Einkommen einzig in den prekären, entwerteten Peripherien der Arbeitsgesellschaft zu haben ist (3). Indem anschließend die subjektiven Wertverpflichtungen und Motivationsstrukturen in den Fokus rücken, soll gezeigt werden, dass die jungen Menschen sehr wohl an der bürgerlichen Tugend von Arbeits- und Leistungsmoral festzuhalten versuchen, wenn dies ihnen auch nur in einer sehr gebrochenen Weise möglich ist (4). Schließlich soll die besondere Dynamik und Vehemenz der ökonomischen Exklusion unter dem Begriff der »segregativen Arbeitslosigkeit« zusammengefasst werden (5).
1. Arbeitslosigkeit in der Bahnhofsszene Die Strukturierung des Lebenslaufs durch die »Normalerwerbsbiographie«, die für die Arbeitsgesellschaft, wenn auch in abnehmender Weise, kennzeichnend ist, ist in der Bahnhofsszene nicht zu finden (Vogel 2001). Erwerbsarbeit stellt sich im Fall der jungen Bahnhofsgänger vorwiegend von der auf sozialen Ausschluss weisenden Schattenseite dar. In einer globalen Skizze der Beschäftigungssituation in der Bahnhofspopulation wird allzu deutlich, dass sich die jungen Menschen auf dem positionalen Konkurrenzfeld des Arbeitmarkts nicht durchsetzen können (Böhnisch & Schröer 2004: 468; Brown & Lauder 2001). Zwar sind im Rahmen dieser Studie keine genauen Zahlen zur Verteilung der jungen Menschen auf unterschiedliche Beschäftigungsformen erhoben worden. In den Gesprächen
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können nur die wenigsten von sich behaupten, dass sie in irgendeiner Form einer Beschäftigung nachgehen. – Arbeitslosigkeit: Der Anteil derjenigen, die am »Bahnhof Zoo« von Beschäftigungslosigkeit betroffen sind, lässt sich auf über 90 Prozent schätzen. Dabei ist Arbeitslosigkeit allgemein für deutsche Straßen-, Platz- und Bahnhofsszenen als typisch anzusehen. Damit wird die Ausgliederung aus Arbeitsmarkt und Erwerbsleben zur erdrückenden Realität. Erwerbslosigkeit bedeutet, dass die jungen Menschen weder ein reguläres Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis vorweisen können, noch zur Schule gehen, um einen Abschluss nachzuholen, noch in Bildungsund Qualifikationsmaßnahmen stehen, die auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten. – Schulausbildung: Die hohe Arbeitslosigkeit korrespondiert mit einem niedrigen Bildungsniveau. Der Besuch eines auf eine höhere Schulbildung vorbereitenden Schulzweigs, der den Erwerb der Fachhochschulreife und des Abiturs eröffnen würde, liegt außerhalb des Bildungsspektrums, das den jungen Menschen offensteht. Häufiger finden sich Absolventen einer Realschule, die mit der mittleren Reife einen qualifizierten und anerkannten Schulabschluss erworben haben. Die große Mehrheit der Bahnhofsgänger hat aber lediglich die Hauptschule besucht, die jedoch nur von einem kleineren Teil mit einem Hauptschulabschluss abgeschlossen wurde. In der Bahnhofsszene haben die meisten Schulabgänger, worunter auch die wenigen Sonderschüler fallen, ein einfaches Abgangszeugnis, in dem ohne die Verleihung eines Abschlusses allein der neun Jahre währende pflichtgemäße Schulbesuch attestiert wird. Doch selbst der Hauptschulabschluss bringt in den meisten Fällen wegen des schlechten Notendurchschnitts, vieler Fehlstunden und der Wiederholung von Klassenstufen vornehmlich zum Ausdruck, dass ein erfolgreiches Anschließen an Bildungsanforderungen und Lernpensum nicht möglich war. – Berufsausbildung: Aufgrund des Umstandes, dass in unserem Bildungssystem schon ein Hauptschulabschluss kaum noch eine zukunftsträchtige Beschäftigungsperspektive eröffnet, sondern eher als Disqualifikation zu werten ist, finden sich am »Bahnhof Zoo« nur wenige, die einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Aber selbst für jene, denen es im Verlauf ihrer Bildungsbiographie gelungen ist, einen Ausbildungsplatz aus dem viel zu knappen Angebot auf dem Arbeitsmarkt zu ergattern, führt dies nur in vereinzelten Ausnahmen zum Berufsabschluss. Das
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Ausbildungsverhältnis wird in der Regel aufgrund biographischer Diskontinuitäten vor Ende der Lehre abgebrochen. Langzeit- und Dauerarbeitslosigkeit werden in der Bahnhofsszene damit zum vorherrschenden Erscheinungsbild sozialen Ausschlusses. Das Durchlaufen einer sozial normierten und institutionell gebahnten Bildungsbiographie, die auf eine Arbeitsmarktintegration zielt, ist kaum zu beobachten. Die Arbeitslosigkeit der jungen Menschen ist dauerhaft, besteht in vielen Fällen seit der Schulzeit und ist, wenn überhaupt, nur von kürzeren Episoden prekärer Beschäftigung in niedrig qualifizierten Aushilfsjob unterbrochen. Einzig die vom Arbeitsamt finanzierten Fortbildungs- oder Integrationsmaßnahmen, um Berufsausbildung oder Schulabschluss nachzuholen, haben in der Bahnhofsszene eine gewisse Bedeutung.
2. Vergeblichkeit der Arbeitssuche Sechs Jahre liegen zurück, seit Oliver von seinen Eltern abgehauen ist. Der sich ausweitende Alkohol- und Drogenkonsum hat es während dieser Zeit kaum noch möglich gemacht, für das Notwendigste wie Unterkunft, Einkommen und Wohlergehen zu sorgen. Während seine Lebenssituation kollabiert, wird er immer tiefer in den Teufelskreis von Verelendung, Krisen, Suizidversuchen hineingerissen, bis er schließlich den einzigen Ausweg darin sieht, diesen durch ein prinzipielles Umsteuern in seiner Lebensführung zu durchbrechen. »… da bin ick mit’n Alkohol jar nich mehr klar jekommen. … Da hatt ick mir jar nich mehr unter Kontrolle jehabt. … […] denn halt och diese janzen Abdreher wieder jehabt so … mit Suizid und so, also … war alleene innerhalb von … zwee Jahre sieben oder acht mal wegen Suizid drinne jewesen halt.« Zu der Zeit, zu der er mit der Arbeitsplatzsuche beginnt, liegt der »letzte Schluck aus der Flasche« schon fünf, sechs Monate zurück. Dazwischen hat er zunächst einen Alkoholentzug in einem Krankenhaus absolviert, dem sich – auf Drängen der Ärzte eine – stationäre Alkoholtherapie anschloss. Unterkunft und Betreuung hat er nach der Therapie in einem Wohnprojekt gefunden, in dem er schon zuvor lebte. Oliver steht jetzt an einer Weggablung, wo der eine Zweig in Richtung Verselbständigung abseits des Lebensorts Straße durch Einstieg in etablierte Lebensformen weist, der andere in Richtung Regression in Elend und Krise. In seinen Bemühungen,
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durch einen Neuanfang das entbehrungsreiche Leben hinter sich zu lassen, steht besonders die Suche nach einer Arbeitsstelle im Mittelpunkt. »Na ja, und denn bin ick zum Arbeitsamt hin halt wieder … und hab jesacht, so Leute, … ick// ihr müsst mir jetzt irgendwie mal helfen, ick komm nich mehr aus’m Arsch wa, ick find jetzt selber nischt mehr und ick brauch jetzt aber langsam wat, sonst komm ick nich mehr klar und werd rückfällig.« Beschäftigung und Einkommen bilden damit nicht nur in formaler Weise den zentralen Ankerpunkt für eine dauerhafte Integration in die Gesellschaft. Auch von den Bahnhofsgängern wird der Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses hohe Priorität bei der Überwindung der Misere beigemessen. Die Frage nach der Verbesserung des Integrationsniveaus und damit nach der Aufhebung der erfahrenen Exklusion übersetzt sich in der Lebenswelt der jungen Menschen in die Anforderung, eine alltägliche Lebensführung zu etablieren, die nicht mehr allein auf das jugendkulturelle Milieu der Bahnhofsszene zentriert ist. Erst durch die Übernahme einer Position und einer Funktion in der Gesamtstruktur der Gesellschaft eröffnet sich die Teilhabe an kollektiven Ressourcen, die Teilnahme am sozialen Leben und Anerkennung innerhalb etablierter Wert- und Normstrukturen. Für Oliver hat sich durch die Alkoholtherapie und die Abstinenz zwar eine unmittelbare Verbesserung von Handlungsfähigkeit und Lebensqualität ergeben. Auf lange Sicht beansprucht er aber einen Sinn und eine Aufgabe, damit sein Alltagsleben eine tragfähige Basis erlangt. Zum Leitmotiv der nächsten Bewältigungsschritte wird daher der Wunsch, »irgendetwas zu tun zu haben«, um der drängenden Langeweile, in der die unzureichende Sozialintegration am deutlichsten erleb- und spürbar wird, zu entkommen. Etwas zu tun zu haben, bedeutet für ihn, arbeiten zu gehen. Weil er auf dem ersten Arbeitsmarkt für sich keine Chancen sieht, aber mittelfristig aus der lähmenden und bedrückenden Apathie seines Alltags herauskommen will, wendet er sich an das Sozialamt mit der Bitte, dass er in eine Maßnahme für gemeinnützige Arbeit vermittelt wird. »Na ja, und denn ha’ick GZA [gemeinnützige und zusätzliche Arbeit beziehungsweise 1-Euro-Jobs] och ne Weile jemacht, … also jemeinnützige Arbeit vom Sozialamt aus, damit ick mir nich langweilen tu und so.« Die Erwartungen, die Oliver an die Arbeitsmaßnahme knüpft, erfüllen sich aber nicht. »Ja, und denn danach … hab ick jesacht, nee, hast keen Bock mehr, da für drei Mark die Stunde arbeiten zu jehn, is voll für’n Arsch so. … Und … hat mir och keen Spaß jemacht da bei die Leute ir-
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gendwie zu arbeiten ja, weil die ham jetrunken und so.« Durch die Beschäftigung als 1-Euro-Jobber ist ein Übergang in eine auf den ersten Arbeitsmarkt weisende Beschäftigung, wie etwa ein Ausbildungsverhältnis, um dem Angewiesensein auf Sozialleistungen und der marginalen Integration in die Arbeitsgesellschaft zu entgehen, nicht zu erreichen. Die 1,50 Euro, die er als Mehraufwandsentschädigung zusätzlich erhält, werden schließlich zum Stein des Anstoßes. Die Geringfügigkeit des Wertes, der seiner Arbeitsleistung beigemessen wird, wird in der Bezahlung nur zu offenbar. Keineswegs wendet er sich gegen eine ernsthafte Arbeit, sondern er lehnt allein den 1-Euro-Job ab. Sein Alltag gewinnt durch den 1-EuroJob keineswegs ein tragfähiges Fundament und eine erweiterte Integrationsperspektive, was er aber wegen der vorherrschenden Angst vor einem möglichen Rückfall in die Agonie der Straßenexistenz so vehement für sich einfordert. Neben der unzureichenden Gratifikation ist auf diesem Wege weder eine subjektiv befriedigende Aufgabe noch Anerkennung als wertgeschätztes Mitglied der Gesellschaft zu erhalten. Erst durch sein beharrliches Drängen gelingt es ihm, den Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt zu bewegen, in seiner Sache aktiv zu werden. Ihm wird eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) gewährt: »Ja, und denn ha’ick mir da beworben jehabt, … hinjejangen zum Vorstellungsjespräch allet drum und dran, … und war allet okay jewesen, hab den’ och gleich meine janze Jeschichte so erzählt halt so, och mit den janzen … Suchtjeschichten und so, … ha’ick gleich uff’n Tisch jelegt, da ha’ick jedacht, Scheiße, ((unv. Wort)) … bringt det nich oder so.« Trotz aller bei der Bewerbung aufbrechenden Zweifel an seinem Wert, wird er von der Firma für Garten- und Landschaftsbau eingestellt. Hiermit erweitert sich endlich die lang ersehnte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und dies nicht so sehr in finanzieller Hinsicht, obwohl gerade in unteren Einkommensschichten jeder zusätzliche Euro eine qualitative Verbesserung der ökonomischen Verfügungsspielraumes darstellt. Vielmehr hat er nun eine Arbeit, die in den Anerkennungsstrukturen der Gesellschaft fundiert ist und der ein eigenständiger Wert beigemessen wird, die ihm subjektive Erfüllung, Spaß und Freude bereitet, die zudem eine, wenn auch vage Aussicht auf Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bietet. Aber gerade diese Hoffnung, durch den Betrieb übernommen zu werden, erfüllt sich nicht, weshalb er nach einen Jahr wieder in der Arbeitslosigkeit steht. Er bewirbt sich nun auch aus eigener Initiative bei anderen Arbeitgebern, findet aber keine Anstellung.
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3. Peripherien der Arbeitsgesellschaft Die Situation, der die jungen Menschen auf dem Arbeitsmarkt begegnen, ist erst durch den Rekurs auf sozialstrukturelle Probleme zu verstehen. Unter dem Schlagwort »Krise der Arbeitsgesellschaft« (Matthes 1983) ist Arbeitslosigkeit zwar im wissenschaftlichen Diskurs schon lange ein Thema. Ursachen und Konsequenzen sind aber erst mit deutlich zeitlicher Verzögerung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen (vgl. etwa Hurrelmann & Albert 2006; Rifkin 1996; Beck 2007). Seit spätestens der siebziger Jahren ist in Deutschland das Auftreten von Massenarbeitslosigkeit zu beobachten, deren hohes Sockelniveau auch während konjunktureller Aufschwungphasen nicht mehr in Richtung Vollbeschäftigung absinkt. »Unternehmen sind offensichtlich immer weniger bereit, den sozialen Frieden dadurch zu stützen, daß sie um der Beschäftigung weniger produktiver Arbeitskräfte willen nur zurückhaltende Gewinnmargen erwirtschaften« (Ludwig-Mayerhofer & Barlösius 2001: 18). Der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft bedeutet für die Menschen, dass mit dem Abbau von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen die Gefahr der Arbeitslosigkeit bis in den Mittelstand hinein wächst. Die klassischen Erwerbsbiographien, die eine sichere Anstellung vom Eintritt in den Arbeitsmarkt als junger Mensch bis hin zur Pensionierung im Rentenalter garantierten, werden zum erinnerungswürdigen Relikt vergangener Zeiten. Auf dem engen Arbeitsmarkt haben neben anderen Risikogruppen – alleinerziehende Mütter, ältere Arbeitnehmer, Migranten – insbesondere auch Jugendliche mit eklatanten Einstiegs- und Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen (Blossfeld et al. 2006; Arnold 2002). Aufgrund von Massenarbeitslosigkeit und Konkurrenzdruck werden bisher anerkannte Bildungsabschlüsse entwertet, die Forderung nach bereits erworbener Arbeitserfahrung wird zur Barriere für den Berufseinstieg und die vom Arbeitgeber gesetzten Leistungsstandards fordern vom Bewerber eine immer stringentere Ausrichtung des Persönlichkeits- und Lebenslaufprofils auf Arbeit und Karriere (Schäfer 2007: 196 f.; Hurrelmann, Linssen, Albert & Quellenberg 2002: 34). Die jungen Menschen aus der Bahnhofsszene sind hier am gesellschaftlichen Rand kaum in der Lage, sich um die knappen Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu behaupten. Es mangelt ihnen mit den geforderten Bildungszertifikaten schon an ganz grundsätzlichen Wettbewerbsvoraussetzungen, die nicht nur zur Erlangung interessanter und anspruchsvoller Ar-
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beitstätigkeiten unabdingbar sind, sondern die dazu notwendig wären, selbst eine reelle Chance auf eine schlichte Anstellung in den neofeudalen Dienstleistungsjobs im Niedriglohnsektor, den prekären Jobs im unteren Klassensegment zu haben. Die Erwerbsarbeit stellt zwar noch die Zentralbedingung für die Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar, wirkt aber angesichts der strukturellen Massenarbeitslosigkeit, der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und des Rückzugs des kompensatorisch wirkenden Sozialstaats zunehmend anstatt als Integrationsleitmodell eher als Exklusionsmaschinerie. Gerade die Angehörigen der Bahnhofszene müssen sich auf dem Konkurrenzfeld des Arbeitsmarkts ganz hinten in die lange Schlange der Arbeitssuchenden einreihen, ohne hier noch eine Chance bei der Verteilung der knappen Arbeitsplätze zu haben. Obwohl ihnen unter dem Dogma der Leistungsideologie versprochen wird, dass alle Wege in die Gesellschaft über Erwerbsarbeit führen, herrscht unter ihnen die erfahrungsgesättigte Gewissheit ihrer weitgehenden Chancenlosigkeit vor.
Peripherbereiche marginaler Arbeitsmarktintegration Wenn auch einige Jugendliche am Bahnhof eine Schule besuchen, eine Ausbildung absolvieren oder eine Berufstätigkeit ausüben, dann bedeutet dies jedoch keineswegs, dass damit der prekären Berufssituation ein für alle Mal entkommen ist. Aufgrund der unzureichenden Bildungszertifikate und Qualifikationen ist ein erfolgreicher und dauerhafter Übergang in eine Erwerbstätigkeit zwar nicht unmöglich, aber angesichts der restriktiven Opportunitätsstruktur auf dem Arbeitsmarkt sehr unwahrscheinlich. Die Aufnahme einer Normalintegrationsbiographie ist unter den Bahnhofsgängern nur in ganz seltenen Ausnahmefällen zu beobachten. Die Schärfe der ökonomischen Exklusion lässt sich besonders prägnant anhand der Chancenlosigkeit illustrieren, von der selbst diejenigen betroffen sind, die mit Aspiration und Engagement dazu drängen, durch die Aufnahme einer Arbeitsstelle am gesellschaftlichen Integrationsmodell teilzuhaben. Das »Glück des Tüchtigen« stellt sich auch bei ihnen nicht ein, weil ihre Ambitionen aufgrund von strukturellen Barrieren ins Leere laufen. Denn selbst jene Felder des Arbeitsmarktes, in denen die jungen Menschen gelegentlich unterkommen, gehören der Peripherie unserer Gesellschaft an. Die jungen Menschen arbeiten wenn überhaupt vorwiegend als angelernte Aushilfe im Baugewerbe, bei Möbeltransportfirmen, Fahrbetrieben,
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Fuhrunternehmen, Callcentern, als Restaurantbedienung oder Küchenhilfe, Austräger von Werbeprospekten et cetera. Die Rahmenbedingungen der Arbeitstätigkeiten sind in diesen Branchen schlecht. Das Einkommen ist gering und liegt nur wenig über dem, was als Existenzminimum in Höhe des Arbeitslosengelds II gewährt wird. Weil jeder zusätzliche Verdienst abzüglich eines Freibetrags von 90 Euro bei der Berechnung der Sozialleistung berücksichtigt wird, ergibt sich aus einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor eine nur geringe Verbesserung des Lebensstandards. Dennoch würden einige der jungen Menschen – wie etwa Oliver – eine geringe Bezahlung vorübergehend in Kauf nehmen, wenn sich daraus ein reguläres Beschäftigungsverhältnis ergeben würde, schon allein deshalb, um etwas Sinnvolles und Anerkanntes zu tun zu haben. Die Arbeitsbedingungen werden aber auch aufgrund der allgemeinen Arbeitsanforderungen und -belastungen als unzumutbar erfahren. Bei den nur eine geringe Qualifikation beanspruchenden Aushilfstätigkeiten handelt sich in der Regel um monotone, einförmige Arbeit, die wenig Abwechslung und keine Herausforderungen bieten, die über das Geldverdienen hinaus Interesse und Ambitionen wecken könnten (vgl. Burger & Seidenspinner 1979: 14 ff.). Vielmehr reduzieren sich die zu erbringenden Aufgaben auf körperlich strapazierende Hilfsarbeiten. Und auch beim Leistungspensum wird nur wenig Rücksicht auf Kondition und Konstitution des Arbeitsnehmers genommen. Hüseyin: »Aber war mir su anstrengend, da bei … zweiendreißig Grad in der Hitze … ganzen Gerüst sauber machen und … Zementsäcke und SCHUTT da runtertragen und so. … Ja, un dann// … d’e meinten auch äh f// ›So einen wie dich könn’ we nich gebrauchen. Also wir brauchen schon Leute, die richtig ANpacken können.‹« Durch die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit wird der schon auf der Straße nur mühsam behauptete Selbstwert aufgrund von Entwürdigungen und Demütigungen bedroht, die nur wieder zeigen, dass man in der Erwachsenenwelt nicht viel zählt. Im Arbeitsalltag müssen die jungen Menschen erfahren, dass sie als Niedriglohnjobber neben der Willkür des Chefs auch der Gängelung und der Missachtung der Kollegen ausgesetzt sind. »Schutt abladen, Zementsäcke tragen und Gerüst sauber machen« bedeutet, als Handlanger auf der Arbeitsstelle in der Hierarchie ganz unten zu stehen. Wegen der Überforderung ihres physischen und motivationalen Leistungsvermögens brechen die jungen Menschen diese Tätigkeiten daher häufig nach kurzer Zeit wieder ab. Aber auch andersherum sind sie mit dem Dilemma konfrontiert, dass sie, gerade weil die angelernten Arbeiten
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für jedermann offenstehen, schon bei der geringsten Unzufriedenheit des Arbeitgebers ohne Probleme zu ersetzen sind – sodass etwa auch Hüseyin seine Beschäftigung schon nach kurzer Zeit wieder verliert. Angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Strukturwandel haben bei der Berufswahl eigene Interessen, Fähigkeiten und Wünsche keine Bedeutung. Es bleibt gar nichts anderes übrig, als sich mit dem knappen Angebot an angelernten Aushilfstätigkeiten zu begnügen, die weder Ausbildung noch Berufserfahrung voraussetzen. Schon die Arbeitssuche wird zur beschämenden Erfahrung, weil trotz lauterer Absichten bald festgestellt werden muss, dass für die angebotene Arbeitskraft kein Bedarf besteht. Anhand jeder weiteren erfolglosen Bewerbung verdeutlicht sich aber nicht allein die objektive Aussichts- und Chancenlosigkeit. Zutrauen und Selbstbewusstsein werden viel stärker noch aus der Balance gebracht, weil der Lebenslauf als ehemaliger »Junkie«, »Stricher«, Bahnhofsgänger, Heimkind und Psychiatriepatient gegenüber allgemein anerkannten Moralvorstellungen, wie Leistungsbereitschaft und Rechtschaffenheit, kaum zu rechtfertigen ist. Auch beim Vorstellungsgespräch muss befürchtet werden, dass sich hier die eigene Herabsetzung und Stigmatisierung nur weiter fortsetzt, sodass eine fortgesetzte Beschädigung der eigenen Identität droht (etwa hierzu auch Kronauer, Vogel & Gerlach 1993: 175 ff.). Aus den Bemühungen um einen Arbeitsplatz ergibt sich in den meisten Fällen auch aus einem anderen Grund keine dauerhafte Integrationsperspektive, indem diese von ihrem Arbeitgeber getäuscht und betrogen werden. Jens, ein 19-jähriger Bahnhofsgänger, erzählt mir freudig in einem Gespräch auf der Jebenstraße, dass er nächste Woche im Callcenter beginnen werde, was er der Vermittlung eines Freundes, der dort auch arbeitet, zu verdanken habe. Als ich ihn das nächste Mal am Bahnhof treffe, beklagt er sich darüber, dass ihm zwar die Arbeit Spaß mache, aber die Ausfertigung des Arbeitsvertrages auf sich warten lasse, zudem habe er trotz der Vereinbarung wöchentlicher Auszahlungen bisher kein Gehalt erhalten. Drei Wochen später wurde ihm, wie er meint, unter fadenscheinigen Gründen gekündigt, ohne das »verdiente« Geld erhalten zu haben. Der hoffnungsfrohe Ausflug in die Arbeitswelt hat damit ein unverhofftes Ende gefunden. Weil der Arbeitsmarkt auch dann noch verschlossen bleibt, wenn die jungen Menschen mit Nachdruck das Ziel ansteuern, durch anständige Arbeit ehrliches Geld zu verdienen, kehren sie immer wieder dorthin zurück, von wo aus sie aufgebrochen sind, zur Straße. Hier wissen sie sich
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zumindest durchzuschlagen und zu behaupten. Mehr noch aber hat der missglückte Ausflug in die entfernt stehende, wagnisvolle Arbeitswelt nur die Resignation weiter vertieft, dass es sich angesichts der geringen Erfolgsaussichten ohnehin nicht lohne, eine Lebensführung abseits der Straße anzustreben, genauso wie die Überzeugung gefestigt, dass der Gruppe der Überflüssigen nicht zu entkommen sei, weil man ›so einen wie ihn nicht gebrauchen kann‹.
Schule und Ausbildung als Sackgasse Ebenso wenig können die wenigen Fälle, in denen eine Schul- oder Berufsausbildung aufgenommen wird, als überzeugende Beispiele dafür dienen, dass sich auf diesem Wege Integrationschancen auf dem ersten Arbeitsmarkt eröffnen. Unter den verschärften Konkurrenzbedingungen auf dem Arbeitsmarkt ist selbst mit einem mittleren Schulabschluss, der heutzutage zur Mindestnorm geworden ist, die Aussicht auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz im dualen System des ersten Arbeitsmarktes gering, gerade wenn es um attraktive und zukunftsträchtige Berufsfelder geht (vgl. Imhäuser & Rolff 1992). Bei den Bahnhofsgängern handelt es sich aber meistens um den zweiten Bildungsweg, auf dem sie ihre Chancen in der Arbeitswelt durch den Erwerb formaler Bildungszertifikate zu verbessern versuchen. Nach einer Beratung beim Arbeitsamt hat auch Sabine sich entschlossen, wieder zur Schule zu gehen. Weil sie, wie die meisten jungen Menschen in der Bahnhofsszene, nach Beendigung der Schulpflicht nun zu alt ist, um auf eine reguläre Schule zu gehen, besucht sie eine durch das Jugendamt geförderte Bildungsmaßnahme. Sabine war zuvor auf einer Sonderschule und hat diese ohne Abschluss mit einem einfachen Abgangszeugnis beendet. In einer Ganztagsklasse an einer Volkshochschule bereitet sie sich gegenwärtig auf den Besuch der Hauptschule vor. Innerhalb eines Jahres soll sie sich den dazu vorausgesetzten Schulstoff erarbeiten, um im zweiten Jahr den Hauptschulabschluss zu absolvieren. Die Anfangsmotivation ist hoch, weil sich endlich eine Perspektive auf eine grundsätzliche Verbesserung der Zukunftsperspektiven bietet. Zugleich eröffnet sich die Aussicht, sich dem Stigma zu entledigen, als Sonderschülerin ohne Schulabschluss dazustehen. Sabine ist jedoch nach wenigen Monaten, nachdem erste Probleme in der Schule aufgetaucht sind, wieder entmutigt und zweifelt daran, ob sie jemals den Hauptschulabschluss schaffen wird. Die Überforderungen
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durch schulische Anforderungen verbinden sich mit Problemen und Diskontinuitäten im privaten Bereich. In dem pädagogischen Wohnprojekt, wo sie zu der Zeit ihres Schulbesuchs lebt, kommt es zu Konflikten mit den Betreuern, weil gemäß der Hausordnung ihr Freund, der selber wohnungslos ist, nicht bei ihr übernachten darf. Aus diesem Grund hält sie sich nur noch selten im Wohnprojekt auf, übernachtet zusammen mit ihrem Freund stattdessen bei einer Freundin. Seitdem fällt es ihr schwer, morgens pünktlich aufzustehen, sodass sie häufig zu spät in die Schule kommt. Weil durch das ungeregelte Alltagsleben ein kontinuierlicher Schulbesuch nicht möglich ist, kommt es schließlich zum Abbruch der Bildungsmaßnahme. Aufgrund der Ungewissheit, die über dem weiteren beruflichen Werdegang schwebt, aber auch, weil die jungen Menschen bisher nur das Scheitern ihrer Bildungsambitionen erfahren haben, werden Berufsvorbereitungsmaßnahme und Hauptschulabschluss zu einem äußerst ambitionierten Projekt. Angesichts der krummen Biographien, in denen es nur sehr unzureichend gelungen ist, die eigene Lebensführung auf langfristige Ziele zu eichen, muss die subjektive Wahrscheinlichkeit auf einen Durchbruch und Erfolg auch hier sehr gering erscheinen. Der Zeitraum von zwei Jahren, die Sabine für das Nachholen des Hauptschulabschlusses benötigt, ist im Hinblick auf eine Lebensplanung, die der Tagtäglichkeit der Gegenwart verhaftet bleibt, kaum zu überschauen. Zudem müssen nach Durchlaufen der Integrationsmaßnahme selbst diejenigen Absolventen, die bis dahin erfolgreich mithalten konnten, feststellen, dass sie noch nicht einmal eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können, die allein dauerhaften Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnen würde. Anfang zwanzig müssten sie drei weitere Jahre investieren, um sich ernsthafte Hoffnungen auf eine qualifizierte Arbeitsstelle machen zu können. Aber nicht nur die subjektiven Zeithorizonte, sondern auch die objektive Möglichkeitsstruktur lässt jene Zielperspektive, die dem Motivationssystem zugrunde zu legen wäre, allein in Form der Ungewissheit und Zweifelhaftigkeit der eigenen Zukunftsaussichten auftreten. Denn die Integrationsmaßnahmen selbst tragen schon zur Stigmatisierung bei. Für den Arbeitsgeber dokumentiert sich, durch das Amtssiegel offiziell beglaubt, allein das bisherige Scheitern der Jugendlichen, die sich für diese Bildungsprogramme nur deshalb qualifiziert haben, weil sie die Leistungskriterien einer modernen Arbeitswelt grundlegend verfehlen. Die Grundübel der strukturellen Erwerbskrise, der objektive Mangel an Ausbildungs- und Beschäftigungsstellen auf dem ersten Arbeitsmarkt, lässt
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sich durch solche arbeitmarktpolitischen Förderungsprogramme nicht beheben. Der Übergang in eine ordentliche Berufsausbildung würde in fast unrealistischer Weise voraussetzen, dass die jungen Menschen, vom Lebenswandel und Stigma der Zugehörigkeit zur Straßenszene gezeichnet, im Bewerbungsprozess an denjenigen vorbeiziehen, die aufgrund gradliniger Bildungs- und Erwerbsbiographien die vorderen Plätze beim Rennen um die zu geringe Anzahl an Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnissen innehaben. Die jungen Menschen werden dagegen in den Warteschleifen der Bildungsmaßnahmen »zwischengeparkt«, ohne ihnen – angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage – eine zukunftsweisende Exit-Perspektive aus der Misere bieten zu können (vgl. Schäfer 1997: 350 f.). Anstatt dass die Beschäftigungsmöglichkeiten auf die persönlichen Möglichkeiten der jungen Menschen zugeschnitten sind, damit diese von der Arbeitsgesellschaft nicht abgekoppelt werden, sind ihre Chancen auf eine Arbeitsstelle so lange aussichtslos, wie diese nicht den Leistungsanforderungen und Qualifikationsansprüchen des Arbeitsmarktes genügen (Böhnisch, Schröer & Theirsch 2005: 177). Die objektive Möglichkeitsstruktur des Arbeitsmarktes, in der sich die jungen Menschen vorfinden, wird über das alltägliche Handlungsfeld schließlich wie bei Tobias als in sich gebrochener Motivationszusammenhang internalisiert, sodass eine bessere Berufsqualifikation nicht mehr als lohnenswert angesehen wird. »Ich mein, Ausbildung is zwar schon WICHtig für … äh die Zukunft un so, aber … ich glaub, dass ich’s nich AUShalten würde die drei Jahre.«
Abseits des Arbeitsmarktes: 1-Euro-Jobs Wenn nun jemand von den Bahnhofsgängern doch in Arbeit steht, dann fast ausschließlich außerhalb des Arbeitsmarktes als 1-Euro-Jobber. Einmal der Gruppe der Überflüssigen und Disaffilierten zugeordnet, ist dieser misslichen, entwerteten Statusposition offenbar kaum noch zu entgehen. Einerseits sind die jungen Menschen, die vor der Änderung der Sozialgesetzgebung Sozialhilfe, seit dem Inkrafttreten des neu gefassten Sozialgesetzbuchs Arbeitslosengeld II beziehen, dazu verpflichtet, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu verdienen. Dabei steht der Sozialleistungsträger in der Pflicht, »zusätzliche Arbeitsgelegenheiten« für Hilfesuchende zu schaffen, die keine Aussicht auf eine erfolgreiche Vermittlung in ein reguläres Arbeitsverhältnis haben (§ 16, Abs. 3 SGB II). Die Verweigerung der Annahme dieser Arbeitsgelegenheiten führt zu Leistungskürzun-
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gen bis hin zum gänzlichen Verlust des Rechtsanspruchs auf Sozialleistungen (§§ 31, 32 SGB II). Diese »Hilfe zur Arbeit« war gemäß der Intention des Gesetzgebers zunächst als »subsidiäres Instrument« eingeführt worden, das lediglich in Ausnahmefällen eingreifen sollte, um Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten bei der (Re-)Integration auf dem Arbeitsmarkt zu unterstützen (Adamy & Steffen 1998: 97). Die sozialpolitische Akzeptanz des scheinbar Unvermeidbaren, des strukturellen Arbeitsplatzmangels, bringt auch für die »Hilfe zur Arbeit« einen paradigmatischen Funktionswechsel mit sich. Anstatt Integration in den ersten Arbeitsmarkt wird der Aufbau eines kommunalen Niedriglohnbereichs mit einfach strukturierten Arbeitsplätzen betrieben. Die Anerkennungsformen der Arbeitsgesellschaft werden in diesen Beschäftigungsverhältnissen auf den Kopf gestellt. »Arbeit – und das ist neu – wird gespalten: in herkömmliche anerkannte Erwerbsarbeit, die – in Deutschland eng mit der Berufsvorstellung verbunden – auf Lebenssinn und Lebenserfüllung abzielt, und Arbeit um der Arbeit willen, die auf die Ordnung der Lebensführung und deren öffentliche Kontrolle abzielt« (Böhnisch & Schröer 2002: 80). Unter den Bahnhofsgängern hält man sich nicht zurück, sich auf Kosten derer einen Spaß zu machen, die auf Anweisung ihres Sachbearbeiters in eine gemeinnützige Arbeit vermittelt worden sind. Keineswegs wird dies als Hilfestellung zur Wiedereingliederung auf dem Arbeitsmarkt, sondern als persönliche Gängelung, als Affront des Sacharbeiters angesehen. Schlagworte wie Behördenwillkür, Zwangsarbeit und Freiheitsberaubung machen die Runde. Anstatt eine Anerkennung für die erbrachte Arbeitsleistung, was sich auch in einem angemessenen Einkommen widerspiegeln müsste, zu erhalten, haben 1-Euro-Jobs vor allem die Bedeutung, von dem Leistungsbezieher den Beweis dafür abzuverlangen, dass die permanent in der Öffentlichkeit in Zweifel gezogene Redlichkeit und Berechtigtheit der Inanspruchnahme der bezogenen Sozialleistungen außer Frage steht. Der zugrunde liegende Vorwurf lautet: Wer Geld vom Sozialstaat bekommt, soll auch arbeiten. Dementsprechend wird die »Hilfe zur Arbeit« im Behördenalltag zunehmend zum Prüfungs- und Disziplinierungsmittel der Ausgeschlossenen, die sich schon mit zuvor gekränktem Selbstbewusstsein auf den Behörden melden, hier aber mehr noch die Redlichkeit der Inanspruchnahme ihres Sozialleistungsanspruchs konsequent in Frage gestellt sehen müssen.
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Daher sehen sich die Bahnhofsgänger erst gar nicht in die durch die Bürokratie erlassenen Entscheidungen einbezogen, fühlen sich vielmehr an die uneingeschränkte, selbstherrliche Macht des Sachbearbeiters ausgeliefert, müssen sich aber angesichts der drohenden Streichung der laufenden Sozialleistungsbezüge schließlich doch der Vermittlung in 1-Euro-Jobs fügen. Die Arbeitstätigkeiten werden am Bahnhof immer wieder als »reine Beschäftigungstherapie« bezeichnet, was insofern auf eine sachliche Grundlage weist, weil nach dem Gesetz durch zusätzliche Arbeitsgelegenheiten keine regulären Beschäftigungsverhältnisse ersetzt werden dürfen. Dietrich, ein fünfundzwanzigjähriger Bahnhofsgänger, der für drei Wochen auf einem Abenteuerspielplatz arbeitet, erzählt, dass er dort nur selten etwas Sinnvolles zu erledigen hat, sodass er den Tag über die meiste Zeit herumsitzt und sich langweilt, ab und zu von seinem Chef, der ihn nicht leiden kann, Anweisungen erhält, die sich auf reine Handlangertätigkeiten beschränken. Aber, so sagt er, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als jeden Tag wieder dorthin zu gehen, um nicht die Sozialleistungen gestrichen zu bekommen, auch wenn es nichts zu tun gibt. Und auch die Erfahrung von Oliver verweist darauf, dass durch die leere Betriebsamkeit in den 1-EuroJobs Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft eher gebrochen werden, als dass diese ein Feld der Betätigung und Entfaltung bieten.
4. Informelle Beschäftigungsfelder Türdrücker und Sexarbeit Vorwiegend sind es die informellen Sektoren der Arbeitswelt, in denen überhaupt eine Chance besteht, auch von der Straße aus ein eigenes Einkommen zu erzielen. Von den Arbeitsämtern ist angesichts des allgemeinen Mangels freier Arbeitsstellen keine Unterstützung bei der Jobvermittlung zu erwarten. So bleibt vor allem der Anzeigenmarkt in den Boulevardzeitungen, die auch am Bahnhof gerne gelesen werden, um sich auf die Suche zu machen. Insbesondere stoßen die jungen Menschen dort auf die fragwürdigen Annoncen des informellen Arbeitsmarktsektors, wo ihnen zwar viel Geld versprochen wird, aber das Interesse an ihrer Arbeitskraft allein darin besteht, sich an ihnen abseits von Sittlichkeit und Arbeitsrecht zu bereichern. Die illusorischen und phantastischen Versprechungen, durch die sie geködert werden, werden wegen der allgemeinen Unvertrautheit mit der Arbeitswelt
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freimütig geglaubt. Es berichtet am Bahnhof immer wieder jemand, dass er bald bei einer großen Firma im Vertrieb anfangen, viel auf Geschäftsreisen unterwegs sein und, wenn er sich anstrengen und bewähren sollte, leicht, wie viele andere seiner zukünftigen Arbeitskollegen, zwei-, dreitausend Euro im Monat verdienen werde. Die jungen Menschen finden sich dann bald in einer Drückerkolonne wieder, wo sie von Stadt zu Stadt ziehen, um an Haustüren Verträge abzuschließen, in den Innenstädten Spenden für gemeinnützige Organisation zu akquirieren oder auf Diebestour zu gehen. An Frauen wenden sich dagegen jene mehrdeutigen Inserate, die eine erfolgreiche Karriere mit vielen interessanten Kundenkontakten versprechen, wobei von der Bewerberin als einzige Qualifikation erwartet wird, dass sie offen und ungehemmt auf ihre Mitmenschen zuzugehen weiß. In solchen Inseraten werden allein Jobs in den unterschiedlichsten Branchen des SexBusiness angeboten. Die jungen Menschen lassen sich, wenn sie erst einmal die in den Boulevardzeitungen angegebene Telefonnummer kontaktiert haben, nicht mehrmals bitten, doch umgehend auf ein Bewerbungsgespräch vorbeizukommen. Ohne sich bei der Arbeitssuche bisher Hoffnungen gemacht zu haben, steht nun inmitten der organisierten Trostlosigkeit der ökonomischen Exklusion auch für sie ein Job in Aussicht. Die unrealistischen Einkommensversprechungen werden genauso wie die vagen, unklaren, aber reizvoll ausgeschmückten Aufgabenbeschreibungen freimütig geglaubt. Das Bekunden von Misstrauen und Ungläubigkeit würde dagegen heißen, schon im Vorhinein davon ausgehen zu müssen, dass die enthusiastischen Versprechungen, die ihnen gemacht werden, nichts anderes sein können, als ein arglistiger Täuschungs- und Betrugsversuch. So klammern sie sich an das erste und einzige Jobangebot, das sie erhalten haben, umso mehr, weil sie sonst in der Gesellschaft ihre Wertlosigkeit erfahren müssen. Ebenso wird von den jungen Menschen berichtet, dass sie, einmal in die Fänge dieser Organisationen geraten, massiv unter psychischen Druck gesetzt werden, Drogen erhalten, vielfach handfeste Gewalt ausgeübt wird, um sie zum Bleiben und Arbeiten zu bewegen. Für andere werden die Drückerkolonnen und bandenförmigen Organisationen zu einer Art von Ersatzfamilie, weil sie dort das erste Mal in ihrem Leben erfahren, dass ihnen ein fester Platz auf den schwankenden Planken ihres Lebens geboten wird. Für das Gefühl der Aufgehobenheit und Anerkennung tauschen sie willfährig die Isolation, Verlorenheit und Härte ein, die sie sonst in ihrem Alltag erfahren, und nehmen eine Zeitlang die Unfreiheit und den Zwang
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zur Arbeit hin. Als Ausweg aus dieser ambivalenten Konstellation bleibt oftmals nur das Wagnis einer abenteuerlichen Flucht.
Das »schnelle Geld« auf dem Straßenstrich Eine zweite, zumindest unter dem Geldaspekt lukrative Möglichkeit, das Einkommen aufzubessern, findet sich in der Prostitution. Dabei handelt es sich um die klassische Tätigkeit im informellen Dienstleistungsgewerbe. Am Vormittag prostituieren sich in der Jebenstraße, dem Männerstrich, vor allem diejenigen, die auf das Geld zur Beschaffung von Drogen angewiesen sind, um durch Rausch und Sedation der zunehmenden Nüchternheit und den einsetzenden Entzugssymptomen zu entgehen. So etwa auch Oliver: »hab ick mir mein Geld wirklich nur für Drogen und Alkohol einjeteilt wa […] Da war// hat’s wirklich immer so gereicht so, … da haste von een Tach uff’n andern jelebt.« Ab dem Nachmittag mischen sich unter die Drogenkonsumenten, die nach dem ersten Freier zumeist erst einmal wieder verschwunden sind, dann auch die anderen Bahnhofsgänger. Der lose Zeitvertreib am Bahnhof wird von vielen zugleich als Gelegenheit zum »Anschaffen-Gehen« genutzt. Durch das Aufbessern der knappen Finanzen wird es auch ihnen möglich, an einem Konsumstandard teilzuhaben, der ihnen sonst verschlossen bleibt. Dazu sagt Sven: »Weil// weil ich’s eigentlich gewohnt bin, so ganz viel Geld in der Hand zu haben und das an eim’ Tag auszugeben und für’n nächsten Tag schaff ich wieder neues Geld an, so bin ich’s eigentlich gewohnt.« Schließlich wird der Strich für diejenigen zur unentbehrlichen Einkommensquelle, die von den Sozialbehörden abgewiesen worden sind und ihren Anspruch auf Sozialleistungen nicht durchzusetzen wissen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – wie dies eine Zeitlang bei Frederik der Fall war: »… hab versucht, irgendwie … über Arbeitsamt, Sozialhilfe … einigermaßen festen Fuß zu fassen. … Aber … ging nicht. Ähm … von Sozialamts … tante kam dann so der nette Satz: ›Na ja, dann gehen Sie doch einfach wieder anschaffen.‹« Durch das nahtlose Ineinanderübergehen von Bahnhofsszene und Stricherszene sind die Zugangsschwellen gering. Die Prostitution ist allein schon aufgrund der weiten Verbreitung ein ganz selbstverständlich ausgeübtes Gewerbe. Wenn man jung ist, sich einen festen Kundenstamm an Freiern aufgebaut hat, sich in den Preisverhandlungen abgeklärt und geschickt erweist und den Körper nicht leichtfertig für den »nächsten Schuss« verkaufen muss, dann lässt sich auf dem Straßenstrich weit über zweitau-
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send Euro im Monat verdienen. Der Kontakt zu den Freiern stellt sich über die eigenen Freunde ganz ungezwungen her, die sich ohne weiteres dazu bereit erklären, eine kurze Einweisung in die hier üblichen Geschäftspraktiken zu geben. Ebenso kommt der Entscheidung, das schnelle Geld auf der Straße zu machen, entgegen, dass der Berliner Straßenstrich für schwule Männer gleich auf der Hinterseite des Bahnhofsgebäudes auf der Jebenstraße zu finden ist. Zuhälter, die ihre Claims untereinander abstecken, finden sich hier genauso wenig wie feste Organisationsstrukturen, in denen die jungen Menschen ihre Geschäfte abwickeln. Jeder arbeitet auf eigene Kasse und kümmert sich nur wenig um die Angelegenheiten der anderen. Zu den Freiern besteht ein lockerer Kontakt, von denen man sich, auch ohne geschäftliche Ambitionen zu verfolgen, schon einmal zum Kaffee einladen lässt, um sich in einem der Bistros beim unverbindlichen Gespräch gemeinsam die Zeit zu vertreiben. Komplementär zur Jebenstraße findet sich der Straßenstrich, auf dem die Frauen, wie man im Szenejargon sagt, »ackern« gehen, in der Kurfürstenstraße, auch als »Berliner Babystrich« bekannt. Wenige arbeiten in festen Establishments, weil die Prostitution für die Bahnhofsgänger weniger ein Beruf ist, den sie ausüben, sondern eher eine desolate Gelegenheit zum Nebenverdienst ist beziehungsweise sich aus der täglichen Notwendigkeit zur Drogenbeschaffung begründet. Die guten Verdienstmöglichkeiten, die in den Peripherien der Arbeitsgesellschaft, den informellen Dienstleistungsgewerben, geboten werden, müssen mit zum Teil großen Gefahren für Leib und Leben in Kauf genommen werden. Das Geld ist nicht ohne das Risiko einer HIV-Infektion, der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten, einer Vergewaltigung und psychischer Folgekosten zu haben. Die jungen Menschen sind sich dessen sehr bewusst. Oliver: »Und beim Anschaffen halt det krasse (jewisse) Risiko und die Angst haben, damit du irgendwie verjewaltigt wirst halt ne.« Im Alltag aber lassen sich die Ängste leicht verdrängen, weil die Erfahrung lehrt, dass es in den allermeisten Fällen gut geht. Aber umso länger die jungen Menschen »anschaffen gehen« und umso desolater infolge exzessiven Drogenkonsums ihre finanzielle Situation wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die verdrängten Ängste als erschütternde, traumatische Wirklichkeit manifestieren, die nicht mehr rückgängig zu machen ist – wie im Fall von Frederik: »Ne wirkliche schlechte Erfahrung, die ich äh … gemacht hab, … das war die Vergewaltigung … vor … ja, letzten Sommer.« Sich an den geltenden Werten und Normen der Wohlan-
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ständigkeit und Moralität zu orientieren, aber auch keine Risiken für die physische und psychische Gesundheit einzugehen, würde auf der anderen Seite aber bedeuten, die wenigen Möglichkeiten zum Geldverdienen, die in der Straßenökonomie bestehen, leichtfertig auszuschlagen.
Betteln als Zurschaustellung des eigenen Elends Durch Betteln lässt sich gerade hier inmitten der Innenstadt immer die knappe Kasse aufbessern. Lukrative Orte sind wegen der hohen Frequenzdichte an Passanten speziell die umliegenden Ein- und Ausgänge der Uund S-Bahnen. So erzählt Franziska: »Latsch mal kurz runter in die UBahn ((lacht kurz auf)) und dann anfangen zu schnorren so. … Und dann is// also … vom Breiti [Breitscheidplatz in direkter Nähe zum »Bahnhof Zoo«] aus hab ich das das erste Mal gemacht. … Und dann dacht ich mir so, hey, könnt sich ja lohnen. Na, und dann hab ich die besten Schnorrplätze den meisten immer weggenommen.« Die permanente Ressourcenknappheit bringt die jungen Menschen, wie schon auf dem Straßenstrich, in Konkurrenz zueinander. Auf die »besten« Plätze werden Ansprüche erhoben, die, wenn die Invasoren nicht zu den Angehörigen der eigenen Freundesclique gehören, auch durch ruppige Drohungen, selten aber unter Anwendung von Handgreiflichkeiten verteidigt werden. Das Betteln, so einfach diese Tätigkeit auszuüben ist, zeichnet sich jedoch durch einen großen Nachteil aus. Oliver: »Na, leicht is et nich, … weil … det Jeld zusammenzuschnorrn det dauert seine jewisse Zeit, wa.« Als »Gelegenheitsschnorrer« lässt sich das Geld für eine Packung Zigaretten, für ein paar Bier oder für etwas zu essen in kurzer Zeit zusammenbringen. Die Ausbeute ist aber nicht groß genug, um damit dauerhaft und in verlässlicher Weise den eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. Zudem sind die Bahnhofsgänger auf der Straße der ständigen Unsicherheit und Gefahr ausgesetzt, von ihren Mitmenschen durch Beleidigungen und Despektierlichkeiten herabgewürdigt zu werden. Was für Franziska aber noch als Spiel und Zeitvertreib erscheint, hat für Oliver größeren Ernst, weil er auf das Geld für die Beschaffung der Drogen angewiesen ist. Den Beleidigungen, den herablassenden Vorwürfen, aber auch den mitleidigen Blicken ist kaum auszuweichen, wenn jede Distanz gegenüber der ökonomischen Misere verloren ist. Diese Gefahr der Abwertung und Missachtung ergibt sich allein schon daraus, weil das Betteln ein exponierendes Hervorkehren der eigenen Not und des eigenen Elends erfordert.
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Zudem wird das Annehmen der Almosen zu einem Akt der freiwilligen Unterwerfung unter die willkürliche Entscheidung des Gebenden. Es handelt sich gerade um kein wechselseitiges Verhältnis des Gebens und Nehmens, aus dem sich, wie in unserer Vertragsgesellschaft üblich, gegenseitige Rechte ableiten, die sich auf eine reziproke Anerkennung der Leistungen des jeweils anderen gründen. Daher macht die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit der marginalen Lebensform den Bettler nicht nur in besonderer Weise für den Spott und Häme seiner Mitmenschen verletzlich, sondern bedroht durch das Herausfallen aus den allgemeinen Anerkennungsverhältnissen auch seine Selbstachtung (Honneth 1994).
Kriminalitätsdelikte als Erwerbsstrategie Zu dem Triumvirat der informellen Straßenökonomie zählt neben der Prostitution und dem Betteln schließlich noch die Kriminalität. Dabei handelt es sich weniger um den Drogenhandel, der von den jungen Menschen, wenn überhaupt, in privaten Zirkeln, aber eigentlich nicht am Bahnhof nachgegangen wird. Es sind Angehörige anderer Gruppen, zumeist ältere Drogenabhängige, die hier eine breite Palette an psychotropen Substanzen verkaufen. Zudem bringt die dichte Überwachung des Bahnhofterrains durch Wachschutz, Bahnhofspolizei (BGS), Kriminalpolizei ein unkalkulierbares Risiko für den Drogenhändler mit sich. Weitaus verbreiteter sind daher die Eigentumsdelikte. So berichtet Tobias: »ich war SPIELsüchtig früher, […] Ja, un wenn das Geld WEG war, braucht ich neues Geld. Dann hab ich Lederjacken geklaut oder so, hab se verkauft für sweihundertfünfzig Mark oder so un bin sofort mit’m Taxi so schnell wie möglich wieder zur Spielhalle gefahrn.« Handtaschendiebstahl und Raubüberfälle werden aber nicht nur wegen der Abhängigkeit von der Vielzahl an Süchten, den für das Bahnhofsmilieu so typischen Ersatzwelten und Ersatzgefühlen, verübt. Das Begehen von Eigentumsdelikten ist gerade aus dem Grund derart verführerisch, weil aus der Opportunitätsstruktur der Gegenwart heraus in kurzer Zeit die Mittel zu beschaffen sind, um die ansonsten so fern liegende Konsum- und Warenwelt auch selbst betreten zu dürfen. Hüseyin: »… dann … Zigaretten auch, … also … geraucht habe un … ne Schachtel schon fünf Mark kostete, … braucht man ja am TAG fünf Mark und … in der Woche. … Da hab ich so … DIEBstähle … begang’n, … manchma’ bloß Zigaretten un … Klamotten … später auch … LEUte, also Portmonees geklaut.« Und an manchen Tagen, an denen es
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nicht gelungen ist, für das eigene Dasein ausreichende Vorsorge zu treffen, geht es dann um das Notwendigste. »… un dann ma gab’s auch Tage, wo ich nichts zu ESsen hatte oder so. … Dann musst ich halt immer in’n Supermarkt, dass ich mir … also … was zu ESsen klauen konnte.« Kriminalität ist am Bahnhof der Versuch, die Distanz gegenüber den Glücksversprechungen der Gesellschaft zu verkürzen. Devianz beruht keineswegs auf pathologischen, dissozialen Persönlichkeitsstrukturen, sondern auf der Einschätzung der eigenen Möglichkeiten, die am Rand der Gesellschaft vorgefunden werden, um an Geld und Konsumgegenstände zu gelangen. Die Eigentumsdelikte, die im öffentlichen Raum, auf der Straße verübt werden, stehen im direkten Verhältnis zum ökonomischen Ausschluss. Ganz unten zu stehen, bedeutet, bis auf die eigene Freiheit, die sich in der Marginalität realisiert, nichts riskieren zu müssen, keine Arbeit, kein Einkommen, keine Familie, das heißt kein Leben, das es wert wäre, die zu befürchtenden Sanktionen erst gar nicht herauszufordern. Auf der anderen Seite nimmt auch die Gesellschaft, die die Verteilung von Lebensund Konsumchancen nicht nach individuellen Bedürfnissen organisiert, die Folgekosten sozialer Ungleichheit, eine moderate Kriminalitätsrate und den gelegentlichen Handtaschenraub in Kauf. Die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, die aus der Verwirklichung einer gerechteren Sozialordnung resultieren würde, müsste von weitaus größerem Ausmaß sein. Die Ökonomie der Straße besitzt für die jungen Menschen ihre eigene Logik, woraus sich die gegebenen Chancen und Risiken bestimmen. Die Entscheidung für eine informelle und straßennahe Daseinsversorgung wird allein auf Augenhöhe der auf der Straße gebotenen Möglichkeiten gefällt. In der begrenzten Optik der prekären Randständigkeit bestimmen sich für Oliver die Handlungsoptionen folgendermaßen: »Weil … det Jeld vom Schnorrn hatte halt immer grade ma so für’n Alkohol jereicht und// und für die Drogen da brauchteste halt n bisschen mehr Jeld und// und da mussteste andre Sachen machen. … Und halt um keene zu krummen Dinger zu drehen, jeht man halt anschaffen ey.« Die informellen Dienstleistungsbereiche eröffnen den jungen Menschen aber lediglich eine sehr entwürdigende, riskante, kostenintensive, zukunftslose Form des Gelderwerbs, wodurch sich Desintegration und Marginalisierung nur beschleunigen. Alle straßennahen Erwerbsformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwar die aus der ökonomischen Exklusion entspringende Armut ein Stück weit aufheben, aber in der gleichen Weise einen Rattenschwanz an weiteren Problemen nach sich ziehen. Insbesondere kann für eine beständige
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und dauerhafte Versorgung mit Geld kaum gesorgt werden, die der Ausbildung einer stabilen und langfristig angelegten Lebensführung, damit einer vertieften Integration in die gesellschaftlichen Basisinstitutionen vorausgesetzt wäre. Entweder müssen die jungen Menschen massive Beeinträchtigungen von Gesundheit und Wohlbefinden oder die Kriminalisierung ihrer Alltagsbewältigungsversuche durch Polizei und Strafverfolgungsbehörden befürchten. Die Erweiterung des knappen Einkommens und der restringierten Lebensmöglichkeiten ist einzig durch ein Aufs-SpielSetzen von Autonomie, Wohlergehen und Zukunftsperspektiven in anderen Bereichen zu erkaufen.
5. Segregative Arbeitslosigkeit Angesichts der Arbeitsmarktsituation ist es nur schwer vorstellbar, wie der entgleiste »Biographiezug« wieder zurück auf die in Richtung Integration weisende Strecke zu bringen ist. Schon lange wird die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft in Arbeitsplatzbesitzer und Überflüssige beschworen (Offe 1984: 351). »Mit Blick auf das Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit – gerade auch unter Jugendlichen – zeichnet sich nur allzu deutlich ab, dass die Funktionsmechanismen des Arbeitsmarkts die für Individuum und Gesellschaft notwendigen Integrationsleistungen nicht (mehr) zureichend erfüllen« (Bonß 2000). Zu hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit, als dass diejenigen, die derart weit ins soziale Abseits geschlittert sind, noch eine reale Chance haben, den Weg zurück in das Einkommen, Sicherheit und Zukunft versprechende Gefüge gesellschaftlicher Basisinstitutionen zu finden (vgl. Lex 1997: 300). Angesichts der Vehemenz der ökonomischen Exklusion und der besonderen Abstiegsdynamik der »negativen Berufskarriere« soll daher von »segregativer Arbeitslosigkeit« gesprochen werden. Es handelt sich gerade nicht um einzelne Arbeitslosigkeitsepisoden einer ansonsten intakten Erwerbsbiographie, sondern um die trostlose Perspektivlosigkeit angesichts der schlichten Unverkäuflichkeit der eigenen Arbeitskraft. Die jungen Menschen gleiten, einmal durch die »segregative Arbeitslosigkeit« auf eine abschüssige Bahn gebracht, immer tiefer in den »destruktiven Zirkel der Armut«, weil die Ausmusterung aus dem Heer der Beschäftigten selbst zur eklatanten Barriere für den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt wird (Bynner 1996; Büchtemann 1984).
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Die Gefahr der Exklusion auf dem Arbeitsmarkt erlangt ihre besondere Brisanz daraus, dass Erwerbsarbeit auch heutzutage unverzichtbar bleibt, um der Vereinheitlichungstendenz der Lebenslage auf Armut und Marginalität zu entgehen. Ein abgesicherter und sorgenfreier Alltag ist nur möglich, insofern es gelingt, die auf das Arbeitsleben vorbereitenden Bildungsinstitutionen erfolgreich zu durchlaufen und sich auf dem Arbeitmarkt in Konkurrenz zu den Mitbewerbern um ein Erwerbsarbeitsverhältnis dauerhaft durchzusetzen. Die Diskontinuität, die das Herausfallen aus diesen standardisierten Biographie-Blaupausen bedeutet, dokumentiert sich in Bewerbungsmappe und Lebenslauf als nur zu deutliche Makel und Stigma, die für eine automatische Aussortierung im Bewerbungsverfahren sorgen. Dynamisierend mischen sich in diesen Zirkel der Ausgrenzung die subjektiven Verarbeitungsformen und Reaktionsweisen: Während von den jungen Menschen eine engagierte Lebensführung verlangt wird, um sich im Wettbewerb um die Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen und Lebensmöglichkeiten durchzusetzen, verlieren die jungen Menschen infolge der segregativen Arbeitslosigkeit eine orientierende Perspektive auf die Gesellschaft. Arbeitslosigkeit, das zeigen Studien immer wieder, führen zur Verminderung von Lebensqualität, psychischem und körperlichem Wohlbefinden und bewirken Depressivität, somatoformen Beschwerden und chronischen Stress (etwa Albani, Blaser, Geyer, Grulke, Bailer, Schmutzer & Brähler 2007; Berth, Förster, Balck, Brähler, Stöbel-Richter 2007). Dagegen ist es sehr schwierig und würde selbst ein ambitioniertes Lebensprojekt erfordern, sich der ökonomischen Exklusion entgegenzustemmen und durch alternative Integrationsformen ein glücklicher Arbeitsloser zu werden. Weil nun den Integrationsanforderungen und Exklusionsgefährdungen der Arbeitsgesellschaft kaum zu entkommen ist, wäre es notwendig, dass auch Menschen mit geringem Ausbildungsstand und mit Schwierigkeiten bei der Etablierung einer geordneten Lebensführung auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Ein wirkliches Integrationsangebot würde voraussetzen, dass selbst manuelle, einfach strukturierte, geringe Qualifikation erfordernde Arbeitstätigkeiten drei Grundbedingungen bieten: ausreichend Einkommen, Sicherheit und Anerkennung. Dagegen verweist die Massenarbeitslosigkeit auf einen gesellschaftlichen Missstand, der letztlich demokratische Grundwerte auszuhöhlen droht. Denn den Menschen werden in den prekären Beschäftigungsverhältnissen, die vorwiegend in den postfeudalen Dienstleistungsbranchen angesiedelt sind, als auch in den 1-Euro-
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Jobs bei der Stadtreinigung, in der Garten- und Landschaftspflege, als Hausmeister keine zufriedenstellende Verdienstmöglichkeiten, dauerhafte Erwerbsarbeitseinbindung und ausreichende Wertschätzung zugestanden. Und dennoch handelt es sich beim Arbeitsmarkt nach wie vor um den zentralen Vergesellschaftungsbereich, sodass sich selbst die Jugendlichen am Bahnhof, die den Eintritt in den Arbeitsmarkt verpasst haben, eine erfüllende Arbeitstätigkeit und ein gutes Einkommen wünschen (Felber 1997: 54 ff.).
Ökonomische Exklusion
Die ökonomische Exklusion offenbart sich noch in einer zweiten Gestalt, obwohl schon die Auswirkungen, die aus der segregierenden Arbeitslosigkeit resultieren, gravierend genug sind, um die Bemühungen um eine sozial integrierte Lebensführung scheitern zu lassen. Die Angehörigen der Bahnhofsgemeinschaft müssen nicht nur die Abdrängung ihrer sozialen Existenz in die Peripherien der Arbeitsgesellschaft mit ansehen. (Dauer-)Arbeitslosigkeit wird überdies zur wesentlichen Ursache für das Eintreten von Einkommensarmut (Andreß 1999; Ludwig-Mayerhofer & Barlösius 2001). Mit dem Ausbleiben einer einträglichen Erwerbsquelle vergrößert sich der Abstand zu den Konsum- und Lebensmöglichkeiten der Mittelstandsgesellschaft. Der Lebensstandard sinkt nach kurzer Zeit unter den gesellschaftlichen Durchschnitt, während sich das Alltagsleben zunehmend auf die nackte Existenzsicherung verkürzt. Was es heutzutage heißt, in Armut zu leben, soll in diesem Kapitel auf die Frage nach den destruktiven Dynamiken rückbezogen werden, denen die Lebenswirklichkeit der jungen Menschen unterworfen ist. Zuerst soll im Sinne einer heuristischen Arbeitsdefinition unter Armut der Sozialleistungsbezug von Sozialhilfe/Arbeitslosengeld II verstanden werden, was nicht nur den methodischen und konzeptionellen Problemen, eine quantifizierbare Armutsschwelle anzugeben (Böhnke 2006), begegnet, sondern zugleich die am meisten verbreitete Einkommensgrundlage der jungen Menschen darstellt (1). Am Beispiel von Michael soll dann veranschaulicht werden, mit welcher Eigendynamik der Einfluss auf seine Lebenssituation entgleitet, als er nach der Kündigung seiner Arbeitsstelle ohne jedes Einkommen dasteht (2). Daraufhin wird vor dem Hintergrund des eingeschränkten Verfügungs- und Handlungsspielraums, der durch die ausgezahlten Regelsätze der Sozialleistungen definiert wird, das Haushaltsmanagement der Jugendlichen beschrieben, die auf eine kontinuierliche Absicherung der Lebensumstände weitgehend verzichten (3). Es zeigt sich, dass
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eine solche »leichtfertige« Geldausgabepraxis als Strategie zu verstehen ist, um sich im alltäglichen Kampf bei der Verwirklichung selbstbestimmter Lebensformen der Reduzierung auf die entbehrungsreiche Notlage und die reine Existenzsicherung zu entziehen (4). Und trotz der strukturellen Knappheit versuchen die Bahnhofsgänger, ihre Zugehörigkeit zur Mittelstandsgesellschaft unter Beweis zu stellen (5). Schließlich wird deutlich, wie angesichts der knappen Finanzsituation die Hoffnungen auf einen sozial integrierten Lebenszusammenhang notwendigerweise konterkariert werden (6). Das Kapitel endet mit einer Darstellung der destruktiven Verstetigungs- und Dynamisierungstendenzen der Einkommensarmut (7).
1. Finanzielle Spielräume Am Bahnhof bestreiten die jungen Menschen ihren Lebensunterhalt von wenigen Ausnahmen abgesehen durch den Bezug von sozialer Grundsicherung, dem Arbeitslosengeld II, ehemals Sozialhilfe.1 Auf die Inanspruchnahme der Sozialleistungen verzichtet wegen der durchdringenden Arbeitslosigkeit kaum jemand. In der Regel wird der Sozialleistungsbezug spätestens mit dem Auszug aus dem elterlichen Haushalt zur Dauereinrichtung. Dennoch gehören schon die Herkunftsfamilien durchweg unteren Einkommensgruppen an, sodass in einzelnen Lebensläufen eine generationsübergreifende Tradierung des Sozialleistungsbezugs zu beobachten ist. Dieser markiert dann lediglich die Fortsetzung sozialer Deprivation und verengter Antizipationshorizonte, in die die jungen Menschen über Kindheit und Jugend hinweg längst hineingewachsen sind. In der Bundesrepublik ist der Sozialstaat ein fest im Grundgesetz verankertes Rechtsgut, das in Form der Gewährung von Grundsicherung respektive Sozialhilfe über die Sozialgesetzgebung verwirklicht ist. Dabei handelt es sich um ein letztes Netz der sozialen Sicherung, das bei fehlendem Einkommen gewährleisten soll, dass »kein Bürger unter ein, durch die
—————— 1 Obwohl der empirische Teil der Untersuchung noch zu Zeiten der Geltung des Bundessozialhilfegesetzes durchgeführt worden ist, hat sich durch Inkrafttreten der neu verabschiedeten Sozialgesetzgebung am 1. Januar 2005, die mit dem Sozialgesetzbuch II auch die Umstellung von Sozialhilfe auf Arbeitslosengeld II mit sich brachte, abgesehen von der Pauschalisierung der einmaligen Beihilfen für Kleidung, Haushalts- und Gebrauchsgüter an der Bezugshöhe nichts Grundsätzliches geändert.
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ÖKONOMISCHE EXKLUSION
Höhe der Regelsätze sowie die zusätzlich gedeckten Kosten definiertes Existenzminimum fällt« (Semrau 1990: 111). »Die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Köperpflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben« (§ 20, Abs. 1 SGB II). Der im monatlichen Turnus ausgezahlte Betrag, der für die Sicherung des laufenden Lebensunterhalts bewilligt wird, beträgt in Berlin für den alleinstehenden Haushaltsvorstand gegenwärtig 345 Euro. Zusätzlich werden die Kosten für Unterkunft, Energie und Krankenversicherung übernommen. Zur Berechnung der Regelsatzhöhe werden gemäß der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts folgende Ausgabenpositionen zugrunde gelegt. Ausgabenbereich
% der Regelleistung Euro/Monat Euro/Tag
Regelleistung
100%
359,00
11,97
Nahrung, Getränke, Tabakwaren
37%
132,83
4,43
Bekleidung, Schuhe
10%
35,90
1,20
Wohnung: Strom, Warmwasser
8%
28,72
0,96
Möbel, Apparate, Haushaltsgeräte
7%
25,13
0,84
Gesundheitspflege
4%
14,36
0,48
Verkehr
4%
14,36
0,48
Telefon, Fax
9%
32,31
1,08
Freizeit, Kultur
11%
39,49
1,32
Hotel, Gaststättenleistung
2%
7,18
0,24
Sonstige Waren/Dienstleistungen
8%
28,72
0,96
Tabelle 1: Aufteilung des Regelsatzes nach Haushaltspositionen
Bei den durch Eckregelsätze festgelegten Bezugshöhen der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) handelt es sich um administrative Vorgaben, die de facto die Höhe dessen, was hierzulande als soziokulturelles Existenzminimum gilt, definieren. Nach der Intention des Gesetzgebers soll der Sozialleistungsbezug die Deckung des »lebensnotwendigen Bedarfs« garantieren (Bedarfsdeckungsprinzip). Damit wird von der Gesellschaft der individuelle Rechtsanspruch auf eine existentielle Grundversorgung prinzipiell anerkannt, sodass gerade von politischer Seite im Kontext der Grundsicherung gerne von bekämpfter Armut gesprochen wird (Ludwig-Mayerhofer & Barlösius 2001). Dieser Rechtsanspruch wird aber in der Praxis dadurch
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relativiert, weil der bürokratische Beantragungsprozess, die anonymen Verfahrensabläufe und die undurchsichtigen Entscheidungsprozeduren auf viele Hilfebedürftige derart abschreckend wirken, dass auf Beantragung und Durchsetzung des Sozialleistungsanspruchs schon im Vorhinein verzichtet wird. Während sich die Kluft zwischen Reichtum und Armut vergrößert (BMAS 2008), wird unter Verweis auf die knappen Kassen der öffentlichen Hand der Sozialleistungsanspruch weiter gekürzt. Auf wohlfahrtspolitischer Ebene lässt sich beobachten, dass sich der Gesetzgeber bei der Festlegung der Regelsätze seit den achtziger Jahren verstärkt vom Bedarfsdeckungsprinzip zugunsten des Lohnabstandsgebots entfernt (Dietz 1997: 94). Durch Absenkung der Leistungsbezüge soll eine ausreichende Einkommensdistanz gegenüber vergleichbaren Niedriglohngruppen gewahrt bleiben, um die Motivation für die Aufnahme auch einer nur gering bezahlten Arbeitsstelle sicherzustellen (Adamy & Steffen 1998: 27 ff.). Maeder und Nadai (2004: 181) ist darin zuzustimmen, dass es nicht Aufgabe der Grundsicherung sein kann, niedrige Löhne zu ermöglichen, sondern diese sich an der Existenzsicherung zu orientieren hat. Ebenso wird von Wohlfahrtsverbänden, Sozialwissenschaftlern und Selbsthilfegruppen grundsätzlich in Frage gestellt, inwieweit die Bedarfsdeckung überhaupt noch gewährleistet ist, um dem Hilfsbedürftigen neben dem physischen Überleben auch die Wahrung menschlicher Würde zu ermöglichen. Angesichts prinzipieller Zweifel hat etwa die Nationale Armutskonferenz (nak), in der sich in Deutschland Wohlfahrtsverbände und Sozialinitiativen zusammengeschlossen haben, 2006 eine Erhöhung des Arbeitslosengelds II auf 420 Euro gefordert.
2. Destruktion des Alltags Vor einigen Monaten hat Michael seinen Ausbildungsplatz verloren. Nach der Entlassung weiß er nicht, wie er seinen laufenden Lebensunterhalt weiter finanzieren soll. Von der Hausverwaltung wird ihm wegen der angefallenen Mietschulden schließlich auch die Wohnung gekündigt. Er erzählt mir, dass er die zugesandten Mahnungen damals unbeantwortet gelassen habe, weil er die Miete sowieso nicht bezahlen hätte können. Die Räumung der Wohnung, so vermutet er, sei wohl in den letzten Tagen geschehen.
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Dies wisse er aber nicht genau, weil er jetzt schon längere Zeit nicht mehr in seiner Wohnung gewesen sei. Einen Ausweg aus der verfahrenen Situation, die sich in der verengenden Spirale von Arbeitslosigkeit, Einkommensausfall und angehäuften Mietschulden zuspitzte, habe er schließlich für sich nicht mehr gesehen. Fälschlicherweise sei er davon ausgegangen, dass er weder einen Anspruch auf Arbeitslosengeld noch auf Sozialhilfe geltend machen könne, sodass die Kündigung der Wohnung nicht zu verhindern gewesen wäre. Zurück zu seinen Eltern zu ziehen, wolle er unter keinen Umständen. Vor zwei Jahren habe er die Flucht aus der elterlichen Wohnung als einen Befreiungsschlag von den Bedrückungen erfahren, die sich von den ersten Kindheitserinnerungen an durch sein Leben gezogen haben. Ihr Wunschkind sei er nicht gewesen, habe die Mutter einmal zu ihm gesagt. Mit dem Älterwerden habe es zu Hause nur noch »Reibereien gegeben«. Zumindest müsse er jetzt nicht auf der Straße leben. Ein guter Freund habe ihm angeboten, dass er die nächste Zeit bei ihm unterkommen könne. Der Verlust des Einkommens kommt in der modernen Gesellschaft der Vernichtung der sozialen Existenz gleich. Das Wegbrechen der finanziellen Versorgung hat für Michael zur Konsequenz, dass noch nicht einmal für die existentiellen Grundbedürfnisse wie Essen, Kleidung und Unterkunft in ausreichender und beständiger Weise gesorgt ist. Ohne Geld dazustehen, bedeutet, aus der Gesellschaft herauszufallen und in der Konsum- und Freizeitwelt – dem Supermarkt, den Geschäften, dem Wohnungsmarkt – ein Niemand zu sein. Der Wegfall aller Einkommensformen mündet daher in der Preisgabe der äußeren Handlungsfähigkeit, weil ohne Rückgriff auf qualifizierte Lebensbereiche und -möglichkeiten die entwickelten Bedürfnisse und Wünsche eines Menschen, der an der Gesellschaft teilhat, nicht zu befriedigen sind. Die marktförmig organisierten Institutionen haben kein Erbarmen, sondern folgen dem sachlichen Kalkül des durch Geld vermittelten Warentauschs. Der Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben erfolgt gewöhnlich unspektakulär. Es bedarf keiner äußeren Gewaltanwendung, um die jungen Menschen dort zu verdrängen, wo sie ihre Zugangs- und Teilhabeberechtigung verwirkt haben. Im stummen, geräuschlosen Vollzug der Sozialordnung werden die jungen Menschen aus den einzelnen Lebenssphären ihres Alltags herausdrängt. Mit den auflaufenden Mietschulden wird für Michael die Wohnung zum Inbegriff einer Misere, in der sich alle seine Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut, Zukunftslosigkeit bündeln. Die Anforderun-
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gen des gesellschaftlichen Lebens begegnen ihm schon lange nicht mehr als zu bewältigende Herausforderungen, sondern werden unter dem Marginalisierungsdruck zum Kampffeld, von dem er sich schließlich geschlagen und resigniert zurückzieht. Michael muss nicht gegen seinen Widerstand durch Polizeigewalt aus der Wohnung geworfen werden. Die jungen Menschen räumen, wie Michael dies tut, in der Regel einfach das Feld vor der geballten Übermacht der sich auftürmenden Probleme. Den Versuch, dem, was unabwendbar erscheint, dennoch entgegenzutreten, unternimmt Michael erst gar nicht. Die gemietete Wohnung wird durch die Hausverwaltung gekündigt und geräumt, seine Habe zusammengepackt und abtransportiert, sodass sich alle Spuren, die auf ihn hinweisen, bald verloren haben. Bei einem Freund nimmt er Unterschlupf, während ihm der Zugriff auf seine Wohnung und den wenigen Dingen, die ihm gehören, gänzlich entglitten ist. Vermeintlich gelingt es, aus allen Konfliktlinien herauszutreten, die nicht mehr aus eigener Kraft bewältigbar erscheinen. Dies bedeutet aber auch, dass man angesichts des fortschreitenden Ausschlusses immer weiter an die marginalen Orte, den »Bahnhof Zoo« und andere straßennahe Szenetreffpunkte, abgedrängt wird (Thomas 2005). In der Bahnhofsszene bleibt den jungen Menschen, um den schlimmsten Folgen dieses Destruktionsprozesses zu entgehen, gar nichts anderes übrig, als ihren Unterhalt durch den Bezug von Sozialleistungen zu bestreiten. Mike begründet seinen Schritt, nach jahrelanger Straßenexistenz schließlich doch Sozialhilfe zu beantragen, wie folgt: »… musste sein, weil, na ja, ick musste ja, um ne Wohnung zu kriegen, äh äh … MUSST ick ja nu machen. Äh ich hab mir immer jesagt, … nee, du jehst äh NICH hin. Und daRAUF ha’ick auch Wert jelegt, weeßte?« Sozialamt und Bundesagentur für Arbeit werden damit zur zentralen Institution für all diejenigen, die aus den Integrationsknoten der Arbeitsgesellschaft herausgefallen sind. Armut entspringt damit im doppelten Sinne einem gesellschaftlichen Verhältnis, weil hierin die soziale Existenz des Betroffenen genauso negiert, wie ihm das Almosen zum Überleben gewährt wird. Ohne für den Lebensunterhalt noch selbst sorgen zu können, bleibt der Hilfeempfänger in dieser strukturellen Asymmetrie, in der er der Gesellschaft gegenübersteht, gefangen.
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3. Enge der Armut »Man hat siebzehn Mark fünfzig am Tag, … fünf Mark Zigaretten, swölf Mark fünfzig und, ich sag mal, für ein vernünftiges Essen am Tag … reichen fünf Mark. ((Unruhe, entfernt sich vom Mikro)) Un ich sag ma, man will (abends un mittags) au’ wat essen un, ich sag ma, für zehn Mark am Tag// für swölf Mark am … Tag hat man Essen un Trinken, da … lebt man SUper von. Un ich sag ma, okay, dann noch jeden Tag drei Mark abgezogen vielleicht für da Spülmittel un da Waschmittel un so un für da// ne Kleinigkeit für da Socken un so.« (Tobias)
Der monatliche Geldbetrag von 345 Euro soll eine Aufrechterhaltung der Existenzgrundlage gewährleisten. Die jungen Bahnhofsgänger verpflichten sich aber nicht auf ein Haushaltsmanagement, das den strikten Grenzen der ausgezahlten Sozialleistungssätze folgt. Schon lange vor dem nächsten Auszahlungstermin sind alle finanziellen Reserven ausgeschöpft. Nicht selten bedarf es dazu weniger als eine Woche, sodass für den verbleibenden Monat vollkommene Unsicherheit über die weitere Versorgungslage besteht. Armut bedeutet dann auch, dass es trotz sozialer Grundsicherung nicht möglich ist, kurz in den nächstgelegenen Supermarkt zu gehen, um sich etwas zu essen zu kaufen, sich eine Packung Zigaretten, eine Packung Toilettenpapier zu leisten oder sich bei den täglichen Ausflügen an den Bahnhof in den Imbissbuden und Fast-Food-Restaurants zu verpflegen. Durch die drastische Ausgeschlossenheit von der Waren- und Konsumwelt sind Hunger und Entbehrungen entlang eines existentiellen Lebensniveaus unabwendbar. Joachim kommt schon seit einiger Zeit des Öfteren darauf zu sprechen, dass er bald wieder einen Termin beim Sozialamt habe, wo ihm die Sozialhilfe ausgezahlt wird. In den geselligen Runden ist es für ihn mit dem Hinweis auf den herannahenden Amtstermin, der in der Bahnhofsszene als Garant für Liquidität steht, kein Problem mehr, sich zumindest Zigaretten, das eine oder andere Dosenbier oder kleine Geldbeträge zu »erschnorren«. Zudem erzählt er im Kreis der Freunde begeistert von den Wochenendplanungen, wo er so richtig »einen draufmachen« wolle. Er erkundigt sich auch immer wieder, ob nicht jemand Lust habe, sich der Diskothekentour anzuschließen. Man erwidert ihm unter großem Bedauern, dass Interesse zwar bestehen würde, jedoch das Geld schon jetzt nicht mehr für den Monat ausreiche. An einen nächtlichen Streifzug sei gar nicht zu denken. Doch drei seiner besseren Bekannten verspricht Joachim, dass er für das Geld schon sorgen will. So stehen die Freunde nun im eingeschworenen Kreis zusammen, stecken sich in ihrer aufgeregten Erwartung auf den an-
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stehenden Sozialamtstermin gegenseitig an und ergeben sich in detaillierte Planung, wohin sie überall gehen und was sie alles erleben wollen. Nach der Auszahlung beim Amt, wenn die jungen Menschen das Geld in den Händen halten, betreten auch sie wieder als zahlungskräftige Kundschaft die Welt der Einkaufszentren und Freizeitvergnügungen. Für Tobias gewinnt das Alltagsleben dadurch einen ganz besonderen Erlebnischarakter: »… bei uns auf’m Sozialamt gibt’s KARten, … so (wie) EurochequeKarten, die tut man reinstecken, Geburtsdatum eintippen, dann kommt es Geld raus. […] Kriegt man erst ma gute Laune … kriegt gute Laune, ja. Schnell ne Packung Zigaretten … irgendwo McDonald’s, teuer essen, oder n Döner, Hauptsache es schmeckt gut un teuer.« Die Attraktion der städtischen Einkaufswelt geht nun nicht mehr lediglich von abstrakten, im Alltag unerreichbaren Möglichkeiten aus, in denen sich ein gutes und schönes Leben mehr andeutet als greifbar wird. Mit dem Geld erlangen die Auslagen und Angebote in den Geschäften wieder eine Bedeutung, in die sie auch selbst einbezogen sind. Dazu sagt Mike: »… die Leute, wenn die Geld vom AMT kriegen, dreh’n se UFF. … Ja, äh äh hol’n sich det teure Bier, obwohl se// SONST geh’n se immer zu Ullrich [einem nahe gelegenem Supermarkt], hol’n sich det, … dann koofen se sich für drei Mark ne KLEIne Dose bei Pizza Hut oder bei äh äh … Nordsee, ja? Un laden dann die janzen Kumpels ein. […] Ja, det jeht n Wochenende jut un dann, tschuldijung, ja, det … IS so, ne?« Einige Tage, nachdem Joachim den Auszahlungstermin seiner Sozialhilfe hatte, treffe ich zwei seiner Freunde. Auf meine Nachfrage, wie der Diskoabend verlaufen sei, winken beide nur lachend ab. Sie haben es sich schon vorher gedacht, dass auf Joachim kein Verlass sei, der erzählt immer nur groß, hält sich aber nicht an sein Wort. Dennoch haben sie über Klaus, einen Freund, gehört, dass er sich noch am Donnerstag, dem Auszahlungstag, das Mobiltelefon gekauft habe, von dem er schon so lange gesprochen habe. Danach sei er mit ein paar Freunden losgezogen, bis er am Sonntag wieder pleite gewesen sei, und selbst das Handy habe er nicht mehr. Zuerst habe er einige Freunde angerufen und dann ein paar seiner Begleiter gegen Geld telefonieren lassen. Die Telefonrechnung sei schon hoch genug gewesen, bevor er damit begonnen habe, kostenpflichtige Servicenummern, insbesondere Sexhotlines anzurufen, sodass sich die Rechnung bald auf mehrere hundert Euro aufgelaufen habe. Das Handy wurde schließlich, weil er noch Geld brauchte, mitsamt der aktivierten Telefonkarte für 20 Euro verkauft.
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Joachim will sich selbst keine Restriktionen auferlegen, indem er mit dem Geld zu haushalten versucht. Er realisiert seine finanzielle Liquidität als große Prasserei, kann sich ein Wochenende lang bedenkenlos seinen Wünschen hingeben, die er sich sonst nicht leisten kann. Der Ereignischarakter verstärkt sich zusätzlich darin, dass er in den Mittelpunkt des Interesses der kleinen Clique rückt, mit der er durch das Berliner Nachtleben zieht, weil er das Geld in den Händen hält, das auch ihnen den Eintritt in die Bars und Diskotheken erst eröffnet. Das unbeherrschte Eintauchen in die Waren- und Freizeitwelt, in der die Intensität des Konsumierens zum euphorischen Erlebnis wird, erlaubt es ihm, sich, wenn auch nur für kurze Zeit, aus den sonst seinen Alltag so kennzeichnenden Entbehrungen herauszutreten. Gerade dieses Glücksgefühl, so kurz es auch anhalten mag, hat eine wichtige Bedeutung, weil es für den Moment alle Sorgen und Probleme vergessen lässt. Doch die Rückkehr auf den harten Boden der Tatsachen, der durch Armutslage vorgegeben ist, lässt nicht lange auf sich warten. Ohne Geld ist er wieder von der Warenwelt ausgeschlossen, während der Alltag eintönig dahinzieht, allein getragen von der Erwartung, möglichst bald wieder an der Erlebnisgesellschaft teilzunehmen. Daher ist auch beim nächsten Mal wieder das Geld schnell ausgegeben, gleich einem Rausch, dem kein Einhalt zu gebieten ist, der aber auch alle Begrenzungen vergessen lässt, die sonst das Alltagsleben einem strengen Regiment unterwerfen. An eine beständige Haushaltsplanung, die sich an den knapp bemessenen Sozialleistungsbezügen orientiert, ist daher kaum zu denken.
4. Existenzsicherung und Lebensstilrealisierung Im Kontrast zur alltäglichen Armutslage entfaltet die bunte Angebotsvielfalt der Einkaufswelt eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Der ökonomische Ausschluss erlangt seine subjektive Dynamik dadurch, dass die unerfüllten Wünsche in keinem Entsprechungsverhältnis zu den gegebenen materiellen Verfügungsmöglichkeiten stehen. Einerseits sind die jungen Menschen andauernd mit der allgegenwärtigen Präsenz der verführerischen Einkaufsangebote beim Zeitvertreib am Bahnhof und bei ihren Ausflügen in die Innenstadt konfrontiert. Andererseits steht das, was in den Auslagen am Kudamm zum Greifen nahe liegt, angesichts der marginalen Lebenslage zugleich unerreichbar fern. Insbesondere haben all die offerierten
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Erlebnisangebote, welche die längste Zeit des Monates von der marginalen Bahnhofswelt aus strukturell nicht zu erreichen sind, noch den Charakter des Unverbrauchten (Schulze 1992). Eine zu entdeckende Welt an Genüssen, Erlebnissen und Lebensstilen, in der die Entwickeltheit, die Raffinesse, die Kultiviertheit einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen, wird in dem Moment greifbar, wo sich mit der Geldauszahlung der soziale Ausschluss mit einem Schlag aufhebt. Dagegen muss selbst der Zeitvertreib unter Freunden am Bahnhof – gerade wegen seiner Alltäglichkeit – als schwacher Ersatz verblassen. Durch das Wiedereintreten in das gesellschaftliche Verhältnis des Warentauschs wird es möglich, das Einerlei des Bahnhofslebens mit seinem kleinen, nur allzu gut bekannten Spektrum an Ereignissen und Vergnügungen zu überschreiten, um nun wieder am »richtigen Leben« teilzuhaben. Der WG-Mitbewohner von Tobias sagt dazu: »… ich ess sonst gar nich SO McDonald’s oder so, aber wenn ich jetz// … zum Beispiel jetz echt … zwei Wochen lang kein Geld gehabt hab und weiß, dass ich gleich Geld kriege un komm … DANN an McDonald’s vorbei, dann hält mich dann nichts mehr zurück so.« Armut heißt, in der alltäglichen Daseinsbewältigung auf die unmittelbare Existenzsicherung verwiesen zu sein, und doch übersetzt sich für die Jugendlichen das Problem der Knappheit in die zentralere Frage: Wie kann man sich den Zugang zur Angebotsvielfalt der Waren- und Konsumgesellschaft zumindest zeitweilig sichern? Das grundlegende Dilemma, das sich bei der Bewältigung der Armutslage stellt, lässt sich nur dann verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch die Sozialleistungsempfänger ihr Leben in einer »Überflussgesellschaft« führen. Das soziokulturelle Leben ist für die Bevölkerungsmehrheit schon seit einigen Jahrzehnten aus dem Bannkreis von Knappheit, Not und Hunger gerückt. Massenwohlstand und Massenkonsum haben eine Überlebensorientierung im Alltagsleben weit zurückgedrängt, sodass die Deprivationslage kaum noch als existenzbedrohende Unterversorgung, das heißt als »absolute Armut«, in der Nahrung, Kleidung und Unterkunft zur Disposition stehen, in Erscheinung tritt. Dagegen hat ein anderes Konzept, das der »relativen Armut«, an Bedeutung gewonnen. »›Relative deprivation‹ is the absence of those diets, amenities, standards, services and activities which are common or customary in society. People are deprived of the conditions of life which ordinarily define membership of society« (Townsend 1979: 915). Die ökonomische Exklusion offenbart sich heutzutage darin, dass ein Anschlusshalten an das allgemeine Lebensstandardniveau nicht möglich ist. »Die gegenwärtige
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Armut hat mit dem Massenelend früherer Zeiten kaum etwas gemeinsam und bewegt sich in der Regel deutlich oberhalb eines physischen Existenzminimums. Es handelt sich um Armut im Wohlstand [Hervorheb. S. T.]« (Bohle 1997: 125). Die jungen Menschen der Bahnhofsszene entdecken vor der Bewertungsfolie, die durch die Konsum- und Wohlstandsgesellschaft vorgegeben ist, immer zunächst ihre eigene Armut, die im materiellen Ausschluss von der Einkaufswelt ihren evidenten, alltäglichen Ausdruck findet. In der Regel verfügen sie mit der Flucht auf die Straße nur über einen ärmlichen Besitz. Hier bleibt ihnen kaum mehr als das Handgepäck, einige Anziehsachen zum Wechseln, vielleicht ein MP3-Player, Musik-CDs, Erinnerungsstücke von persönlichem Belang wie ein Plüschtier, Briefe, Schmuck, schließlich auch Dokumente und Unterlagen. Doch auch diese Relikte besserer Zeiten sind bald verloren oder zu Geld gemacht. Straßenleben bedeutet daher auch, mit kaum mehr als nichts dazustehen, worauf zurückgegriffen werden kann, um für sich zu sorgen. Hüseyin nach dem Rauswurf bei seinem Vater: »… hat mein Vater […] meine Sachen in die Hand gedrückt. […] Hab ich ers’ mal meine Sachen … im KELler irgendwo versteckt, … zwei Wochen später (hab ich’s//) … (hab se) nich wieder gefunden.« Aber selbst, wenn jemand über eine Wohnung verfügt, bleibt diese äußerst karg und ärmlich ausgestattet. In der Einraumwohnung mit Kochnische, in der Bernd lebt, den ich wegen eines Interviews besuche, sind die Möbel aus unterschiedlichsten Bezugsquellen wahllos zusammengetragen. In der hinteren Ecke des Zimmers findet sich eine Matratze, die ohne Bettgestell auf dem Boden liegt, in der Raummitte dann eine alte Kunstledercouch mit einem an einigen Stellen aufgerissenen Polster und übersät mit Brandflecken, daneben ein massiver Wohnzimmertisch, den ihm ein Nachbar hinterlassen hat, zwei Kartons, auf dem einen ein – wie er mir erzählt – reparaturbedürftiger Fernseher. Der Tisch ist übersät mit leeren Tabakpackungen, dazwischen ein überdimensionierter Aschenbecher, randvoll mit Stummeln, von denen Bernd sich bedient, um sich neue Zigaretten zu drehen, weil ihm der Tabak ausgegangen ist. Das wenige Besteck und Geschirr liegt in der Spüle verteilt, die Schränke der Einbauküche stehen annährend leer, abgesehen von Salz, einer Packung Nudeln und zwei Gewürzdosen. Das ganze Zimmer liegt in schummriger Beleuchtung, weil kaum Tageslicht in die Hinterhofwohnung dringt und die einzige
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Lichtquelle, eine auf dem Boden stehende Nachttischlampe, kaum für ausreichende Helligkeit sorgt. Die Armut gewinnt eine Dichte und Prägnanz, weil in jedem Bereich des Alltagslebens zuerst die Knappheit und Marginalität zu entdecken ist: der leere Kühlschrank, der stetig wiederkehrende Hunger, die karge Wohnungseinrichtung, der bescheidene Umkreis an persönlichen Besitzgegenständen. Es ist gerade die nicht zu übersehende Allgegenwärtigkeit der Armutslage, von der sich die jungen Menschen eingeschlossen erfahren. Ein Überwinden des drängenden Ausschlusses bleibt angesichts der knappen Bemessung der Ausgabenpauschalen vollkommen aussichtslos. Tobias: »Dat Geld is so schnell weg, also ich sag, wenn ich ZEHNtausend Mark kriegen würde, dat könnt ich … an einem Tag nur für vernünftige Sachen ausgeben. … Also sag ich ma, würd ich mir n FERNseher holen (Klatschen), Anziehsachen, (Klatschen) un so (Klatschen). Also ich sag ma ehrlich, fünfhundert Mark, holt man sich Schuhe, ne Hose von, Pullover, was zu essen, dass der Kühlschrank voll is un ne Stange Zigaretten un das GELD is weg, ehrlich.« Damit sind die sachlichen Wünsche, in denen die Vorstellungen von einem besseren Lebens zum Ausdruck kommen, keineswegs maßlos. Die jungen Menschen nehmen vielmehr das zum Maßstab, was in der Bundesrepublik als durchschnittlicher Lebensstandard gelten kann: Fernseher, Wohnungseinrichtung, Kleidung, ein voller Kühlschrank, ausreichend Zigaretten und ein wenig Spaß. Die Armutserfahrung geht in der Reichtumsgesellschaft nicht allein aus dem erlittenen Ausschluss von Lebenschancen hervor, sondern die sozialstrukturellen Disparitäten treten ebenso in den kulturellen Symbolisierungs- und Interpretationspraxen hervor, in denen sich die jungen Menschen in Vergleich zu anderen setzen (Bohle 1997: 128 f.). Mehr noch: Vom gesellschaftlichen Rand aus erscheint das »normale« Wohlstandsniveau, wie dieses von Medien, Werbung und Alltagsdiskurs in Szene gesetzt wird, im Vergleich zum realen Verfügungsspielraum des Mittelstandes deutlich überhöht (Balluseck & Trippner 1995: 15). Dazu trägt auch bei, dass »journalistische Beschreibungen von Lebensstilen […] den Eindruck [erwecken], als seien Güterkonsum und Lebensstilisierungen mittlerweile gänzlich in das Belieben des Geschmacks gestellt – unabhängig von entsprechenden Ressourcen« (Müller 1992: 377). Armut ist aber weit mehr als nur das »unglückliche Bewusstsein«, das sich der Diskrepanz zwischen allgemeinen Konsum- und Lebensstandards und dem persönlichen Handlungsspielraum gewahr wird. Das gestiegene Aspirationsniveau, das sich in
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den verbreiteten Vorstellungen vom guten Leben eingraviert hat, hat auch für jene Menschen, die hinter die gesellschaftlich gesetzten Standards zurückfallen, eine qualitativ neue Situation geschaffen. Oliver spricht die Erfahrung, in der sich die Armutslage für die Bahnhofsangehörigen tagtäglich kristallisiert, sehr deutlich aus: »Ich mein, Du willst// willst ja nich immer nur das Billigste vom Billigsten, weil irgendwann biste davon übersättigt oder so, … jeden Tach immer nur so’n Büchsenfraß oder so, haste keene Lust drauf, sa’ick ma. […] die Hygieneartikel alleene schon, wat de im Monat schon ausjibst für Jeld, sa’ick ma.« Armut heißt, sich immer nur das Billigste vom Billigen leisten zu können. Neben der Sorge um einen vollen Kühlschrank muss er sich Gedanken darüber machen, ob er sich derartig triviale, zum Leben selbstverständlich dazugehörige Güter wie Elektrizität, Waschmittel und Seife leisten kann. Ebenso ist der gesamte Möglichkeitsspielraum, der durch den Leistungsbezug der sozialen Grundsicherung überhaupt erst eröffnet wird, durch das Festgelegtsein auf elementare Lebensbedingungen sogleich wieder verschlossen. An die Geltendmachung individueller Präferenzen ist bei der Auswahl aus dem Waren- und Freizeitangebot, sobald es über die in der Sozialhilfe festgelegten Ausgabepositionen hinausgeht, nicht zu denken. »Relative Armut« bedeutet in der Reichtumsgesellschaft die Einschränkung der Möglichkeiten zur Alltagsgestaltung und individueller Selbstentfaltung auf die Banalität der Existenzsicherung. Durch Neubudgetierung der Sozialleistungen, die der spontanen Tendenz der schnellen Geldausgabe folgt, ist dem strukturellen Dilemma der Armutslage, wie sich gezeigt hat, nicht in prinzipieller Weise zu entkommen (vgl. hierzu auch Oppenheim & Lister 1998: 212 ff.). Die jungen Menschen wissen darum, dass sie am Monatsende ohne Geld dastehen werden, wenn sie die finanziellen Ressourcen nicht auf das Engste rationieren und alle Ausgaben auf Überlebensnotwendigkeiten beschränken. Dennoch ziehen sie es vor, nach der Geldauszahlung das restriktive Haushaltsmanagement zu lockern und sich den Lebens- und Erlebnismöglichkeiten der modernen Warenwelt zu bemächtigen, was für den restlichen Monat bedeutet, dass sie das Eintreten eines Zustands der absoluten Armut in Kauf nehmen müssen. Doch zumindest für den Augenblick ermöglicht dies die Erlösung aus der bedrückenden Enge der Armut, was dann bedeutet, sich gerade nicht aufs Essen, auf die existentiellen Dimensionen der Lebensbewältigung reduzieren zu lassen.
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5. Demonstration von Zugehörigkeit Die sich im Anschluss an die Auszahlung der Sozialleistungen gekauften Gebrauchsgegenstände genauso wie die realisierten kulturellen Lebensformen sind nicht bloß innenorientierte Strukturierungsformen von Bedürfnissen und Interessen. Unter Ästhetisierung des Lebens versteht Honneth (1995), »daß die Subjekte in den entwickelten, reichen Ländern des Westens sich auf ihren Alltag nicht mehr zweckorientiert, sondern ästhetisch beziehen, daß sie dementsprechend ihre Lebensvollzüge in den unterschiedlichsten Formen stilisieren und sich wechselseitig auch an solchen Stilmerkmalen erkennen« (S. 29). Schon Eisenberg & Lazersfeld (1938) haben in einem Überblick über die Forschungsliteratur zur Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre darauf hingewiesen, dass einiger Aufwand und einige Entbehrung von den Betroffenen in Kauf genommen werden, um sich trotz materieller Entbehrungen etwas »Luxus« leisten zu können: »Probably all this [expenditure] is done, with great deprivation to the individual, merely that he may regain some of his lost prestige and status in the group« (S. 360). In der Einstellung der erlebnisbezogenen Konsumorientierung huldigen die jungen Menschen nicht dem schnöden Gott des Materialismus und Hedonismus; genauso wenig wie der lust- und spaßorientierte Konsum angesichts der existentiellen Herausforderungen als bloßer Zierrat individueller Existenz zu verstehen ist. Die Konsum- und Erlebnisartikel werden vielmehr zu äußeren Attributen von Geschmack und Lebensstil, worin sich der symbolische Kosmos enthüllt, in dem das Individuum seine – in den weltlichen Sphären vergegenständlichte – Einzigartigkeit vorfindet, etwa als Angehöriger einer bestimmten Jugendkultur, eines dezidierten Modestils und damit schlicht auch als legitimes Mitglied einer sozialen Gruppe. Schulze (1992) hat in pointierter Weise die kultursoziologischen Grundlagen moderner Gesellschaften im Begriff der »Erlebnisgesellschaft« kondensiert. Auch er nimmt die zeitdiagnostische Prämisse zum Ausgangspunkt, die in wissenschaftlichen und populären Gegenwartsbeschreibungen zum Allgemeingut geworden ist, dass moderne Gesellschaften kaum noch von einer »existentiellen Problemdefinition des Überlebens« geprägt sind (S. 532). Auch für breite Bevölkerungsschichten rückt nun die Frage in den Mittelpunkt, nach welchen subjektiven Gesichtspunkten sie ihr Leben planen und gestalten, welche Möglichkeiten des ungeheuren Erlebnisangebots sie der Entäußerung und Vergegenständlichung ihrer Subjektivität zugrunde legen, in welchen Lebensformen und -stilen sie ihre Identität
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entfalten sollen. Als Folge dieses Gewinns an Freiheitsgraden ist das Individuum zur inhaltlichen Bestimmung seines eigenen Wollens auf eine »andauernde Reflexion auf das eigene Ich« (Müller 1992: 33) verwiesen, die sich an den sinnkonstituierenden Leitfragen orientiert: »Wer bin ich?« und »Was will ich?« Die differenzierte Entfaltung von Bedürfnisnatur und Subjektivität, um diese zu der vielgestaltigen Ganzheit eines einzigartigen Individualitätsausdrucks zu synthetisieren, ist aber in den prekären Zonen des Wohlstands nicht möglich. Im Alltag der Ausgeschlossenen regiert vielmehr ein »Geschmack der Notwendigkeit« (Bourdieu 1987; Blasius& Friedrichs 2001). Innerhalb der jugendkulturellen Bahnhofsszene hat die Selbststilisierung gerade wegen der kargen Mittel einen großen Stellenwert. Besonders gehört das »Posen« zu den klassischen Interaktionsritualen, die tagtäglich in den verstreut herumstehenden Kleingruppen praktiziert werden (Goffman 1986). Die jungen Menschen lassen es sich nicht nehmen, den Freunden die den neuesten Trend repräsentierenden Kleidungsstücke, das neu erworbene Mobiltelefon und andere populäre gadgets vorzuführen. Lässig wird dann ganz beiläufig auf applizierte Markenlogos, technische Details, exklusive Features, besonders aber auf den Preis hingewiesen. Aufmerksamkeit und Anerkennung kann sich angesichts der vorherrschenden Armut hier jeder sicher sein. In der Bahnhofsszene bedeutet es etwas, einen anständigen Satz an nicht abgetragenen Kleidungsgegenständen, einen I-Pod, eine Armbanduhr et cetera zu besitzen. In den Wettbewerbsritualen geht es insbesondere um jenen alltagsästhetischen Bedeutungsüberschuss, der zur »Dechiffrierung der in der Auswahl von Konsumgütern inszenierten Subjektivität« dient (Schulze 1992: 195). Das Vorführen der neu gekauften Kleidung zielt gerade nicht darauf, unter Beweis zu stellen, dass man überhaupt in der Lage ist, für die eigene Garderobe zu sorgen. Vielmehr rückt auch am Bahnhof das Neue, Stylische, Modische als Bewertungskriterium in den interpersonellen Vergleichsprozessen in den Vordergrund der lebensstilvermittelten Selbstdefinition. In den jugendlichen Wettbewerbsspielen wird nichts Geringeres zum Gegenstand als die jeweils auf die Bühne der gemeinsamen Aufmerksamkeit gehobenen Identitätsentwürfe. Diese Selbstdarstellungsund Distinktionsrituale, die für den Umgang unter Jugendlichen überhaupt bezeichnend sind, müssen daher als Bildungs- und Aneignungsprozesse von Identität verstanden werden. In diesen kompetativen Interaktionsformen werden in spielerischer Weise die persönlichen Identitätsentwürfe kontrastiert,
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elaboriert und ausdifferenziert, indem unablässig Antworten auf die als Provokation in den Raum gestellte Frage ausgehandelt werden: »Wer bist du eigentlich?« Die Formen alltagsästhetischer Individualitätsentfaltung gründen auch am Bahnhof auf dem Wertekanon der Mehrheitsgesellschaft, der sich als ein sublimes System sozialer Distinktion ausdifferenziert. Mike erklärt mir: »Ick hab ma äh ne Giorgio-Armani-Hose, ne WEIße Giorgio-ArmaniHose … abgegriffen. Hier die FerRAri-Jacke, … die hing in der Kleiderkammer[…] … Die kost’t über fünfhundert Mark im Laden. Ja. […]… ne BOSS-Hose ha’ick da ma rausjeholt. … Det Sacko, (jut), det hat Michael (rinjelegt), det und det ANdre, det DUNKle, graue, oder Lederjacken.« Trotz jahrelanger Straßenexistenz ist Mike mit den statusvermittelnden Bedeutungssetzungen teurer Designermode vertraut und weiß die Hose von Giorgio Armani, die Ferrari-Jacke, die Hose von Hugo Boss oder ein schlichtes Sakko ebenso sehr zu schätzen wie der gut verdienende Bankangestellte. Auch wenn es sich nicht um den Regelfall handelt, dass in den karitativen Kleiderkammern hochwertige Kleiderstücke zu finden sind, so sind die Bahnhofsgänger durchweg »anständig« und unauffällig gekleidet, gleichfalls ihnen zum Einkleiden kaum mehr als 34,50 Euro im Monat zur Verfügung stehen. Äußere Spuren und Zeichen der Armut und Verwahrlosung sind in der Jugendszene am »Bahnhof Zoo« dagegen selten zu beobachten. Die Bahnhofsgänger unterscheiden sich in ihrem Mode- und Kleidungsstil nicht grundsätzlich von Altersgleichen. Am Bahnhof werden vor allem (Blue-)Jeans getragen, die gerne mit einem farbigen Pullover oder Sweatshirt kombiniert wird, dazu ein Paar Markensportschuhe, ohne sich im äußeren Erscheinungsbild eine der exzentrischeren Jugendszenen zuzuordnen. Die diskreten Unterschiede in der Kleidung, die zu Identitätsmarkern werden, reduzieren sich zumeist auf solche der bevorzugten Ladenkette, Markenlogos und Preisklasse. »Die großen ›Labels‹ […] vermitteln ein Zugehörigkeitsgefühl mit starker emotionaler Komponente« (Hurrelmann 2002: 246), deren Attraktivität in der Bahnhofsszene gerade wegen der prinzipiellen Brüchigkeit der sozialen Einbindung besonders ausgeprägt ist. Trotz des Vorherrschens dieses Allerweltsstils finden sich, wenn auch seltener, Kleidungsstile, in denen sich subkulturelle Jugendorientierungen mit ihren dezidierten Lebens- und Bekenntnisphilosophien einen unverwechselbaren Ausdruck geben: etwa die ganz in schwarze Gewänder gehüllten Grufties, die farbenfrohen, grellen Paradiesvögel der Techno-
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szene oder die Punker in ihrem abgerissenen, trashigen Kleidungsensemble (Eckert, Reis & Wetzsetin 2000). Aber es sind nicht nur die inszenierten Wettkämpfe der Peer-Group, in denen die Bahnhofsgänger ihre Individualitätsformen und Lebensentwürfe auszuweisen und zu behaupten versuchen. Im öffentlichen Raum des Bahnhofsareals sind sie vielmehr den flüchtigen, taxierenden Blicken jedes einzelnen Passanten ausgesetzt. Und hier begegnen sie einer ihrer Einflussmöglichkeit weitgehend entfremdeten Form der Objektivierung. Es handelt sich nicht mehr um wohlwollende, spielerische Vergleichswettbewerbe unter Gleichen, in denen die gegenseitige Wertschätzung der Kontrahenten für alle Beteiligten immer schon vorausgesetzt ist. Vielmehr stehen die jungen Menschen in der anonymen Öffentlichkeit der abschätzigen Missbilligung ihrer prekären Lebensform gegenüber, in der sich jene Wertmaßstäbe aktualisieren, anhand deren sie ihre Exklusion schon in anderen Integrationsbereichen erfahren. Ein sauberes und gepflegtes Erscheinungsbild, um ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft demonstrativ unter Beweis zu stellen und ihre Einbindung in die Bahnhofsszene nicht schon anhand der Kleidung zu verraten, wird umso wichtiger, wie in der Arena gesellschaftlicher Symbolisierungspraxen die jungen Menschen mit herabwürdigenden Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozessen konfrontiert sind. Dennoch lassen sich Beschimpfungen und Anfeindungen nicht jederzeit verhindern. So erzählt Franziska: »Und aber sonst so die Sprüche. Also da war einer, … n älterer Herr, der is dann da echt zu uns gekommen und meinte so, äh, Säuferpack, und … müsste ausgerottet werden und so.« Indem die jungen Menschen mit der entsprechenden Kleidung als »ganz normale« Jugendliche auftreten können, lässt sich die Gefahr der demütigenden Deplatzierung auf den unteren Rängen der gesellschaftlichen Status- und Prestigehierarchie bannen. Existenzsicherung bedeutet in der Wohlstandsgesellschaft damit sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdbewertung die Sicherstellung von Respektabilität. Durch Adaption eines zeitgemäßen Ausdrucksstils und einer anerkannten Lebensform, die in der Waren- und Konsumgesellschaft notgedrungen Geld kosten, versuchen sie der Stigmatisierung zu entkommen. Mike: »… also du hast es mir eigentlich nie so richtig anjesehn, dass ick uff der Straße (bin), weil ick war sauber, hab meine Klamotten jehabt.«
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6. Zusammenbruch des Haushaltsmanagements Durch die mehr oder weniger unrestringierte Geldausgabepraxis kurz nach der Auszahlung der Sozialhilfe versuchen sich die jungen Menschen, der eigenen Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu versichern. Dennoch muss diese Ausweitung des Handlungsspielraums angesichts der objektiven Grenzen der ökonomischen Lebenslage in sich gebrochen bleiben. Einerseits sind die jungen Menschen selbstverständlich daran interessiert, den gesamten Monat über für eine gesicherte Lebensführung für alles Notwendige zu sorgen; andererseits wollen sie sich die Angebote und Verlockungen der Erlebnisgesellschaft nicht versagen, weil sich auch für sie in der weltläufigen Entfaltung von Bedürfnissen, Geschmack und Lebensstil das »eigentliche« Leben verbirgt. Die jungen Menschen können durch Neubudgetierung der Haushaltsausgaben jedoch nicht den gegebenen Verfügungs- und Möglichkeitsspielraum selbst erweitern. Vergleicht man nun das Haushaltsmanagement der jungen Menschen mit demjenigen anderer Bevölkerungsgruppen, deren Einkommensniveau auch auf dem Niveau der sozialen Grundsicherung liegt, wie etwa bei Auszubildenden, Studierenden und allein erziehenden Frauen, dann zeigt sich, dass sich dort der Großteil weitgehend in der Überlebensorientierung einrichtet, um mit dem gewonnenen Finanzspielraum eine geordnete Lebensführung über den ganzen Monat hinweg zu organisieren. Lange Zeit ist man in der Armutsforschung davon ausgegangen, dass die Gruppe der Desintegrierten und Überflüssigen, die eindeutig als Randgruppe zu identifizieren ist, den Großteil der Armen bildet, die dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen ist. Erst durch die Adaption der US-amerikanischen Lebenslauf-Perspektive (Bane & Ellwood 1994) in der bundesrepublikanischen Armutsforschung hat sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf die Dynamik von Armutslagen und der Verzeitlichung von Armutskarrieren gelenkt. In Zwick (1994) sind unter der Frage »Einmal arm, immer arm?« Expertisen versammelt, die ein differenziertes Bild von Sozialhilfekarrieren entwerfen. Als überraschendes Resultat der Rekonstruktion von Sozialhilfeverläufen zeigt sich, dass die Grundsicherung für die meisten Bezieher nur eine befristete Überbrückungsfunktion erlangt (Leibfried, Leisering et al. 1995; Buhr & Ludwig 1994: 34). So wird von rund der Hälfte aller Sozialhilfeempfänger diese prekäre Statuspassage innerhalb des ersten Jahres wieder verlassen gegenüber einem knappen Viertel, das fünf Jahre und länger in der Sozialhilfe verweilt (Leibfried, Leisering et al. 1995: 81). In
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einer Detailanalyse des zeitlichen Verlaufs von Lebenslagen konnte Andreß (1999: 226) zeigen, dass zwei Verlaufsmuster bei der Überwindung von Armut bei weitem vorherrschen: die Überwindung der prekären Einkommenssituation nach kurzer Zeit bei den Kurzzeit-Überbrückern und ein langfristiges Verharren in der ökonomischen Randständigkeit bei den LangzeitBeziehern. Die Situation der jungen Menschen ist insofern von den aufwärtsmobilen Grundsicherungsempfängern zu unterscheiden, weil die segregierende Dauerarbeitslosigkeit einen zukunftsträchtigen Einstieg ins Arbeitsleben weitgehend unwahrscheinlich macht. Der nachhaltige Aufbau von Integrationsstrukturen, vermittels derer die alltägliche Lebensführung an die Mittelstandsgesellschaft gebunden bleibt, ist dadurch versperrt. Bei den Kurzzeit-Überbrückern bleibt dieses temporäre Abgleiten in die Armutslage an eine realistische Ausstiegsperspektive gebunden. Diese unterschiedlichen Zeithorizonte legen verschiedene Handlungsorientierungen nahe. Insbesondere macht die Aufschiebung von Bedürfnissen und die Antizipation von langfristigen Zielsetzungen (Hess & Mechler 1973) umso weniger Sinn, wie die Zukunft in prinzipieller Weise in Frage steht. Entscheidungs- und Motivationshintergrund zwischen dem »unterprivilegierten Randgruppenmilieu« und dem »temporär marginalisierten Integrationsmilieu« unterscheiden sich aber nicht nur im Hinblick auf die Aussichten auf eine prospektive (Re-)Integration in die Arbeitswelt. Die Kurzzeit-Überbrücker können in der Regel auf eine Erwerbs- und Einkommensphase zurückblicken, in der sie sich einen substantiellen Wohlstand aufgebaut haben. In einem Haushalt, der über wesentliche Errungenschaften und Annehmlichkeiten modernen Lebens verfügt, ist ein Lebensstandard inkorporiert, der auch nach dem Abrutschen in Armut und Sozialleistungsbezug eine Weile fortbesteht: Möbel, Couchecke, Fernseher und Musikanlage, die Kücheneinrichtung, ein Fundus an Lebensmitteln, Waschmaschine, Handwerkszeug, Artikel zur Körperhygiene und -pflege. Andreß & Lipsmeier (1995) warten dementsprechend mit einer Armutsdefinition auf, deren Operationalisierung über eine Skala an Haushaltsgegenständen (Waschmaschine, Fernseher, Spülmaschine et cetera) erfolgt, die heutzutage zum festen Haushaltsinventar gehören. Demnach ist die Distanz zum durchschnittlichen Lebensstandard trotz desselben finanziellen Verfügungsspielraums für die Kurzzeit-Bezieher nicht derart unüberbrückbar wie für die Jugendlichen aus der Bahnhofsszene, die oftmals nicht mehr als eine Tasche an persönlichen Besitzständen ihr Eigen nennen.
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Genauso wie den eingerichteten und wohl geführten Haushalt entbehren die jungen Menschen auch sonst einen Lebenszusammenhang, dessen Besorgung und Aufrechterhaltung einen eigenständigen Wert erlangt, um in der Budgetierung monatlicher Ausgaben Berücksichtigung zu finden. In einer negativen Feedbackschleife schaukelt sich die Vernachlässigung einer auf Dauer angelegten Lebensführung, die für alles zum Leben Notwendige in vorausschauender Weise sorgt, im Wechselspiel mit der abnehmenden Relevanz der Integrations- und Lebensbereiche für die Lebensgestaltung auf, weil diese der persönlichen Einflusssphäre immer mehr entgleitet. So kann die Telefonrechnung bald nicht mehr beglichen werden, auch Strom und Gas wären längst abgestellt, wenn nicht die meisten eine Vereinbarung getroffen hätten, dass der Sozialleitungsträger die Abschlagszahlungen direkt an das Versorgungsunternehmen zahlt. Angesichts der Entbehrungen und der Notlage am Monatsende sind dann bald alle Wertgegenstände für einen Bruchteil des Kaufpreises zu Geld gemacht. Von einem solchen Teufelskreis spricht Paula: »… weil halt das Geld auch irgendwie für Party ausgegeben wurde und der Strom abgestellt wurde, … Mietschulden waren, Waschmaschine nicht mehr ging, die Wäsche nicht mehr gewaschen wurde.« Angesichts der sich auftürmenden Misere drängt sich immer mehr die bloße Existenzsicherung in den Vordergrund der Alltagsplanung. Die Flucht in die Ersatzwelten, das heißt in den schnellen Genuss und das berauschende Erlebnis, wird umso wichtiger. Die Fetischisierung des Geldes, die kennzeichnend für sozial schwache Sozialmilieus ist, findet eine Erklärung darin, dass sich die eigene Zugehörigkeit zur Gesellschaft kaum einfacher als am Tag der Auszahlung der Sozialhilfe unter Beweis stellen lässt, wenn auch den jungen Menschen wieder die ökonomischen Möglichkeiten zuwachsen, eine in der modernen Sozialwelt an sich ganz selbstverständliche Subjektposition zu realisieren − die des Konsumenten. Tobias: »… ich tu lieber ne Woche, zwei Wochen n bisschen mit SPAß leben als … vier Wochen so richtig konzentriert. Also is zwar besser, vier Wochen konzentriert zu leben, aber … ich sag ma so, … muss man sich halt dran gewöhnen, aber ich// … ich sag ma, is schwer für mich.«
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7. »Ausschließende Armut« Unter dem Begriff der »neuen Armut« sind in den Sozialwissenschaften schon vor über zwanzig Jahren die Verarmungstendenzen, von denen im Vergleich zu früheren Zeiten nun auch Menschen im arbeitsfähigen Alter erfasst werden, zum Thema gemacht worden. Beck (1986) spricht vom »Fahrstuhleffekt« und meint damit, dass die Ungleichheitsproblematik zwar nicht aufgehoben ist, aber durch den allgemeinen Anstieg des Lebensniveaus im Ganzen eine Entdramatisierung erfahren hat: Allen geht es besser, aber die soziale Schichtung bleibt. Mit Blick auf die ausschließende Armutswirklichkeit bei den Jugendlichen am »Bahnhof Zoo« kann diese suggestive These keine Bestätigung erfahren. Die Exklusionsprozesse greifen strukturell zu tief in die Alltagsorganisation ein, um noch eine substantielle Chance auf Teilnahme am regulären Leben der Gesellschaft zu bieten. Ebenso werden die Dynamiken zeitgenössischer Destruktionstendenzen durch das »Paternoster-Modell« verfehlt, das Butterwege (1999) in kritischer Absicht dem Beckschen Assoziationsbild entgegenhält: In der Konkurrenzgesellschaft geht es für manche abwärts, für andere im Gegenzug aufwärts. Es wird nicht ersichtlich, welche Möglichkeiten im Fall der Bahnhofsgänger bestehen, um in die höheren Stockwerke der Sozialschichtung zu fahren. Exklusion weist eher die Tücken einer »abschüssigen Rutschbahn« auf: Einmal abgerutscht, wird es mit beschleunigter Fahrt umso schwerer, die fatale Abwärtsbewegung wieder zu stoppen. Und umso weiter jemand auf dem Weg nach unten – in die »Zonen der Exklusion« – geraten ist, desto aussichtsloser und aufwendiger muss sich das Unternehmen erweisen, auf der abschüssigen Bahn zurück nach oben – in die »Zonen der Integration« – zu gelangen. Im Zuge der Entgrenzung der Armutstendenzen sind heutzutage die Menschen in den unteren Sozialschichten bis hinauf in die Mittelschicht einem sozialen Mobilitätsschub ausgesetzt, der nicht mehr so sehr die heimliche Hoffnung auf den sozialen Aufstieg nährt, sondern die Lebensplanung in eine »Reise nach Jerusalem« verwandelt. Angst und Ungewissheit werden zum ständigen Begleiter angesichts der Frage, ob sich die begehrten Plätze für immer sichern lassen oder man im Wettstreit mit den anderen an den Rand des Spielfeldes gedrängt wird. Sicherlich entspricht diese Verflüssigung von Sicherheit und Wohlstand ganz den Forderungen einer globalisierten Ökonomie, die keine Rücksicht auf die sozial und kulturell
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eingespielten Belange und Interessen der Menschen nimmt (Bauman 2003). Der gesellschaftliche Segregationsprozess spaltet die Armutspopulationen selbst noch einmal in zwei sich entmischende Gruppen, was ein nicht unerhebliches Bedrohungspotential für die soziale Ordnung und Kohäsion aufweist. Die populären Begriffe Prekariat und Unterschicht sind daher nicht in eins zu setzen, sondern bestimmen sich aus einer strukturellen Differenz. Auf der einen Seite findet sich die »transitorische Armut« am unteren Rand der herrschenden Wohlstandsverhältnisse, »wo die Glitzerwelt der Konsumtempel und Karibikreisen weit und die Armut der Nachbarn nah ist« (Adamy & Steffen 1998: 2), auf der anderen Seite die »ausschließende Armut« der unterprivilegierten Randgruppenmilieus, von wo aus noch nicht einmal mehr die Einkommensregionen des »prekären Wohlstands« (Hübinger 1996) in Sicht geraten. Der basale Sozialstatus, ein legitimes Mitglied der Gesellschaft zu sein, ist für viele Menschen in Frage gestellt, weil die bisher gültige Formel der Wohlstandsgesellschaft »Lebenslage = Grundsicherung + Handlungsspielraum« für sie außer Kraft gesetzt ist. Diese Entwicklung hin zu destruktiven Armutsformen beschwört die Gefahr der Herausbildung einer Parallelgesellschaft, einer neuen »underclass«, wo einzig der Ausschluss die Überflüssigen und Ausgegrenzten eint (Brumlik 2005: 244).
Räumliche Exklusion
Räumlichkeit ist eine derart grundlegende, unreduzierbare Prämisse des Lebens, dass hier auf dem ersten Blick keine Form der Ausgrenzung denkbar erscheint. Damit muss unklar bleiben, wo genau die dem räumlichen Ausschluss korrespondierende Integrationsdimension verläuft (Nassehi 2002). Dennoch wird in diesem Kapitel nicht der Ausschluss aus einem physikalischen Raumgefüge zum Thema, sondern es geht um den Verlust des Zugangs zu öffentlichen und privaten Räumen, in denen Menschen ihre soziale Existenz führen (Alleweldt & Leuschner 2004). Hierarchische und stratifikatorische Formen der sozialen Differenzierung sind in die Raumkategorie schon immer eingelassen (Löw 2002). Unter einer solchen sozialräumlichen Perspektive wird deutlich, dass die Bahnhofsgänger selbst auf dieser Ebene aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind. So verweist Kronauer (2002) darauf, dass Ausgrenzung vor allem bedeutet, keinen anerkannten Ort zu haben. Und doch kommt in der Wohnungslosigkeit als der weitaus drastischsten Weise räumlicher Exklusion zum Ausdruck, dass Menschen selbst der notwendige Platz für ihre reproduktiven Lebenstätigkeiten und identitäre Selbstverortung entzogen werden kann. Dennoch verstellt die populäre Gleichsetzung des jugendkulturellen Straßenlebens am »Bahnhof Zoo« mit akuter Wohnungslosigkeit und Verwahrlosung schon von Anbeginn jede differenzierte Einsicht in Lebensproblematik und Hintergrundsituation. Zur Entwicklung einer angemessenen Problemfassung werden daher zuerst die konkreten Erscheinungsformen der Wohnsituation herausgearbeitet. Die meisten aus der Bahnhofsszene sind nämlich von Wohnungslosigkeit gar nicht unmittelbar betroffen (1). Anhand des Konzepts des Sozialraums soll vielmehr die Spezifik der Ausschlussformen moderner Gesellschaften herausgehoben werden (2). Die jungen Menschen verfangen sich insbesondere in dem Dilemma, dass es ihnen in ganz prinzipieller Hinsicht nicht gelingt, sich ein häusliches Lebenszentrum und einen infrastrukturellen Lebenszusammenhang aufzu-
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bauen (3). Ohne Lebenszentrum verengt sich die Weite der Sozialwelt auf die Unmittelbarkeit von marginalen Lebensfeldern (4). Darüber hinaus werden unter dem Begriff »marginale Orte« die Verdrängungstendenzen und Ausschlussformen an den öffentlichen Plätzen und Citybahnhöfen angesprochen, mit denen die jungen Menschen konfrontiert sind (5). Die Überlagerung und die Verdichtung der räumlichen Exklusionsformen werden schließlich unter der Perspektive der Dislokalisation von Individuum und Lebenspraxis beschrieben (6).
1. Wohnungslosigkeit und Alltagsorganisation Friedrich läuft über den Bahnhof, schaut sich suchend um und steuert, nachdem er mich in der kleinen Gruppe am Hinterausgang zur Jebenstraße entdeckt hat, zielstrebig auf mich zu. Zur Begrüßung verliert er erst gar nicht viele Worte, sondern will sogleich wissen, ob ich in den letzten Tagen David gesehen habe, den er unbedingt sprechen muss. David bin ich schon längere Zeit nicht mehr begegnet, und ich frage ihn, was er so Dringendes von ihm wolle. Er erzählt mir, dass in letzter Zeit alles schiefgelaufen sei. Begonnen habe seine Pechsträhne damit, dass er vor zwei Wochen aus dem Wohnprojekt abgehauen sei, weil er mit den Betreuern einige Probleme gehabt hätte. Seitdem habe er keine Unterkunft mehr. Abends fahre er jetzt immer zum Tegeler See hinaus, um dort zu übernachten. Er habe sich ein kleines Versteck im Gebüsch gebaut. Von außen könne ihn niemand sehen. Vor Überraschungen sei er weitgehend sicher, obwohl ihm letztens der Schlafsack geklaut worden sei. Und auch das Wetter mache ihm zu schaffen. Diese Woche sei er schon zweimal mitten in der Nacht vom Regen nass geworden. David sei jetzt seine letzte Hoffnung, weil der doch in eine eigene Wohnung ziehen wollte. In den inneren Stadtbereichen, etwa im nahe gelegenen Tiergarten, die zu belebt sind, um dort ungestört eine Nacht zu verbringen, schlafen die jungen Menschen nur in Ausnahmefällen, etwa wenn sie zu betrunken sind, um noch den Weg nach Hause zu finden. Die Gefahr ist zu unkalkulierbar, in exponierter Lage, etwa auf der Parkbank oder auf einer Wiese, ausgeraubt, geschlagen oder vergewaltigt zu werden. Aus diesem Grund ziehen sich diejenigen, die ungeschützt unter freiem Himmel übernachten, nachts aus der belebten Innenstadt an die städtischen Randlagen zurück,
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um an einem See oder im Wald zu kampieren. Dennoch ist diese Form der Wohnungslosigkeit nicht immer allein aus der Not entsprungen, sondern resultiert nicht selten aus der Suche nach handfesten Abenteuern eines städtischen Vagabundenlebens. Das Ausweichen vor dem Problemdruck auf die Straße, weil es zu Hause nicht mehr weiterging oder man die eigene Wohnung verloren hat, muss etwa bei sommerlichem Wetter keineswegs bedrohlich erscheinen – wie dies von Tobias berichtet wird: »Hab ich Martin kennen gelernt, … bei dem hab ich dann auch gewohnt zwei, drei Monate lang … un ich war auch// hab ich mit’m Ansgar gezeltet da äh am WANNsee Ham we gezeltet. Das war eigentlich ne ganz SCHÖne Zeit.« Die Folgen und Gefahren, die durch das Eintreten von akuter Wohnungslosigkeit zu befürchten sind, entwickeln sich sehr unterschiedlich in Abhängigkeit von Jahreszeit, Vertrautheit mit straßennahen Überlebensstrategien, Verfügbarkeit über materielle Einnahmequellen, sozialem Kapitel und provisorischen Unterkünften. So macht es einen großen Unterschied, ob man in einem Abbruchhaus, auf einem Dachboden übernachtet, sich ein kleines Zeltlager in Stadtnähe errichtet oder jedes Engagement fallengelassen hat, sodass nur noch das nächtliche Pendeln in der S-Bahn, die Notunterkünfte, der Hauseingang, die Straße oder die Parkbank bleiben. Das Problem der Wohnungslosigkeit in den jugendkulturellen Straßenund Bahnhofsszenen wird weithin überschätzt. Durch die sensationsförmige Dramatisierung der Lebensschicksale junger Menschen unter dem phantasmatischen Begriff »Straßenkinder« hat sich das öffentliche Bild verfestigt, dass in den Straßen- und Bahnhofsszenen Wohnungslosigkeit und Verwahrlosung vorherrschen (Liebel 2000). Doch die wenigsten übernachten in Berlin unter freiem Himmel, wenn auch die Gefahr des kurzzeitigen Abgleitens in die Wohnungslosigkeit sehr wohl greifbar ist. So können fast alle Bahnhofsgänger davon berichten, schon einmal für einige Tage auf der Straße ohne Unterkunft gestanden zu haben. Daher kann Franziskas Bericht als repräsentativ gelten: »Kam mal vor, dass ich halt ne Nacht durchgemacht habe, was weiß ich nich, mit dem Nachtbus durch die Gegend gefahrn bin oder sonstiges so. … Das kam schon mal vor. Aber so Parkbank oder sonstiges, … unter der Brücke schlafen oder so, hab ich nich gemacht.« Eine Normalisierung von Wohnungslosigkeit als Dauerzustand ist aber auch gerade deshalb eine Ausnahme, weil sich angesichts einer entwickelten pädagogischen Hilfelandschaft und einer dichten Netzwerkeinbindung kurzfristig alternative Unterbringungsmöglichkeiten finden.
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Dass die Straße für einen längeren Zeitraum als für einige Nächte zum ungewollten Domizil wird, ist fast immer die Folge eines andauernden Desintegrationsprozesses individueller Handlungskapazitäten. Bei Friedrich erweist sich der regelmäßige Konsum von Heroin als grundlegendes Hindernis, um sein Leben auf sichere Bahnen zu führen. Das Heroin erhitzt er, weil er es sich nicht spritzen will, auf einem Streifen Stanniolpapier und inhaliert die Dämpfe mit Hilfe eines Papierröhrchens – was im Szenejargon als »Blech rauchen« genannt wird. Zugleich vernachlässigt er seinen Alltag zugunsten von Geldbeschaffung, Drogenkonsum und Szenetreffpunkt. Auf der Straße kommt er immer wieder bei verschiedenen Freunden unter, wendet sich mehrmals, nachdem er gänzlich ohne Bleibe dasteht, an andere pädagogische Einrichtungen, in denen er aber nicht lange wohnt, weil er die Betreuungstermine nicht regelmäßig wahrnimmt. Durch die Vernachlässigung aller Lebensbereiche schränkt sich das Handlungsengagement auf die alleinige Bewältigung der Gegenwart, die drängenden Notwendigkeiten und akuten Bedürfnisse ein. Schon mit der Anmietung einer Wohnung und der Aufnahme einer eigenständigen Lebensführung überfordert, schwindet bald auch der Rückhalt am Szenetreffpunkt, weil sich herumspricht, dass Friedrich seine Freunde, die ihn bei sich schlafen lassen, ausnutzt und »abzockt«. Die Frage, ob er nicht grundsätzlich etwas an seiner Situation ändern will, bejaht er zwar nachdrücklich, aber ernsthafte Absichten, sein Alltagsleben zu verändern, um über den abgezirkelten Bannkreis von Heroinkonsum und Szenetreffpunkt herauszutreten, lassen sich nicht erkennen. Unter den jungen Menschen tritt eine solche Amalgamisierung von Prekarisierung der Wohnsituation und Destruktion der Alltagsorganisation, die dann schließlich in der Wohnungslosigkeit mündet, eigentlich nur unter besonderen Bedingungen auf. Darunter zählen psychische Erkrankungen, seelische Krisen und extensiver Drogenkonsum. Hinzu kommen noch die »Außenseiter«, die wegen unzureichender Sozialkompetenzen nur über wenige Sozialkontakte verfügen, um auch kurzfristig bei Freunden und Bekannten unterzukommen. Wohnungslosigkeit bildet den äußersten Punkt auf dem Kontinuum prekärer Lebensverhältnisse und Wohnformen, das allgemein für die Situation der jungen Menschen kennzeichnend ist. Damit wird die Wohnsituation selbst zum Indikator, an dem sich die Prekarität und die Desintegration der Lebensumstände ablesen lassen. Am Bahnhof sind vor allem folgende Unterkunfts- und Wohnformen zu beobachten: a) Unterbringung in einer pädagogischen Kriseneinrichtung oder einem Wohnprojekt, b) Über-
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nachtung bei Freunden und Bekannten und c) in der eigenen Wohnung (vgl. auch Flick & Röhnsch 2006; Alleweldt & Leuschner 2004). Ein Großteil der Bahnhofsgänger lebt in sozialpädagogisch betreuten Wohnungen, Wohngemeinschaften und Kriseneinrichtungen. Mit der Gewährung einer Unterkunft wird hier zugleich für die Sicherstellung von zentralen Rahmenbedingungen der Alltagsorganisation gesorgt. Damit erfahren sie eine elementare Entlastung von allen Handlungsanforderungen, die sich aus der Selbständigkeit und der Führung eines eigenen Haushalts ergeben. Neben der Gewährung von Unterkunft wird über die Vermittlung pädagogischer Betreuung zudem eine essentielle Hilfestellung auch in anderen problembehafteten Lebensbereichen gewährleistet – im Umgang mit Behörden, Beantragung von Sozialleistungen, bei der Suche eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, bei der Schuldenregulierung et cetera. Aber auch bei persönlichen Angelegenheiten werden die Betreuer zu wichtigen Ansprechpartnern und Bezugspersonen. Zum Problem kann werden, dass das Regelement der Einrichtungen, das immer auch die Anforderung formuliert, sich über den pädagogischen Betreuungsprozess zu verselbständigen und ein eigenständiges Leben aufzubauen, nicht selten selbst zu Überforderungen und Konflikten führt. Einerseits sehen sich die jungen Menschen wie schon im Elternhaus durch einen fremdbestimmten, reglementierenden Handlungsrahmen bevormundet, was gerade angesichts der Erweiterung adoleszenter Verselbständigungsbestrebungen leicht zur Eskalation führen kann. Andererseits werden Einrichtung und Mitarbeiter zum Blitzableiter beim Ausagieren von psychischen Dynamiken, die aufgrund des Problemdrucks, des Verlustgefühls, der Wut und Frustration sowie der Perspektivlosigkeit aufbrechen. Neben den Wohnprojekten wohnt eine zweite große Gruppe an Bahnhofsgängern, weil sie keine eigene Wohnung haben, bei Freunden und Bekannten. Die Bahnhofsszene ist eine große Kontaktbörse, ein Informationspool und ein Marktplatz für gegenseitige Hilfestellung, sodass bei guter Netzwerkeinbindung eine Unterkunft auch kurzfristig zu finden ist. Einige halten sich immer eine letzte Möglichkeit bei ihren Eltern offen, wo sie trotz aller notorischen Probleme zumindest zeitweise unterkommen können, bis sich dann die alten Konflikte wieder eingespielt haben und sie sich etwas Neues suchen müssen. Besonders im Winter greifen die jungen Männer, die in der Schwulenszene »anschaffen gehen«, ganz selten auch die Frauen von der Kurfürstenstraße, dem Berliner Kinderstrich, schon einmal auf das Angebot der Freier zurück, bei ihnen unterzukommen. Diese
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asymmetrische Tauschbeziehung von materiellen Ressourcen gegen sexuelle Dienstleistungen bietet jedoch keine dauerhaft in Anspruch zu nehmende Lösung der Wohnproblematik. Schließlich ist auch die Unterkunft bei Freunden ständig mit der Unsicherheit behaftet, dass man nicht über die Wohnung selbst verfügen kann, sodass man von heute auf morgen wieder auf der Straße stehen kann. Zudem mangelt es den Freundschaften am Bahnhof wegen der allgemeinen Unübersichtlichkeit der Lebenssituation an Stabilität und Dauerhaftigkeit. Ein verlässlicher Rahmen zum Aufbau eines eigenständigen Lebens wird nicht geboten. Auch wenn einige Bahnhofsgänger eine eigene Wohnung haben, sind die meisten sind jedoch mit der Aufgabe weitgehend überfordert, sich erfolgreich auf die passenden Angebote in der Tageszeitung oder im Internet zu bewerben. Das Problem besteht aber nicht nur in Hinblick auf ein zielgerichtetes und kompetentes Agieren auf dem Wohnungsmarkt. Zudem sind die jungen Menschen stigmatisiert, weil sie kein eigenes Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit, sondern lediglich einen vom Sozialleistungsträger ausgestellten Kostenübernahmeschein vorweisen können. Wie schon auf dem Arbeitsmarkt müssen sie sich auch bei der Wohnungsbewerbung ganz hinten in die Schlange der Bewerber einreihen. Damit reduzieren sich die Chancen auf eine Wohnung, die zugleich eigenen Ansprüchen genügt, gravierend. Bei den Wohnungen handelt es sich häufig um eine Erdgeschosswohnung in sozial segregierten Wohnquartieren, die im dunklen, muffigen, feuchten Hinterhaus liegt und nur minderwertige Ausstattungsmerkmale aufweist wie Kohleofenheizung, unzureichende Sanitäreinrichtungen, heruntergekommene Räumlichkeiten et cetera. Aber auch ein bestehendes Mietverhältnis ist kein Garant für eine sichere und dauerhafte Unterkunft. Einige junge Menschen haben wegen der ungesicherten Einkommenssituation bei der Hausverwaltung Mietschulden, was dann schnell zur Kündigung der Wohnung führt. Aufgrund der Scheu gegenüber anonymen Institutionen und ihren Funktionsträgern setzen sich die jungen Menschen selbst bei wichtigen Angelegenheiten – Mietrückständen, Beschwerden durch Nachbarn oder wichtigen Reparaturarbeiten – nicht mit der Hausverwaltung in Verbindung. Konflikte mit dem Vermieter sind wegen mietwidrigen Verhaltens nicht unüblich, gerade wenn sich die jungen Menschen nicht an die Hausordnung halten oder Freunde bei sich wohnen lassen. So bleibt auch das Mietverhältnis durchweg prekär, weshalb die eigene Wohnung erst gar nicht die Bedeutung
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eines unaufkündbaren Privatbereichs und Rückzugsraums erlangt, wofür es sich einzusetzen lohnt.
2. Sozialräume und Dislokalisation Während in den Sozialwissenschaften räumlicher Ausschluss häufig – wenn auch nicht unwidersprochen – als Gettoisierung in den Armutsquartieren der Stadt gefasst wird, stellt sich die Situation der jungen Menschen auf der Straße anders dar (Wilson 1996; Thomas 2007). Es ist nicht in erster Linie eine Fixierung in städtischen Peripherien des Niedergangs, der Verwahrlosung und der Demoralisierung (Wacquant 2004). Allgemeiner werden die jungen Menschen in die marginalen, ressourcenschwachen Sozialräume der Gesellschaft abgedrängt. Diese räumliche Exklusion tritt im Alltag der jungen Menschen eher als »Dislokalisation« hervor. Dies kommt nirgendwo deutlicher zum Vorschein als in der Wohnungslosigkeit, der Eingeschlossenheit im Nirgendwo der Öffentlichkeit. In der Sozialisationstheorie von Uri Bronfenbrenner wird unter einer sozialökologischen Forschungsperspektive das Augenmerk auf die topologische Struktur der Umwelt des Individuums gerichtet. Die Einbettung in die soziale Lebenswelt wird als Schalen- respektive Schichtmodell differenzierter Bereiche der Welt- und Raumaneignung konzeptualisiert (etwa Bronfenbrenner 1976: 203 ff.; Baacke 1992; Zeiher & Zeiher 1994). In den Sozialwissenschaften sind Räume daher nicht allein mit Hilfe des Containermodells als physikalische Behälter zu fassen, sondern sie sind immer auch soziale Räume (Löw 2001). Der Begriff »Sozialraum« geht weit über die Bezeichnung räumlicher Charakteristika wie Ausdehnung, Form und Lage von Körpern, ihr Verhältnis zueinander oder auch die architektonische Raumgestaltung hinaus. Schon in der Sozialgeograpfie und der Stadtforschung verschiebt sich der Interessenschwerpunkt von physikalischräumlichen Gesichtspunkten zu sozialräumlichen Funktionsaspekten der Aneignung und Nutzung des Raumes durch soziale Gruppen (Dangschat 1998: 26). Sozialräume sind demgemäß sozial bedeutsame Handlungszusammenhänge, das heißt Lebensräume, in denen Menschen ihre Umwelt gestalten, ihren Alltag hervorbringen und zueinander in Austauschbeziehungen treten (Deinet 2005: 18; Debiel 2006: 344 f.). In dieser weit gefassten Perspektive sind damit sowohl der städtische Raum, in dem sich die
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öffentliche Kommunikation und Interaktion unter Bürgern entfalten, institutionelle Handlungsfelder wie Schule oder Arbeitsstelle, aber auch private Sphären wie die eigene Wohnung angesprochen (Bourdieu 2001: 172). Sozialräume konstituieren sich in der Schnittstelle von Sozialstruktur und Handlung (Löw 2001: 217). Aus der Perspektive der Sozialstruktur lassen sich Sozialräume als die Funktionsbereiche und Institutionen der Gesellschaft bestimmen, worüber die sozialen Austauschprozesse formal organisiert sind. In diesen Räumen des sozialen Lebens finden sich die allgemeinen in der Gesellschaft vorherrschenden Sozialstrukturen genauso wieder wie die darin eingeprägten Formen der Stratifizierung und sozialen Ungleichheit (Hradil 2005; Geißler 2006). Gerade weil in modernen Gesellschaften die durchgängige Knappheit nicht abgeschafft ist, sind Sozialräume aus der Sicht des Individuums immer auch »Arenen von individuellen, sozialen, symbolischen und politischen Kämpfen um Aneignung von Gütern und Diensten« (Kessl, Otto & Ziegler 2005: 193). Kapital- und Ressourcenausstattung, das heißt die Feldposition entscheiden darüber, inwieweit sich der Einzelne in diesen Konflikten und Kämpfen um Lebensbedingungen behaupten kann, die durch die arbeitsteiligen Handlungsbeiträge überhaupt erst hervorgebracht werden (Bourdieu 1985: 48 ff.). Die Bahnhofsgänger jedoch haben aufgrund ihres Exklusionsschicksals kaum eine Chance, sich in jenen Sozialräumen durchzusetzen, in denen die Konkurrenz aufgrund von Attraktivität und Knappheit der zu vergebenden Positionen groß ist, gerade weil sie wiederum aus anderen Sozialräumen – Arbeitsmarkt, Schule, Warenwelt – ausgeschlossen sind. Während Sozialräume auf der Ebene der Sozialstruktur als Institutionen anzusehen sind, müssen diese auf der Ebene der Handlung als Situationen und Lokalitäten gekennzeichnet werden. Das menschliche Wesen ist immer raum- und zeitgebunden, im Hier und Jetzt, damit einem spezifischen Kontext verankert und wird über den physikalischen Ort, den es in der Welt einnimmt, eindeutig lokalisierbar (Bergold 2000; Bronfenbrenner 1976). Diese Einbindung in das Raumgefüge findet aber ihre notwendige Ergänzung in der Integration in das Sozialgefüge (Bourdieu 1997: 97 ff.). Die Situation wird nämlich dann zur eigenen, wenn die leere Indexikalität der physikalischen Position durch die Aneignung einer Subjektposition in der Sozialwelt überschrieben und im positiven Sinne aufgehoben wird. Erst in den Sozialräumen sind jene lebensweltlichen Bedeutungs- und Handlungsstrukturen zu finden, in denen der »eigene Platz in der Welt« konkret greifbar und erfahrbar wird, etwa als Arbeitsplatz, Personalbüro, Ar-
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beitsamt, Wohnung, Straße et cetera. Der Rückzug in die Marginalräume der Überlebenssicherung am Rand der Gesellschaft mündet daher in einer Entkopplung von Handlungssituation und Sozialstruktur. Dislokalisation bedeutet nun, dass die individuelle Situation durch das Versiegen der Handlungskapazitäten nur sehr unzureichend mit attraktiven Sozialräumen in Deckung zu bringen ist, weshalb einzig die Hinwendung zu den ressourcenarmen Marginalräumen bleibt. Wohnungslosigkeit ist schließlich die Folge eines besonders strikten Auseinandertretens von Handlungssituation und Sozialraum. Zurückgezogen in die Uferböschung wird der Hunger für Friedrich zum existentiellen Regelfall. Das permanente Ausgesetztsein der äußeren Witterungseinflüssen, der Kälte und Nässe, lässt ihn nachts frieren. Beständig drängt sich die Sorge in den Vordergrund, dass sein Versteck gefunden werden, dass das Wenige an persönlicher Habe, wenn er abends hierher zurückkehrt, nicht mehr an Ort und Stelle liegen, dass er in der Nacht entdeckt werden könnte. An ausreichend Schlaf, Entspannung und Behagen ist nicht zu denken, sodass er ermüdet und entkräftet jeden Tag neu den Existenzkampf auf sich nehmen muss. Marginalräume weisen die Tendenz auf, dass sich dort »Menschen nur noch als ›Körper‹ aufhalten und auch so von der ›Gesellschaft‹ her gesehen nur als Un-Personen zählen, weil sie offenbar aus allen (Funktions-)Systemen der (etablierten) Gesellschaft ausgeschlossen sind« (Esser 2004: 272). Das Entgleiten einer selbst gestalteten Situation bedeutet die völlige Entäußerung der personalen Existenz durch ihre Unterwerfung unter die Definitionsmacht der äußeren Umstände und die Dringlichkeit der inneren Bedürfnisse. Diese Objektivierung mündet im Verlust der Handlungsfähigkeit und damit in der Preisgabe grundlegender Formen von Selbstbestimmung und Lebensqualität. Die resignative und apathische Vernachlässigung der Sorge um das eigene Selbst findet aber ihre unhintergehbare Grenze in der Leidensfähigkeit und der Verletzlichkeit des Körpers. So versucht Friedrich einsam und elendig ein wenig Schlaf zu finden, um am nächsten Tag den Daseinskampf wieder aufzunehmen, auch wenn es immer weniger um die Aneignung qualifizierter Lebensmöglichkeiten geht, und immer mehr um die Flucht vor der unmenschlichen Wirklichkeit seines sozialen Ausschlusses durch den betäubenden Drogenrausch.
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3. Verlust von Lebenszentrum und Infrastruktur Dislokalisation meint die Abdrängung von Menschen in die Marginalräume der Gesellschaft aufgrund der Schwierigkeiten und Überforderungen, die eigene Situation an ressourcenreiche Sozialräume anzubinden. In der Bahnhofswelt kommt die räumliche Exklusion besonders deutlich in der unsicheren Wohnsituation zum Ausdruck. Weil die Verhäuslichung der Alltagspraxis nicht gelingt, muss ein eigenes Zuhause, der Anspruch auf einen festen Platz in der sozialen Welt und die dauerhafte Zugehörigkeit zu lokal organisierten Lebensgemeinschaften ein abstrakter Wunsch bleiben. Für die Bahnhofsgänger ändert sich mit jedem Unterkunftswechsel das Arrangement der Sozialräume grundsätzlich, weil mit der eigenen Wohnung der geographische Nullpunkt abhanden kommt, von dem aus sich alle räumlichen Erstreckungen, die in die Welt hinausführen, bemessen lassen. Ohne ein Lebenszentrum, das heißt die eigene Wohnung, fehlt jede verbindliche Ausgangsbasis, um sich über eine Infrastruktur an Sozialräumen einen eigenen Lebenszusammenhang aufzubauen. Die eigenen vier Wände eröffnen einen Bereich der Intimität und der autonomen Verfügbarkeit. Hier steht jederzeit ein Rückzugsraum zur Verfügung, um aus der Öffentlichkeit des sozialen Lebens herauszutreten. Durch die eigenständige Verfügung über einen Privatbereich kann man zumindest temporär ganz unberührt von der Gegenwart, der Anteilnahme und Einmischung der Mitmenschen sein eigenes Leben haben. Der Verlust der Wohnung bedeutet dagegen, nicht mehr in der Lage zu sein, für eine Privatsphäre zu sorgen. Angesichts dieser Entgrenzung und Entstrukturierung der Handlungssituation ist die Gewährleistung physischer und psychischer Integrität nicht mehr möglich, gerade weil es an der Schutzfunktion der Wohnung als häuslichem Heimterritorium mangelt (Edney 1976). Mehr noch aber offeriert die eigene Wohnung als fester Aufbewahrungsort eine Menge an inkorporierten Handlungs- und Lebensmöglichkeiten: So erlaubt das eigene Bett nicht nur, sich von den Strapazen des Tages zu erholen, sondern wird zum eigenen Reich der Geborgenheit und Behaglichkeit, weit zurückgezogen von der fordernden, anstrengenden Welt. Das Badezimmer ist nicht allein für Verrichtungen der Körperhygiene gedacht, sondern Cremes, Schminke, Parfüme werden zu notwendigen Utensilien, um gepflegt und kultiviert wieder unter die Menschen zu treten. Die Wohnungseinrichtung offeriert nicht nur eine Vielzahl an Gebrauchsgegenständen, sondern das ganze Inventar, Nippes in den Re-
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galen, die Bilder an der Wand, der Karton mit Fotos unterm Bett ermöglichen es, sich in der Gegenständlichkeit der häuslichen Lebenswelt der eigenen Identität zu versichern (T. Habermas 1996: 120 ff.; Korosec-Serfaty 1984). Das Straßenleben bedeutet zudem einen Verlust der Verfügung über die technische Infrastruktur des modernen Lebens. Erst hierüber eröffnet sich aber die Teilhabe an Annehmlichkeiten, die weithin als so selbstverständlich angesehen wird, sodass darauf niemand mehr verzichten kann und will: Wasser, Heizung, Energie, Telefon, Fernseher et cetera (vgl. Ludwig-Mayerhofer, Müller & Paulberg-Muschiol 2001: 273). Mit Blick auf den Funktionenkreis der eigenen Wohnung sagt Bachelard: »Im Leben des Menschen schließt das Haus Zufälligkeiten aus, es vermehrt seine Bedachtheit auf Kontinuität. Sonst wäre der Mensch ein verstreutes Wesen« (1960: 39). Lebenssituation und Biographie korrespondieren in gewisser Weise mit der Heimatlosigkeit und Unruhe der Straße. Ohne einen festen Halt zu haben, pendeln die jungen Menschen von einer sich spontan ergebenden Wohnmöglichkeit zur nächsten. Besonders drastisch zeigt sich dies am Beispiel von Paula: »Also da war ich sieben Jahre alt dann, Marienstraße, ins Kinderheim. … Da war ich dann ungefähr anderthalb, zwei Jahre, bin dann zu meiner Pflegemutter … nach Charlottenburg, ähm … KurtSchumacher-Platz. Bin dann mit der noch mal umgezogen und … hin und her und dann bin ich aber auch bei meiner Mutter [Pflegemutter] ziemlich früh ausgezogen und also … Probleme ohne Ende. Das ist alles ziemlich … durcheinander.« Der ständige Wechsel von Wohnort und Lebenszentrum setzt sich weiter fort, als Paula mit 15 Jahren von ihrer Pflegemutter wegläuft, weil sie immerzu verprügelt wird. Es beginnt eine heimatlose Odyssee, ohne wieder eine feste Unterkunft zu finden. Sie kommt in unterschiedlichen Hilfeeinrichtungen unter, wohnt bei Freunden und steht für eine kurze Episode auch einmal ohne jede Unterkunft auf der Straße. Damit hat Paula von früher Kindheit an auf die Erfahrung verzichten müssen, mit einem Zuhause einen unaufkündbaren Ort zu haben, wo sie sich zugehörig weiß, um von hier aus dauerhafte Kontakte zu ihrer Umwelt aufzubauen. »Ich weiß nicht, ich bin das eigentlich von// von klein auf gewöhnt, weil// boah, na jetzt// ((lacht)) ich weiß nicht, also wenn Du mein Melderegister aus Berlin siehst, da sind mittlerweile, glaub ich, dreißig Adressen drauf.« Es sind aber nicht allein familiäre Konflikte, die dazu führen, dass eine häusliche Verankerung in der sozialen Welt nicht gelingt. In dem Alltagsle-
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ben, das an die Randzonen der Gesellschaft gebunden ist, kommt es typischerweise zu einer solchen Häufung an Problemen und Krisen, dass auch hier der einzige Ausweg in der Flucht zu liegen scheint, um sich in einem Akt der Verzweifelung aus allen verworrenen Bedeutungs- und Handlungsbezügen zu lösen. Die Beweggründe für den Weggang aus der Heimatstadt sind für Tobias: »Ich wollt halt nur weg von mein’ alten Freunden, ich hatte Angst, dass ich, wenn ich in Dortmund bleibe, wieder die ganze Scheiße von vorne reingeht, dass de Spielhalle direkt wieder um’e Ecke is, dass ich WIEder da hinfahre je// jeden Tag bis morgens früh um drei Uhr da bleibe un dann auch meistens da einpenn. Da hatt ich keinen BOCK drauf. Un in Berlin kannt ich dann halt … keine Spielotheken oder so, bin ich au’ nich mehr spielen gegangen.« Das einzige, was er abgesehen von dem guten Verhältnis zu seiner Mutter zurücklässt, ist seine Einbindung in marginale Räume, die Spielhallen, den Gelderwerb durch Diebstahl, die kumpelhaften Bekanntschaften. Dagegen findet Tobias nach seiner Flucht schon am selben Tag der Ankunft in Berlin über die Reaktivierung ehemaliger Kontakte zur Bahnhofsszene eine Unterkunft. »Bahnhof Soo ausgestiegen, direkt am »Bahnhof Zoo« die Leute// n paar LEUte wieder getroffen. Ansgar, Martin un so// Mich gefreut, wiedergetroffen un so un dann hab ich ers ma ’ne Woche am Zoo// äh äh nich am Zoo gepennt, so am Zoo noch rumgehang’n.« Und dennoch bildet die Straße entgegen aller Mystifizierungen als Abenteuer- und Erlebniswelt keinen Ersatz zu einem erschlossenen Lebenszusammenhang. Denn die Straße ist das genaue Gegenteil zum eigenen Zuhause, ein Nirgendsland, ein entstrukturierter Lebensbereich. Die jungen Menschen beschreiben selbst ihre Situation derart, als ob sie sich in der sozialen Welt verloren haben. In einem Gespräch versucht Karl mir zu erklären, was es für ihn bedeutet, den Tag auf der Straße zu verbringen, kein Zuhause zu haben und in Sozial- und Obdachloseneinrichtungen leben zu müssen. Man würde, so sagt er, zum Bahnhof gehen, weil man nicht wisse, wo man sonst hingehen solle, wenn man wohnungslos sei. Wohnungslosigkeit heißt hier nicht, keine eigene Unterkunft zu haben; er lebt zu der Zeit in einer Kriseneinrichtung. Vielmehr versucht Karl die Entfremdung und Entwurzlung zum Ausdruck zu bringen, die sein Schicksal mit dem der anderen am Bahnhof verbindet, die sonst nur um wenige Orte wissen, wo sie hinzugehören. Dislokalisation bedeutet für die jungen Menschen gerade diese Verlorenheit in der sozialen Welt, die deshalb leer und trist erscheint, weil ein Verweisungszusammenhang an Sozialräu-
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men zu entbehren ist, der über die Entfaltung eigener Weltbezüge und Wirkungskreise ein dauerhaftes Gefühl des Zuhause-, Aufgehoben- und Verwurzeltseins ermöglichen würde. Oliver verbindet mit einer eigenen Wohnung daher auch eine grundlegende Selbstverständlichkeit modernen Lebens: »… damit du da erstma ’n Dach über’m Kopp hast, wat eignes, weeßte, damit de deine eignen vier Wände hast, damit de in dem Sinne … nich irgendwie uff … andre Leute wieder uffje// anjewesen bist halt wegen Pennplatz und damit de halt nich uff de Straße lebst und so.«
4. Einschließende Dislokalisation Neben der häuslichen und der infrastrukturellen Dislokalisation findet sich schließlich mit der einschließenden Dislokalisation eine dritte Form sozialräumlichen Ausschlusses. Die räumliche Erschlossenheit der Lebenswelt ist auf einen kleinen Weltausschnitt verengt, aus dem es kaum auszubrechen gelingt. Claudia erzählte mir einmal, dass sie in Berlin aufgewachsen sei, aber während Kindheit und Jugend nie die Stadt verlassen habe, bis auf das eine Mal, wo sie als Jugendliche mit dem Heim, in dem sie zu der Zeit lebte, an die Ostsee zum Urlaub gefahren sei. Trotz dieser gravierenden Einschränkung des lebensweltlichen Erfahrungsausschnitts besteht bei den jungen Menschen sehr wohl das Interesse, aus den engen Grenzen bekannter Lebenssphären herauszutreten. Während meiner Zeit am Bahnhof habe ich einmal als gemeinsame Freizeitaktivität eine Fahrt zum Schloss Sanssouci ins benachbarte Potsdam angeboten. Es bestand ein großes Interesse und rege Beteiligung. Dennoch unternehmen die Bahnhofsgänger solche Ausflüge und Erkundungen bisher unentdeckten Terrains nicht aus eigener Initiative, obwohl sie sicherlich mehr als genug Zeit dazu hätten. Auch in dieser Beziehung überlagern sich in einer für marginale Lebenslagen typischen Weise mehrere Exklusionsdimensionen. Schon der Mobilität sind strikte Grenzen durch die Banalität der Armut gesetzt. Es fehlen schlicht die finanziellen Möglichkeiten, um sich ein Verkehrsticket leisten zu können. In den Pauschalen der Sozialleistungen sind täglich 65 Cent für Verkehrsbedürfnisse aller Art vorgesehen, was angesichts der 2,10 Euro, die eine Einwegkarte im Berliner Nahverkehrsverbund kostet, bedeutet, dass man alle 6 Tage eine Hin- und Rückfahrt bezahlen könnte, um über die zu Fuß erreichbaren Weltsphären hinaus zu
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treten. Die jungen Menschen setzen sich zwar durch das »Schwarzfahren« über diese erzwungene Eingrenzung ihrer Mobilität einfach hinweg, wobei aber gerade auf längeren Fahrten es zu einem unkalkulierbaren Risiko wird, von Fahrkartenkontrolleuren entdeckt zu werden. Es gibt niemanden am Bahnhof, der nicht beim Schwarzfahren ertappt worden ist, wobei selbst die Anhäufung von über 1000 Euro Schulden, die sich aus Schwarzfahrtickets, Inkassogebühren und Gerichtsstrafen addieren, keine Seltenheit ist. Zugleich aber steht der hohe Problemdruck der tentativen Erweiterung vorgefundener Lebenskreise weithin im Wege. Der subjektive Planungshorizont wird von den täglichen Herausforderungen der Existenzsicherung erdrückt: für eine Unterkunft, für ausreichende Geldeinnahmen, die Einbindung in den Szenetreffpunkt zu sorgen. Dahingegen rückt die Erschließung neuer Lebenssphären in den Hintergrund. Die Entwicklung von Engagement und Initiative bleibt in dem Problemwust stecken, nicht zuletzt weil es im Leben eigentlich genug andere, vor allem dringendere Dinge zu erledigen gäbe, die ein Heraustreten aus den engen Grenzen des marginalen Lebenshorizontes notwendig machen würden, als mitten in der Woche einen sonntäglichen Ausflug zum Schloss Sanssouci zu unternehmen. Vereinzelt finden sich aber auch Bahnhofsgänger wie Knut. Ab und zu setzt er sich in den Zug, manchmal mit Fahrkarte, ein anderes Mal ohne, oder kauft sich nach Auszahlung des Arbeitslosengeldes ein günstiges Flugticket, womit er europäische Metropolen bereist, in denen er sich kundig die örtliche Infrastruktur an Hilfeorganisationen, Essensausgabestellen und Übernachtungsangeboten zu erschließen weiß. Die meisten am Bahnhof jedoch beugen sich den unsichtbaren Raumschranken. Die gleichgültige Hinnahme der erlittenen Einschränkungen verhindert es, dass die jungen Menschen ständig an die strikten Grenzen ihrer Lebenssituation stoßen. Damit müssen sie nicht immer wieder schmerzlich feststellen, dass aus der erdrückenden Enge der Armut und Randständigkeit konkret kein Ausweg greifbar ist.
5. Doppelter Ausschluss: »Marginale Orte« Die Straße wird für die Ausgeschlossenen und Stigmatisierten, denen der Zugang zum gesellschaftlichen Leben verschlossen ist, zu einem Marginal-
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raum, in denen Schattenökonomie und entwertetes Sozialkapital in kläglicher Weise für eine Kompensation der Institutionen des alltäglichen Lebens sorgen (Wacquant 1993; 1997; Bauman 2004). Dennoch siedeln sich die Jugendlichen gerade nicht an den segregierten Rändern der Städte an, sondern der Treffpunkt liegt inmitten des Zentrums der ehemals Westberliner Innenstadt, einem stark belebten und attraktiven Sozialraum, erschlossen durch den Bahnhof »Zoologischer Garten« als städtischem Verkehrsknotenpunkt, in direkter Nähe zu Kudamm und Tauentziehnstraße, dem »Schaufenster des Westens«. Die Aneignung des Lebensraums Straße durch soziale Randgruppen setzt die eigentümliche Differenzierung des öffentlichen Raumes in zwei getrennte, zugleich koexistierende Lebenssphären voraus. Inmitten der urbanen Öffentlichkeit bildet sich unterhalb der geschäftigen Oberfläche respektabler Bürgerlichkeit eine weitere, opake und verdrängte Sozialwelt aus. Einerseits bemächtigen sich die Stadtbewohner den asphaltierten Straßenschluchten als gestaltbare Lebenswelt nur indirekt und zurückhaltend. Autoverkehr, Lärm und Hektik, das Sinnbild der modernen Stadt, lassen den offenen Straßenraum weithin unattraktiv erscheinen (Hohm 1997; Reutlinger 2003: 32 ff.). Die Interessensphäre der Passanten geht nur selten über die Bedürfnisse nach Mobilität und Konsum hinaus. Die Nutzung ist auf wenige Stadt- und Grünflächen beschränkt, die aufgrund von hohem Kapital- und Kulturwert vorwiegend zum Einkaufen, Flanieren und zur Stadtbesichtigung genutzt werden, zugleich aber als »grey areas« ein Niemandsland bleiben (Atkinson 2003). Schon seit langem ist ein Verschwinden des öffentlichen Raumes als lebendiger Ort sozialer Kommunikation zu beobachten (Sennett 1983). Distanzierung und Distinktion schaffen die für großstädtische Metropolen so bezeichnende Atmosphäre der Anonymität und Indifferenz. »Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele« (Simmel 1995: 126). Der öffentliche Raum ist zuerst ein für jedermann zugänglicher Ort. Besondere Zugangsbedingungen sind nicht zu erfüllen, sodass selbst diejeni-
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gen keine Eintrittskarte vorzuweisen brauchen, die anderswo ihr Teilnahme- und Teilhaberecht längst verwirkt haben. Zur exterritorialen Zone werden die Straßen- und Bahnhofsszenen trotz aller Zentralität aber aufgrund der sozialräumlichen Verdichtung und Überlagerung biographischer Problemverläufe. Die Transformationsriemen sozialer Segregation greifen auch hier vollkommen geräuschlos ineinander, indem sich die sozialräumlich Exkludierten »ohne großen Druck« dort ansiedeln, wo in einer ansonsten hochgradig sozial strukturierten und regulierten Sozialwelt der Großstadt die letzten Leerstellen, Nischen und Rückzugsräume vorzufinden sind. Daher sind es gerade die Ausreißer und Trebegänger, die strukturell Deplaztierten und Ausgeschlossenen, für die der Lebensort Straße zum privilegierten Aktions- und Handlungsfeld wird. Zudem können sie hier in der Innenstadt im Gegensatz zu anderen städtischen Quartieren, etwa dem nachbarschaftlich erschlossenen Wohnviertel, ganz in der Anonymität der Öffentlichkeit untertauchen, ohne Interessenkonflikte um Raumansprüche mit Anwohnern zu befürchten (Ronneberger, Lanz & Jahn 1999; Thomas 2005: 72 ff.). Die Aneignung dieser Leerstelle bedeutet aber auch, dass außer dem physikalischen Raum zur Entfaltung eigener Interessen nichts Besonderes vorzufinden ist. Auf der Straße gibt es keine materiellen Ressourcen, die über die informelle Ökonomie der Straße hinaus beschafft werden können. Es ist vor allem die Ansiedlung als soziale Gruppe an einem festen Treffpunkt, woraus sich die Möglichkeiten des Ortes entwickeln. Dennoch steht den Bahnhofsgängern die Öffentlichkeit nicht in gleicher Weise offen wie dem »normalen« Bürger. In den modern gestylten Innenstädten, die immer stärker kommerziellen Zwecken unterworfen sind, fallen gerade gesellschaftliche Randgruppen aus dem eng geknüpften Funktionsraster des öffentlichen Raums heraus. Im Zuge der Ausweitung der privaten Kontrolle über Stadtflächen entstehen halböffentliche Räume – Shopping Malls, Bahnhöfe, privatisierte Plätze, vermieteter Straßenraum –, die der Verfügungsmacht der Allgemeinheit entzogen und in denen Nutzungsund Gestaltungsmöglichkeiten allein schon durch Hausordnung und Ordnungsdienste eingeschränkt sind (Alisch & Dangschat 1998). Vor allem werden hinter den gläsernen Fassaden der Einkaufspassagen, die dem Betrachter Exklusivität und Gediegenheit vorspielen, mit Hilfe restriktiver Sicherheits- und Überwachungskonzepte alle Hinweise auf »die marginalisierte Stadt der Randgruppen, der Ausgegrenzten, der dauerhaft Arbeitslo-
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sen, der Ausländer, der Drogenabhängigen und der Armen« bestmöglich zu unterdrücken versucht (Häußermann & Siebel 1995: 138f.). Speziell die Bahnhöfe deutscher Großstädte, die bis zur Privatisierung des Schienenverkehrs ein selbstgenügsames Dasein gefristet haben, werden in den letzten Jahren als attraktive Verkaufslagen wiederentdeckt und zu offenen, hellen Erlebnis- und Einkaufscentern umgestaltet. So ist auch der Bahnhof »Zoologischer Garten« vor einigen Jahren von der Deutschen Bahn mit großem Aufwand modernisiert und durch eine großzügige Ladenpassage erweitert worden. Unter dem Paradigma der unternehmerischen Stadt wurde der Bahnhof zum selbständigen Profitcenter, in dem die ökonomische Verwertung der Immobilie an erster Stelle steht, während Menschen hier vor allem die Rolle als zahlungskräftige Kunden und Konsumenten zugewiesen erhalten. Für die Einhaltung der öffentlichen Ordnung und die Durchsetzung des Hausrechts sorgt am »Bahnhof Zoo« jeden Tag eine Vielzahl zu diesem Zweck beschäftigter Menschen: die Wachschützer der Bahn, der Bundesgrenzschutz, die Berliner Polizei und die Kriminalpolizei. Während der Zutritt zum öffentlichen Raum nur schwer zu regulieren ist, lassen sich andererseits sehr leicht alle Verhaltensweisen sanktionieren, die nicht unumwunden dem anonymen, gleichgültigen, beschäftigten Bild der Öffentlichkeit entsprechen. Die Diskussion um die Verbannung der Bahnhofsmission aus den Bahnhofsgebäuden hat gezeigt, mit welcher Vehemenz die »unschöne« Anwesenheit der sozial Ausgeschlossenen mit dem Ziel bekämpft wird, sich nicht den ästhetischen Genuss von Wohlstand und Reichtum trüben zu lassen (vgl. Dangschat 1999: 14). Zwar versuchen die Bahnhofsgänger den Verdrängungs- und Vertreibungsdruck zu unterlaufen, indem sie sich an Hausordnung und Spielregeln halten, in ihrem Kleidungsstil nicht weiter aufzufallen versuchen und sich in die allgemeinen Verhaltensformen der Öffentlichkeit einpassen. Über die Ordnungskräfte sagt Sven: »Ach, wenn man ganz lieb und nett ist, dann sind die auch ganz lieb und nett … Solange man sich an die Rejeln hält, jeht das doch.« Dennoch ist der tägliche Aufenthalt am Bahnhof nicht ohne Dauerkonflikt mit den Ordnungskräften zu haben, weil sich die Verhaltens- und Freizeitformen von Jugendlichen nicht zwanglos in die öffentliche Ordnung einfügen. Sobald sie mit ihren Freunden in größeren Gruppen zusammenstehen, besonders im Geschäfts- und Ladenbereich der Bahnhofshalle, werden sie vom rasch herbeieilenden Wachschutz aufgefordert, auseinanderzugehen.
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Oliver, Friedrich und Detlef machen gerade ihre Witze über die Bahnhofspolizei, die einen anderen Bahnhofsgänger, der aufgrund seiner abgetragenen, verdreckten und verwahrlosten Kleidung von den anderen als Außenseiter gemieden wird, dazu bewegen wollen, dass er das Bahnhofsgebäude verlässt. »Haben die sonst nichts zu tun«, fragt Oliver, halb belustigt und halb empört, während Friedrich mit ironischem Unterton anmerkt: »An dem würde ich mir aber meine Hände nicht schmutzig machen.« Auch wenn sich die kleine Gruppe als gesittete und kultivierte Zuschauer von dem Geschehen zu distanzieren versucht, sind Spott und Hohn gegenüber den Ordnungskräften und das spontane Sympathisieren mit dem ansonsten Gemiedenen nicht zu überhören. Als Joachim hinzukommt, wird ihm sogleich erzählt, dass die Bahnhofspolizei den »harmlosen Spinner« wieder einmal vom Bahnhof abgeführt habe. Die Anordnungen der Ordnungskräfte werden als willkürliche Eingriffe erfahren, gegen die sich die Jugendlichen zu behaupten versuchen, ohne sich aber mit ihren Ansprüchen durchsetzen zu können. Die territorialen Kämpfe sind nicht als Räuber-und-Gendarm-Spiele misszuverstehen, die auf der Bühne des Großstadtdschungels ausgetragen werden, um für spannungsgeladene Action und vergnügten Spaß zu sorgen (Allert 1993; Becker 1983; Birtsch, Kluge & Trede 1993). Vielmehr bilden die Vertreibungsund Verdrängungsversuche einen weiteren Mosaikstein im umfassenden »Feld der Exklusion«. Dazu Hüseyin: »Heute stehste da zehn Minuten, kommt schon die … vom Bahnschutz die Typen da, … die Blaumänner. … ›Ja, verlassen Sie bitte den Bahnhof‹ oder ›Sie verhin// … behindern den REIseverkehr‹ oder ›Sie stehn in der Türe‹, ›Keine Versammlungen hier‹ und blabla. … Auch, jetz hab ich auch HAUSverbot, also … swei Jahre. … Hab ich dann ne Anzeige bekommen wegen Hausfriedensbruch auch.« Die jungen Menschen fügen sich den Ausgrenzungsstrategien allein schon aus dem Grund nicht, weil Straße und Bahnhof die letzten Orte sozialer Integration sind, an denen sich die Misere ihres Alltags zumindest ein Stück weit aufhebt. Nach der Aufnahme der polizeilichen Anzeige auf der Wache kehren sie zumeist auf direktem Wege zum Bahnhof zurück. Eine strikte Durchsetzung der Platzverweise und Hausverbote würde erst jene Sichtbarkeit und Unschönheit des »Problems« schaffen, das den Passanten angesichts der üblichen Geschäftigkeit und Hektik zumeist verborgen bleibt. Diese territorialen Konflikte vor Ort erfahren noch eine weitere Verschärfung aufgrund der Tatsache, dass der »Bahnhof Zoo« nach dem »All-
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gemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz Berlin« (ASOG) als »Gefährlicher Ort« definiert ist. Als Gefährliche Orte gelten innerstädtische Plätze, die vorwiegend als Treffpunkt marginalisierter Menschen, als Drogenumschlagplatz oder als Straßenstrich dienen – wobei die Liste an Plätzen gegenüber der Öffentlichkeit geheim gehalten und nur aufgrund einer Indiskretion bekannt wurde. Auf Grundlage dieser Verordnung werden der Polizei Sonderbefugnisse verliehen, die es ihr erlauben, einerseits ohne einen konkreten Anfangsverdacht Personenkontrollen durchzuführen, andererseits jede Person zum Verlassen des Ortes aufzufordern. Es handelt sich nicht nur in allgemeiner Hinsicht um einen gravierenden Eingriff in individuelle Persönlichkeitsrechte. Selektive Wahrnehmungsprozesse lassen befürchten, dass von dieser Regelung in besonderem Maße jene Personen betroffen sind, die nicht in die allgemeinen Vorstellungen von einer sauberen, konsumentenfreundlichen Stadt passen. Architektonik und Gebäudemanagement warten zudem mit einer ganzen Palette an sozialtechnologischen Strategien auf, die durch subtile, aber wissenschaftlich informierte Gestaltungsdesigns und Bewirtschaftungsformen in kaum sichtbarerer Weise auf die Verdrängung von unerwünschten (Rand-)Gruppen zielen. Eine probate und vielfach realisierte Maßnahme besteht darin, Warte- und Aufenthaltsbereiche mit gastronomischen Angeboten zu verbinden, deren Nutzung eine unausgesprochene Verpflichtung zum Kauf und Verzehr von Lebensmitteln und Getränken voraussetzt. Ebenso werden in den letzten Jahren überall dort Bänke und Sitze demontiert, wo diese von Jugendlichen und Randgruppen genutzt werden. Nach der Sanierung des Bahnhofgebäudes wurde zunächst auch in den beiden Hallen auf die Bereitstellung von Sitzmöglichkeiten verzichtet. Ebenso sind alle Fensternischen, Vorsprünge an Wänden und Fassaden durch das Anbringen von künstlichen Schrägen derart umgestaltet worden, dass diese sich zum provisorischen Sitzen nicht eignen. Und selbst bei den Papierkörben gibt es keinen ebenen Flächen, um keine Möglichkeit zum Abstellen von Getränken zu bieten, wodurch diese sich etwa als probater Bistrotisch-Ersatz umfunktionieren ließen. Weiterhin versprühen die Reinigungsfahrzeuge auf den umliegenden Gehwegen ein süßlich-schweres Parfüm, dessen Geruch nicht nur die Ausdünstungen der Stadt, Urin, Erbrochenes und Verdorbenes überdeckt, sondern beim längeren Aufenthalt eine olfaktorische Zumutung darstellt. Auf das orwellhafte Abspielen von klassischer Musik, das sich als permanentes, der städtischen Geräuschkulisse fremdes Hintergrundrauschen der
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Aufmerksamkeit aufdrängt, wird zumindest am »Bahnhof Zoo« verzichtet. Schließlich registrieren die heutzutage fast unvermeidlichen Videokameras lautlos jeden Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. Beim kurzzeitigen Transit durch den öffentlichen Raum mag das punktuelle Gefilmtwerden vielleicht noch hinnehmbar sein. Für die jungen Menschen stellt dies aber eine maßgebliche Einschränkung der Intimität ihrer Gesprächs- und Freizeitrunden und des Rechts auf informative Selbstbestimmung dar. Es ist gerade die private Seite ihrer sozialen Beziehungen, die hier schutzlos gegenüber dem Interesse von Wachpersonal und Ordnungshütern entblößt ist. Begründeterweise müssen sie befürchten, dass jede Verhaltensweise und Geste in den Schaltzentralen der Sicherheitstechnik verfolgt und beobachtet wird. Mit Blick auf die Hausordnung wird zudem deutlich, dass all diese repressiven Maßnahmen einen deutlichen symbolischen Charakter haben. Denn die Bürger, die sich im öffentlichen Raum angemessen, das heißt distanziert und desinteressiert zu verhalten wissen, fühlen sich gar nicht erst angesprochen. Es sind die sozial Ausgeschlossenen und Desintegrierten, denen durch dieses performative Regulationsarrangement wie etwa die angeschlagene Hausordnung schon beim Betreten signalisiert werden soll, dass ihnen jede Anspruchsberechtigung zur Nutzung dieser halböffentlichen Stadtzentren – wie auch schon in anderen Sozialräumen – abgesprochen wird. Damit sind die Bahnhofsgänger an den marginalen Orten mit ihrem doppelten Ausschluss konfrontiert. Die Straßen und Plätze werden zu randständigen Räumen für sozial ausgeschlossene Menschen. Glück und Freiheit der Straße sind hier nicht so sehr zu finden, zu sehr handelt es sich um eine Verlegenheitslösung, um eine der letzten Stationen des sozialen Abstiegs. Vielmehr werden sie hier mit subtilen bis ganz handgreiflichen Mitteln der sozialen Ordnung verdrängt und vertrieben.
6. Räumliche Dislokalisation Exklusion gewinnt ihre Brisanz für die individuelle Lebensführung dadurch, dass die Tragik der Marginalisierung weit über die rein ökonomische Dimension hinausweist. In ganz prinzipieller Hinsicht steht auf den unterschiedlichsten Lebensfeldern die Individualintegration in Frage. Die räumliche
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Exklusion lässt sich dabei keineswegs auf die ungesicherte Wohnungssituation und den Vertreibungs- und Verdrängungsdruck auf dem Bahnhofsterrain begrenzen. Denn übersetzt auf die konkrete Erfahrungsebene der individuellen Lebensbewältigung bedeutet räumliche Exklusion viel mehr: das Eingeschlossensein in einem Feld des persönlichen Scheiterns, das sich rein negativ durch die Distanz zum anerkannten Sozialleben auszeichnet. Zur präziseren Differenzierung und Spezifizierung der Formen räumlicher Exklusion wurde deshalb der Begriff Dislokalisation eingeführt, was zunächst einmal bedeutet, im Geflecht der Gesellschaft keine verbürgte Position einnehmen zu können und in die marginalen »Zonen des Ausschlusses« verbannt zu sein, in denen die eigene Person, elementare Bedürfnisse und Interessen, die Träume vom besseren Leben nur wenig zählen. Davon ausgehend ließen sich dann verschiedene Ausschlussmodi hervorheben: häusliche, infrastrukturelle und einschließende Dislokalisation. Besonders die ungesicherte Wohnsituation weist ein beträchtliches Bedrohungspotential für einen sozial integrierten Lebenszusammenhang, der in einem breiten Spektrum an Sozialräumen zu verankern ist, auf. Dies verschafft sich episodisch immer wieder durch das Eintreten von Wohnungslosigkeit Geltung, der entbehrungsreichsten und existentiell bedrohlichsten Form sozialen Ausschlusses (Ludwig-Mayerhofer, Müller & Paulberg-Muschiol 2001). Andererseits bedroht der Ausschluss aus attraktiven Sozialräumen den Lebenszusammenhang, insoweit gerade wegen der eigenen Marginalität die Durchsetzungsfähigkeit um Zugang zu Positionen in gesellschaftlichen Feldern eine sich dynamisierende Regression erfährt. Während nun durch die infrastrukturelle Dislokalisation ein integrierter Lebenszusammenhang verloren geht, beschreibt die einschließende Dislokalisation die Verengung der Weltaneignung auf eine geringe Anzahl nur notdürftig im geographischen Nahraum zusammengehaltener Sozialräume. Die Dislokalisation aus dem Gefüge gesellschaftlicher Lebensräume führt die jungen Menschen schließlich am Lebensort Straße zusammen, weil sie hier an der Leerstelle der Öffentlichkeit auf einen Marginalraum stoßen, an dem keine expliziten Ausschlusskriterien den Zugang versperren. Die Straße wird aber nicht allein deshalb zum Rückzugsort, weil andere Optionen und Anschlüsse weggebrochen sind, sondern weil sie sich hier in der Gemeinschaft der Bahnhofsgänger wieder rudimentären Formen sozialer Einbindung bemächtigen können. Die marginalen Räume sind daher als ressourcenarme Marginalräume sozial Ausgeschlossener zu bestimmen. Mehr noch wird mit der Ausbreitung privatisierter, halböffent-
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licher Räume und der Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des städtischen Raumes ein elementares Recht ausgehöhlt, das zum Selbstverständnis demokratischer Gesellschaften gehört. In der unternehmerischen Stadt sind nicht allein sozial unerwünschte, das heißt arme und randständige Nutzergruppen betroffen. Durch diese Engführung und Homogenisierung wird nämlich in ganz prinzipieller Weise die Entfaltung von Kommunikation und Interessen freier Bürger beschränkt. Anhand der räumlichen Exklusion verdeutlicht sich aber auch, dass Leistungserbringung und Wohlverhalten in der Mittelstandsgesellschaft nicht allein durch Gratifikationen und Anerkennung – Geld, Status, Lebensmöglichkeiten – erreicht werden. Denn jenen Menschen, die Schwierigkeiten haben, den Anforderungen an eine selbständige Lebensführung nachzukommen, wird ebenso mit Ausschluss gedroht. Die Botschaft, die an das untere Bevölkerungsdrittel, die Prekärintegrierten, gesendet wird, ist eindeutig: sich trotz der strukturellen Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit der eigenen Bemühungen nicht zu entmutigen lassen, sich weiter nach den nur noch notdürftig zugesprochenen Gratifikationen zu strecken, nicht von den Normen und Werten des Mittelstandes abzuweichen, alles zu verhindern, um nicht ins soziale Abseits abzufallen, damit sie nicht eines Tages auch zu den Junkies, Prostituierten und Obdachlosen gehören.
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Ein menschenwürdiges Leben ist unlösbar mit den Kerninstitutionen des gesellschaftlichen Lebens verflochten, die für die reproduktiven Bedingungen individueller Existenz sorgen – Familie, Bildung, Wirtschaft, Administration, Politik und Kultur (Gehlen 1950; Schelsky 1970; Esser 2000b). Institutionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das soziale Leben ordnen, indem die wechselseitigen Erwartungshaltungen der in einem Sozialraum engagierten Akteure auf vordefinierte Funktionen und Rollen hin vereindeutigt werden. Die komplexer werdende Welt ist immer weniger durch konkrete Lebenszusammenhänge und soziale Beziehungen getragen. Eine erfolgreiche Individualintegration wird abhängig von der kognitiven Repräsentation und alltagspraktischen Beherrschung der Anforderungen, die aus der institutionalisierten Bedeutungs- und Handlungsstruktur erwachsen. Ein Herausfallen aus der institutionalisierten Welt bedeutet den Ausschluss aus den strukturierten, öffentlichen Bereichen der Sozialwelt, in der die Menschen ihr Leben organisieren und den sozialen Austausch pflegen. Besonders für die Bahnhofsgänger sind alle Institutionen der Erwachsenenwelt ein Buch mit sieben Siegeln. »Millions of people on the street not dividing their lives between a public and a private sphere of existence and apparently living independent of social institutions« (Wagner 1993: 10 f.). Unter Verwendung des Begriffs der institutionellen Exklusion sollen gerade die lebensweltlichen Umgangsschwierigkeiten mit der Funktionsbezogenheit, Verrechtlichung, Regelgeleitetheit, Abstraktheit und Anonymität der Institutionen der Erwachsenenwelt hervorgehoben werden, die in der Konsequenz zur Benachteiligung und zum Ausschluss von der institutionellen Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen führen (Häußermann, Kronauer & Siebel 2004). Das Kapitel unterteilt sich in zwei Hauptbereiche. Im ersten Teil werden die Integrationsschwierigkeiten exemplarisch dargestellt, mit denen die jungen Menschen in der Schule, das heißt in der für die sekundäre Soziali-
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sation maßgeblichen Institution konfrontiert sind (1). Einleitend wird die paradigmatische Funktion herausgehoben, die der Schule für die ersten Gehversuche in die institutionalisierte Welt der Erwachsenen zukommt (a). Obwohl die Schule von ihrer offiziellen Doktrin her, Lebenschancen und Biographieverläufe anhand von universalistischen Werten und Normen – Leistung und Benehmen – selektiert, erweist diese sich beim genauen Hinsehen auch als Reproduktionsagentur von sozialen Ungleichheiten, die aus dem primären Sozialisationsumfeld herrühren (b). Für eine Vielzahl der Bahnhofsgänger reduziert sich die Schulwirklichkeit auf die Erfahrung ihres tagtäglichen Scheiterns und Ausschlusses. Durch die Internalisierung und Generalisierung der Rolle des Schulversagers droht sich schließlich ein zögerliches, distanziertes und regressives Verhältnis auch auf andere Institutionen der Erwachsenenwelt zu übertragen (c). Im zweiten Teil werden die typischen Probleme sozial schwacher Schichten im Umgang mit Institutionen thematisiert, wie diese sich aus dem hohen Maß an Unkenntnis und Unvertrautheit mit komplexen, anonymen Handlungszusammenhängen ergeben (2). Die Zunahme an Komplexität und Abstraktheit der sich in einer Vielzahl an Institutionen ausdifferenzierenden Lebenswelt steht der einfachen Bewerkstelligung eines ausreichenden Maßes an Individualintegration im Wege (a). Als spezifische Probleme der Inanspruchnahme der institutionellen Güter und Dienstleistungen erweisen sich besonders rechtliche, administrative und sprachliche Schwellen, die für Alltagsorganisation und Lebensführung zu kaum überwindbaren Barrieren werden (b). Insbesondere im institutionellen Kontext Sozialamt werden die administrativen Verfahrensweisen und Entscheidungen als Willkürakte des Sachbearbeiters, als Degradierungszeremonien erfahren (c). Das Kapitel schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung zentraler Exklusionsfaktoren, die für das Institutionsgefüge moderner Gesellschaften kennzeichnend sind und die subjektiven Bestrebungen nach einer erfolgreichen Individualintegration scheitern lassen (3).
1. Schule und institutionelle Exklusion Sozialisation und Schule Über die Sozialisation findet der Heranwachsende seinen Platz in der Sozialwelt. Durch Vermittlung wesentlicher Bestände an Kultur, Wissen und
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Werten, die in der Gesellschaft gelten, soll das Kind befähigt werden, sich zu einem vollwertigen Mitglied der Lebensgemeinschaft zu entwickeln. Dazu müssen sich auf individueller Seite diejenigen Wissensstrukturen und Handlungskompetenzen herausbilden, die für eine selbständige Lebensführung notwendig sind. Besonders durch die sekundäre Sozialisation, die über gesellschaftliche Erziehungs- und Bildungsinstitutionen vermittelt ist, wird das Kind mit der Welt der Erwachsenen vertraut gemacht. »Bildung ermöglicht überhaupt erst die Teilhabe am Gemeinwesen ebenso wie Chancen einer autonomen Lebensführung« (Hacket, Preißler & LudwigMayerhofer 2001: 97). Bei der Schule handelt es sich um den ersten Lebensbereich, in dem der Heranwachsende die Unmittelbarkeit des sozialen Nahraums der Familie dauerhaft überschreiten und sich in den differenzierten Funktionsbereichen der Gesellschaft eigenständig bewähren muss. In Hinblick auf die Sozialstruktur wird er an jene Aufgaben und Funktionen herangeführt, die zur Reproduktion des gesellschaftlichen Lebenserhaltungssystems notwendig sind. In Hinblick auf die Individualintegration wird durch die Aneignung immer weiterer Lebensbereiche die Entfaltung individueller Handlungsfähigkeit überhaupt erst möglich. Die Schule wird daher nicht allein aufgrund der reinen Vermittlung von Wissen und Information zur Schlüsselinstitution der individuellen Verselbständigung. Vielmehr findet der Heranwachsende hier ein Lern- und Entwicklungsfeld vor, in dem er seine ersten Schritte in eine autonome Lebensführung üben und sich auf die Übernahme einer Erwachsenenrolle vorbereiten kann (Rolff 1997: 131 ff.). Dabei steht die Schule zugleich als gesellschaftlicher Funktionsbereich paradigmatisch für die Institutionen der Erwachsenenwelt, in welche die Integration zu bewerkstelligen ist. Der Schuleintritt trägt folglich zu einer gravierenden Änderung der Stellung des Kindes innerhalb der sozialen Gemeinschaft bei. Erstens ist das Kind durch die Übernahme der Rolle und Position, die durch das Funktionssystem Schule geboten werden, von nun an in etwas Bedeutungsvolles und Wichtiges einbezogen, das seinen Wert aus dem übergeordneten gesellschaftlichen Lebensprozess erlangt (vgl. Leontjew 1964). Zweitens hängt im Gegensatz zur informellen Einbindung in die Familie die formale Integration in gesellschaftliche Lebensbereiche nicht mehr nur von sozialer Wertschätzung und der Qualität sozialer Beziehungen ab. »Zu den persönlichen Beziehungen zu den Familienmitgliedern kommen in der Schule sachlich zentrierte Beziehungen zu Lehrern und Mitschülern hinzu«
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(Schäfers & Scherr 2005: 109). Bedeutung und Status, die das Kind als Schüler erlangt, sind nun vor allem darauf rückbezogen, inwieweit es die Rolle und Position innerhalb der Schulinstitution ausfüllen und sich darin persönlich bewähren kann. »Im Unterschied zur Mutter tritt die Grundschullehrerin als eine Bezugsperson auf, die emotional neutral ist und die Persönlichkeit des Kindes allein nach der erbrachten individuellen Leistung bemisst. Indem ein Kind sich in die formalen Rollenbeziehungen einer Schulklasse einfindet, übernimmt es in seine Persönlichkeit die öffentlichen Wertmuster« (Hurrelmann 2002: 86). Welche Erfahrungen haben nun die Bahnhofsgänger bei der Überschreitung des häuslichen Lebenszentrums durch den Eintritt in die Schule als ersten Schritt in das Erwachsenenleben gemacht? Matthias zieht einen Stapel Kopien aus einer zusammengerollten, zerknitterten Klarsichtfolie, den er mir über den Bistrotisch, an dem wir zusammenstehen, zuschiebt. Ob ich nicht mal seine Zeugnisse sehen wolle, fragt er mich. Ich könne mich mal davon überzeugen, sagt er, wie gut er in der Schule gewesen sei, ohne ein Schmunzeln zu verbergen. Beim Durchblättern der Zeugniskopien zeigt sich mit jedem weiteren Schuljahr das fortschreitende Scheitern einer Bildungsbiographie. In den schriftlichen Beurteilungen der ersten beiden Klassen der Grundschule schreibt seine Lehrerin noch, dass ihm das Anschlusshalten an den Lehrstoff keine Mühe bereitet. Dennoch wird schon auf erste Probleme hingewiesen: introvertierte Geistesabwesenheit während des Unterrichts, Konzentrationsschwierigkeiten bei der Bearbeitung von schriftlichen Aufgaben, geringe Anzahl an sozialen Kontakten im Klassenverband. Mit jedem weiteren Zeugnis verschlechtern sich die Leistungen, stattdessen nehmen die Fehlstunden zu, der Außenseiterstatus in der Klassengemeinschaft verfestigt sich. Der kleine Junge, der mit der Schule sicherlich auch einmal neugierig und erwartungsfroh begonnen hat, muss bald feststellen, dass ihm die Möglichkeiten, sich hier erfolgreich unter Beweis zu stellen, verbaut sind. Die Lehrerin schreibt in das Versetzungszeugnis der 5. Klasse: »Er stört den Unterricht durch Rufen von ungehörigen Bemerkungen, bis dieser unterbrochen werden muß. Oft leidet dadurch die Atmosphäre in der Klasse in unerträglicher Weise, weil die Kinder und die Lehrerin immer wieder neu anfangen müssen, mit dem Thema zu beginnen.« Matthias wird schließlich eine Klasse zurückgestuft, wechselt dann die Grundschule und wird schließlich in einer Schule für Kinder mit Lernschwierigkeiten eingeschult, ohne nach neun Schuljahren einen qualifizierten Schulabschluss vorweisen zu können.
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Auf dem Abschlusszeugnis steht wegen der hohen Fehlquote in allen Fächer ungenügend. In der jugendkulturellen Gemeinschaft am »Bahnhof Zoo« ist der Haupt- und Sonderschüler der typische Fall, der wie Matthias die Schulzeit sinnlos, wenn nicht sogar als Zumutung und Quälerei empfunden hat, während sich der Ausschluss mit jedem weiteren Jahr verfestigt. Damit haben sich die Schwierigkeiten, in den Sozialräumen und Institutionen der Gesellschaft Anschluss zu gewinnen, schon in der Schulzeit festgesetzt. Dennoch muss beachtet werden, dass einige Bahnhofsgänger sehr wohl mit dem schulischen Anforderungsniveau mitgehalten, einen Hauptschulabschluss erlangt, wenige sogar mit einem Realschulabschluss abgeschlossen haben. Trotz einer großen Bandbreite an unterschiedlichen Ausprägungen schulbezogener Exklusionsformen, wird im Folgenden die typische Struktur des »schlechten Schülers« herausgearbeitet. Dennoch entbindet die Herausarbeitung dieser »typischen Figur« keineswegs von der Aufgabe, das angebotene Exklusionsfeld bei der Rekonstruktion des Einzellfalls erst hinsichtlich der genauen Vermittlungsschritte zu konkretisieren, in denen sich die Exklusionsbewegungen – auch auf den anderen Integrationsdimensionen – in der einzelnen Biographie durchgesetzt haben (vgl. hierzu auch Marquardt 2000: 333).
Familie und soziale Ungleichheiten Für die Bahnhofsgänger bedeutet der Schulbesuch keineswegs eine Kompensation und Aufhebung der schlechten Startvoraussetzungen, die die meisten in der Familie vorgefunden haben (vgl. Prenzel et al. 2004: 236; Baumert 2001: 360). Die Familienprobleme haben sich in den Biographien der jungen Menschen vielmehr in Schulprobleme verwandelt (vgl. auch Helsper, Müller, Nölke & Combe 1991: 262; Mack 1999: 10). Von Matthias weiß ich, dass ihn, seitdem er sich erinnern kann, sein arbeitsloser und alkoholkranker Vater verprügelt hat. Er lebt in jungen Jahren, nach dem Auszug seiner Mutter, zu der seitdem kein Kontakt mehr besteht, eine Zeitlang bei seinen Großeltern, wo er, wie er sagt, eine glückliche Zeit verlebt habe, bis ihn sein Vater wieder zu sich nach Hause nimmt. Später als Jugendlicher ist er dann mehrmals aus dem Elternhaus ausgerissen, bis das Jugendamt auf die Familie aufmerksam wird, weil Matthias infolge der Gewaltexzesse des Vaters zweimal ins Krankenhaus eingewiesen wird. Angesichts der Auswirkungen der desolaten Familiensituation auf Wohlbe-
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finden, Leistungsfähigkeit und Motivation, muss das Versagen in der Schule auch vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Gerade bei Kindern aus Problemfamilien zeigt sich, dass der Universalismus, der dem Bildungsauftrag und dem Selbstverständnis des Schulwesens zugrunde liegt, kein Garant für Chancengleichheit ist. Die reale Gleichbehandlung der Schüler bei der Vermittlung des curricularen Lehrstoffs und bei der Leistungsbewertung von Wissen, kognitiven Fähigkeiten, Benehmen führt mitnichten dazu, dass die sozialen Ungleichheiten der Herkunftsfamilien in ihrer Auswirkung auf die Bildungsbiographien nivelliert werden. Die Entwertung der eigenen Person durch Misshandlung und Gewalt der Eltern, die jeden Tag neu auszustehende Angst, die Entbehrung von Liebe und Zuneigung, die Kränkungen und psychischen Verletzungen, die Erfahrung der eigenen Wertlosigkeit werden weder hinreichend berücksichtigt noch zum expliziten Gegenstand des pädagogischen Handelns gemacht. In der Leistungsauslese schreibt sich die dem Schulbesuch vorgelagerte Ungleichheit der Sozialisationsverläufe und -kontexte umso stärker ein, wie bei der Beurteilung des individuellen Leistungsvermögens die häusliche Lebenssituation ausgeklammert bleibt. Dem Bildungserfolg stehen aber nicht nur die familiären Konflikte, Erniedrigungen, Missachtungen und Gewalterfahrungen im Wege, die für die Biographien der jungen Menschen kennzeichnend sind. Vielmehr wirkt sich auch der sozioökonomische Status der Herkunftsfamilie – geringes Einkommen, niedriges Bildungsniveau und Zugehörigkeit zu den unteren Sozialmilieus – negativ auf den schulischen Werdegang aus (etwa Edelstein 2006; Grundmann 2001; Mollenhauer 1969; Oevermann 1969). Kinder aus Arbeiter- und Unterschichten sind nach wie vor in systematischer Weise von höheren Bildungslaufbahnen ausgegrenzt (vgl. Fölling-Albers 2005). Faktisch bleiben den Bahnhofsgängern allein die Haupt- und Sonderschulen vorbehalten, während Leistungsniveau und Bildungsambitionen nur in seltenen Fällen den Besuch der Realschule erlauben. Die jungen Menschen werden damit schon bei ihren ersten Versuchen, in den Sozialräumen der Erwachsenenwelt Fuß zu fassen, mit ihrer institutionellen Exklusion konfrontiert. Die Bildungsinstitutionen zeichnen sich zwar durch einen doppelten Funktionsauftrag aus: Sozialisation und Selektion (Parsons 2005: 161 ff.; Raithel 2004: 90). Aber gerade im deutschen, hoch segregierten Bildungssystem steht nicht immer der Sozialisationsauftrag durch eine auf die Stärken und Schwächen des einzelnen Schülers abgestimmte Förderung im
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Vordergrund. Bildung wird als kulturelles Kapital selbst einem Prozess der Verknappung unterworfen (Georg 2005: 180 f.). Nicht »Bildung für alle« ist das Leitmotiv der politischen Bildungsplanung und der schulischen Administration. Vielmehr werden Leistungsbeurteilungen und Bildungszertifikate zum wirkungsvollen Selektionskriterium bei der Zuweisung von gesellschaftlichen Positionen und Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt, damit auch bei der Vermittlung von materiellem Wohlstand, sozialer Sicherheit und greifbaren Lebenschancen. Die Schule wird aus diesem Grund zur Reproduktionsagentur der integrierten Mittelstandsgesellschaft, weil gegenüber den unteren Sozialschichten die vorgefundenen sozialen Benachteiligungen nicht ausgeglichen, sondern perpetuiert werden (Hurrelmann 2002: 244 ff.; Fend 1980: 28 ff.). Die universalistische Werteorientierung und Gleichbehandlung lebt von der Illusion einer rein objektiven, über Leistungen vermittelten Selektion, reproduziert aber in Wirklichkeit die sozialschichtsspezifische Chancenungleichheit gerade aus dem Grund, weil die tagtägliche Lebenswirklichkeit und die spezifischen Sozialisationsbedingungen in Problemfamilien und Unterschichten ausgeblendet bleiben (MacLeod 1995).
Versager- und Außenseiterrolle Die institutionelle Exklusion der jungen Menschen ergibt sich nicht allein aus der sozialstrukturellen Ungleichheit bei der Zuteilung von Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Zukunftschancen. Ebenso wirkt sich die Tagtäglichkeit der Schulwirklichkeit, in der der Ausschluss zum subjektiven Erfahrungskomplex wird, auf Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung aus. Zum Außenseiter werden die Szeneangehörigen nicht erst als Erwachsene, wenn sie das erste Mal das Bahnhofsterrain betreten, sondern schon als Hauptund Sonderschüler verdichtet sich bei den meisten über Jahre hinweg in Form von gescheiterten Leistungskarrieren die Erfahrung der Randständigkeit und der Chancenlosigkeit (Cicourel & Kitsuse 1975). Bei Matthias ist der Bildungsmisserfolg, der sich mit jeder weiteren Klasse immer eindeutiger zeigt, im Alter von dreizehn Jahren endgültig besiegelt. Der Notenspiegel auf seinem Versetzungszeugnis weist ein Befriedigend, zwei Ausreichend, vier Mangelhaft und neun Ungenügend bei 37 versäumten Tagen auf. Es wird deutlich, dass die Bildungsinstitution alle Erwartungen fallen gelassen hat, dass er noch einmal den Anschluss gewinnt, sodass er nun auf eine Sonderschule wechselt.
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Die subjektive Erfahrung der institutionellen Exklusion, in denen die jungen Menschen über Jahre hinweg ihre Außenseiter- und Versagerrolle zu antizipieren und zu internalisieren lernen, finden sich auf drei Strukturebenen der alltäglichen Schulwirklichkeit wieder: a) in der Schulinstitution, b) in der Lehrer-Schüler-Interaktion und c) in der Peer-Group des Klassenverbandes. (a) Exklusionserfahrung in der Schulinstitution: Der Sinn des täglichen Schulbesuchs, wo die Weichen für Biographieverläufe gestellt werden und die Zuweisung von Lebenschancen erfolgt, steht umso mehr in Frage, wie die Erlangung von auf dem Arbeitsmarkt konvertierbaren Bildungszertifikaten überhaupt zweifelhaft wird. »Schule und Ausbildung werden in dem Maße, wie ihre Bedeutung für die Berufsbiographie und gesellschaftliche Platzierung zunimmt, von vielen Jugendlichen aus den unteren sozialen Klassen nur noch als Orte des Scheiterns erlebt. Die niedrigen Bildungsabschlüsse führen nicht mehr selbstverständlich, wie es für frühere Arbeitergenerationen der Fall war, in die Fabrik, sondern in die Perspektivlosigkeit« (Kronauer 2002: 166). Franziska bringt dieses Dilemma auf den Punkt: »Ich seh’s// also jetzt schon. … Klar, es fehlt halt was. … Ich kann halt nicht einfach so, zack, Bewerbung schreiben … ((schnalzt mit der Zunge)) loslegen mit Ausbildung oder so, es geht nich, … weil halt kein Abschluss.« Auf der Ebene der Sinnstruktur des schulischen Alltags bietet schon der Unterricht nur wenig motivierende, Interesse weckende und erlebnisreiche Inhalte, die sich für die Bewältigung des Alltags unmittelbar verwerten lassen. In den unteren Bildungskasten wird aber mit dem Wegfall der Aussicht auf eine erfolgreiche Arbeitsmarktplatzierung die auf die Zukunft gerichtete Motivationsgrundlage für die engagierte Beteiligung am Unterrichtsgeschehen vollends brüchig (Olk, Bathke & Hartnuß 2000). Die Infragestellung und Entmutigung des schulerfolgsbezogenen Engagements erfolgt gleichwohl nicht allein aufgrund der desaströsen Perspektivlosigkeit auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt. »Die Erfolgs- bzw. Mißerfolgszuschreibungen sind für Schüler/innen mit Lernproblemen nicht selten mit Degradierungszeremonien und leistungsbezogenen Etikettierungen verbunden. Da Leistungszuschreibungen zugleich faktisch über die Rangordnung innerhalb der Klasse entscheiden, werden Schüler/innen in Konkurrenz zueinander gesetzt. Der Erfolg der einen bestimmt letztlich auch den Mißerfolg der anderen mit und umgekehrt. Dabei korrespondiert der Leistungsstatus in hohem Maße mit dem sozialen Status und dem Sympathiestatus auf der informellen Ebene der Gruppenbeziehungen und
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des Lehrer-Schüler-Verhältnisses« (Holtappels & Hornberg 1997: 330 f.). Was Konkurrenz in Sozialräumen um knappe Güter und Ressourcen in unserer Gesellschaft konkret bedeutet, muss Matthias Tag für Tag in seinem eigenen Scheitern erfahren. Für den leistungsschwachen Schüler, der im Unterricht kaum mithalten kann, bringt der alltägliche Selektions- und Ausschließungsdruck nur eine systematische Deklassierung und Herabwürdigung mit sich. Entmutigung und Demotivierung gegenüber dem Schulgeschehen sind unausweichlich, gerade wenn kein Ausweg mehr aus dem geringen Leistungsniveau und dem fragilen Integrationsstatus sichtbar wird. Beim schlechten Schüler droht der Schulunterricht wenig mehr als in einen dauerhaften Zustand der erlernten Hilflosigkeit zu münden: »Seine Intelligenz, egal wie hoch sie ist, kann sich nicht auswirken, wenn das Kind glaubt, daß seine eigenen Handlungen ohne Wirkung bleiben« (Seligman 1979: 146). Bei der subjektiven Bewältigung der Schulwirklichkeit bleibt Matthias nichts anderes übrig, wenn er nicht ständig gegen die übermächtige Bewertungslogik der Schulinstitution anlaufen möchte, als sich in der Rolle des Außenseiters und Versagers einzurichten. Dazu die Lehrerin von Matthias: »Er verweigert in allen Fächern jede Leistung. Alle Ermunterungen, Hilfen und Ermahnungen führen nicht dazu, daß er auch nur einen Stift in die Hand nimmt, ein Arbeitsblatt bearbeitet oder in einem Buch liest.« Die Schulinstitution bescheinigt dem leistungsschwachen Schüler vor allem, dass die erwartungsgemäße Erfüllung einer den Anforderungen adäquaten Funktion und Rolle nicht gegeben ist. Was zunächst als gerechte, universalistische Bewertung der intellektuellen Kapazitäten des einzelnen Schülers erscheint, wird aus individueller Sicht zum übermächtigen, von der Erwachsenenwelt verhängten Urteil, das über die Gesamtperson gefällt wird. Durch diese permanente Devaluation findet aber keineswegs eine Anleitung zur positiven Rollenidentifikation und Internalisierung der institutionellen Werte und Normen statt. In der Persönlichkeitsstruktur bildet sich eine anhand der tagtäglichen Schulwirklichkeit sich verfestigende Motivations- und Verhaltensdisposition aus, durch die die schulischen Anforderungen nicht mehr als bewältigbare Herausforderung, sondern nur noch als Fragwürdigkeit und Zumutung erlebt werden. Damit unterbleibt die dispositionelle Internalisierung der durch die Schule verkörperten Werte und Normen, insbesondere der Leistungsorientierung und der Rollenidentifikation. Der Schulbesuch verliert jeden Sinn, weil keine Chance mehr auf ein erfolgreiches Anschließen an die Schülerrolle gesehen
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wird, sodass mit der zugewiesenen Außenseiter- und Versagerrolle schließlich vorlieb genommen wird. Aufgrund der Generalisierung dieser Erfahrung der eigenen Chancenlosigkeit bleibt die resignative Motivations- und Verhaltensdisposition nicht allein auf den lebensweltlichen Handlungszusammenhang Schule begrenzt (Bowles & Gintis 1976). Das Ausweich- und Vermeidungshandeln wird sich besonders auf jene Gesellschaftsbereiche ausweiten, wo aufgrund der Anforderungs- und Konkurrenzsituation eine große strukturelle Ähnlichkeit mit der Schulsituation besteht. Dabei handelt es sich vor allem um die Arbeitswelt, auf die ja die Schule unmittelbar vorbereiten soll. Das Auftreten von ersten Zugangs- und Anschlussschwierigkeiten in einem neuen Sozialraum wird dann rasch als Bestätigung gewertet, dass es kein Entkommen aus der jahrelang in der Schule eingeprobten Außenseiter- und Versagerrolle gibt. Durch weitere Festigung und Generalisierung der Rollenunsicherheit ist schließlich der Rückzug auch von allen weiteren Institutionen des gesellschaftlichen Lebens naheliegend. (b) Exklusionserfahrung in der Lehrer-Schüler-Interaktion: Die Verweigerungs- und Widerstandshaltung speist sich nicht nur aus der institutionellen Zurückweisung individueller Integrations- und Anschlussbemühungen. Daneben erfährt die Exklusionsbewegung der jungen Menschen ebenso eine Bekräftigung in der Lehrer-Schüler-Interaktion. Die Schule stellt sich dem Schüler keineswegs als eine rein anonyme Institution dar, die durch die Verteilung von Zensuren und Zeugnisse eine bloß formale Funktion erfüllt. Die lebensweltliche Bedeutungsstruktur des Sozialraumes ist wesentlich durch die konkreten Lehrer, zu denen ein teilweise schon Jahre währendes Verhältnis besteht, geprägt. Es ist der Klassenlehrer Herr Maier, der dem Schüler beim Abfragen der Hausarbeiten eine schlechte Note gibt, der die Einmischung ins Unterrichtsgeschehen als Ruhestörung reglementiert, der seine persönlichen Sympathien und Vorbehalte gegenüber jedem einzelnen Schüler erkennen lässt. Die Verquickung von persönlicher Beziehungsebene und funktioneller Rolleninteraktion in dem Lehrer-SchülerVerhältnis führt gerade beim leistungsschwachen Schüler zur Konsequenz, dass die institutionelle Exklusion kaum von der persönlichen Zurücksetzung zu unterscheiden ist. Für die Integration in die Erwachsenenwelt zeigen sich nun drei gravierende Konsequenzen: Erstens stellt sich für den leistungsschwachen Schüler die Schulsituation auf der persönlichen Beziehungsebene nur als permanente Zurückweisung, mangelnde Anerkennung und als Statusenteig-
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nung dar. Hier handelt es sich wieder um Erwachsene, die die individuellen Anerkennungsbedürfnisse negieren und die Entwertung organisieren, was zu einer Wiederholung der Situation im Elternhaus führt. Zweitens tritt in dem schulischen Kampf um Anerkennung der Lehrer immer weniger in seiner institutionell zugedachten Funktion und Rolle als Erzieher, Mentor, Anleiter in den Vordergrund. Aufgrund der persönlichen Frontstellung wird dieser als Vertreter der Schulinstitution zum Gegenspieler der eigenen Selbstbehauptungsbemühungen. Auf der Seite des Schülers wird sich angesichts dieses asymmetrischen Machtgefälles ein grundlegendes Misstrauen gegenüber institutionellen Funktionsträgern und Repräsentanten der Erwachsenenwelt entwickeln. Drittens wird für den Schüler die institutionell vorgegebene Rolle des schlechten Schülers zum stählernen Korsett des Scheiterns. Die Institutionen der Erwachsenenwelt werden damit zu einschließenden Unorten, an dem die eigene Entmutigung und Entwürdigung organisiert ist, anstatt dass es sich um expansive Lebensbereiche handelt, wo Möglichkeiten der Selbstentfaltung und der Entwicklung von Lebensperspektiven geboten werden. (c) Exklusionserfahrung in der Peer-Group: Eine weitere Verfestigung dieses Erfahrungskomplexes, der sich in einer Mischung aus objektiver Überdetermination und subjektiver Generalisierung bildet, vollzieht sich durch das undurchschaubare Ineinanderlaufen von institutioneller und sozialer Exklusion. Die Positionierung auf den unteren Rängen der Leistungsskala korreliert hochgradig mit geringer Wertschätzung und Beliebtheit innerhalb der Peer-Group des Klassenverbandes (Hurrelmann 2002: 198). Gerade in den Sozialbeziehungen zu den Mitschülern gewinnt der Ausschluss aus dem Schulalltag seine besondere Schärfe und Prägnanz. Der Schüler muss den Verlust der sozialen Einbindung und die Aufkündigung der eher losen Solidarität des Klassenverbandes erleiden. Franziska beschreibt den Schulalltag folgendermaßen: »… ich kann mich auch nich dran erinnern, dass ich irgendwann mal irgendwelche Freunde hatte in der Schulzeit. Nein, ganz im Gegenteil. … Schule war der Alptraum, … jeden Tag verprügelt.« Ohne Aussicht auf Überwindung des Verliererstigmas scheinen zur Bewältigung der verfahrenen Situation lediglich zwei verbleibende Alternativen auf: entweder die innere Immigration, um dem Lehrpersonal wie dem Klassenverband so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, oder die Übernahme der Rolle des Klassenkaspers und Störenfrieds, um in spontaner Opposition und Widerständigkeit die allgemeine Aufmerksamkeit zumindest noch punktuell auf sich zu ziehen. In den schnell verschallenden Lachern, der
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rasch abflauenden Sympathiebekundungen der Mitschüler, der anwachsenden Irritationen und Verärgerungen des Lehrers bildet sich ein Erfahrungsresiduum von ambivalenter Bestätigung und Anerkennung. Eine Selbstwertstabilisierung wird hier gerade wegen des Verlusts der Handlungsfähigkeit und der Situationskontrolle über antisoziale bis hin zu selbstdestruktiven Handlungen gesucht (Böhnisch 2005: 203; Winnicott 1992). Andererseits droht nun eine weitere Zuspitzung der Schulsituation durch Verstetigung der konfliktvollen Beziehung zwischen dem um Selbstbehauptung kämpfenden Schüler und dem um Kontrolle und Autorität ringenden Lehrer. Die Unterdrückung und Kontrolle der eigenen Frustration, der aufkochenden Verärgerung, des grenzenlosen Jähzorns zugunsten von Konformität und Anpassung, um vielleicht doch noch an der verallgemeinerten Perspektive schulischen Erfolgs und Anerkennung teilzuhaben, macht dann umso weniger Sinn, wie der Schüler von der Institution, dem Lehrer und Klassenkameraden endgültig abgeschrieben ist. In den Zeugniskommentaren der Lehrerin von Matthias zeichnet sich eine solche Frontenverhärtung nach: »Wenn er in der Klasse ist, stört er den Unterricht und versucht dadurch, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. … störendes Verhalten verhindert den Unterrichtsverlauf.« In der Außenseiter- und Versagerrolle vom Klassenverband isoliert, bietet sich nun auch auf der sozialen Beziehungsebene kaum eine Chance, adäquates Rollenhandeln in den sozialen Mikroräumen des Klassenalltags zu erlernen, Verantwortung gegenüber den Mitschülern als auch in der sozialen Gruppe des Klassenverbandes zu übernehmen, Anerkennung zu erlangen und als Freund und Kamerad geschätzt zu werden (Rolff 1997: 153). Schulgebäude, Klassenraum und Pausenhof werden zum feindlichen Terrain, wo jeden Tag neu zu erwarten ist, verlacht, gehänselt und verprügelt zu werden. Schulverweigerung und Schuleschwänzen sind dann Ausdrucksformen subjektiv begründeter, zugleich aber hilfloser Ausweichbewegung gegenüber der erfahrenen Zurückweisung und Ablehnung, die aber nur zur weiteren Vertiefung des Außenseiterstatus beiträgt. So wird für Sven das Schulende zum Befreiungsschlag: »… einfach kein’ Bock mehr auf Lehrer und so hatte … und einfach gar nichts mehr Bock hatte, einfach nur noch Leben wollte, … also so … einfach mal frei sein. Vielleicht wollt ich einfach so für ne gewisse Zeit dann einfach nur frei sein … und alles vergessen, was war, so Schule und so.«
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2. Ausschluss in den (Kern-)Institutionen moderner Gesellschaften Angesichts der institutionellen Exklusion im Bildungs- und Sozialisationsbereich ist das selbstbewusste Hineintreten in die Welt der Erwachsenen schon von der Schule her missglückt. Diese im Verlauf der Sozialisation für die Integration in das gesellschaftliche Leben in so vielerlei Hinsicht paradigmatische Institution, die auf die selbständige Übernahme der Erwachsenenrolle vorbereiten soll, wurde zum erfahrungsdichten Ort des Ausschlusses. Mit Abschluss der Adoleszenz breitet sich die institutionelle Exklusion nun auf weitere Kernbereichen der Individualintegration aus, für welche die Verantwortung zu übernehmen wäre. Dabei sind es vornehmlich die rechts- und sozialstaatlichen, politischen und juristischen Institutionen einerseits und die ökonomischen Institutionen des Marktes, denen die Bahnhofsgänger aufgrund der inhärenten Komplexität und Anonymität ihrer Bedeutungs- und Handlungsstruktur in einem Verhältnis prinzipieller Unvertrautheit gegenüberstehen. Im Rahmen der alltäglichen Lebensführung muss im Wohlfahrts- und Sozialstaat die Anbindung an eine Vielzahl an staatlichen Institutionen aufgebaut werden – Arbeitsamt, Sozialamt, Kindergeldkasse, Meldestelle, Wohngeldstelle, Finanzamt, Rentenversicherungsanstalten, sozialpsychiatrischer Dienst. Hierüber erfolgt die Versorgung mit öffentlichen Dienstund Sozialleistungen sowie die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte und Würden, wodurch der Einzelne erst zu jenem »freien Bürger« wird, dem von formalen Vorausetzungen her die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben offensteht: Personalausweis, Reisepass, Sozialversicherungsnummer, Lohnsteuerkarte, Erziehungs-, Kinder-, Arbeitslosengeld, Zeugnisse, Gutachten et cetera. Institutioneller Ausschluss ist daher mittelbare Folge der Zugangsschwellen, die der Inanspruchnahme der Leistungen des Rechtsund Sozialstaats im Wege stehen (Engbersen 2004: 102 f.). Auf der anderen Seite bedarf es der Anbindung an die unterschiedlichsten Formen marktförmiger Institutionen, über die Wohnung, Arbeit, Versicherungsleistungen, Güter und Dienstleistungen vermittelt sind. Auch hier sind eklatante Schwierigkeiten zu beobachten, die der Wahrnehmung der Rolle als rechts- und vertragsfähiges Subjekt sowie kompetenter Verhandlungspartner im Wege stehen. Angehörige sozial schwacher Schichten stehen besonders Sozialbehörden in einer ehrfurchtsvollen Haltung gegenüber, in der sich Respekt,
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Misstrauen und Scheu miteinander vermischen. Unter den Bahnhofsgängern wird von den Ämtern per se nichts Gutes erwartet: Zu uneinsichtig sind die Verwaltungsprozeduren, zu sehr erfährt man sich an die Verfügungsgewalt der Institutionen ausgeliefert, zu groß ist die Abhängigkeit von den willkürlich erscheinenden Amtentscheidungen, die mitunter gravierende Auswirkungen für Lebensplanung und Alltag haben. Die jungen Menschen treten daher nicht einfach durch die offene Eingangstür des Bürgeramtes, um sich an den zuständigen Sachbearbeiter zu wenden, dem sie selbstbewusst die Bedürftigkeit ihres Falles darlegen, damit sie nach Prüfung der Anspruchsberechtigung die ihnen zustehenden Sozialleistungen ausgezahlt erhalten. Anstelle von Sozialleistungsbezug nimmt Mike wie andere Bahnhofsgänger auch lieber die Prekarität einer straßennahen Existenzform in Kauf. Viele Jahre hat er der Beantragung von Sozialhilfe ein entbehrungsreiches Leben vorgezogen, in dem er seinen Lebensunterhalt durch sporadische Gelegenheits- und Schwarzarbeit sichergestellt hat, von einer unsicheren Unterkunft zur anderen gezogen ist, wegen des fehlenden Personalausweises teilweise mehrmals täglich von der Polizei aufgegriffen worden ist. Neben der Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, bedurfte es vor allem der Unterstützung eines Freundes, der Mike dazu gedrängt hat, sich an das Amt zu wenden. Im Rückblick resümiert er: »Bloß alleene, ick wär NIEmals alleene uff// uff’s AMT jejangen.« Beklommenheit, Zögerlichkeit und Ängstlichkeit kommen aber nicht bloß gegenüber Sozialbehörden, sondern ebenso sehr in dem praktischen Verhältnis zu vielen anderen Institutionen zum Ausdruck, wie etwa gegenüber dem Arbeitgeber oder beim Telefonat mit der Wohnungsgesellschaft. Sobald die Beziehungen nicht mehr von persönlicher Natur sind, wie unter Verwandten, Nachbarn und Freunden, besteht eine große Unsicherheit, in welcher Weise angemessen aufzutreten ist. Das institutionelle Leben funktioniert in Abgrenzung zum sozialen Leben nicht derart, dass gradlinig heraus persönliche Standpunkte, Meinungen und Ansichten vertreten und ausgetauscht werden. Institutionen bestehen aus sozial generalisierten Handlungsmustern, in denen eine arbeitsteilige Gesellschaft die objektive Bearbeitung der Umwelt und die subjektive Bedürfniserfüllung organisiert und koordiniert. Hier wird ein Spiel betrieben, dessen Regeln und Rollen den jungen Menschen allein schon aus dem Grund fremd und unzugänglich bleiben, weil die institutionalisierten Bedeutungs- und Handlungsstrukturen nicht identifiziert und beherrscht werden. Institutionen zielen gerade nicht auf verständigungsorientierte Kommunikation unter gleichberech-
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tigten Interaktionspartnern, die auf gegenseitige Klärung der involvierten Interessen und Motive gerichtet ist (Zintl 1999: 179). Es formt sich vielmehr eine strategische Beziehung aus, in der sich die Zielsetzungen, die in dem Interaktionszusammenhang von den beteiligten Subjekten vertreten werden, unmittelbar aus den durch die Institution vorgeschriebenen Rechten und Pflichten ableiten (Habermas 1992:68).
Komplexität und Opazität Die Komplexität der modernen Welt nimmt beständig zu und macht es für den Einzelnen schwieriger, aus den Niederungen seiner Alltagsorganisation heraus die richtigen Entscheidungen zu treffen, um für eine sozial abgesicherte Individualintegration zu sorgen. Die institutionelle Exklusion ist daher auch ein Resultat des fortlaufenden Differenzierungsprozesses, in dem die Strukturen des gesellschaftlichen Lebenserhaltungsapparates in eine immer weiter gefasste, unüberschaubare Pluralität an funktionalspezifischen Teilsystemen auswachsen (vgl. Luhmann 1970). Für die Bahnhofsgänger, denen die institutionelle Welt durchgehend fremd geblieben ist, wird gerade diese Vielzahl an Institutionen zum Verhängnis. Schon die Beantragung von Sozialleistungen macht Ämtergänge bei vielen Behörden notwendig. Aber auch Institutionen neigen zu einem nach innen gerichteten Wachstum durch Komplexitätszunahme, die auf eine Spezialisierung von Funktionen und eine Aufspaltung von Entscheidungen gerichtet ist. Die jungen Menschen müssen daher ebenso feststellen, dass sie auf jeder einzelnen Behörde mit einer Menge an Instanzen und Sachbearbeitern konfrontiert sind, ohne selbst über das notwendige Orientierungswissen zu verfügen, um zielsicher ihren Weg durch das administrative Labyrinth an Zuständigkeiten zu finden. Die Komplexität von Gesellschaft und Institutionen wird damit zur ersten Zugangsschwelle, die eine Überforderung der individuellen Handlungs- und Bewältigungskapazitäten bewirkt. Entsprechend betont Tobias, dass er es nur mit der Hilfe der Sozialarbeiter überhaupt geschafft hat, in einem relativ kurzen Zeitraum Sozialhilfe und die Kostenübernahme für ein betreutes Wohnprojekt zu erhalten: »Dass wenn man ohne die Hilfe von den Sozialarbeitern, sag ich ma, ZWEI Jahre dran wär. … Weil man da viele Sachen gar nich weiß. Zum Beispiel zu welchem man// Amt man hingehen muss, um das zu kriegen, … un WIE man das kriegt.«
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Während auf der einen Seite eine fortschreitende Institutionalisierung der Lebenswelt zu beobachten ist, weist der Differenzierungsprozess auf der anderen Seite die Tendenz zur zunehmenden Verselbständigung der einzelnen Funktionsbereiche des gesellschaftlichen Lebenserhaltungsprozesses auf. Institutionen lösen sich durch Entdifferenzierung und Spezialisierung aus funktionsfremden Aufgaben heraus, was vielfach auch einen Rückzug aus der sozialen Lebenswelt bedeutet. Das Verschwinden des Hausmeisters führt etwa dazu, dass in der Hausgemeinschaft keine Repräsentanz mehr von Hausbesitzer und Wohnungsmarkt angesiedelt ist, der neben der Ausübung sozialer Kontrolle auch schon mal eine Wohnung unter der Hand vergibt, mit dem sich die Gründe für die Vernachlässigung von Mieterpflichten, die Ruhestörungen in der letzten Nacht, die Rückstände der Mietzahlungen im persönlichen Gespräch klären ließen. Die materiellen, sozialen und symbolischen Verweisungsbezüge der institutionalisierten Lebensbereiche zeichnen sich vielmehr durch ein hohes Maß an Erfahrungsferne und Unanschaulichkeit, Abstraktheit und Anonymität aus. Die Hausverwaltungen haben ihren Sitz nun an repräsentativen Adressen, während vor Ort nur noch einmal wöchentlich Reinigungs- und Hausmeisterfirmen ihre Arbeit erledigen. Die Anmietung einer Wohnung macht eine Bewerbung über Zeitungsinserate und Wohnungsmakler notwendig, die zuständigen Sachbearbeiter sind vorwiegend telefonisch oder postalisch zu erreichen, alle Abrechnungen und Mahnungen werden automatisiert vom Computer verschickt, der nach drei unbezahlten Monatsmieten ohne ein klärendes Wort auf einem Formblatt schließlich die Wohnungskündigung erstellt. Während Komplexität und Opazität der Gesellschaft weiter zunehmen, wird dem Individuum die Verantwortung dafür aufgebürdet, alle für die eigene Alltagspraxis wichtigen Institutionen zu identifizieren und sich einen adäquaten Zugang zu erschließen. Hier stoßen die Bahnhofsgänger jedoch auf ein weiteres Problem. Denn die zentralen Sozialisationsagenturen haben die ersten Schritte in eine »Welt der Institutionen« äußerst unzureichend begleitet. Neben der Familie hat insbesondere die Schule darin versagt, in Funktionsweisen, Leistungsarten und Anspruchsberechtigungen der gesellschaftlichen Basisinstitutionen einzuführen, aber auch Formen des funktional-strategischen Handelns zu üben, wie etwa das Ausfüllen von Anträgen, das Beherrschen der Amtssprache, das Aufsetzen von Briefen et cetera. Am ehesten werden in der jugendkulturellen Bahnhofsgemeinschaft, die hier die Funktion einer Informations- und Wissensbörse erlangt,
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die in der persönlichen Auseinandersetzung gewonnenen Erfahrungswerte weitergegeben, verallgemeinert und tradiert. Bei Sozialbehörden offenbart sich das Überführungsproblem von institutionell vorgehaltenen Lebensmöglichkeiten und individuellen Lebensinteressen und -notwendigkeiten noch deutlicher. Während die kognitiven Suchbewegungen angesichts der infrastrukturellen Komplexität nicht die erforderlichen Institutionen zur Lösung von Lebensproblemen identifizieren können, findet sich auf der Handlungsebene auch eine affektive Barriere. Denn die Antragstellung von Sozialleistungen ist an die schmerzvolle Einsicht geknüpft, dass die Problemverhalte nicht mehr aus eigener Kraft zu lösen sind (Maeder & Nadai 2004: 63). Ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns und ein Wechsel des bisher beschrittenen Lösungsweges sind dann wiederum nur möglich, wenn sich die Zugangsschwierigkeiten vor der Schablone sozialer Deutungsangebote als »allgemeine« Lebensprobleme übersetzen lassen, für die es gesellschaftlich vorgesehene Handlungsmöglichkeiten und Lösungsangebote gibt, die auch den jungen Menschen offenstehen. Irrtümlich wird jedoch nur allzu häufig angenommen, dass von den Sozialbehörden schon aus dem Grund keine Unterstützung zu erhoffen ist, weil die Lebenserfahrung bisher mehr als deutlich gezeigt hat, dass die Gesellschaft allein nach dem Prinzip der Reziprozität funktioniert: Gerade finanzielle Zuwendungen sind nur beim Erbringen von äquivalenten Gegenleistungen zu erwarten.
Rechtliche, administrative und sprachliche Schwellen Das sachgerechte Ineinanderführen von individueller Lebensbewältigung und gesellschaftlichen Institutionen stellt eigentlich schon eine ausreichend anspruchsvolle Herausforderung an die individuellen Handlungskompetenzen dar. Neben der Komplexität und der Opazität der institutionalisierten Sozialwelt zeigen sich aber weitere Schwellen, die das zügige Erlernen und das freie Anwenden von Bedeutungs- und Handlungsstrukturen erschweren. Insbesondere ist es der kodifizierte Rahmen an Rechten, Normen und Pflichten, der beherrscht werden muss, damit dieser nicht selbst ausgrenzend wirkt. Als rechtliche Schwelle erweist sich hier, dass auf der Seite des Individuums ein elementares Rechtsverständnis vorausgesetzt sein muss, um erkennen zu können, dass man nicht der Willkür einer anonymen und technokratischen Institution ausgeliefert ist, sondern dass bestimmte Positionen auf dem Feld der Institutionen definiert, Rechtsan-
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sprüche garantiert und Handlungszüge an einen rechtlich gesicherten Interaktionsrahmen rückgebunden sind, die über eben diese Statuten allgemeine Verbindlichkeit erlangen. Zwar muss im Fall der Sozialbehörden die genaue Rechtsgrundlage – das Sozialgesetzbuch – vom Antragsteller nicht zuvorderst zur Kenntnis genommen werden. Die jungen Menschen haben aber Rechte und Normen niemals als etwas erfahren, über das sie unzweifelhaft verfügen können, sondern vielmehr als Bedingungen ihres von Erwachsenen vollzogenen Ausschlusses. Ebenso kommen die jungen Menschen über den Lebensort Straße immer wieder in Konflikt mit Recht und Gesetz. Dies zeigt sich besonders eindrücklich zu dem Zeitpunkt, wenn sich jemand nach einer längeren Phase der Wohnungslosigkeit wieder polizeilich meldet. Im Briefkasten sammelt sich dann nicht selten eine geradezu überwältigende Flut an Anzeigen, Vorladungen und Gerichtsurteilen, an Rechnungen und Mahnungen, an unverständlichen, daher immer bedrohlich wirkenden Briefsendungen von Behörden und Firmen. Weil man sich den Schlingen und Fesseln der Vergangenheit trotz bester Vorsätze und ernsthafter Versuche wieder einmal nicht wirklich entziehen kann, mag es dann erst gar nicht lohnenswert erscheinen, einen Neuanfang zu wagen. Mit den Ansprüchen und den Forderungen der Gesellschaft überfordert, werden alle Briefe und Unterlagen, wenn nicht weggeworfen, so doch häufig ungeöffnet und ungelesen aufbewahrt. Daher bringen die jungen Menschen nicht selten eine ganze Schachtel voller Briefe mit zu den Sozialarbeitern und Streetworkern, die sich angeboten haben, beim Ordnen und Erledigen behilflich zu sein. Paula: »Einmal hier wegen … halt so Gerichtssachen, da hatt ich so’n ganzen … Stapel gehabt, da … bin ich// hab ich überhaupt nich mehr durchgeblickt so.« Die Übersetzung und Ausformung der Rechte und Normen über das pragmatische Innenleben der Institution führt zu einer weiteren Barriere: der administrativen Schwelle (Leibfried 1976). Darunter ist zu verstehen, dass sich besonders staatliche Institutionen gegenüber dem Adressaten in der Umsetzung des kodifizierten Rechts- und Normgefüges als sehr unzugänglich erweisen, ihre eigenwillige, verwaltungstechnische Funktionslogik auch dann behaupten, wenn diese eine hochgradige Selektivität des Zugangs bewirkt. Die jungen Menschen müssen sich nicht nur selbst der Verwaltung gegenüber bemerkbar machen und sich einen eigenen Weg in das Funktionsgeflecht der Institution bahnen (Groenemeyer 1999). Zudem müssen sie ihre Alltagsprobleme sowie die Spezifik ihres Falles in rechtli-
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che Kategorien, Ausführungsvorschriften und Amtsabläufe überführen. Nachdem sie es überhaupt geschafft haben, das richtige Amt zu identifizieren, stoßen sie vor Ort auf das Problem, dass sie die amtsinterne Bedeutungs- und Handlungsstruktur nicht überblicken, die Zuständigkeiten nicht kennen, sich in den weitläufigen Fluren mit der Unzähligkeit an abzweigenden Zimmern nur schwerlich orientieren können, mit dem System der Wartenummern unvertraut sind, die ganze Zeit in der undeutlichen Ahnung verharren, vor der falschen Tür zu sitzen, auf ihren Aufruf warten, ohne zu wissen, was nach Eintreten in das Zimmer auf sie zukommt. Komplexität des Verfahrens, Rechtsvorschriften, die bürokratische Umsetzung sind aber nicht allein vom Antragsteller kaum zu durchschauen, sondern nur zu häufig sind auch die Sachbearbeiter überfordert. Zum verbreiteten Unwissen über die administrativen Funktionsweisen kommt zusätzlich eine sprachliche Barriere hinzu. Eine große Unsicherheit und Unbeholfenheit lässt sich beobachten, sobald die jungen Menschen mit Schriftsachen konfrontiert sind. Diese sind »wie unangenehme Erinnerungen, die man verdrängt. Die Beziehungen, die sie ausdrücken, sind etwas Fremdes, etwas, das außerhalb der eigenen Kenntnisse und Erfahrungen liegt. Dieses Verhalten dem Dokument gegenüber kennzeichnet eine generelle Schwäche der Unterschicht« (Hess & Mechler 1973: 56). Dies führt besonders auf dem Wohnungs- und dem Arbeitsmarkt zum Ausschluss, weil diese eine ausreichende Erfassung und Beherrschung der Schriftsprache voraussetzen. Es muss eine Tageszeitung mit regionalem Annoncierungsteil ausfindig gemacht werden, die am richtigen Wochentag zu kaufen ist, um dann beim Aufschlagen der Seiten sicher durch die Flut an Zeichen und Informationen zur richtigen Seite zu navigieren, sodass schließlich im komprimierten Format der Inserate ein passendes Angebot zu identifizieren ist, auf das postalisch oder telefonisch geantwortet werden kann. Vielen Bahnhofsgängern mangelt es an ausreichenden Schreib- und Lesekompetenzen, wobei der Übergang zu funktionalen Analphabeten fließend ist, die nur mit größtem Konzentrations- und Zeitaufwand die geschriebene Sprache entziffern können, sich aber noch viel schwerer in der Schriftsprache auszudrücken wissen. Hierdurch droht eine Abkopplung von allen sozialen Aktivitäten und Bereichen, die den Schriftverkehr voraussetzen (Budweg 1995: 29). Die unzureichenden Schreib- und Lesekompetenzen werden aber auch dort zum Problem, wo die jungen Menschen angesichts der Verlockungen der Konsumwelt langfristige Verträge eingehen, ohne die daraus resultie-
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renden Verpflichtungen zu überblicken. Es wird den mündlichen Versprechungen des Kundenberaters lieber vertraut, als dass die Vertragsgrundlagen selbst durchgelesen werden. Weil schon einfache Überschlagsrechnungen die mathematischen Kompetenzen übersteigen, sodass sich in jedem Fall die monatliche Rate niedriger als der zu zahlende Gesamtbetrag erweist, werden überhöhte Zinssätze, überteuerte Ratenzahlungen, lange Vertragszeiten und andere nachteilige Konditionen unwissend hingenommen. Dagegen haben die jungen Menschen gerade auf Behörden jederzeit die Möglichkeit, ihren Einspruch gegen einen rechtsfähigen Bescheid einzulegen, aber schon den rechtlichen Kriterien genügende, für den Laien unverständlich gehaltene Formulierung des Amtbeschlusses – respektive des Kleingedruckten in Verträgen – lässt die meisten zurückschrecken. Schließlich würde ein Einspruch, eine Beschwerde bei der Amtsleitung, die Anrufung des Sozialgerichts nur eine weitere Institution auf den Plan rufen, die wieder ihr undurchschaubares Spiel betreiben würde, wohingegen die Lebenserfahrung in solchen Bereichen allein die prinzipielle Chancenlosigkeit unter Beweis gestellt hat. Hüseyin fühlt sich vom zurückliegenden Gerichtsprozess einfach nur überfordert: »… kann halt kein so’n KLAgeverfahren oder EILverfahren stellen einfach. … vielleicht fehlen mir die Wörter, also … oder die erzählt mir vielleicht, welche Paragraphen, wie das heißt oder wie ich das formulieren soll, da weiß ich das nich zum Beispiel.«
Willkür, Entwürdigung und Personalisierung Bei unzureichender Kenntnislage der rechtlichen Situation muss jeder Amtbeschluss, jeder negative Bescheid, jede Ablehnung eines Antrages durch den Sachbearbeiter als willkürliche Entscheidung unverstanden bleiben. Dieses Unverständnis ist der erste Grund für die oftmals stark affektive, überschießende, wütende und aggressive, in anderen Fällen resignative und apathische Reaktion. Joachim kommt auf mich zu, brummt verärgert etwas vor sich hin: »Scheiß Amt. Die können mich mal. Die werden schon was erleben, wenn die mir nicht die Kostenübernahme geben.« Für Joachim brechen alle Aussichten auf eine Unterbringung in der Kriseneinrichtung zusammen, in der er seit dem gestrigen Tag vorläufig übernachten kann. Er sei so wütend gewesen, dass er der Frau auf dem Amt »den Schreibtisch verrückt« habe. Die solle sich bloß nichts einbilden, droht er in aufgebrachter Weise.
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Die Einmischung in wirtschaftliche und persönliche Angelegenheiten durch das Amt wird als entwürdigender Eingriff in Privatsphäre und in die autonome Entscheidungsgewalt erfahren. Was oftmals ungerechtfertigt als Beamtenwillkür erscheint, hat andererseits seinen rationalen Kern in den Demütigungs- und Degradierungszeremonien, in denen der administrative Ablauf der Hilfe- und Unterstützungsleistung organisiert ist. Rechtmäßigkeit des Leistungsbezugs und Aufrichtigkeit des Antragstellers werden nicht nur von Medien und Öffentlichkeit in Frage gestellt, sondern die extensiven Auskunftspflichten und die restriktive Bewilligungspraxis wirken selbst wie ein Generalverdacht, der unisono Unredlichkeit, Täuschungsabsicht und Leistungserschleichung unterstellt. Die doppelte Moral, die den Armen und Marginalisierten entgegentritt, kommt in der Hypokrisie zum Ausdruck, dass die sozialstaatliche Unterstützung zwar als allgemeiner Rechtsanspruch anerkannt wird, auf der kulturell-diskursiven Ebene aber die konkrete Inanspruchnahme des Sozialleistungsbezugs stigmatisiert ist. »Sozialhilfebezug wird in der Öffentlichkeit gerne mit ›Nichtstun‹ verwechselt, Sozialhilfeempfänger als Schmarotzer verunglimpft, die es sich in der ›sozialen Hängematte‹ bequem machen« (Maeder & Nadei 2004: 57). Sozialleistungen dürfen gemäß der öffentlichen Meinung nicht attraktiv gestaltet sein, wie dies besonders deutlich in der offiziellen Programmatik des aktivierenden Sozialstaats unter dem euphemistischen Motto »Fördern und Fordern« zum Ausdruck kommt (Trube & Wohlfahrt 2004; Spindler 2003). Gegen eine als ungerecht oder entwürdigend empfundene Amtsentscheidung wissen sich die jungen Menschen nicht zu wehren. Eine Mikropolitik restriktiver Ausführvorschriften und administrativer Arbeitsroutinen entwirft sich in hunderten Details, in denen sich die jungen Menschen in ihren Rechten und als Person missachtet sehen: wenn sich die Bearbeitung der Sozialhilfe nach stundenlangem Herumsitzen in den Wartebereichen derart verzögert, dass die Auszahlungsstelle schon geschlossen hat; die Sozialleistungen verweigert werden und stattdessen, von der Behördenleitung gedeckt, ein Rückfahrtticket in die Heimatstadt angeboten wird, um die eigene Sozialstatistik zu bereinigen; wenn die jungen Menschen wegen ungeklärter Zuständigkeit bei verschiedenen Sachbearbeitern und Ämter vorsprechen müssen, sodass das Hin- und Herverwiesenwerden angesichts der ständig neu auflebenden Verunsicherung weniger als notwendige Folge der bürokratischen Funktionslogik, vielmehr als Schikanierung und Erniedrigung wirken muss. Angesichts der Arbeitsbelastung und der knapp bemessenen Zeitkontingente unterbleibt in der
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Regel die Aufklärung über wesentliche Rechte und Pflichten, während auf Seiten der jungen Menschen der Eindruck entsteht, dass ihre persönlichen Belange eine gleichgültige Abfertigung erfahren. Dazu sagt Tobias: »Weil viele Ämter sagen einem, dass man das gar nich … da kriegt un so, obwohl// obwohl die dazu verpflichtet sind, das allen zu geben, nur weil sie im Moment zu faul sind oder überlastet sind.« Gegenüber dieser strukturellen Demütigungs- und Degradierungszeremonien sind persönliche Ausfälle des Sachbearbeiters eher als Ausnahmeerscheinungen zu werten, die aber dennoch immer wieder zu beobachten sind. Die Sachlichkeit der Verwaltungsakte steht angesichts der drängenden Armut und Perspektivlosigkeit in keinem Verhältnis zu der existentiellen Bedeutung, die die Sozialleistungsbeantragung für die jungen Menschen hat. Gerade auf Sozialbehörden ist das Paradoxon zu beobachten, dass eine Perspektivenäquivalenz der Beteiligten nur scheinbar gegeben ist: Was sich auf der Seite des Sachbearbeiters als routinemäßiger Vollzug seines Funktions- und Aufgabenbereiches darstellt, wird für den Antragsteller zum undurchsichtigen und entwürdigen Verwaltungsakt, in dem die eigene Lebenssituation und Existenzgrundlage zum Verhandlungsgegenstand werden. Hilflosigkeit und Ohnmacht sind Gefühle, die sich leicht einstellen. Ein negativer Amtsbescheid hat zur Konsequenz, dass eine Entwicklungsperspektive, die bisher aus der drängendsten Armut gewiesen hat, erlischt. Angesichts der Ausgeliefertheit fühlt es sich dann wenigstens einmal gut an, auf den Tisch gehauen zu haben, in einem letzten sich aufbäumenden Akt der Selbstbehauptung dem undurchsichtigen Fechten mit »Spiegeln und Masken« ein Ende zu bereiten und mit offenem Visier dem Sachbearbeiter gegenüberzustehen. Diese Personalisierung des Sozialverhältnisses erlaubt dann durch die Rückübersetzung des institutionellen Rollenspiels in lebensweltliche Sozialbezüge eine eminente Komplexitätsreduktion, wodurch es scheinbar möglich wird, den eigenen Standpunkt endlich wieder in klaren und direkten Worten zu vertreten – auch wenn dies nur unter dem Preis zu haben ist, dass nach der Eskalation die ersten zaghaft aufgebauten Brücken in die Welt der Institution wieder abgebrochen werden und auch hier nur die Straße als letzter Rückzugsort bleibt.
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3. Überdeterminierter Ausschluss aus der Welt der Erwachsenen Institutionelle Exklusion funktioniert in subtiler und unscheinbarer Weise, weil die Barrieren und Schwellen, die eine ausreichende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindern, für den geübten, kompetenten Nutzer gesellschaftlicher Einrichtungen unscheinbar wirken müssen. Für die Bahnhofsgänger erweisen sich die institutionalisierten Interaktions- und Austauschformen vorwiegend als unvertraut, befremdend und ausschließend. Zudem sind es immer wieder Erwachsene, die als Funktions- und Rollenträger in gleichgültiger Haltung oder bei der pflichtbewussten Erfüllung anvertrauter Aufgaben den Ausschluss an den jungen Menschen vollziehen. Im überdeterminierten Exklusionsfeld prekärer Existenzen verschmilzt jede einzelne Situation erfahrenen Ausschlusses zum Gesamtbild jener unbarmherzigen, kalten, ausstoßenden Erwachsenenwelt. Die Unkenntnis und die Unvertrautheit gegenüber Institutionen, die im Zuge der Sozialisation nie überwunden wurden, haben sich damit zur subjektiven Gewissheit verdichtet, in der Gesellschaft keinen Platz beanspruchen zu können. Neben der selektiven, soziale Ungleichheit befestigenden Weichenstellung von Biographieverläufen durch die Schule erweist sich in modernen Gesellschaften für die Individualintegration als zweites zentrales Problem die anwachsende Komplexität der sozialen Welt als Folge des arbeitsteiligen Differenzierungs- und Institutionalisierungsprozesses. Schon Parsons hat in der Beschreibung der gesellschaftlichen Stellung der amerikanischen Jugend folgendes Problem gesehen: »Im Gegensatz zu den vorherrschenden Ansichten, die hauptsächlich den steigenden Lebensstandard und das angeblich angenehme und bequeme Leben hervorheben, halte ich die Folgerung für gerechtfertigt, daß der allgemeine Entwicklungstrend der Gesellschaft dahin ging und auch weiterhin gehen wird, an den Durchschnittsbürger im großen und ganzen eher größere als geringere Anforderungen zu stellen – mit einigen hervorstechenden Annahmen. Er muß in komplexeren Situationen als früher handeln. Er versucht Dinge zu tun, die seinen Vorgängern nicht in den Sinn kamen, die in der Tat jenseits ihrer Fähigkeiten lagen. Um bei seinen Versuchen erfolgreich zu sein, muß er auf einem immer höheren Niveau der Kompetenz und Verantwortung tätig sein« (Parsons 2005: 183). Diese Tendenz, dass »immer breitere Bevölkerungsgruppen den formalisierten Handlungs- und Wissensanforde-
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rungen im Bildungs- und Erwerbssystem nicht entsprechen können«, hat sich in unserer zeitgenössischen (Wissens-)Gesellschaft eher noch weiter zugespitzt (Grundmann 2006: 227). Auf der Handlungsebene der alltäglichen Lebensführung wird vom Einzelnen eine komplexe Übersetzungsleistung gefordert, in der die individuelle Alltagsorganisation in Beziehung zu institutionalisierten Versorgungsbereichen gesetzt werden muss, um an gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten teilzuhaben. Anstatt die Bereiche der Arbeit, der materiellen Absicherung, der Reproduktion noch unmittelbar vor Ort in der sozialen Lebenswelt verankert vorzufinden, müssen die Umweltbeziehungen schon ab früher Kindheit selbst gestaltet werden, damit zu Ende der Adoleszenz dann ein Arbeitsplatz und ausreichend Einkommen, der Zugang zu staatlichen Behörden und marktförmigen Institutionen gefunden ist. Mit der Komplexität nehmen die Anforderungen an die kognitiven und praktischen Fähigkeiten zu, die zur Erlangung einer ausreichenden Individualintegration vorausgesetzt sind. Insbesondere bei sozial randständigen Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Bildungsniveau ist daher eine weitere Abkopplung von ressourcenreichen Funktionsräumen zu befürchten, insoweit die Komplexitätszunahme die individuellen Kompetenzen überfordert. Die Gesellschaft droht ihre Funktion als Integrationsmaschinerie, die zumindest in formaler Hinsicht Chancengleichheit garantiert, zu verlieren (vgl. Heitmeyer 1998). Es gibt immer mehr Menschen, die aufgrund der hohen Anforderungen an sowohl intellektuelle als auch alltagspraktische Kompetenzen und Fähigkeiten nicht mehr mithalten können und die von der ausgreifenden Institutionalisierung des sozialen Lebens schlicht überfordert sind. Die sozialen Folgekosten dieses untergründigen Desintegrationsprozesses mögen für die Gesellschaft gravierend sein; für den Bahnhofsgänger haben die Probleme beim Identifizieren und Beherrschen institutioneller Handlungs- und Lebensmöglichkeiten katastrophale Konsequenzen. Das Scheitern an den Zugangsschwellen gerade bei Sozialbehörden führt zum Abgleiten in die absolute Armut: Verlust einer Existenzgrundlage, der Wohnung, von Besitzgegenständen, Planbarkeit des Lebens. Ebenso ist Obdachlosigkeit in Deutschland kein direktes Resultat von Einkommensarmut, sondern wird in erster Linie durch institutionelle Exklusion verursacht. Den jungen Menschen steht rein rechtlich die Möglichkeit zur Anmietung einer Wohnung jederzeit offen, weil die Miete durch die Sozialbehörden gewährleistet werden muss. Die jungen Menschen scheitern jedoch
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im Behördenalltag an der respektvollen Distanz gegenüber der Amtsperson, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Ansprüche durchzusetzen haben; an den Zeitungsinseraten, die sie nicht lesen können; an den rechtlichen, handlungspraktischen und sprachlichen Barrieren; an den institutionellen Funktionen und Rollen, die sie nicht beherrschen. Was angesichts der institutionellen Exklusion bleibt, sind die Marginalbereiche des Lebens, wo die Überlebenssicherung durch die unmittelbar vorfindlichen und ad hoc erschlossenen Möglichkeiten der sozialen Lebenswelt sichergestellt wird.
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Soziale Exklusion unterminiert die Individualintegration schließlich noch in einem ganz anderen Zentralbereich alltäglicher Lebensführung, die sich zur institutionellen Exklusion im gewissen Sinne komplementär verhält. Der Verzicht auf soziale Einbindung und Beziehungen, auf den besten Freund, gute Bekannte, flüchtige Bekanntschaften und zufällige Begegnungen ist ebenso schwer zu denken, wie ein Leben abseits der institutionellen Gesellschaftsbereiche zu führen. Gerade für das elementare Gefühl, sich in der sozialen Welt unaufkündbar aufgehoben zu fühlen, ist die Erfahrung, geliebt zu werden, Anerkennung zu finden, Wertschätzung zu erhalten, notwendig, wohingegen Zurückweisung, Ausgeschlossenheit, Isolation den Menschen in seiner sozialen Existenz zu vernichten drohen (Röhrle & Stark 1985). Dabei zeigt sich am Beispiel der Bahnhofsgänger nur allzu deutlich, dass mit dem eingeschränkten Zugang zu Sozialwelt und Sozialräumen ebenso das »soziale Kapital« – ganz ähnlich zu dem ökonomischen – ungleich verteilt ist (Putnam 2000; Granovetter 1973). Der Zirkel der Exklusion verursacht eine sich dynamisch aufschaukelnde Überlagerung von prekärem Erwerbsstatus, Armutsrisiko, niedrigem Lebensstandard, Verarmung sozialer Beziehungen und sozialer Isolation (Hutchens 1994: 75 ff.; Paugam 2004: 92). Die jungen Menschen sind auch in dieser Hinsicht überfordert, jenen Anforderungen an eine engagierte Individualintegration zu entsprechen, die sich aus dem Aufbau von sozialen Kontakten, Netzwerken und emotionaler Unterstützung ergeben. Während im folgenden Kapitel soziale Exklusion vorwiegend unter dem Aspekt der Führung von Freundschaften und Bekanntschaften behandelt wird, findet sich eine Darstellung der Schwierigkeiten in Partnerschaften im Teil B, Kapitel 3.1. Unter dem Aspekt soziale Exklusion zeigt sich, dass die prekäre Armutslage durch Beschränkung und Verengung des ausgreifenden Weltzugangs die Bildung persönlicher Netzwerke gravierend belastet und beschränkt. Aufgrund des sozialen Differenzierungsdrucks sind soziale Be-
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ziehungen über milieuspezifische Grenzziehung hinweg kaum für längere Zeit zu etablieren (1). Insbesondere verschärft sich die soziale Isolation mit dem Verlust des Zugangs zu attraktiven, ressourcenstarken Sozialräumen, sodass sich potentiale Kontaktkreise verschließen (2). Angesichts dieser sozialen Schließungstendenzen wird der jugendkulturelle Szenetreffpunkt »Bahnhof Zoo« zum Lichtblick im tristen Alltag, weil sich hier immer jemand findet, mit dem sich die Zeit vertreiben lässt (3). Die brüchige Integration holt die jungen Menschen aber auch am Bahnhof wieder ein, wo sich Freundschaften angesichts der beengenden Misere keineswegs als dauerhaft erweisen (4).
1. Soziale Exklusion durch Armut Die jungen Bahnhofsgänger können auch aus dem Grund die Bahnhofsszene nicht hinter sich lassen, weil es ihnen nur sehr unzureichend gelingt, Sozialkontakte in anderen Sozialbereichen zu etablieren. Zum Beispiel hat sich Tobias immer wieder vorgenommen, vom Bahnhof wegzukommen, wobei aber seine bisherigen Versuche erfolglos blieben. So erzählt er mir, als ich ihn nach längerer Zeit einmal treffe, fast als ob er sich bei mir entschuldigen will, dass er in den letzten Tagen wieder am Bahnhof »herumhänge«. Vor einigen Wochen hatten wir miteinander gesprochen, wo er mir mit festem Nachdruck versicherte, dass ich ihn am Bahnhof das letzte Mal gesehen haben würde. Mit Hilfe eines in Aussicht stehenden Jobs wollte er ein neues Leben beginnen. Mit der Arbeitsstelle habe es nun nicht geklappt. Seit vergangener Woche sei er deshalb auch total »abgebrannt« und stehe nun wieder mit nichts da, genauso wie damals, als er nach Berlin gegangen sei. Und auch vom »Bahnhof Zoo« komme er nicht los, weil er nicht wisse, was er sonst tun solle, um sich die Zeit zu vertreiben. Bei seiner Freundesclique, mit der er vor einiger Zeit abends immer durch die einschlägigen Diskotheken am Kudamm gezogen sei, kann er sich jedenfalls nicht mehr blicken lassen. Er müsse noch seine Schulden begleichen, die er gerade nicht zurückzahlen könne, weil er schon so kaum über die Runden komme. Ausgrenzung und Randständigkeit müssen die jungen Menschen auch gegenüber Nahkontakten, Freunden und Bekannten erfahren. Die ökonomische Armutslage schränkt mit dem sozialräumlichen Mobilitäts- und
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Explorationsraum die Teilnahmemöglichkeiten an der Konsum- und Freizeitwelt ein. Soziale Exklusion kann gerade unter Jugendlichen, wo die Gruppenzugehörigkeit insbesondere über gemeinsame Freizeitaktivitäten vermittelt ist, direkte Folge der Armut sein. Von der kostenintensiven Abendgestaltung im Freundeskreis, dem Stammtisch in der Gaststätte, den wochenendlichen Diskobesuchen, der Verabredung zum neu angelaufenen Kinofilm, dem Besuch eines Fitness- und Sportcenters sind Sozialleistungsempfänger weitgehend ausgeschlossen (vgl. Kronauer, Vogel & Gerlach 1993: 35). Ebenso ist beim Tragen von angesehenen Markenartikeln im Wettbewerb um Ansehen und Prestige nicht mitzuhalten. »Diese materiellen Einschnitte bedeuten durchaus Restriktionen sowohl für die eigene Darstellung der Einzigartigkeit von Identität als auch für die soziale Wertschätzung […], so daß auch gesellschaftliche Kontaktchancen und Freundschaftsbildung in Gefahr sind« (Holtappels & Hornberg 1997: 353). Armut kommt, wie sich gezeigt hat, in jeder Facette des Alltags zum Vorschein, was nicht nur zum Problem für das alltagspraktische Bewältigungshandeln, sondern ebenso sehr zum distinktiven Ausschlussmerkmal bei der Bewertung und Hierarchisierung von Sozialstatus wird. Der Gefahr ist durch ein geschicktes Informationsmanagement vorzubeugen, mit den stigmatisierenden Repräsentationen, die in der Öffentlichkeit über die Bahnhofsszene vorherrschen, assoziiert zu werden (Goffman 1975: 116 ff.). Aus demselben Grund verzichten die Bahnhofsgänger lieber darauf, ihre Freunde, wenn diese nicht dem Unterschichtmilieu angehören, zu sich nach Hause einzuladen. Das karge Inventar, die abgewohnten Möbelstücke, vom Sperrmüll oder aus gemeinnützigen Möbelkammern zusammengetragen, das Gesamtambiente der Einrichtung, das allein dem Geschmack der Notwendigkeit gefällt und nur geringfügig persönliche Präferenzen erkennen lässt, ist schon beim flüchtigen Blick in die Wohnung nicht zu verbergen. Die Bahnhofsgänger können ebenso wenig mit dem Besitz von unter Jugendlichen mehr oder weniger selbstverständlichen Unterhaltungsmedien aufwarten. Die Möglichkeit zum Musikhören, Fernseh- oder DVD-Schauen, Computerspielen ist Freunden nur in sehr eingeschränktem Maße zu bieten. Als stigmatisierend erweist sich ferner, wenn sich beim Besuch herausstellt, dass es sich bei der eigenen Wohnung eigentlich um eine sozialpädagogische Einrichtung handelt, deren Betreuungsangebot sich an Menschen mit sozialen Schwierigkeiten richtet, die von Obdachlosigkeit bedroht sind. Eine Entmischung gegenüber statushöheren Jugendgruppen abseits des Unterschichtmilieus ist aber auch von anderer Seite zu
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erwarten: »Schichthöhere Jugendliche nutzen in geringerem Ausmaß urbane öffentliche Räume, da sie in der Regel stärker institutionell eingebunden sind; für schichtniedrigere Jugendliche hingegen sind die in der Regel kostenneutral zu nutzenden öffentlichen Räume attraktiver, zumal sie auch über weniger attraktiv ausgestaltete private Räume verfügen« (Herlyn, Seggern, Heinzelmann & Karow 2003: 32). Schließlich werden in mittelklasseorientierten Freundschaftsnetzwerken die Bahnhofsgänger angesichts des harschen Auseinandertretens von materiellen Möglichkeiten, über die sie persönlich verfügen, und gruppeninternem Konsumstil, der das karge Niveau der Sozialleistungen weit überschreitet, ständig an ihre prekäre Bedürfnislage erinnert. Und auch die schon eine ganze Weile als Übernachtungsplatz zur Verfügung gestellte Couch wird, wenn sich die Geduld mit dem zunehmend unerwünschten Untermieter irgendwann erschöpft hat, wieder zurückgefordert. Unterstützung, Wohlwollen und Verständnis drohen, da sie übermäßig in Anspruch genommen werden, überspannt zu werden. Die Bereitschaft zu Freundschaftsdiensten, die ihnen zunächst entgegengebracht wird, braucht sich mit der Zeit auf, sodass die Freunde beginnen, auf Distanz zu gehen (Radley, Hodgetts & Cullen 2006). Die soziale Exklusion hat eine wesentliche Ursache in dem armutsinduzierten Nicht-mithalten-Können und in der abschätzigen, stigmabesetzten Wertung sozialer Randständigkeit. Der persönliche Lebenshintergrund, insbesondere alle verräterischen Indizien, die auf die Bahnhofsszene hinweisen könnten, werden daher außerhalb der Bahnhofskreise im Verborgenen gehalten. Mike sagt dazu: »… wenn ick ma woanders HINgehe und äh … und wir reden über’n Bahnhof. ›Na, kommste mit … und zum Bahnhof Zoo?‹ ((senkt die Stimme, flüsternd:)) ›Wat? Da verkehrste?‹ Ja, det wird gleich Ver// in Verbindung jesetzt … äh äh äh mit ANschaffen, mit KriminaliTÄT. Also NUR mit negativen Sachen.« Diese aus ganz praktischen Erwägungen motivierte Verleugnung des eigenen Lebens- und Sozialhintergrundes kann so weit gehen, dass etwa Tobias seiner Freundin, die er vor einigen Wochen in der Disko kennen gelernt hat und die nicht der Bahnhofsszene angehört, dafür aber über einen festen Job und verbindliche Formen der sozialen Einbindung verfügt, nicht erzählt hat, dass er Kontakte zur Bahnhofsszene hat. Das narrative Aufbauen von Hinterbühnen, auf denen sich das eigene Leben makellos und von Armut unberührt in Szene setzen lässt, und das Aufstellen von unbeschädigten, glorifizierenden Identitätsfassaden mögen als Selbstschutz eine Zeitlang subjektiv funktional erscheinen. Diese illegitime
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Zuschreibung von symbolischem Kapital wird sich aber nur so lange glaubwürdig vertreten lassen, wie sich angesichts geringer Kontaktdichte noch kein vertrauter und verbindlicher Umgang entwickelt hat. Die Etablierung eines solchen »falschen Selbst« (Winnicott 1986: 65 ff.) erfordert es, dass die jungen Menschen geübt zu jonglieren wissen zwischen den sozial erwünschten Formen der narrativen Selbstinszenierung einerseits, der diskursiven Wahrhaftigkeit der personenbezogenen Aussagen andererseits. Eine tragfähige Basis für eine langfristige Freundschaft entwickelt sich aus diesen nur in der Erzählung fundierten Halbschattenwelten aber nicht. Die Angst vor dem Verlust ist umso ausgeprägter, wie andere Formen der Einbindung fehlen, sodass diese eine Freundschaft unersetzlich wird, weil eine Aufkündigung der Vernichtung der sozialen Existenz gleichkommt. Vielmehr desavouieren die jungen Menschen im gleichen Zuge, wie sie sich in den inszenierten, unaufrichtigen und unwahren Selbstdarstellungen präsentieren, die Aussicht auf »echte« zwischenmenschliche Anerkennung und Zuneigung. In der Konsequenz bleibt den jungen Menschen angesichts ihres negativen Symbolkapitals der soziale Anschluss an Gleichaltrigengruppen außerhalb der Bahnhofsszene versperrt. Aufgrund der Ziel-Mitteldiskrepanz zwischen Mithaltenwollen an allgemeinen Konsumstandards und der unzureichenden Finanzausstattung wird zwar niemand – zumindest unter guten Freunden – als unmittelbare Reaktion Antipathie, Missgunst und Ausschluss befürchten müssen. Es droht aber eine Überspreizung der sozialen Klammer, die sich in Form von Zuneigung, Freundschaft und Liebe um die Beziehung legt, wenn Disparitäten und Asymmetrien in Sozialstatus, Konsummustern, Freizeitaktivitäten und Lebens- und Wertorientierungen ein bestimmtes Maß an Umfang und Dauer erreichen (Colemann 1988). Hierbei handelt es sich um ganz unmerkliche sozialstrukturelle Grenzziehungen, die sich in zwischenmenschliche Beziehungen einschleichen und Ähnlichkeiten im sozialen Status unter den Netzwerkangehörigen erzeugen (vgl. Laumann, Gagnon, Michael & Michels 1994: 229; ebenso McPherson, Smith-Lovin & Cook 2001: 415). Soziale Ungleichheiten funktionieren auch in dieser Hinsicht als subtiler Selektionsmechanismus, der zur Entmischung sozialer Statusgruppen und damit zur Vertiefung sozialer Exklusion beiträgt, wodurch sich die soziale Kontaktreichweite der Bahnhofsgänger ganz auf die Gruppe der sozial Benachteiligten eingrenzt (Bottero 2005: 166 ff.).
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2. Exklusion aus sozialen Lebenssphären Die soziale Exklusion kommt aber nicht nur im Nicht-mithalten-Können, in der abschätzigen Statuszuweisung, in der zwischenmenschlichen SelbstEntfremdung durch inszenierte Scheinidentitäten zum Ausdruck. Vielmehr konkretisiert sich die sozialräumliche Exklusion auch in Hinblick auf die öffentlichen Lebenssphären, in denen die Menschen soziale Kontakte aufbauen, sozialen Austausch pflegen und sich in Angelegenheiten der Allgemeinheit involvieren (Arendt 2002: 62 ff.; Habermas 1990). Die soziale Isolation – wie andere Exklusionsformen auch – weist damit eine sich selbst verstärkende Dynamisierungspotenz auf. In der Arbeitsgesellschaft hat nach wie vor insbesondere die Berufstätigkeit einen großen Stellenwert bei der Ausbildung der individuellen Sinn- und Zeitstruktur des Alltagslebens, die nur mit hohem Eigenengagement und ausgewiesener Kompetenz beim Erschließen von alternativen Sozialräumen zu kompensieren ist. Durch die Arbeitslosigkeit bleibt eine privilegierte Zugangsmöglichkeit zum öffentlichen Leben des Gemeinwesens in elementarer Weise verschlossen. Von der Einschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeiten sind ausnehmend auch soziale Integrationsformen betroffen. Bei dem Arbeitsplatz handelt es sich um einen in der Gesellschaft zentralen Kommunikations- und Interaktionsort, in dessen institutionellem Gefüge sich Menschen auf regelmäßiger Basis begegnen, sodass sich aufgrund von Kontaktdichte und -häufigkeit verbindliche Sozialbeziehungen ausbilden, die zu eigenständigen Freundschaftsbeziehungen auswachsen können (Feld & Carter 1998: 137). Tobias erhält eine Zeitlang durch seine Arbeitstätigkeit in dem Restaurantbetrieb etwa auch die Möglichkeit, die Beschränkung seiner sozialen Kontaktkreise auf den marginalen Ort der Bahnhofsszene aufzubrechen und sich außerhalb dieser neue Freundschaften aufzubauen: »Immer bis nachts gearbeitet, dann meistens noch mit Arbeitskollegen zusammen weggegangen, … ins Far Out oder ins Casino noch zusammen … n bisschen gef// getrunken und gefeiert.« Es sind nicht allein die institutionalisierten, fest umrissenen Funktionsräume, sondern ebenso die öffentlichen Bereiche, die für die Sozialintegration wichtig sind, aber den Bahnhofsgängern entzogen bleiben. So gibt es unter den Jugendlichen kaum jemanden, der solchen Zeitvertreibs- und Aktivitätsformen nachgeht wie einem regelmäßigen Hobby, dem Spielen eines Musikinstruments, der Beteiligung an einer Theatergruppe, der Mitgliedschaft in einem Fußball- oder Schwimmverein. Hieraus begründet sich
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auch ein Mangel an Gelegenheiten zur informellen Vergemeinschaftung, zur Bildung von Überschneidungskreisen und Interessengruppen, worüber Einbindung in die Welt der Mitmenschen und Teilhabe am sozialen Leben außerhalb von Familie möglich wird, ohne dass diese Kontakte allein auf der Grundlage persönlicher Bekanntschaften und Verpflichtungen beruhen (Zieher & Zieher 1994). Soziale Exklusion bedeutet daher auch »die mangelnde Integration in Sekundärgruppen, die mangelnde Teilnahme am politischen, auch am kirchlichen Leben, die mangelnde Integration in Schule und Arbeitsbetrieb« (Hess & Mechler 1973: 56). Bei den Bahnhofsgängern ist die soziale Exklusion schon biographisch in dem mangelnden Interesse der Eltern an den Kindern, der Vernachlässigung und Verwahrlosung, der unzureichenden Anleitung zur Aufnahme ausgreifender Umweltbeziehungen angelegt. Am Bahnhof hört man niemals davon, dass ihnen in der Kindheit von den Eltern Zugänge zu Gleichaltrigen und Freizeitinstitutionen eröffnet, die täglichen Termine und Transporte übernommen, Besuche und Ausflüge organisiert wurden. Die Jugendlichen waren sich weitgehend selbst überlassen, wenn nicht sogar von der häuslich-familiären Problemfülle erdrückt, was einer gelassenen und selbstsicheren Exploration und Aneignung des lebensweltlichen Nahraums weitgehend im Weg gestanden hat. Spätestens aber mit dem Herausbrechen aus dem elterlich getragenen Lebenszusammenhang scheitern nicht nur die Verselbständigungsversuche des Adoleszenten an den unzureichenden alltagsorganisatorischen Fähigkeiten und Kompetenzen zur eigenständigen Lebensführung. Ebenso sind sie überfordert mit dem Aufbau eines sozialen Netzwerks, das sich über alle Höhen und Tiefen des Alltagslebens aufrechterhalten lässt. Die soziale Exklusion, die sich in der restringierten Teilhabe am öffentlichen Leben offenbart, ist unmittelbare Folge der Vielschichtigkeit der sozialräumlichen Dislokalisation, denn ohne sich auf ein zuverlässiges Lebenszentrum beziehen zu können, sind auch die Weltbezüge zu anderen Menschen nicht nachhaltig zu entwickeln. Damit entbehren die jungen Menschen nicht nur thematische Lebenskontexte, in denen sich Freundschaften durch eine Gleichgerichtetheit der Interessen entwickeln könnten. Vielmehr leiden die wenigen bestehenden Freundschaften darunter, dass sich gemeinsame Lebensfelder schnell wieder auseinanderdividieren. Tobias: »Ich hab auch keinen KonTAKT mehr mit ihm so. Auch die FREUNDschaft is nich mehr so da wie … letztes Jahr. Letzte Jahr war’n
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we tagTÄGlich susammen un jetz, wenn we uns sehn, vielleicht noch ne Stunde so zusammen reden, aber we gleiten eher anenander vorbei.« Der objektive Ausschluss von kulturellen Aktivitäts- und Begegnungsfeldern des öffentlichen Lebens geht auf subjektiver Seite einher mit einer Schrumpfung und Entstrukturierung der persönlichen Interessensphären. Es ist die Deprivation gegenüber der ganzen Vielzahl an kaleidoskopischen Erfahrungsbruchstücken, die sich in den an sich banalen Details, unscheinbaren Gegebenheiten, kleinen Erlebnissen zusammenfinden, in denen sich die Einmaligkeit des Alltags vorfindet. Unter Jugendlichen, bei denen Freundschaften noch in besonderer Weise in die Täglichkeit der Begegnung und die Unmittelbarkeit des gemeinsamen Lebensvollzuges eingelassen sind, werden diese einzelnen Ausschnitte des Alltagslebens zum zentralen thematischen Konnex der Sozialbeziehung: die Probleme mit dem Chef, die bestandene Lehrprobe, die Wochenendaktivität, der aktuelle Kinofilm, die Probleme mit Eltern, ein Up-to-date-Bleiben mit den sich permanent verändernden Beziehungskonstellationen in der eigenen Clique. Soziale Isolation führt deshalb auch zu einem Verstummen, weil man sich schlicht nichts zu erzählen hat, was von Bedeutung ist, während alle anderen, die in erweiterter Stufenleiter am sozialen Leben teilhaben, ständig aus einem weitaus reicheren Erfahrungsschatz an Erlebnissen Material für ihre Erzählungen rekrutieren können. Mike bringt die Erweiterung seiner thematischen Wirkungskreise, die sich aus der Rückkoppelung an die Arbeitsgesellschaft ergibt, folgendermaßen auf den Punkt: »Ku’ ma, in// in DER Zeit [während er arbeitet], … da seh ich andre LEUte, … andre GEgenden. … Und wat mit’m Bahnhof … diREKT nüscht zu tun hat, … weeßte? … so würd ick bei mir zu Hause sein […] arbeit ick … ne Weile, du kriegst GeSPRÄche mit, du unterHÄLTST dich mit den Leuten ja ooch ganz anders, SIEHST wat andret … un gehst DANN ers’ zum Bahnhof, … weeßte?« Für die Bahnhofsgänger resultiert die soziale Isolation damit auch daraus, dass von der Bahnhofswelt vor Außenstehenden besser nur mit Vorsicht zu sprechen ist.
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3. Keine Freunde, viele »Kumpels« Der »Bahnhof Zoo« wird zur Projektionsfläche für die Sehnsüchte nach sozialen Kontakten und Anschlussmöglichkeiten. Und dennoch finden die wenigsten hier die erfüllten Vergemeinschaftungsformen und beglückenden Sozialkontakte vor, die sie sich so dringlich wünschen. Vielmehr sind die sozialen Einbindungs- und Beziehungsformen unter den Bahnhofsgängern selbst in sich tief gebrochen. So sehr sie sich für den jeweiligen Augenblick gegenseitig helfend zur Seite stehen, mit dem Freund die letzte Zigarette teilen, spontan dem anderen eine Unterkunft anbieten, so können sie jedoch auch in der Freundschaftsführung den Zwängen und der Enge des Straßenlebens nicht entkommen. Hüseyin beschwert sich in dem Interview vehement darüber, dass auf seine Straßenfreundschaften kein wirklicher Verlass ist: »Wenn’s irgendwie darauf ankommt, dann sind se nich DA, also … oder man// … n geht einen Scheiße oder man hat kein GELD un will sich dann was BORgen oder … fragt dann ma nach Zigaretten un dann hat da keiner was. … Aber bei MIR, wenn ich schon was immer hatte, dann ich hab immer rausgegeben, ja?« Die Kargheit der Lebensverhältnisse erfordert es in der Planungs- und Relevanzhierarchie der alltäglichen Lebensführung immer wieder, zumeist und zuerst an sich selbst zu denken, um für das Grundlegendste zu sorgen. Die Bahnhofsgänger stehen angesichts der knappen Ressourcenausstattung so weit mit dem Rücken an der Wand, dass es kaum einen Handlungsspielraum gibt, um hinter die eigene Bedürftigkeit zurückzutreten und sich auf eine gemeinsame Handlungsperspektive zu einigen, in der die eigenen und die fremden Ansprüche gleichwertige Berücksichtigung finden. Aber erst dadurch würde die Freundschaft auf ein verlässliches und dauerhaftes Fundament gestellt, das nicht immer wieder zu zerbrechen droht, weil die einander entgegengebrachte Achtung, Anteilnahme und Vertraulichkeit durch die sich in den Vordergrund drängenden Notwendigkeiten der unabgesicherten Lebensverhältnisse untergraben werden. Mike zählt eine Vielzahl an angewandten Strategien und Taktiken auf, die zwar für die eigene Lebenssicherung sorgen sollen, aber alle auf eine Instrumentalisierung seiner Bekannten und Freunde hinauslaufen – so etwa bei der Organisation eines Schlafplatzes: »ABENDS hinjejangen, […] Wenn ick so da quatsche so, weeßte, dann: ›ACH, jetz is det ja schon halb einse. Ach du SCHEIße, wie soll ick’n jetz nach HAUse komm’n?‹ … ›Na ja, pennste hier.‹ … Schon wieder ne Nacht.«
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Wenn Freundschaften in den Gesprächen zum Thema werden, dann lautet das allseits geteilte Credo: »Nee, also am Bahnhof hab ick eigentlich … KEIne Freunde, also ganz WEnig. … Vielleicht zweie, drei … FREUNde. Sonst Kumpels, ja. … Un darunter sin Leute, mit denen versteh ich mich SUper. … Aber … Freunde macht für mich wat andres aus« (Tobias). Jeder weiß nur zu gut darum, dass man wahrscheinlich sogar der eigenen Person nicht über den Weg trauen würde. Der realistische Blick auf die eigenen Freunde wirkt desillusionierend und ernüchternd zugleich. Anstatt Vertrauen und Verbindlichkeit entwickelt sich angesichts der aufsummierten Enttäuschungen als reziproke Schutzreaktion eine misstrauische Haltung, die stetig mit der Möglichkeit rechnet, durch den anderen betrogen und »abgezogen« zu werden. Tobias’ Erfahrung dazu ist: »… ich sag mal so, am … Bahnhof Zoo, da, … so die Leute, die da Jahre rumhängen, sin vielleicht auch schon Freunde geworden un so. Aber … die Leute, sag ich ma so, ma am Beispiel Karsten oder so, … Karsten und, … ich sag ma, die Leute auch Heroin nehmen un so, die würden sich sogar noch gegenseitig abziehn, aber jetz halt nich, weil se’s wollen, halt durch die DROgen.« Die Bekanntschaften, die die Jugendlichen in der Bahnhofsszene führen, werden durchweg als »Kumpels« bezeichnet, während Freunde, auch wenn diese am Bahnhof zusammengefunden haben, strikt von dieser eher verpflichtungslosen Sozialbeziehungsform abgegrenzt und vom despektierlichen Bedeutungskontext der Bahnhofsszene frei gehalten werden. Freundschaften zeichnen sich dadurch aus, dass diese sich gegenüber der Einbindung am marginalen Treffpunkt verselbständigen, es auch außerhalb des informellen Treffpunkts zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten und Unterstützungsleistungen kommt und diese dadurch eine eigene wertgeschätzte Qualität erlangen. Dazu Tobias: »… man kann sich super mit’m Kumpel verSTEHN, … is keine FRAge. Und äh äh man kann sich au’ jeden Tag treffen und äh alles klar. … Ooch mit Geld leih’n so wat, aber … jetz ma so priVAte Sachen, … über … die Zeit daVOR, vor’m Bahnhof, … über Eltern, Geschwister, … oder BeZIEhungen, ja? … Würd ick über’n Kumpel ni// äh oder MIT’m Kumpel nich Reden.« Neben dem Vertrauen in die Loyalität und die Zuverlässigkeit der anderen Person ist es vornehmlich die Möglichkeit zum Besprechen von Persönlichem und Vertraulichem, anhand der die Scheidegrenze zwischen Kumpelei und Freundschaft strikt gezogen wird.
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Dies weist zugleich auf den großen Rede- und Mitteilungsbedarf, der unter den Bahnhofsgängern besteht, weil das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung angesichts der Prekarität der Lebenssituation und der sozialen Isolation überspannt und übersteigert ist. Aber selbst die guten Bekannten erweisen sich nur in den seltensten Fällen als aufmerksame und verständnisvolle Zuhörer. Dazu Franziska: »Bloß, was ich Scheiße fand, also bei den Leuten, die zu mir gekommen sind wegen Hilf// also wegen den Problemen. … Ich mein, ich hab nich mit jedem über meine Probleme gelabert oder so, aber wenn ich dann schon mal jemanden zum Ausheulen … wollte so, dann war keiner da.« Die jungen Menschen sind im persönlichen Austausch fast nur zur Selbstthematisierung fähig, während sie bald das Interesse verlieren, wenn jemand anderes von sich erzählt. Sie können es kaum ertragen, wenn der Freund von Problemen und Hilflosigkeit spricht. Als ob sie zu sehr von den Erzählungen des anderen tangiert, aufgewühlt und überflutet werden, lenken sie das Gespräch schnell auf andere Themen oder spenden fadenscheinigen Trost. Wegen der unerfüllten Sehnsüchte nach Anerkennung und Zuneigung ist es kaum möglich, was eine Freundschaft aber notwendig voraussetzt, hinter eine egozentrische Selbstthematisierung zurückzutreten. Die Bedürftigkeit nach verbindlichen Sozialkontakten ist dann allein noch darauf gerichtet, überhaupt einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des Interesses seiner Mitmenschen zu stehen. Tobias ist in seinem Bekanntenkreis dafür bekannt, dass er, solange er noch Arbeit hatte, sich gerne von seiner spendablen Seite zeigte und schon einmal eine Runde für seine Freunde spendierte. Er gerät ins Schwärmen, wenn er von seiner guten, alten Clubzeit berichtet: »… so viele Kumpels da hatte un schon … freitags, ehrlich, freitags um acht Uhr schon ehrlich zu Hause war un so un gehofft, oh, wann is es endlich zwölf Uhr, wann kann ich endlich im Casino [Berliner Techno-Diskothek] fahrn, meine ganzen Kollegen un so, ey, wieder Party un so angesagt, mal wieder voll (drupp) auf’e Tanzfläche un so. Also kann man schon sagen, war schon ’ne SUCHT.« Wenn er in seiner Stammdiskothek unter seinen »Freunden« sitzt, eine weit gesponnene Freundesclique an nächtlichen Partygängern, Ravern und Technofans um sich geschart hat, beim Prominieren an der Tanzfläche von allen Seiten begrüßt wird, dann wird in diesen Momenten die Selbstversicherung der eigenen sozialen Existenz in jener ausgeprägten Intensität möglich, die sich gerade aus dem tiefen Kontrast zum sozialen Ausschluss erklärt. Bahnhof, Wohnprojekt und Sozialamt sind keine Sozialräume, in denen er seine
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Person in seiner Einzigartigkeit unter Beweis stellen könnte. Das als »Sucht« ausartende Herbeiwünschen einer unverbrüchlichen Sozialintegration wird umso drängender, wie die jederzeit greifbare Möglichkeit droht, wieder einmal aus dieser miniaturisierten Weltsphäre sozialer Wertschätzung, die um Club und Tanzfläche herum zentriert ist, herausgestoßen zu sein und sich in den sozialen Niederungen der marginalen Bahnhofsszene wiederfinden zu müssen. Der Wunsch, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der anderen zu stehen, wird noch nicht einmal dadurch getrübt, dass viele der bekundeten Freundschaften allein seiner Freizügigkeit und Spendabilität geschuldet sind. So wird die soziale Einbindung in dem Augenblick brüchig, wenn das Geld als Tauschmittel zur Konvertierung in Sozialkapital versiegt, sodass sich ihm die Tür zum nächtlichen Partyevent verschließt. Dazu Hüseyins Erfahrung: »Wenn man irgendwie Geld hat, dass man dann Freund is, und wenn man nich// dann, wenn man nix hat, dann// … dass man dann ARSCHloch is sosusagen.« Angesichts der sozialen Isolation, die sich dem Alltag aufdrängt, werden oftmals alle Ansprüche an eine Beziehung so weit zurückgefahren und preisgegeben, dass allein der leere Wunsch bleibt, dass überhaupt irgendein Mensch, ganz gleich in welcher Weise, der eigenen Person Interesse und Zuwendung entgegenbringt. Die Beteiligung am gemeinsamen Drogenkonsum erklärt sich dann nicht allein aus subkulturellen Orientierungen und Konformitätsdruck der Peer-Group (Becker 1973), sondern, wie Oliver dazu ausführt, aus der schieren Möglichkeit, durch die Beteiligung an Gruppenaktivitäten elementare Formen sozialer Integration zu restituieren: »Und … zwee da in’er Etage [in einem Wohnprojekt] ham halt jesoffen, … der eene war’n Volljunkie jewesen und so. … Na, und damit de nich so alleene bist, haste dir da irgendwie in Jesellschaft mit zujesetzt und halbwegs anjepasst, sa’ick mal wa. Also haste … ja klar mitjetrunken und mitjekifft und so, n bisschen Koks jezogen mit denen.« Trotz der Einsicht in die Gebrochenheit solcher Freundschaftsformen werden dann auch Sexualität und Intimität instrumentalisiert, was nach innen gewendet die Illusion von leidenschaftlicher Nähe und ekstatischer Liebe ermöglicht, nach außen in berechnender Weise mit dem auf Sexualität reduziertem Interesse an der eigenen Person kalkuliert (Bilden 1980: 799). Franziska: »… weiß ich nich, sie [ihre Freundin] macht die SELben Fehler wie ich damals, dass sie in ’ner Clique … rumvögelt so, weißte. Und … ja … ihr geht’s damit selber total scheiße […]… Ich denke mal, dass sie auch// oder dass sie halt auch dasselbe Problem hat wie ich, dass sie halt nich alleine sein kann.« Es ist
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gerade die erdrückende Isolation, die die Sehnsucht nach Aufgehobenheit und Anerkennung maßlos werden lässt, was in zirkulärer Weise wiederum dazu beiträgt, dass diese umso eher unerfüllt bleiben wird, weil Beziehungen unter dem Druck von Bedürftigkeit und Instrumentalisierung längst zerbrochen sind, bevor sich ein tragfähiges Fundament für eine sich verpflichtende Freundschaftsführung ausgebildet hat.
4. Soziale Isolation Diese herausgehobene Bedeutsamkeit der Bahnhofsszene für die Alltagsgestaltung würde sich nur unter der Bedingung relativieren, wenn es Sozialräume und Lebensfelder außerhalb des marginalen Ortes gäbe. Die jungen Menschen sind jedoch in einer fast kategorischen Weise vom sozialen Leben der Gleichaltrigen ausgeschlossen, unabhängig davon, ob der Anschluss in institutionellen Alltagsarrangements wie Arbeitsstelle, Schule oder Ausbildungsplatz verpasst wird oder sich informelle Kontakte und persönliche Freundschaften nicht als standfest und belastbar erweisen. So wird der Aufbau von mittelstandsorientierten Freundschaftskontakten und Sozialnetzwerken umso unwahrscheinlicher, desto weiter sich die jungen Menschen aus attraktiven Sozialräumen in Richtung der Peripherien der Überflüssigen und Armen abdrängen lassen. Ohne stabiles Lebenszentrum und feste Beteiligungsformen am sozialen Leben muss der Aufbau von verbindlichen Sozialkontakten misslingen. Die finanzielle Armutslage tut das ihrige, indem durch Reduktion von Teilhabe- und Interessenfeldern auch die persönlichen Kontaktmöglichkeiten schwinden. Die Strategie der narrativen Errichtung von makellosen Hinterbühnen und unbeschädigten Identitätsfassaden kann der Brüchigkeit des sozialen Kontaktfeldes nicht wirklich entgegentreten. Die soziale Exklusion vollzieht sich vielmehr unauffällig und still als Tendenz der Entmischung hierarchisch differenzierter Statusgruppen und der Homogenisierung von milieubezogenen Lebensformen und Erfahrungsorientierungen. Als sozialer Bezugspunkt bleiben allein die Orte der Exkludierten und Verlierer. Damit ist der ganze Umkreis an kulturellen und sozialen Aktivitäten vorwiegend auf die losen Sozialbindungsformen am Szenetreffpunkt reduziert. Zugleich wird der »Bahnhof Zoo« aber zur Gegenwelt der alltäglichen Langeweile und Einsamkeit. Beziehungen lassen sich unter den jun-
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gen Menschen leicht knüpfen, weil man die missliche Lebenslage miteinander teilt und sich niemand dafür schämen muss. Ereignisreichtum und Kontaktintensivität sorgen für ein Erfahrungsfeld, auf dem immer wieder etwas Neues zu entdecken und zu erleben ist. Auf der anderen Seite aber können sich die Formen alltäglicher Lebensbewältigung nicht von den ressourcenarmen, sich selbst überlassenen Marginalbereichen des öffentlichen Lebens lösen und bleiben an entwerteten, marginalisierten Formen sozialen Kapitals gebunden. Die jungen Menschen erhoffen sich daher insbesondere von einer festen Partnerschaft die Chance, sich ein neues Leben weit weg vom »Bahnhof Zoo« aufzubauen – wie dies etwa bei Franziska der Fall ist: »Und ähm … ja, also er [ihr Freund] wollte dann halt nich mehr am Zoo sein, … weil ihm das alles zu blöd war irgendwie. Und … ich hab dann gesagt, okay, die Chance, die nutzt du dann, ganz von der Straße wegzukommen so.« Angesichts der Brüchigkeit und Exklusionstiefe der allgemeinen Lebensumstände werden die jungen Menschen jedoch, weil die anderswo mühsam aufgebaute Sozialintegration leicht wieder verloren geht, immer wieder zum Bahnhof zurückgeführt. Als der Freund Franziska im Streit verlässt, bedeutet dies auch, dass sie, um der Langeweile und der Tristesse auszuweichen, von der sie wieder eingeholt wird, die zurückgelassenen Kontakte zur Bahnhofszene reaktiviert: »Ich wollt auch eigentlich NIE wieder mehr am Zoo erscheinen. /I.: Hm/ Ja, irgendwann … war das dann halt so, dass wir uns gestritten hatten, und dann … war ich vier Tage wieder bei mir in der Wohnung, also bei Schöner Wohnen. Und … ja, Langeweile, wat muss// also wat willste tun so. Und dann … okay, fährst zum Zoo.«
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Ihren Abschluss und ihre Überbietung finden die Ausgrenzungsprozesse schließlich in der kulturellen Exklusion. Stigmatisierung und Diskriminierung können kaum drastischer zum Ausdruck kommen als in dem verbreiteten Bild vom verwahrlosten, charakterlosen und herumlungernden »Junkie«. Die jungen Menschen werden zur allgemeinen Bedrohung für und Beleidigung von Gesellschaft und Ordnung stilisiert, indem sie zum gesellschaftlichen Negativ anerkannter Werte wie Leistungsbereitschaft und Wohlschaffenheit abgestempelt werden. Geltungsansprüche, die sie in Bezug auf die Darstellung ihrer eigenen Individualität hegen, lassen sich gegenüber dieser alles beherrschenden Repräsentation des verworfenen und entwerteten Lebens am »Bahnhof Zoo« kaum durchsetzen. Durch Stigmatisierung und symbolische Diskriminierung müssen die Bahnhofsgänger abermals eine weitere Verstetigung und Vertiefung ihres sozialen Ausschlusses in Kauf nehmen. Zunächst wird nun der stigmatisierende Charakter der öffentlichen Repräsentationen des »Bahnhof Zoo« herausgestellt, der mit einer Personalisierung der Armutsursachen zusammenfällt. Im Zuge der symbolischen Diskriminierung, die eine gruppenspezifische Minderwertigkeit der Bahnhofsgänger behauptet, werden den jungen Menschen Achtung und Wertschätzung vorenthalten (1). Daher bleibt den jungen Menschen angesichts der Übermächtigkeit des Stigmas gar nichts anderes übrig, als ihre Zugehörigkeit zur Bahnhofsszene, damit ihre Freunde und Bekannten zu verleugnen (2).
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1. »Bahnhof Zoo« als Ort der Verwerfung Am »Bahnhof Zoo« ist der ganze Umkreis an Freizeitaktivitäten, wie sich gezeigt hat, auf die losen Sozialbindungsformen des Szenetreffpunkts zentriert. In der informellen Institutionalisierung des jugendkulturellen Treffpunkts lässt sich die soziale Isolation, die im Alltag zu einem besonders schmerzlichen Erfahrungsfeld der eigenen Wertlosigkeit wird, ein Stück weit aufheben. Doch hier sind die Bahnhofsgänger sogleich an ein weiteres Exklusionsschicksal gebunden, das sich aus der Charakteristik des städtischen Treffpunkts als marginaler Ort entwickelt. Selbst das bedrängte Bahnhofsterrain wird ihnen keineswegs vor dem Ausschließungsdruck als karge und beengte Oase zugestanden, wo sie ihre reduzierten Integrationsund Anerkennungsbemühungen von neuem entfalten können. Denn am Bahnhof herrscht nicht nur eine handfeste Vertreibungspolitik vor, sondern ebenso Stigmatisierung, symbolische Entwertung und moralische Delegitimierung der Szeneangehörigen (vgl. etwa Thomas 2005: 72 ff.; Kapphan 2002: 34). Neben dem Ausschluss aus den kompetenz- und ressourcenabhängigen Marktmechanismen und den konkurrenzförmig organisierten Sozialräumen, den Zugangsschwellen zu institutionellen Funktionszusammenhängen und der Gebrochenheit sozialer Einbindungsformen besiegelt schließlich durch die Stigmatisierung eine weitere Ausgrenzungsform, die kulturelle Exklusion, die Randständigkeit der jungen Menschen. Stigma bezeichnet das schlechte Image, die Unehre, die moralische Minderwertigkeit, was oftmals mit körperlichen Sonderbarkeiten, Abnormalitäten und Verkrüppelungen in Verbindung gebracht wird, aber dessen Ursprung ebenso rein sozialer Natur sein kann (Goffman 1975). Mit letzterer Variante sind die Bahnhofsgänger konfrontiert, wo die Minderwertigkeit ihrer sozialen Identität und ihres sozialen Status aus ihrem persönlichen Exklusionsschicksal abgeleitet werden. Die Abdrängung an den marginalen Ort wird von der Gesellschaft selbst als Indiz für eine inferiore Charakterbildung und deviante Verhaltensdisposition angesehen. »However, the paradox around these marginal places is that they serve as identity creating, and at the same time, the community at large sees them as marginal places. Marginal places are those that function as a symbolic centre for outsider groups or groups that are, or consider themselves to be on the periphery of society. These individuals and groups can become or be experienced as the ›others‹ or the ›strangers‹ and ›foreigners‹« (Larsen 2004: 214).
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Konfiguriert sich das Bild einer Person erst einmal im Lichte der stigmatisierten Gruppenidentität, dann hat sie kaum noch eine Chance, dieser despektierlichen Zuordnung zu entkommen. Die Angehörigen der Bahnhofsszene werden als Obdachlose, Rauschgiftsüchtige und Kriminelle, damit als illegitimer gesellschaftlicher Bodensatz abgestempelt, indem die straßennahe, von Armut gekennzeichnete Alltagspraxis in den öffentlichen Diskursarenen als schändlicher und anstößiger Lebenswandel gebrandmarkt wird. Die Identifikation des sozialen Übels fällt angesichts des eng umgrenzten Feldes an Symbolen, Eigenschaften und Stigmata leicht, auch wenn die Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie sozialer Verwerfung im Einzelnen nicht eindeutig zu sein braucht. Mike: »Un dann hatt’ ich das Problem (jehabt) mit der PoliZEI. … Der BundesGRENZschutz. … Äh … man darf ni’ verjess’n, … ich falle nu auf, /I.: Mhm/ … […] … Un die konnten mich nich EINordnen. Weil in der Regel äh … jeder, der am BAHNhof verkehrt, … is … zu irgend’ner Gruppe äh HINzuordnen. … Und bei mir wussten se nich, … bin ick n SCHEINasylant, bin ich n äh DROgendealer, Drogenkonsument. … Oder … bin ich n HEHler. Das WUSSten se nich. Un die ham mich teilweise vier, fünf Mal am Tag kontrolliert.« Von der Öffentlichkeit werden die durch Armut verursachte Beschränkung des Zugangs zur Gesellschaft, die durch Arbeitslosigkeit hervorgerufene Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, der im Zuge von Obdachlosigkeit eintretende Verlust eines verlässlichen Lebenszentrums, die mit dem exzessiven Drogenkonsum einhergehende Verelendung nicht zuerst als Ausdruck der schwierigen Lebenssituation gedeutet. Vielmehr wird den Bahnhofsgängern die prekäre Lebenssituation zum Vorwurf gemacht: Die Armut erlangt damit selbst die Funktion eines Stigmas. Kurzschlüssig wird die Komplexität systemstruktureller Zusammenhänge auf individualisierende Erklärungen reduziert. Die Armutslage als offensichtlicher Indikator für niedrigen Sozialstatus und geringes Sozialprestige ist in vermeintlich einfacher Weise auf unzureichendes Leistungsvermögen und Wohlverhalten rückzubeziehen. Misserfolg muss in der individualisierten Gesellschaft, in der die einzelne Person zum Navigationszentrum von Lebensführung und Lebensgeschichte erhoben wurde, wie ein Selbstversagen wirken (Beck 1997). Armut und Randständigkeit scheinen nun im Sinne des Stigmas des »undeserving poor« durch sich selbst gerechtfertigt zu sein (Katz 1990). In spektakulären Bildern inszeniert die Gesellschaft ihre eigene Außenwelt. Die soziale Abscheu steht in einem eigenartigen Kontrast zur
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sozialromantisch verklärten Vorstellung vom Lebensort Straße. Diese starken Reize des Verbotenen und Verborgenen erhalten ihre Anziehungskraft im gleichen Zuge, wie der sittenlose Lebenswandel gegenüber der Normalität eines gesellschaftlich konformen Alltagsvollzuges grell in Szene gesetzt ist. Insbesondere weckt der »Bahnhof Zoo« das Interesse als eine – wenn auch zweifelhafte und überzogene – »Welt der Freiheit«, in der, weil moralische Werte und Verhaltensmaxime aufgekündigt sind, jederzeit alles möglich zu sein scheint. Gleichsam bleibt das Straßenghetto, dieser imaginäre Raum der Massenmedien, der auf den Kitzel des Verborgenen, des Vulgären und Verbotenen zielt, sorgsam getrennt von den hellen Sphären moralisch korrekter Empörung, Sorge, Abscheu. Oder wie Neckel sagt: »Schon immer boten sich Bordstein und Bordell dem Bürgertum an, die Angst und die Lust am eigenen Absturz zu mystifizieren« (2000: 166). Denn von dem wollüstigen Schauer geht nur scheinbar eine Gefahr aus, die befürchten lässt, mit in den Abgrund dieser Schattenwelt gezogen zu werden. Niemand droht den fragwürdigen Verführungen zu erliegen. Angesichts der massiven Entwertung und Verwerfung der Bahnhofswelt steht die moralische Überlegenheit des gesellschaftlich akzeptierten Lebenswandels zu keiner Zeit außer Frage. Die symbolische Überhöhung und Überbietung der Entbehrung, des Elends und der Devianz, die in der kulturellen Exklusion zum Ausdruck kommen, müssen als »phantasmatische Verwerfung« einer Lebensform gewertet werden, die viel mehr über die Phantasien, Verschiebungen, Projektionen, Verleugnungen und Ängste der etablierten Gesellschaft aussagt, als dass damit etwas über die Wirklichkeit des Bahnhofslebens zum Ausdruck kommt (Cohen 1992: 439; Bergschmidt 2004). Für die Bahnhofsgänger jedoch ist es kaum möglich, sich der Wirkmächtigkeit der sozialen Repräsentation »Bahnhof Zoo« zu entziehen. Sie machen immer wieder die Erfahrung, dass sie von den vorbeilaufenden Passanten, vom Personal der Imbissgeschäfte genauso wie von den Wachschützern und Bahnhofspolizisten beschimpft, beleidigt und verspottet werden. Die verbalen Entgleisungen sind noch mit stolzem Wortwitz zu parieren, aber dem stummen Blick, in dem teils Mitleid, teils Verachtung zum Ausdruck kommen, ist weitaus schwerer etwas Ebenbürtiges entgegensetzen. Der automatisierte Wahrnehmungsreflex, in dem die Bahnhofsszene mit der populären Repräsentation von Fixern, Junkies und Strichern verschmilzt, desavouiert alle Mitsprachemöglichkeiten in diskursiven Aushandlungsprozessen, die den eigenen Status, die Bedeutung für die Gesellschaft, die personale Identität betreffen. Im Gespräch mit Pas-
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santen und Journalisten bleibt an ihnen der entwürdigende Gruppenstatus des »typischen« Bahnhofsgängers haften, selbst wenn es gelingt, den Gesprächspartner von der Harmlosigkeit, Anerkennungswürdigkeit und Einmaligkeit der eigenen Person zu überzeugen. Die jungen Menschen können den vorherrschenden Bewertungskategorien nicht entgehen, durch die sie fest an die untersten Schichten des gesellschaftlichen Hierarchiesystems gebunden sind. Damit bleibt die Zugehörigkeit, die schon in der ökonomischen Sphäre weitgehend aufgehoben ist, auch auf symbolischer Ebene entzogen.
2. Ambivalenzen und Verleugnungen Zum »Bahnhof Zoo« gibt es kein eindeutiges Bekenntnis, zu sehr ist das Schicksal der jungen Menschen mit den wirkmächtigen Bildern ihrer sozialen Verwerfung verflochten. Zur Rettung von Ehre und Ansehen bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, als sich, so gut es irgend geht, von der sozialen Identität, die ihnen als Bahnhofsgänger von der Gesellschaft zugeschrieben wird, zu distanzieren. Tobias verdammt seine Rückkehr zur Bahnhofsszene nicht allein aus dem Grund, weil er der Ohnmächtigkeit einsichtig wird, seinem Leben eine selbstbestimmte Richtung zu geben, die dem Sog der Exklusion endgültig entkommt. Vielmehr ist er trotz aller viel versprechenden Ambitionen, die er hegte, wieder auf den marginalen Ort zurückgeworfen, der in seinem Leben eigentlich keine Bedeutung mehr spielen sollte, was aber auf der Arbeitsstelle, gegenüber seinen Freunden und selbst gegenüber seine Freundin verschwiegen wurde. Den jungen Menschen bleibt selbst gegenüber befreundeten Personen, die nicht zur Bahnhofsszene gehören, gar nichts anderes übrig, als durch eine geschickte Informationspolitik über die eigene Zugehörigkeit hinwegzutäuschen. Mike berichtet von diesem grundsätzlichen Dilemma: »… ich bin einjeladen uff’n JeBURTStag, … bei ner Person, die nichts mit der Szene zu tun hat, … kann ich … wirklich TRENnen. … Also da kann ick// also dann erzähl ich nüscht über’n Bahnhof oder äh äh … dann// dann// … dann is es zwar irgendwo ne Lüge, bloß det is für mich, weil ick hab da überhaupt nüscht zu rechtfertigen, weil die sagen dann ›Ääh‹ und dann ›Nimmste denn DROgen?‹ und so, … äh … dann diskutier ick und dann ›Musste denn, biste so abjeFALL’N?‹ und so wat, weeßte. Ick sag: ›Warum abjefall’n?‹ … weeßte. Weil äh äh abjesehn
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m// mit Drogen zum Beispiel, es gibt Leute, die äh in der High Society, weeßte, un die nehmen teilweise mehr Drogen als eener, der da UNten is, weeßte.«
Mike sieht sich selbst unter seinen besseren Bekannten gar nicht in der Lage, sich gegenüber dem Klischee und dem Stigma zu rechtfertigen und die beschädigende Sozialidentität von sich abzuweisen. Dies muss aus seiner Sicht umso unverständlicher bleiben, wie auch beim Stigmatisierten trotz aller sozial zugeschriebenen Makel die Tendenz besteht, Alltag und Person als mehr oder weniger normal und durchschnittlich anzusehen. »Das stigmatisierte Individuum tendiert zu denselben Auffassungen von Identität wie wir; dies ist ein Schlüsselfaktum. Seine innersten Gefühle über sein eigenes Wesen mögen besagen, daß es eine ›normale Person‹ ist, ein menschliches Wesen wie jeder andere, daher eine Person, die eine faire Chance verdient« (Goffman 1975: 15 f.). Goffman (1975) spricht von professioneller Darstellung, zu der das Individuum in der Lage sein muss, um in der Außendarstellung zwischen den konträren Rollenanforderungen der sozialen Identität und der Ich-Identität vermitteln zu können. Bei den Bahnhofsgängern mündet der Versuch, die Oberhand über die Kontrolle von persönlichen Informationen zu erlangen, in einem Schisma des Identitätsentwurfs. Im Kontakt mit der etablierten Außenwelt bleibt wenig anderes übrig, um Abwertung und Missachtung zu entgehen, als die Bekannten und Freunde der Bahnhofsszene zu verleugnen. Gerade die Öffentlichkeit des Bahnhofs birgt die ständige Gefahr, anderen Menschen zu begegnen, gegenüber denen wohlweislich die Zugehörigkeit zur Bahnhofsszene verschweigen wird. Mike erzählt von einer Situation, in der er zufällig seinen damaligen Chef am Bahnhof getroffen hat: »… ick hatte da zwei Chefs und eenen davon, der war bei Pizza Hut [Imbiss im Bistrobereich] und ich … mit’m Bier … war … ((auflachend:)) Gott sei Dank alleene … und er die ((unv. Wort)) meint er: ›Wat machst DU denn hier?‹ Ick sag: ›Na, ick hab mir jrade hier n Bier jeholt, ick will jetz hoch zur S-Bahn.‹ ›Ach so. Ick dachte, du verkehrst hier‹, ne? Nu stell ma vor, jetz wär hier irgend’n Kumpel oder wat oder n alter BERber, der mich kennt, ›Mike, komm, (letzt) ham we noch een jesoffen.‹« Ein Riss läuft durch die Bahnhofsszene nicht allein, wenn es um die Selbstdarstellung in wohlanerkannten Gesellschaftssphären geht, sondern auch in gruppeninternen Aushandlungen von Identität und Ansehen. Wenn die jungen Menschen am Bahnhof zusammenstehen, dann tauschen sie nicht nur den neuesten Klatsch und Tratsch untereinander aus, der in
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den verschiedenen Subsystemen des Netzwerkes zirkuliert. Es kommt besonders jenen Geheimnissen und Intimitäten ein besonderer Informationswert zu, die über die vermeintlich verborgenen Seiten der einzelnen Personen, ihre verdeckten Rückansichten, die »wirklichen« Hintergründe Auskunft und Aufklärung geben. Ein williger Topos im Rauschen der Erzählungen, die sich zwar immer wieder den Anschein von Neuigkeiten und Exklusivem geben, aber eigentlich thematisch auf der Stelle treten, findet sich gerade in der moralischen Gedankenlosigkeit und Verwerflichkeit anderer Bahnhofsgänger. Hier vermischt sich im Gerede der Bahnhofsszene das Stigma mit den »eigenen« Anschauungen. In dem Ranking des gruppeninternen Sozialstatus gilt es als schlechtes Zeugnis, »zu häufig« am Bahnhof gesehen zu werden; wie wenn etwa Tobias seinem Freund berichtet, dass er Michaela am Tag zuvor getroffen habe, die ihm doch glatt erzählen wollte, dass sie eigentlich gar nicht mehr am Bahnhof sei, nur noch gelegentlich vorbeischaue. Beide bezweifeln dies und machen sich in abwertenden Bemerkungen darüber lustig, dass dies gerade Michaela von sich behaupten würde, die man doch, seitdem sie das erste Mal hier aufgetaucht sei, ständig am Bahnhof sehe, zudem aber, was noch schwerer wiege, mit Leuten wie Karsten und seinen Freunden zu tun habe, die sich für nichts anderes mehr außer ihre Drogen interessieren. Die moralische Unbescholtenheit der eigenen Person kann sich, da die prinzipielle Zugehörigkeit unbestreitbar ist, allein in diesen für den Außenstehenden unbedeutenden, aber hier am Bahnhof entscheidenden Differenzierungen und Distinktionen ausweisen, durch die sich von diesem marginalen Ort öffentlicher Verwerfung zumindest verbal abrücken lässt. Es entspinnt sich ein eigenartiges Ritual in den permanenten Versuchen, sich gegenüber dem Szenetreffpunkt zu distanzieren, was umso merkwürdiger wirkt, weil alle, die in diesen Wettstreit eintreten, sich ihrer moralischen Satisfaktionsfähigkeit an dem Ort ihres Stigmas, dem Bahnhof, versichern. So distanziert sich auch Tobias in drastischen Worten von der Bahnhofsszene, wenn er mir sagt, dass er mit den »Strichern, Pennern und Verlierern« eigentlich nichts mehr zu tun haben will. Die Linienbegradigung, um die eigene Identität aus der Schusslinie zu halten, erfolgt hier am einfachsten auf dem Wege, indem man mit dem Finger auf die anderen, die »guten« Bekannten und Freunde zeigt, dass sie es doch sind, bei denen es sich um die »wahren« Bahnhofsgänger handelt. Diese rhetorische Darstellungsfigur der moralischen Unbescholtenheit komplettiert sich darin, dass nicht nur die anderen in ihrer Verwicklung mit der
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Bahnhofsszene entblößt werden; sondern die abwertenden Eigenschaftsund Verhaltenszuschreibungen eignen sich bestens als Folie für die eigene positive Selbstinszenierung. Gerne wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hingewiesen, dass man selbst nicht mehr so häufig hier verkehre. In dieser Weise setzt sich etwa auch die Unterhaltung zwischen Tobias und seinem Freund über Michaelas moralisch zweifelhaftes Verhalten fort. Nachdem alle despektierlichen Details darüber ausgetauscht sind, mit wem sich Michaela so alles einlässt, behauptet schließlich Tobias’ Freund, dass er jetzt nicht mehr so häufig wie früher zum Bahnhof gehe. Tobias kann sich dem nur anschließen. Erläuternd fügt sein Freund hinzu, es sei vor allem seine Freundin gewesen, die ihn »runtergezogen habe«, da sie ständig »auf Droge« gewesen sei. Denn seit ihrer Trennung gehe er nur noch selten zum Bahnhof. So wird unter den jungen Menschen wie ein Mantra stetig die Losung ausgegeben: »Ja, tagsüber mach ich jetzt was anderes, also … ich bin// ich bin// also ich bin nich mehr so oft am Zoo. /((I. lacht))/ WIRKLICH.« Das Gefüge der Bekanntschaften und Freundschaften ist aber auch aus dem Grund einem steten Zersetzungs- und Auflösungsdruck ausgesetzt, weil die eigenen Bekannten und Freunde ein fortwährendes Zeugnis von der eigenen Armut und Misere geben. Die halbunfreiwillige Rückkehr zur Bahnhofsszene verdammt Tobias etwa auch aus dem Grund mit einer solchen Vehemenz, weil ihm darüber einsichtig werden muss, dass ihm trotz aller Abgrenzungsbemühungen letztlich immer nur die »Penner und Verlierer« bleiben, denen er sich letztendlich zugehörig fühlen kann. Indem er sich selbst dem Stigma bemächtigt, entgeht er der Wirkmächtigkeit des öffentlichen Diskurses nicht. Der scheinbare Statusgewinn zerrinnt in seinen Händen, weil er durch die Degradierung seiner Bekannten und Freunde selbst an der Fortschreibung und Durchsetzung des Stigmas mitwirkt. Denn die abweisenden Werturteile treffen letztlich auch wieder ihn als Angehörigen der Bahnhofsszene. Die kulturelle Exklusion untergräbt noch die zerbrechlichste Ressource, den Zusammenhalt und die Solidarität unter den Bahnhofsgängern, die eigentlich darauf zielt, die soziale Isolation zurückzudrängen. Die entsolidarisierenden Formen der gegenseitigen Entwertung und Denunziation befestigen die Machtlosigkeit als Selbstentmachtung; ebenso wird versucht, an der symbolischen Macht, die den Ausschluss mit sich bringt, teilzuhaben. Der sozialen Isolation ist damit auch in der Bahnhofsclique nicht zu entkommen, weil niemand dem anderen vertraut, da jeder damit rechnen
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muss, dass keiner, wenn es darauf ankommt, in verbindlicher und vertraulicher Weise an seiner Seite steht. Angesichts der Gebrochenheit der Freundschaften wird vielmehr jede sich bietende Möglichkeit genutzt, um sich von dem Ort des sozialen Ausschlusses und der symbolischen Entwertung zurückzuziehen und dabei den eigenen Bekannten und Freunden den Rücken zuzukehren. Der Riss in der Bahnhofsclique verläuft deshalb so tief, weil es die jungen Menschen selbst sind, die sich unter dem Druck des sozialen Ausschlusses am unbarmherzigen Spiel der Exklusion beteiligen. Am Bahnhof schließt sich der Kreis, der mit der Ausgrenzung der jungen Menschen aus den Sphären des gesellschaftlichen Lebens begonnen hat. Im Zuge der kulturellen Exklusion bleiben ihnen als Stricher, Drogenabhängige und Obdachlose elementare Rechtsansprüche genauso entzogen wie die notwendige Wertschätzung. Die prekären und brüchigen Lebensund Individualitätsformen erfahren im symbolischen Diskurs der Öffentlichkeit ihre doppelte Entwertung: Zu den materiellen Entbehrungen und der sozialen Isolation, die nun in der Person begründet erscheinen, gesellt sich der schlechte Ruf. Die moralische Zurichtung und Vereindeutigung ihrer Situation ist daher gar nicht anders als eine personalisierende Rechtfertigung von Armut, Elend und Isolation zu verstehen. In dem Zirkel der Exklusion einmal eingeschlossen, tritt am Schicksal des Einzelnen der gesellschaftliche Charakter allgemeiner Missstände nicht mehr als die eigentliche Ursache für die Misere hervor. Was den Beobachter dieser sozialen Verwerfungsprozesse beschleicht, ist das Erstaunen, mit welcher Macht und Vehemenz sich Missachtung, Entrechtung und Entwertung der sozial Benachteiligten vollziehen. Die Stigmatisierung und die Diskriminierung ihrer Lebens- und Individualitätsform streiten ihnen jede moralische Rechtfertigungs- und Zurechnungsfähigkeit ab. Nicht wenige der Repräsentationen des sozialen Randes wirken menschenverachtend und verletzten die Gezeichneten zutiefst in ihrem Selbstwert und ihrer Selbstachtung. Die Frage entsteht, warum die jungen Menschen, die schon genug an der prekären Situation zu leiden haben, noch eigens als das eindeutig Schlechte und Böse identifiziert werden müssen. Es ist heutzutage auszuschließen, dass sich die soziale Ordnung noch der eigenen Legitimität in dieser moralisch zweifelhaften Weise versichern muss. Vielmehr scheint sich in einem bizarren Interessengeflecht von Medien, Politik und Öffentlichkeit die »berechtigte« Empörung über Devianz, Delinquenz und Unmoral mit dem Gefallen am Spektakel zu vermischen,
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das die verborgenen Schattenwelten am sozialen Rand immer schon ausgelöst haben, und den sensationsförmigen Klischees, die ganz den erwartungsfrohen Rezeptionsgewohnheiten entsprechen. Diese Skizzen moralischer Verwerflichkeit taugen vielmehr als Resonanzraum für die realen Abstiegsängste der unteren Klassen. An den klar konturierten Bildern des Verbotenen, Verdorbenen und Verworfenen lässt es sich der Ordnungsmäßigkeit des eigenen Handelns umso eindeutiger versichern, selbst wenn die eigene Zugehörigkeit brüchig und fragwürdig genug geworden ist. Aber auch im Blick auf die Mittelschicht zeigt sich in der Überlagerung von moralischen Appellen und konkreter Hilfestellung ein Paternalismus, der wie selbstverständlich unterstellt, dass es für die jungen Menschen keine anderen Ziele geben kann, als zurück in die wohlbegründeten Bahnen etablierter Lebensformen zu treten (Liebel 2000). Aus beiden Perspektiven wird aber nicht ersichtlich, und hier funktioniert die kulturelle Exklusion noch in einer zweiten Weise als Rechtfertigungssystem, dass die eingespielten Integrationsformen mit der Massenarbeitslosigkeit an ihr Ende gekommen sind und eine zunehmend größere Zahl an Menschen als abgehängtes Prekariat und Angehörige einer Unterschicht dauerhaft auf der Strecke bleiben. Schließlich wird in der identitätsvernichtenden Perspektive der kulturellen Exklusion wenig deutlich, dass am »Bahnhof Zoo« subkulturelle Formen der Selbstvergewisserung entstehen, in denen sich soziale Anerkennungsräume öffnen, die zwar die Exklusion nicht aufheben, das Leben am Rand der Gesellschaft aber erträglich machen. Denn hier wird trotz aller Gebrochenheiten und Leidensformen die reziproke Erfahrung sozialer Wertschätzung möglich, selbst wenn es sich »nur« um Mitglieder einer marginalisierten Gruppe handelt. Und doch können sich diese »Parallelwelten sozialer Anerkennung«, die sich angesichts der Integrationsschwierigkeiten außerhalb der üblichen Institutionen und Sozialräume ansiedeln, der allgemeinen Ausschließungstendenz kaum entziehen. Denn vom marginalen Ort werden gerade jene Menschen angezogen, die anderswo ihre Randständigkeit längst akzeptiert haben, während dieser kleine Kosmos, der am »Bahnhof Zoo« als eigene Sozialwelt entsteht, selbst noch ein zweites Mal aufs Äußerste von kultureller Ausgrenzung gezeichnet ist.
Das Feld der Exklusion
Am Leitfaden des Begriffs Exklusion wurde die Engführung der Opportunitätsstruktur in Hinblick auf die sozialen Integrationsbereiche verfolgt, um das Erfahrungs- und Bedeutungsfeld des gelebten Alltags in seiner lebensweltlichen Tiefenstruktur auszuleuchten. Die Individualintegration – als der ersten Ebene des Subjekt-Integrations-Modells – scheitert auf zentralen Achsen. Angesichts von Armut und Ausgrenzung ist es den jungen Menschen kaum möglich, für die notwendigsten Dinge des Alltags zu sorgen, an allgemeinen Lebenschancen und Zukunftsperspektiven teilzuhaben, in attraktiven Sozialräumen am sozialen Leben der Gesellschaft teilzunehmen, soziale Einbindung zu sichern und soziales Ansehen zu erlangen. Ohne die sozialen Möglichkeits- und Anforderungsstrukturen für sich nutzen zu können, bleiben den jungen Menschen nur Straße und Bahnhof. Versucht man nun den phänographischen Standpunkt der Bahnhofsgänger einzunehmen, um von der Alltagserfahrung aus die tagtägliche Situation, in der sich der soziale Ausschluss manifestiert, einmal im Gesamtblick in Augenschein zu nehmen, dann wird sofort deutlich, dass es nicht einzelne Probleme sind, die als kontingenter Erfahrungszusammenhang allein für sich stehen, sondern dass diese sich zum kohärenten, weitgespannten und umfassenden Feld der Exklusion verbinden. Der Alltag wird rasch als Ganzes im festen Griff der restriktiven Opportunitätsstruktur gehalten, ohne dass auf dem Feld der täglichen Abwehrkämpfe, wo das letzte Residuum individueller Lebensansprüche und Lebensqualität verteidigt wird, noch ein Ausweg aus diesem überdeterminierten Exklusionsschicksal hervortritt. Aufgrund dieser wechselseitigen Dynamisierung der sozialen Ausgrenzung steht am Ende der »Spirale der Prekarität« (Paugam 1995) mit dem Zusammenbruch der Individualintegration die kumulierte Deprivation (Dietz 1997). Das Phänomen »Bahnhof Zoo« ist nicht, wie die Straßenkinderterminologie irreführend vorschlägt, allein aus Familienproblemen heraus zu
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verstehen. Es handelt sich vielmehr um ein Problem der Armut und des sozialen Ausschlusses. Sicherlich sind die jungen Menschen damit auch schon vom Elternhaus her vertraut. Denn schon vor der Hinwendung zum Szenetreffpunkt gehörten sie nicht den Integrations- und Mittelstandsmilieus an, wo es selbstverständlich ist, die Schule zu absolvieren, eine Arbeit zu haben, in einen festen Nachbarschafts- und Freundeskreis integriert zu sein. Jetzt mit der Adoleszenz zeigt sich aber, dass sie aufgrund krummer Lebensläufe und Schwierigkeiten bei der Individualintegration in immer weitere Exkusionsformen hineingezogen werden. Der Szenetreffpunkt »Bahnhof Zoo« wird damit zu einer der vielen Zonen des sozialen Ausschlusses in der Gesellschaft, wo eine Verdichtung sozialer Deprivation und Randständigkeit in Kauf genommen wird. In realistischer Einschätzung muss der Blick auf das eigene Leben offenbaren, dass die segregierende Arbeitslosigkeit nur wenig handhabbare Chancen bietet, der verhärteten Randständigkeit zu entgehen. Jeder nachhaltige Änderungswunsch verweist wegen der verfehlten Bildungsvoraussetzungen, der gescheiterten Arbeitsmarktintegration und des wenig stringenten Lebenslaufs sofort wieder auf die strukturelle Ausweglosigkeit. Mehr noch muss es angesichts der vielen Arbeitssuchenden geradezu als Realitätsferne und Anmaßung wirken, wenn sich jemand auf dem Arbeitsamt doch noch eine Wartemarke aus dem Automaten zieht und in der heimlichen Hoffnung auf eine ordentliche Anstellung seinen Aufruf abwartet. Entsprechend dieser strukturellen Engführung des situationalen Möglichkeitsraumes werden alle emporkommenden Versuche, die Misere in substantieller Weise zu überwinden, rasch wieder aufgegeben. Und sogar in den Berufsvorbereitungsmaßnahmen, die durch das Arbeitsamt gefördert werden, wird vor allem deutlich, dass man auch hier zur Gruppe der Verlierer und Gescheiterten gehört. In der regelmäßig wiederkehrenden »Pleite«, die sich angesichts der schmalen Bezugssätze an Sozialleistungen gleich einer Naturnotwendigkeit einstellt, bemächtigt sich die ausschließende Armut dem Alltag. Jeden Monat, wenn das knappe Geld wieder restlos ausgegeben ist, kommt es zum sukzessiven Zusammenbruch von Lebensführung und Lebenssituation. Dennoch probieren die jungen Menschen das »Diktat der Armut«, das alle Entscheidungsspielräume raubt, zurückzudrängen, indem sie eine rationierte Haushaltsführung preisgeben, die allein auf die Sicherstellung existentieller Notwendigkeiten gerichtet ist. Der Hunger wird wohl wissend in Kauf genommen, um sich einen letzten Rest an Selbstbestimmung und
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Freiheit zu bewahren und zumindest in flüchtiger Weise an den Versprechungen und Verführungen der Konsum- und Erlebnisgesellschaft teilzuhaben. Und dennoch bleibt in dem unüberbrückbaren Abstand zum allgemeinen Lebensstandard die Ausgeschlossenheit von der Gesellschaft jederzeit offenbar. Vor dem Hintergrund der vorherrschenden Arbeitslosigkeit und durchdringenden Armut verursacht die allgemeine Ressourcenknappheit ein ungehindertes Übergreifen auf weitere Integrationsbereiche, wie dies ganz allgemein in der (sozial-)räumlichen Exklusion hervortritt. In der Konkurrenz um die guten Plätze gelingt den Bahnhofsgängern ein Mithalten nicht. Durch die sozialräumliche Exklusion, die sich in der häuslichen, infrastrukturellen und einschließenden Dislokalisation zeigt, gehen alle Handlungsbezüge zunehmend verloren. Obwohl die meisten keineswegs auf der Straße schlafen müssen, bleiben sie von Wohnungs- und Obdachlosigkeit ständig bedroht. Den jungen Menschen fehlt nicht nur ein Zuhause, wo sie sich aufgehoben fühlen und verorten können. Ohne ein Lebenszentrum ist der Aufbau eines verbindlichen Lebenszusammenhangs, worüber der Zugang zu den verschiedensten Sozialräumen sichergestellt ist, kaum möglich. Alle Weltbezüge reduzieren sich auf die ressourcenarmen Marginalräume, die Straßen, Plätze und Bahnhöfe der großstädtischen Öffentlichkeit, wo zwar ein letztes Refugium sozialer Aufgehobenheit und Anerkennung vorzufinden ist, ohne aber den strukturellen Ausschluss zu überwinden. An der institutionellen Exklusion zeigt sich, dass schon zu Schulzeiten der Zugang zur Welt der Erwachsenen verpasst worden ist. Die jungen Menschen, die allesamt aus sozial schwachen und bildungsfernen Sozialmilieus kommen, mussten in der Tagtäglichkeit der Schulwirklichkeit eines selektiven und segregativen Bildungssystems erfahren, dass ihnen allein die Residualkategorie des Außenseiters und Versagers vorbehalten ist. Die eigene motivierte Übernahme von Aufgaben und Funktionen im arbeitsteiligen Gesamtsystem, um sich über Status und Prestige einen wertgeschätzten Platz in der Gesellschaft zu behaupten, wurde nicht erlernt. Die jungen Menschen sind vielmehr heillos überfordert, den Anforderungsstrukturen einer modernen Gesellschaft zu entsprechen, die sich durch eine rigorose Zunahme an Differenzierung, Komplexität und Institutionalisierung auszeichnet. Es ist die Anonymität der Funktionsbeziehungen, die Undurchsichtigkeit der Handlungsstrukturen, die symbolisch-sprachliche Strukturierung der Verweisungsbezüge, woran die jungen Menschen, ohne jemals an Institutionen herangeführt worden zu sein, scheitern. Sie haben nicht ge-
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lernt, wie sie ihre subjektiven Bedürfnisse und Interessen ins Verhältnis zu den funktionalen Aufgaben, Rechten und Pflichten der Institutionen zu setzen haben. Als Reaktion auf die strukturelle Überforderung, wie diese beim Termin auf dem Amt, der Bewerbung um einen Arbeitsplatz, dem Abschluss eines Mietvertrags zum Vorschein kommt, ziehen sie sich von der systemfunktionalen Welt der Erwachsenen zurück. In der lebensweltlichen Binnenstruktur sozialer Beziehungen und Kontakte müssen die jungen Menschen ihre soziale Exklusion erfahren. Die Tendenz zur Entdifferenzierung lässt die Einbindung in eine Peer-Group sozial integrierter Jugendlicher aufgrund von materiellen Disparitäten sowie mittelstandsorientierten Status- und Prestigehierarchien mit der Zeit dünner werden. Und auch am Bahnhof bleiben die Sozialbeziehungen gebrochen. Der Druck existentieller Notlagen legt als Überlebensstrategie eine Funktionalisierung von Freunden und Bekannten sowie eine Instrumentalisierung der Solidarität der Bahnhofsszene zumindest nahe. Die Stigmatisierung und Diskriminierung als symbolische Abwertung und moralisch legitimierter Ausschluss vollendet schließlich den Ausschlusszirkel in Form der kulturellen Exklusion. Die soziale Randständigkeit erhält ihre Rechtfertigung über die Zuweisung von abwertenden und entwürdigenden Stigmata. Den Bahnhofsgängern bleibt gar nichts anderes übrig, um dem Bild des obdachlosen, verelendeten, drogensüchtigen Junkies, das zum Synonym für den »Bahnhof Zoo« geworden ist, zu entgehen, als die eigene Zugehörigkeit zu den Bekannten und Freunden zu verleugnen. Und doch entgehen sie der symbolischen Verwerfung, der moralischen Minderwertigkeit, dem Vorwurf der Eigenverschuldetheit, der diskriminierenden Zuweisung reduzierter Lebenschancen nicht. In dieser Phänographie der Alltagswirklichkeit verdeutlicht sich das fatale Eingeschlossensein der Bahnhofsgänger in dem lebensweltlichen Bedeutungs- und Erfahrungsfeld ihrer persönlichen Misere. Mit den Zentralbegriffen der Theorie sozialer Ungleichheit nach Amartya Sen (2006; 1992: 39 ff.) sind die jungen Menschen den »capabilities«, insbesondere dem gesellschaftlichen Tauschmedium Geld beraubt, um als Mitglied der Gesellschaft noch den allgemeinen Ansprüchen nach ausreichendem »social functioning« entsprechen zu können. Die jungen Menschen finden sich angesichts der sich überlagernden Exklusionsprozesse unverrückbar an den gesellschaftlichen Rand gestellt; mehr noch, es handelt sich nicht nur um irgendeine soziale Position unter anderen, die in der weiten Lebenswelt eingenommen wird, sondern die ganze Person und Biographie sind an eine
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Lebensform gebunden, die sich vor allem durch das persönliche Scheitern an den Anforderungen der Individualintegration auszeichnet. »Hat jedoch der Ausschluss aus einem Folgen für den Einschluß in ein anderes Subsystem, dann mehren sich die Mißerfolge und verstärkt sich die Abweichung: Keine zertifizierte Ausbildung, keine reguläre Beschäftigung, keine gesunde Ernährung, kein ausreichendes Einkommen, keine dauerhaften Intimbeziehungen, keine elterliche Verantwortung, kein Interesse an den politischen Angelegenheiten, kein Zugang zur Rechtsberatung, keine ausreichende Krankenversicherung« (Bude 2008: 18; genauso Luhmann 1996: 228). Die Bahnhofsgänger sinken in die »Zone der Disaffiliation« herab beziehungsweise werden auf die »dumping sites« moderner Gesellschaften abgeschoben, wo sie als die Überflüssigen und Entbehrlichen eine eigene Klasse bilden (vgl. etwa Castel 1996: 775 f.; Bauman 2004; Wilson 1987; Kronauer 2002: 67 ff.). Der Lebensort Straße mag zwar, eine gute Sozialnetzwerkseinbindung – als dem zentralen Integrationsmodus – vorausgesetzt, für die Sicherstellung des Notwendigsten sorgen. Dennoch erlangt das Straßenleben wegen des sehr hohen Organisationsaufwands eine Eigenmächtigkeit, aus der es immer weniger aus eigener Kraft auszusteigen gelingt. Während die Ansprüche an eine Unterkunft im Sommer gering sein mögen, wird sich die Situation zum Winter hin verkehren. Die Sicherstellung der Unterkunft über den Bekanntenkreis bedeutet dann, immer wieder den richtigen Zeitpunkt am Bahnhof abpassen zu müssen, in der Hoffnung, jemanden zu treffen, bei dem man übernachten kann. Umso länger sich die Episode auf der Straße ausdehnt, desto mehr werden Gesundheit und körperliche Konstitution durch die schlechten Lebensbedingungen in Mitleidenschaft gezogen: durch ungesunde Ernährung, ungenügende hygienische Bedingungen, regelmäßigen Schlafentzug und nächtliche Unterkühlung. An der Kleidungsgarnitur zeichnet sich nach einigen Wochen ständigen Tragens das Abgleiten in Obdachlosigkeit und Verelendung in zunehmend drastischer Weise ab. Kleine Vorkommnisse können nun eine dramatische Bedeutung erlangen: im Regen durchnässt werden, an einer Erkältung erkranken, den Schlafsack verlieren oder die Trennung vom versorgenden Freund. Damit bleibt auch immer weniger Zeit, sich neben den sachlichen Notwendigkeiten der rudimentären Existenzsicherung um Alternativen zu kümmern, sodass sich der schon an sich knappe Handlungsspielraum immer weiter verengt. Auf der Straße kann all dies bedeuten, dass sich die einzelnen Entbehrungen bald zur strukturellen Krise aufgeschaukelt haben, in der
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Leib und Seele zu Schaden kommen. Unterversorgung, Engpässe und Entbehrungen sind angesichts der Ressourcenarmut des marginalen Raumes selbst durch ein hohes Maß an Kreativität und Organisationstalent nicht zu kompensieren. Paula: »… so was kommt dann auch erst im Laufe der Zeit, wenn’s ähm// … wenn das einfach auch länger andauert diese … Obdachlosigkeit, und wenn man sich dann wirklich langsam … ähm … selber n Kopf halt um Essen und Geld machen muss. Dadurch dass ich das alles nicht hatte, … hab ich mir auch um … weitere … Zukunftspläne, um … Dach überm Kopf, um Geld, um Ausbildung oder so in dem Moment noch gar nicht so’n Kopf gemacht.«
Exklusion und Sinn
Vorbemerkungen
Im Teil A: »Lebenswelt und Exklusion« wurde gezeigt, wie sich der lebensweltliche Möglichkeitsraum unter dem strukturellen Gefüge der Exklusion verengt, wie die jungen Menschen auf ihre randständige Position verwiesen werden und wie die Chancen verbaut sind, aus den Zonen des Ausschlusses wieder herauszutreten. Während damit die erste Ebene – Integration – des Subjekt-Integrations-Modells behandelt wurde, werden in diesem Teil unter dem Titel Sinn die zweite und die dritte Ebene zum Thema gemacht: Orientierung sowie Identität/Selbstwert. Damit soll der Fokus auf die psychischen Erfahrungsformen gerichtet werden. Unter dem Druck der Exklusion kommt es zu einer massiven Störung und Beeinträchtigung des persönlichen Welt- und Selbstverhältnisses. Am Ende steht hier, mit Blick auf Teil C: »Handlungen«, die strukturelle Überforderung der individuellen Handlungs- und Bewältigungskapazitäten, sodass die Integration in eine zunehmend komplexere Gesellschaft misslingt. Auf dem Weg ins soziale Abseits kommt es daher zur Kurzschlussreaktion zwischen den restriktiven Exklusionsbedingungen, die aus der Handlungsperspektive als unüberwindliche Barrieren und Behinderungen erscheinen, und den psychischen Reaktionsformen, die schließlich in einer ziellosen Flucht aus den zerbrochenen, rudimentären Alltagsstrukturen münden, um am sozialen Rand dem ganzen Problemdruck zu entgehen. Bei der Beschreibung der Lebenswelt wurde die Welt- und Selbstsicht des Subjekts immer schon mitthematisiert, ohne aber den subjektiven Erfahrungsstandpunkt ausdrücklich zum Zielpunkt der Analyse zu erheben. Der vorgreifende Einbezug war notwendig, weil allein dadurch die lebensweltliche Bedeutungsstruktur in der Weise, wie sie als tagtägliche Erfahrungswelt für die Individuen Wirklichkeit erlangt, klar und deutlich herausgehoben werden konnte. Durch eine Umakzentuierung des Untersuchungsfokus wird nun aber die Bedeutungsstruktur, wie diese im vorhe-
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rigen Kapitel erarbeitet wurde, zum Hintergrund der Analyse, wohingegen die psychischen Verarbeitungsprozesse in den Vordergrund rücken. Die Fokussierung der individuellen Erfahrungsweisen, um die Subjektivierungsformen von Armutsprozessen zu verstehen, ist aus zwei Gründen notwendig: Einerseits wird die ganze Dramatik und Tragödie, die sich aus der desintegrativen Armut entwickelt, in ihrer subjektiven Realität erst sichtbar, indem herausgearbeitet wird, was es für das Individuum persönlich bedeutet, am Rand der Gesellschaft zu stehen, nicht dazuzugehören und ausgeschlossen zu sein. Andererseits determiniert die eingeschränkte Möglichkeitsstruktur, wie diese in den Zonen des sozialen Ausschlusses vorgefunden wird, die subjektiven Reaktionen mitnichten nur in eine Richtung. Die innere Kündigung gegenüber der Gesellschaft und die Regression in einem Zustand der Demoralisierung müssen als Subjektantworten einer subjektiv funktionalen Realitätsverarbeitung verstanden werden. Weil den jungen Menschen die »normalen« und »anerkannten« Integrationspfade verschlossen bleiben, versuchen sie auf anderen Wegen ein Mindestmaß an Sinnanschlüssen und Anerkennung zu sichern. Die Auswirkungen der Exklusion, wie diese sich im Alltag manifestieren, hängen damit ganz offensichtlich auch von individuellen Interpretations- und Handlungsspielräumen ab. Es geht nun in einem ersten Schritt darum, genau diese dynamische Überlagerung von objektiven Situationsfaktoren und subjektiven Erfahrungs- und Sinnbildungsformen stärker zu beleuchten. Im zweiten Teil der Arbeit wird daher die Frage verfolgt, wie es zur Internalisierung und Generalisierung der Erfahrung von Exklusion und Armut in den subjektiven Sinnstrukturen kommt (vgl. auch Thomas 2007).
VORBEMERKUNGEN
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SOZIALE SITUATION (Institutionen und Sozialräume)
Handlung verändert
Sinn interpretiert
PSYCHISCHE SITUATION (Subjektive Wirklichkeit)
Handlungsgründe Klärung von Bedürfnissen und Interessen
Aufschichtung biographischer Erfahrung Orientierung Aufbau eines kognitiven Repräsentationsmodells
Identität Aufbau von IchStrukturen (Realitäts-/ Lustprinzip)
Abb. 2: Sinn-Dimension des Subjekt-Integrations-Modell
Die subjektiven Desintegrationsformen werden mit Blick auf das SubjektIntegrations-Modell bezüglich der Erfahrungsverarbeitung auf drei Ebenen untersucht: Anhand der Darstellung der kognitiv-affektiven Topologie, in der die Lebenswelt kognitiv repräsentiert wird, soll gezeigt werden, wie die äußere Situation als subjektive Wirklichkeit hervortritt. Angesichts der Gebrochenheit des individuellen Weltverhältnisses bleibt im Fall der jungen Bahnhofsgänger der Aufbau eines kognitiven Repräsentationsmodells vollkommen unzureichend, um die Bedeutungsstruktur subjektiv relevanter Wirklichkeitsbereiche angemessen abzubilden und damit ein erfolgreiches Eingreifen in praktische Weltzusammenhänge zu initiieren (1). Am Leitfaden des Begriffs der Identität verdeutlicht sich zudem, dass ebenso die Vergegenwärtigung des eigenen Selbstverhältnisses fragmentiert bleiben muss, weil der biographische Erfahrungshintergrund angesichts der Kontinuität des sozialen Ausschlusses und des persönlichen Scheiterns nur sehr ungenügend den Aufbau von integrierten Ich-Strukturen ermöglicht (2).
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Neben der narrativen Selbstvergegenwärtigung der eigenen Person wird schließlich auch die Ausbildung eines belastbaren Selbstwertgefühls in Mitleidenschaft gezogen. Über verschiedene Anerkennungsdimensionen hinweg erfahren die jungen Menschen zumeist nur ihre Ablehnung und Missachtung, sodass sie kaum in der Lage sind, sich angesichts der Reaktionen der Umwelt einen positiven Selbstwert zu geben (3).
Repräsentation der Welt
Wie übersetzt sich die Situation der Exklusion nun in die psychische Wirklichkeitserfahrung? Die jungen Menschen sind in der Bestimmung ihres Welt- und Selbstverhältnisses auf die alltägliche Situation ihres sozialen Ausschlusses verwiesen. In Richtung der weltlichen Objektseite ist die Situation durch die sozialstrukturelle Position und den sozialräumlichen Lebenssphären erschlossen, worin Exklusion und Armut zu konkreten Erfahrungstatbeständen des Alltags werden. Auch für Lewin geht die Analyse der psychischen Situation von der Bestimmung des lebensweltlichen Möglichkeitsraumes aus: »… entscheidend ist, welche ›Möglichkeiten‹ ihm in dieser Position offenstehen und was ihm ›nicht möglich‹ ist« (Lewin 1969: 36). Auf der Subjektseite dagegen ist die Situation als das subjektive Erfahrungsfeld des Bewusstseins bestimmt. Lewin definiert dies als »the person and the psychological environment as it exists for him« (Lewin 1943: 306). Das Erfahrungsfeld soll im Folgenden daher als die sinnlich gegenwärtige, auf die Rezeptivität des empfindsamen Leibes einwirkende Situation verstanden werden, die in ihrer Erlebnisnähe und Inhaltsfülle zur psychischen Realität des Bewusstseins wird (Merleau-Ponty 1966). Das subjektive Erfahrungsfeld muss an die lebensweltlichen Bedeutungen rückgebunden sein, um dem Individuum ausreichende Orientierung in seiner Sozialwelt – als der zweiten Grunddimension des Subjekt-IntegrationsModells – zu ermöglichen. Was Armut und Exklusion nun für das Individuum konkret bedeuten, wie sich dieses Weltverhältnis in den subjektiven Erfahrungs- und Bewusstseinsstrukturen internalisiert, wird nun über die Beschreibung des psychischen Feldes konkretisiert, das sich unter der restriktiven Opportunitätsstruktur alltäglichen Ausschlusses ausbildet. Das Individuum muss sich die lebensweltlichen Bedeutungs- und Wissensstrukturen, wie diese über Kultur und Sprache vermittelt sind, in seiner subjektiven Lebenstätigkeit in ganz praktischer Weise zu eigen machen, indem es in die Welt eingreift, sich Sozialräume erschließt, an sozialen
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Interaktionsformen beteiligt und darüber seine individuelle Lebensform reproduziert und entfaltet (vgl. etwa Whorf 1984; D’Andrade 1981; Berger & Luckmann 1969). Die Wahrnehmungsprozesse setzen deshalb den Aufbau eines mentalen Repräsentationsmodells der Sozialwelt voraus, an dem sich das Individuum bei der Bewältigung seiner Lebenspraxis orientieren kann. Craik (1948) bringt dies in The Nature of Explanation folgendermaßen zum Ausdruck: »If the organism carries a ›small-scale model‹ of external reality and of its own possible actions within its head, it is able to try out various alternatives, conclude which is the best of them, react to future situations before they arise, utilize the knowledge of past events in dealing with the present and the future, and in every way to react in a much fuller, safer, and more competent manner to the emergencies which face it« (S. 61). Wahrnehmung und Erfahrungsverarbeitung der externen Welt sind keine passiven, automatisierten Vorgänge, sondern die Ereignisse und Erlebnisse werden aktiv verarbeitet, indem diese in ein kognitives Repräsentationsmodell ihrer sozialen Wirklichkeit umgearbeitet werden (vgl. Neisser 1974; Fiske & Taylor 1991; Thomae 1996). »Kognition ist die Aktivität des Wissens: der Erwerb, die Organisation und der Gebrauch von Wissen« (Neisser 1979: 13). Das Wissen über die Welt wird in Form eines Netzwerks an Propositionen gespeichert, sodass in der Kognitionspsychologie auch von propositionalen Repräsentationen gesprochen wird (Anderson 1988: 112 ff.; ebenso Kintsch 1974). Informationsverarbeitung ist damit keine bloße Widerspieglung externer Umweltparameter, sondern Erfahrungen greifen stets über die gegebenen Informationen hinaus, indem diese über die Bildung von kognitiven Schemata, Kategorien, Skripts in komplexe Ordnungs- und Begriffscluster einbezogen werden (Bruner, Goodnow & Austin 1956; Medin & Rips 2005; Murphey 2002). Über Kognitionen bilden sich daher subjektive Repräsentationssysteme aus, die einerseits als konzeptuell-begriffliche Propositionen auf sprachlich-kulturelle Wissenssysteme bezogen sind, andererseits von den biographischen Erfahrungen abhängen. Jede Erlebnisreihe gewinnt ihren Sinn durch ihre Einordnung in die kognitiven Schemata, Kategorien und Skripts des persönlichen Wissens- und Erfahrungsschatz, der damit sowohl die Auslegung jeder neuen Erfahrung strukturiert, zugleich aber ständig umgearbeitet und angepasst wird. Zugleich ist die subjektive Repräsentation von Welt und Selbst über ihre begrifflich-sprachliche Struktur von der Tendenz immer schon objektivier- und verallgemeinerbar. Denn trotz aller Eigenheiten und
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Idiosynkrasien des Bewusstseins ist das Individuum in seiner Lebenspraxis existentiell darauf angewiesen, von seinen Mitmenschen verstanden zu werden, was erfordert, sich immer wieder von neuem auf den common sense kultureller Wissens- und Interpretationshorizonte hin auszulegen. In diesem zweiseitigen Prozess bilden sich schließlich die mentalen Repräsentationsmodelle der individuellen Situation als Resultat biographischer Erfahrungen heraus. Ein weit verbreiteter Forschungsansatz, durch den sich die subjektiven Repräsentationsmodelle der sozialen Umwelt erforschen lassen, zielt auf die Erstellung »kognitiver Landkarten« beziehungsweise »mental maps« (vgl. Kitchin 1994). Der Begriff mental map wurde erstmals von Tolman (1948) in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Durch die Rekonstruktion der kognitiven Karte soll die individuelle Repräsentation räumlicher Charakteristika der äußeren Umwelt nachgestellt werden. Dabei steht nicht so sehr die Frage nach der objektiven Richtigkeit der Abbildung im Vordergrund, sondern die Weltsicht soll vom Forscher in genau der Weise rekonstruiert werden, wie diese vom Standpunkt der jeweiligen Person als wirklich erscheint. Dabei ging es Tolman schon in seinen Tierexperimenten nicht allein um die räumliche Repräsentation. Erst recht orientieren sich Menschen in ihrer sozialen Umwelt nicht so sehr entlang räumlicher Strukturen, sondern anhand von Bedeutungsstrukturen, wie diese sich innerhalb des kulturellen Lebensprozesses als Gegenständlichkeit der Sozialwelt objektiviert haben. So ist auch in der topologischen Psychologie nach Lewin die Darstellung der Umwelt keineswegs auf räumliche Gegebenheiten beschränkt, sondern es geht ihm um eine umfassende Rekonstruktion des mentalen Repräsentationsmodells der in Frage stehenden Situation (Lewin 1943). In diesem Kapitel stellt sich demnach die Aufgabe, eine Topologie der mentalen Repräsentation der sozialen Lebenswelt vom Standpunkt der jungen Bahnhofsgänger zu erstellen. Zunächst wird dazu die Alltagstristesse als die vorherrschende Erfahrungsform beschrieben, in der die Exklusion zum Gegenstand des bewussten Erlebens wird (1). Die topologische Struktur des Erfahrungsfeldes ist vor allem dadurch bestimmt, dass diese an subjektiven Sinnsetzungen verarmt (2). Diese Entsubstantialisierung der Weltbezüge soll dabei auf drei Ebenen untersucht werden: Auf der kognitiven Landkarte sind die Bedeutungs- und Wissensstrukturen der Lebenswelt nur sehr ungenau repräsentiert (3). Zugleich kommt es zu einem gravierenden Bedeutsamkeitsverlust vieler Lebensbereiche, sodass die
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Gründe fehlen, sich mit diesen auch auf kognitiver Ebene auseinanderzusetzen (4). Der soziale Ausschluss und die Erfahrung des Scheiterns führen dann dazu, dass die Lebensbereiche vorwiegend mit negativen Affekten assoziiert werden, sodass eine mentale Aneignung der sozialen Welt unterbleibt (5). In der Vergegenwärtigung ihrer Gesamtsituation fühlen sich die jungen Menschen schließlich in eine Welt eingeschlossen, die ihnen außer Bekümmernis und Trübsal nicht mehr viel bedeutet (6).
1. Phänographie der Alltagstristesse In der Gleichförmigkeit und Tristesse des tagtäglichen Daseinsvollzugs, der abseits sozialer Integrationsformen seinen eigenen Zeitrhythmus ausbildet, wird die Exklusion zum subjektiven Gegenstand der Erfahrung (vgl. Leferink 1997). Sven beschreibt seinen Alltag in dieser Art: »Und ja, … wie sah n Tag aus? Hm, morgens bin ich// … bin ich los und hab mir Geld besorgt und so nachmittags so ab fünfzehn Uhr so … war das eigentlich immer so, dass ich dann am Zoo war und … st// weiß nich, hab … mich mit den Leuten dann unterhalten und hab mir meine andern Sachen besorgt, die ich brauchte. […] Und dann saß ich irgendwie so den ganzen Tag dort.« In dem Exklusionsfeld reduzierter Lebenskreise geht sein Engagiertsein in der sozialen Welt kaum über das Bahnhofsareal, die Treffpunkte und Wohnungen der Freier sowie die städtischen Möglichkeiten hinaus, Geld zu verdienen, sich mit Drogen zu versorgen, karitative Einrichtungen zu nutzen. Die straßennahen Strategien der Überlebenssicherung sind allein auf die Bereitstellung des unmittelbar Notwendigen gerichtet. Dieses weitgehende Abgetrenntsein von Sozialräumen, über welche sich die ausgreifenden Lebensoptionen der Gesellschaft erschließen, kann auch nicht durch den Neuigkeitswert und das Spektakel des Bahnhofslebens kompensiert werden. Eingeschlossen in das leere Getriebe und die bedrückende Gleichförmigkeit des Alltagslebens wächst sich die trostlose Langeweile und zur Verzweiflung treibende Einsamkeit zur umfassenden Alltagstristesse aus. Leere und Öde des Alltags manifestieren sich schon morgens beim Aufstehen. Beim Übergang von der Wirklichkeitssphäre des Schlafes und Traumes in die Gefilde der Alltagswelt, wie diese als natürliche Einstellung des wachen Bewusstseins hervortritt (Schütz & Luckmann 1979: 47), wird
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nur allzu deutlich, dass es jeden Grund mangelt, aufzustehen. Auf meine Frage: »Wann steht man da morgens auf, oder mittags, oder nachmittags«, antwortet mir Oliver: »Joa, irgendwann mal, wenn du wach wirst halt so.« Die Relevanzstruktur alltäglicher Besorgungen ist abhanden gekommen, anhand der die Frage entscheidbar wäre, zu welcher Uhrzeit der Tag zu beginnen wäre. Die Alltagsstruktur am sozialen Rand hält selbst keine wichtigen Erledigungen und Aufgaben bereit, die es wert wären, nach dem Aufstehen weiterverfolgt zu werden. Das sich reorganisierende Bewusstsein greift ohne jede gegenwarts- und zukunftsbezogenen Anknüpfungspunkte ins Leere. Vielmehr noch wird anhand der allgemeinen Inhalts- und Strukturlosigkeit die ganze Misere des eigenen Lebens umso einsichtiger. Paula bleibt an manchen Tagen gleich im Bett liegen, weil sie nicht weiß, aus welchem Grund sie aufstehen sollte. I.: »Und wie merkst Du das, dass Dir das fehlt?« --- Paula: »Aber das kann’s halt irgendwie auch nich sein so, … dass man … aufsteht, um schlafen zu gehen einfach. Das kann einfach jetzt irgendwie auch nich der Wert sein, dass man … lebt, um zu sterben.« Monotonie und Deprivation heißt, dass der Alltag in den immer gleichen Bahnen kreist, ohne dass eine konkret greifbare Aussicht besteht, den sozialen Ausschluss zu überwinden, um in Lebenssphären einbezogen zu sein, die Teilhabe und Sinn vermitteln. Für die Mehrzahl der jungen Menschen, wie dies schon von Jahoda, Lazersfeld & Zeisel (1975) detailliert beschrieben wurde, wird das Mehr an persönlicher Zeit, das sich durch die von außen erzwungene Abtrennung von gesellschaftlich gratifizierten und gewertschätzten Aufgabenfeldern eröffnet, keineswegs als Gewinn erfahren (vgl. auch Rogge, Kuhnert & Kastner 2007). So fordert Oliver vom Arbeitsamt, weil es ihm nicht aus eigener Initiative gelingt, vehement die Vermittlung einer Arbeitsstelle ein, um nicht wieder »rückfällig« zu werden. Die Entkopplung von individueller Lebensführung und sozialem Leben bewirkt ein Festgefahrensein auf die alltägliche Tristesse, eine Reduktion der thematischen Lebensbezüge, eine gewisse Einsilbigkeit. Das Alltagsleben entbehrt aber nicht nur einer prinzipiellen Gerichtetheit und Orientierung, sondern mit dem zunehmenden Eingekreistsein durch Armut und Misere drohen auch alle weiteren Lebensbezüge zu veröden. Bei dauerhafter Arbeitslosigkeit zeigt sich eine klare Tendenz, indem vorwiegend unstrukturierte Aktivitäten wie Nichtstun, Fernsehen, Spaziergehen et cetera zunehmen, während die Beteiligung an sozialen, kulturellen und politischen Aktivitäten zurückgeht. Die systematische Demoralisierung der jungen Menschen geht mit Passivität und
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Apathie einher, sodass die Initiative zur Überwindung der desolaten Situation nur sehr selten ergriffen wird. Die Alltagstristesse findet sich in der phänomenalen Erfahrung der Langeweile. Diese besteht für die sozial Ausgeschlossenen am »Bahnhof Zoo« gerade darin, dass diese sich nicht im Tagesverlauf über eine einzelne Episode erstreckt, die sich überbrücken ließe, bis man sich wieder anderen Bereichen, Aufgaben und Ereignissen zuwenden kann. An der Langeweile ist deshalb zu verzweifeln, weil in der Entwertung der Zeit einem die Abtrennung vom gesellschaftlichen Leben nur zu deutlich wird. Die jungen Menschen können mit Fortschreiten der Exklusion immer weniger in die Welt hineingreifen, beziehen sich vorwiegend auf die Angebote zum losen Zeitvertreib, die sich auf der Oberfläche des Alltags anbieten, weil ein Zugang zu strukturierten Sozialräumen nur schwer zu finden ist. Maria erzählt, dass sie den ganzen Vormittag damit verbracht habe, Fernsehen zu gucken. Eigentlich habe sie zum Sozialamt gehen wollen, doch sei es zu spät gewesen, als sie endlich losgehen wollte. Wichtige Termine seien nur noch selten zu erledigen, seitdem sie vor einigen Monaten die Fortbildungsmaßnahme abgebrochen habe. Gelegentlich werde sie vom Sozialamt verpflichtet, gemeinnützige Arbeit zu leisten, aber ein anständiger Job wurde ihr bisher nicht angeboten. Ohne Schulabschluss mache sie sich da auch keine große Hoffnung. So sitze sie tagsüber meistens zu Hause und wisse nicht, was sie tun solle, um sich die Zeit zu vertreiben. Meistens schaue sie Fernsehen, und besonders ihre Lieblingsserie, die vormittags läuft, habe sie noch nie verpasst. Wenn man sie über ihr Leben erzählen hört, dann ist sie mehr in das Leben der Fernsehstars und Charaktere der Serien involviert, als dass ihr Alltagsleben in eine eigene thematische Struktur einbezogen wäre. Und doch kann der Fernseher ihr das wirkliche Leben nicht ersetzen. Was als zeitfüllende Aktivität bleibe, sagt sie, sei vor allem der tägliche Spaziergang zum Bahnhof. So verläuft jeder Tag gleich zwischen Aufstehen, Frühstücken, Fernsehen gucken, zum Bahnhof gehen und was mit Freunden machen. Was solle sie auch sonst tun, fragt sie mich. Neben der Langeweile ist es die Einsamkeit, an welcher der soziale Ausschluss in der phänomenalen Erfahrungsform der Alltagstristesse gegeben ist. Der Mensch ist nicht nur über die fundamentale Bezogenheit auf die tätige Lebenswelt, sondern ebenso sehr als ein soziales Wesen zu charakterisieren, dessen Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Kontakten, emotionaler Nähe, Geborgenheit, Zugehörigkeit und Rückhalt ihn abhän-
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gig von Gegenwart und Anerkennung seiner Mitmenschen macht (vgl. etwa Maslow 1978; Pfaff 1989; Hollstein 2001: 21 ff.). Hüseyin beschreibt seine Einsamkeit als unausweichlich: »… hab ich Streit auch mit mein Bruder gehabt und … bei mein Eltern konnt ich sowieso nich wohnen. … Ja, un dann hab ich dann weiter DROgen genommen, also … ich hab mich echt (so) allein gefühlt auf der// … der Welt, kann man so sagen … also … hab ich kein richtigen Freund gehabt un … dann immer am Bahnhof verkehrt.« Exklusion und Randständigkeit treten in Form der sozialen Isolation sicherlich am deutlichsten hervor. Während sich die Ursachen von Arbeitslosigkeit, Armut und Dislokalisation immer auch external attribuieren lassen, weil die Vermittlungsformen des sozialen Ausschlusses unanschaulich bleiben, sodass diese als persönliches Pech oder unglückliche Schicksalsfügung interpretierbar sind, so ist beim Abgeschnittensein von jeder Form sozialer Gemeinschaft eine Deutung, die nicht auf internale, persönliche Ursachen rekurriert, weitaus schwerer durchzuhalten (Rotter 1954; 1966). Das Verlassensein von Freunden und Partnern drängt die Schlussfolgerung mit kaum widerlegbarer Evidenz auf, der Aufmerksamkeit, Zuneigung und Anerkennung anderer Menschen nicht würdig zu sein. In der Einsamkeit verstärkt sich schließlich die Abwechslungs- und Anregungsarmut ein weiteres Mal.
2. Dichotomie von Bahnhof und Alltag Die Beschränkungen in der objektiven Möglichkeitsstruktur des Alltags bilden sich im Bewusstsein als Alltagstristesse ab. Die topologische Struktur des Erfahrungsfeldes tendiert in Richtung einer regelrechten Entsubstantialisierung. Es findet sich eine notwendige Entsprechungsebene zwischen der Aufhebung der sachlich-sozialen Weltbezüge, die das eigene Exklusionsschicksal an den entwerteten Ort »Bahnhof Zoo« bindet, und den mentalen Repräsentationsformen der Sozialwelt. Denn die Situation, wie diese im Bewusstseinsfeld hervortritt, verliert durch das ständige Fraglichwerden von Weltbezügen und das wiederholte Wegbrechen des lebensweltlichen Gegenstandsbezugs an Inhalt, Substanz und Gehalt. Morgens nach dem Aufstehen muss der Blick auf das eigene Leben verdeutlichen, dass die topologische Repräsentation der erschlossenen Lebenssphären derartig umgrenzt ist, dass sich anhand der Frage, was man
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heute tun kann, um dem Tag eine gewisse Bedeutsamkeit zu verleihen, bloß eine bedrückende Ungewissheit und Unbestimmtheit vergegenwärtigt. Oliver antwortet mir auf die Frage nach dem typischen Tagesablauf: »Na ja, … det jibt nich viel, wenn du mal n Einzeljespräch [im Wohnprojekt] hattest, biste mal hinjejangen zum Labern halt und so und Sozialamt und so, aber ansonsten viel hat man nur rumjesessen und jesoffen oder so. Oder man is irgendwie durch die Jejend zum Schnorrn jejangen.« Während die objektive Möglichkeitsstruktur des Alltags mehr bieten würde als »Rumsitzen«, »Saufen«, »Schnorren«, so ist dies aber in der subjektiven Weltrepräsentation nicht enthalten. In der Innenansicht der Welt treten vor allem drei für die Bahnhofsszene spezifische Wirklichkeitsregionen hervor, die durch subjektive Sinnsetzungen erschlossen sind: Orte der Daseinsfürsorge, der Existenzsicherung und der jugendkulturellen Einbindung. Die topologische Struktur des Erfahrungsfeldes lässt sich wie folgt rekonstruieren. Zu den Wirklichkeitsregionen, die auf der kognitiven Landkarte der jungen Menschen repräsentiert sind, gehört zunächst einmal die nächtliche Unterkunft, neben anderen Orten elementarer Daseinsfürsorge. Besonders die Wohnung als Zentralbereich privat-autonomer Verfügung bildet einen lebenspraktischen Bedeutungszusammenhang, in dem sich nicht nur Alltagsgegenstände und Handlungsroutinen für die produktive Bewältigung des alltäglichen Lebens zusammenfinden: Küche, Bad, Bett, Fernseher, Nahrungsmittel et cetera. Der objektive Aufforderungscharakter der Dinge gewinnt seine subjektive Seite, weil sich an die Gebrauchsgegenstände und Zwecksetzungen ein weites Feld an persönlichen Sinnbezügen anschließt. So wird das eigene Zuhause zum persönlichen Territorium, weil die zeitliche Konstanz persönlicher Verfügungsgewalt die psychische Besetzung dieser Lebenssphäre erlaubt. Franziska: »… mein Freund und ich, mein damaliger Freund, sind wir halt zusammen in eine, also in seine Wohnung gezogen […] Und ähm … ja, dann sind wir halt zusammen gezogen, … haben uns das schön gemacht, haben uns noch zusammen ’n Hund gekauft …« Indem für Franziska ein neuer Lebensmittelpunkt entsteht, gewinnt sie einen Gestaltungsraum, wo sie es sich schön machen kann. Und trotz dieser lebensweltlichen Bedeutungsfülle zeichnet sich gerade das Private dadurch aus, dass von hier aus nur wenige Verweisungs- und Bedeutungsbezüge mitten in das gesellschaftliche Leben führen. Aber nicht nur für die Wohnungsbesitzer wird in der subjektiven Innenansicht eine sinnhafte Welt greifbar. Für diejenigen, die in einem
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Wohnprojekt leben, sind es neben der Grundsicherung alltäglicher Bedürfnisse die Mitbewohner, durch die sich ein lebendiges, weit gespanntes Handlungs- und Wirklichkeitsfeld eröffnet. Tobias schwärmt im Interview geradezu von seiner Zeit in einer sozialpädagogischen Kriseneinrichtung: »Also, so die Zeit im Treberladen war eigentlich schon sehr SCHÖN … für mich. […] weil man sich halt mit den Leuten verstanden hat, mit den Betreuern konnte man reden, wenn man Probleme hat, mittwochs war halt Treberplenum, zusammen gegessen un zusammen über alle Probleme geredet, am Wochenende un Mittwoch abends konnte man halt noch … Fernsehabend machen oder so.« Die Teilhabe an diesem kleinen Weltausschnitt vermittelt Tobias nicht nur die Möglichkeit der sozialen Verortung, sodass er hier einen Ort findet, dem er sich zugehörig weiß. Vielmehr eröffnet sich über die Gemeinschaft und den täglichen Umgang unter den Bewohnern ein dynamisches Spielfeld an Interaktion und Kommunikation, an das er mit seinen individuellen Sinnsetzungen anschließen kann. Und selbst die Obdachlosigkeit erfordert es, dass sich die jungen Menschen für die Daseinsfürsorge den Zugriff auf eigene Weltregionen organisieren, in denen ihre Hoffnungen, Absichten und Pläne, so bescheiden und reduziert diese auch sein mögen, zu realisieren sind: die provisorische Einrichtung des Schlafplatzes in einem Abbruchhaus, das Informiertsein über die Versorgungsstruktur an Obdachloseneinrichtungen und Nachtcafés, die sorgsame Pflege von Kontakten zu Bekannten und Freunden, die eine Unterkunft gewähren können. Wie selbst hier am sozialen Rand für die jungen Menschen eine eigene Welt persönlicher Sinnsetzungen entsteht, beschreibt Franziska in anschaulicher Art: »Manfred hatte, also mein Freund damals hatte … ähm … n ziemlich guten Bekannten äh … gehabt, der hier ähm … Badstraße ne Wohnung hatte, da ham wir dann oft übernachtet so […] Wie gesagt, das warn halt immer irgendwie so Massenübernachtungslager gewesen. Oder dann halt auch mal so Sleep-In [Übernachtungsprojekt] gewesen. Oder … […] so die leer stehenden Häuser. Na ja, da hatten wir übernachtet oder so. Da war ja alles teilweise noch zwar mit zerransten Möbeln, aber war dann schon noch Betten und alles drin an Möbeln.« Damit bietet auch der soziale Rand, wenn sonst keine Lebensbereiche mehr offenstehen, greifbare Weltbezüge, über die die jungen Menschen ihrem Alltag wieder Sinn, Gehalt und Struktur verleihen können. Auf der kognitiven Landkarte finden sich als der zweiten wichtigen topologischen Wirklichkeitsregion die ressourcenarmen Marginalräume zur materiellen Existenzsicherung und Lebensgestaltung. Damit werden die
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illegitimen Orte des Großstadtdschungels, die Nacht- und Schattenseiten unserer Gesellschaft zu zentralen Lebensbereichen, in denen sich die jungen Menschen praktisch engagieren und die sie sich kognitiv-mental aneignen. Das Bewusstseinsfeld aktualisiert sich hier über Kenntnisse und Sachkundigkeiten, die sich fast ausschließlich auf deviante und kriminelle Formen der Überlebenssicherung beziehen. Bei der strategischen Planung von Diebstahlstouren, als gewiefte Taktiker auf dem Straßenstrich, in der Performanz ausgefeilter Bettelstrategien können sie sich bewähren und ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Auch wenn in diesen peripheren Nischen der Gesellschaft nur eine moralisch verworfene und widerrechtliche Aneignung des zum Leben Notwendigen möglich ist, so handelt es sich doch um ihre Welt, wo sich die jungen Menschen heimisch fühlen, in der sie sich auskennen und bewähren können. Die dritte Wirklichkeitsregion, die auf der kognitiven Landkarte repräsentiert ist, findet sich schließlich in dem subkulturellen Lebensort »Bahnhof« in Verbindung mit anderen Orten jugendkultureller Interessen und Freizeitformen. Die städtische Landschaft bildet den belebten Hintergrund der täglichen Streifzüge, wo sich die jungen Menschen auf die Suche nach Ereignis, Abwechslung und Kurzweil machen. In den Vordergrund treten dabei die vielfältigen, netzwerkförmigen Sozialbeziehungen der stadtbekannten Treffpunkte. In der Besorgung der Freundschaften, dem Knüpfen neuer Beziehungen, dem Anschlusshalten an die kursierenden Gesprächsthemen können die jungen Menschen an einer Wirklichkeitsregion teilhaben, in der sie vollkommen unbedroht von der Gefahr des sozialen Ausschlusses ein dichtes Geflecht an subjektiven Sinnsetzungen etablieren können. Neben dem Bahnhofsterrain gibt es weitere städtische Lokalitäten subkultureller Freizeitaktivitäten, wie etwa Breitscheidplatz, Nollendorfplatz, Alexanderplatz, aber ebenso lokale Treffpunkte in der Wohnnachbarschaft, schließlich auch einige szenebekannte Diskotheken und Bars, die von den Bahnhofsgängern gelegentlich aufgesucht werden. Hier am Bahnhof und auf der Straße finden die Bahnhofsgänger ihre Welt vor, dies nicht nur im Sinne der objektiven Opportunitätsstruktur, die über subjektive Sinnsetzungen zur wirklich gelebten Wirklichkeit wird. Dazu Hüseyin: »Auch das Leben auf der Straße hab ich äh … erfahren, also wie das is, … wenn man kein Wohnung hat und wenn man auf SICH gestellt is. … Wie man su sein GELD kommt un … wie man sich seine DROgen beschafft. Und das hab ich alles … geLERNT, also … was kein Beruf is, aber … na ja.«
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Neben diesen drei Regionen, die fast alle mehr oder minder an den jugendkulturellen Lebensort »Bahnhof Zoo« angeschlossen sind, findet sich nun in dem topologischen Erfahrungsfeld ein zweiter Wirklichkeitsbereich, der sich vor allem durch sozialen Ausschluss auszeichnet: die Sozialräume und Institutionen der Gesellschaft. Die unerschöpflichen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Lebens, die auch am Bahnhof geschätzt werden, liegen nun nicht allein aufgrund der objektiven Exklusionsprozesse außerhalb der eigenen Reichweite. Es kommt vielmehr zu einem Subjektivierungsprozess, wodurch der begrenzte Möglichkeitsraum am sozialen Rand verinnerlicht wird. Die jungen Menschen wenden sich im intuitiven, vorreflexiven Blick automatisch diesen exkludierten Orten zu, wo sie lebendige, gehaltvolle Sinnsetzungen und Weltbezüge vorfinden. Dagegen geraten alle außerhalb dieses Bereiches liegenden Möglichkeiten, die aber einer umfassenden Teilhabe an der Gesellschaft vorausgesetzt wären, aus dem Gesichtsfeld. Die Tagesplanung kreist dann schon allein aus dem Grund um die unmittelbare Gegenwart der am gesellschaftlichen Rand vorgefundenen Möglichkeiten, weil alle weiterführenden Weltbereiche auf der kognitiven Landkarte nicht ausreichend repräsentiert sind. In der subjektiven Repräsentation der Sozialwelt bilden sich jene Lebensbereiche, die einer sozial integrierten Lebensführung vorausgesetzt wären, vielmehr als eine weitgehend weiße Fläche unerschlossenen Terrains aus: wie etwa Schule, Familie, Arbeitswelt, Museum, Theater et cetera. Aus diesen weißen Flecken ragen auf der kognitiven Landkarte die wenigen im Alltag relevanten Lebensbereiche wie kleine Inseln heraus. So bleibt den jungen Menschen angesichts der Zurückweisungen gar nichts anderes übrig, als sich empathisch mit den Marginalbereichen ihrer Sozialwelt zu identifizieren, gerade weil es ihre genuine Wirklichkeit ist, in der sie sich tagtäglich wiedereinfinden müssen. Franziska: »Und ähm … ja, … ähm dann haben wir uns wieder am Zoo getroffen, klar, ((lacht verhalten)) wo denn auch sonst.« Die eingeschränkte Opportunitätsstruktur erfährt daher ihre Verinnerlichung über die Verarmung des mentalen Repräsentationsmodells an Sinnsetzungen und Weltbezügen. In der topologischen Struktur des subjektiven Erfahrungsfelds schlägt sich diese in der Dichotomie von Erwachsenenwelt und Bahnhofswelt nieder als einem regressiven Versuch, in der ungeordneten Welt sozialen Ausschlusses noch für ausreichende Orientierung zu sorgen.
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3. Opazität – kognitive Repräsentation Schaut man aber genauer hin und versucht die weißen Flächen auf der kognitiven Landkarte gründlicher zu charakterisieren, dann verdeutlicht sich, dass im mentalen Repräsentationsmodell sehr wohl, wenn auch in sehr reduzierter Weise, die Bedeutungsstrukturen und Verweisungsbezüge jener Weltbereiche enthalten sind, von denen die jungen Menschen ansonsten ausgeschlossen sind. Tobias: »Also … in der Zeit, wo ich im Treberladen [pädagogische Einrichtung] war, war ich so … also … weniger kann ich nich sa// also schon weniger am Zoo, weil … ich hab halt sehr s// wenig Zeit gehabt, weil ich sehr viele Ämter ((schnieft)) re// äh Termine eing// einhalten musste. Ich musste zum ARbeitsamt sehr oft, … die// denen meine Bescheinigung von meiner ARbeit geben, wegen Arbeitslosengeld, meine Lohnsteuerkarte, die musst ich besorgen, dann Sozialversicherungsausweis. Also die ganzen Papiere un so musst ich ja alles fertig machen.« Auch wenn sie sich im »wirklichen« Leben der Erwachsenenwelt ein Stück weit auskennen, treten diese gesellschaftlichen Lebensbereiche im subjektiven Erfahrungsfeld nur in sehr blassen und flüchtigen Konturen hervor. Die Verengung und Schließung des objektiven Möglichkeitsraumes aufgrund von Exklusionstendenzen führt, wie sich gezeigt hat, ebenso zur Verengung und Schließung des alltäglichen Erfahrungsraumes. Die kognitive Erfassung von Situationsbedeutungen ist rückverwiesen auf den bisher angeeigneten Erfahrungsschatz (Schütz 1974: 109; Haupt 1984: 47). Sicherlich gibt es biographische Erfahrungen, die im Umgang mit gesellschaftlichen Lebensfeldern gemacht worden sind, weil sie sich punktuell mit den Basisinstitutionen des gesellschaftlichen Lebens auseinandersetzen mussten. Wenn etwa Tobias in unterschiedlichen Wohnprojekten untergekommen ist, dann hat dies immer wieder den Gang zum Sozialund Arbeitsamt notwendig gemacht, um dort die Kostenübernahme für seine Unterbringung zu beantragen. Ebenso gelingt es ihm ab und zu, sich erfolgreich auf einen Aushilfsjob zu bewerben. Schließlich weiß er auch darum, kompetent die sozialen Beratungs- und Hilfsangebote zu nutzen, die Schlüssel- und Weichenfunktion haben, um die eigene Daseinsfürsorge wieder an gesellschaftliche Basisinstitutionen zurückzuführen. Dennoch ist unter den Bahnhofsgängern das Wissen über Struktur und Funktion gesellschaftliche Basisinstitutionen sporadisch, flüchtig und oberflächlich geblieben. Das fortgesetzte Versagen in der Schule hat allein Widerstand und Ablehnung erregt, der Zugang zum Arbeitsmarkt war nicht
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dauerhaft herzustellen, Behörden sind als abweisende Institutionen der Erwachsenenwelt erfahren worden. Es fehlt an einer sozial integrierten Alltagspraxis und damit an konkreter Umgangserfahrung, die der Aneignung und Internalisierung lebensweltlicher Bedeutungsstrukturen vorausgesetzt wäre. Damit bleiben auch die subjektiven Wissensbestände, sich in der Welt zu orientieren und durchzusetzen, unzureichend ausgebildet. Darauf weist Tobias hin: »… und ohne das Wissen von den Sozialarbeitern, sag ich ma, … da wär ich heut sch// da hätt ich HEUte vielleicht no’ nich gewusst, dass ich Sozialhilfe kriegen MÜSSte oder so.« Das kognitive Wirklichkeitsmodell, das den jungen Menschen zur Orientierung in der Sozialwelt dient, bietet daher nur eine sehr eindimensionale Wiedergabe der lebensweltlichen Bedeutungsstruktur. Bei den weißen Terrains handelt es sich also um die unentwickelten Erfahrungs- und Wissensbestände, über die zur angemessenen Repräsentation der sozialen Welt notwendig zu verfügen wäre. Die Handlungsbefähigung reicht wegen des beschränkten Handlungswissens noch nicht einmal so weit, um die in der Gesellschaft üblichen Aufgaben und Anforderungen eigenständig bewältigen zu können (Grundmann 2006). Daher verketten sich bei den jungen Menschen immer wieder die unzureichenden Handlungskompetenzen aufgrund fehlender Kenntnisse über die Sozialwelt, sodass eine geregelte Daseinsabsicherung zu Schaden kommt. Im Fall von Michael hat der Verlust des Ausbildungsplatzes und damit eines festen Einkommens schließlich dazu geführt, dass er seine Wohnung verliert und wohnungslos wird. Es gelingt ihm weder, sich eine neue Erwerbsarbeit zu suchen, noch wendet er sich, im Glauben, keinen Anspruch auf Sozialleistungen zu haben, an die Sozialbehörden. Aufgrund seines unzureichenden Weltwissens werden Alternativen und Auswege wie zum Beispiel die Kontaktaufnahme zum Arbeitsamt, der Besuch einer Schuldnerberatungsstelle, der Austausch mit Bekannten und Kollegen et cetera erst gar nicht gesucht. Die Gebrochenheit eines aufgeschlossenen und interessierten Weltverhältnisses verdeutlicht sich besonders daran, wenn man die Bahnhofsgänger mit sozial integrierten Jugendlichen vergleicht. Bei diesen ist normalerweise ein hohes Maß an Engagement bei der Exploration, Erfassung und Aneignung der Bedeutungsstruktur der Sozialwelt zu beobachten. Mit dem Fortschreiten der Adoleszenz erschließen sich für sie ganze Weltregionen zum ersten Mal, sodass sich allein aus dem Neuigkeitswert große Begeisterung, Tatendrang und Beharrlichkeit entwickeln (Heckhausen 1989:
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455 ff.). Erwachsene können eine solch enthusiastische Beschäftigung mit Themen- und Wissensbereichen, die sich aus eigenen Interessensetzungen begründen, häufig nicht mehr nachvollziehen. Hört man einer Gruppe Heranwachsender längere Zeit zu, etwa wenn es um den Erwerb des Führerscheins geht, dem sich der Kauf des Autos anschließen soll, dann wird nur zu deutlich, mit welchem Interesse und welcher Beflissenheit sie sich in die Verweisungsstruktur der Thematik vertiefen können. Stundenlang wird unter Freunden der Frage nachgegangen, welche der in der Nachbarschaft gelegenen Fahrschulen die beste sei, welche Erfahrungen dort Freunde und Bekannte gemacht haben, welche Automarken von der jeweiligen Fahrschule als Übungsfahrzeuge angeboten werden, welche Gesichtspunkte beim Autokauf zu beachten seien, welche Versicherung welche Leistungen zu welchem Preis anbiete. Ein detailliertes Wissen wird unter den Jugendlichen zusammengetragen, einzelne Aspekte beleuchtet und ausgelegt, in die thematische Tiefenstruktur des Gegenstandes eingedrungen, die verschiedensten Handlungsoptionen gegeneinander abgewogen, sodass hier in einer weitgehend spielerischen Weise ein umfassendes Bild des thematisierten Weltbereichs erworben wird. Weil ohne Geld schon der Führerschein, mehr aber noch das eigene Auto außerhalb der Reichweite persönlicher Verfügung liegt, werden unter den Bahnhofsgängern solche jugendkulturellen Erörterungen überhaupt nicht zum Thema. Normalerweise dringt man erst über die praktische Auseinandersetzung mit Handlungs- und Problemsituationen in die kleinteiligen Verweisungen der lebensweltlichen Bedeutungszusammenhänge so weit ein, dass sich daraus eine umfassende, vielschichtige, strukturierte Repräsentation der Sozialwelt bildet. Eine rein theoretische Beschäftigung mit solchen alltagspraktischen Fragen der funktionalen Lebensführungsgestaltung muss am Bahnhof als reine Glasperlenspielerei erscheinen. Fehlt dieses notwendige Weltwissen aber, dann werden selbst einfache Alltagserledigungen wie etwa die Wohnungssuche zur heillosen Überforderung. Sven verspricht sich erst gar keinen Erfolg, eigenständig einen Mietvertrag zum Abschluss zu bringen, weil ihm das entsprechende Erfahrungswissen fehlt, welche Handlungsschritte zu unternehmen sind: »… wenn die Treberhilfe jetzt nicht wär und sie würde mir nicht sagen, wenn ich es// wenn ich jetzt wirklich nach Spandau ziehen möchte, dann soll ich auch bei DER Wohnung und bei DER Wohnung anrufen und nich mit der einen Absage mich gleich abspeisen lassen.« Es vertieft sich der soziale Ausschluss, weil sich die jungen Menschen selbst dort, wo auch sie eigentlich Bescheid
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wissen müssten, in den Basisinstitutionen und zentralen Sozialräumen, mit den herrschenden Zugangsformen, Handlungspraxen und Funktionsweisen nur wenig auskennen. Jeder Eingriff in die Erwachsenenwelt impliziert nur wieder unüberwindliche Schwierigkeiten, sodass die Motivation zum engagierten Handeln letztlich gering bleibt. Die Verwaltungsprozeduren auf der polizeilichen Meldestelle, bei der Kindergeldstelle, bei Sozial- und Arbeitsamt sind zudem gar nicht so verschieden zur Beantragung der Führerscheinprüfung oder Anmeldung des eigenen Autos. Die exemplarische Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den einzelnen Möglichkeiten, welche die Welt zu bieten hat, bringt normalerweise einen Wissenszuwachs hervor, der nicht nur in der unmittelbaren Handlungssituation zu nutzen ist. Blodgett (1929) hatte diese Form des Wissenserwerbs als »latentes Lernen« bezeichnet. Demgemäß bietet die Umgangserfahrung mit den Gegebenheiten einer bestimmten Situation ebenso einen Vorteil bei der Orientierung in ähnlichen Situationen. Durch das fortschreitende Eindringen und Auskundschaften der Komplexität und Tiefendimension der modernen Welt in all ihren Facetten wird es am ehesten möglich, ein umfassendes Verständnis der gesellschaftlichen Bedeutungs- und Verweisungsstruktur zu entwickeln. Umso umfangreicher die Erfahrungs- und Wissensbestände sind, die in das kognitive Repräsentationsmodell der Sozialwelt einfließen, desto leichter wird letztendlich das Erschließen neuer Weltbereiche fallen, in denen die Bedeutungszusammenhänge noch weithin unbekannt sind. Die jungen Menschen teilen aber die Erfahrung, dass ihnen der Zugang zu zentralen Basisinstitutionen schon von Kindheit verschlossen blieb. Weil das globale Allgemeinwissen, über welches die jungen Menschen am Bahnhof verfügen, rückständig und unkonkret bleibt, führt dies immer wieder dazu, dass bestimmte Aufgaben, die zur Alltagsbewältigung notwendig sind, nicht erledigt werden. Franziska erzählt, dass sie ganz »aufgeschmissen« war, weil sie die Telefonnummer vom sozialmedizinischen Dienst »verbummelt« hatte, die sie von ihrem Sozialarbeiter erhalten hatte. Sie sieht sich außerstande, selbst die Adresse herauszufinden, weil Nutzung von Telefonbuch und Internet weder gewohnt noch für sie möglich ist. Als ich ihr das Berliner Branchenverzeichnis reiche, damit sie die Telefonnummer nachschlagen kann, schaut sie mich ganz ratlos an, worunter sie in dem tausend Seiten starken Buch suchen soll, und reicht mir resigniert das Buch zurück.
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Indem die gesellschaftliche Bedeutungsstruktur den jungen Menschen vor allem in ihrer Unanschaulichkeit und Abstraktheit gegenübertritt, fallen auch Generalisierung und Transfer von Wissen entsprechen schwer. Das Kleingedruckte in Verträgen, die Behördensprache bei amtlichen Bescheiden, die Bewilligungspraxis auf dem Sozialamt müssen, wie sich im Kapitel zur institutionellen Exklusion gezeigt hat, weithin unverstanden bleiben. Sicherlich weiß man um die Institution des Sozialamtes, aber wie der Zugang gewonnen wird, welches Amt, welche Abteilung, welcher Sachbearbeiter zuständig ist, welche Leistungsansprüche bestehen, dies alles liegt weitgehend im Dunkeln. Doch gerade dieses latente Weltwissen fehlt den jungen Menschen, wenn sie im unübersichtlichen Labyrinth der Flure auf dem Amt stehen und nach dem richtigen Raum suchen. So gleichen sich die Erzählungen immer wieder, dass man wie Oliver auf dem Amt gewesen sei, wo er über eine Stunde lang vor einer Tür saß, bis er schließlich aufgerufen worden sei, um dann zu erfahren, dass er vor dem falschen Zimmer gewartet habe. Dieser Irrtum bestätigt nur die eigene Erwartung, sich in der Welt der Erwachsenen nicht orientieren zu können. Er versucht es nach diesem Fehlschlag erst gar nicht mehr, den richtigen Sachbearbeiter aufzusuchen, sondern geht entmutigt und verärgert wieder unverrichteter Dinge. Die Bedeutungs- und Verweisungsstrukturen der gesellschaftlichen Lebensbereiche schimmern nur schwach in die am sozialen Rand vorgefundene Wirklichkeit hinein. Der Mangel an einem erfahrungs- und wissensfundierten Repräsentationsmodell führt schließlich dazu, dass alle Beobachtungen, die in den funktional differenzierten Lebensbereichen der Gesellschaft gemacht werden, fragmentierte Zufallswahrnehmungen bleiben müssen. Durch die unzureichende Repräsentation von Bedeutung und Funktion der Sozialwelt entbehrt die Welt einen anzueignenden und auslegbaren Horizont, der ausgehend von bekannten Lebens- und Wirkungsfeldern auf immer neue Weltbereiche verweist. Die jungen Menschen sind von der Aspektvielfalt, Komplexität und Mehrdeutigkeit des gesellschaftlichen Lebens überfordert. Anstatt eines selbstsicheren, kompetenten und zielbewussten Eingreifens herrscht ein ängstliches Zurückweichen vor Situationen kognitiver Unbestimmtheit vor. Die für die Bahnhofsgänger vertrauten Ausschnitte, der »Bahnhof Zoo«, die Wohnung des Freundes, der Straßenstrich, sind, weil es sich zum größeren Teil um Marginalräume handelt, zudem wenig repräsentativ, um als Modell für die sozialräumliche Struktur der Lebenswelt insgesamt zu dienen. Die Randständigkeit manifestiert sich hier als
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deprivative »Verinselung« der Lebenswelt (Zeiher 1989; Zeiher & Zeiher 1994) auf periphere Bereiche, die nicht mehr als zusammenhängende Lebensfelder in ihrer übergreifenden Bedeutungsstruktur hervortreten. Die kognitive Opazität der Sozialwelt resultiert also daraus, dass es dem kognitiven Repräsentationsmodell an ausreichenden Erfahrungs- und Wissensbeständen mangelt, um die Bedeutungs- und Verweisungsstruktur der Lebenswelt angemessen zu erkennen und zu begreifen.
4. Bedeutsamkeitsverlust – sinntragende Repräsentation Die Entsubstantialisierung des Erfahrungsfeldes macht sich weiterhin in dem Auseinandertreten von gesellschaftlichen Relevanzsetzungen und subjektiver Bedeutsamkeit geltend (Wulf 2003: 56 ff.; Leontjew 1964). Auf der einen Seite erlangt das gesellschaftliche Leben objektive Bedeutung für die individuelle Lebensbewältigung. Die Sozialwelt ist das weite Feld, auf das sich der Mensch in seiner Intentionalität und tätigen Lebenspraxis beziehen muss, um durch Verfügung über gesellschaftliche Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten seine Existenz und Individualitätsform verwirklichen zu können. Doch sind bei den Bahnhofsgängern auch diese objektiven Relevanzen, die den verschiedensten Sozialräumen für die Strukturierung des Alltagshandelns zukommen, nur unzureichend über subjektive Sinnstrukturen in das psychische Leben integriert. Für Frederik kam es einem Akt der Befreiung gleich, aus Frankfurt wegzugehen, weil sich ihm keine lebenswerten Möglichkeiten mehr geboten haben: »Ähm, ja, das einzige, was mich in Frankfurt ähm … wirklich hätte zurückhalten können, wenn ich eine andere Perspektive gehabt hätte […] Und ansonsten … gab’s nichts, absolut nichts, keine Beziehungen, niemand, hinter dem man großartig her getrauert hätte.« Frederik muss die Frage kategorisch verneinen, ob das Leben, das er bei seinem Umzug nach Berlin zurückgelassen hat, ihm noch irgendetwas bedeutete. Seine Wohnung beschreibt er als ein »zwölf Quadratmeter Wohnklo«, während er vom Arbeitsamt keine Unterstützung erhalten habe. Die Verortung in der Welt muss misslingen, wenn die jungen Menschen ihrem Lebenszusammenhang im Gesamten keine Bedeutsamkeit mehr beimessen, weil wegen des Exklusionsdrucks an den nachhaltigen Aufbau tragfähiger Sinnsetzungen nicht zu denken war. Indem aber dem Lebenszusammenhang seine
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ausgewiesene Bedeutsamkeit als Gegenstand der Alltagspraxis abhanden kommt, verliert auch das Engagement in jedem einzelnen Lebensbereich seinen Sinn. Die subjektiven Sinnbezüge setzen sich mit zunehmendem Abstand zur Gesellschaft eben nicht mehr vermittelt aus Fulltimejob, fester Beziehung, anerkannten Formen der Sozialintegration zusammen. Dies alles bildet nur noch das blasse Abbild einer gelungenen Vergesellschaftung – gleichsam als fortwährende Mahnung an das eigene Scheitern. Erst die Verknüpfung des subjektiven Sinns mit den Sphären der objektiven Bedeutungsstrukturen der Sozialwelt bringt eine Dichte der Wirklichkeit hervor, die sich als ausreichend tragfähig für die eigene Lebenspraxis erweist (Corin 1997). Die intentionalen Sinnbildungen sind dann nämlich nicht mehr nur in der Gedankenwelt wirklich, sodass diese jederzeit wieder verloren gehen, sobald sich der Aufmerksamkeitsfokus des Bewusstseins anderen Gegenständen und Themen zuwendet. Die Intentionalität muss sich vielmehr mit der gegenständlichen Bedeutungsstruktur der Welt verbinden, damit diese über die einzelne Situation hinaus an Form und Gehalt gewinnt. Tobias kann davon berichten, wie sich die lose Antizipation, sein Leben von Grund auf zu ändern, durch das Eintreten in die sachlich-soziale Welt zunehmend substantialisiert und wie die neue Gegenständlichkeit seines Alltags auf ihn zurückwirkt: »Geregeltes Leben heißt jetz ers’ ma, dass ich aufgehört hab mit den Drogen. … Erst mein// erst ma mein Einkommen vom Arbeitsamt hab, jetz sehr wahrscheinlich die nächste Woche spätestens … ne Arbeit bei Siemens hab. Un wenn nich, dann aber die nächsten zwei bis drei Wochen spätestens … mich um ne andre Arbeit bemühe. … Wenn ich die Arbeit hab, dann geregeltes Einkommen hab, in meine eigene Wohnung einziehn, äh da (natürlich) das Geld, dass ich meine Wohnung au’ einrichten kann ((schnieft)) un dass ich mich dann auch mit meiner … Freundin vielleicht irgendwie nach … nem halben Jahr oder Jahr vielleicht auch zusammenziehe, wenn// wenn we noch zusammen sein sollten, wenn alles so klappt.«
Von der gleichen Erfahrung einer zunehmenden Substantialisierung durch den Aufbau subjektiv bedeutsamer Lebensbereiche kann auch Mike berichten. Aus der Partnerschaft zu einer Frau, die nicht am Bahnhof verkehrt, stattdessen ein eigenes Kind großzieht, entwickelt sich eine qualitative Erweiterung jener Lebensbereiche, die bisher außerhalb seiner Interessensphäre, das heißt außerhalb des Bahnhofsterrains lagen. »Und DAS hab ich jeNOSsen, weil … da war ick von Donnerstagabend bis MONtag. … Wir sind … mit die Kinder RAUSjejangen uff’n SPIELplatz. … Wir war’n
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im AQUArium. Wir ham … SAchen jemacht, die die andern, (glaub ich,) au’ machen. Also nich nur Bezug auf Bahnhof Zoo, sondern WIRKlich raus. Un … wenn// wenn ICH zwei Tage ma nich am Bahnhof bin … un// und komm dann an, ›Na, dich hab ick ja lang nich mehr jesehn.‹ Als// als ob ick da n MOnat nich mehr da war.« Dabei setzt die Konstituierung von neuen Sinnbezügen in gewisser Weise das Vorhandensein von Sinn voraus. Erst durch die Überdetermination alltäglicher Sinnsetzungen, man könnte auch sagen, durch den polythetischen Aufbau der Erfahrungswelt, erlangt der Alltag im Gesamten ein stabiles Sinnfundament, das für Beständigkeit und Bedeutsamkeit über den flüchtigen Moment hinaus sorgt. Die Hoffnungen, Absichten und Pläne differenzieren und konkretisieren sich beim Besuch des Arbeitsamts, beim Beibringen von Bescheinigungen, Lohnsteuerkarte, Sozialversicherungsausweis, durch den Umzug in das betreute Wohnprojekt. Auf der kognitiven Landkarte nehmen die Felder in ihrer Realitätsmächtigkeit rasant zu, sodass die jungen Menschen nach dem morgendlichen Aufstehen ihr Leben wieder in den stabilisierenden Bedeutungsstrukturen der sozialen Welt verorten können. Tobias gelingt es, wo er jetzt von der Straße weg ist, einen Aushilfsjob in einer Bar anzunehmen. Mit dem verdienten Geld kann er sich schicke Kleidung leisten, mit Freunden ausgehen, am Bahnhof gelegentlich einen ausgeben. Und dennoch erweisen sich die Sinnsetzungen, auch wenn diese eine greifbare Realität, eine tiefere Fundierung und erweiterten Gehalt bekommen haben, häufig nicht als tragfähig genug, sodass sich hieraus eine Alternative zur einförmigen, marginalen Einbindung in die Bahnhofsszene entwickeln könnte. Vor allem bildet sich kein ausreichend stabiles Sinnfundament aus, um mit Blick auf das Große und Ganze über die Schwierigkeiten, Eintönigkeiten und Abhängigkeiten hinwegzusehen, die nach der Anfangseuphorie immer deutlicher hervortreten. Nach den ersten Konflikten auf der Arbeitsstelle, weil Tobias doch einige Male zu spät kommt, sich die Arbeitsorganisation nicht durch den Chef vorschreiben lassen will, sich zunehmend gegängelt und überwacht fühlt, gibt er die Arbeitsmaßnahme schließlich wieder auf. Trotz des hoffnungsfrohen Anfangs führt der Weg bald wieder zurück in die Welt nächtlicher Unternehmungen, sodass die Bars und Diskotheken abermals zum Lebensmittelpunkt werden, wozu auch der ansteigende Konsum von Ecstasy gehört, sodass er schließlich im Auf und Ab seines Lebens dorthin zurückgetragen wird, von wo er in ein neues Leben aufgebrochen ist, zum Bahnhof.
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Eine nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation ist aber nicht allein deshalb erschwert, weil sich aufgrund des sozialen Ausschlusses die objektiven Bedeutungsstrukturen einer sinnstiftenden Aneignung verweigern, sondern ebenso finden sich persönliche Gründe. Frederik etwa bricht kurz nach Beginn einer Ausbildungsmaßnahme, um die er sich aus eigener Initiative gekümmert hat, wegen einer Beziehungskrise mit seinem damaligen Freund wieder ab. Gefragt nach den Gründen antwortet er mir: »Ja, … die hab ich angefangen, aber wegen Christian hab ich die ja abgebrochen. … Und die ist auch nicht wichtig.« … --- I.: »Aber da meintest du doch hier irgendwie, das ist was, da//« --- Frederik: »Ja, das hätte Spaß gemacht, das hätte mich auch gefreut, wenn ich das hätte weitermachen können, aber nicht nach dem gottverdammten Nervenzusammenbruch wegen dieser kleinen billigen Mistzicke.« Das eigene Leben wird durch das regelmäßige Wegbrechen der dünnen, instabilen Sinnsetzungen immer wieder im Gesamten in Frage gestellt, sodass sich der Verlust einer orientierenden Lebensperspektive zu einzelnen Lebenskrisen verdichtet. Aus den Schwierigkeiten, über die Ausbildung von stabilen Alltagsstrukturen ein tragfähiges Sinnfundament zu etablieren, lässt sich auch die Unstetigkeit und Sprunghaftigkeit der jungen Menschen in ihrer Lebensplanung erklären, die so typisch für die Bahnhofsszene ist. Was an dem einen Tag wichtig war, wie etwa die Bewerbung bei einem Träger der sozialen Wohlfahrt, ist am nächsten Tag wieder vergessen, um am dritten Tag durch die nächste Idee ersetzt zu sein, die sich aus der Zufälligkeit der eigenen Lebensumstände begründet, wie etwa zu einem Freund in die nächste Stadt zu ziehen. Die jungen Menschen kommen von einem zu anderen Tag mit völlig neuen Vorhaben an den Bahnhof, die aber das Planungsstadium in Richtung Realisierungsphase nie überwinden. Die Ausbildung, die für Frederik einen Moment lang eine neue Zukunftsoption geboten hat, die er unbedingt ergreifen wollte, wird im nächsten Augenblick wieder verworfen, weil sich ihm die Möglichkeit bietet, für die nächste Zeit bei einem Freier einzuziehen, wo er sich um nichts mehr als um dessen Haushalt zu kümmern braucht. Unentschlossenheit und Unbeständigkeit ergeben sich daraus, dass die Pläne nur selten so weit gereift sind, dass diese sich über das Aufgreifen der lebensweltlichen Bedeutungsstrukturen sukzessive realisieren lassen. Doch erst wenn die ersten Schritte unternommen sind, sich anhand der aktualisierten Weltbezüge eine feste Struktur an Aufgaben und Pflichten herausgebildet hat, die das Handlungsfeld ausrichtet und definiert, finden die intentionalen Zukunftsprojektio-
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nen eine Verankerung und Solidität, welche die Flüchtigkeit des Bewusstseins übersteigen und über feste Relevanzstrukturen dem Alltag Orientierung bieten. Am gesellschaftlichen Rand sind Verlässlichkeit, Stabilität und Kontinuität angesichts der knappen Ressourcenausstattung und gebrochenen Sozialbeziehungen ein knappes Gut, sodass sich die jungen Menschen regelmäßig in diese schwer durchschaubare Melange an brüchigen Sinnkonstruktionen und reduzierten Bedeutsamkeiten verstrickt sehen. Die verengte Opportunitätsstruktur definiert daher nicht nur die in der sozialen Welt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Vielmehr verlieren die sozialintegrativen Lebenssphären ihre subjektive Bedeutsamkeit für die individuelle Lebensbewältigung. Mit der Ausdehnung der weißen, unterrepräsentierten Gebiete auf der kognitiven Landkarte verstärkt sich daher auch die allgemeine Orientierungslosigkeit. Weil die Sinnsetzungen und Weltbezüge immer wieder wegbrechen, ist es schwer, selbst wenn ein erster Anfang unternommen ist, dauerhaft und beständig an der Absicherung und Fortentwicklung des alltäglichen Lebenszusammenhangs zu wirken.
5. Ausblendung – affektive Repräsentation Die sozialintegrativen Gesellschaftsbereiche treten schließlich auch wegen ihrer negativen Affektbesetzung nur in einer sehr undeutlich ausgeführten und schemenhaften Weise auf der topologischen Landkarte hervor. Oliver beschreibt sehr eindringlich, wie ihn die Realität seiner Lebensumstände bedrückt hat, sodass er aus der aufsteigenden Panik und Verzweiflung keinen Ausweg mehr gesehen habe: »Wo ick denn … Absturz hatte, bin ick mit mir jar nich mehr klar jekommen, da kamen so Suizidsachen und so ’ne Scheiße halt, wie man’s so hat.« Angesichts der Misere wird der Alltag mehr als übermächtige, fremde Macht, denn als Resultat eigenen Handelns erfahren. Die Notwendigkeit eines aktiven Engagements zur Bewältigung und Gestaltung von Alltag wird aufgrund des durchgreifenden Sinn- und Kontrollverlusts, der in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überzugehen droht, zu einer einzigen Belastung. Mit jeder neuen Situation individuellen Versagens wird die ganze Partitur an negativen, aversiven Gefühlsreaktionen aufgeschlagen: Wut, Angst, Resignation, Trauer und Apathie (D’Andrade 1981: 191). Eine Wiedergewinnung von Sinn und Kontrolle,
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woraus sich eine Steigerung von Wohlbefinden und Lebensqualität ergeben könnte, ist angesichts der desolaten Situation ohne weiteres nicht mehr zu erwarten. Die affektive Bewertung der Weltbezüge entlang einer von Lust zu Unlust reichenden Skala erhält dabei eine körperliche Evidenz, die nicht einfach als ein bloßes Gefühl ignoriert werden kann. Der soziale Ausschluss gewinnt durch seine Subjektivierung vielmehr eine leibliche Realität, sodass sich die jungen Menschen als empfindsames und leidensfähiges Subjekt mitten in die Misere und Tristesse ihres Alltags hineinversetzt erfahren (Cresswell 1999: 176; Thomas 2007). Im sozialen Abseits hört das Alltagsleben auf, ein festes Gehäuse der Welt- und Selbstvergewisserung zu bieten. Vielmehr ist es zur leeren Hülle geworden, über welche die rudimentären Existenzbedingungen mehr schlecht als recht sichergestellt werden können. Die Sozialwelt verliert damit ihre Qualität als doxisches Handlungsfeld (Charlesworth 2000: 131 ff.), das sich als weitgehend beherrschbar und kontrollierbar erweist. Indem aber die Alltäglichkeit verloren geht, sodass ein planbares Leben nicht mehr möglich erscheint, wird die Sozialwelt zur Quelle von Beunruhigung und Bedrohung. So herrscht in der Bahnhofsszene die ständige Angst, nicht mehr klarzukommen, durchzudrehen, wahnsinnig zu werden und sich aufzugeben. Oliver: »… und denn och wieder irgendwann zu viel Alkohol und Drogen und so und dann och Suizid … wieder. Da ha’ick mir halt Pulsadern anjeschnitten jehabt. … Und wieder in’er Psychiatrie jelandet danach.« Damit begründet sich das Auseinanderdifferenzieren von subjektiven Sinnsetzungen und weltlicher Bedeutungsstruktur nicht allein aus der Verarmung kognitiver Erfahrungs- und Wissensbestände sowie subjektiver Bedeutsamkeiten. Die Reduktion der Weltbezüge ist ebenso in der emotionalen Bewertung der einzelnen Lebenssphären begründet. Dabei gliedert sich die Sozialwelt entlang der affektiven Erfahrungsqualität in problematische und unproblematische Bereiche. In der Konsequenz wenden sich die jungen Menschen von allen heiklen Lebenssphären der Erwachsenenwelt ab. Was bleibt sind Bahnhof, Drogen und Kurzweil. Oliver weist darauf hin, wie sich die Alltagstristesse gerade beim gelangweilten, einsamen Herumsitzen aufdrängt, während die entwertete Zeit nur zäh verstreicht und sich die aufsteigende Unruhe kaum noch ertragen lässt: »Die sagen sich och, bevor se zu Hause sitzen und da nich mehr klar kommen, jehn se lieber zum Zoo und trinken se einen.« Um die gedankliche und emotionale Konfrontation mit der sich im Exklusionsfeld auftürmenden Misere zu vermeiden, setzen sich die jungen Menschen normaler-
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weise erst gar nicht mit den problembehafteten Wirklichkeitssphären auseinander. Anhand der emotionalen Bewertung einzelner Zustände und Situationen werden in dem topologischen Repräsentationsmodell vielmehr alle Bereiche des Scheiterns mit einem Negativmarker versehen. Paula: »… man denkt auch gar nicht so über äußere// ich hab zum Beispiel irgendwie NIE wirklich so nachgedacht, ich bin so’n … Verdrängungsmensch.« Bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung handelt es sich keineswegs um eine emotionslose, rein sachliche Betätigung des Psychischen, sondern diese ist immer an den emotionalen Aktivierungszustand des psychischen Systems gebunden. Beim Aufbau von Gedächtnisspuren spielen speziell emotionshaltige, das heißt »heiße« Erinnerungsbilder eine wichtige Funktion, weil hierdurch die besondere Bedeutung des Erlebnisses für das Individuum hervorgehoben wird. Bei den jungen Menschen lässt sich eine Tendenz zur Verdrängung und Realitätsabwehr beobachten, indem Tatsachen und Fakten, die an negative, aversive Affekte gebunden sind, selektiv ausgeblendet werden (vgl. Fischer & Riedesser 1998: 263). Verleugnung und Verdrängung betreffen nicht nur gravierende Ereignisse in der eigenen Kindheit, die Vergewaltigung auf dem Straßenstrich, der Missbrauch durch den Vater, die lieblose Vernachlässigung durch die Eltern, sondern ebenso das eigene Scheitern in der Gegenwart. Am Bahnhof verdeutlicht sich diese Verdrängungs- und Verleugnungstendenz darin, dass selbst unter Freunden kaum eine Bereitschaft besteht, über persönliche Probleme zu sprechen: »… wenn’s dir am Bahnhof SCHLECHT geht, … äh … hört dir eigentlich keener zu. … Weil jeder … für sich sagt: ›Mensch, ich hab selber n Kopf voll, ick … KANN mir jetz nich oo’ noch andre// … ANdre Probleme noch äh äh mir anhör’n.‹« Genauso fordert Marc im Interview offensiv, dass ich die Thematisierung von problematischen Lebensbereichen unterlasse: »Stell ma andre Fragen jetz, das geht mir langsam auf n Keks hier das// ääääääh stell mir ne Frage, was ich noch vorhab. Stell (perspek)tiv, so ne Fragen musste ma stellen.« Durch eine »emotional gesteuerte« Themenlenkung gelingt es, alle Bereiche zu umschiffen, anhand deren die schmerzvollen Bedeutungsbezüge des eigenen Scheiterns deutlich werden könnten. Sobald am Horizont des subjektiven Erfahrungsfeldes Hinweise auf das bedrückende Schicksal auftauchen – der abgebrochene Schulabschluss, die langjährige Arbeitslosigkeit, die Probleme zu Hause im Elternhaus –, werden diese aufgrund ihrer negativen Markierung schnell wieder zu verdrängen versucht.
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Der funktionale Gewinn besteht darin, dass die jungen Menschen jeder eingehenden Situationsanalyse, wenn diese zu bedrohlich für das eigene Selbstkonzept wird, mittels affektiven Verdrängungs- und Vermeidungsstrategien aus dem Wege gehen können. Dies ist aber nur unter dem Preis der Realitätsverleugnung zu erlangen, sodass auch aus diesem Grund wesentliche Bereiche auf der kognitiven Landkarte unausgefüllt und leer bleiben. Paula: »Also ich hatte auf einmal irgendwie n ganz extremen … Austausch- und … Leutedrang, also bloß weg, bloß von zu Hause weg, bloß was anderes machen, Party, … bloß nich an zu Hause denken, bloß nich diesen Alltagstrott und … kein Bock mehr drauf gehabt. … Ja, wie gesagt, ich hab mich halt von// … war halt einfach zu// zu eng gewesen so irgendwie so.« Anstatt die Erfahrungswelt in ihrer Tiefendimension auszuloten, werden Aufmerksamkeit und Erinnerung entlang von Oberflächencharakteristika geführt, wodurch alle Alltagsprobleme ausgespart bleiben. So treten aber auch Optionen, die auf eine nachhaltige Verbesserung der individuellen Situation verweisen, erst gar nicht ins Bewusstsein. Andererseits lässt sich durch die selektiv-verdrängende Beachtungslenkung und Aufmerksamkeitszuwendung die Misere nicht völlig aus dem Erfahrungsund Wirklichkeitsfeld heraushalten, sondern diese tritt immer wieder an den Rand des Bewusstseins und erinnert die jungen Menschen an ihr freudloses und bedrückendes Schicksal. Die Reduktion der mentalen Repräsentation der Sozialwelt auf die wenigen, marginalen Inseln einer halbwegs gelungenen Sozialintegration, hat damit auch seinen Grund in der emotionalen Widerspieglung und Bewertung der eigenen Situation. Während auf der einen Seite die Erwachsenenwelt, als Ort des systematischen Ausschlusses, ständigen Überdruss, Missfallen und Abscheu erregt, wird die sozial erschlossene Bahnhofswelt zum Ort relativer Entspanntheit, Glückseligkeit und Freude. Franziska bringt diese Zerrissenheit der Lebenswelt folgendermaßen zum Ausdruck: »Also, wenn ich am Breiti war, war das okay. Also da dacht ich// also hab ich halt nich irgendwie an meine Vergangenheit gedacht oder was zu Hause passiert, wenn ich jetzt da wär oder sonstiges so. DA war einfach nur Breiti … und die Leutchens und … ja, ich hab auch viel auf’m// also auf’m Breiti lachen können. Was ziemlich// was ich ziemlich lange nich konnte.« Die Internalisierung der verengten Opportunitätsstruktur scheint zunächst eine probate Möglichkeit zu sein, um eine Herabsetzung und Minderung des emotionalen Wohlergehens zu verhindern, ohne die Aufarbeitung der äußeren Misere selbst anzugehen. Diese selektive Realitätsausblendung
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führt aber nur dazu, dass die Sozialwelt in ihrer objektiven Bedeutung für die Lebenssicherung und -gestaltung nicht angemessen zu repräsentieren ist, weil nur solche Aspekte der aktiven Weltbegegnung hervortreten, die diesen mentalen Filter passieren konnten. Die jungen Menschen wenden sich auch in ihrer kognitiv-affektiven Gerichtetheit immer mehr von der Welt der Erwachsenen ab, sodass sich die Internalisierung der alltagspraktischen Opportunitätsstruktur der randständigen Sozialposition in den subjektiven Strukturen des mentalen Repräsentationsmodells weiter vertieft. Das Scheitern, etwa bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz, ist dann nicht nur objektiver Ausdruck der im Exklusionsnetz verfangenen Lebenssituation, sondern ebenso eine Bestätigung der subjektiven Gewissheit, dass wirkliche Chancen, zum Erfolg zu kommen, zu keinem Zeitpunkt bestanden haben. Eine angemessene Repräsentation der Sozialwelt, welche die Basisinstitutionen, die für die Reproduktion des Alltags notwendig sind, einschließt, wird daher auf der einen Seite immer weniger notwendig. Und doch lässt sich die affektiv belastende Erfahrung des Ausschlusses und Scheiterns nicht dauerhaft ausblenden, weil sich die Misere in dem großen Exklusionspanorama tagtäglich erneuert.
6. Zerrüttung der Welterfahrung Oliver antwortet, auf den Stellenwert, den die Bahnhofsszene für seinen Alltag hat, angesprochen: »Na ja, klar, teilweise schon, weil man hat da [am Bahnhof] immer irgendwie n Jesprächspartner, weeßte, man rennt nich wie bekloppt alleene durch die Jejend irgendwo. … Weil da is immer irgendwie eener, mit dem de quatschen kannst, den de kennst oder so, sa’ick ma. … Also so geht det mir jedenfalls da, sa’ick ma halt, wa.« Die Wirklichkeitserfahrung der jungen Menschen kommt als ein Gefühl tiefer Verlorenheit in einer nicht näher bestimmbaren »Gegend« zum Ausdruck. Es treten keine Lebensbereiche hervor, die über ausreichende Relevanz verfügen, um daran die eigene Situation auszulegen. Das Repräsentationsmodell, das Oliver von seiner Alltagswelt entwirft, ist reduziert auf die öde Leere des städtischen Raumes, der bei seinen Streifzügen den bedeutungslosen Hintergrund bildet, in dem er sich verloren hat, ohne noch einen Ausweg zu finden. Es finden sich hier keine bedeutsamen Anschlussmöglichkeiten,
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um sich die äußeren Bedeutungen der Welt als persönliche Sinnsetzungen anzueignen. Der Situation ist schon allein deshalb nicht zu entrinnen, weil es ihr jeder Gegenständlichkeit mangelt. In der strukturlosen Gegend bewegt er sich notwendigerweise auf der Stelle. Allein der Bahnhof tritt als letztes Refugium hervor, an dem er sich zu verorten weiß, weil dort andere Menschen sind, mit denen er seine Zeit verbringen und aus seiner Einsamkeit ausbrechen kann. In der phänomenalen Erfahrungsweise kommen der soziale Ausschluss und die soziale Isolation als Alltagstristesse zu Bewusstsein. In dem kognitiven Repräsentationsfeld, in dem die einzelnen, aktuellen Erfahrungsmomente als eigene, übergreifende Wirklichkeit zusammengeschlossen werden, tritt die Wirklichkeit als weitgehend opaker, bedeutungsleerer, mit negativen Affekten besetzter Bedeutungszusammenhang hervor. So fällt es den jungen Menschen schwer, gegenüber dem interessierten Zuhörer ihren Alltag zu beschreiben und auszuweisen. Sie beziehen sich immer wieder auf wenige Versatzstücke, wenn sie von ihren täglichen Aktivitäten berichten, die vornehmlich auf den Kontakt mit der Bahnhofsszene, den Institutionen des Sozialstaates, der Unterkunft und Betreuung in den Einrichtungen der Jugend- und Obdachlosenhilfe und den devianten Formen der Alltagsgestaltung verweisen. In der Repräsentation der Lebenswelt separieren, zerfasern und isolieren sich objektive Bedeutung und der subjektive Sinn umso mehr, wie das weite Erfahrungsfeld des alltäglichen Daseins auf eine einzige und einheitliche Erscheinungsform, die inhaltslose und unstrukturierte Gegend reduziert ist. Außerhalb dieses letzten Weltbereiches scheint sich keine näher bestimmbare Situation zu entfalten, die eine zeitliche, räumliche und soziale Gliederung aufweist (Schütz & Luckmann 1979: 133 ff.), die sich zu eigen machen ließe. So sehr die jungen Menschen versuchen, sich durch Landnahme neue Wirklichkeitsbereiche zu erschließen, damit sich in ihrem Leben eine fundierende, tragfähige Sinnstruktur ausbildet, so sehr löst sich die Situation immer wieder von den ins Auge gefassten Weltbezügen ab. In den mentalen Repräsentationsmodellen kommt es schließlich zu einer Überakzentuierung der Dichotomie von Erwachsenenwelt und Bahnhofswelt. Alle Basisinstitutionen und Sozialräume rücken immer weniger in den Gesichtskreis hinein, während die illegitimen Marginalbereiche am sozialen Rand zu privilegierten Regionen der Aufmerksamkeitszuwendung und Daseinsrealisation werden.
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Die Situation von Exklusion und Armut internalisiert sich derart in der kognitiv-affektiven Subjektivitätsstruktur, dass die jungen Menschen in der Weltvergegenwärtigung nur noch einen verengten Bereich an Lebens- und Handlungsoptionen in den Blick nehmen. Diese Entsubstantialisierung und Reduzierung der Erfahrungswelt konnte auf drei Ebenen beschrieben werden: a) die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen sind nicht in kognitive Wissens- und Erfahrungsbestände zu überführen; b) die ständige Aufhebung und Zerrüttung subjektiver Sinnsetzungen bewirken eine durchgreifende Verarmung und einen nachhaltigen Verlust an Bedeutsamkeiten, und c) mit dem Scheitern beim Aufbau von Weltbezügen weiten sich die Wirklichkeitsfelder mit negativer Affektbesetzung auf der kognitiven Landkarte zunehmend aus. Orientierungslosigkeit, Gleichgültigkeit und Vermeidung sind sowohl subjektive Folgen der objektiven Exklusionserfahrung als auch Dynamisierungsfaktoren der Flucht vor dem gesellschaftlichen Leben. Was sich auf der phänomenalen Ebene als Alltagstristesse erwiesen hat, bedeutet nicht weniger als eine über die Entsubstantialisierung des Repräsentationsfeldes vermittelte Zerrüttung der Welterfahrung. Orientierung lässt sich in dieser sinnentstrukturierten Welt nicht gewinnen.
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Im vorherigen Kapitel hat sich gezeigt, dass die verengte Opportunitätsstruktur im Zusammenspiel mit der Erfahrung des Gescheitertseins zu einer mentalen Abwendung von der Sozialwelt führt. Im psychischen Repräsentationsmodell blieben die »objektiven« Bedeutungs- und Verweisungsstrukturen sehr unzureichend verkörpert. Die Ausarbeitung der subjektiven Sinnperspektive wird nun fortgesetzt, indem das entsprechende Äquivalent zur Weltsicht, nämlich die Selbstsicht, zum Thema gemacht wird. Die alltägliche Erfahrung sozialen Ausschlusses wird daher nun auch im Hinblick auf die Formen untersucht, in denen sich die jungen Menschen durch die Bildung einer eigenen Identität als Person gegenüber der Sozialwelt verorten (Krappmann 1969: 31). Der Untersuchung wird dabei die Unterscheidung zwischen narrativer und evaluativer Selbstsicht zugrunde gelegt (vgl. Breakwell 1986: 12 ff.). Schon William James (1890) hat für die Sozialpsychologie auf die fundamentale Unterscheidung zwischen der Inhaltsdimension und der Bewertungsdimension von Identität hingewiesen. In den nächsten beiden Kapiteln wird damit die dritte Ebene – Identität/Selbstwert – des Subjekt-Integrations-Modells zum Thema. Zunächst werden die narrativen Identitätsformen beschrieben, wie diese typischerweise am Bahnhof vorzufinden sind. Im darauf folgenden Kapitel soll unter dem Leitfaden der Selbstwertproblematik dann das Augenmerk auf das Ineinandergreifen von Fremd- und Selbstbewertung unter dem Aspekt der Anerkennung gelegt werden. Die Aneignung und Überführung der Vielgestaltigkeit der biographischen Erfahrung in eine kohärente Lebensgeschichte stellt sich nicht nur bei den jungen Menschen als ein ganz praktisches Problem dar. Das Individuum muss sich zum Aufbau eines reflektierten Welt- und Selbstverhältnisses darüber vergewissern, worauf es sich im Leben verlassen kann, um daran seine Identität zu knüpfen. Es hat eine »Topologie des Selbst« zu erstellen, zu der es in Reflexion seiner biographischen Erfahrung gelangt.
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Markus & Cross (1990) fassen dies folgendermaßen: »The self-concept is viewed as multifaceted phenomenon – as a set of images, schemas, conceptions, prototypes, theories, goals, or tasks« (S. 577). In der Anschauung seiner selbst muss das Individuum damit auch zu einem Repräsentationsmodell des eigenen Selbst gelangen. Erst hierüber kann es seine eigenen Bedürfnisse, Interessen, Ansprüche bestimmen und diese in selbstbestimmter Weise ins Verhältnis zu den Forderungen der Welt setzen. »Eine gelungene Identitätsbalance bewirkt, daß das Individuum einerseits trotz der ihm angesonnenen Einzigartigkeit sich nicht durch Isolierung aus der Kommunikation und Interaktion mit anderen ausschließen läßt, und andererseits sich nicht unter die für sie bereitgehaltenen sozialen Erwartungen in einer Weise subsumieren läßt, die es ihm unmöglich macht, seine eigenen Bedürfnisdispositionen in die Interaktion einzubringen« (Krappmann 1969: 316). Wie man sich morgens beim Aufstehen in die zurückgelassenen Bedeutungs- und Verweisungsbezüge seiner personalen Identität vom Vortag wieder einfinden muss, um den Weg weiterzugehen, den man einmal begonnen hat, genauso muss man sich in seiner sozialen Identität vor anderen Menschen ausweisen können, um den eingenommenen Platz in der Gesellschaft auch künftig beanspruchen zu können. Die Identitätsbildung ist daher kein eitles Spiel privater Selbstbespieglung, sondern übernimmt zwei wesentliche Funktionen: psychische Selbstvergewisserung und soziale Selbstverortung. Die Aneignung der Vergangenheit zielt schließlich auf einer dritten Ebene, der Handlungsfähigkeit, darauf, sich auf eine Zukunft hin entwerfen zu können, die ihre Voraussetzungen und Bedingungen in der Gegenwart findet. Denn nach Habermas kann nur, wer seine Lebensgeschichte eigenverantwortlich übernimmt, die Verwirklichung seiner selbst anschauen und sich als zurechnungsfähiger Urheber seiner Handlungen darstellen (1981: 151). Diese drei Theorieachsen des Identitätskonzepts sollen im Folgenden begründet und expliziert werden, um diese der weiteren Untersuchung zugrunde zu legen: (a) Personale Identität: Der Frage nach der Grundlage für den Bildungsprozess einer gelungenen »Ich-Identität« ist Erikson (1973), obwohl er diesen Begriff in die Sozialwissenschaften eingeführt hat, nicht als erster nachgegangen. Dennoch hat er vielleicht mit am deutlichsten auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die das Individuum in der modernen Gesellschaft beim Aufbau einer stabilen, gehaltvollen Identität, um sich als souveränes, autonomes Handlungszentrum zu behaupten, zu meistern hat. Sicherlich ist das mittelständische Ideal westlicher Gesellschaften einer
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autarken, integrierten und sich selbst bekräftigenden Persönlichkeit, die es mit Haus, Heim und Familie zu etwas gebracht hat, worin sich sowohl die Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen sowie familiärer Pflichten reflektiert, durch ein bedeutend inkohärenteres, fraktionierteres, wandlungsfähigeres Modell abgelöst worden. Allein schon, um den ständig wechselnden Arbeitsmarktanforderungen gerecht zu werden, aber auch weil sich der Spielraum an expressiven Gestaltungsmöglichkeiten von Individualität erweitert hat, wird »Identität heute zu einem frei gewählten Spiel, einer theatralischen Darstellung des Selbst, in der man sich relativ unbesorgt über Verschiebungen, Transformationen und dramatische Wechsel in einer Vielfalt von Rollen, Bildern und Tätigkeiten präsentieren kann« (Wagner 1998: 54). Aber selbst wenn die gesellschaftlichen Anforderungsstrukturen einer reflexiven Moderne radikal veränderte Rahmenbedingungen der Identitätsentwicklung hervorgebracht haben, so müssen dennoch bei der Bildung eines personalen Welt- und Selbstverhältnisses zentrale Grundaufgaben gelöst werden. Das Individuum steht vor der Notwendigkeit, eine Identität auszubilden, die ein ausreichendes Maß an Kohärenz aufweist, sodass sich die diversen Erfahrungsfacetten, aus denen sich die Biographie zusammensetzt, zu einer übergreifenden Meta-Erzählung integrieren lässt (Keupp et al. 1999: 56 ff., Kraus 1996). Diese Sich-selbst-Gleichheit, die das Verschiedene zu integrieren weiß und sich darüber selbst immer wieder verändert, im besten Fall fortentwickelt, führt dann nicht notwendigerweise zu einem anthropogenen Opportunismus, wodurch die Möglichkeit zu Individualität und Selbstbestimmung verschwinden würde. Vielmehr lassen sich Entwicklung und Wachstum der Identität als eine Erweiterung der Integrationskapazitäten verstehen, sodass auch das Nicht-Identische in das reflexive Welt- und Selbstverhältnis hin aufgenommen werden kann. Erfahrungen, welche den in der Identität gründenden Antizipationen, Erwartungen, Dispositionen widersprechen, führen nämlich keineswegs zur einfachen Falsifikation des einmal gewonnenen Welt- und Selbstverhältnisses. Vielmehr lässt sich mit Piagets Modell der Akkommodation und Assimilation ein tauglicher Begriffsrahmen zur Beschreibung von kognitiven Entwicklungsprozessen heranziehen (vgl. Piaget & Inhelder 1986; Breakwell 1986: 23 f.). Neue Erfahrungen werden in Begriffe, Schemata und Kategorien assimiliert, bis diese auf Sachverhalte stoßen, die sich nicht mehr widerspruchsfrei in das bestehende Ordnungsschemata einbeziehen lassen. Ein neues Gleichgewicht zwischen Empirie und Begriff wird dann durch einen
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qualitativen Entwicklungsschritt, das heißt durch Akkommodation erreicht, indem auf einem höheren Abstraktionsniveau die bisherigen Begriffe, Schemata und Kategorien unter allgemeineren, stärker integrierten Gesichtspunkten neu geordnet werden (hierzu auch Loewald 1986: 34). Hierdurch gelangt das Individuum zu einem entwickelteren Verständnis des eigenen Selbst, dass seine Sich-selbst-Gleichheit bewahrt, indem es die Vielschichtigkeit und Mannigfaltigkeit seiner lebensweltlichen Erfahrung, die es in verschiedensten gesellschaftlichen Situationen macht, durch Ausdifferenzierung der eigenen Identitätsstruktur zum Ausdruck bringt. Eine stabile Ich-Identität geht von dem Gefühl biographischer Kontinuität aus, die über die narrative Auslegung des persönlichen Erfahrungshintergrundes selbst erzeugt werden muss (vgl. Sarbin 1986; Brockmeier 1999). Aneignung und Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte erfolgen durch den Aufbau einer narrativen Gesamtkonfiguration, die einerseits notwendig für die Sicherung der Kontinuität des Erlebens ist, indem jede Erfahrung auf das Cogito, dem »Ich denke« abgebildet werden kann. Andererseits differenziert sich diese Gesamtstruktur wiederum in einzelne Teil-Identitäten aus, um den Erfahrungsmöglichkeiten und Anforderungen der verschiedenen Lebenssphären, an denen das Individuum teilnimmt, gerecht zu werden (Bilden 1997: 247). Diese Gesamtkonfiguration muss damit offen genug sein, um auch die Vielfalt an Erfahrungen in ihrer Widersprüchlichkeit zu integrieren, zugleich aber geschlossen genug sein, um sich darin wiedererkennen und gegenüber anderen Menschen darstellen zu können (Giddens 1991: 54). Angesichts der Bezogenheit auf die sich ständig fortschreitende Lebenserfahrung erfordert Identität ein Bekenntnis zur Kontinuität der Lebensgeschichte, das immer wieder erneuert werden muss. (b) Soziale Identität: Sich über die narrative Ausgestaltung des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses inhaltlichen Aufschluss über die eigene Person zu geben, erfordert zudem auch, sich anhand einer kohärenten Lebensgeschichte über den in der Gesellschaft eingenommenen Platz versichern zu können (Sarbin 1997: 68 f.). Indem das Individuum sich über seine Biographie in der kommunikativ eingeübten Tradition und Lebenspraxis des Gemeinwesens zu verorten weiß, kann es seine rechtmäßige Mitgliedschaft begründen (Habermas 1976: 93 ff.). Durch die Unzweifelhaftigkeit der eigenen Zugehörigkeit lassen sich Unsicherheit und Angst zurückdrängen, ob man auch noch morgen einen Anspruch auf die Sozialräume hat, in denen der Alltag verankert ist.
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(c) Handlungsfähigkeit: Die Identitätsbildung hat aber nicht nur die sowohl psychische als auch soziale Funktion der Selbstvergegenwärtigung, sondern ist ebenso für die Bestimmung individueller Handlungsfähigkeit notwendig. »Wenn Handlungsfähigkeit in einem starken Sinne als Fähigkeit, sich seine Gesetze selber zu geben, verstanden werden soll, dann müssen Kontinuität und Kohärenz – und damit Identität – der Person vorausgesetzt werden« (Wagner 1998: 61). In der doppelten Bezüglichkeit von Welt und Selbst muss sich das Individuum gegenüber den gegebenen Möglichkeiten, Herausforderungen und Begrenzungen ständig selbst positionieren. Handlungsfähigkeit kann es nur wahren und erweitern, indem es eine realistische Balance zwischen den Forderungen des Lust- und des Realitätsprinzip hält. »Eine Person muss sich […] mit sich selbst identisch erleben, wenn sie zum Handeln fähig sein will. Dazu ist eine realistische Selbstwahrnehmung und eine positiv gefärbte Selbstbewertung Voraussetzung. Nur wenn diese Bedingungen gegeben sind, können unterschiedliche situative Anforderungen an das eigene Handeln und die Koordination der verschiedenen Handlungsanforderungen bewältigt werden« (Hurrelmann 2002: 99). Diese Herausforderung, Passgenauigkeit zwischen eigener Individualität und gesellschaftlichen Anforderungen zu erzielen, stellt sich insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihren Platz in der Gesellschaft erst noch finden müssen (Mey 1999: 107 f.; Fend 1988). Die postmoderne Identitätsproblematik radikalisiert sich aber noch einmal mehr für die jungen Menschen vom Bahnhof, weil von dem Abwärtssog der Exklusion auch die Identitätsbildung betroffen ist. Aus diesem Kampf um die eigene Identität können sie nicht unbeschadet hervortreten. Die sozialen Anforderungen an eine normgerechte Biographie und Lebensführung überspannen bei weitem die individuellen Integrationskapazitäten. Die Probleme, die sich in diesem Zusammenhang manifestieren, sollen nun auf allen drei Strukturebenen der Identitätsbildung untersucht werden: Zunächst wird unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz dargestellt, wie die Aneignung der Lebensgeschichte misslingt, weil sich die erfahrungsfundierten Identitätsschichten nur in einer sehr gebrochenen Weise zu einem Personenbild zusammensetzen lassen (1). Ebenso muss die soziale Zugehörigkeit fraglich und ungewiss bleiben, weil die biographische Erfahrung immer nur wieder auf den eigenen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben verweist (2). Angesichts des Identitätsverlusts ist eine Selbstverge-
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wisserung der eigenen Handlungsfähigkeit kaum möglich (3). Um die Identitätsbeschädigungen vor sich und anderen zu retuschieren, flüchten sich die jungen Menschen daher in pseudohafte Heldengeschichten, die aber wegen des fiktiven Realitätsgehalts dünn und brüchig bleiben (4). Abschließend werden die Widersprüchlichkeiten und Dilemmata dieser fragmentierten Identitäten bei der Erfahrungs- und Realitätsverarbeitung zusammengestellt (5).
1. Identität und Kohärenz Identität hat erstens die Aufgabe, sich über die Bildung einer kohärenten Lebensgeschichte als Person gegenüber dem eigenen Selbst und anderen ausweisen zu können. Die Formen dieser Sinnbildungen werden von Bruner (1997) im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Hermeneutik konzeptualisiert. Die Kohärenz der Identität entwickelt sich analog zum Geschichtenerzählen aus der narrativen Einordnung der einzelnen Erlebnisfragmente in den Gesamtzusammenhang einer sinnhaften, das heißt auf die Absichten des Aktors rückbezogenen Lebensgeschichte. »Eine Erzählung besteht aus einer einzigartigen Sequenz von Ereignissen, mentalen Zuständen und Geschehnissen mit Menschen als Charakteren oder Akteuren. Das sind ihre Konstituenten. Diese Konstituenten sind aber noch sozusagen ohne Leben oder ohne eigene Bedeutung. Sie gewinnen ihre Bedeutung erst aus ihrer Einordnung in die Gesamtkonfiguration der Sequenz als ganzer, aus der Handlungsstruktur (Plot beziehungsweise Fabula). Der Akt des Begreifens einer Erzählung ist ein zweifacher. Der Interpret muß die Handlungskonfiguration der Erzählung erfassen, um deren Konstituenten zu verstehen, die er wiederum auf die Handlungsstruktur beziehen muß [Hervorheb. i. O.]« (Bruner 1997: 60 f.). Wenn die Erzählung nun als der modus operandi begriffen wird, über den sich die Identität bildet, dann bewegt dieser sich in den Bahnen einer Dialektik, die zwischen dem Besonderen und Allgemeinen vermittelt. Die Identität fußt auf dem biographischen Erfahrungsschatz, der im Zuge seiner selektiven Aneignung auf die lebensgeschichtliche Kontinuitätserfahrung des Interpreten, das heißt auf das in der Alltäglichkeit seiner Lebenspraxis engagierte Subjekt zu beziehen ist (Schütz & Luckmann 1979: 133 ff.). Der Aufbau einer Kern-Identität ist also davon abhängig, inwie-
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weit es gelingt, dass der Biographieträger seinen Erfahrungsschatz, soweit dieser über die Erinnerung zugänglich ist, in eine kohärente Gesamtkonfiguration einordnen kann. Diese Identitätsbildung erfolgt aber nicht als maßstabsgetreue Rekonstruktion der Vergangenheit. Erinnern ist vielmehr ein höchst selektives Verfahren, das auf Sinngebung, damit Bewältigung der Gegenwart zielt, wie diese gemäß den praktischen Lebensherausforderungen hervortritt (Straub 1998: 128 f.). Die Vergangenheit soll also Orientierung für die Gegenwart bieten, indem man sich darüber vergewissern kann, wer man ist und welches Leben man führt. Die narrative Ausarbeitung einer Kern-Identität scheitert am »Bahnhof Zoo« an der biographischen Problemdichte. Die jungen Menschen finden sich bei der Bestimmung ihres Welt- und Selbstverhältnisses in dem Dilemma wieder, zwischen zwei Möglichkeiten wählen zu müssen, die beide wenig zur Ausbildung einer integrierten Identität beitragen können. Werden die Erfahrungsfragmente der Missachtung und des Scheiterns, die Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben typischerweise geprägt haben, zu einer kohärenten Lebensgeschichte zusammengesetzt, dann würde dies angesichts der negativen Erfahrungsdichte gerade vor dem Hintergrund der kulturellen Exklusion schnell dazu führen, sich nur noch als dieser missachtete und ausgeschlossene Mensch sehen zu können. Dem steht die Alternative gegenüber, alle Ereignisse, die potentiell identitätsschädigenden Charakter haben, in der Erinnerung auszublenden, vorbewusst zu halten, sich mit den Erlebnisinhalten nicht offen auseinanderzusetzen. Die Herausforderung trotz der biographischen Brüche zwischen diesen beiden Möglichkeiten changierend eine kohärente Identität aufzubauen, muss die jungen Menschen umso mehr überfordern, wie eine Fluchtperspektive aus der allgemeinen Misere nicht greifbar wird. Dieses Ineinanderreflektiertsein der allgemeinen Metaerzählungen und der einzelnen Erlebnisfacetten, als dem Basisprozess der identitären Kohärenzentwicklung, bietet den jungen Menschen gerade nicht jenen egologischen Sinnzusammenhang, indem sie sich selbst entdecken können. Es gelingt einfach nicht mehr, die Erfahrungen des Scheiterns und der Scham in eine übergreifende Metaerzählung zu integrieren, vielmehr, wie sich gleich zeigen wird, kommt es zur Fragmentierung der Identität. Die unzureichende Ausbildung von Kohärenz in der Identität bringt für die jungen Menschen notgedrungen eine existentielle Verunsicherung auf zwei Dimensionen mit sich: auf der Inhaltsachse und auf der Zeitachse.
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Bruner verortet die Kraft zum Erzählen in einer Alltagspsychologie, die darauf gerichtet ist, eine »reziproke Beziehung zwischen den wahrgenommenen Zuständen der Welt und den eigenen Wünschen, die einander wechselseitig beeinflussen«, zu konstituieren (1997: 57). Auf der inhaltlichen Ebene ist die Identitätsarbeit damit auf eine Integration von Lustund Realitätsprinzip gerichtet (Freud 2000/1920). Damit ist die Lebensgeschichte Resultat einer narrativen Welt- und Selbstauslegung, in der die beiden Pole, das Ich und die Welt, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Inhaltlich entwickelt sich die Kohärenzbildung der Identität entlang der Integration von weltlichen Tatbeständen und Ereignissen, wie diese aus der individuellen Perspektive hervortreten, und der intentionalen Bezugnahme auf die Welt, den persönlichen Absichten, Wünschen, Bedürfnissen und Interessen. In dem hermeneutischen Zirkel, der zunächst zwischen dem Allgemeinen der Identitätskonfiguration und dem Besonderen der biographischen Erfahrungsfragmente vermittelt, arbeitet sich die Identität auch am inhaltlichen Material rund, indem immer wieder die verschiedenen Bedeutungen der Welt in einem interpretativen Anpassungsprozess ins Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen und Interessen gebracht, vor- und rückübersetzt werden, bis diese in eine möglichst konvergente und kongruente Prägnanzfigur eingearbeitet sind. Den jungen Menschen jedoch misslingt die Herausarbeitung jener Prägnanzfiguren durch eine kanonische Vermittlung von Welt- und IchZuständen schon vom Ansatz her. Die Bahnhofsgänger müssen erkennen, dass der subjektive Pol, das sich in Form von Bedürfnissen und Interessen gestaltgebende Lustprinzip gegenüber den Forderungen der Realität, wie diese sich in Familie und Gesellschaft artikulieren, nicht viel zählt. Die Eltern haben sich gleichgültig und unbarmherzig verhalten, indem sie weder die Liebes- und Zuwendungsbedürfnisse noch die Lebensansprüche der jungen Menschen anerkannt haben. Die Übermacht der häuslichen Realität lässt die jungen Menschen in ihrem Schmerz und ihrer Wut allein zurück. Eine Beschäftigung mit der unaufgearbeiteten Vergangenheit droht damit auch alle erschütternden, schmerzhaften Gefühle wiederzubeleben. Zweitens ist die überdeterminierte Exklusionslage das Ergebnis einer fortgesetzten Aneinanderreihung von misslungenen Handlungsentwürfen und vergeblichen Sozialintegrationsversuchen, sodass die jungen Menschen immer weiter in die Marginalbereiche des sozialen Randes abgedrängt werden. Angesichts der Verletzungen, Kränkungen und Demütigungen, die hinter dieser »Kumulation des Scheiterns« stehen, setzen sich die jungen
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Menschen mit den eigenen Fehlschlägen nur selten explizit auseinander. Die Übermacht der außerhäuslichen Realität kann sich kaum deutlicher als an dem Lebensweg dokumentieren, auf dem die jungen Menschen zum Bahnhof gelangt sind: das Versagen in der Schule, die Stigmatisierung als leistungsschwacher und sich verweigernder Schüler, der Ausschluss von der Arbeitswelt, das Angewiesensein von Sozialleistungen. In der Identitätsarbeit stellt sich nun die Herausforderung, dass dieses Entgleisen einer Normalbiographie nur schwer unter Einbezug von strukturellen Bedingungen zu erklären ist, weil man es stets selbst ist, der hier gescheitert ist, wo andere erfolgreich ins Leben treten. Trotz aller guten Vorsätze gelingt es noch nicht einmal, sich aus der Bannkraft und den Fesseln des Straßenlebens zu befreien und in ein neues, besseres Leben aufzubrechen. Neben den strukturellen Problemen – familiäre Sozialisation und Exklusion – sind es drittens aber auch kleinere und größere Schicksalsschläge, die den jungen Menschen umso eher zustoßen, wie sie in ihrer Lebensbewältigung angesichts der Ressourcenarmut vollkommen unabgesichert dastehen. Dies kommt in den sich häufenden Verlust- und Gewalterfahrungen im Kontext von Obdachlosigkeit und Prostitution zum Ausdruck, von denen die Bahnhofsgänger gerade mit wachsender Dauer sozialer Randständigkeit betroffen sind. Die Vergegenwärtigung des biographischen Problemhorizonts geht ausgelöst durch weitere Misserfolge dann oftmals in eine psychische Krise über. Claudia, die ich am Bahnhof treffe, erzählt mir in Tränen aufgelöst, dass sie wieder einmal am Ende sei. Sie sei rückfällig geworden, nachdem sie gestern Nacht im Tiergarten vergewaltigt worden sei. In der letzten Zeit habe sie eigentlich wieder Zuversicht gewonnen, die Heroinsucht nun endgültig hinter sich lassen zu können. Sie habe gerade in eine bessere Wohnung umziehen wollen und zudem einen Praktikumsplatz in Aussicht gehabt. Sie frage sich nun wieder, ob sie jemals mit ihrer Vergangenheit abschließen könne, gerade weil sich ihr durch die Vergewaltigung die vielen Kindheitserinnerungen an den Missbrauch durch den Vater wieder aufdrängen. Sie habe eigentlich gedacht, dass sie in den letzten Jahren ihre Kindheitserfahrungen verarbeitet habe. Doch jetzt wisse sie angesichts der Angst, Verzweiflung und Schmerzen weder ein noch aus. Als der zweiten Quelle existentieller Verunsicherung – neben der Erfahrung des Scheiterns und Ausgeliefertseins – findet sich die lebensgeschichtliche Diskontinuität auf der Zeitachse. Die Kohärenz der Identität muss auch von daher zerspringen, weil das zeitliche Bewusstsein sich nicht
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anhand des Aufbaus einer Reihe von diskreten Momenten bestimmen kann, in der jede neue Erfahrung auf den bisher gemachten Erfahrungshintergrund bezogen wird, um darüber eine auf der zeitlichen Dimension verbindliche Narration zu erzeugen (Giddens 1991: 53). Umso löchriger nun diese Erzählung durch die Ausblendung und Verdrängung von einzelnen Lebensepisoden wird, desto schwieriger ist es, sich in seiner Identität selbst zu begründen und auszuweisen. Zum Zusammenbrechen der Identitätskonstruktionen kommt es besonders dann, wenn sich durch die Wiederkehr des Verdrängten die narrativ nicht angeeigneten Lebensereignisse zu verselbständigen drohen. Erikson hat diesen eklatanten Mangel an einem konsistenten Gefühl biographischer Kontinuität als Ich-Diffusion beschrieben: »Es ist eine Zersplitterung des Selbst-Bildes eingetreten, ein Verlust der Mitte, ein Gefühl von Verwirrung und in schweren Fällen die Furcht vor völliger Auflösung« (1973: 154). Die bis in die Gegenwart hineingreifende Erfahrung, durch externe Ereignisse überwältigt und entfremdet zu werden, resultiert damit auch aus dem ganz subjektiven Umstand, dass es kein selbst vergewisserndes Biographienarrativ gibt. Es gibt hier keine erfolgreiche Lebensgeschichte, welche die eigenen Missgeschicke balancieren könnte. Jederzeit kann die Welt aufbrechen, jedes notdürftig angelegte Fundament zertrümmern, damit den Boden unter den Füßen entreißen. Von einem solchen Moment der existentiellen Verunsicherung berichtet Hüseyin, dessen Identifikation, Kind seiner Eltern zu sein, nach einem Streit mit dem Vater zusammenbricht: »… also da hatt mich dann// mein Vater dann rausgeschmissen. … Er meinte: ›Ich hab keinen Sohn, der Hüseyin heißt‹ und// ((murmelnd:)) Ja. … ›und komm nich mehr hier her‹. Am nächsten Morgen war ich dann doch da, hat mein Vater Tür aufgemacht un … meine Sachen in die Hand gedrückt. Ja. Un dann … konnt ich dann gehn. … Dann dacht ich, die Welt stürzt auf mein Kopf. ((schnauft leise)) Ja, war ich … total TRAUrig un hab dann geheult, … im Park gesessen, ah, was mach ich nur?«
2. Identität und soziale Zugehörigkeit Der Identitätsbildungsprozess hat eine zweite Aufgabe zu leisten, nämlich für eine Versicherung der eigenen Zugehörigkeit zur eigenen sozialen Lebensgemeinschaft zu sorgen. Identität darf nicht als bloßes Resultat einer
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spielerischen, reflexiven Selbstauslegung verkürzt werden, sondern hierüber vergewissert sich der Einzelne seiner Position und Rolle innerhalb der Gesellschaft. Tajfel bringt diese soziale Seite der Identität auf den knappen Nenner: »… social identity will be understood as that part of the individuals’ self-concept which derives from their knowledge of their membership of a social group (or groups) together with the value and emotional significance attached to that membership« (1982: 2). Das biographische Ausgangsmaterial ist auch hier nichts anderes als die im Rahmen individueller Lebenspraxis gewonnenen Erfahrungen. Darin ist schon immer das Verhältnis des Individuums zu seiner Sozialwelt als Zentralthema eingelassen. Denn die biographischen Erfahrungen stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den sozialen Positionen, die der Einzelne über die eigene Lebenszeit hinweg in der Gesellschaft eingenommen und durchlaufen hat. Der Name, den eine Person trägt, erlangt seine Bedeutung über das soziale Umfeld, über die soziodemographischen Merkmale, seinen Beruf, seine Zeugnisse und amtlichen Dokumente (Bourdieu 1990). Identität lässt sich daher nicht ohne weiteres abschütteln oder nach täglich wechselnden Launen ändern, sondern wird über die wechselseitige Erwartungshaltung und die Zuschreibungsformen der sozialen Umwelt strukturiert. Weltverortung ist aus diesem Grund nicht als rein kognitive Leistung zu vollziehen, die durch das Kohärentarbeiten persönlicher Erfahrungen zu erreichen ist. Die soziale Identität muss vielmehr zweierlei leisten: Einerseits den Identitätsträger ausreichend über seine Position in der Sozialwelt, darin erschlossenen Möglichkeiten, Horizonte und Perspektiven orientieren, andererseits auch das Verhältnis zu seinen Mitmenschen begründen. Die durch narrative Bildungsprozesse erarbeitete Identität ist daher immer auch an die soziale Außenwelt adressiert, dabei aber nicht allein um sich der Wertschätzung und Zuneigung des sozialen Nahfeldes, sondern um sich in umfassender Weise seiner Sozialintegration zu versichern. Die Bahnhofsgänger stehen bei der Vergewisserung ihrer sozialen Zugehörigkeit vor dem Dilemma, dass sich aus dem sozialen Abseits heraus nur wenige Identität verbürgende Metaerzählungen entwickeln lassen, die mit gesellschaftlicher Anerkennung rechnen können. Es sind gerade jene Identitätsperspektiven, wie diese sich in der modernen Gesellschaft anhand der dreigeteilten Lebenssphäre von Arbeit, Familie und Freizeit herauskristallisieren, auf welche die jungen Menschen zur Selbstdarstellung nur sehr eingeschränkt zurückgreifen können. Vielmehr aber noch sind auch sie mit der Herausforderung konfrontiert, dass die modernen Selbstdar-
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stellungsformen, wie dies unter dem Stichwort der »Patchwork-Identitäten« verhandelt wird, zum selbstverantwortlichen Projekt werden (Keupp 1988; Giddens 1995: 155; Harré 1983; Kraus 1996: 164 ff.). Bei der selbstreflexiven Aneignung ihrer Biographie haben die jungen Menschen gar keine andere Wahl, als sich bei der narrativen Entwicklung eines personalen Selbstverständnisses jenen Lebensfeldern zu bedienen, mit denen ihr Alltag aufs Engste verknüpft ist (vgl. Keupp & Bilden 1989; Gergen 1996). Es bleiben einzig marginale Themenfelder sozialer Randständigkeit zur Selbstvergewisserung übrig, wenn etwa Franziska als Einstiegserzählung von ihren ersten Kontakten zum Bahnhof berichtet: »Ähm, ja wie bin ich dort hingekommen? Also zuerst hab ich ein Jahr lang vorher in Potsdam gewohnt in … so’m Jugendhaus namens OASE. ((lacht kurz auf)) Und ähm … ja, da hatt ich auch die ersten … großen Kontakte, was Drogen betrifft, also Kiff. Und ähm … ja, irgendwann dann nach’m Jahr bin ich da raus, und, ja, die Connections so// also dann bin ich wieder nach Berlin zu meinen Eltern, und, ähm, die große Connection, wo man halt Dope herkriegt, war halt in Berlin gleich null ((lacht)) noch. […] Und ähm … ja … dann dacht ich mir so hm, am Breiti gibt’s halt viele Punks und so, die kiffen mit Sicherheit auch. […] Und ähm … ja, dann war ich halt da. Und dann dacht ich so, hey, okay, (paffste) jetzt erstmal einen, hab dann noch jemanden mit eingeladen. Und … ja, irgendwann bin ich dann … also zwei, drei Tage später war ich dann wieder da und dann … blieb ich.«
Sicherlich können die jungen Menschen auf einen größeren Fundus an differenzierten Bereichsidentitäten zur narrativen Selbstdarstellung zurückgreifen, aber diese sind alle mit dem Makel versehen, dass die Bezüge zu den illegitimen, straßennahen Sozialräumen des sozialen Ausschlusses nur schwer zu umgehen sind. Jugendhaus, Drogen-Connection, Dope, Kiffen, Punkerszene sind keine legitimen Bereiche, auf denen sich eine sozial anerkannte Lebensgeschichte aufbauen ließe. Das Ich als ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste (Bilden 1997) verdichtet sich hier unter dem Druck der brüchigen Sozialintegration hin zu einer Identität, durch welche die jungen Menschen als Bahnhofsgänger auf die Position und Rolle der Ausgeschlossenen und Stigmatisierten festgeschrieben sind. Denn letztlich ist es der gesellschaftliche Metadiskurs, der darüber entscheidet, was als legitime Identitätsnarration gelten kann. Indem den Bahnhofsgängern die Position des gesellschaftlichen Außenseiters zugewiesen wird, bleibt mit der Zugehörigkeit auch die Teilhabe an der Gesellschaft dauerhaft in Frage gestellt – ob als Hartz-IV-Bezieher, Obdachloser, Alkoholiker oder Straßenkind.
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3. Identität und Handlungsfähigkeit Identität zielt drittens auf eine rekonstruktive Auslegung des eigenen Inder-Welt-Seins, um über die Versicherung von Handlungsfähigkeit die eigenen Möglichkeiten und Beschränkungen, mit denen das Ich bei seiner Realisierung in der Lebenswelt konfrontiert ist, bestimmen zu können. Neben dem Problem der Ausbildung von Kohärenz wird die Identität auch dadurch beschädigt, dass sich einzelne Lebensereignisse und -episoden nicht auf eine selbst entworfene Lebensplanung rückbeziehen lassen. Ohne in der Lage zu sein, eine in sich stimmige Lebensgeschichte erzählen zu können, muss auch die Möglichkeit einer selbständigen Lebensplanung in Zweifel gezogen werden. Vielmehr bleibt den jungen Menschen angesichts ihrer Deplatzierung an den sozialen Rändern gar nichts anderes übrig, als ihre Lebensgeschichte zuerst unter Bezug auf die große Anzahl misslungener Handlungsversuche zu rekonstruieren. Der Identitätsverlust kommt darin zum Ausdruck, dass mit schwindendem Einfluss auf den Lebensweg die jungen Menschen sich nicht mehr als maßgebliche Gestalter der eigenen Biographie erfahren können. Umso mehr sich nun die Realbiographie der narrativen Einordnung in eine sinnhafte Lebensgeschichte widersetzt, desto schwieriger wird es auch, sich als Handlungs- und Intentionalitätszentrum darstellen zu können. Einerseits verwandelt sich die Außenwelt in eine ständige Bedrohung und Gefahr, weil der Zufälligkeit der eigenen Situation, solange diese außerhalb des persönlichen Verfügungs- und Einflussbereichs liegt, nicht zu entkommen ist. Andererseits fällt die Innenwelt in sich zusammen, weil alle Sinnsetzungen und Weltbezüge, anhand deren sich die jungen Menschen als handlungsmächtige Subjekte bestimmen können, immer wieder zergliedern und zerfasern. Die Unfähigkeit, sich ein schützendes Gehäuse der Selbstvergewisserung und Selbstintegrität zu bauen, muss auch hier zu einer tiefen Verunsicherung und Verängstigung beitragen. Am Bahnhof finden sich vor allem drei Identitätsstrategien, um der sich aufdrängenden Einsicht die Brisanz zu nehmen, dass sich die eigene Subjektivität keineswegs als die hoheitliche Instanz erweist, die sich gegenüber den existentiellen Herausforderungen des Lebens ihre Handlungsfähigkeit behaupten kann: a) Unter-Beweis-Stellung von Handlungsfähigkeit durch Realitätsverleugnung, b) Aufgabe der Handlungsfähigkeit durch Rückzug von der Realität und c) Partialisierung der Handlungsfähigkeit durch Ich-Spaltung.
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(a) Franziska stellt sich im Interview als ein Mensch dar, der sich unablässig durchzusetzen weiß und beständig alles im Griff behält. In ihren Erzählungen kann sie sich dramaturgisch immer ins rechte Licht setzen. Alle Schwierigkeiten und Konflikte, die in den unterschiedlichsten Situationen auftreten, werden schließlich von ihr überwunden, indem sie im entscheidenden Augenblick das Richtige tut. Die Eskalation der Beziehung mit ihrer Mutter wird mit dem drohenden Wohnungsverlust nicht als elementare Bedrohung ihrer Handlungsfähigkeit beschrieben, sondern die Situation löst sich dadurch auf, dass sie schließlich wieder die Handlungsinitiative übernommen hat: »… weil ich halt von meiner Mutter rausgeschmissen worden bin mehr oder weniger … beziehungsweise selber gegangen bin.« Jede dieser Teilnarrationen, in denen sie mir im Interview einzelne Situationen beschreibt, erlangt trotz allen Problem- und Konfliktpotentials immer diese individualistische Auflösung, dass sie sich nicht unterkriegen ließ, sondern die Oberhand behielt. Nachdem sie mehrmals zwischen Elternhaus, Kriseneinrichtungen, Jugendheimen und Unterkünften bei Freunden gewechselt ist, wendet sich Franziska infolge eines weiteren Streites mit ihrer Mutter, wodurch sie eine Nacht auf der Straße verbringen musste, erneut ans Jugendamt: »Und ähm … ja, und dann bin ich halt früh morgens gleich zum … Jugendamt und meinte so: ›Ey, Leute, ich brauch was Neues.‹ Und ähm … dann sollt ich zuerst zum Kindernotdienst … oder zum Jugendnotdienst. Und ähm … da wollt ich absolut nich hin.« Sie kann mit ihrer ablehnenden Haltung die Sachbearbeiterin schließlich überzeugen, sodass ihr eine weitere Einrichtung angeboten wird: »Und dann dacht ich mir so, hey, okay, was haben die da anzubieten? Pferde. Ich so, alles klar. ((lacht)) Pferde, auf jeden Fall. Und dann bin ich jetzt … dort HIN.« Mit einem Fuß in der Obdachlosigkeit ist Franziska nicht wirklich darüber besorgt, ob sie auch kurzfristig eine Unterkunft bekommen kann, sondern formuliert zunächst ihre Ansprüche: »… was haben die da anzubieten.« Und nachdem sie sich einmal der Pferde wegen für die Einrichtung entschieden hat, scheint sie nichts mehr aufhalten zu können, kein komplizierter Verwaltungsakt, keine Kostengenehmigung, keine Prüfung der Hilfebedürftigkeit, kein Abwägen von kostengünstigeren Alternativen durch das Jugendamt; sie entscheidet sich für die Pferde und bekommt sie. Indem Franziska vermittels dieser Identitätskonfiguration selbstsicher durch alle Situation zu navigieren weiß, wird die existentielle Infragestellung ihrer Handlungsfähigkeit infolge des Wegbrechens von Handlungsspielräumen gar nicht erst sichtbar. Dennoch wirkt die expres-
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sive Selbstbehauptung, wie diese in ihren Erzählungen hervortritt, in keiner Weise fingiert oder vorgetäuscht. Sie geht einfach davon aus, dass alle Entwicklungen in ihrem Leben letztlich auf ihre Entscheidungen zurückgehen. Wenn sich die Situation wieder einmal als übermächtig erweist, entflieht sie den ganzen Schwierigkeiten und Konflikten, indem sie sich mit der Realität erst gar nicht ernsthaft befasst. So geht sie, nachdem sie gerade von den Eltern auf die Straße geflohen und in einem Notübernachtungsheim untergekommen ist, zurück zur Familie, weil sie sich in der Einrichtung nicht den dort herrschenden Spielregeln unterordnen will: »Und … was mich auch angekotzt hat, also ich durfte kein’ Besuch empfangen, weil’s halt anonym is und … dann, weiß ich nich, hab ich halt gesagt so// also hatt ich’n Streit mit irgend ei’m, ich glaub, das war mit Conny, also mit der ein’ Betreuerin, … und ähm … ja, dann hab ich meine Mutter angerufen: ›Ey, holt mich ab, ich kann nich mehr.‹« (b) Sven macht sich zur Vermeidung einer fortgesetzten Beschädigung seiner Identität eine Strategie zu eigen, die darauf zielt, sich über die Preisgabe aller Ansprüche auf Handlungsfähigkeit überhaupt nicht mehr als Intentionalitäts- und Handlungszentrum behaupten zu wollen. Aus dem versagenden Realitätsprinzip können sich dadurch erst gar keine Enttäuschungen ergeben. Während Franziska ihren Lebensweg von einem Siegeszug zum anderen steuert, indem sie entweder ihre Vorstellungen und Wünsche durchzusetzen weiß oder sich trotzig gegenüber den Zumutungen der Realität zurückzieht, versucht Sven einen geraden Schlussstrich zu ziehen. Sven entwirft sich als eine Person, die eigentlich nur noch zufriedengelassen werden und ihre Ruhe vor dem Leben haben will: »Und ja, … wie sah n Tag aus? Hm morgens bin ich// … bin ich los und hab mir Geld besorgt und so nachmittags so ab fünfzehn Uhr so … war das eigentlich immer so, dass ich dann am Zoo war und … st// weiß nich, hab … mich mit den Leuten dann unterhalten und hab mir meine andern Sachen besorgt, die ich brauchte.« Sven weicht vor der Welt zurück, indem er seine Lebenskreise auf das Notwendigste beschränkt. Seine Situation ist kein expansiv zu erschließender und zu erweiternder Handlungsraum, sondern nur noch ein unlösbares Schicksal, eine zu tragende Bürde. Und dennoch wird durch diese Strategie der Identitätsarbeit eine zumindest symbolische Rettung seiner Person möglich. Denn die Welt, die sonst für die Beschädigung der eigenen Identität sorgt, lässt sich kaum radikaler abqualifizieren, als dass man dieser jeden Wert aberkennt, weil man sich auf diese erst gar nicht mehr beziehen will. Sven: »… vielleicht war’s ja so, dass ich einfach
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nach der Schule … einfach kein’ Bock mehr auf Lehrer und so hatte … und einfach gar nichts mehr Bock hatte, einfach nur noch Leben wollte, … also so … einfach mal frei sein. Vielleicht wollt ich einfach so für ’ne gewisse Zeit dann einfach nur FREI sein … und alles verGESSen, was war, so Schule und so.« (c) Oliver versucht in der Identitätsarbeit, sich und andere davon zu überzeugen, dass sein »wirkliches Ich«, mit dem er sich identifiziert, um die Probleme und Fehler weiß, in die sein »gescheitertes Ich« verstrickt ist. In seinen nüchternen Beschreibungen zeichnet er ein Bild seiner Situation, in dem er zwar als realer Mensch vorkommt – als Erzähler steht er dieser Person aber weitgehend äußerlich gegenüber: »… ick hab keene Hilfe irgendwo in Anspruch jenommen, aber warum nich und wieso weeß ick selbst nich. Und bin immer halt der Meinung jewesen, ick selbst ick schaff det nich und da is keener, der mir helfen tut halt oder so. Ick bin nur für mich irgendwie da jewesen. Und ick hab selbst keen Ausweg jesehn, wie ick det schaffen kann, da irgendwie mit mir wieder klar zu kommen halt. /I.: Hm/ Und halt dadurch die krassen Suizidjedanken und so wat allet.« Die Rettung der eigenen Identität wird hier über eine narrative Ich-Spaltung möglich, indem eine (Rest-)Identifikation bei gleichzeitiger Distanzierung von den inakzeptablen Persönlichkeitsanteilen möglich wird. Er nimmt die Identität desjenigen an, der um die Verwerfungen und Fehlschläge, an die sein gescheitertes Ich schicksalsgleich gebunden ist, weiß. In dieser reflexiven Einstellung, kann er sich von sich selbst zurückziehen und das eigentliche Ich als tadellose und integere Person auftreten lassen. Oliver entscheidet sich also gegen das wahre Ich, das handelnd in der Welt engagiert und einer ständigen Identitätsbeschädigung ausgesetzt ist, während das eigentliche Ich weitgehend passiv und gelähmt den ständigen Fehltritten zuschauen muss, aber sich gerade durch Aufbau der kognitiven Distanz aus dem ganzen Malheur herauszuhalten versucht. Dennoch gelingt es ihm gerade darüber, in einzelnen Situationen seine Handlungsfähigkeit zu behaupten, indem er von seiner evaluativen Beobachterposition, quasi von außen, in das Verstricktsein des gescheiterten Ich korrigierend in den Wust an Problemen eingreifen kann: »Ick war vierzehn Tage von allet weg jewesen uff eenmal so, also ick hab nischt mehr jetrunken jehabt und so, … also wollt det von mir selbst halt nich wa.« Eine Selbstvergewisserung der eigenen Handlungsfähigkeit wird durch diese drei kompensatorischen Strategien der Identitätsarbeit nur teilweise möglich. Während die Biographie zeigen muss, dass ein umfassender Ein-
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fluss auf die eigene Lebenslage kaum geltend zu machen ist, wird es über die narrative Ausgestaltung der Lebensgeschichte möglich, die identitätbeschädigenden Konsequenzen dieses Ausgeliefertseins an die Realität einzugrenzen. Entweder werden die Ansprüche des Realitäts- oder des Lustprinzips wenn nicht außer Kraft gesetzt, so doch reduziert, oder die jungen Menschen treten in kritischer Distanz zur eigenen Person, indem sie sich ein zweites, unberührtes und schuldloses Ich schaffen, das die Verstrickungen der biographischen Realperson kritisch aufzeigt und kommentiert. Und dennoch muss in allen Fällen die Übermächtigkeit des Ausschlussszenarios – wie Burke zeigt – einen Verlust an Identität nach sich ziehen. »Such lack of effect of the individual’s behaviour on the situation would also be associated with the loss of identity, or the loss of a sense of self« (1991: 841).
4. Heldengeschichten des Alltags Uwe gehört nicht zu den regelmäßigen Bahnhofsgängern, kommt immer wieder für kürzere Episoden zum Bahnhof, bis er wieder wegbleibt, weil sich ihm ein neuer Freundeskreis eröffnet, er sich in eine neue Bekanntschaft verliebt hat oder sich sein Leben wieder auf den Konsum von Drogen fokussiert. Er besitzt eine ungeheuere Kunstfertigkeit, Geschichten zu erzählen, in deren Bann er uns sicher hineinzuziehen weiß, die oftmals absonderlich und abenteuerlich klingen, ohne dass diese aber als Aufschneiderei, Räuberpistole, reine Fiktion zu erkennen wären. Seine Geschichten sind einerseits konsistent genug und weisen einen ausreichenden Detaillierungsgrad auf, um skeptischen Infragestellungen, ob das alles so stimmen mag, mit einer Geste der Empörung begegnen zu können, gleiten andererseits immer wieder leicht ins Phantastische hinüber, wenn er sich in den heldenhaften Schilderungen seiner kleinen Alltagseskapaden verliert. Es gibt kaum eine Begegnung, in der er nicht eine neue »Story« zu erzählen hat, die gelegentlich den unabgeschlossenen Erzählfaden eines vorangegangenen Zusammentreffens weiterführt, meistens aber von bisher unverbrauchten Begebenheiten zu berichten weiß, in die sein Alltag verstrickt ist. Als Uwe wieder einmal auf mich zukommt, drückt er mir die Hand und erzählt mir ohne weitere Begrüßung, als ob wir alte Bekannte wären, dass er sich vor einigen Tagen eines jungen Mädchens angenommen habe, Ja-
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nine, das er vor einer Woche hier am Bahnhof kennen gelernt habe. Nach einem längeren Gespräch habe sie eingesehen, dass der Bahnhof für ein siebzehnjähriges Mädchen viel zu gefährlich sei. Die Mutter sei auch sehr dankbar gewesen, nachdem er sie zu Hause abgeliefert habe, und habe ihn gebeten, sich ein wenig im ihre Tochter zu kümmern. Aber seit ein paar Tagen sei er auf der Suche nach Janine, weil diese wieder ausgebüchst sei. Er gibt mir zu verstehen, dass er keine Beziehung mit ihr habe, sich vielmehr in der Verantwortung eines großen Bruders sehe. Ohne dass ich die Redlichkeit seines Tuns überhaupt in Zweifel gezogen habe, scheint Uwe mich von der Anständigkeit und Uneigennützigkeit seiner Absichten überzeugen zu wollen. Die Sache sei deshalb so dringlich, weil Janine ihn noch vor ein paar Tagen beauftragt habe, dass er unter allen Umständen nach ihr suchen solle, falls sie einmal nicht wieder auftauche. Die Geschichte gewinnt eine Dramatik, die weit über das am Bahnhof übliche Sich-aus-denAugen-Verlieren hinausgeht. Hier kann Uwe nun die Rolle wahlweise des Retters und Helden als auch des verständigen Sozialarbeiters einnehmen, der dem Mädchen in verlässlicher Weise beisteht. Gerade vor dem Hintergrund der sonst am Bahnhof so verbreiteten Unverbindlichkeit muss es Uwe natürlich auszeichnen, in dieser selbstlosen Geste zu seinem Wort zu stehen und diesem »verlorenen« Mädchen in der offensichtlichen Not zu helfen. Eine wohlgeformte Erzählung entfaltet ihre Narrationsstruktur entsprechend eines dem griechischen Heldenmythos gleichkommenden Dramatismus, welcher der Identität ihre Stabilität geben soll (vgl. Gergen & Gergen 1988: 20 ff.). Bruner sagt dazu: »Gut gebaute Geschichten bestehen nach Burkes Auffassung aus fünf Elementen: aus einem Akteur, einer Handlung, einem Ziel, einem Schauplatz und einem Instrument – plus Schwierigkeiten. Schwierigkeiten ergeben sich aus einem Ungleichgewicht zwischen jedem dieser fünf Elemente« (1997: 67; vgl. auch Burke 1945: xvii). Im Mittelpunkt zumindest westlicher Narrationen steht der Held, zumeist die Person des Erzählers, der durch Schwierigkeiten herausgefordert wird, die es zu lösen gilt. Das Ziel besteht darin, durch geschicktes Handeln die Schwierigkeiten, die den rechten Weg versperren, wieder aus der Welt zu schaffen, um die Geschichte entlang des Spannungsbogens zu einem guten Ende zu führen (Gergen 1998: 172 f.). Durch die geeignete Wahl des Mittels kann der Akteur die Gunst des Schicksals auf seine Seite ziehen. Die Geschichte erzählt damit von der Integrität des Handelnden, der dem inneren Ruf zur Tat nicht ausweicht, um die Unentschiedenheit
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der Situation in die richtige Richtung zu lenken, die auf die Herstellung einer guten und gerechten Welt zielt. Es ist nicht die von Uwe erzählte Geschichte an sich, die mein Misstrauen weckt, ob es sich um die Darstellung in sich stimmiger, überprüfbarer Tatsachen handelt, sondern der weitläufige moralische Subtext, der sich den populären Inszenierungsformen klassischer Film- und Buchgenres bedient. Am Bahnhof sind die Erzählungen oftmals durch ein ungeheures Bedürfnis motiviert, unter Beweis stellen zu können, Angehöriger der legitimen Sphären der sozialen Welt zu sein, dessen Existenz der eigenwilligen Dramatik persönlicher Handlungsentscheidungen folgt. Das leere Dahintreiben der Alltagstristesse am sozialen Rand bietet nur wenige Möglichkeiten, um sich als kompetenter Akteur, als guter Mensch und als ernst zu nehmende Person darstellen zu können. Würde Uwe nicht in dieser abenteuerlichen Geschichte engagiert sein, dann würden alle Aspekte seiner Situation und seines Charakters, anhand derer er sich als Person ausweisen kann, verborgen bleiben (Ricoeur 1981: 277). Erst durch das Verstricktsein in Geschichten – unabhängig ob diese fiktiv oder real sind – kann er sich als dieser Uwe erweisen, der engagiert und selbstlos die Belange dieses Mädchens verfolgt. Er darf nur eines nicht tun, den Bogen überspannen und an der Authentizität seiner Erzählung Zweifel aufkommen lassen. Marc dagegen verliert sich immer wieder in wilden Storys, die zu unglaublich sind und deren logischer Zusammenhang im Fortschreiten der Ereignisse regelmäßig dissoziiert, weshalb er am Bahnhof schlicht als »Spinner« gilt. So erzählt mir Marc eine Zeitlang, dass er Schwierigkeiten mit den Frauen habe, die ihn zwar mögen, aber die er nicht an sich heranlassen wolle, dass er noch nicht so weit sei, um sich auf eine feste Beziehung einzulassen und dass es sonst immer nur um Sex gehe, dem er überhaupt keine Bedeutung beimesse. Aber in den letzten Tagen habe sich eine Liebschaft zu einem Mädchen ergeben, das er vom Bahnhof kenne. An einem Tag kommt er auf mich zu, um mir die Frau zu zeigen, von der er behauptet, dass er sich in sie verliebt habe. Sein Problem sei es nun aber, dass er sich nicht traue, sie anzusprechen. Nach zwei Wochen, in denen er immer wieder auf das Thema seines unerfüllten Verliebtseins zu sprechen kommt, erzählt er mir in der folgenden Begegnung mit vollem Stolz, dass er sich dem Mädchen vorgestellt habe. Er habe sie auf einen Kaffee eingeladen, dann seien sie die ganze Nacht durch Berlin spaziert, nur Sex hätten sie noch keinen gehabt. Als ich ihn in der darauf folgenden Woche treffe, steht auch seine neue Liebschaft in der Nähe. Unter großer Geheimnistue-
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rei erzählt er mir von einem Abkommen, das sie untereinander geschlossen haben. Sie wollen sich am Bahnhof nichts anmerken lassen, weil niemand wissen solle, dass sie ein Paar seien. In den darauf folgenden Wochen berichtet er verteilt über einige Begegnungen minutiös davon, wie sie gemeinsam den Tag verbringen, dass sie nun bald zusammenziehen werden, dass sie eine gemeinsame Wohnung gefunden haben, dass sie schließlich nach längeren Renovierarbeiten in diese eingezogen seien. Wieder einige Tage später kommt er mit wichtiger Geste und ernsthafter Miene auf mich zu und erzählt, dass er bald Vater werde. Etwa sechs Wochen später soll ich ihm zu seiner Vaterschaft gratulieren. Er kann mir sogar ein Kinderbild zeigen und erzählt mir in ganzer Breite von seinem neu entdeckten Vaterglück. Wiederum einige Wochen später, in denen er immer seltener über sein Kind spricht, hat sich dieses Thema schließlich erledigt. Marc gelingt es, in seinen Erzählungen all das zu durchleben und durchzuarbeiten, was sonst zum »normalen« Leben dazugehört und wovon er durch Exklusion und soziale Isolation ausgeschlossen ist. In der Phantasie bemächtigt er sich nicht seiner biographischen und gegenwärtigen Wirklichkeit, sondern überflügelt diese, indem er von einer Beziehung spricht, an der er mich nicht teilhaben lassen kann, und Ereignisse schildert, die der allgemeinen Erfahrung widersprechen. Seine Selbst- und Fremddarstellung muss daher zerfallen, weil die Phantasie im Gegensatz zur Realität zu wenig Widerstand bietet, um sich seiner Ungeduld zu widersetzen, zumindest in der Erzählung endlich an den Dingen teilzuhaben, die ihm das Leben bedeuten. Dem Aufbau eines falschen Selbst kommt entgegen, dass es am Bahnhof gerade die Geschichten sind, um die sich alles dreht (vgl. Winnicott 1984: 182 ff.). Hier wird jedem die Möglichkeit geboten, anhand einer Erzählung sich von seiner souveränen Seite zu präsentieren, um Aufmerksamkeit und Interesse auf sich zu ziehen. Das Bedürfnis ist umso größer, wie außerhalb der Bahnhofsszene ständig die Gefahr stigmatisierender Zuschreibungsprozesse droht. Am Bahnhof dagegen ist der Wahrheitsgehalt identitätskonstruierender Narrationen nicht ganz so entscheidend, weil im Hin und Her der frei fluktuierenden Gesprächsrunden niemand eine ausführliche, detaillierte und konsistente Darstellung biographischer Hintergründe erwartet, und dies gerade umso weniger, wie auch der typische Zuhörer darum weiß, wie schwer die Mängel und Beschädigungen der eigenen Identität zu verbergen sind. Zudem haben, weil der verpflichtungslose Smalltalk nur selten in Richtung von dauerhaften Freundschaften über-
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schritten wird, nur wenige wirklichen Einblick in das Alltagsleben der Bekannten und Kollegen, mit denen sie am Bahnhof zusammenstehen. Hier ist nicht zu befürchten, dass jede Story sofort auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden kann. Daher reicht es vollkommen aus, die allgemeinen Prinzipien des Erzählens wie Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit nur in loser Form zu befolgen, damit die wohltuende Aufmerksamkeit, die der eigenen Person zuteil wird, nicht in Misstrauen und Unglaube umschlägt. Dennoch lässt sich die Rekonstruktion von Identität und Geschichte nur schwer von dem lebensweltlichen Erfahrungshintergrund ablösen. »The individual’s biography, if she is to maintain regular interaction with others in the day-to-day world, cannot be wholly fictive. It must continually integrate events which occur in the external world, and sort them into the ongoing ›story‹ about the self« (Giddens 1991: 54). Wie Uwe gibt es nur wenige »professionelle« Geschichtenerzähler am Bahnhof, die wirklich in der Lage sind, sich aus den typischen Erzählzwängen – wie diese etwa als Gestaltschließungs-, Kondensierungs- und Detaillierungszwang zu Tage treten – so weit zu befreien, dass ihnen die Schilderung einer kohärenten und runden Lebensgeschichte auch unter Auslassung wesentlicher Details und Einflechten »kleiner« Unwahrheiten gelingt (Schütze 1976: 224 f.). Die jungen Menschen stehen also vor der Entscheidung, ob sie an einer »ongoing story«, die auf wahre, intersubjektiv prüf- und nachvollziehbare Gegebenheiten aufbaut, festhalten oder sich in ihrer narrativen Selbstinszenierung den Fesseln einer identitätsbeschädigenden Realität entledigen. Denn das, was sich vor allem in die Lebensgeschichte integrieren ließe, wären gerade die Misserfolge, die Brüche, das Versagen, damit jene Ereignisse, die wiederum die Bemühungen um die Entwicklung einer kohärenten Lebensgeschichte von Grund auf desavouieren. In diesem Dilemma gefangen, ist die Versuchung groß, der eigenen Person eine Wichtigkeit, Bedeutung und Beachtung zu verleihen, die nicht mehr durch Lebensgeschichte und Alltagsleben gedeckt sind. Trotzdem besteht für die jungen Menschen, denen es auf den Wahrheitsgehalt ihrer Erzählungen nicht so genau ankommt, das Problem, dass sich am Ende der Erzählung alle psychischen Identifikationen wieder von ihren Objekten lösen – von der Freundin, von der Vaterschaft, von dem Kind. Es bleibt allein die uneinlösbare Sehnsucht nach Teilhabe an den Möglichkeiten dieser Welt, während es nicht möglich wird, die den Geschichten zugrunde liegenden Entwürfe wahr werden zu lassen. Um die Scheinhaftigkeit der eigenen Identität nicht allzu schmerzhaft zu durchle-
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ben, scheinen diese Pseudo-Geschichten von einigen so weit internalisiert zu werden, dass sie nicht mehr nur in der Selbstdarstellung gegenüber anderen erzählt werden, sondern dass sich das Bewusstsein selbst zu trüben und zu verwirren beginnt, weil es für sie selbst immer schwieriger wird, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Mit der Dissoziation des Bewusstseins, das sich in seinen narrativen Strukturen aufzulösen beginnt, weil Subjektivität und Intentionalität nicht mehr durch die lebensweltliche Erfahrung balanciert sind, ist ein hoher Preis zu zahlen. Denn die Kohärenz von Lebensgeschichte und Biographie, die wegen des sozialen Ausschlusses schon brüchig genug ist, droht in den wilden Inszenierungsformen gänzlich zu zerfallen. Indem die Intentionen gar nicht mehr an der Wirklichkeit scheitern können, weil die Objekte aller Identifikationen selbst Produkte der privaten Subjektivität sind, drohen sich die jungen Menschen in ihrer solipsistischen Selbstsetzung und Selbstbehauptung zu verlieren. Sie igeln sich in ihre eigene Innerweltlichkeit ein, um sich gegenüber den schmerzlichen, ängstigenden Widerständen und Versagungen der Realität zu immunisieren. Bei dieser Regression in reine Subjektivität müssen gerade die weniger kompetenten Geschichtenerzähler damit rechnen, dass sie bald als Lügner und Spinner abgetan sind, sodass sich Isolation und Ausschluss nur weiter vertiefen. Den jungen Menschen bleibt dann kaum etwas anderes, als sich immer weiter in ihre inneren Monologe zurückzuziehen, sie werden damit zu Autisten, die in ihrer Innermentalität gefangen sind. Sie sind der inneren Lebendigkeit damit endgültig beraubt, weil die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen nicht als Stimmen eines offenen Dialogs zuzulassen sind, sodass sie sich in der Vielgestaltigkeit, Multiperspektivität und Polyphonie, die das eigene Leben bedeuten, zu erkennen geben könnten (Honneth 2003b: 160). Mit der Preisgabe des Festhaltens an einer intersubjektiven Darstellbarkeit des eigenen Erfahrungsraumes ziehen sie sich schließlich selbst den Boden unter den Füßen weg, um darauf eine Lebensgeschichte und Identität zu gründen, die auch in der sozial geteilten Wirklichkeit Bestand hat.
5. Fragmentierte Identitäten Die fragmentierte Identität ist der in sich widersprüchliche Versuch, einerseits der Erfordernis zu entsprechen, die eigene Existenz, die stets aus-
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weispflichtig und rechtfertigungsbedürftig verbleibt, auf einer identitätsverbürgenden Geschichte zu gründen, ohne sich aber die Grundlage und Substanz dieser Geschichte, nämlich die Lebenserfahrung selbst, so weit aneignen zu können, wie sie mit der Erinnerung gegeben ist. Die jungen Menschen sind an einen biographischen Erfahrungsschatz gebunden, der die interpretativen Integrationskapazitäten der narrativen Welt- und Selbstkonstituierung gänzlich überlastet, sodass die Identitätsarbeit scheitern muss. Mit Blick auf die Biographie der Bahnhofsgänger zeigt sich zu deutlich, dass es nur wenige Erfahrungsbereiche gibt, die ganz unbeschadet von Missachtung und Ausschluss bleiben, um zu einer geglückten und souveränen Selbstdarstellung zu gelangen. Ebenso bietet die bedrückende Gegenwart der alltäglichen Misere und Tristesse nur wenige Ansatzpunkte, um daraus ein hoffnungsfrohes und vertrauensvolles Biographienarrativ zu formen, auf das man sich als einem authentischen, zugleich positiven Ausdruck der eigenen Identität beziehen kann. Die Situationen und Ereignisse, entlang deren sich ihre Lebensgeschichte erzählen ließe, werden immer wieder als entfremdend, übermächtig, traumatisierend erfahren: die erdrückende Missachtung in der Familie, die Exklusion gegenüber der Sozialwelt sowie das Erleiden zufälliger Schicksalsschläge. Die jungen Menschen sind in ihrer Identitätsarbeit durchweg mit dem Problem konfrontiert, dass sich beim unvorsichtigen Manövrieren durch Vergangenheit und Gegenwart ständig bedrohliche Abgründe auftun, die es besser zu verdrängen gilt. Angesichts der Überforderung der Integrationskapazitäten bilden viele junge Bahnhofsgänger eine fragmentierte Identität aus, die den üblichen Konsistenzanforderungen nicht genügen kann. Darunter ist zu verstehen, dass es mit der Preisgabe des Kohärenzanspruchs kaum noch möglich ist, seine vielfältigen lebensgeschichtlichen und aktuellen Erfahrungen zu einem in sich stimmigen Verständnis der eigenen Person zusammenzufügen (Hurrelmann 2004); dass durch die Infragestellung einer festen, unzerbrechlichen Zugehörigkeit zu Familie und sozialen Bezugsgruppen der Platz innerhalb des Gemeinwesens ständig unsicher, angreifbar, gefährdet bleibt; dass mit dem Verlust des Glaubens und des Vertrauens in die eigene Handlungsfähigkeit sich das Individuum immer weniger als ein autonomes und souveränes Individuum begreifen kann, das über die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Absichten in der Welt eine Identität von Lust- und Realitätsprinzip herstellen kann. Ohne die Kontinuität einer selbst erarbeiteten Lebensgeschichte ist aber das Leben nicht aus der Zu-
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fälligkeit, Unbestimmtheit und Sinnlosigkeit des reinen Existenzvollzugs herauszuheben und zur eigenen Sache zu machen. Die jungen Menschen sind dem Dilemma ausgesetzt, dass einer Beschädigung der narrativen Ausgestaltung der eigenen Person nicht wirklich auszuweichen ist; wobei die fragmentierte Identität da noch als das kleinere Übel erscheinen muss. So vermeiden es die jungen Menschen, überhaupt auch nur Gefahr zu laufen, sich eingängiger mit ihrer Lebensgeschichte auseinanderzusetzen, weil sie befürchten, in den Sog einer negativistischen Selbstreflexion zu geraten, die sich eher bis zur Krise steigert, als dass darüber ein höheres Integrationsniveau der eigenen Identität zu erreichen wäre. Hierzu sagt Oliver: »Hm, … hab mir, … sa’ick ma, wenn ick janz alleene war, … (eine) negative Sache halt bei mir, … det is schon immer mein Fehler jewesen und den hab ick och immer noch. Anstatt diese Vergleiche zu machen mit Negativ und Positiv, … det Positiv bleibt bei mir erstma janz weit weg ((unv. Wort)) und erstma das Negative nur raus.« Die Alternative zur Aneignung jener biographischen Erfahrungselemente, deren Einbezug in die Identitätsarbeit fast einer Selbstzerstörung gleichkommen würde, besteht darin, die eigene Biographie, in der sich die jungen Menschen selbst nicht erkennen wollen, durch Ausblendung, Leugnung und Verdrängung zu relativieren. Damit wird es zumindest temporär möglich, sich an der allgemeinen Unbeschwertheit und Sorglosigkeit, an Spaß und Freude, dem lebendigen sozialen Austausch des Bahnhoflebens zu beteiligen. Doch langfristig entsteht das folgende Problem: »Der Ausbruch aus der Gesellschaft und Eintritt in die Subkultur versprechen schnelles Geld, Anerkennung und Lust zumindest am Anfang der ›Karriere‹. […] Die Individualität der Ausgebrochenen ist indessen nicht grösser, sondern eher (noch) kleiner als diejenige der angepassten Bürger. Ausserhalb der Kultur findet man nicht etwa die wirkliche Freiheit oder das natürliche Chaos, sondern die Lebensläufe folgen idiosynkratischen Mustern, die man als Karikaturen bürgerlicher Lebensweisen bezeichnen muss« (Haas 1995: 184). Bei der fragmentierten Identität handelt es sich also keineswegs um das typische Puzzle an Teilbereichsidentitäten, die sich zu einer Kernnarration integrieren ließen, um sich der eigenen Selbstheit zu vergewissern (Keupp et al. 1999: 90 f.). Erikson spricht von Identitätsdiffusion, wenn die eigene Lebensgeschichte nicht mehr in eine konsistente Form zu bringen ist, in welcher der Einzelne seine eigene Person erblicken kann. »Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheit-
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lichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten« (1973: 106). Durch die Inkonsistenzen der biographischen Erfahrung bilden sich unzusammenhängende Fragmente, sodass der schmale Steg an positiv besetzten Identifikationen keine wirkliche Trittsicherheit bietet. Die jungen Menschen sind bald wieder am Boden zerstört: nicht mehr der coole Angehörige der Bahnhofsszene, sondern hochgradig verunsichert, wenn die Identitätskonfiguration der Realität nicht gewachsen ist, weil etwa die Erinnerung an die sexuelle Missbrauchserfahrung wieder aufbricht, da diese nicht in einem umfassenderen Identitätskonzept aufgehoben ist; dem Scheitern des nächsten Versuchs, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, keine lebensgeschichtlich fundierten Narrationen erfolgreichen Alltagshandelns entgegenzusetzen sind; der Tod eines geliebten Freundes als Bestätigung der gewonnenen Gewissheit erscheinen muss, letztendlich doch immer allein dazustehen. Die Krisenbewegung der Identität besteht also darin, dass die jungen Menschen die biographische Erfahrung nicht durch ein Identitätskonzept balancieren können, sondern vielmehr durch Fragmentierung dieser Erfahrungen versuchen, allen Identitätsbeschädigungen auszuweichen. Die fragmentierte Identität findet schließlich in radikalisierter Form durch den Aufbau eines falschen Selbst ihren Ausdruck. Hier zerfällt das Individuum mit der Preisgabe des Anspruchs, seine Kern-Narration anhand einer erfahrungsverbürgten Lebensgeschichte auszubilden, in die Momenthaftigkeit des sprachlichen Ausdrucks. Die Identitätsdiffusion mag als ein schleichender Prozess beginnen, in dem zunächst nur einzelne biographische Details ausgelassen werden, bis schließlich ganze Biographieepisoden aus der Phantasie produziert werden, die sich längst von der Widerständigkeit und Begrenzung der Wirklichkeit abgelöst haben und nur noch der Willkür des gegenwärtigen Bewusstseins unterworfen sind. Die Tendenz, auf kleine Lügen zurückzugreifen, was umso leichter fällt, weil niemand wirklich am Alltag des anderen teilhat, ist dann nur noch schwer zu durchbrechen. Indem Identität sich zunehmend auf eine spontane, situationale Inszenierungspraxis reduziert, werden die jungen Menschen zu heimatlosen Geschichtenerzählern und narrativen Landstreichern (vgl. Bauman 1997). Entgegen dieser Tendenz zum inszenatorischen Geschichtenerzählen findet sich auch bei den jungen Menschen das Bedürfnis nach Authentizität und Echtheit des eigenen Identitätsausdrucks. Sven verwickelt sich in ein Gespinst an Halbwahrheiten, Übertreibungen und Übersteigerungen
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allein aus dem Grund, weil er befürchtet, dass er seine Freundin verlieren werde, wenn diese nur mit offenen Augen sehen würde, wer er ist und was er zu bieten hat: »Und äh … ich weiß nich, ich hab sie denn total oft belogen so, … weil ich einfach … hm besser sein wollte. … Und … ja, ich wollt besser sein, ich wollte … ich wollt mich immer einschleimen bei ihr. Weil ich immer denke, dass ich sie verliere und verliere und verliere.« Die Angst vor Zurückweisung wird nicht aufgelöst, sondern perpetuiert sich in diesem gefakten Identitätsspiel, weil jederzeit die Gefahr droht, dass alle Unwahrheiten und Irreführungen ans Tageslicht gelangen und damit die Freundschaft in Frage stellen. Vielmehr aber noch müssen selbst die Bewunderung und Anerkennung, die der eigenen Person entgegengebracht werden, trügerisch und falsch adressiert wirken, weil diese sich auf das falsche Selbst beziehen, das in den eigenen Augen keine Authentizität beanspruchen kann (Winnicott 1986: 65 ff.). Dieses Handlungsparadoxon, das nur die Entfremdung weiter vertieft, wird auch von Sven als das maßgebliche Problem in der Partnerschaft angesehen. Schließlich lässt sich Sven auf das Risiko ein, mit Tina eine tiefere Form der Verständigung zu erreichen, welche auch die Schattenseiten der eigenen Person einschließt. Das eigene Sichöffnen wird wie eine Befreiung erfahren: »War auch irgendwo n Staudamm oder so, irgendwie war// da war irgendwo ne Mauer, die da nich hingehörte, die war genau in der Mitte.« Fragmentierte Identitäten lassen sich daher nicht als die Realisierung der Wünsche und Träume der postmodernen Theoretiker verstehen; diese stellen sich vielmehr als ein tiefer Selbstverlust dar. Es handelt sich nicht um eine Differenzierung, Pluralisierung und Vervielfältigung der eigenen Identität, sondern gerade weil das Bewusstsein sich nicht ohne weiteres ins Sein übersetzen lässt, bleibt einzig die Regression in eine nur noch narrativ darstellbare Identität. Umgekehrt ist dem Bahnhof trotz aller guten Absichten und aller ernsthaften Engagements nur schwer zu entkommen. So wird Oliver von seiner Biographie immer wieder eingeholt und zu dem Ort seines Ausschlusses zurückgetragen. Obwohl er nichts mehr mit dem Bahnhof zu tun haben will, geht er, um die leere Zeit und die innere Beunruhigung totzuschlagen, an den meisten Tagen hierher. Obwohl er grundsätzlich von vorne beginnen will, muss er feststellen, dass er der Arbeitslosigkeit in Richtung eines werktätigen Lebens nicht entrinnen kann. Obwohl er einige Hoffnungen daran geknüpft hat, mit seiner Freundin ein neues Leben zu beginnen, muss er entdecken, dass sie die Heroinabhängigkeit entgegen ihrer Versprechungen nicht überwunden hat und ihr Geld
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auch weiterhin auf dem Straßenstrich verdient. Obwohl er mit vielen Bekanntschaften aus den alten »Bahnhof Zoo«-Zeiten brechen wollte, hört er eher zufällig den Anrufbeantworter eines schon lang nicht mehr gebrauchten Mobilfunkanschlusses ab, auf dem eine ehemalige Freundin ihm die Nachricht hinterlassen hat, dass er Vater eines Kindes geworden sei, von dem er bis dahin nichts wusste. Die brüchige Sozialintegration lässt gerade nicht ein postmodernes Jonglieren selbst gewählter Identitätsentwürfe zu, sondern führt geradewegs in die Beliebigkeit und Unbestimmbarkeit der eigenen Lebensform, damit zur existentiellen Verunsicherung. Die Teilhabe an der Gesellschaft ist die unabdingbare Voraussetzung, dass sich das Individuum auf lebensweltliche Strukturen stützen kann, die nicht nur das materielle Überleben verbürgen, sondern ebenso seine symbolische Verortung in der sozialen Lebenswelt ermöglichen. Erst über real greifbare Lebensbezüge kann der Einzelne zu einer Selbstdefinition seiner Person gelangen, die einen identitätsverbürgenden Bestand hat. Ein Herausfallen aus diesen sozialen und kulturellen Strukturen verursacht dagegen jenen ungeheuren Selbstverlust, der in der Kohärenzlosigkeit, der Einbuße der Handlungsfähigkeit und dem Verlust der sozialen Zugehörigkeit zum Ausdruck kommt.
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Die Identitätsproblematik erweitert sich nun über die Schwierigkeiten bei der narrativen Aneignung biographischer Erfahrungen hinaus, indem auch die Ausbildung von Selbstsicherheit und Selbstwert blockiert wird. Es ist daher nicht allein die innere Selbstvergewisserung und die außengerichtete Selbstdarstellung, die aufgrund der Brüchigkeit und Unannehmbarkeit der Biographie kaum den Aufbau einer kohärenten Lebensgeschichte ermöglichen. Denn das Selbstverhältnis ist ebenso abhängig von der Anerkennung und Bestätigung, die von Seiten dritter Personen entgegengebracht werden. Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen, das auf die Vermittlung durch den anderen angewiesen ist, um das zu sein, was er ist. Unter Bezug auf die »sozialpsychologische« Interaktionstheorie von Mead führt Honneth (1994) aus, dass gerade die intersubjektive Anerkennung, die über die wechselseitige Beziehung zum anderen entsteht, jeder Identitätsbildung vorausgesetzt ist, »weil die Subjekte zu einem praktischen Selbstverhältnis nur kommen können, wenn sie sich aus der normativen Perspektive ihrer Interaktionspartner als deren soziale Adressaten zu begreifen lernen« (S. 148). Die Selbstwertproblematik ist in dem Sachverhalt begründet, dass der Einzelne sich seiner Identität nicht in Form eines inneren Monologs versichern kann. Erst durch das Eintreten in den Kreis reziproker Sozialbeziehungen, die sich zu einem Band an Solidaritätsbeziehungen verknüpfen, erschließt sich die Teilhabe am gesellschaftlichen Lebenserhaltungssystem als der Realisierungsbedingung von Existenz und Individualität, die der äußeren Anerkennung stetig bedürftig bleiben (vgl. auch Taylor 1993; Wagner 2004). Honneth (1994) unterscheidet in seiner empirisch unterlegten Sozialphilosophie drei zentrale Dimensionen, an deren Leitfaden die Anerkennungsproblematik der jungen Bahnhofsgänger untersucht werden soll (vgl. auch Honneth 2003b: 162 ff.; Oppenheimer 2006):
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– Liebe und emotionale Zuwendung: Die elementare Voraussetzung von jeder Art von Selbstsicherheit findet sich in der elterlichen Zuneigung und Fürsorge, durch die das heranwachsende Kind seine organische Hilflosigkeit in Richtung der Entwicklung umfassender Handlungsfähigkeit zu überwinden lernt. Zuerst innerhalb des intimen Interaktions- und Unterstützungsrahmen der Familie, später auch in erweiterten und selbst gewählten Partnerschaften und Lebensgemeinschaften wird das Fundament für das Vertrauen in den Wert der eigenen Interessen und Bedürfnisse gelegt. Erst dieser Persönlichkeitsbildungsprozess lässt den Einzelnen überhaupt zu jener inneren Freiheit und Autonomie gelangen, wodurch ihm die unbefangene Artikulation seiner individuellen Bedürfnisse und Interessen möglich wird. – Recht und Achtung: Die rechtliche Anerkennung ist die Voraussetzung dafür, dass sich der Einzelne in der sozialen Lebensgemeinschaft, der er angehört, als ein Mensch gleicher Rechte begreifen kann. Die Bestätigung, die er als Bürger dieser Gesellschaft von außen erhält, versichert ihm jenen einklagbaren Status, über den er an den in den allgemein gültigen Gesetzes- und Normenkontexten festgeschriebenen Rechten partizipieren kann. Das Formulieren eigener Ansprüche, ohne Angst und Furcht ihrer willkürlichen Versagung, ist daher nur möglich, wenn der Einzelne darum weiß, dass er unaufkündbar in das soziale Band von Anerkennung und Solidarität einbezogen ist. Die wechselseitige Anerkennung, durch die sich die Gesellschaftsmitglieder als freie und gleiche Menschen begegnen, ist damit eine Zusicherung von äußeren Freiheitsund Autonomiebereichen, auf deren Grundlage persönliche Individualitätsansprüche überhaupt erst durchgesetzt werden können. – Person und soziale Wertschätzung: Infolge der Ausdifferenzierung von Rechtsordnung und sozialer Werthierarchie in der bürgerlichen Gesellschaft verselbständigt sich schließlich neben der rechtlichen Anerkennung noch eine weitere Anerkennungsform, die der sozialen Wertschätzung. Um zur Selbstverwirklichung in der Lage zu sein, bedarf es nicht allein der abstrakten Zusicherung von Autonomie und Freiheit, sondern ebenso muss man sich in seiner Besonderheit in Hinblick auf persönliche Fähigkeiten und Eigenschaften anerkannt wissen (Honneth 1994: 284). Umso weniger das Individuum bei der Gestaltung seiner Lebensführung auf vorgegebene Muster des soziokulturellen Lebens zurückgreifen kann, desto mehr ist das Individuum auf eine situative Anerkennung seiner differenzierten Persönlichkeit angewiesen. Soziale
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Wertschätzung bemisst sich in unserer Gesellschaft anhand der Beiträge und Leistungen, die der Einzelne in Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Zielsetzungen erbringt. Es sind vor allem Einkommen, Status und Prestige, in denen sich das Maß der entgegengebrachten Wertschätzung objektiviert. Bei den jungen Menschen lässt sich beobachten, dass der Glaube an den Wert der eigenen Person zerbrochen ist, was seinen tieferen Ursprung in den meisten Fällen in der Kindheit und Jugend hat. Die äußeren Schwierigkeiten, denen die Bahnhofsgänger aufgrund der prekären Lebenssituation begegnen, spiegeln sich damit im unzureichend ausgebildeten Selbstwertgefühl wider. Angesichts der besonderen Herausforderungen fehlt es gerade am Zutrauen in die persönlichen Kompetenzen und Kräfte, um Biographie und Lebensführung durch die Untiefen und Gefahren des modernen Lebens zu manövrieren. In drei Abschnitten sollen daher die Ursachen dafür beschrieben werden, wie sich durch Überlagerung von Exklusionsproblematik und Anerkennungsproblematik ein ausreichend stabiles Selbstwertgefühl erst gar nicht ausbildet: die Vorenthaltung von Liebe und affektiver Zuneigung (1), von rechtlicher Anerkennung (2) und von der Anerkennung als Person (3).
1. Entbehrung von Liebe Fundierung des Selbstwerts in der Familie Im Fall der Bahnhofsgänger wurde die Beziehung zu den Eltern zu einem einzigen Konfliktfeld (siehe Teil A, Kapitel 2: Exklusion und Sozialisation). Die Sozialisationsbedingungen, insbesondere das familiäre Fürsorge- und Unterstützungsfeld, haben nicht dafür sorgen können, dass sich das Kind zu einer gereiften, selbstsicheren Persönlichkeit entwickelt: Negation von Bedürfnissen nach physiologischer Befriedigung, physischen Schutz, sozialer Bindung, seelischer und körperlicher Wertschätzung, Anregung, Spiel und Lernen als auch Bewältigung existentieller Lebensängste und Selbstverwirklichung (vgl. Hurrelmann 1995: 249). Vernachlässigende, reglementierende, überstrenge, autoritäre und sadistische Erziehungsstile, die durch ein Übermaß an körperlicher Züchtigung, Hausarrest, elterlichen Sanktionen und Verboten unbedingte Unterordnung und Gehorsam fordern,
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haben den Aufbau von Wirksamkeitserfahrung, Selbstbewusstsein und Selbstwert erst gar nicht zugelassen (Grundmann 2006: 187 f.). Die jungen Menschen verlieren sich zumeist in Andeutungen, wenn sie überhaupt auf ihre Eltern zu sprechen kommen, wie etwa Marc: »Gut, meine Eltern hatten … äh schon sehr früh Pro// … mit SICH Probleme, ne? Un … ich hab mehr zu meiner Mutter gestanden un meine Mutter mehr zu mei’m VAter. … Na, irgendwann hat mein Va// der Vater angefangen meine Mutter zu schlagen.« Aber auch eine ambivalente, zurückhaltende Bezogenheit einer unsicheren, überforderten oder depressiven Mutter auf ihr Kind kann dazu führen, dass sich Zutrauen in die eigenen Kräfte, Entscheidungsfreudigkeit, Spontaneität und Gelassenheit nicht entwickeln, weil in der Eltern-Kind-Dyade die sich ausformenden Bedürfnisse und Interessen der Kinder keine ausreichende Berücksichtigung finden. Franziska: »Also selbst, wenn meine Mutter n guten Tag hatte, war die abends so megaschlecht gelaunt, ((lacht kurz auf)) … dass, weiß ich nich, ich ihr am liebsten in die Fresse treten wollte.« Hinzu treten jene Strukturlosigkeit des Alltags und Verwahrlosung des familiär-häuslichen Lebensumfeldes, die auf die Überlastung der Eltern zurückzuführen sind, ihrerseits aber durch die erzwungene Selbständigkeit den Heranwachsenden überfordern (vgl. Chassé, Zander & Rasch 2003: 194 f.). Wenn Paula in dieser lakonischen Weise, in der sie gewöhnlich über ihr Leben berichtet, auf ihre Kindheit zu sprechen kommt, dann verdeutlicht sich sogleich die große innere Distanz zum Erlebten, als ob sie von ihrer Geschichte überhaupt nicht persönlich berührt und betroffen ist. Die ganze Brisanz der familiären Dynamik, welche Biographie und Lebenserfahrung bestimmt haben, lässt sich aus den fernen Erinnerungen, die in einzelnen Episoden zu Bewusstsein kommen, nicht mehr entnehmen. Erst als Paula im Interview beim Versuch, einige Verhäkelungen ihrer Biographie auszusparen, sich in eine erzählerische Sackgasse verrennt, steuert sie ihre Geschichte schließlich doch noch hin auf den Initialbruch ihrer Biographie, wenn auch zögerlich: »Na, meine Eltern hatten sich// also ich hab noch zwei ältere Geschwister. Und meine Eltern haben sich halt getrennt, und meine Mutter hatte damals// sie hat n neuen Freund gehabt. Und meine Eltern warn beide Alkoholiker gewesen. Und das war also für meine Mutter irgendwie// … Ich weiß nicht, also uns hat man erzählt, … ähm, … also mir ham sie’s so erzählt, dass … meine Mutter halt … n// nicht in der Lage ist, drei Kinder großzuziehen, also so.« Die Überforderung der Eltern für ein geordneten Lebensfeld zu sorgen, in welches das Kind hi-
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neinwachsen kann, lässt sich hier nur erahnen, die konkreten Ereignisse, Leiden, Verkürzungen von Lebens- und Entfaltungsperspektiven innerhalb dieses unzulänglichen Versorgungs- und Unterstützungsrahmens kommen aber nicht zur Sprache. Zur Veranschaulichung der zerschlagenen Familiensituation verweist Paula lieber auf ihre Schwester, bei der sich im Zusammenhang mit ansteigendem Alkoholkonsum die Verwahrlosung des häuslichen Lebensumfelds und die Überforderungen bei der Kinderfürsorge zu wiederholen scheinen: »Also meine jüngste// jüngere ältere Schwesterd die hat schon mit sechzehn ihr erstes Kind gekriegt, mit achtzehn kam das zweite. Also ähm … auch ziemlich kaputt, sag ich ma so, die Erinnerung, die ich an meine Schwestern habe. /I.: Hm/ Und also die Fotos, die ich … äh dann zugeschickt gekriegt habe mit ihren Babys, da standen also die Bierflaschen auf’m Tisch und … ähm … der Kleiderschrank bestand nur aus’m Regal und also … nee, … nich meine Welt.« Die Eltern-Kind-Beziehung ist nicht nur aus dem Grund von elementarer Wichtigkeit, weil das Kind bis zum Erwachsenenalter auf eine zuverlässige Integration in den elterlichen Versorgungs- und Unterstützungsrahmen existentiell angewiesen ist. In einer weitaus tiefer liegenden Weise ist der Heranwachsende emotional in das psychodynamische Beziehungsgefüge der Familie verstrickt. Dieses existentielle Bezogensein auf die Familie wird angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit der Eltern, eine liebende und haltende Beziehung aufzubauen, in der die Bedürfnisse und Affekte des Kindes ausreichende Berücksichtigung finden, nun zur Quelle von Betrübnis, Bedrückung und Selbstzweifel. Hüseyin: »… heutsutage mein … Eltern wollen nix mehr wissen von mir, also … was ich sehr beDAUer auch. … /I.: Mhm/ … Aber inzwischen hab ich das verKRAFtet. Anfangszeit so, … wo ich in Knast war und so, hab ich mir sehr viel JeDANKen und … hab dann natürlich auch geWEINT und war TRAUrig.« Während Kinder als ein sozial bedürftiges Wesen ganz von der elterlichen Zuwendung und Liebe abhängig sind, berichten die meisten Bahnhofsgänger, wie sie von Kindheit an tagtäglich ihre Zurückweisung und Entwertung erfahren mussten. Ohne eine »richtige« Familie gehabt zu haben, das heißt einen sozialen Ort, an dem man sich – trotz aller punktuellen Konflikte – unaufkündbar aufgehoben wusste, entbehrten die jungen Menschen das, was Kinder zum unbefangenen Heranwachsen genauso wie Nahrung, Wärme, Schutz brauchen: Liebe, Zuwendung und Anerkennung. Hüseyin: »… weil … zu Hause hab ich kein … Liebe und Wärme also gekriegt von mein’ Eltern, … hab mich da nich WOHL gefühlt, … hab
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mir woANders Freunde gesucht und … also Jugendbande angeschlossen.« Als massive Beziehungs- und Kontaktstörungen beeinträchtigen und behindern die Familienprobleme daher die psychodynamische Entwicklung des Kindes (Warzecha 2000b: 353). Über ihre ständige Zurückweisung und Missachtung wurden die jungen Menschen in ihrer persönlichen Integrität zutiefst verletzt. Die Folge ist eine tiefe Erschütterung ihrer Identität, indem sie die Erfahrung ihrer über die Familie vermittelten Entwertung, wie sich nun zeigen wird, in ein negatives Selbstkonzept übernehmen. Insbesondere die psychoanalytische Forschung hat auf die Abhängigkeit der Identitätsentwicklung von der Beziehungsqualität und dem familiären Interaktionsrahmen aufmerksam gemacht (vgl. Spitz 1983). Eigentlich gestaltet sich die Initiation der Sozialintegration beim Neugeborenen ganz unkompliziert, indem das Kind von Anbeginn über die Sozialbeziehung zu den Eltern dem Interaktionszusammenhang der Familie angehört. Die liebende Zuwendung zu primären Bezugspersonen scheint trotz aller historisch-kulturellen Überformung als »natural incentives« tief in der artspezifischen Bedürfniskonstitution zu wurzeln (McClelland 1985). Bowlby (1983) hat die Abhängigkeit der seelischen Gesundheit des Kindes von einer standhaften Beziehung des Kindes zu seinen Eltern, in der das Erleben von Nähe möglich ist, aufgezeigt und dabei insbesondere die pathogenen Folgen von Bindungsstörungen und -verlusten beschrieben. Winnicott verweist in seinem Werk immer wieder darauf, welche Bedeutung den Eltern bei der Strukturierung der Subjektivität des Kindes, seiner Bedürfnis- und Erregungszustände hin auf die »objektiven« Möglichkeiten der sozialen Welt zukommt: »Die Mutter weiß instinktiv, wie man sagt, welches Bedürfnis des Kindes im Augenblick dringlich ist. Sie vergegenwärtigt die Welt auf die einzige Weise, die nicht Chaos bedeutet, indem sie die auftretenden Bedürfnisse befriedigt« (1969: 182). Neben der materiellen Versorgung des hilflosen Neugeborenen, die für eine Befriedigung physischer Bedürfnisse und für eine Erlösung von Mangel- und Spannungszuständen sorgt, finden sich sogleich auch schon als Keim angelegte soziale Bedürfnisse, etwa die Erfahrung des Kontaktbehagens, emotionale Zuwendung und eine sozial anregende Umwelt (vgl. etwa Harlow 1958; Bowlby 1975; Stern 1979). Das symbiotische Erleben des Einsseins, das sich zwischen Mutter und Neugeborenem entwickelt, ist dennoch eine aktive Leistung, das sich in einem hochkomplexen sozialen Interaktionsprozess erst entwickeln muss. Eine gelingende Interaktion zwischen Mutter und Kind ist daher keine
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naturgegebene, unkomplizierte Selbstverständlichkeit, die sich notwendig mit dem ersten Kontakt nach der Geburt einstellt. Im intersubjektiven Zusammenspiel muss die wechselseitige Abstimmung von individuellen Bedürfnissen und einander zugewandten Reaktionsformen von beiden Seiten zunächst erlernt werden. Dabei ist der Aufbau von affektiven Bindungen, die sich als stabil genug erweisen, um dem Kind das Gefühl existentieller Sicherheit zu geben, davon abhängig, ob und inwieweit sich eine ausreichende Balance zwischen Symbiose und Selbstbehauptung ausbilden kann (Honneth 1994: 157; Benjamin 1990: 15 ff.). Die Erfahrung der jungen Menschen sieht da anders aus. Franziska: »Vor allem, ich weiß nicht, sie kann ihre Liebe irgendwie nur mit materiellen oder mit Geld so, also materiellen Dingen zeigen so. Aber so richtig so Gefühle rüberbringen, is bei meiner Frau Mama nich. Und das war jetzt auch das, was mich von Anfang an angekotzt hatte.« Es sind gerade diese positiven Erfahrungsformen von gelingender Intersubjektivität, über die sich das Kind in seiner Bedürftigkeit von Anfang an aufgehoben weiß und die zur Entwicklung eines positiven Selbstverhältnisses von grundsätzlicher Bedeutung sind. Während die Mutter ihr Alltagsleben und ihre Autonomie für die Zeit nach der Geburt bloß zurückstellt und mit der Verselbständigung des Kindes wieder erlangt, muss sich das Kind zu einem selbständigen Wesen erst ausdifferenzieren. Damit ist das Kind vor die Entwicklungsaufgabe gestellt, sich in zunehmendem Maße von der Unterstützung des primären Sozialisationsfelds Familie frei zu machen, sodass es psychische Distanz gewinnt und sich in seinem personalen Selbst entwickeln kann. Die ausgreifende Unterstützung des Heranwachsenden in der Kind-Erwachsenen-Interaktion folgt dabei dem Entwicklungspfad, der schritt- und krisenförmigen Entfaltung der individuellen Kommunikations- und Handlungsfähigkeit, die auf eine selbständige Lebensführung innerhalb der Gesellschaft zielt. Weil das Konfliktpotential intersubjektiver Beziehungen aber nicht endgültig zu entschärfen ist, bleibt die Balance zwischen Symbiose und Autonomie in jedem Fall gefährdet und muss in immer neuen Beziehungskonstellationen stetig neu austariert werden: »Das Bedürfnis des Subjekts nach dem Anderen ist insofern paradox, als das Subjekt sich als ein Absolutes, als ein selbständiges Wesen zu setzen versucht, aber um selbst anerkannt zu sein, auch den anderen als Gleichen anerkennen muß. Es muß sich im anderen wiederfinden können« (Benjamin 1990: 34). Bei den Angehörigen der Bahnhofsszene aber handelt es sich nicht einfach um die
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üblichen Abstimmungsschwierigkeiten, die zum Problem geworden sind, sondern ganz grundsätzlich hat das Zuteilwerden von Liebe, Zuwendung und Anerkennung nicht zum selbstverständlichen Erfahrungsmoment der eigenen Biographie gehört. Indem sie sich nicht als wertgeschätzte Personen erfahren konnten, deren Bedürfnisse und Interessen in einer sozialen Lebensgemeinschaft zählen, konnten sich Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit nicht ausbilden.
Urmisstrauen, Unsicherheit, Ängste und Wut Diese psychischen Reaktionsformen der Bahnhofsgänger auf die widerfahrene Vernachlässigung in der Kindheit, ob nun in der Primärfamilie, in Heimen oder bei Pflegeeltern, haben sich in einer Weise festgesetzt, dass sie sich nun auch im Erwachsenenalter wiederfinden. Für Martin bedeutet dies, dass er sich fürchtet, nachts allein zu schlafen, weil er häufig aufwache, aus irgendeinem Grund zu weinen beginne, manchmal sogar aus panischer Angst schreie, bis er von jemandem beruhigt werde. Über seine Vergangenheit wolle er nicht sprechen, betont er immer wieder. Und dennoch erzählt er einmal, dass er glaube, dass diese Ängste daher kommen, dass seine Mutter vom Vater, wenn dieser betrunken war, regelmäßig geschlagen worden sei und dass in solchen Situation auch die Kinder Prügel einstecken mussten. Auf die Gewalterfahrungen reagieren sie mit jener existentiellen Unsicherheit, die sie nur sehr unvollkommen unter der rauen Schale des »Einzelkämpfers der Straße« verbergen können. Allerorten hört man, dass man niemanden brauche, auch allein ganz gut klarkäme, von niemand abhängig sein wolle. Sven sondert sich lieber von der Gruppe ab: »Ich bin so’n Einzelgänger. Ich guck lieber von weitem zu und amüsier mich darüber.« Die jungen Menschen suchen zwar die Gemeinschaft, aber es geht vor allem um die unverbindlichen Einbindungsformen in die ständig fluktuierende Bahnhofsszene, während es schwerfällt, über Freundschaft und Partnerschaft eine dauerhafte Bindung aufzubauen. Beim Urvertrauen handelt es sich um die grundlegende Erfahrung des kleinen Kindes, dass sich im symbiotischen Einsseins mit der Mutter die sich regende Lebenstätigkeit, die so kraftvoll in die Welt hineinzugreifen beginnt, in ihrer drängenden Bedürftigkeit und beunruhigenden Hilflosigkeit dennoch abgesichert und aufgehoben weiß (Erikson 1973: 62 ff.). Den Bahnhofsgängern mangelt es damit an einem grundlegenden Vertrauen in die Solidität und Verlässlichkeit der Welt, anderer Menschen und des eige-
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nen Selbst. »Erfahrungen wie die Befriedigung von Bedürfnissen oder das Getröstetwerden sind natürlich unverzichtbare Voraussetzungen, um ein Gefühl der Zuverlässigkeit und Reaktionsbereitschaft der Außenwelt zu entwickeln, als das, was Erickson als Urvertrauen bezeichnet und was Stern Kern-Bezogenheit nennt« (Benjamin 1990: 48). Dieser selbstgewisse, naiv anmutende Vertrauensüberschuss gibt dem Glauben an eine Kontinuität der eigenen weltlichen Existenz seine Basis (vgl. etwa Janoff-Bulman 1992). Ein solches Erfahrungsfundament bildet die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich der Heranwachsende ohne Angst und selbstbewusst auf die nächste Innen- wie Außenwelt zu beziehen lernt. Es ist daher die Aufgabe der elterlichen Fürsorge, für eine optimale Bedürfnisbefriedigung und Entspannung zu sorgen, damit es dem Kind möglich wird, die eigenen, zunächst sehr undifferenzierten Potentiale und Antriebe zu erproben, Kontingenzen und Kontrollerwartung auf die Umwelt hin aufzubauen und in der Interaktion mit den eigenen Eltern sich auf diese zunehmend als eigenständig erweisende Personen zu beziehen. »Mit ›Vertrauen‹ meine ich das, was man im Allgemeinen als ein Gefühl des Sich-verlassen-Dürfens kennt, und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst« (ebd.: 62). Angesichts der typischen Überforderung der Eltern, einen haltenden, liebenden Unterstützungsrahmen zu gewährleisten, mussten die jungen Menschen an der Vernachlässigung ihrer Bedürfnisse, der emotionalen Gleichgültigkeit und Kälte sowie mangelnden Anregungsqualitäten ihrer kindlichen Umwelt leiden. Durch die unzureichende Koordination der eigenen Lebenstätigkeit in der Mutter-Kind-Dyade erfährt aber das Kind seine willkürliche Ausgeliefertheit an primäre Bedarfs- und Erregungszustände, ohne selbst für deren Linderung und Entspannung sorgen zu können. Es erschrickt vor den »nach Aufmerksamkeit schreienden Es-Kräften« (Winnicott 1984: 51), wodurch es in einen Zustand elementarer Verunsicherung gerät. Darauf kann es in der Undifferenziertheit seiner Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten nur in sehr begrenztem Maße entweder mit unbeherrschter Wut und aggressiven Verhaltensformen wie Schreien, Wegdrücken und Um-sich-Herumschlagen oder mit tiefer Verstörung und regressiver Angst reagieren. So hat schon Bowlby die Reaktion auf Deprivation in ihrem phasenhaften Verlauf beschrieben, die typischerweise mit der kraftvollen Artikulation von Wutanfällen beginnt, bis das Kind in einem depressiv apathischen Stupor fast verstummt (1975: 37 ff.).
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Ein Zustand der elementaren Verängstigung, der Welt hilflos ausgeliefert zu sein, wird, gerade weil dieser nicht durch Selbstvertrauen und Selbstsicherheit zu balancieren ist, als Grundbefinden immer wieder vorherrschend. Marc: »Das sin Gedanken, die hab ich ganz nach HINten geschoben. Un die will ich nich wieder vorkramen, da kommt nämlich ALles zum Vorschein. … Un davor hab ich ANGST.« Mehr noch berichten die jungen Menschen, dass sie von einer ständigen Unruhe, starken Minderwertigkeitsgefühlen, anklagenden Selbstzweifeln bedrückt werden. Diese psychischen Reaktionsformen, die das Alltagsleben belasten, können sich zu regelrechten Angststörungen und Panikattacken steigern. So zeigen auch psychiatrische Prävalenz-Studien hier einen ursächlichen Zusammenhang zu kindlichen Trennungserfahrungen (van der Kolk 1987). Ebenso lassen sich unter den Bahnhofsgängern starke Stimmungsschwankungen beobachten, die über Wut- und Gewaltausbrüche bis zu depressiven Reaktionsbildungen reichen. Die Affektregulation des Kindes wird insbesondere über die Mutter-Kind-Interaktion durch das Trösten, Ablenken, Beruhigen und Stillen erlernt. Probleme bei der affektiven Selbstregulierung beim Erwachsenen können daher aus innerfamiliären Störungen resultieren. Die jungen Menschen beschreiben selbst, dass sie häufig nicht wissen, wohin sie mit ihrer aufgestauten Wut sollen, sodass sie sich an die eigenen Affektzustände ausgeliefert erfahren. Oliver: »… damals durch … Alkohol und Drogeneinfluss, Stresssituationen, also man hat sich rumjeprügelt und, und, und, man muss Schmerzensjeld zahln und Schadensersatz und so wat alles dann halt.« So entlädt diese sich dann schon aus kleinen Enttäuschungen heraus in Gewalt gegen Sachen, gegen Angehörige der Straßenszene oder auch gegenüber Passanten und Ordnungskräften. Sutterlüty (2002: 277) erklärt solche Handlungsdispositionen durch »gewaltaffine Interpretationsschemata«, bei denen es sich um in der familiären Sozialisation erworbene Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster handelt. Jugendliche sehen in dem Verhalten ihrer Interaktionspartner vorschnell die Absicht, sie erniedrigen oder ihnen zu Leibe gehen zu wollen. Von einem Moment auf den anderen kann am Bahnhof aus einer Belanglosigkeit heraus, aus einem »falschen« Blick, einem Scherz die Stimmung umschlagen, sodass sich das fröhliche Zusammenstehen in giftige Anfeindungen und beizeiten auch in einen Ausbruch von handfester Gewalt verwandelt. Die geringen Kapazitäten zur Affektregulation verdeutlichen sich aber auch mit Blick auf die andere Seite der emotionalen Reaktionsformen
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darin, dass die jungen Menschen schon auf nebensächliche Auslöser mit Niedergeschlagenheit, Lethargie und Rückzug reagieren. Die manifeste Alltagstristesse, die für Bedrückung sorgt, überlagert sich dann schließlich mit einer generellen Apathie und depressiven Tendenzen. Bei Paula handelt es sich bei der Beschreibung ihres emotionalen Befindens keineswegs um eine situative Verstimmung, sondern eher um eine habituelle Haltung in ihrem affektiven Reaktionsrepertoire, wenn sie schon morgens keinen Grund weiß, weshalb sie aufstehen und den Tag beginnen solle. Die nachhaltige Zerstörung eines jeden Selbstwertgefühls ergibt sich aber noch aus einer tieferen Dynamisierung der emotionalen Ebene der Eltern-Kind-Beziehung. Gerade der Liebe kommt ein besonderer Stellenwert bei der Entwicklung eines fest gegründeten Selbstvertrauens zu. In der Familiensituation der Bahnhofsgänger ist anstatt eines stabilen Vertrauensverhältnisses eine Paradoxikalisierung der Kommunikationssituation durch den Aufbau einer double-bind-Situation zu erkennen. Hier werden die engsten Bindungs- und Sicherheitsfiguren, die eigenen Eltern zur Quelle einer grundsätzlichen Verunsicherung und einer extremen Bedrohung (Fischer & Riedesser 1998: 276; Watzlawick, Beavin & Jackson 1969). Diese emotionale Dynamik kann zur Ursache eines Beziehungstraumas werden, gerade weil die Eltern zentrale Objekte der kindlichen Liebe und der unmittelbaren Identifikation sind. Der Aufbau eines Selbstwertgefühls wird allein schon dadurch unterbunden, weil sich das Kind der elterlichen Zuwendung nicht sicher fühlen kann, sodass die innere Repräsentanz des Liebesobjekts hochgradig ambivalent bleibt. Vielmehr sind die »Bahnhofskinder« einer von den Erwachsenen herbeigeführten Missachtung ihrer vitalen Lebensnotwendigkeiten und Bedürfnisse, das heißt einer elementaren Infragestellung ihrer Existenzberechtigung ausgesetzt. Um die Eltern als die übermächtigen Schutz- und Beziehungspersonen zu schonen, wird das Kind nicht umhinkommen, die vernachlässigenden, missachtenden, strafenden Reaktionen kurzschlüssig auf die Schlechtigkeit und Nichtswürdigkeit der eigenen Person zu beziehen. Introjektion der Gewalt und Identifikation mit dem Aggressor werden zu Schutzstrategien, um die überlebenswichtige Beziehung zu erhalten. Die Ursache der Gewalt, des Bösen und der Schuld schreibt sich das Kind daher selbst zu (Hirsch 2002: 38; Ferenczi 1972/1933). Sicherlich kann es geneigt sein, in einem überagierenden Wutanfall zu versuchen, die liebeversagende Instanz zu zerstören. Dies bringt aber nur eine Erhöhung der Trennungsangst mit sich, weil
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durch die aggressiven Handlungen gegen die Eltern nur eine verstärkte Abwendung, damit eine Vertiefung von Zurückweisung und Isolation drohen. Die Trennung von den Eltern bleibt auch unter den Bahnhofsgängern ein Thema. Zwar besteht bei vielen noch Kontakt, aber die gelegentlichen Annährungsversuche führen in der Regel nur wieder zu einer neuen Flucht aus dem Elternhaus, wo sie wieder einmal erfahren mussten, dass sie dort nicht vorbehaltlos aufgenommen und geliebt sind: »Ich meine, solange ich außerhalb … bin und … selber entscheiden kann, wann ich meine Eltern sehe, ist das alles kein Thema, /I.: Hm/ also läuft das prima. Aber … wenn ich dann äh vierundzwanzig Stunden lang mit der, also mit meiner// gerade mit meiner Mutter bin.« Oliver versteht nicht, was er »verbrochen« hat, dass seine Eltern derartig interesselos auf seine Bemühungen reagieren, wieder in Kontakt zu treten. Manche Eltern lehnen, wie bei Karsten, den Kontakt zu ihren Kindern rundweg ab, was sie nur wieder daran erinnern muss, dass Kind zu sein, dass es nicht wert ist, geliebt zu werden. Der Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein wird also dadurch unmöglich gemacht, weil es gerade die eigenen Eltern sind, die als strafende Übermacht dem Kind zeigen, dass es böse, schlecht und nichtswürdig ist. Im Aufbegehren gegen die Erwachsenenwillkür werden die entstehende Wut und Aggression, die dem zwiespältigen Liebesobjekt entgegengebracht werden, einen Schuldkomplex befördern (van der Kolk & McFarlane 2000: 40). Die jungen Menschen können daher nicht eigene Wertmaßstäbe entwickeln, über die sie sich der prinzipiellen Richtigkeit der eigenen Identität vergewissern und das Schlechte der Welt zurückweisen können. Dies kann sich zur Selbstverachtung und zum Selbsthass steigern, was sich am Bahnhof und auf der Straße dann in der weiten Verbreitung von Suizidversuchen, Magersucht, dem Ritzen der Haut, anderen Selbstbeschädigungsformen und massivem Drogenkonsum zeigt (hierzu Teil C, Kapitel 3). Über die eigene Selbstbestrafung wird erreicht, sich von der Last der moralischen Minderwertigkeit, dem schlechten Gewissen zu »reinigen«, worüber sich der moralische Mikrokosmos wieder ein wenig ins Gleichgewicht bringen lässt. Der Erhalt eines Minimums an Selbstachtung wird dann gerade durch diese in der Bahnhofsszene vorherrschende Tendenz zur Selbstzerstörung erreicht. Damit haben bei den Bahnhofsgängern Kindheit und Jugend versagt, für ein inneres Gleichgewicht zu sorgen: »Hier bildet sich die Grundlage des Identitätsgefühls, das später zu dem komplexen Gefühl wird, ›in Ordnung zu sein‹, man selbst zu sein und ein-
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mal das zu werden, was die Umwelt von einem erwartet« (Erikson 1973: 72).
Zerrieben zwischen Misstrauen und Sehnsucht Während des Älterwerdens gehörte unter den jungen Menschen die Erfahrung, durch die Fürsorgeberechtigten ständigen Angriffen auf die sich gerade herausbildenden Ich-Grenzen ausgesetzt zu sein, zur alltäglichen Normalität, sei es im Zuge manifester Gewalt und sexuellen Missbrauchs oder aufgrund von Zurückweisung, Ablehnung und Missachtung. In der achtlosen Eltern-Kind-Dyade konnten sie sich der Willkür der elterlichen Eingriffe nicht entziehen. Die Übergriffe der Eltern gegenüber ihren Kindern bewirkten vielmehr eine fortdauernde Negation von kindlichem Willen, Autonomie und Selbständigkeit. Diese Ausweglosigkeit hat sich über die Generalisierung von kognitiven Erwartungshaltungen und emotionalen Grundbefindlichkeiten tief in die Persönlichkeitsstruktur eingeschrieben. Die jungen Menschen stehen noch als Erwachsene im Schatten dieser destruktiven Beziehungskonstellation, weil bei vielen die Spuren ihrer Missachtung derartig weit in die frühe Kindheit zurückreichen, dass ihnen eine bewusste Erinnerung und Aneignung ihrer Biographie nicht möglich ist. Vor diesem internalisierten Erfahrungshintergrund werden Sozialbeziehungen vor allem als mögliche Bedrohung der eigenen Autonomie erfahren. Auch wenn der Wunsch übergroß ist, sind die jungen Menschen zu einer dauerhaften Partnerschaft oder zu verbindlichen Freundschaften kaum in der Lage. Die wichtigste Voraussetzung, um sich auf einen anderen Menschen einzulassen, ohne sich durch seine Ansprüche und Selbständigkeit bedroht zu fühlen, besteht in der Fähigkeit zur eigenständigen Grenzziehung (Benjamin 1990). Das symbiotische Verschmelzen mit dem anderen birgt die Gefahr einer zunehmenden emotionalen Abhängigkeit. Eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Kindes auf dem Weg zum gereiften Erwachsenen besteht deshalb auch darin, eine sichere Grenze gleich einer Membran zu etablieren, die den Austausch zwischen der eigenen Ich-Struktur und den Forderungen der Weltseite, dem Nicht-Ich, vermitteln kann, ohne damit eigene Ansprüche aufzugeben und zu unterdrücken. Erst dies ermöglicht ein Heraustreten aus den sozialen Abhängigkeitsverhältnissen und die Entfaltung einer sich erweiternden Sphäre autonomer Selbstbestimmung. Doch dieser Schritt zur Selbständigkeit durch Aufbau von Ich-Grenzen
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war den jungen Menschen aufgrund der double-bind-Situation, in der sie sich gegenüber ihren Eltern befanden, nur sehr eingeschränkt möglich. Die kindliche Abhängigkeit von der elterlichen Liebe, Zuwendung und Anerkennung führte zu einer Identifikation gerade mit jener Instanz, von der eine dauerhafte und schwere Verletzung der personalen Integrität ausgegangen ist (Hansbauer 1998: 43). Damit bildet sich auch hier eine paradoxe Konstellation aus: Einerseits besteht als Kompensation der ständigen Zurückweisungen und Vernachlässigungen innerhalb des familiären Interaktionsrahmens auf Seiten der jungen Menschen eine übergroße Bedürftigkeit, einmal in unbedingter Weise geliebt, aufgehoben und anerkannt zu sein. Die an sich schon brüchige Ich-Grenze, die das Gleichgewicht zwischen äußeren Forderungen und eigenen Ansprüchen regulieren soll, ist aber umso gefährdeter, desto sehnsüchtiger die jungen Menschen die Liebe und Zuwendung eines anderen Menschen begehren. Aus einer Position der Schwäche heraus flüchten sie sich in die nächste sich bietende Liebes- beziehungsweise sexuelle Intimbeziehung. Aus dem vorbehaltslosen Eingehen von Partnerschaften resultieren dann zumeist nur weitere Enttäuschungen. Franziska: »Ich denke mal, dass sie [ihre Freundin] auch// oder dass sie halt auch dasselbe Problem hat wie ich, dass sie halt nich alleine sein kann. Also sobald irgend’ne Beziehung zu Ende ist, was sie halt Beziehung nennt, zwei, drei Wochen Beziehung, wie auch immer, dann is sofort am nächsten Tag der nächste bei ihr.« Dadurch dass sich mit dem Scheitern jeder weiteren Beziehung das Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit weiter verstärkt, wird das Bedürfnis immer größer, jede sich nur bietende Chance zu nutzen, um vielleicht in der nächsten Beziehung endlich dieses beklemmende Gefühl zu verlieren, sich in der sozialen Welt allein und isoliert zu fühlen. Die Beziehungen der Bahnhofsgänger leiden darunter, dass diese in der Regel auf das soziale Umfeld der Straßenszene beschränkt blieben, sodass die unstillbare Sehnsucht nach Liebe und Aufgehobenheit auf beiden Seiten vorherrschend ist. Der Aufbau einer Partnerschaft ist häufig allein daraus motiviert, diese unerträgliche Einsamkeit hinter sich zu lassen, was aber nicht nur an der Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit der eigenen Zuneigung und Liebe zweifeln lässt. Zumeist stehen sich beide Seiten, selbst wenn die Beziehung einmal mehr als wenige Wochen überdauert, weitgehend fremd gegenüber. Oliver beschreibt seine Erfahrungen mit seiner Freundin, mit der er schon ein knappes Jahrs zusammenlebt, folgendermaßen: »… weil, … det Vertrauen is da noch nich
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irgendwie so richtig uffjebaut, weeßte. Weil, ick mein, ick seh det jetze, sie vertraut mir NICH einmal, sa’ick ma, … und denn seh ick det nich ein, damit ick da mein hundertprozentijet Vertrauen rinstecken soll.« Die jungen Menschen übersehen dabei, so sehr sind sie auf ihre innere Not fixiert, dass sie in das Scheitern der Beziehung nicht nur durch die Beziehungsunfähigkeit des anderen hineingezogen werden, sondern dass auch auf ihrer Seite die notwendigen Voraussetzungen fehlen, um eine im gegenseitigen Vertrauen fundierte Beziehung einzugehen. Die Partnerschaften folgen daher der Choreographie eines autistischen, gegenseitigen Belauerns, in dem das tiefe Misstrauen vordergründig bleibt, ob sich der andere wirklich dazu bereit erklärt, sich auf die gemeinsame Sache einzulassen. Die jungen Menschen verbindet damit die unterschwellige Angst, dass sich die Erfahrung des Zurückgestoßenwerdens und Verlassenwerdens, wie sie es in der Familie erleben mussten, wiederholen könnte. Aufgrund des Fehlens stabiler Ich-Grenzen impliziert die Übertragung von Autonomieansprüchen an eine Partnerschaft immer die Drohung, dass sich die undurchsichtige Abhängigkeit und die schmerzvolle Hilflosigkeit, wie dies in Kindheit und Jugend erlebt worden ist, wiederholen könnten. Das emotionale Sich-Öffnen, das für jede Partnerschaft notwendig ist, wird dadurch als Bedrohung erlebt. Um sich nicht angreifbar zu machen und um nicht verletzbar zu sein, vermeiden es die jungen Menschen, sich durch eine Beziehung allzu fest aneinander zu binden. Oliver: »… Weil, wenn man det merkt, dass von der andern Seite keen hundertprozenijet Vertrauen kommt, dann brauch man det selbst och nich zu jeben. /I.: Hm/ Weil … da könnt man sich vielleicht irgendwann ma an die Karre mit pissen irgendwie, find ick. … Ob det dann wirklich jut jeht, is die zweete Sache, weeßt du.« In der Beziehungsgestaltung fällt es den jungen Menschen schwer, zwischen wohlwollendem und feindselig-ausbeuterischem Verhalten einer Bezugsperson zu unterscheiden. Gerade bei den Frauen aus der Bahnhofsszene ist eine Beziehungspräferenz verbreitet, in der sie psychischen Halt nur an der Seite eines »starken Mannes« finden. Sie nehmen es dabei in Kauf, dass sich die Stärke, die sie bewundern, nur allzu oft als tyrannische, brutale Gewalttätigkeit des Freundes, Zuhälters oder Freiers dann gegen sie richtet. Während die Gewalt als »berechtigte« Fortsetzung der elterlichen Strafaktionen insgeheim gerechtfertigt erscheint, gerade weil man Zeit seines Lebens nichts anderes verdient hat, bietet ein solches Beziehungsmuster zugleich einen sekundären Gewinn. Anstatt sich allein und einsam
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in einer feindlichen und überfordernden Welt verloren zu sehen, können sie sich über den egoistischen Besitzanspruch ihres Partners geschützt und behütet wähnen. Tatjana, die am Bahnhof fast immer nur in Begleitung einer ihrer häufig wechselnden Männerbeziehungen anzutreffen ist, wirkt immer selbstsicher und stark. Auf den ersten Blick entspricht ihre wortgewaltige Souveränität, in der sie sich zu behaupten weiß, ganz dem Typ Männern, die sie bevorzugt, die oftmals als Schläger in der Bahnhofsszene bekannt sind. Umso überraschender sind daher ihre Erzählungen von den Entwürdigungen und Schlägen, die sie in ihren Partnerschaften immer wieder einstecken müsse. Auf die Frage, warum sie dies akzeptiert habe, antwortet sie, dass sie Angst davor habe, allein zu sein. Verunsicherung und Verängstigung, die das selbständige Leben mit sich bringt, werden hier in der Selbstunterwerfung aufgehoben. »Ihr Masochismus ist eine Anstrengung, von einem anderen anerkannt zu werden: von einem anderen, der mächtig genug wäre, solche Anerkennung zu gewähren. Dieser andere hat die Macht, die das Selbst dieser Frau für sich begehrt. Und sie erlangt diese Macht, wenn auch nur stellvertretend durch seine Anerkennung« (Benjamin 1990: 57) Auf der anderen Seite, als notwendiges Spiegelbild zum Masochismus, finden wir einen Beziehungstypus, in dem die sadistische Tendenz vorherrschend ist, in der die kindliche Ohnmacht zum Triumph gewendet wird, endlich einmal der Stärkere zu sein. Zum Beispiel ist Klaus in der Bahnhofsszene als Schläger bekannt, der schon einmal ohne Veranlassung zuhaut. Trotz seiner hünenhaften Statur hat er immer kleine, zarte Mädchen als Freundinnen, die unsicher und zurückhaltend wirken. Einer Freundin hatte er einmal mitten auf dem Bahnhofsvorplatz mit flacher Hand ins Gesicht geschlagen, die das wortlos, aber weinend hingenommen hat. Eine andere Freundin kam mit einem Veilchen und übersät mit blauen Flecken zum Bahnhof und erklärte der besorgten Sozialarbeiterin, dass sie gestern auf einer Treppe hingefallen sei. Klaus ist selbst im Kinderheim aufgewachsen, wo er gelernt habe, wie er sagt, sein Faustrecht durchzusetzen. Vor Schmerzen habe er keine Angst, die sei er von klein auf gewohnt gewesen. Hier scheinen Hass und Aggression der Eltern, die den Familienalltag bestimmt haben, an die Kinder weitergegeben worden zu sein. In einem verschwiegenen Pakt mit dem Aggressor werden Stärke und Willkür vom Kind anerkannt, sogar oft noch verehrt. Die kumulierte Ohnmachtserfahrung wird schließlich selbst durch das Ergreifen der Gewalt überwunden.
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Die jungen Menschen lernen, es dem elterlichen Vorbild gleichzutun, indem sie ihre Macht durch die Vernichtung des Willens des anderen behaupten. Es fehlt ihnen nun jedes Mitgefühl, das ihren Aggressionsausbrüchen hemmend entgegentreten könnte, da sie bei den Bestrafungsaktionen und Gewaltorgien, die sie selbst am eigenen Leib ertragen mussten, gelernt haben, jede emotionale Regung und moralische Handlungsimpulse zu verleugnen. Ohne noch die Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit im Leiden des Opfers erfassen zu können, legitimiert sich die Machtausübung allein aus dem »moralischen« Recht, das sich aus der Position der Stärke begründet. Die eigene Wahrheit kann hier mit aller Macht durchgesetzt werden, weil der andere selbst seine Schuld an seiner Erniedrigung trägt, indem er sich der »richtigen« Sicht auf die Dinge verweigert (Miller 1983). Und doch hat diese erzwungene Form der Anerkennung keinen beständigen Wert, weil diese nur aufrechtzuerhalten ist, wenn sich der andere innerhalb der unmittelbaren Macht- und Eingriffssphäre befindet (vgl. Denzin 1984: 489). Damit wird der Aggressor immer wieder in seine Vereinzelung und Machtlosigkeit zurückgestoßen, sobald er die Gewalt über sein Opfer verliert (Yablonsky 1962). Erschwerend für die Beziehungsführung tritt hinzu, dass die Bahnhofsgänger schon vom Ansatz her keine konstruktiven Konfliktlösungsstrategien erlernt haben. In der Beziehung zu den Eltern hat sich immer wieder gezeigt, dass ein gegenseitiges Einvernehmen durch Wahrung beidseitiger Interessen nicht als Normalfall gelten kann. Die jungen Menschen sind in einer Welt groß geworden, in der es keine vermittelnden Positionen gab. Vielmehr wurde in der elterlichen Gleichgültigkeit und Missachtung die Nichtigkeit der eigenen Person immer wieder von neuem einsichtig. Paula: »Ähm, … ja, m// meine Mutter is nun auch, also meine Pflegemutter, sag ich mal, ist nu … ziemlich von der alten Schule. Also ziemlich streng erzogen […] … ähm ich hab halt meine Macken so weggehabt, sag ich mal, und ähm … also ich weiß nicht, ob’s normal is, ne Fünfzehnjährige mit ’ner Reitgerte zu verprügeln oder mit// mit’m//mit’m// mit’m … Bügel, also mit’m … Kleiderbügel oder so.« Auch Franziska fühlte sich durch ihre Mutter immerzu ausgenutzt, getäuscht und übervorteilt, bis sie sich mit dem Älterwerden dann schließlich weigert, den Ansprüchen ihrer Mutter auch weiterhin entgegenzukommen. Nach einer Operation, in deren Folge die Mutter für einige Zeit bettlägerig wird, kumuliert dieser permanente Konflikt schließlich im offenen Streit: »Okay, muss halt im Bett liegen so, bis ich dann dahintergestiegen bin, dass
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die Frau ja auch aufstehen kann. Und dann dacht ich mir so, okay, sagst du mal Nein. Und dann hab ich halt Nein gesagt, und dann kam, hä, bist meine Tochter, kannste ruhig mal machen, blah, blah, blah. Und dann, äh, bevor sie mich dann zutextet, hab ich’s halt sogar gemacht. Und dann irgendwann dacht ich, also nee, Frau Mama, nich mit mir, such dir jemand anderes. … Dann gabs n … dicken, fetten Knall. Ja, und dann bin ich auch zwei, drei Nächte nicht zu Hause gewesen nach diesem Knall.« Strategien der Vermittlung, um die Gegensätze hin zu einem für beide Seiten akzeptablen Kompromiss aufzuheben, wurden nicht gelernt. Damit bildet sich als Grundgewissheit jene Erwartung aus, dass unterschiedliche Interessen per se nicht miteinander vereinbar sind, sondern sich in einem ständigen Krieg jeder gegen jeden immer nur der Stärkere durchsetzen kann. Interessenkonflikte werden von den Angehörigen der Bahnhofsszene allein als Machtkonflikte verstanden. Daher ist es für die jungen Menschen kaum möglich, sich auf den Standpunkt des anderen einzulassen und diesen in der Formulierung eigener Interessen zu berücksichtigen. Dies würde zweierlei erfordern: Einerseits die Möglichkeit zur Distanzierung von eigenen Ansprüchen und Interessen, die aber gerade auf emotionaler Ebene, aber auch aufgrund der vorherrschenden Armut derartig unbefriedigt und drängend sind, dass ein Verzicht kaum möglich erscheint. Andererseits müsste der Partnerschaft ein eigener Wert eingeräumt werden, sodass es sich lohnt, individuelle Forderungen und Ansprüche zugunsten der gemeinsamen Sache zurückzustellen. Die Anerkennung der Ansprüche einer anderen Person ist aber kaum möglich für jemanden, der weder die Erfahrung gemacht hat, dass ein Standpunkt vermittelbar ist, dass es einen Interessenausgleich geben kann, sodass zwei Sichtweisen in einer übergreifenden Perspektive aufzuheben sind, noch der der Beziehung einen hohen Wert beimessen kann, weil angesichts der verbreiteten Beziehungsschwierigkeiten nur selten eine Freundschaft oder Partnerschaft dauerhaften Bestand hat. Der Bahnhof wirkt daher wie ein Treibgutstrand, wo Menschen hin verschlagen werden, die einen sicheren Halt in sozialen Beziehungen nie gefunden haben, sondern die in den fortgesetzten Verlusten ihre soziale Isolation erkennen mussten. Der Bahnhof bietet den »Individualisten wider Willen« ausreichend Raum, um sich in immer neuen Gruppenanordnungen zusammenzufinden, ohne soziale Verpflichtungen einzugehen. Obwohl das Bedürfnis nach Liebe, Zuneigung und Aufgehobenheit übermächtig ist, bleiben die jungen Menschen in ihrer Bedürftigkeit nach verbindlichen
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Sozialkontakten allein. Gleichzeitig herrscht auf der Straße, gerade weil soziales Kapital und emotionale Ressourcen hier ein derart knappes Gut sind, ein entfesselter Kampf um Anerkennung. Dass Zwischenmenschlichkeit gar nicht erst in einen Kampf münden muss, in dem man sich mit seinen Forderungen, Ansprüchen, Bedürfnissen auf Kosten des Partners, Freundes oder Bekannten durchzusetzen hat, sondern es sich um ein sich entwickelndes Miteinander handeln kann – diese Möglichkeit ist erst gar nicht einsichtig.
Verleugnete Objektbindung und regressiver Rückzug Es ist die heillose Überforderung der Eltern, die Verwahrlosung von Wohnung und Lebensumfeld, die vorherrschende Armut, ständige Diskontinuität von Wohnort, Primärbeziehungen und Lebensräumen, die Übergriffe der Eltern, weshalb die jungen Menschen sich nur mit Scheu an Dinge, Situationen und Menschen binden, die von subjektiver Bedeutsamkeit sind. Die jungen Menschen verhalten sich daher nicht nur beim Aufbau von Sozialbeziehungen zögerlich und zurückhaltend, sondern auch wenn es um die Bezugnahme auf Möglichkeiten der sachlichen Welt geht. Ohne dauerhaft für den Bestand der Dinge und Möglichkeiten sorgen zu können, reduzieren die jungen Menschen den Horizont, auf den hin sie ihr Leben entwerfen, auf die im kurzen Glück genießbaren Momente, die nicht erst in einer fern liegenden, damit fragwürdigen Zukunft wahr werden. Sven macht diese Verkürzung aller Interessen, Wünsche und Ziele auf die unmittelbare, hedonistische Bedürfnisbefriedigung zu seiner Lebensmaxime. Es geht ihm vor allem um das schnelle Machen und Ausgeben von Geld, wohinter alle ausgreifenden Zukunftsperspektiven zurückstehen: »Wenn ich zur Schule gegangen wär, dann hätt ich vormittags// ähm oder irgendwas anderes gemacht hätte, Lehrer, hätt ich ja abends nich das Geld dafür, dass ich denn … irgendwie dumm am Zoo rumsitze. … Und ich hatte irgendwie auch kein ((unv. Wort)), ich wollt einfach nur schnell Geld machen und schnell wieder ausgeben.« In der Kindheit erfolgt auch der Aufbau von Handlungsfähigkeit, der auf der Erfahrung der Selbstwirksamkeit gründet, über den geschützten Rahmen der Eltern-Kind-Koordination: In der schrittförmigen Entfaltung subjektiver Vermögen und Fähigkeiten lernt das Kind, die eigene Situation und Umwelt zu kontrollieren, um an den Dingen, die wichtig sind, festhalten zu können. Die Entwicklung von Autonomie und Selbständigkeit
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setzt voraus, dass über die haltende, anerkennende Zuwendung und Fürsorge der Eltern dem Kind ein beherrschbarer Handlungs- und Entwicklungsraum geboten wird, worüber dieses in seinen ersten ausgreifenden Schritten in die Welt bestärkt wird und die Kontrolle der nächsten Umwelt erlernen kann. Erst im Aufbau von Handlungskontingenzen, über die das Kind seine Bedürfnisbefriedigung wie Interessenentfaltung mitsteuern kann, wächst das Kind auch in seinen Fähigkeiten und Kompetenzen. Dagegen blieben sich die jungen Menschen weitgehend selbstüberlassen, wie Franziska zu berichten weiß: »DesWEgen, eigentlich war ich ja ganz froh, dass ich dann zum Breiti gekommen bin so, … warn meine ersten … Kontakte zur Außenwelt, möchte ich mal so meinen, weil ich echt … Schulzeit nur … im Kinderzimmer rumgesessen habe, Langeweile geschoben, Fernsehen geguckt, was weiß ich nicht. … Ja. … Meine Eltern warn auch nich der Meinung, irgendwas ma mit mir zu unternehmen.« Das Drama der jungen Menschen damit besteht auch darin, dass sie mit der kontinuierlichen und kindsgerechten Unterstützung der Eltern, die für die Erprobung und Ausbildung der Handlungsfähigkeit unentbehrlich ist, nie zuverlässig rechnen konnten. Als Heranwachsende schon früh auf sich selbst zurückgeworfen, ohne wirklich über die Voraussetzungen zu verfügen, sich um all die Kernaufgaben, die aus der alltäglichen Lebensführung resultieren, zu kümmern, waren sie durch diese Situation des Sich-selbstüberlassen-Seins weithin überfordert. Der Rückzug von der Welt ist daher auch als ein Selbstschutz zu verstehen, den sie sich schon von Kindheit an zu eigen gemacht haben. So entwickelt sich die Tendenz, im Vorhinein alles zu verleugnen, was ihnen vom Leben, den Eltern, anderen Erwachsenen wieder genommen werden könnte, letztlich um nicht verletzbar zu sein. Es sind daher nicht nur die objektiven Schwierigkeiten, die sich aus dem sozialen Ausschluss und dem überbordenden Feld der Exklusion ergeben, sondern auch psychische Orientierungs- und Handlungsdispositionen. Die jungen Menschen folgen einer Tendenz, die ihnen zur Lebenslehre geworden ist, indem sie erst gar nicht auf die Verlässlichkeit und Solidität der Welt bauen. Aus der Angst wieder nur im Innersten verletzt zu werden, schreiten sie ohne allen Ballast ins Leben, um sofort die Zelte abzubrechen, wo eine weitere Beschränkung ihrer Lebensperspektiven und -ansprüche droht. Dies kommt in der Regression der intentionalen Bezogenheit auf die Sozialwelt, wie dies in der topologischen Aufteilung der Lebenswelt zu beobachten ist, besonders deutlich zur Geltung: Die Le-
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bensbereiche reduzieren sich auf die wenigen kontrollierbaren Bereiche wie Bahnhof, Freundeskreis, Subkultur, während sie sich von den meisten Bereichen der Erwachsenenwelt, über die sich ihr sozialer Ausschluss vermittelt, längst zurückgezogen haben. Durch diese Verkürzung ihrer Interessen vollziehen sie quasi in voreilendem Gehorsam die zu erleidenden Einschränkungen der Deprivations- und Armutslage an sich selbst.
2. Mensch minderen Rechts Neben der liebenden-fürsorglichen Anerkennung als Mitmensch durch das primäre Sozialumfeld findet sich eine zweite Anerkennungsform, die den jungen Menschen versagt bleibt: die Rechtsgleichheit. Nicht ein Mensch von gleichem Recht zu sein, sondern in seiner individuellen Autonomie und Selbstbestimmung immer wieder durch die Übergriffe anderer Menschen, die mächtiger und stärker sind, eingeschränkt zu werden, dies gehörte schon in der Familie zur biographischen Kernerfahrung. Diese Situation des Ausgeliefertseins an die Willkür anderer Menschen wiederholt sich in den institutionalisierten Bereichen der Erwachsenenwelt, weil die jungen Menschen in den hierarchischen Anerkennungsverhältnissen über keinen ebenbürtigen Status und keine gleichberechtigte Position verfügen. Die Formen von Armut und Exklusion, wie diese als lebensweltliche Erfahrungstatbestände zur gelebten Alltagsrealität werden, verletzen nur zu offensichtlich die Auffassung, dass nicht nur alle Menschen die gleichen Rechte miteinander teilen, sondern dass alle Menschen diese Rechte auch in Anspruch nehmen können. Die gesellschaftlichen Exklusionsformen schlagen in direkte Diskriminierung um, sobald Menschen einer sozialen Gruppe zugeordnet werden, die zu einer Minorität von minderen Rechten und geringem Wert erklärt wird. Auf der Ebene symbolischer Legitimation werden die Ansprüche der Minderheitengruppe auf rechtliche und soziale Anerkennung durch die Etikettierung negativer Eigenschaften partialisiert und entwichtigt. »Die symbolische Diskriminierung verweigert gesellschaftliches Ansehen: Die anderen werden unwichtig gemacht, man hat kein Interesse an ihnen und weiß nichts von ihnen« (Rommelspacher 2006: 9; ebd. 1997). In der Repräsentationsfigur des geldgierigen, drogengesteuerten, gewissenlosen Junkies überkreuzen sich dabei zwei Bereiche der symbolischen Missachtung: die
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moralische Aberkennung von legitimen Rechten der Teilhabe an der Gesellschaft und das Vorenthalten von allgemeiner Achtung und Wertschätzung. Die unteren Ränge der Prestigeordnung (Kreckel 1992), die sich über die diskriminierenden Eigenschaftszuschreibungen ausbilden, wirken als negativer Selektionsmechanismus. Zwar sind es nicht die formal verbürgten, bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte (Marshall 1992), die zur Disposition stehen. Die Stigmatisierung steigert sich zur faktischen Diskriminierung, insoweit vor allem das informelle Recht auf Zugang zu attraktiven Sozialräumen und damit die gesellschaftliche Teilhabe in Abrede gestellt werden. Die soziale Identität des Bahnhofpenners, Sozialhilfeempfängers, Drogensüchtigen baut ganz auf dem moralischen Vorwurf auf, dass sie gegenüber den legitimen, berechtigten Mitgliedern der Gesellschaft keinen eigenständigen Beitrag zum Gemeinwesen leisten. Diesem Vorwurf der Zugehörigkeit zu der Gruppe der »undeserving poor« ist umso weniger auf sachlichem Wege entgegenzutreten, wie sich die Durchschlagskraft dieser Bilder des Elends und der Misere gerade aus der diskursiven Konstruktion einer immanenten Inferiorität, Widerwärtigkeit und Gefährlichkeit ableitet. Entlang dieser moralischen Delegitimation werden den jungen Menschen individuelle Verfügungs- und Anerkennungsansprüche abgesprochen. Daher sind es nicht die jedem Staatsbürger verliehenen Rechte selbst, die ihnen entzogen werden; vielmehr wird die Möglichkeit vorenthalten, in der Interaktion mit Passanten auf der Straße, mit den Sachbearbeitern auf den Behörden, mit Angehörigen höherer Sozialschichten die Erfüllung allgemeiner Rechte einzufordern und durchzusetzen. Damit bleibt ihnen auf der mikrosozialen Ebene gesellschaftlicher Interaktion die Erfahrung verschlossen, als ein vollwertiges Mitglied des Gemeinwesens anerkannt zu sein. Vielmehr gelangen die jungen Menschen zur beschämenden Einsicht, dass, wenn man von der Straße kommt, von geringerem Wert ist und über mindere Rechte verfügt (Fraser 2003: 233). Als Minoritätsangehörige sollen sie sich vielmehr mit dem begnügen, was ihnen die Gesellschaft als Almosen gewährt. Hier findet sich keine Konvergenz zwischen Pflichten und Rechten: »… auf seiten des Staates bestehe die Pflicht, den Armen zu unterstützen, aber dem entspreche kein Recht des Armen darauf, unterstützt zu werden« (Simmel 1992: 551). Als ein besonders entwürdigender Ort der Entrechtung treten aus der Perspektive der Straße die Sozialbehörden in Erscheinung, als eine der letzten Kontaktstellen zur Gesellschaft, die überhaupt noch zur Lebensab-
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sicherung genutzt werden. Die institutionelle Exklusion funktioniert vermittelt über die systematische Entmutigung und Entwertung subjektiver Ansprüche, sodass diese, selbst wenn darauf ein an sich durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht, überhaupt nicht erst verfolgt werden. Es muss gar kein Widerspruch darin bestehen, dass die Sozialbehörden eine über Gesetzgebung, Ausführvorschriften und Organisationskultur geregelte Institution sind, wohingegen sich aus der Betroffenenperspektive die Entrechtung als kaum größer darstellen kann. Mike: »GRAde dann bei Behörden un grade, wenn da Treberhilfe [das Streetworkerteam]// wenn irgend n Stempel druff is, is immer ganz anders, als wenn du … ((nachdrücklich:)) als NICHTS, als NULL von’ner Straße äh sagst: ›Hier‹, weeßte?« Die Null von der Straße zu sein, bedeutet, dass sich die diskriminierende Degradierung, die er als Sozialleistungsbezieher und Obdachloser in Bezug auf seinen Sozialstatus erfährt, auch auf die Möglichkeit auswirkt, seine Rechtsansprüche behaupten zu können. Mike sieht kaum eine Chance, für seine Interessen erfolgreich einzutreten, weil seine Person im Wechselspiel institutionalisierter Rollen nicht von Gewicht ist. Erst eine anerkannte Instanz, nämlich die studierten Sozialarbeiter der Treberhilfe, die eine mit symbolischen Kapitalien ausgestattete Gesellschaftsposition vorweisen können, verschaffen den eigenen Ansprüchen die notwendige Legitimation. Die Erfahrung der Entrechtung, wie diese aus den asymmetrischen Anerkennungsbeziehungen resultiert, verstärkt sich vor dem Hintergrund der diskursiven Delegitimierung der Anspruchsberechtigung von Sozialleistungen. Mike: »Wenn dir irgendwer sagt: ›Na, wat’n? Äh ick zahl für dich STEUern.‹ Ick sag: ›Nee, nee, nee, nee, NEE. … Ick// … nee, nee, ick beziehe keine Sozialleistungen.‹ … das is der Unterschied. … Wenn ick äh äh Sozialhilfe krieje, is wat andret. … Aber ich lieg nich DIR … uff der Tasche, KEInem. … Da ha’ick immer druff Wert jelegt. Also wenn ick irgendwie RAUSjehört habe oder mir det eener direkt jesagt hat, ha’ick jesagt: ›Nee, MEISter, SO nich. … ICK schlage mich so durch.‹« Umso weiter sich die beantragten Sozialleistungen von dem umlagefinanzierten System einer auf dem Solidaritätsprinzip gründenden Sozialversicherung entfernen, desto umfassender und systematischer wird im gesellschaftlichen Diskurs der Sozialleistungsbezug moralisch entwertet. Das Angewiesensein auf die Alimentierung materieller Bedürftigkeit, ohne selbst einen eigenständigen Beitrag für das Sozialwesen leisten zu können, schwächt in elementarer Weise die eigene Position. Gerade wegen der Beschämung,
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nicht nur am sozialen Rand zu stehen, sondern auch noch von der Gewährung von »unverdienten« Almosen abhängig zu sein, ist für die Statuslosen das offensive Einfordern von Rechten und Achtung kaum möglich. Zudem werden Vorstellungen von rechtlicher Gleichstellung allein schon durch die formale Ausgestaltung der Sozialgesetzgebung konterkariert. Die unhintergehbaren Ansprüche des von Armut Betroffenen an die Gesellschaft, mit dem Lebensnotwendigen versorgt zu werden, werden durch eine vom Gesetzgeber politisch gewollte Asymmetrie zwischen Rechten und Pflichten lateralisiert. Die Entrechtung ist hier, wie dies zuvor schon in der Beschreibung von Formen institutioneller Exklusion ausführlich gezeigt wurde, über die Bewertungsprozeduren der Behörde vermittelt, in der die gesetzliche Rechtmäßigkeit der beanspruchten Sozialleistungen festgestellt wird. Die jungen Menschen erfahren sich an ein bürokratisches Verfahren ausgeliefert, das hinter der saloppen Formel von »Fördern und Fordern« zwar für keine Arbeitsplätze sorgen kann, aber einen beständigen Rechtfertigungsdruck entfaltet (Trube & Wohlfahrt 2004). Diesem ist so lange nicht wirklich auszuweichen, wie den jungen Menschen aufgrund des übermächtigen Problemhintergrundes eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt nicht gelingt. Die Verschärfung der Sanktionen, die auf eine sukzessive Kürzung des Leistungsbezuges bei unzureichendem Nachkommen der Mitwirkungspflicht zielen, bringt eine weitere Verunsicherung ihrer legitimen Ansprüche mit sich (vgl. Brühl 2004: 6). Die Gesellschaft, die sie verstößt, fordert zur gleichen Zeit von ihnen, noch die Verantwortung für ihr Verstoßensein auf sich zu nehmen. In diesem entwürdigenden Prozedere finden die jungen Menschen in der Gesellschaft kein Gegenüber, von dem sie die Anerkennung erhalten, die sie selbst der Gesellschaft allein schon aufgrund ihrer existentiellen Abhängigkeit gegenüberbringen. Dementsprechend fühlen sie sich von der Gesellschaft aus dem Kreis anerkennungswürdiger Subjekte verstoßen. Aber auch in anderen Gesellschaftsbereichen, solange hier überhaupt noch Kontakt besteht, müssen die jungen Menschen ihrer Entrechtung einsichtig werden, wie diese in den mehrdimensionalen, sich überlagernden Exklusionsprozessen fundiert ist. In den Mikropraxen der sozialen Interaktion erfahren die jungen Menschen, dass sie sich gegenüber anderen Statusgruppen, die sich durch eine umfangreichere Ressourcenausstattung auszeichnen, nicht durchsetzen können. In Gestalt des Vermieters, Arbeitgebers, Kundenberaters bei Banken und Versicherungen, Verkäufers in den Warengeschäften begegnen sie der Erwachsenenwelt, in der die Be-
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lange der sozial Schwachen kaum zählen, allein weil die finanziellen Mittel fehlen. Die jungen Menschen können in den oftmals heruntergekommenen Wohnungen lange darauf warten, dass notwendige Reparaturmaßnahmen durchgeführt werden. Der Arbeitgeber kündigt kurzerhand das Arbeitsverhältnis, sollten sich die jungen Menschen einmal beklagen. Von Banken werden sie trotz rechtlichen Anspruchs bei der Eröffnung eines Guthabenkontos abgewiesen. In Geschäften werden sie mit scheinbar günstigen Angeboten, hinter denen sich überteuerte Ratenkredite verbergen, über das Ohr gehauen. In kleinen Alltagsszenen konkretisiert sich für die jungen Menschen das, was für sie längst Gewissheit geworden ist, nämlich ihre eigene Chancenlosigkeit, sich bei Durchsetzung von Ansprüchen in der Erwachsenenwelt gleichberechtigt einzubringen und durchzusetzen. Gegenüber dem Sachbearbeiter auf Behörden, dem Arbeitgeber oder Vermieter fühlen sie sich bald wieder an die Übermacht der Erwachsenen ausgeliefert. Anstatt hier zu versuchen, ihre Ansprüche konstruktiv ins Feld zu führen, um die Spielräume auszuloten, die sich für die eigene Sache nutzen ließen, übersetzen sie diesen Interessenkonflikt schnell in einen Machtkonflikt. Willkür, Vorschriften und Anordnungen lassen sie sich in der Regel nicht gefallen, gerade weil sie durch die Flucht auf die Straße ihre Freiheit kennen gelernt haben. Zum Beispiel findet es Mike selbstverständlich, dass er auf der Arbeit ernst genommen wird und ihm keiner sagt, was er zu tun hat: »Wenn er [der Chef] sagt: ›Pass ma uff//‹ wenn er’n VORschlag macht … äh oder ne BITte hat: ›Pass uff, könnste vielleicht ma da wat machen.‹, okay. … Wenn es aber heißt: ›Pass uff. HEUte … da, da un DA.‹, det is// da kommt … i// in// in mir de// ((haut auf den Tisch)) dieser BLOCK. … ((nachdrücklich:)) SO schon ma jar nich. … Die// äh also der Ton spielt die Musik.« Es ist aber gerade das Dilemma der prekären Lebenssituation, dass am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie eigene Ansprüche und Vorstellungen nur wenig zählen. Ein Arbeitgeber wird sich wohl kaum bitten lassen, seine Vorstellungen der Nutzung der Arbeitskraft nach den Wünschen des Arbeitnehmers zu richten, wenn auf der Straße viele weitere Menschen warten, die jeden Job ohne jeglichen Widerspruch annehmen würden. Schließlich muss es den jungen Menschen besonders im öffentlichen Raum, auf der Straße, gewahr werden, dass eine wechselseitige Anerkennung als gleichberechtigte Personen von der Erwachsenenwelt kaum zu erwarten ist. Ein Mensch minderen Rechts zu sein und die Nichtigkeit der eigenen Person einzusehen, wird daher kaum deutlicher als am Bahnhof,
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weil die jungen Menschen ständig damit rechnen müssen, selbst vom äußersten Rand der Gesellschaft noch vertrieben zu werden. Oliver: »Na ja, det is// also … jetzt … im letzten Jahr is det extrem jeworden halt, also man merkt det richtig, damit det hier Regierungsbezirk jeworden is, Berlin, ne, … Hauptstadt. Und … war früher nich so extrem jewesen, damit de da so schnell wegjeschubst wurdest.« Die öffentliche Ordnung versucht es zu verhindern, dass sich die jungen Menschen den öffentlichen Raum für ihre eigenen Zwecke zu eigen machen, um hier an einem der letzten Refugien ihrer sozialen Existenz der Vereinzelung und Isolation durch den Aufbau eines sozialen Netzwerks junger Menschen entgegenzutreten. Diese Rechtseinschränkung kommt nicht nur in der Hausordnung zum Ausdruck, welche die Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum regulieren und beschneiden und ganz allein an die sozial Deplatzierten, Bettler, Straßenjugendlichen adressiert sind. Die Bahnhofsgänger sind auf der Straße zudem persönlichen Verunglimpfungen, Beleidigungen und Herabwürdigungen ausgesetzt, in denen ihnen jeder menschliche Wert abgesprochen wird. Der verletzende Charakter dieser Äußerungen besteht nun gerade darin, dass diese nicht als Einzelmeinungen für sich stehen, sondern von den allgemeinen Ansichten der Öffentlichkeit getragen sind, denen schon allein aufgrund des Fehlens eines eindeutigen Adressaten nicht viel entgegenzusetzen ist. Durch die Stilisierung als die »verworfenen Anderen« unserer Kultur (Bergschmidt 2004) erfahren Individualitätsentwurf und Lebensform ihre symbolische Vernichtung. Ein individueller Wert lässt sich gegenüber der geballten Macht der typisierenden Kollektiveigenschaften nicht behaupten. Die Entrechtungen und Demütigungen werden am Bahnhof in ihrer ganzen Rigorosität und Schärfe deutlich. Die Bahnhofsgänger werden spätestens hier zu den Vogelfreien und Rechtslosen, die ständig entwürdigende Polizeikontrollen erdulden müssen, die von Geschäftsinhabern verjagt oder von den Passanten beleidigt, beschimpft und bedroht werden. Die verweigerte Anerkennung in substantiellen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verstetigt sich zu jenem übergreifenden Ausschließungsprozess, der aus der Außenperspektive des Unbeteiligten in seiner Subtilität nur schwer wahrzunehmen ist, weil dieser sich in kleinteiligen, diskreten, zufälligen Interaktionen vollzieht. Erst aus der unmittelbaren Betroffenheit heraus, die sich über die verschiedensten Gesellschaftsbereiche verdichtet, wird die Erwachsenenwelt zum Inbegriff der Ausgeschlossenheit von verallgemeinerten Rechten.
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Durch das kontinuierliche Scheitern der individuellen Selbstbehauptungs- und Anerkennungsbemühungen kommt es schließlich zu einer gravierenden Erschütterung des eigenen Selbstverhältnisses. Angesichts der andauernden Erniedrigungen und Missachtung ist Selbstwert gegenüber der definitorischen Übermacht der Mehrheitsgesellschaft nicht zu gewinnen. Von Familie und Gesellschaft, also den zentralen Vergesellschaftungsfeldern, erhalten sie die Rückmeldung, dass ihre Person nicht als würdig genug erachtet wird, um ihnen ausreichend Achtung entgegenzubringen. Sie müssen einsehen, dass ihnen nicht dieselben Individualisierungsmöglichkeiten zugestanden werden, wie diese von der gesellschaftlichen Mehrheit in Anspruch genommen werden. »Insofern geht mit der Erfahrung der Entrechtung typischerweise auch ein Verlust an Selbstachtung, der Fähigkeit also, sich auf sich selbst als gleichberechtigter Interaktionspartner aller Mitmenschen zu beziehen, einher« (Honneth 1994: 216; vgl. auch Feinberg 1980). Die jungen Menschen verfügen damit über keine Erfahrungssubstanz, auf die sie sich beziehen können, um den Wert der eigenen Person auszuweisen, wodurch sich auf neuer Ebene die existentielle Unsicherheit verstetigt, ein niemand zu sein. Die Fortsetzung der Erfahrung von Willkür in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen verstärkt und verfestigt die Generalisierung von Erwartungshaltungen und Grundbefindlichkeiten, damit eine habituelle Reaktionsbereitschaft, die jeder Beteiligung an sozialen Interaktionsprozessen mit der Erwachsenenwelt ausweicht. Hieraus erfährt jenes generalisierte Reaktionsmuster eine weitere Verstärkung, wodurch schon bei den ersten sich andeutenden Schwierigkeiten die Inanspruchnahme der zustehenden Rechte erst gar nicht mehr angestrebt wird. So wendet sich auch Mike erst als ein Freund ihm seine Unterstützung versichert, sodass er nicht mehr mit seinem Antrag in der Hand allein dasteht, an die Sozialbehörde: »Ja, gut, sicherlich … durch dieset ganze Warten hatt ick den ((unv. Wort)), ick war kurz davor, det Handtuch zu schmeißen, aber weeßte wat, ach, komm, … det hat immer jeklappt, weeßte, dann lässte die Scheiße. … Bloß er hat immer jesagt: ›Komm, zieh det durch. Ick weeß det. Das is schwer … morgens uffzustehn‹ … und teilweise dann … warteste drei Stunden un dann heißt et hier, äh du bist im falschen Zimmer, musste runterjehn un dann// … aber det hab ick dann jeMACHT.« Vom Standpunkt des Betroffenen macht es nur wenig Sinn, sich für die Anerkennung und Verwirklichung von Autonomie und Rechten in Bereichen einzusetzen, wo beständig nur die Aberkennung des eigenen Subjekt-
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status erfahren wird. Die jungen Menschen treten in den Arenen der Erwachsenenwelt häufig erst gar nicht mehr an, um für die eigenen Interessen und Möglichkeiten zu streiten. Wie Franziska brechen die Jugendlichen dann alle Kontakte zur Erwachsenenwelt ab: »Also da hatt ich die Schnauze voll vom Jugendamt, weil … ich so’ne dumme … dumme … Jugendamtstusse hatte, die halt … mir eh nich geglaubt hab, was ich ihr erzählt habe.« Sie versuchen der Welt weitläufig aus dem Wege zu gehen, sobald sich das tief in das Affektleben eingeschriebene Gefühl der Missachtung, Demütigung und Ohnmacht in einer neuen Situation wiederbelebt. Durch die Verleugnung jeder Objektbindung, indem sich die jungen Menschen von der Sozialwelt zurückziehen, gelingt so zumindest phasenweise die Inbesitznahme jener Pseudoautonomie, die in der widersprüchlichen »Freiheit der Straße« zum Ausdruck kommt (Winterhager-Schmid 2001: 203). Aber selbst diejenigen, die sich nicht in Resignation und Apathie zurückziehen, sondern sich über die expressiven Selbstbehauptungsformen der Straße ein letztlich fragil bleibendes Selbstbewusstsein zu verschaffen versuchen, brechen immer wieder in sich zusammen, wenn sie wieder einmal ihre Rechtlosigkeit und ihr Ausgestoßensein gewahr werden.
3. Missachtung von Individualität Auf einer dritten Anerkennungsebene ist das Individuum nicht nur darauf angewiesen, dass ihm neben der emotionalen Zuwendung auch das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung zugestanden wird, um sich als Mitglied der Gesellschaft sozial aufgehoben fühlen und zugleich frei entfalten zu können. Vielmehr ist der Einzelne auch davon abhängig, dass seine Lebensform, in der er sich über die Ausbildung persönlicher Fähigkeiten und Eigenschaften als Person realisiert, von den anderen Gesellschaftsmitgliedern anerkannt wird. Dazu sagt Honneth: »Denn Ego und Alter können sich wechselseitig als individuierte Personennatur unter der Bedingung wertschätzen, daß sie die Orientierung an solchen Werten und Zielen teilen, die ihnen reziprok die Bedeutung oder den Beitrag ihrer persönlichen Eigenschaften für das Leben des jeweils anderen signalisieren« (1994: 196). Der Schlüssel, um an soziale Wertschätzung zu gelangen, resultiert trotz der gesellschaftlichen Umbruchsituation, in der wir uns gegenwärtig befinden, noch immer aus der Normalintegration in die Arbeitsgesellschaft.
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An diese von Gesellschaftsmitglied zu Gesellschaftsmitglied laufende Kette kooperativer Arbeitsteilung bleibt auch die Anerkennung gebunden, die der Einzelne innerhalb der Gesellschaft genießt. Arbeitslosigkeit bringt auf Dauer den kategorischen Ausschluss aus der Gruppensolidarität, das heißt aus dem kreisförmig umherlaufenden Anerkennungsbeziehungen mit sich, gerade wenn es nicht gelingt, alternative Aufgaben- und Lebensbereiche aufzubauen, in der sich eine Beteiligung am gesellschaftlichen Leben eröffnet. Angesichts der ökonomischen Exklusion, aus der die tiefe Verarmung resultiert, mag es nun überraschen, dass der universelle Wertekonsens unserer Gesellschaft, der Arbeit und Leistung eine herausgehobene Stellung beimisst, auch in der jugendkulturellen Bahnhofsszene seine Gültigkeit beibehält. Im sozialen Abseits zu stehen, bedeutet nämlich auch, sich dem allgemein geltenden Arbeits- und Leistungsethos nicht entziehen zu können, weil alle Lebensperspektiven letztlich an die Mächtigkeit der materiellen Verteilungs- und moralischen Legitimationsformen der Gesellschaft gebunden bleiben. Leistungsbereitschaft und Arbeitswilligkeit werden daher ebenfalls in den geselligen Runden in der Bahnhofshalle als achtbare Werte geschätzt, wenngleich im Widerspruch dazu alle Beteiligten arbeitslos sind. Die Arbeitstätigkeit ist ein Impulsgeber und Initiator zur Entwicklung von Selbstverwirklichung, Anerkennung und Selbstschätzung. Menschen brauchen eine Aufgabe, mit der sie sich, im wahrsten Sinne des Wortes, verwirklichen können. In der Arbeit vollzieht sich, solange diese dem Einzelnen nicht in entfremdeter Form gegenübertritt, eine produktive Entäußerung subjektiver Antriebe und Impulse, gerade weil sie auf diesem Wege in die ungeheuren Möglichkeiten des modernen Lebens einbezogen werden. Der Alltag in der Bahnhofsszene zeigt demgegenüber, dass die jungen Menschen von diesen sozial vorgesehenen Selbstverwirklichungsformen weitgehend ausgeschlossen sind und über die marginalen, rein privaten Betätigungsfelder kaum hinaustreten. Einen Ausweg aus der Entwertung der eigenen Arbeitskraft bieten, trotz der begrenzten Zukunftsperspektiven, die Schul-, Ausbildungs- und Arbeitsmaßnahmen, die über die Bundesagentur für Arbeit angeboten werden. Erst die Bildungsmaßnahme in der Jugendeinrichtung, in der Franziska wohnt, eröffnet ihr eine für sie ganz neue Dimension einer sich in der Arbeitstätigkeit entäußernden Selbstverwirklichung. Bei der Herrichtung des wohnprojekteigenen Aufenthaltsraumes kann sie sich zum ersten Mal selbst als Ursprung eines produktiven
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Tätigseins begreifen: »… also wir hatten dann so’n schicken … Aufenthaltsraum gekriegt, den ich dann halt in meiner Freizeit noch klargemacht habe, also Parkettboden mit geholfen zu verlegen und so. … Ich war ja damals total arbeitswütend. ((lacht kurz auf)) Und ähm Steckdosen einbaun und so weiter.« Über das Ausmaß der Produktivität und Leistungsfähigkeit, die sie weit über das geforderte Pensum hinaus entwickelt hat, scheint sie im Rückblick selber noch erstaunt zu sein. Durch den allgemeinen Sinn und Zweck der Tätigkeit, das Parkett im Aufenthaltsraum zu verlegen und funktionstüchtige Steckdosen einzubauen, schafft sie etwas Objektives, durch das sie sich selbst in einer von ihr mitgestalteten Wirklichkeit erfassen kann. »Die [Steckdosen] wurden jedenfalls überprüft, hm, einwandfrei, ((lacht kurz auf)) meinte der Meister dann zu mir. ((klatscht in die Hände)) Bin ich sehr stolz drauf. ((lacht einmal kurz)).« Zudem bleibt diese Wirklichkeit nicht etwas Individuelles, das nur für sie Relevanz hat, wie etwa Haushaltsführung oder Hobbys, sondern erweitert sich hin zur sozialen Anerkennung. Als eine Grunddimension gelingender Sozialintegration sieht auch Sennett (2006) das Eintreten in die gesellschaftlichen Anerkennungsbeziehungen an: »Feeling useful means contributing something which matters to other people« (S. 189). Die Anerkennung erstreckt sich daher nicht allein auf das Geleistete, sondern Franziska erlangt Bedeutsamkeit für andere Menschen, mit denen sie zusammenarbeitet und die mit ihren Leistungen rechnen. Indem sie ihre Fähigkeiten und Eigenschaften zur Anwendung bringt, die sich innerhalb des kooperativen Aufgabenzusammenhangs als nützlich und wertvoll erweisen, wird schließlich die Person als Ganzes von der ihr entgegengebrachten Wertschätzung erfasst. In dem Maße, wie sie die ihr anvertrauten Aufgaben erfüllt und etwas Allgemeingültiges schafft, können zugleich Stolz und Selbstschätzung wachsen, die in der Marginalität und Randständigkeit der Gesprächsrunden am Bahnhof kaum zu haben sind. Erwerbsarbeit erlangt aber aus noch einem Grund einen zentralen Stellenwert. Die jungen Menschen erhoffen sich, wieder in die Sinn- und Zeitstrukturen des gesellschaftlichen Lebens einbezogen zu sein. Mike, der zum Zeitpunkt des Interviews aus eigener Initiative in einer 1-Euro-JobMaßnahme beschäftigt ist, macht beim morgendlichen Weg zur Arbeit eine für ihn neue Erfahrung: »Un det is irgendwo ooch … diese GeFÜHL, du … stehst uff, bist in’ner U-Bahn und siehst, die// ALle Leute, die fahr’n da zur Arbeit.« Die morgendliche Fahrt in der U-Bahn wird zum Sinnbild für den Anschluss an das gesellschaftliche Leben. Mike wird damit Teil der
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allgemeinen Beschäftigtheit und Rastlosigkeit, die unter seinen Mitmenschen bei der Pflichterfüllung der täglichen Arbeit herrscht. Indem sein Alltag nun in die Aufgaben und Pflichten der täglichen Arbeit eingebunden ist, steht sogar der lose Zeitvertreib am »Bahnhof Zoo« im neuen Licht: »Und dann, wenn de fertig bist. … Ick KOMM von Arbeit. … Oder, weeßte? Noch ((unv. Wort)): Ick hab wat jeTAN. … DU … erzählst mir, du bist müde, … bist vor ner Stunde uffjestand’n un … ick bin aber schon// hab schon wat jeTAN, weeßte?« Im Vergleich zu den Bahnhofsbekanntschaften, die weiterhin getrennt vom gesellschaftlichen Leben in den leeren Bahnen ihres Alltag kreisen, ist Mike unmittelbar an etwas Sinnund Gehaltvollem beteiligt. Indem Mike von sich sagen kann, er habe »heute schon was getan«, kann er über die Marginalität seiner Existenz und über den prekären Sozialstatus hinaustreten und sich in der öffentlichen Arena wechselseitiger Tausch- und Anerkennungsbeziehungen nicht allein als »generalisierter Anderer«, sondern als legitimer Mitspieler betätigen. Die Erfüllung einer gesellschaftlich ausgewiesenen Aufgabe und Funktion ermöglicht es, die eigene Identität von dem ständig bohrenden, am Arbeits- und Leistungsprinzip gespiegelten Rechtfertigungsbedürftigkeit freizuhalten. Aus der elementaren Verbesserung des Sozialstatus, indem ein wenn auch in bescheidenem Maße vollzogener Aufstieg vom Bahnhofsgänger zum Leistungsträger eines arbeitsteilig organisierten Sozialverbands greifbar wird, erwächst in gleicher Weise auch hier die Möglichkeit, zu einer tieferen Form der Selbstschätzung zu gelangen. Genauso wie durch Arbeit und Leistung gegenüber den Mitmenschen die Bedeutung und der Wert der eigenen Person für den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang selbstgewiss zu begründen ist, wird es im gleichen Zuge möglich, auch vor sich selbst akzeptabel dazustehen, indem den eigenen, auf die allgemeine Wertordnung rückbezogenen Vorstellungen von Rechtschaffenheit und Leistungsfähigkeit entsprochen werden kann. Dazu sagt Honneth: »So gewinnt das erwachsene Subjekt durch die Erfahrung rechtlicher Anerkennung die Möglichkeit, sein Handeln als eine von allen anderen geachtete Äußerung der eigenen Autonomie begreifen zu können« (1994: 192). Übersetzt in die Lebenswelt der Bahnhofsgänger mag dieser Gedanke folgenden Ausdruck erhalten. Mike: »Un ick// so war et ooch, wo ick den Job hatte, … wo ick da Geld verdient hatte, das Geld hab ich ganz anders AUSjegeben. … Ick habe jewusst, wenn ick jetz hier// … ich hab ja jeden TAG mein Jeld jekriegt. /I.:
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Mhm/ … Wenn ick äh äh da zehn Bier jeTRUNken habe, … na jut, okay, dann haste aber heute wat jeTAN.« Aufgrund der in der Arbeitstätigkeit und Aufgabenerfüllung liegenden Anerkennung und Selbstverwirklichung sind die jungen Menschen aus der Bahnhofsszene sehr wohl bereit, dem geforderten Arbeits- und Leistungsethos zu entsprechen. Doch leider handelt es sich in der Bahnhofswelt aber um eine große Ausnahme, wenn sich die jungen Menschen selbst einmal im schöpferischen Akt des Produzierens als Ursprung des eigenen Tätigseins begreifen und sich zugleich als leistungsfähiges Mitglied eines arbeitsteilig organisierten Gemeinwesens unter Beweis stellen können. Denn genau diese Erfahrung wird in den von Prekarität, Heteronomie und Ausbeutung gekennzeichneten Arbeitsverhältnissen der Niedriglohnsektoren nicht gemacht. Die Arbeitskraft wird zum Zwecke der möglichst profitablen Verwertung ganz dem Regelement von Leistung und Kontrolle, gerade weil hier kaum Gratifikationen zu verdienen sind, unterworfen, wie etwa in den raffinierten Arbeitsmanagementsystemen der Callcenter oder beim kleinlichen, eifersüchtigen Wachen der zu Rivalität angetriebenen Kollegen über das durch den jeweils anderen erbrachte Arbeitsleistungsquantum in Supermärkten und auf Baustellen. Entmutigung und Widerwille resultieren dann nicht so sehr aus der niedrigen Bezahlung, sondern aus der sich aufdrängenden Einsicht, im großen Getriebe von Geld und Arbeit jederzeit austauschbar, in eine monotone, sinnleere Aufgabe eingespannt zu sein, Entwürdigung und Missachtung erleiden zu müssen, während kaum eine Chance auf das Zuteilwerden von Anerkennung besteht. Burger & Seidenspinner (1977) resümieren in einer empirischen Untersuchung über arbeitsmarktbezogene Statuspassagen Jugendlicher: »Da jedoch die Berufs- und Arbeitserfahrung jugendlicher Arbeitsloser in aller Regel negativer Art sind, stabilisiert Berufstätigkeit diese Gruppe Jugendlicher in keiner Weise, sondern erhöht sogar noch ihre Unsicherheit« (S. 94). An dem gesellschaftlichen Versprechen nach einem guten Job als Entwicklungslinie für die eigene Lebensführung festzuhalten, macht aus subjektiver Perspektive keinen Sinn, wenn über die konkret verfügbaren Arbeitstätigkeiten weder Anerkennung noch Gratifikationen noch eine sichere Zukunftsperspektive zu erreichen sind. Vielmehr muss der Rückzug in die Bahnhofsgemeinschaft und die Aufnahme einer Existenzsicherung durch Inanspruchnahme von Sozialleistungen und Zuwendung zu straßennahen Überlebensstrategien auch als ein Versuch der Selbstbehauptung gegenüber der ausgrenzenden Arbeitsgesellschaft gedeutet werden (siehe Teil
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C, Kapitel 4: Selbstbehauptung). Der Übermächtigkeit der in den gesellschaftlichen Wertekonsens eingeschriebenen Anforderungen und Gebote individueller Wohlanständigkeit können die jungen Menschen auf der Straße aber nicht entgehen. Die moralische Minderwertigkeit der eigenen Person muss den jungen Menschen als Angehörige der jugendkulturellen Bahnhofsszene aufgrund der massiven Stigmatisierung und Diskriminierung tagtäglich gewahr werden. Als eine besondere Erniedrigung wird dabei immer wieder erfahren, wenn ihnen die Arbeitslosigkeit selbst zum Vorwurf gemacht wird, wie dies Oliver beschreibt: »Andersrum haste jenauso negative Leute jesehn so, ›Assi versuch et mit arbeiten‹ oder so.« Der »Assi von der Straße« zu sein, bedeutet eine globale Herabwürdigung der individuellen Lebensform, ohne dieser despektierlichen Identitätszuschreibung entgehen zu können. Innerhalb der gesellschaftlichen Arena erweisen sich die jungen Menschen als zu schwach, um bei der Aushandlung der Frage, welche Lebensformen und Lebensansprüche gesellschaftlich anzuerkennen sind, sich durchsetzen zu können. Anstatt über den Verweis auf die prekären, belastenden, widrigen Lebensumstände auch als wohnungsloser Mensch Achtung und Respekt zu erhalten, werden selbst diejenigen, die nur zu offensichtlich aus den Integrationsformen moderner Gesellschaften herausgefallen sind, noch den gängigen Bewertungsmaßstäben wie Leistung und einem wohlanständigen Leben unterworfen. Doch vor diesem Bewertungshintergrund können wohnungslose Menschen nur als Verlierer und Versager erscheinen, die über massive Degradierungs- und Abwertungszeremonien jeder persönlichen Würde beraubt werden. Diesem Negativbild sozialer Wertschätzung steht auf der Seite der jungen Erwachsenen das Lebensgefühl gegenüber, in dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden, die allen Menschen versprochene Chance vorenthalten zu bekommen, zu den Überflüssigen zu gehören. Mehr noch vermittelt die Gesellschaft ihnen immer wieder ihre eigene Überflüssigkeit. Frederik berichtet von der Reaktion eines Sachbearbeiters: »Aber ähm … da war’s dann so ähnlich wie in Frankfurt mit’m Arbeitsamt, wenn du dann gesagt hast, ja, ich würde jetzt gerne mal das und das versuchen zu machen, … da ne … Möglichkeit für ne Ausbildung. Äh, schaffst du sowieso nicht, kam da mal.« Die jungen Menschen bleiben im Bannkreis des sozialen Ausschlusses gefangen, weil das fatale Scheitern an den gesellschaftlichen Anforderungen über die Entwürdigung ihrer Person ihnen selbst zum
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Vorwurf gemacht wird, wodurch sich die Exklusion zugleich weiter vertieft. Das Arbeits- und Leistungsethos, das für die soziale Organisation unserer Gesellschaftsordnung universelle Geltung beanspruchen kann, erfährt angesichts des fortgesetzten sozialen Ausschlusses nur eine gebrochene Internalisierung in den subjektiven Werteorientierungen und Motivationsstrukturen (vgl. auch Baethge, Hantsche, Pelull & Voskamp 1988: 238 ff.). Die strukturelle Vergeblichkeit auf dem Arbeitsmarkt schreibt sich notwendigerweise in die Gebrochenheit und Ambivalenz der subjektiven Werteorientierungen und Motivationsstrukturen ein, die sich zwar am gesellschaftlichen Leistungsprinzip orientieren, ohne Aussicht aber, diese verwirklichen zu können. »Für den Einzelnen geht daher mit der Erfahrung einer solchen sozialen Entwertung typischerweise auch ein Verlust an persönlicher Selbstschätzung einher, der Chance also, sich selber als ein in seinen charakteristischen Eigenschaften und Fähigkeiten geschätztes Wesen verstehen zu können« (Honneth 1994: 217). Eine psychische Identifikation mit der Gesellschaft, mit ihren Werten, Normen und Zielen, den Rollen- und Identitätskonfigurationen ist nicht vorstellbar, wenn im Gesamtpanorama die jungen Menschen vor allem ihre Exklusion, gebrochene Handlungsfähigkeit und Wertlosigkeit erfahren. Glückliche Arbeitslose finden sich vor dem Hintergrund dieses Exklusionsfeldes in der Bahnhofsszene nicht. Um nicht an einer Situation zu verzweifeln, in der ein Leben gemäß allgemein verbindlicher Werte unrealisierbar ist, bleibt das Bekenntnis zur Gesellschaft, das trotz allem von ihnen gefordert wird und was speziell ein arbeitszentriertes Lebenskonzept einschließt, gespalten und ambivalent. Auf der einen Seite steht die Einsicht der krisenbetroffenen Jugendlichen in die reale Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, auf der anderen Seite muss dieser Sachverhalt aber ausgeblendet bleiben, weil dies einem fortlaufenden Eingeständnis des eigenen Scheiterns und einem Verlust der Autonomie gleichkommen würde. Ohne eine Perspektive darauf, das Herausgefallensein aus dem Gemeinwesen, in dem die moralische Minderwertigkeit gründet, jemals aufheben zu können, werden Erwachsenen- und Arbeitswelt in ihrer Bedeutung für das eigene Leben abgewertet, wohingegen sich die subjektiven Interessen auf den Nichtarbeitsbereich konzentrieren (Baethge, Schomburg & Voskamp 1983: 9 f.). Dieses Dilemma, das Offensichtliche, die eigene Exklusion anzuerkennen und zugleich zu verhindern, von den eigenen Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen erdrückt zu werden,
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versuchen die jungen Menschen dadurch zu lösen, dass sie einerseits die Gegenwart von allen ambitionierten Lebensplänen, die aus der sozialen Randständigkeit weisen, aber nur geringe Realisierungschancen haben, frei halten, andererseits aber an den Werten und Normen der Arbeitsgesellschaft insoweit festhalten, dass sie die Verwirklichung dieser Handlungsmaximen in die jeweils nächste Zukunft verschieben (hierzu Teil C, Kapitel 3.5). Durch die Projektion der Lebensvorstellungen in die nächste, jederzeit erreichbare, aber für die Gegenwart kaum Relevanz beanspruchende Zukunft, können sich die jungen Menschen gegenüber den sachlichen Erfordernissen wie dem sozialen Wertekonsens anschlussfähig erweisen, während sie gar nicht erst ihre Pläne, etwa sich eine Arbeitsstelle zu suchen, auf die Probe stellen und damit Gefahr laufen, ein weiteres Mal ihre Handlungsfähigkeit zu verlieren und sich in eine Situation der Hilflosigkeit zu manövrieren.
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Die soziale Welt bedeutet den jungen Menschen, die sich in ein festes Gefüge an entwerteten und entstellenden Sinnbezügen eingeschlossen erfahren, nicht mehr viel. Die Schwierigkeiten, eine zureichende Individualintegration in das gesellschaftliche Leben zu erreichen, sind daher nicht allein auf die lebensweltlichen Exklusionsdimensionen beschränkt, die einer weitläufigen Entfaltung von Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Wege stehen. Vielmehr bewirkt die Exklusion sowohl eine Deprivation gegenüber lebensweltlichen Erfahrungsmöglichkeiten als auch einen Abbruch der Welt- und Selbstbezüge durch den Einschluss in ein Alltagsfeld des ständigen Scheiterns. Mit Blick auf die psychischen Desintegrationsprozesse führen die Exklusionsprozesse daher zur Dissoziation subjektiver Sinnbezüge innerhalb des individuellen Welt-/Selbstverhältnisses. Diese verdeutlicht sich sehr drastisch in der Gebrochenheit der lebensweltlichen Sinnbezüge, der Inkohärenz der Lebensgeschichte sowie der entgegengebrachten Missachtung. Weltzugewandtheit, Erfahrungsoffenheit und Selbstsicherheit sind nicht zu realisieren, zu übermächtig sind die biographischen Erlebnisse und die tagtägliche Wirklichkeit. Mit Blick auf das Subjekt-Integrations-Modell wurden die Konsequenzen für das eigene Welt- und Selbstverhältnis dabei auf drei Problemachsen untersucht: a) die kognitiv-affektive Weltrepräsentation (Orientierung), b) die narrative Selbstrepräsentation (Identität) und c) das von sozialer Anerkennung abhängige Selbstwertgefühl (Selbstwert). Die kognitiv-affektive Repräsentation der Welt offenbart, dass es zur Verarmung und Negativ-Besetzung der inneren Sinnbezüge kommt, in denen die äußere Lebenswelt als subjektive Wirklichkeit hervortritt. Unmittelbare Erfahrungsevidenz erlangt der soziale Ausschluss von den verschiedensten Weltbereichen und Sozialräumen in der Alltagstristesse, die sich in Form der aufdringlichen Langweile sowie der verzweifelten Einsamkeit manifestiert. Betrachtet man nun die kognitive Landkarte, in der
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die Lebenswelt repräsentiert ist, dann zeigt sich eine eigenwillige Dichotomisierung des alltäglichen Erfahrungsfeldes. Während zur einen Seite alle Sinnbezüge in Richtung des anerkannten gesellschaftlichen Lebens, der Erwachsenenwelt veröden, kommt es auf der anderen Seite zu einer Überakzentuierung der sozial peripheren Regionen, die wie die Bahnhofswelt trotz Ressourcenarmut soziale Einbindung garantieren. Hier wurden drei Ursachen hervorgehoben: Die kognitive Opazität ist Folge der Reiz- und Erfahrungsdeprivation, sodass sich die kognitive Landkarte in eine weiße Fläche unerschlossenen Terrains verwandelt. Erfahrung und Wissen bleiben damit sporadisch, flüchtig und oberflächlich, weil die lebensweltlichen Bedeutungsstrukturen und Verweisungsbezüge in der Alltagspraxis nur in blassen und flüchtigen Konturen hervortreten. Der gravierende Bedeutsamkeitsverlust gesellschaftlicher Institutionen und Sozialräume für die individuelle Lebensbewältigung verstärkt diese Tendenz der Unterrepräsentation gesellschaftlich anerkannter Sozialräume. Die negative Affektbesetzung führt schließlich zu einer vermeidenden und verdrängenden Realitätsleugnung, um sich mit den identitätsbeschädigenden Sphären individuellen Versagens nicht näher auseinandersetzen zu müssen. Auf der kognitiven Landkarte des subjektiven Repräsentationsmodells kommt daher kaum mehr noch als die marginalen Lebensräume des sozialen Randes – Straße und »Bahnhof Zoo« – zur Geltung. Die Dissoziation von Sinn setzt sich bei der Bestimmung des eigenen Selbstverhältnisses fort, indem auch die Identitätsbildung in den Problemsog der marginalisierten Lebensform hineingezogen wird. Durch die biographischen Brüche, den sozialen Ausschluss und das ständige Scheitern ist es nur schwer möglich, ein gewisses Maß an Kohärenz in die Lebensgeschichte einzuflechten. Die eigene Person lässt sich gerade nicht ins Zentrum der eigenen Identitätsvergewisserung stellen, von der aus sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen ließen, um über Aneignung der biographischen Erfahrungen eine in sich stimmige, beständige und differenzierte Kern-Identität auszubilden. Insbesondere ist es die eigene Handlungsfähigkeit, die in Frage stehen muss, weil die beschädigte Biographie kaum als erfolgreiche Leistung einer eigenverantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebensweges darzustellen ist. Hinzu tritt, dass auch die Möglichkeit versperrt ist, die soziale Zugehörigkeit gegenüber dem Gemeinwesen anhand einer sozial anschlussfähigen Identität auszuweisen, gerade weil den Bahnhofsgängern in den sozialen Status- und Prestigearenen nur ihre Stigmatisierung und Diskriminierung entgegengebracht wer-
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den. Unter der dünnen Oberfläche der eigenen Selbstpräsentation kommt daher immer wieder das ungeschützte, nackte Ausgeliefertsein an die prekären Lebensumstände und an die Macht, Willkür und Gewalt anderer Menschen zum Vorschein. Fragmentierte Identitäten sind dann Resultat des zumeist hilflosen Versuchs, durch Ausblendung, Leugnung und Verdrängung eine narrative Identität zu gestalten, in der das Scheitern nicht mehr zum Thema wird. Dies ist aber nur zum Preis einer Identitätsdiffusion zu erlangen, die ein authentisches und aufrichtiges Einbringen der eigenen Person in eine intersubjektiv geteilte Welt verhindert und immer wieder in existentielle Verunsicherung aufzubrechen droht. Die Identität wird aber noch auf einer zweiten Ebene beschädigt, indem nicht nur die inhaltliche Identitätskonfiguration fragmentiert bleibt, sondern ebenso die Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung gestört bleiben muss. Das Individuum ist in seinem praktischen Selbstverhältnis von den intersubjektiven Anerkennungsakten seiner Mitmenschen abhängig. Erst indem es sich als geliebte, geachtete und gewertschätzte Person erfahren kann, kann es seinen Selbstwert nicht nur für sich, sondern in allgemeiner Weise begründen und ausweisen. Erstens haben nun Eltern und Familie darin versagt, einen Ort zu bieten, um über das Zuteilwerden von Liebe und Zuwendung ein Urvertrauen in die Abgesichertheit der eigenen Bedürftigkeit und in die fürsorgende Aufgehobenheit der eigenen Person entstehen zu lassen. Diese tief in die Biographie zurückreichende Erfahrung von Zurückweisungen, Ausgeliefertheit und Gewalt führt dazu, dass auch im späteren Leben die jungen Menschen ein geringes Selbstvertrauen, eine instabile Affektregulation, Schwierigkeiten besonders beim Aufbau von gleichberechtigten Beziehungen, aber auch von anderen Objektbeziehungen haben. Zweitens müssen sie sich in gesellschaftlichen Interaktionsverhältnissen – in der Schule, auf der Arbeit, in der Behörde, auf der Straße et cetera – allein schon aufgrund ihrer sozialen Randständigkeit als Menschen minderen Rechts erfahren. Drittens bleibt ihnen auch die Wertschätzung der Gesellschaft vorenthalten, weil es nur wenige, zumeist nur marginale Lebensbereiche gibt, in denen sie ihre Fähigkeiten und Eigenschaften unter Beweis stellen könnten. In den gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen ist es den Bahnhofsgängern nicht möglich, gerade weil sie sich vor dem universell geltenden Arbeits- und Leistungsprinzip nur sehr unzureichend rechtfertigen können, einen ebenbürtigen Status und eine gleichberechtigte Position zu erlangen. Den jungen Menschen bleibt nur die beschämende Einsicht, dass, wenn man von
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der Straße kommt, nicht nur über mindere Rechte verfügt, sondern schließlich auch von geringerem Wert ist. Die jungen Menschen haben daher vor allem gelernt, sich aus allen Konfliktlinien im Kampf um Anerkennung vorschnell zurückzuziehen, um nicht wieder ihre Missachtung, Entrechtung und Entwürdigung zu erfahren. Die subjektive Erfahrung von Armut gründet nicht allein im Herausdrängen aus gesellschaftlichen Handlungsfeldern, in der Verkürzung und Entwertung von Lebensperspektiven, in der Einsicht in die eigene Ausweglosigkeit, in der Missachtung. Es ist vor allem die Dissoziation von Sinn, wie diese phänomenal in der Alltagstristesse, der Langeweile und Einsamkeit, der Öde und Leere zum Ausdruck kommt, wodurch die jungen Menschen in eine existentielle Krise stürzen. Dies hat seinen tieferen Grund darin, dass der Mensch als ein Lebewesen betrachtet werden muss, das mit einer weitgehend undifferenzierten Trieb- und Bedürfnisstruktur ausgestattet ist. Indem die für den Organismus relevanten Umweltreize und Verhaltensformen nicht biologisch präformiert sind, muss das Individuum seine Wahrnehmungen und Erlebnisse durch die Verleihung von Ordnung und Sinn selbst erschließen. Mit Blick auf die biologische Grundausstattung des Menschen spricht Geertz (1983b: 140) daher auch von einem »symbolizing, conceptualizing, meaning-seeking animal«. Der Sinnverlust, der bei den jungen Menschen zu beobachten ist, stürzt sie in eine existentielle Orientierungslosigkeit, sodass die Welt unwirklich und fremd bleiben muss. Die jungen Menschen verlieren damit die elementare Zuversicht und Gewissheit in die Fähigkeit, die individuelle Situation gemäß eigener intentionaler Entwürfe zu gestalten. Antonovsky (1997) sieht die Ausbildung eines »sense of coherence« (Kohärenzgefühl) als unabdingbare Voraussetzung dafür an, dass sich das Individuum eine produktive (gesunde) Bewältigung der Realität überhaupt zutraut. Unter »sense of coherence« versteht er, dass der individuellen Welterfahrung und Lebenspraxis aus der Subjektperspektive ein gewisses Maß an Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit inhärent sein muss (vgl. Lorenz 2004; Hurrelmann 2006: 122 ff.; Faltermaier 2005: 164). »Das Kohärenzgefühl ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; diese Anforderungen Herausforderun-
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gen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen« (Antonovsky 1997: 36). Jenes Urvertrauen in die Verlässlichkeit der Welt, das nicht so sehr einer reflexiven Einstellung zur Welt entspringt, sondern in prämordialen Erfahrungsschichten wurzelt, die weithin vorbewusst bleiben und sich nur fragmenthaft aktualisieren lassen, konnten die Bahnhofsgänger nicht entwickeln. Die tiefe Verstörung und Orientierungslosigkeit der jungen Menschen resultiert aus dem Umstand, dass die eigene Situation bis tief hinab in die eigene Biographie im Sinne des »sense of coherence« einer prinzipiellen Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit entbehrt (Antonovsky 1997). Zur familiären Ausgeliefertheit, Gewalterfahrung und Missachtung kommt die erfahrungsgesättigte Gewissheit, dass sozialer Ausschluss und Missachtung auch nach der Adoleszenz in der Erwachsenenwelt kaum aufzuheben sind. In den jungen Menschen ist aufgrund unkontrollierbarer Situationen schließlich der Glaube an sich selbst zerbrochen. Studien aus den USA zeigen, dass die Prävalenz des Erlebens traumatischer Ereignisse unter Obdachlosen und Straßenkindern bei über 90 Prozent liegt (McGeady 1991; Greenblatt & Karstenson 1993). Als Antwort darauf entwickeln die jungen Menschen etwas, was Erikson als Ur-Misstrauen bezeichnet, das sich in Form eines Rückzugs von sich und anderen manifestiert (Erikson 1973: 63). Die jungen Menschen können sich weder in einer Welt, in der die Sinn- und Handlungsbezüge entglitten sind, heimisch fühlen, noch sich ihrer Identität versichern, noch ein notwendiges Maß an Selbstwert aufbauen. Die Vergegenwärtigung der eigenen Situation führt immer wieder nur zur tiefen Verunsicherung des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses. Die im Gedächtnis gespeicherten biographischen Erfahrungen bilden keinen kognitiven Assoziationsraum, dem sich die jungen Menschen leichthin zuwenden und dessen Gehalt sie sich als persönliche Erinnerungen erschließen wollten. Angesichts der Tragik der eigenen Biographie ist ein unbeschwertes Umherwandern innerhalb der subjektiven Erinnerungsund Erlebniswelten nicht möglich, vielmehr kommt es zur Entfremdung gegenüber dem eigenen Erfahrungsschatz. »Negativmarker«, die in den psychischen Repräsentationsschemata auf den problematischen Gehalt biographischer Erfahrungen verweisen, sollen eine Konfrontation mit der Tiefenstruktur bedrückender Themenbezüge verhindern. Mit der vergangenen und gegenwärtigen Situation wollen sie sich lieber nicht näher auseinandersetzen, weil daran nur schmerzhaft das eigene Scheitern, zugefügte
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Verletzungen, die Desolatheit ihrer Möglichkeiten hervortreten. Dazu sagt Mike: »… wenn ick zum Beispiel jemerkt hab, dass eener jeBOHRT hat, … ma … ›Wo kommste eigentlich her?‹ oder ›Wat is’n da los bei dir?‹, sag ick: ›Pass uff, Alter. Wir könn’ uns über allet unterhalten, aber det is MEIN Ding hier und denn// komm.‹ […] GEnerell mag ick nich, wenn// wenn// … wenn ick merke, dass ick verbal an’ne Ec// in die ECke jedrängt werde, wa. … Werd ick aggresSIV.« An den verbreiteten Schwierigkeiten, mit sich allein sein zu können, verdeutlicht sich, dass Wohnungslosigkeit oftmals auch den Grund darin hat, dass die Betroffenen die Stille der Wohnung nicht ertragen. Den Bahnhofsgängern gelingt es nicht, in einen offenen Dialog zur inneren Erfahrungswelt zu treten, zu bedrückend ist die sich darin spiegelnde Wirklichkeit. Um den sich aufdrängenden Gedanken an die eigene Situation zu entgehen, sind sie vielmehr auf einer ständigen Flucht vor sich selbst. Mike macht deutlich, dass er jede Form der Selbstbesinnung, um nicht mit seiner inneren Gedanken- und Gefühlswelt konfrontiert zu werden, dadurch zu vermeiden versucht, indem er ständig unterwegs ist, um unter Menschen zu sein. »Ich bin ein GRUPpenmensch. … Also äh v// … ick könnt mir det vor// eigentlich jar nich vorstell’n, alleene// kuck ma, wenn ick jetz// … ick bin SELten bei mir zu HAUse. … Ick bin im Grunde jenommen eigentlich nur um// … um zu pennen, … (kuck ma wat) ((unv. 1–2 Wörter)) Fernsehn, aber dann … geh ick schon wieder raus, weil ick sag mir, alleene in’ner WOHnung. … Und wenn ick bei Leute jewohnt habe, da war ick ja nie alLEIne. … NIE. … Mit den Leuten hab ick ja ooch wat unternommen, … war ja nich so, dass ick äh … da irgendwie EINsam war, … weeßte. Und et war natürlich ooch so’n jewisset VerDRÄNgen, weil wenn de alleene bis, … grübelste NACH, … weeßte. Und det hab ick verDRÄNGT.«
Die Vergegenwärtigung der inneren Erinnerungs- und Erlebniswelt wird nicht als eine Bereicherung angesehen, die über kontemplativen Rückzug von der Welt und vertieftes Nachdenken ein reichhaltigeres und integrierteres Welt- und Selbstverhältnis verspricht. Und doch lassen sich die Grenzen zwischen legitimen und verdrängten Themenbereichen nur sehr unvollkommen ziehen. Die kognitive Aufmerksamkeitslenkung lässt sich nicht von außerhalb steuern, sondern erfolgt innerhalb der eigenen thematischen Bezüge. Jedes neue Erlebnis trifft auf den Resonanzboden vorher gemachter Erfahrung, lässt internalisierte Bedeutungszusammenhänge und Sinnbezüge erklingen, ohne dass dieser Prozess in Gänze autonom zu bestimmen ist. Erst im reflexiven Gewahrwerden lassen sich die aufstei-
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genden Themen durch verstärkte Zuwendung oder ausblendende Abwendung selektieren. Allein auf dem Wege einer partiellen Vergegenwärtigung und Thematisierung lässt sich das Unerwünschte zurückschieben und verdrängen. So kommt es nach Freud zu einer ständigen Wiederkehr des Verdrängten, die sich umso mehr gegenüber den Verdrängungsversuchen verselbständigt, wie der Erfahrungsgehalt nicht in bewussten Sinnbezügen angeeignet ist, was sich in den häufig aufbrechenden Lebenskrisen zeigt. Das mentale Innenleben wird von den jungen Menschen daher versucht, im Gesamten ruhigzustellen und auf stumm zu schalten, indem der Assoziationshorizont mit Ablenkungsmanövern, Aufmerksamkeitsbarrieren und Denkverboten überzogen wird, damit jede ernsthafte Vergegenwärtigung der Alltagstristesse und Perspektivlosigkeit vermieden wird. Besonders in den eigenen vier Wänden finden die jungen Menschen keine ausreichend Zerstreutheit, sodass die Aufmerksamkeit stetig von den bedrückenden, aber zugleich existentiellen Problembereichen angezogen wird. Für Mike bedeutete das wohnliche Unterkommen bei Freunden und Bekannten, während er über Jahre hinweg keine eigene Wohnung besaß, daher auch immer die Möglichkeit, als ausgewiesener »Gruppenmensch« unter Leuten abgelenkt zu sein. Dagegen erfordert das Alleinsein nach Winnicott (1984: 36 ff.) die Fähigkeit zum entspannten Selbstbezug, was voraussetzt, dass sich alle bedrohlichen Probleme auch einmal zurückschieben lassen und sich über eine gelassene und erfahrungsoffene Gedankenspielerei neue Sinnhorizonte und Handlungsoptionen ergeben. Der Bahnhof ist deshalb auch aufgrund der ganzen Aufgeregtheit des Treffpunkts, der Belebtheit des öffentlichen Raums, des wogenden Straßenlärmes ein beliebter Ort der Flucht. Hier findet sich eine Nische, in der, zumindest bezogen auf die engen Grenzen des Sozialraums, endlich einmal alles in Ordnung ist und wo sich die bedrückende Lebenssituation vergessen und verdrängen lässt (vgl. Winnicott 1984: 39 ff.; Honneth 1994: 168). Das Misslingen des Aufbaus von kognitiv differenzierten, subjektiv relevanten und affektiv positiv besetzten Sinnbezügen kann sich als existentielle Lebenskrise bis zur Derealisation und Depersonalisation steigern. Während die Tendenz zur Derealisation, dem Wirklichkeitsverlust, durch die weitgehende Dissoziation von Sinnsetzungen und Bedeutungsstrukturen zum Ausdruck kommt, wird die Depersonalisation durch die Einbuße der existentiellen Gewissheit verursacht, als Intentionalitäts- und Handlungszentrum in die Welt eingreifen und etwas bewirken zu können (Fischer & Riedesser 1998: 328). Für manche spitzt sich die Situation so weit
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zu, dass sie nur noch im Suizid einen Ausweg aus der verzweifelten Situation sehen. Oliver: »Bin ick mit mir selbst nich mehr klar jekommen, ick wollte da oben irgendwie aus’m Fenster springen aus mei’m Zimmer.« Indem die Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit aufgehoben ist, stehen die jungen Menschen der eigenen Situation und Person wie einem äußerlichen Objekt gegenüber. Sie leiden damit an einer Radikalisierung ihrer Subjektivität, die nicht mehr auf eine reale Situation bezogen ist, sondern durch den Verlust der Weltbezüge in einer leeren, abstrakten Freiheit sich selbst verloren hat. Das Alltagsleben verengt sich in diesen Situationen immer wieder auf dieses Eingeschlossensein in die eigene Ausweglosigkeit. Armut und Exklusion können sich angesichts des weitgehenden Verlusts von Orientierung, Identität und Selbstwert bis zur Traumatisierung steigern. Bei dem Trauma handelt es sich um ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbstund Weltverständnis bewirkt« (Fischer & Riedesser 1998: 79). Indem die Welt insgesamt ihre Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit einbüßt, kommt es zu einer existentiellen Erschütterung, was sich zu einer nachhaltigen Beschädigung psychischer Prozesse kumulieren kann, die nicht mehr ohne weiteres reparabel sind. Im Zuge eines Internalisierungsprozesses wächst die Erfahrung des sozialen Ausschlusses damit in die subjektiven Strukturen hinein und geht sozusagen unter die Haut. Diese tiefe Erschütterung des Welt- und Selbstverständnisses besteht darin, dass die pragmatische Meta-Regel außer Kraft gesetzt wird, dass im Grunde alles – die Welt, das Leben und das Selbst – in Ordnung ist. Vielmehr verdichtet sich die Lebenserfahrung immer wieder in Richtung der Einsicht und des Gefühls, in naturwüchsiger Weise an zufällige und blinde Weltgegebenheiten ausgeliefert zu sein. Armut und Exklusion finden in der modernen Gesellschaft ihre Eskalation nicht zuerst in einer physischen Mangellage, sondern die existentielle Not resultiert aus der gravierenden Dissoziation der Sinnbezüge. Als empfindsames und leidensfähiges Subjekt muss man sich der Übermacht der sozialen Welt gegenüber weitgehend hilf- und schutzlos ausgeliefert sehen. Die paradoxe Konstellation besteht hier gerade darin, dass man mit dieser Welt von Geburt an als der ureigensten Wirklichkeit zutiefst vertraut ist, um im weiteren Leben feststellen zu müssen, dass sich dieses Vertrauen als vollkommen ungerechtfertigt erweist.
Exklusion und Handlung
Vorbemerkungen
Im 3. Hauptteil werden nun die Auswirkungen der Armuts- und Exklusionsproblematik auf Motivation und Handlung untersucht. Bisher hat sich gezeigt, dass die restriktive Opportunitätsstruktur nicht nur die objektiven Erlebnis- und Lebensmöglichkeiten zur Daseinsfürsorge und Individualitätsentfaltung verknappt. Vielmehr werden sozialstruktureller Ausschluss, soziale Randständigkeit und Minderwertigkeit vermittelt über ihre Tagtäglichkeit als konkrete, erfahrungsinwendige, alltagspraktische Situation zur unhintergehbaren Lebensrealität. Die Welt ist angesichts der eingeschränkten Ressourcen und Handlungsspielräume kaum mit einem eigenen, inneren Sinn zu besetzen, der das Leben als eigenverantwortlich gestaltbare Aufgabe erscheinen lässt. Durch Internalisierung und Generalisierung dieser über die Biographie sich fortschreibenden Exklusionserfahrung bildet sich ein mentales Repräsentationssystem heraus, das nur sehr unzureichend zur sachgerechten Orientierung innerhalb gesellschaftlicher Lebensbereiche sowie zur souveränen Behauptung von Identität taugt. Rückzug, Gleichgültigkeit und Apathie werden zum typischen Reaktionsmuster, weil eine reale Chance auf Erfolg aus eigener Sicht zu keinem Zeitpunkt bestand. Dieses resignative Handlungsengagement kommt in der Desintegration der Individualintegration und alltäglichen Lebensführung am deutlichsten zum Ausdruck. Damit schließt sich der »Zirkel der Armut« am Ende wieder, weil durch die resignative Wahrnehmungs-, Erwartungs- und Verhaltensdisposition die jungen Menschen die sozialen Ausschlussbewegungen durch ihre Abwendung von der Erwachsenenwelt letztlich an sich selbst vollziehen.
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EXKLUSION UND SELBSTBEHAUPTUNG
SOZIALE SITUATION (Institutionen und Sozialräume)
Handlung verändert
Sinn interpretiert
PSYCHISCHE SITUATION (Subjektive Wirklichkeit)
Handlungsgründe Klärung von Bedürfnissen und Interessen
Aufschichtung biographischer Erfahrung Orientierung Aufbau eines kognitiven Repräsentationsmodells
Identität Aufbau von IchStrukturen (Realitäts-/ Lustprinzip)
Abb. 3: Handlungs-Dimension des Subjekt-Integrations-Modells
Indem die vierte Ebene des Subjekt-Integrations-Modells »Handlung« zum Thema wird, verschiebt sich das Hauptaugenmerk nun auf die Frage, wie die dynamische Überlagerung von objektiven Situationsfaktoren und subjektiven Erfahrungs- und Sinnbildungsformen in der Desorganisation von Motivationszusammenhängen mündet. Beginnend sollen entlang psychologischer Motivationstheorien die Handlungsgründe rekonstruiert werden, die das Individuum vor dem Hintergrund der subjektiven Wahrnehmung seines Optionsspielraums für seine Handlungsdurchführungen und -unterlassungen hat. Erweitert man nun den Blick über die Analyse der Motivierung einzelner Handlungssequenzen hinaus auf die Prozessebene der Bewältigung und Gestaltung von Alltag, das heißt der Veränderung der sozialen Situation, dann gewinnt das Konzept der alltäglichen Lebensführung an Bedeutung. Die Veränderung der sozialen Situation erfordert die Ausbildung verlässlicher Handlungsstrukturen, um über eine eingespielte, routinisierte und beständige Handlungsorganisation eigenständig für alle Tag für Tag anfallenden Aufgaben, Erledigungen und Herausforderung zu
VORBEMERKUNGEN
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sorgen. Resignation, Rückzug und Apathie, als den prototypischen Reaktionsformen, die mit Armut und Ausschluss einhergehen, sollen schließlich mit Blick auf die eigenwillige und selbstreproduktive Dynamisierung von Armutsprozessen untersucht werden. Hier unterbleibt gerade die verändernde Einflussnahme auf die soziale Situation. Und doch findet sich eine Gegenbalance zu den psychischen Desintegrationsformen durch das jugendkulturelle Leben am »Bahnhof Zoo«. Hier wird vermittelt über die Interaktionen unter den Bahnhofsgängern für einen selbst gestalteten Sozialraum gesorgt, in dem grundlegende Formen der Selbstbehauptung möglich werden, um den gravierendsten Auswüchsen sozialen Ausschlusses, sozialer Isolation und Missachtung zu entkommen.
Motivation und Handlung
Die Dynamisierung des sozialen Ausschlusses ist nicht unabhängig von Resignation, Rückzug und Apathie zu verstehen. Auf den ersten Blick muss es widersprüchlich erscheinen, dass die jungen Menschen das Streben nach primärer Kontrolle über ihre Lebenssituation einschränken, was als eine tief in der motivationalen Grundausstattung der menschlichen Spezies verankerte Motivationsquelle erscheint (Heckhausen & Heckhausen 2006: 2; Holzkamp-Osterkamp 1976: 20). Um diese Dynamisierung von sozialem Ausschluss und subjektiven Reaktionsweisen weiter zu erhellen, steht nach der sinnbezogenen Rekonstruktion des Welt- und Selbstverhältnisses nun die motivations- und handlungstheoretische Analyse im Vordergrund. Auf diesem Wege sollen die tieferen Funktionszusammenhänge und Beweggründe verständlich werden, warum die jungen Menschen mit Rückzug von der Gesellschaft reagieren und mit der ihnen zugewiesenen Position im sozialen Abseits schließlich vorliebnehmen. Zur Aufklärung dieser Handlungsdisposition werden die Beschreibung und Analyse der psychischen Situation fortgesetzt, indem an die bisher herausgearbeitete Topologie der Erfahrungswelt direkt angeschlossen wird. Die psychische Situation wird nun als individuell repräsentierter Handlungsraum konkretisiert, um die dynamischen Motivationsbedingungen und Handlungstendenzen zu bestimmen. Als Grundlage für die Analyse der Handlungssituation dient die von Kurt Lewin in seiner Feldtheorie zugrunde gelegte Formel »V=f(P, U)«. Das Verhalten (V) wird demzufolge als eine Funktion von Person (P) und Umwelt (U) beschrieben (hierzu auch Bergold 2000, Abs. 6). Im Mittelpunkt der Analyse steht damit die psychische Situation in ihrem Wechselverhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung. Dabei sind es vor allem die Erfolgsaussichten, die der Handelnde aufgrund vorher gemachter Erfahrungen seinen Handlungsweisen zurechnet, und der Wert, welchen der Handelnde den Handlungskonsequenzen zurechnet,
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aus der sich die Ausführung einer bestimmten Reaktionsweise erklärt. Im Folgenden wird dieses Basisprinzip individueller Verhaltenssteuerung, das sich an Erfolg und Misserfolg orientiert, weiter entfaltet und auf eine höhere Erklärungsebene gehoben, die der Komplexität individuellen Handelns in sozialen Alltagsbezügen besser gerecht wird. Das behavioristische Basismodell soll daher am Leitfaden sozialer Lerntheorien sowie einer begründungstheoretischen Motivationstheorie erweitert werden. Zunächst wird es darum gehen, die reduzierten Erwartungen der jungen Menschen auf Handlungserfolge zu erklären (1). Parallel dazu messen sie gesellschaftlichen Handlungszielen nur einen geringen Wert bei, weil diese aus der Perspektive sozialer Randständigkeit nicht erreichbar erscheinen, sodass diese auch nicht weiter verfolgt werden (2). Schließlich zeigt sich anhand einer Erweiterung der Erwartungs-mal-WertTheorie durch das von Heckhausen und Gollwitzer formulierte RubikonModell, dass die Handlungsdurchführung in gleich mehreren Phasen gestört wird (3).
1. Erwartung und Selbstwirksamkeit Nach Rotters »Erwartungs-mal-Wert-Theorie« (1975) wird eine Handlung dann bevorzugt durchgeführt, wenn sowohl die Erwartung besteht, durch den praktischen Welteingriff das gesteckte Handlungsziel zu erreichen, als die antizipierten Verhaltenskonsequenzen für den Handelnden einen positiven Wert haben. Bei den Bahnhofsgängern bleibt schon die objektive Struktur des alltäglichen Handlungsfeldes aufgrund von Exklusionsprozessen eingeschränkt. Die restriktive Opportunitätsstruktur bietet hier nur wenige Verstärker oder incentives, die eine Erhöhung von erfolgsorientierten Verhaltensweisen bewirken. Die sozialstrukturelle Opportunitätsstruktur fungiert vielmehr als lebensweltlicher Verstärkerplan, in dessen Belohnungsmatrix die Aussichten auf Misserfolg diejenigen auf Erfolg bei weitem übersteigen. Wegen der geringen Erfolgsaussichten muss jeder sinnvolle Grund zum Handeln von Anfang an fragwürdig bleiben. Karsten erzählt mir auf meine Nachfrage, wie es mit der polizeilichen Anmeldung auf der Meldestelle gelaufen ist, dass ihm die benötigte Bescheinigung nicht ausgestellt worden sei. Seit drei Jahren sei er nicht mehr polizeilich gemeldet, vor allem weil er befürchte, sofort abgeschoben zu
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werden, falls er von der Polizei aufgegriffen werden sollte. Er ist slowenischer Staatsangehörigkeit, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen. Aufgrund verschiedener Kriminalitätsdelikte, die im Zusammenhang mit seinem Straßenleben und polytoxikomanen Drogenkonsum stehen, glaubt Karsten, dass man ihm mittlerweile seine Aufenthaltsgenehmigung aberkannt haben könnte. Die Erfahrung des gestrigen Tages habe dabei seine Befürchtungen nur bestätigt. Nachdem er zur Meldestelle gegangen sei, wurde er von dort aus weiter zur Polizei geschickt, die ihn erst einmal festgesetzt, Fotos gemacht und Fingerabdrücke abgenommen habe. Eigentlich wollte man ihn nicht wieder laufen lassen, sondern sofort der Ausländerbehörde überstellen. Slowenien wäre für ihn der große »Horror«, weil er dorthin nur wenige Kontakte habe, die Sprache kaum beherrsche und beim Grenzübertritt sicherlich eingezogen werde, weil er seinen Militärdienst nicht absolviert habe. Dabei sind aber nicht nur die objektiven Chancen gering, sich um alle notwendigen Alltagserledigungen zu kümmern, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Zudem ist die subjektive Chancenwahrnehmung der jungen Menschen, in erfolgreicher Weise handelnd in die Welt einzugreifen, um durch Erweiterung des Weltaufschlusses eine Verbesserung von Situation und Lebensqualität zu erreichen (vgl. hierzu Holzkamp 1983: 349 ff.), gemäß des topologischen Modells der Weltrepräsentation in die zwei Wirklichkeitssphären Erwachsenenwelt und Bahnhofswelt gespalten. Aufgrund der Internalisierung der Ausschlusserfahrung richten die jungen Menschen schon lange nicht mehr ihre Erwartungen an solche Handlungen, die in der Erwachsenenwelt auf eine Verbesserung der individuellen Integration und Teilhabe zielen. Karsten hat jede Zuversicht verloren, die undurchsichtige und übermächtige Bestimmtheit seiner Situation durch das eigene Handeln aufheben zu können. Seine Motivation, die notwendige Bedingung für die Handlungsdurchführung ist, hängt aber wesentlich von der in der Erfolgswahrscheinlichkeit fundierten Erwartungshaltung ab, ein gestecktes Ziel erreichen zu können. Rotter ergänzte seine Erwartungs-mal-Wert-Theorie durch die theoretische Komponente einer aus Erfahrung generalisierten Erwartungshaltung, die unter dem Konzept des »Locus of Control« weiter ausgearbeitet wurde (Rotter 1975; Mielke 1982). Während in der ersten Version Verhaltenshäufigkeiten allein aus der situationsabhängigen Verstärkungs-/ Vermeidungsmatrix erklärt werden, rückt durch das Konzept des »Locus of Control« die Frage nach der subjektiven Kontrollüberzeugung in den Mit-
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telpunkt der Untersuchungen. Unter der Fragestellung nach der internen versus externen Kontrollüberzeugung wird untersucht, ob das Individuum das Eintreten der antizipierten Handlungsergebnisse auf die eigenen Aktivitäten oder auf äußere, unbeeinflussbare Situationsfaktoren zurückführt. Bezogen auf den Handlungskontext »Erwachsenenwelt« haben die jungen Menschen keine generalisierte Erwartungshaltung ausbilden können, über eine »interne« Kontrolle die Handlungssituation entsprechend eigener Absichten, Pläne und Wünsche zu gestalten. Die jungen Menschen sehen sich gerade nicht als Handlungszentrum ihrer Situation, wodurch sich erwünschte Verhaltenskonsequenzen herbeiführen und unerwünschte abwenden ließen. Stattdessen hat sich im Alltagsleben die erfahrungsgesättigte Erwartung ausgebildet, den äußeren Mächten der sozialen Situation weitgehend hilflos unterworfen zu sein, keine eigenen Lebensansprüche durchsetzen zu können und in die ständige Wiederholung des eigenen Scheiterns eingeschlossen zu sein. Die jungen Menschen zeigen daher einen externalen Attributionsstil, wodurch das Eintreten relevanter Ereignisse vorwiegend aus der Zufälligkeit der eigenen Lebensumstände erklärt wird (Weiner 1986). Angesichts der Überdetermination der Exklusionserfahrung kommt es aber nicht allein zu einer Desorganisation der »Handlungs-Ergebnis-Erwartung«. Die Internalisierung der »Situation struktureller Vergeblichkeit« in Form von subjektiven Kontrollüberzeugungen führt zudem zu einer Verminderung der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit. Der »Locus of Control« gibt im Vergleich dazu nur an, inwieweit die Person davon ausgehen kann, ob der Handlungserfolg durch äußere oder innere Ursachen bewirkt wird. Selbstwirksamkeit beruht aber auf dem Glauben in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, jene Handlungsschritte ausführen zu können, die notwendig sind, um in einer bestimmten Situation die erwünschten Ziele zu erreichen (Bandura 1977; 1995). »People’s self-efficacy beliefs determine their level of motivation, as reflected in how much effort they will exert in an endeavour and how long they will persevere in the fact of obstacles« (Bandura 1989: 1176). In der Arbeitslosigkeitsforschung zeigt sich sehr deutlich, wie sozialer Ausschluss das Entstehen von Resignation und Selbstaufgabe allein schon deshalb bewirkt, weil eine Kontrolle über weite Bereiche der eigenen Lebenssituation nicht mehr zu erwarten ist (Jahoda 1982; Wacker 1978; Bonß, Keupp & Koenen 1984). Geringe Effizienzerwartungen haben wiederum Vermeidung, Angst und schlechte Leistung zur Folge (Bandura 1986; Seligman 1979). Die Selbstwirksam-
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keitsüberzeugung beeinflusst somit das Maß an Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer bei der Handlungsdurchführung. Während schon die äußeren Schwierigkeiten als unüberwindbar erscheinen, so müssen auch die eigenen Fähigkeiten, das Erwünschte doch noch zu erreichen, unzureichend wirken. Es kommt nun aber nicht nur zu generalisierenden Lerneffekten auf der Ebene der internen versus der externen Kontrollüberzeugung, sondern es bilden sich besonders in Hinblick auf das persönliche Anspruchsniveau überdauernde Verhaltens- und Motivationsdispositionen aus. Menschen stellen sich unterschiedlich hohe Anspruchsniveaus, die als internalisierte Leistungsmaßstäbe eine Selbstbewertung des im Handlungsresultat erreichten Leistungsstandes erlauben (Hoppe 1930: 10; Keller 1996). McClelland et al. (1953) bezeichnen ein solches Leistungskriterium als standard of excellence. Das Anspruchsniveau entscheidet als motivationale Messlatte bei der Leistungszielsetzung vor allem darüber, welchen Schwierigkeitsgrad der zu erreichenden Aufgabe sich eine Person zutraut. Die Bewertung von Erfolg beziehungsweise Misserfolg hängt demnach von dem persönlichen Anspruchsniveau an das eigene Leistungsspektrum ab. Bei Erreichen oder Überschreiten des Anspruchsniveaus durch Bewältigung einer Aufgabe stellt sich subjektiv ein Erfolgserlebnis, bei Unterschreiten ein Misserfolgserlebnis ein. Im Sinne von Atkinsons Risikowahl-Modell ergibt sich nun die Möglichkeit, die globalen Handlungsorientierungen in zwei Dimensionen analytisch differenzierter aufzulösen: Hoffnung auf Erfolg beziehungsweise Furcht vor Misserfolg (Atkinson 1957; 1964; Covington & Omlich 1991). Die geringe Leistungsmotivation der Bahnhofsgänger lässt sich insbesondere aus dem Umstand erklären, dass die Handlungsorientierung nicht auf das Eintreten von Erfolg, sondern auf eine Vermeidung von Misserfolg gerichtet ist, um nicht Schuld oder Scham beim Nichterreichen eines Zieles zu erleben (Brown & Weiner 1984). Hierzu sagt Oliver: »… (eine) negative Sache halt bei mir, … det is schon immer mein Fehler jewesen und den hab ick och immer noch. Anstatt diese Vergleiche zu machen mit Negativ und Positiv, … det Positiv bleibt bei mir erstma janz weit weg ((unv. Wort)) und erstma das Negative nur raus. Und wenn dann halt die Sache is, die richtig krass negativ is, (dass) ick mir da richtig dran hoch jesteigert hab.« Für Oliver steht das eigene Versagen im Mittelpunkt der Zuschreibungsprozesse, wohingegen eine Orientierung auf Erfolg schon angesichts der eigenen Selbstzweifel kaum gegeben ist. In motivationspsychologi-
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schen Untersuchungen zeigt sich zudem, dass Misserfolgsmotivierte jeden weiteren Misserfolg in viel stärkerem Maße unzureichenden Fähigkeiten statt mangelnden Anstrengungen zuschreiben (Weiner 1972: 374; Heckhausen 1978: 192). Bei der Misserfolgsvermeidungs-Orientierung handelt es sich aber keineswegs um die Postulierung einer abstrakten Persönlichkeitsdisposition. Gerade im Fall der jungen Menschen wird die Erfahrungsabhängigkeit dieser Motivations- und Handlungseinstellungen nur zu deutlich. Die auf Vermeidung von Misserfolg zentrierten Motivdispositionen sind als subjektives Gegenstück zur biographischen Exklusions- und Missachtungskonstellation zu werten, in der die jungen Menschen aufgewachsen sind. Die systematische Desillusionierung der Realisierungsversuche individueller Handlungsfähigkeit hat schließlich ein negativistisches Syndrom von Erwartungen, Einstellungen, Weltbildern ausgeformt (hierzu dann auch Teil C, 4. Kapitel). Diese Blockierung der Leistungsmotivation setzt sich im Erwachsenenleben aufgrund des dauerhaften Ausschlusses von einer beruflichen Tätigkeit, Einkommenserwerb und einer sozial anerkannten Statusposition fort. Diesen degressiven Zusammenbruch von Motivationspotentialen haben Jahoda, Lazerfeld & Ziesel (1975) eindrucksvoll beschrieben: »Die Ansprüche an das Leben werden immer weiter zurückgeschraubt; der Kreis der Dinge und Einrichtungen, an denen noch Anteil genommen wird, schränkt sich immer mehr ein; die Energie, die noch bleibt, wird auf die Aufrechterhaltung des immer kleiner werdenden Lebensraumes konzentriert« (S. 101). Diese Degression hat ihren Grund vor allem darin, dass das Vorherrschen der Misserfolgsvermeidungs-Orientierung im Gesamtzusammenhang alltäglicher Lebenspraxis zu einem sich negativ rückgekoppelten Assimilationsschemata entwickelt. Denn die subjektiven Motivationsdispositionen und habituellen Reaktionsformen führen notwendigerweise zu Erfahrungen, die nur wieder die eigene Erfolglosigkeit bestätigen. Weil in der Kleinteiligkeit der alltäglichen Handlungsorganisation die Bedrohungsabwehr im Vordergrund steht, versuchen die jungen Menschen vorwiegend, den negativen Konsequenzen ihrer prekären Lebenssituation aus dem Wege zu gehen. Da nun aber erst gar nicht auf Erfolg gesetzt wird, um durch eine ausgreifende Lebensführung die Lebensumstände grundsätzlich zu verbessern, beschränken sich die kleinen Erfolge allein auf das sporadische Gelingen der Bedrohungsabwehr, wohingegen die Misere des Alltagslebens nicht wirklich aufzuheben ist. Anstatt sich um eine dau-
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erhafte Unterkunft zu kümmern, wird der Schlafplatz auf dem Sofa des Freundes bevorzugt; anstatt sich um Ausweis und Papiere zu kümmern, versucht man, durch ein Räuber-und-Gendarm-Spiel der Polizei aus dem Wege zu gehen; anstatt sich ein neues Leben aufzubauen, wird die eigene Existenzabsicherung immer nur von heute auf morgen geplant. Weil damit kein dauerhafter und stabiler Lebenszusammenhang zu etablieren ist, werden die negativen Wirksamkeits- und Handlungsorientierungen zur »selffulfilling prophecy«. Durch die Misserfolgsvermeidungs-Orientierung bildet sich ein realistisches Anspruchsniveau erst gar nicht heraus. Einerseits setzen sich die jungen Menschen aufgrund des geringen Anspruchsniveaus dem Risiko nicht aus, zu handeln, was implizieren würde, jederzeit auch Scheitern zu können. Das Anspruchsniveau kollabiert in diesem negativen Feedbackloop, indem dieser mit der fortgesetzten Preisgabe weiterer Lebensbereiche immer nur neue Misserfolge bewirkt. Andererseits führt die geringe Leistungsmotivation zugleich dazu, dass, wenn überhaupt einmal wieder Zielsetzungen entwickelt werden, diese häufig weit über das Mögliche und Realistische hinausschießen. Untersuchungen von McClelland (1958) und Atkinson & Litwin (1960) belegen im Anschluss an Atkinsons RisikowahlModell (1957), dass erfolgsmotivierte Personen kalkulierte Risiken bevorzugen, indem die Aufgabe weder zu leicht noch zu schwer ist. Misserfolgsmotivierte Menschen achten dagegen schon bei der Zielauswahl in viel geringerem Maße auf die Realisierbarkeit der gesetzten Standards (Heckhausen 1963). Markus spricht davon, dass er über das Jobcenter eventuell eine Berufsintegrationsmaßnahme in Aussicht hat. Obwohl die Entscheidung der verantwortlichen Stellen noch aussteht, macht er sich viele Hoffnungen darauf. Einerseits mag der Einstieg ins Erwerbsleben ein vernünftiger Entschluss sein, um sich eine langfristige Lebensperspektive abseits der Straßenszene aufzubauen, andererseits aber ist gerade diese anspruchsvolle Zielperspektive, von dem unstrukturierten Alltagsleben auf der Straße unmittelbar in den hoch strukturierten Tagesablauf des Arbeitslebens überzuwechseln, mit der großen Gefahr einer strukturellen Überforderung verbunden. Zur Aufnahme der Arbeitsmaßnahme kommt es schon allein deshalb nicht, weil er schon die regelmäßigen Termine auf den Ämtern nicht einhält. Obwohl Markus hoffnungsvoll von seinen Zukunftsplänen erzählt, wird das Erreichen des gesetzten Zieles nicht wirklich antizipiert.
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Schließlich entspezifizieren sich durch die Tendenz zur Erfahrungsgeneralisierung Selbstwirksamkeits- und (Miss-)Erfolgserwartung in ihrer Bindung an einzelne Situationstypen (Rotter 1966; Bandura 1977: 197). Anstatt auf die Welt zuzugehen und diese als Möglichkeit zu begreifen, wird die Realisierung von eigenen Absichten, Plänen und Wünschen in vielen Lebensbereichen aufgegeben. Die eigene Desillusionierung wird selten zugegeben, spiegelt sich aber in jener altklugen Abgeklärtheit, aus der die Unausweichlichkeit des eigenen Scheiterns begründet wird. Es hat halt keinen Zweck mehr, noch etwas anderes zu versuchen, weil man alles Mögliche schon probiert hat. Entgegen aller »guten« Ratschläge hat die Erfahrung gezeigt, dass es sich nicht lohne, einen neuen Anfang zu wagen. Auch Oliver hat sich keine Hoffnungen mehr gemacht, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen: »Und bin immer halt der Meinung jewesen, ick selbst ick schaff det nich und da is keener, der mir helfen tut halt oder so.« Die Bahnhofsgänger wirken angesichts des an den Tag gelegten Fatalismus wie in ihre Coolheit eingemauert.
2. Wert der Ziele Schaut man sich nun die zweite unabhängige Größe der in der Erwartungsmal-Wert-Theorie formulierten Gleichung an, dann zeigt sich, dass genauso die potentiell zu erreichenden (Lebens-)Ziele, Aspirationen und Ansprüche an Wert einbüßen. Zugleich ist es aber kaum möglich, die durch die Mittelstandsgesellschaft repräsentierten Normen und Werte, wie diese sich in Handlungsmotive und Lebensziele übersetzen, im Ganzen abzulehnen und aufzugeben. Franziska: »Meine Mutter hat früher immer gepredigt: ›Geh zur Schule, … geh zur Schule‹. Nö, keine Lust, keine Lust, keine Lust. … ((schnalzt mit der Zunge)) Jetzt weeß ick, was ich davon hab. … Doch, ich denk ma, wenn man aus der Pubertät raus is, dann weiß man erst, dass die Eltern wirklich recht hatten mit der Scheiße, die sie damals gelabert hatten, doch wirklich.« Der gesellschaftlichen Definitionsmacht können sich auch die Bahnhofsgänger nicht entziehen. Denn es werden nur jene Verhaltensformen, die den Prinzipien der Wohlanständigkeit und der Leistungsorientierung folgen, gratifiziert und anerkannt. Dahingegen werden jene Bevölkerungsgruppen in den Bannkreis sozialer Ausschließungs- und Abwertungsprozesse gezogen, die nicht in der Lage sind, eine
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Lebensführung zu etablieren, die allgemeinen Werten und Normen entspricht. Angesichts der sich akkumulierenden Misserfolge bei Handlungszielen, die an sich betrachtet eine positive Valenz aufweisen – Gratifikationen, Status, soziale Einbindung, – treten bei den jungen Menschen AppetenzAversions-Konflikte auf (Lewin 1935). Ein Appetenz-Aversions-Konflikt ist dadurch gekennzeichnet, »daß ein und dasselbe Objekt (bzw. eine Verhaltensweise) positive und negative Aspekte hat und daher gleichzeitig Annährungs- und Vermeidungstendenzen auslöst« (Herkner 1991: 86). Die jungen Menschen müssen daher bei der Bestimmung ihrer Handlungsoptionen ständig zwischen dem objektiven Wert gesellschaftlicher Zielvorstellungen und ihrem persönlichen Scheitern an den von außen gesetzten Anforderungen hin und her jonglieren, um nicht grundsätzlich den Glauben in die eigene Handlungsfähigkeit zu verlieren. So wägt Tobias kritisch die Option ab, doch noch eine Ausbildung zu absolvieren: »Ich wollte schon, halt nur ich hab mir immer überlegt, dass es GELD zu wenig is, dass ich das drei Jahre lang nich aushalten würde, … mit sechshundert, achthundert Mark oder so im Monat. … Is su wenig GELD. … Ich mein, Ausbildung is zwar schon WICHtig für … äh die Zukunft un so, aber … ich glaub, dass ich’s nich AUShalten würde die drei Jahre.« Das strukturelle Handlungsproblem findet sich darin, dass alle Entscheidungsprozesse, die auf das Handlungsfeld der Erwachsenenwelt rückbezogen sind, in der Ambivalenz gefangen bleiben, dass die zur Wahl stehenden Handlungsalternativen sowohl von starken positiven (Appetenz) als auch negativen Valenzen (Aversion) besetzt sind. Auf der einen Seite führt das fortgesetzte Scheitern zu unangenehmen Spannungs- und Erregungszuständen, die es zu vermeiden gilt, sodass alle Handlungsziele, die nur eine geringe Realisierungschance haben, erst gar nicht mehr angestrebt werden. Auf der anderen Seite sind diese Handlungsziele, die auf die Etablierung einer sozial integrierten Lebensführung gerichtet sind, zugleich mit positiven Valenzen besetzt, die sich aus der sich eröffnenden Teilhabe und Anerkennung ergeben. Als Folge dieser Ambivalenz entsteht eine innere Konfliktsituation, wobei die Bahnhofsgänger angesichts der Übermacht des Ausschlusses eher regressive Handlungsalternativen des sozialen Rückzugs als Lösung bevorzugen. Die jungen Menschen verharren im Zustand der Unentschlossenheit und Zögerlichkeit, indem sie die Entscheidung über die zur Wahl stehenden Handlungsalternativen vertagen, indem der Beginn des 1-Euro-Jobs, der Anruf beim pädagogischen Maß-
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nahmenträger, der Termin bei der Schule zur Ausstellung einer Ersatzkopie des Zeugnisses immer wieder auf den nächsten Tag verschoben werden. Die Ambivalenzen und Unsicherheiten in der Abwägung der Handlungsalternativen werden zudem durch kognitive Umdeutungsversuche der Handlungssituation minimiert. Aus dissonanztheoretischer Sicht ist es ein kennzeichnendes Merkmal einer jeden Entscheidungssituation, dass für den Akteur die zur Verfügung stehenden Alternativen in ihrer Valenz mehrdeutig sind. Daher setzen sich die widersprüchlichen Implikationen auch nach der Entscheidung weiter fort (Festinger 1957; Frey 1978). Die Dissonanzstärke ergibt sich aus dem Verhältnis der konsonanten Relationen, welche die getroffene Entscheidung bestätigen, zu den dissonanten Relationen, welche die Wahl einer Handlungsalternative unterstützen. Weil durch Dissonanz eine innere Spannung erzeugt wird, die in Abhängigkeit der Konfliktstärke als unangenehm erfahren wird, wird besonders in der Nachentscheidungsphase versucht, die getroffene Wahl durch die Hervorhebung der konsonanten Elemente zuungunsten der dissonanten Elemente zu vereinheitlichen. Eine solche dissonanzreduktive Rationalisierung der regressiven Verhaltenstendenz muss nun für die jungen Menschen am Bahnhof im höchsten Maße als typisch angesehen werden. Die einfachste Form, um die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Anforderungen nachträglich zu rechtfertigen, besteht darin, die Handlungsziele, die sich auf gesellschaftliche Lebensbereiche richten, in ihrem Wert zu relativieren. Besonders deutlich wird dies bei der Abwertung von Arbeit und Beruf für die persönliche Entwicklung, wohingegen die jungen Menschen sich verstärkt privaten Interessen zuwenden (Baethge, Schomburg & Voskamp 1983: 9 f.). Es findet daher eine Zieldistanzierung statt, indem eine ganze Gruppe an relevanten und an sich wünschenswerten Handlungszielen deaktiviert wird (J. Heckhausen 1999). Die Dissonanzreduktion gelingt daher nur auf Kosten der umfassenden Verleugnung eigener Wünsche, Absichten und Pläne. Durch die systematische Abwertung aller Handlungsziele in gesellschaftlichen Lebensfeldern gehen zugleich die Gründe für eine Verbesserung der Sozialintegration verloren. Umgekehrt erklärt sich aus der Dissonanztheorie ebenso die Aufwertung der gewählten Handlungsalternative. Das Bahnhofsleben verbindet sich mit vielen positiv besetzten Handlungszielen, obwohl der Rückzug vom gesellschaftlichen Leben objektiv gesehen die Reduktion der Lebens-
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kreise verschärft. Anstatt die Mängel, Entbehrungen und Gefährdungen hervorzuheben, die mit einem Leben am gesellschaftlichen Rand verbunden sind, werden die Möglichkeiten und Vorteile fokussiert, die sich aus dem sozialen Anschluss an den »Bahnhof Zoo« ergeben. Auch diese Umwertung hat in der Alltagserfahrung der jungen Menschen einen empirischen Kern. Durch den Rekurs auf die Unterstützung des sozialen Netzwerks mag die soziale Einbindung in die Bahnhofsszene vielmehr als probate Alternative zu den in der Erwachsenenwelt erlittenen Verletzungen, Zurückweisungen und Missachtungen erscheinen.
3. Das Rubikon-Modell Die Untersuchung der Motivationsprozesse bei der Handlungszielwahl soll nun zusammengeschlossen werden mit der Frage nach den motivationalen Begleitumständen bei der Handlungsdurchführung. Hierdurch sollen die Schwierigkeiten der jungen Menschen bei der motivierten Übernahme und Realisierung von Handlungszusammenhängen im Kontext der restriktiven Lebenssituation betrachtet werden. Zur weiteren Analyse will ich mich auf das integrative Rubikon-Modell nach Heckhausen und Gollwitzer stützen (Heckhausen, Gollwitzer & Weinert 1987; Heckhausen 1989: 203 ff.). Dieses unterscheidet zwischen Motivation, das heißt psychischen Prozessen der Handlungszielsetzung, und der Volition, das heißt Prozessen, welche die Handlungsdurchführung veranlassen und begleiten. Neben der negativen Erwartungshaltung im Hinblick auf Handlungserfolg und Selbstwirksamkeit sowie der Entwertung potentieller Handlungsziele, sobald diese sich auf das schwierige Handlungsterrain gesellschaftlicher Systemstrukturen beziehen, zeigt sich nämlich ein drittes Problemfeld der psychischen Desorganisation: die motivationale Steuerung der Handlungsdurchführung. Kuhl (1983) führte im Anschluss an Lewin (1926) die Unterscheidung zwischen Motivation, worunter er die Selektionsmotivation versteht, und die Volition, worunter er die Realisierungsmotivation versteht, in die moderne Psychologie ein. In dem Rubikon-Modell wird diese Differenzierung aufgegriffen und zu einem Handlungsphasenmodell ausgearbeitet, das den Gesamthandlungszusammenhang in vier Realisierungsschritte unterteilt (Achtziger & Gollwitzer 2006: 278):
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– »Durch das Abwägen vollzieht sich die Intentionsbildung in Form der Selektion subjektiv relevanter Handlungsziele (prädezisionale Motivationsphase) – Durch das Planen werden als Intentionsinitiierung konkrete Strategien der Handlungszielrealisierung entwickelt (präaktionale Volitionsphase) – Durch das Handeln werden als Intentionsrealisierung die entwickelten Handlungsstrategien durchgeführt (aktionale Volitionsphase) – Durch das Bewerten der Handlungsergebnisse wird nach Abschluss der Handlungssequenz retrospektiv die Frage nach dem Erreichen der gesetzten Handlungsziele und prospektiv die Frage nach der Möglichkeit zukünftigen Handelns gestellt (postaktionale Motivationsphase)« (a) Handlungszielsetzung: In der ersten Phase, der abwägenden Intentionsbildung, muss das Individuum sich angesichts der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit möglicher Motive, Absichten und Ziele entscheiden, welche es realisieren will. Die Handlungsmotivbildung erfolgt durch das Abwägen von Wünschbarkeit und Realisierbarkeit potentieller Handlungsziele. Durch den Vergleich der zur Verfügung stehenden Handlungsziele schreitet die Elaboration des Motivationszusammenhangs so weit fort, bis die wichtigsten Fragen und Ansichten ausreichend erörtert sind. Die Motivationsbildung schließt mit einer Fazittendenz in Bezug auf eine wünschenswerte Handlung ab. Dieser kognitive Bewertungsprozess hängt ganz von den Informationen ab, die für die zur Wahl stehenden Handlungen verfügbar sind. Die Formen der Handlungszielsetzung bei den jungen Menschen am Bahnhof wurden schon unter dem Erwartungs-mal-Wert Modell behandelt. Angesichts der Erfahrungsgeneralisierung hat sich eine situationsübergreifende Motivationsdisposition herausgebildet, die in Bezug auf gesellschaftliche Handlungsfelder von der Tendenz her jedes handelndes Engagement vermeidet. Die Suche nach Wohnung und Arbeitsstelle, die Auseinandersetzung mit den Behörden, die Verselbständigung der eigenen Lebensführung werden erst gar nicht mehr versucht. Die Abwägungsphase wird vorschnell abgebrochen, ohne zu einem expliziten Handlungsentschluss zu gelangen, weil die Erwartung auf Handlungserfolg systematisch enttäuscht worden ist und weil die gesellschaftlichen Handlungsziele systematisch abgewertet werden. Dennoch lässt sich auch hier nur in seltenen Fällen und zumeist zeitlich beschränkt eine totale Desorganisation der Motivations- und Handlungsstrukturen beobachten. Denn selbst faktische Obdachlosigkeit erfordert, wenn nicht sogar erzwingt andauernde Weltein-
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griffe, um der eigenen Bedürftigkeit und Verletzlichkeit nicht völlig ausgeliefert zu sein. So werden immer wieder Handlungsversuche unternommen, um die eigene Situation zu verbessern, auch entgegen aller Hindernisse und Schwierigkeiten, etwa indem das Gesprächs- und Unterstützungsangebot eines Streetworkers genutzt wird, man sich nun doch arbeitslos meldet, den Kontakt zu einem Wohnprojekt aufnimmt. Und dennoch sind diese Handlungszielsetzungen vorwiegend aus dem Druck der äußeren Verhältnisse begründet, als dass es um die Verwirklichung eigener Interessen, Absichten und Wünsche gehen würde. (b) Handlungsstrategien: Im Zuge der Fazitbildung wurde die Phase des Abwägens für- und widersprechender Gründe abgeschlossen, sodass mit der Entscheidung zum Handeln die Würfel gefallen sind und der Rubikon2 überschritten wird. In der präaktionalen Planungsphase wird nun die Volition zentral, die auf die Realisierung des im Handlungsentwurf definierten Zielzustandes drängt. Hierdurch wird die Entwicklung von Handlungsstrategien notwendig, in der die Handlungsumstände und Handlungsweisen spezifiziert werden. Angesichts der Vielzahl an konkurrierenden Zielsetzungen, die ein Mensch zu einem gegebenen Zeitpunkt verfolgt, setzt sich letztlich jene mit der stärksten Fiattendenz durch. Die Fiattendenz ergibt sich dabei aus der Volition, das heißt aus der Verpflichtung zur Zielrealisierung aufgrund von Wünschbarkeit und Realisierbarkeit, sowie dem Grad der Günstigkeit der vorliegenden Situation zur Realisierung der intendierten Ziele (vgl. Achtziger & Gollwitzer 2006: 283 f.). Das Ausweichen und Vermeiden von solchen Handlungen, über die an sich erstrebenswerte und wertgeschätzte Zielsetzungen antizipierbar werden, begründet sich nun auch daraus, dass bei den jungen Bahnhofsgängern die Fiattendenz für gesellschaftliche Handlungsziele kaum einen zur Handlungsinitiierung kritischen Wert erlangt. Die Verpflichtetheit ist angesichts der gebrochenen Wünschbarkeit und geringen Realisierbarkeitschancen genauso gering wie die Chance auf eine günstig erscheinende Situation. Zum Beispiel ist Frederik sehr wohl gelegentlich um eine Arbeitsstelle bemüht und dennoch kümmert er sich nicht wirklich darum. Es sind zumeist von außen gestellte Anforderungen, die das Handlungsengagement initiieren, weshalb sich die jungen Menschen aber dann halbherzig um ihre Angelegenheiten kümmern. Frederik: »Es ergab sich grad so, dass mir ähm
—————— 2 Italienischer Fluss, der im antiken Rom von Heeren, die unter Waffen standen, nicht überschritten werden durfte. Für Julius Cäsar gab es durch dessen Überschreitung am 10. Januar 49 v. Chr. bei der Machtübernahme im römischen Reich kein Zurück mehr.
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… vom … Sozialamt … gesagt wurde, ich sollte doch mal zu … Stellwerk [pädagogische Arbeitsvermittlung] gehen und mir der Brief von Stellwerk dann ähm in die// ins Haus geflattert ist mit dem … Arbeitsangebot, weil ich war letztes Jahr schon mal da bei denen. Und die hatten da aber nie was Passendes für mich gefunden. … Und äh … na ja, und da kam ich dann grad vom Sozialamt nach Haus und dann lag da schon der Brief, dass die ne Stelle haben.« Gegenüber diesen Anforderungen setzen sich leichter jene Handlungspläne mit einer positiveren Fiattendenz durch, die vorwiegend um die sozialen Einbindungsformen am »Bahnhof Zoo« kreisen. Im Vergleich zur aversiven Situation eines Besuchs des Sozialamts steht die Wünschbarkeit und Realisierbarkeit eines alternativen Ausflugs zum »Bahnhof Zoo« genauso wenig in Frage wie das tagtägliche Vorhandensein einer dazu günstigen Situation. Vielmehr noch wird die Hinwendung zur Bahnhofsszene zur Ausweichreaktion. In der Kurzweil der Bahnhofswelt wird es möglich, sich von bedrückenden Aufgaben, welche die Alltagsbewältigung erfordert, mental abzuwenden und sich in der bunten und aufgeregten Ereignishaftigkeit des sozialen Geschehens zu zerstreuen, bis die Dringlichkeit aller Erledigungen vergessen beziehungsweise es wieder einmal zu spät ist, um den vereinbarten Termin auf der Behörde noch wahrzunehmen. Frederik: »Du denkst in DEM Moment, wenn Du auf Party unterwegs bist und die ein oder andere Pille genommen hast oder dein Speed gezogen hast, denkst du da sowieso nich mehr dran. … Dann kann dir tausendmal jemand erklären, DAS IST JETZT WICHTIG, also dann … bist du auf deim’ Film und dann is Feierabend. … Dann passt das grad mal überhaupt da grad rein und dann bist du grad in so’ner guten Runde mit paar Leuten zusammen und dann is sowieso wieder vorbei.« In der präaktionalen Handlungsphase wird es den jungen Menschen aber vor allem zum Problem, dass sich viele Zielsetzungen nicht im direkten Handlungsdurchgang realisieren lassen. Normalerweise werden Handlungen über den Aufbau von Zwischenzielen organisiert und dadurch auf das endgültige Handlungsergebnis zentriert. »Ziele sind Vorwegnahmen von Handlungsfolgen, die mehr oder weniger bewusst zustande kommen. Sie beziehen sich auf zukünftige, angestrebte Handlungsergebnisse und beinhalten zugleich auch eine kognitive Repräsentation dieser Handlungsergebnisse« (Kleinbeck 2006: 256). Beim Herunterbrechen von komplexen Handlungszielen auf Zwischenziele werden die einzelnen Zwischenziele zu notwendigen Etappen, die dem Erreichen der antizipierten Zielintentionen
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vorausgesetzt sind: Es müssen in dieser Woche der Personalausweis, eine Sozialversicherungsnummer und die Lohnsteuerkarte beantragt werden, um das große Gesamtziel zu erreichen, nämlich beim nächsten Behördentermin eine Auszahlung des laufenden Sozialhilfebezugs, den Kostenübernahmeschein für ein Wohnprojekt, das Ersteinrichtungsgeld für die Beschaffung von Mobiliar zu erhalten, sodass am Ende der fernen Zukunft die eigene Wohnung und ein sicheres Erwerbseinkommen stehen. Zwischenziele und Gesamtziele sind damit ineinander reflektiert, sodass sich der Sinn des einen nur durch den des anderen ergibt. Beim Aufbau von komplexen Handlungszielketten kumuliert sich die Fraglichkeit der Erreichbarkeit jedes einzelnen Kettengliedes so weit, dass mit dem Gesamtziel, nämlich die Abgesichertheit der Lebenssituation strukturell zu verbessern, gar nicht mehr zu rechnen ist. Der übergreifende Sinnzusammenhang des Handlungsentwurfs zerbricht angesichts der Vehemenz des sozialen Ausschlusses immer wieder. Aufgrund der strukturellen Unvertrautheit mit der Sozialwelt wird jeder Eingriff in diese Sphäre zur unüberschaubaren, mühevollen und anstrengenden Aktivität. Durch die kognitive Verschlossenheit der Sozialwelt wird dann nicht nur der Aufwand der Informationsbeschaffung für die Handlungsplanung sehr groß, während die mittleren Ertragsaussichten eher gering sind (Achtziger & Gollwitzer 2006: 279). Weil sich die jungen Menschen mit den sozialen Feldern ihres Scheiterns nicht wirklich auseinandersetzen wollen, sind sie kaum über die tiefendimensionale Bedeutungsstruktur der Handlungssituation informiert, sondern orientieren sich nur zu leicht an einer spontanen, allein emotional-affektiven Bewertung der Lebensumstände entlang der Dimension gegenwärtiger Lust und Unlust. Oliver begründet, dass er keine Sozialleistungen zur Absicherung seiner Existenzgrundlage bezogen hat, folgendermaßen: »Nee, da hab// bin ick nich mal zu de Ämter jejangen, nischt.« --- I.: »Warum nicht? Hattest Du nicht …« --- Oliver: »… na, da ha’ick keene Lust zu jehabt.« --- I.: »Aber Du wusstest, dass man Sozialhilfe bekommt?« --- Oliver: »Damit man so wat kricht allet und so, aber ha’ick keene Lust zu jehabt.« Die jungen Menschen haben zudem nie gelernt, dass eine mentale Strukturierung auf langfristige Ziele lohnenswert sein kann, was in den meisten Fällen für die Gegenwart einen Aufschub sich unmittelbar artikulierender Bedürfnisse erfordert. Während schon für die Fazittendenz beim Abwägen von Handlungszielen eher ein verdrängender und abwehrender Kognitionsstil kennzeichnend ist, zeigt sich nun weiterhin, dass die sich
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biographisch entwickelte Erwartungshaltung der ungenügenden Selbstwirksamkeit auch an die unzureichende Fähigkeit der mentalen Selbststeuerung gekoppelt ist. »Kontrolliertes Verhalten bedeutet zweierlei, nämlich äußere Kontrolle (Abhängigkeit des Verhaltens von diskriminativen Reizen, von Verstärkern, Strafreizen, usw.) und innere Kontrolle (Abhängigkeit des Verhaltens von Selbstbestrafung, Selbstverstärkung und kognitiven Prozessen)« (Herkner 1991: 487). Anhand der Erklärungen von Frederik wird deutlich, wie schwer es angesichts des großen Abstands zur Gesellschaft fällt, die sich in der Gegenwart aufdrängenden Wünsche und Ambitionen zugunsten langfristiger Lebensplanungen zurückzustellen. Frederik: »Dann mal immer was versucht was übers Arbeitsamt zu machen oder ähm … übers Sozialamt, aber … dann immer mal so … n Anfang gefunden, aber … äh … irgendwann dann auch wieder sein lassen.« --- I.: »Wollten die von Dir … oder wolltest Du was von denen?« --- Frederik: »Na, ich wollte von mir dann was, aber dann kommt dann wieder ne Party dazwischen und ähm … bei der Party bleibt man ja nicht unbedingt nüchtern und … und dann … JA, ich hab morgen n Termin, ja, komm, wir gehen noch mal ins SO [Berliner Tanzlokal], Party machen, dann brauch ich mor// bin ich morgen wenigstens pünktlich da, … weil dann bin ich ja sowieso wieder die ganze Zeit wach. … Na, okay. … Guckste auf die Uhr. … OH, ich hätte vor zwei Stunden auf meim’ Termin sein müssen. … Na gut, jetzt is auch egal.«
Besonders Walter Mischel (1981; 1983) hat sich in einer Vielzahl von Studien mit Formen der Affekt- und Bedürfniskontrolle beschäftigt, indem er die Reaktionsweisen (von Kindern) auf Verzögerungen bei Belohnungen in Wartesituationen untersucht hat. In dem typischen Untersuchungsdesign werden Kinder vor die Wahl gestellt, entweder eine Belohnung von geringem Wert sofort oder eine Belohnung von größerem Wert erst nach einer zeitlichen Verzögerung zu bekommen. Wenn man nun Kindern das Angebot macht, als Belohnung für die Teilnahme an der Untersuchung eine Tafel Schokolade im direkten Anschluss zu erhalten, wohingegen sich die Menge in einer Woche auf fünf Tafeln erhöhen würde, dann entscheiden sich Kinder aus sozial schwachen Familien weitaus häufiger für die augenblicklich verfügbare kleinere Belohnung, während Kinder aus der Mittelschicht, ihre unmittelbaren Bedürfnisse und Wünsche zugunsten der größeren Belohnung zurückstellen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass Unterschichtkinder in geringerem Maße davon ausgehen, das Eintreten wünschenswerter Ereignisse selbst beeinflussen zu können (Schmidt, Lamm & Trommsdorff 1978: 80; Mischel 1974).
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Die Affekt- und Bedürfniskontrolle ist zugleich in den normativen Kontext gesellschaftlicher Erwartungshaltungen eingebunden, welche die individuelle Impulsivität und Handlungsbereitschaft regulieren. Norbert Elias (1997) hat hier gezeigt, dass der Mensch in einem Jahrhunderte währenden Zivilisationsprozess die innere Affektkontrolle erst erlernen und vervollkommnen musste. Strategisches Handeln in komplexen Handlungssituationen, wie dies für unsere moderne Gesellschaft als typisch anzusehen ist, wurde erst durch den Aufbau psychischer Kontrollinstanzen möglich. Eine auf kurzfristige Triebabfuhr angelegte Impulsivität musste sukzessive zurückgedrängt werden, um nicht ständig langfristig angelegte Interessenorientierungen und Handlungszielketten zu durchkreuzen. Junge Menschen müssen durch Enkulturalisation diesen historisch-kulturellen Entwicklungsprozess für sich selbst ontogenetisch nachholen (Hohl 1993: 47 ff.). Damit erfordert die Ausbildung umfassender Handlungsfähigkeit nicht nur das Eingreifen in komplexe Bedeutungsanordnungen der sachlich-sozialen Welt, sondern ebenso muss die Domestizierung der inneren Natur durch Selbst-Beherrschung erlernt werden. Ein bewusstes Sich-insVerhältnis-Setzen zur eigenen Innerlichkeit bedeutet insbesondere, die Fixierung auf unmittelbare Triebabfuhr und Bedürfnisbefriedigung in Richtung einer dauerhaften Absicherung von Lebensumständen und Bedarfszuständen zu durchbrechen (Holzkamp-Osterkamp 1976: 57 ff.). Die Orientierung vorwiegend an kurzfristigen Zielsetzungen begründet sich im Fall der Bahnhofsgänger einerseits daraus, dass angesichts der Exklusion die individuelle Bedürftigkeit nach umfassender Bedürfnisbefriedigung derartig ausgeprägt ist, dass überhaupt kein Entscheidungs- und Verhaltensspielraum für Dezentrierung und Bedürfnisaufschub besteht: etwa der ungesättigte Hunger bei gleichzeitiger Verführung durch die Essensangebote der innerstädtischen Einkaufswelt, der Wunsch nach sich selbst vergessener Entspannung und abwechslungsreichem Freizeitvertreib, damit die eigenen Ansprüche an ein gutes und schönes Leben. Die jungen Menschen haben gelernt, lieber die schnelle Chance zu nutzen, bevor diese wieder verpasst ist und lieber im Hier und Jetzt zuzugreifen, anstatt sich vage Hoffnungen auf eine Verwirklichung weiter gefasster Ansprüche an eine ferne Zukunft zu machen. Eine Fixierung auf kurzschlüssige Handlungsentwürfe wird umso wahrscheinlicher sein, wie die jungen Menschen angesichts der Verkürzung ihrer Möglichkeiten ständig mit dem Rücken zur Wand stehen. Es ist ihnen kaum möglich, in ihrer Not und in ihrem
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Ausgeschlossensein einen Schritt zurückzutreten, um die eigene Situation einmal mit Abstand in Augenschein zu nehmen. Neben den objektiven Schwierigkeiten sind auch die »berechtigten« Zweifel an dem eigenen Vermögen zur Selbstkontrolle und Selbststrukturierung zu groß. Dies führt wiederum zur systematischen Demotivation der »guten« Absichten. Frederik: »Äh … alles, was ich versucht hab an … MAßnahmen vom Arbeitsamt oder so in … Frankfurt hat nicht gefruchtet, ging nicht, also … hab ich über ((unv. Wort)) dann jemanden kennen gelernt hier aus BerLIN, … der hat mich zu ner Silvesterparty eingeladen und das war siebenundneunzig. … Na ja, … und seitdem sitz ich hier.« Die Relativierung aktueller Wünsche zugunsten der Etablierung einer kontinuierlichen Lebensführung – frühes Aufstehen, Reduktion der jugendkulturellen Freizeitgestaltung, regelmäßige Arbeitszeiten et cetera – macht ohne ausreichende Kontroll- und Erfolgserwartung kaum einen Sinn, sodass man gleich den gegenwartsfixierten Neigungen und Stimmungen folgen kann. Innere Selbstkontrolle erfordert aber nicht allein die Möglichkeit zum dezentrierten Bedürfnis- und Triebaufschub, sondern ebenso das Zurückstellen unbearbeiteter, spontaner Affekte bei der Handlungsdurchführung (Kuhl 2001: 173 ff.). Schon in der Familie war affektive Sicherheit, das heißt das Gefühl der Aufgehobenheit elementarer Bedarfszustände, nicht gegeben. Durch Armut und sozialen Ausschluss kommt es schließlich zur Fortsetzung der Erfahrung, in seiner freien Entfaltung behindert zu werden, was zur permanenten Quelle eines latenten Überhangs an unkontrollierten Frustrationen und Aggressionen wird. Die geringe Frustrationstoleranz ist schließlich darauf zurückzuführen, dass es den jungen Menschen an einer selbstregulativen Affektkontrolle mangelt. Dies kommt nur zu deutlich in der Schwierigkeit zum Ausdruck, sich zu entspannen, Ruhe und Alleinsein zu genießen. Vielmehr sind es häufig ganz äußerliche Anlässe, dass die jungen Menschen im Affektausbruch »explodieren«, um die Anspannung, die sich aus dem Ausgeliefertsein an die unzureichende Selbstbestimmung ihrer Situation ergibt, entladen zu können. Dagegen gelingt eine »selbstregulative Rekrutierung positiven Affekts«, um auf konstruktivem Wege Handlungsziele zu erreichen, in ungleich geringerem Maße (Kuhl 2001: 177). Marc berichtet über solche Schwierigkeiten bei der affektiven Selbstregulation in der Wiedergabe eines Gesprächs, das er mit seiner Therapeutin geführt hatte: »Manchmal gibt’s auch Tage zu Hause, also da denk ich, ich hab was da verGESsen, ((Un-
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ruhe)) suche, suche, da war mal so’n … Ding, suche, suche, un da hab ich dann … später DOCH … was nich verloren und hab es dann so// un finde das wieder, ja? /I.: Mhm/ … Also bin ich kurz vor’m AUSrasten, ja.« Angesichts der Vielzahl an Versagungen, der Kumulierung des Scheiterns, der Vehemenz des Ausschlusses kommt es schon bei geringen Anlässen zur Entstehung negativer, nur schwer zu kontrollierender Affekte – Anspannung, Unruhe, Wutausbruch. Solche Erregungszustände konfundieren dann gerade wegen der unzureichenden Fähigkeit zur Affektregulation wiederum mit allen langfristigen Zielantizipationen und Handlungsplänen: Etwa wenn der Sachbearbeiter auf der Behörde den dringlichen Ansprüchen nach einer Verbesserung der individuellen Situation durch Auszahlung von Sozialleistungen, Kostenübernahme einer Betreuungseinrichtung, Unterstützung bei der Arbeitssuche nicht nachkommt. Die Aussicht auf die Möglichkeit, einen schriftlichen Einspruch gegen den als Willkür erfahrenen Verwaltungsakt zu schreiben, eignet sich kaum als funktionstüchtiges Ventil, um die Enttäuschung und Verärgerung zu entladen. Hier muss die affektive Triebenergie den ganzen »Umweg« über die institutionalisierte Welt funktionaler Handlungszusammenhänge nehmen. Erst am Ende dieses Weges, mit großer zeitlicher Verzögerung, erscheint die vage Möglichkeit, die affektive Energie in ein gelungenes und erfolgreiches Handlungsergebnis transformiert zu haben, indem etwa der Amtsbescheid im gewünschten Sinne geändert wird. Wenn dieser Weg aber zuvor nie erfolgreich beschritten worden ist, dann wird sich auch keine handlungsleitende Repräsentation dieser funktional bestimmten Bedeutungs- und Handlungsstrukturen der Sozialwelt aufbauen können. Eine an sachlichen Gegebenheiten koordinierte Verhaltenskoordination muss hier fehlen, weil den Affekten kein Weg zu weisen ist, wie diese sich ihren Weg in die Wirklichkeit bahnen können. Angesichts der hohen Komplexität sozialer Handlungsstrukturen werden dagegen alle kurzschlüssigen, auf unmittelbare Triebabfuhr gerichteten Handlungen zum waghalsigen Abenteuer, das bald zu einem donquichottehaften Kampf gegen die gesellschaftlichen Institutionen als den Giganten des modernen Lebens wird. Die jungen Menschen ziehen sich dann durch Aufgabe von Ansprüchen und Ambitionen entweder im leisen Protest von der Welt zurück oder es kommt zur aggressiven Affektabfuhr, indem die unerträgliche Begrenzung eigener Möglichkeiten emotional ausagiert wird. (c) Handlungsdurchführung: In der aktionalen Volitionsphase, das heißt wenn es entgegen der subjektiven Misserfolgserwartung dennoch
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zum finalen Handlungsentschluss kommt, kumulieren nun die Planungsschwierigkeiten, einen fundierten Handlungszusammenhang aufzubauen, in der Handlungsdurchführung. Gemäß der »Ceteris-paribus«-Klausel ließe sich sagen, dass eine Handlung mit ausreichender Fiattendenz, unter sonst gleichen Umständen, letztlich in geplanter Weise zur Ausführung und Realisation gebracht wird. Die Anwendbarkeit dieser Klausel muss unter den Bahnhofsgängern gerade bei der Durchführung komplexer Handlungszusammenhänge, die aus aufeinander aufbauenden Zielketten bestehen, eher als untypischer Fall angesehen werden. Vielmehr kommt es typischerweise bei der Umsetzung von Handlungsplänen immer wieder zu intentionswidrigen, vor allem unbedachten Unterbrechungen. Die Schwierigkeiten der Handlungsrealisierung werden von den jungen Menschen entweder systematisch überschätzt, sodass es zur motivierten Übernahme eines Handlungsentschlusses erst gar nicht kommt, oder systematisch unterschätzt, wenn sich die jungen Menschen doch einmal zum Handeln durchringen sollten. In beiden Fällen verharren die jungen Menschen in einem Zustand, den Kuhl als Lageorientierung bezeichnet, welcher der Handlungsorientierung entgegengesetzt ist (1981; 1983). Lageorientierung meint, dass entweder der Ist-Zustand, das heißt die Ausweglosigkeit überbetont wird oder einzig der antizipierte Sollzustand in Rechnung gestellt wird, ohne sich noch mit den gegebenen Schwierigkeiten beschäftigen zu wollen. Zwar versuchen die jungen Menschen immer wieder, diese Lageorientierung zu überwinden, doch treffen hier ein typisch ausgeprägter Negativismus mit niedriger Selbstmotivationskapazität zusammen (Kuhl 2001: 708 ff.). Diese belastungsabhängige Hemmung volitionaler Funktionen muss dabei in zwei Fällen als besonders typisch angesehen werden. Besonders das Auftreten von ungeplanten Schwierigkeiten bewirkt bei der Umsetzung des Handlungsentwurfs häufig einen vollständigen Abbruch der Handlungsdurchführung und die Aufgabe der zugrunde liegenden Zielsetzungen. Die insgeheim gehegte Erwartungshaltung, doch nur zu scheitern, findet hier eine vorschnelle Bestätigung. Anstatt in einem zweiten Anlauf eine Überwindung der aufgetretenen Schwierigkeiten zu versuchen, wird eine Aufhebung des von den Erfolgserwartungen getragenen Handlungsdrucks bevorzugt, gerade weil die Anspannung während der Handlungsdurchführung wegen der vorherrschenden Misserfolgserwartungen umso größer ist. Dies wird etwa deutlich, wenn Sven die Gründe für die Schwierigkeiten bei der motivierten Handlungsübernahme erklärt, die
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ihm die gegenwärtige Wohnungssuche bereitet: »Hm, … mein// mein Durchsetzungsvermögen. Ich mein, ich hab mir jetzt in der Zeit schon ganz, ganz viele Wohnungen angeguckt und so. Eigentlich ist es bei mir so, wenn// wenn niemand da ist und sagt, … das musst du tun, wenn du’s wirklich erreichen willst, dann … denn// denn tu ich’s nicht mehr. Dann// dann mach ich es einmal, ich krieg ne Absage und dann lass ich’s. … Die fang ich die Sache nich noch mal von vorne an.« Der Misserfolg wird als Mangel an persönlichem Durchsetzungsvermögen »rationalisiert«, indem dieser von Sven als habituelle Verhaltensdisposition gerechtfertigt wird. Der Abbruch der Handlung wird geradezu als Erleichterung erfahren, weil man es einerseits versucht hat, andererseits es sich ja wieder nur bewiesen hat, dass man mit seiner negativistischen Misserfolgserwartung letztlich recht behalten hat. Und gerade langfristige Zielperspektiven, die ein kontinuierliches Handlungsengagement erfordern, müssen im Licht der eigenen Misserfolgserwartung als unrealistisch erscheinen. Oliver: »Ne// ne Ausbildung im Moment machen, … will ick im Moment noch nich, … weil da, … jeb ick janz ehrlich zu, hab ick det Feeling und die Jeduld noch nich zu. … Weil ick will nich ne Lehre anfangen und denn schon wieder abbrechen oder so.« Den jungen Menschen gelingt nicht die Aufrechterhaltung einer positiven Affektmodulation, durch welche eine hoffnungsfrohe Antizipation des Handlungserfolgs eine ausreichend stabile Motivation generiert. Das Leben ist dann wieder schnell eingebettet in eine Vielzahl an Unwägbarkeiten, Erschwernissen, Behinderungen und Unmöglichkeiten, was weniger als Normalzustand eines stete Eingriffe erfordernden Alltagslebens verstanden, sondern vorschnell als eigenes Unvermögen attribuiert wird. Gerade aufgrund des Wissens um das eigene Unvermögen werden einfache, zielfixierte Handlungsformen bevorzugt, die wie das Durchschlagen des Gordischen Knotens eine unmittelbare Erlösung vom Handlungsdruck erbringen sollen – wie etwa das Auf-den-Tisch-Hauen beim Sachbearbeiter auf der Behörde. Dabei wird nicht gesehen, dass sich durch diese Kurzschlüssigkeit nur wieder das Grundproblem reproduziert, dass eine erfolgreiche Bewältigung des Alltagslebens ein beständiges und dauerhaftes Handlungsengagement erfordert. (d) Handlungsbewertung: In der postaktionalen Motivationsphase werden im Rückblick auf den beschrittenen Weg die erreichten Handlungsergebnisse bewertet. Wenn also Handlungsplanung und -umsetzung über die antizipierten Konsequenzen gesteuert werden, dann hängt die Verhaltens-
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regulation ganz wesentlich von den Erfahrungen in der Vergangenheit gemachter Handlungsversuche ab. Weil nun aber die gesetzten Handlungsziele häufig nicht erreicht wurden und die retrospektive Bewertung wegen Handlungsabbrüchen und Misserfolgserlebnissen zu häufig negativ ausfällt, muss auch die Möglichkeit zum zukünftigen Handeln zweifelhaft erscheinen. Daher versucht Frederik eine grundsätzliche Änderung seiner Situation erst gar nicht: »Na ja, … warn halt keine Perspektiven da, was du machen willst, und ich hing halt einfach jahrelang irgendwo in der Luft rum.« Die jungen Menschen sind hier – als altkluge Fatalisten – im Zirkel einer negativen Handlungsevaluation gefangen. Das Leben gibt ihnen ständig recht, dass auch in der Zukunft mit einer Fortsetzung des eigenen Misserfolgs zu rechnen ist. Oliver gibt seinen Alltag weitgehend zugunsten eines exzessiven Alkoholkonsums auf, ohne sich noch um die notwendigsten Erledigungen zu kümmern, sodass er immer wieder in akute Wohnungslosigkeit abgleitet: »Weil ick einfach nich mehr weiterjesehn hab, wa, weil ick … keene Zukunft für mich mehr irgendwie jesehn hab.« Die Überwindung des sozialen Ausschlusses würde angesichts der widrigen Handlungsumstände eigentlich eine besonders hohe Motivationsbereitschaft erfordern. Nur in seltenen Fällen erscheint es aber als lohnenswert, »hier und heute« einen durchgreifenden Anfang zu wagen, um der Misere endgültig zu entgehen und den Alltag auf eine neue Basis zu stellen.
Alltägliche Lebensführung
Die Analyse der Handlungs- und Motivationszusammenhänge soll nun in einen übergreifenden Kontext gestellt werden, indem die Frage nach den subjektiven Voraussetzungen für die Gestaltung von Alltag aufgeworfen wird. Hierdurch wird die Untersuchung wieder zum Thema der Individualintegration zurückgeführt, das bisher vorwiegend von seiner sozialen, lebensweltlichen Seite her am Leitfaden des Exklusionsbegriffs beleuchtet worden ist. Unter der Perspektive der vierten Ebene des Subjekt-Integrations-Modells erscheint Alltag nun gerade als das eigentliche Zentrum handelnder Welteingriffe. Die Desorganisation individueller Handlungsweisen aufgrund der restriktiven Opportunitätsstruktur der Armut steht einer erfolgreichen Herstellung und Bewältigung von Alltag im Wege. Denn als zentraler Aufgabenbereich des Alltagshandelns muss die Vermittlung individueller Existenz mit dem gesellschaftlichen Lebenserhaltungssystem angesehen werden. Hierdurch wird im übergreifenden Maßstab der Daseinsbewältigung für jene Ressourcen und Kapitalien gesorgt, die für die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung als auch für die Entfaltung von Individualitätspotentialen notwendig sind. Zur Akzentuierung der aktiven, reflexiven, subjektiv begründeten Handlungsbeiträge bei der Hervorbringung von Alltag soll sich systematisch dem Konzept der alltäglichen Lebensführung bedient werden. Dieses Konzept geht zurück auf einen Sonderforschungsbereich an der Universität München (Voß 1991; 1995; Voß & Weihrich 2001; Behringer 1998) und wurde für die Psychologie insbesondere von Klaus Holzkamp ausgearbeitet (Holzkamp 1996; 1995; Keupp et al. 1999). Bei der wissenschaftlichen Analyseeinheit handelt sich jetzt also nicht mehr um isoliert betrachtete Handlungs-Ereignis-Folgen, sondern um die übergreifende Organisationsleistung der Lebensführung. Hierüber werden die verschiedenen Teilbereiche und Teilaktivitäten, aus denen sich der Alltag zusammensetzt, integriert. Lebensführung schiebt sich damit »als vermittelnde Kategorie zwi-
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schen Subjekt und gesellschaftliche Strukturen […], wobei die Handlungsräume des Subjekts in Auseinandersetzung mit diesen Strukturen besondere Beachtung finden« (Jurczyk & Rerrich 1993: 37). Was sich im letzten Kapitel schon gezeigt hat, dass der soziale Ausschluss in der gravierenden Desorganisation von Handlungs- und Motivationszusammenhänge mündet, setzt sich nun auf dem Niveau der alltäglichen Lebensführung weiter fort. Die Auswirkungen der Exklusionserfahrung auf die subjektive Seite des Armutsprozesses ist jetzt nicht allein in Form der Dissoziation und Diffusion von Sinn zu sehen, sodass das repräsentationale Welt- und Selbstverhältnis beschädigt wird und daher immer weniger für die tagtägliche Alltagspraxis als Orientierungsrahmen dienen kann. Mit Blick auf die Lebensführung ist es nun die eigengestaltete Alltagspraxis selbst, die aufgrund des restriktiven Möglichkeitsraums zum Problem wird, sodass die Individualintegration unzureichend bleibt. Die Desorganisationsformen alltäglicher Motivations- und Handlungszusammenhänge setzen sich auf der Ebene fort, dass angesichts des Mangels jeder Form an sinngebenden Tagesaktivitäten auch das Arrangement alltäglicher Lebensführung ohne jede strukturbildende Substanz bleibt (1). Insoweit die Individualintegration misslingt, ist an den Aufbau umfassender Handlungsstrukturen, in der die individuelle Daseinsbewältigung auf gesellschaftliche Sozialräume rückbezogen ist, nicht zu denken (2). In besonderer Weise wirken Handlungsroutinen strukturierend auf die Alltagsbewältigung, indem sichergestellt wird, dass alle wichtigen Besorgungen auch erledigt werden. Weil aber in der Lebensführung der jungen Menschen diese geordnete Zyklizität unausgebildet bleibt, droht der Alltag immer wieder aus dem Ruder zu laufen (3). Der alltäglichen Lebensführung mangelt es letztendlich nicht nur an strukturbildenden Handlungsroutinen, sondern diese gewinnen selbst ihren Sinn erst aus einer übergreifenden Lebensperspektive (4).
1. Mangel an Tagesaktivitäten Die alltägliche Lebensführung ist eine eigenständige Leistung des Individuums, die auf den Aufbau eines übergreifenden Handlungsarrangements zielt, wodurch alle Aufgaben und Tätigkeiten, die im Tagesverlauf zu erledigen sind, ihren notwendigen Platz erhalten. Lebensführung ist damit
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notwendigerweise ein integratives Gebilde, dass die »Gesamtheit aller Tätigkeiten im Alltag« einer Person umfasst, »die das Leben eines Menschen ausmachen« (Voß 1995: 30). Diese Integration verschiedener Anforderungen, wie diese aus der Beteiligung an den unterschiedlichsten Sozialräumen resultieren, lassen sich in mehrere Dimensionen differenzieren: Zuvorderst finden sich die zeitliche Organisation des Alltags als umfassende Synchronisations-, Koordinations- und Planungsleistung, die sachlich-arbeitsteilige Organisation des Alltags als eine Inbeziehungsetzung der sich im Alltag stellenden Aufgaben und Besorgungen untereinander und die soziale Organisation des Alltags als Abstimmungs- und Aushandlungsprozess innerhalb des eigenen sozialen Netzwerks (Holzkamp 1995: 822; Jurczyk & Rerrich 1993: 27). Bei den jungen Menschen scheint die Etablierung eines solchen zeitlichen, funktionsteiligen und sozialen Arrangementregimes, das die Ausführung der einzelnen Tagesaktivitäten untereinander koordiniert, dagegen kaum vonnöten zu sein. Bernd treffe ich am Mittag gegen ein Uhr in der »Hardenbergstraße«, einem sozialpädagogischen Beratungs- und Caféangebot in der unmittelbaren Nähe zum »Bahnhof Zoo«. Er kommt in den großen Aufenthaltsraum hinein, gewinnt sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden, indem er noch beim Setzen das Wort ergreift und uns erzählt, dass er gerade erst aufgestanden sei. Weil er nichts Besseres zu tun wusste, habe er sich gleich auf den Weg in die Hardenbergstraße gemacht, um hier den Tag mit einem Frühstück zu beginnen. Er fährt mit der Neudefinition dessen, was ein »gutes Leben« heißen mag, auch sogleich fort, indem er lachend berichtet, dass man nach dem Aufstehen zuerst einen »Joint durchgezogen« habe und dann, als sich der Hunger einstellte, sich gefragt habe, woher man nun das Frühstück bekäme. Überhaupt sei man gestern erst spät ins Bett gegangen, weil Michael gerade bei ihm wohne, der seine Wohnung verloren habe, sodass man die ganze letzte Woche zusammen verbracht und »Party gemacht« habe. Auch gestern seien sie bis spät nachts am Bahnhof unterwegs gewesen, um schließlich die restlichen Leute, die da noch herumgestanden haben, mit zu sich nach Hause zu nehmen und weiterzufeiern. Eine Woche später, als ich Bernd wieder am Bahnhof treffe, ist er wie so häufig schlecht gelaunt, macht einen matten und niedergeschlagenen Eindruck, und erzählt, dass er seinen zur Untermiete wohnenden Freund rausgeschmissen habe. Er habe sich in seine Wohnung zurückgezogen, weil er mal wieder seine Ruhe brauche, wo er nun von morgens bis abends Fernsehen schaue und auf nichts Lust habe.
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Wenn man ihn in dieser Weise erzählen hört, dann scheint es nun wieder keinen Weg aus der Niedergeschlagenheit hinaus zu geben, um am wirklichen Leben teilzuhaben, in Aufgaben engagiert zu sein, sich unter Beweis zu stellen, etwas zu erleben. Die große Sinnlücke, die immer wieder alles niederreißt, lässt sich durch die Außeralltäglichkeit des Feierns von Festen und Zusammenkünften, den betäubenden, bewusstseinsverändernden Konsum von Drogen und Alkohol nicht beheben (Haas 1995). Die jungen Menschen werden vielmehr von der Alltagstristesse bald wieder eingeholt, weil jede euphorische Ablenkung sich bald abgenutzt hat und im Lichte der Tagtäglichkeit selbst wieder gewöhnlich geworden ist. Die jungen Menschen scheitern an der Aufgabe, Strukturen einer geordneten Lebensführung aufzubauen. Wenn man einmal von der alleinigen Ausrichtung aller tagesstrukturierenden Aktivitäten auf den jugendkulturellen Treffpunkt absieht, dann zeigt sich nur zu offensichtlich, dass sich die jungen Menschen in ihrem Leben nicht mehr um viele Bereiche kümmern. Sie gehen nicht arbeiten und leben von Sozialleistungen, greifen für eine Unterkunft auf die strukturierten Angebote der Sozialen Arbeit zurück, melden bei einer eigenen Wohnung den Gas- und Stromanschluss nicht an, lassen Briefe unerledigt liegen, kümmern sich nicht um erhaltene Schuldenmahnungen und vernachlässigen alle administrativen und behördlichen Belange ihres Alltagslebens. Durch die Reduzierung der Lebenskreise ziehen sie sich weitgehend ins Private zurück, ohne noch in ausschlaggebender Weise am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die vorherrschende Alltagstristesse verweist nur zu deutlich auf die weitgehende Abwesenheit sinnstrukturierender Tätigkeiten. Jahoda (1982) hat das Fehlen einer verbindlichen Zeitstruktur als wesentliche Dimension psychosozialer Deprivation hervorgehoben (vgl. auch Kieselbach 1999). Umfassendere Integrations- und Organisationsleistungen, in denen verschiedene Handlungsbereiche aufeinander abgestimmt werden, scheinen auch bei den jungen Menschen erst gar nicht notwendig zu sein. Dennoch wird die Lebensführung nicht außer Kraft gesetzt; sie verliert aber ihre Substanz, weil sie sich von allen Lebensbereichen zurückzieht, sodass sie nur noch um die thematische Struktur jugendkulturellen Nachtlebens und sozialer Einbindung in die Bahnhofsszene kreist. So gleichen sich die Erzählungen über die »bunte« Gleichförmigkeit des Alltags am Bahnhof. Frederik: »… ähm, wir warn halt viel Party machen zusammen und dann immer zur BM [Bahnhofsmission] gegangen, was zu essen. … Und ähm … na, dann bleibt man halt noch die eine oder andere Stunde länger da und
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guckt dann mal, ob irgendwie … hm … dann doch n … Kunde da wäre oder so. Oder man saß dann halt die ganze Zeit auf’m Breiti bei den ganzen Punks.« Zugleich führt der Mangel an verpflichtenden Alltagsstrukturen auch zu der großen Schwierigkeit, neue Handlungszusammenhänge in das Leben einzubeziehen, besonders wenn diese auf eine langfristige Zielperspektive orientiert sind – Ausbildung machen, Lebensfelder außerhalb des Bahnhofs aufbauen, Leben ändern. Die Auswirkungen, die diese zerbrochenen Handlungs- und Motivationszusammenhänge auf die Struktur alltäglicher Lebensführung haben, sollen nun weiter untersucht werden. Denn wie sich zeigen wird, fehlt es zur Ausbildung einer differenzierten, in verschiedenen Sozialräumen engagierten Lebensführung an einem Rahmengerüst, das nicht nur dem gewöhnlichen Alltagsgeschehen einen sicheren Halt gibt, sondern ebenso neuen, weiterführenden Handlungsentwürfen einen festen Platz innerhalb des alltäglichen Tagesablaufs zuweist.
2. Handlungsstruktur und Sozialstruktur Das Konzept der Lebensführung wird zur vermittelnden Instanz von Handlungsstruktur und Sozialstruktur – und von Voß aus diesem Grund auch als missing link der Sozialwissenschaften bezeichnet (1991: 7). Es ist die Lebensführung, worüber die Individualintegration der Person sicherzustellen ist, indem die individuelle Daseinsbewältigung auf gesellschaftliche Sozialräume rückbezogen wird. Handlungsfähigkeit des Subjekts wird daher gerade nicht zuvorderst auf der Ebene der Handlungsregulation von einzelnen Aktivitätssequenzen gewonnen. »Die Menschen […] beziehen sich auf ihre Umwelt nicht über isolierte Einzeltätigkeiten, sondern über Tätigkeiten im Rahmen eines funktional differenzierten und integrierten alltäglichen Handlungssystems, des Systems Lebensführung« (Voß 1995: 33). Mit dem Begriff Lebensführung wird also das wissenschaftliche Interesse an der funktionalen Handlungsregulation auf das Gesamt an zu erschließenden Tätigkeits- und Lebensbereichen, wie diese für die Alltagsorganisation relevant werden, ausgerichtet. Die alltägliche Lebensführung ist darauf angewiesen, dass prinzipieller Zugang zum gesellschaftlichen Leben besteht, der vom Individuum bereichsspezifisch am Leitfaden der eigenen Interessenorientierung auszu-
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bauen ist. »Dadurch, daß Personen ihre Aktivitäten in den für sie relevanten Lebensbereichen in bestimmter Weise regulieren und dies in relativ dauerhaften Arrangements alltäglicher Lebensführung koordinieren, bilden sie einen integrierten Zusammenhang ihres gesellschaftlichen Handelns aus, der sich zwischen sie als Person und die für sie relevanten gesellschaftlichen Tätigkeitsfelder schiebt« (ebd.: 41). Die Herausforderung für das Individuum besteht darin, dass moderne Gesellschaften mit Blick auf die Ausdifferenzierung von selbständigen Funktionsbereichen eine hochgradig komplexe Organisations- und Handlungsstruktur aufweisen (Jurczyk, Treutner, Voß & Zettel 1985: 158 f.). Insbesondere gibt es nicht mehr eine überschaubare Anzahl an Lebensbereichen, denen das Individuum durch Klasse, Stand oder Schicht mehr oder weniger unaufkündbar angehört. Das Individuum muss sich selbst in seiner Lebensführung auf gesellschaftliche Bedingungen, wie diese von seiner sozialen Position innerhalb einer erschlossenen Lebenswelt hervortreten, beziehen. Dies erfordert die Etablierung eines strukturell stabilen Alltags, der die Realisierung eigener Lebensansprüche und Interessen ermöglicht (Voß 1991: 108). Zur Sicherstellung von Zugang zu und Teilhabe an der sozialen Welt sind vom Individuum daher fortlaufende Handlungseingriffe gefordert. Das Individuum muss seine Möglichkeiten, die durch die soziale Position vorgegeben sind, aktiv nutzen, um ausreichende Integration in Gesellschaft und Sozialräume herzustellen und auszubauen. Damit ist ein Leben unter weitgehendem Verzicht auf Individualintegration, das heißt außerhalb der Institutionen von Arbeitswelt, Markt und Staat wenn überhaupt nur auf Kosten extremer Armut und Marginalität denkbar. Durch die Vernachlässigung der Handlungsregulation auf der übergreifenden Strukturebene der Lebensführung verstärkt sich der Desorganisationsprozess, sodass sich die Handlungsstruktur zunehmend von sozialstrukturellen Formen sozialer Einbindung ablöst. Der Zugang zu relevanten Sozialräumen geht verloren, wenn man nicht regelmäßig zur Arbeit geht, die Termine auf dem Sozialamt vernachlässigt, die Miete nicht regelmäßig bezahlt. Diese punktuelle Vernachlässigung des Alltags kumuliert dann in einer übergreifenden Desorganisation der alltäglichen Lebensführung. Wenn Tobias morgens aufsteht und in der Küche nichts zu essen vorfindet, weil ihm das Geld zum Einkauf fehlt, dann wird er sich erst einmal um das Notwendigste kümmern müssen. Während sich viele Dinge verdrängen lassen – etwa der unerledigte Termin beim Sozialamt –, erlangt das Hungergefühl eine Erfahrungsevidenz, der man sich kaum verschlie-
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ßen kann und die eine praktische Lösung notwendig macht. Dadurch rückt aber das Engagement in anderen Lebensbereichen in den Hintergrund, sodass auch jene Besorgungen, die erst in einem langfristigen Zeithorizont zu einer Verbesserung der Lebenssituation beitragen – sich eine Zeitung kaufen, die Arbeitsangebote sondieren, zur Telefonzelle gehen und bei den inserierten Firmen einen Anruf tätigen –, weiter an Bedeutung verlieren. Die jungen Menschen werden infolge des Rückzugs von den Planungsund Organisationsaktivitäten der Lebensführung schließlich dauerhaft von Gütern und Dienstleistungen des alltäglichen Bedarfs abgeschnitten: der Verlust des Arbeits-, Ausbildungs- oder Schulplatzes, die Kündigung der Wohnung, die Sperrung des Strom- und Gasanschlusses, Vorenthalten laufender Sozialleistungsbezüge. Die Lebensführung verliert hierdurch ihre eigenen Voraussetzungen, was sich auf immer weitere Bereiche auswirkt, sodass die jungen Menschen in der sich überlagernden Problemfülle die rudimentären Strukturen ihres Alltags nicht mehr aus eigener Kraft aufrechterhalten können. Im Zuge dieses Desintegrationsprozesses schränkt sich die Alltagsorganisation auf die sich stetig ausweitenden Anforderungen der Existenzsicherung ein, während für eine vorausschauende Alltagsplanung und ein würdevolles Leben immer weniger gesorgt werden kann. In der Bahnhofsszene ist dem Hunger keineswegs mit jener gelassenen Gewissheit zu begegnen, die darum weiß, dass im Kühlschrank schon etwas zu essen zu finden sein wird. Anstatt in den um die Ecke gelegenen Supermarkt einkaufen zu gehen, führt der Weg zum nächsten Schnorrplatz, zum Straßenstrich oder zu einer karitativen Essensstelle. Die verschmutze Wäsche lässt sich nicht durch den schnellen Griff in den Kleiderschrank wechseln, weil es an einer zweiten Garnitur mangelt. Eigens muss der Besuch einer Kontakt- und Beratungsstelle einer karitativen Einrichtung eingeplant werden, um dort die gebotene Möglichkeit zum Wäschewaschen zu nutzen oder um sich etwas Brauchbares in der Kleiderkammer zu suchen. Darüber hinaus ist an die Verfolgung langfristiger Zielsetzungen kaum noch zu denken, wie etwa an die Anmietung einer eigenen Wohnung, weil die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewerbung – Geld, Telefon, Tageszeitung, Schreibutensilien – nicht zur Verfügung stehen. Die Inszenierung des elendigen Bettlers, der an einer Straßenecke sitzt und die Hand bittend zu den Passanten hin ausstreckt, mag auf den ersten Blick als eine kreative Form der Lebensbewältigung erscheinen, aber Entgrenzung und Entstrukturierung bedeuten hier die zunehmende Eingeschlossenheit in eine prekäre, demütigende
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und existentiell bedrohliche Lebenssituation. In diesem Kreislauf der restriktiven Verknappung von Lebensmöglichkeiten und der Regression des Handlungsengagements auf die Grundsicherung elementarer Bedürfnisse haben schließlich alle Lebensform- und Identitätsentwürfe, die auf ein besseres Leben verweisen, keinen Platz mehr. Dagegen müssen die jungen Menschen für diese in komplexen und abstrakten Sozialsystemen realisierten Lebensformen in der Lage sein, eine innere Repräsentation übergreifender Motivations- und Handlungszusammenhänge aufzubauen. Diese können dann nicht mehr in der Kurzschlüssigkeit einfacher Handlungssequenzen motiviert sein, sondern müssen auf die Integrität des Alltags selbst zielen, indem sich alle Teilbereichshandlungen im großen Panorama alltäglicher Lebensführung zusammenfinden. Diese komplexen Motivationssysteme orientieren sich gerade nicht an der Ausführung einzelner Handlungen, sondern an der Antizipation eines erwünschten und erreichbaren Lebensentwurfs. Das Nachholen des Schulabschlusses über eine Integrationsmaßnahme des Arbeitsamtes wird als übergreifender Handlungsplan anvisiert, dessen Umsetzung dann anlassund situationsbezogen erfolgt, ohne dass das Gesamt an einzelnen Handlungsschritten im Vorhinein schon geplant sein muss. Zum Schulerfolg gehört etwa das regelmäßige Erledigen der Hausarbeiten, was wiederum die Durchführung einer Vielzahl an kleinen Aktivitätssequenzen erfordert, das Hervorholen des Schulheftes, das In-die-Hand-Nehmen des Füllers, das Zu-Papier-Bringen der Worte, die Koordination der Handbewegung et cetera. Damit wird Alltag zu einem Sinngebungsprojekt, wo Handlungsziele in den übergreifenden Rahmen einer antizipierten Lebensform, eines Identitätsprojektes gestellt werden (Gollwitzer 1987; Gollwitzer & Wicklung 1985). Hüseyin skizziert seine Zukunftsvorstellungen folgendermaßen: »Ja, mit der richtigen Partnerin und … n JOB, Arbeit, ja. … Und glücklich, irgendwie glücklich leben auch. … Weg von Drogen. ((lacht auf)) Das is mein ZIEl.« Berufs- und Lebensziele betreffen die Person als Ganzheit. Handlungs- und Motivationszusammenhänge ordnen sich hier entlang der Leitfragen: Wer will ich sein? Was möchte ich machen? Wodurch möchte ich mich auszeichnen? Im Unterschied zu einfachen Handlungsantizipationen sind solche Lebensform- und Identitätsprojekte nicht über einen Endpunkt der Zielerreichung definiert, sondern es handelt sich eher um einen losen Sinnrahmen, innerhalb dem die eigenen Zielsetzungen dann weiter konkretisiert und ausgearbeitet werden können. Angesichts der existentiel-
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len Verunsicherung, die um ihre stigmatisierte Lebensform und Identität kreist, mangelt es den jungen Menschen aber schon an einer stabilen Orientierung darüber, wer sie sein wollen und was dafür zu unternehmen ist. Und gerade weil die Antizipation einer übergreifenden Zielperspektive fehlt, drohen sie sich umso eher in der Kleinteiligkeit des Alltags und seiner unübersichtlichen Anforderungsstruktur zu verlieren (Obliers, Vogel & Scheidt 1996, S 76). Im Zuge der Desynchronisation der individuellen Tages- und Lebensplanung gegenüber der tätigen Lebenswelt werden die jungen Menschen immer weiter von gesellschaftlichen Strukturierungsvorgaben abgeschnitten. Die Separation des Alltags von der Arbeitswelt wird schon in den klassischen Arbeitslosigkeitsstudien als Sinnentleerung, Demoralisierung und Desintegration beschrieben, was sich in der Bahnhofsszene in den beherrschenden Formen der Alltagstristesse manifestiert (Jahoda, Lazersfeld & Zeisel 1975). Es fehlt den Planungsaktivitäten der sachliche Rahmen sozialer Integration, sodass die Verinnerlichung und Habitualisierung von Handlungsabläufen einen tragfähigen Sinn erhalten. Dagegen wirkt im Normalfall schon die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben strukturierend, indem der Tagesablauf in eine Ablauffolge gestellt wird, die sich weniger aus individuellen Planungs- und Organisationsleistungen begründet, sondern sich aus der Sache selbst ergibt, sobald man diese motiviert übernommen hat. So steht man um sieben Uhr auf, weil man pünktlich in der Schule sein will, sich zuvor noch waschen und anziehen, die Tasche packen, etwas zum Essen mitnehmen will. Vermittelt über die Lebensführung wird das individuelle Leben jeden Morgen wieder neu in die großen Projekte und Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens eingeflochten, die über die pure Existenzerhaltung hinaus diesem eine soziokulturelle Bedeutung und Substanz verleihen, um am Abend dann, wenn die Arbeit getan ist, wieder in den verschiedensten privaten Freizeit-, Familien- und Sozialformen schließlich zur Ruhe zu kommen. Dagegen würde am Bahnhof niemand auf die Idee kommen, quasi »umsonst«, aus innerer Gewohnheit oder aufgrund sozialer Normen früh aufzustehen, wenn er eigentlich nichts zu tun hat. Trotz dieser sozialstrukturellen Bedingtheit der Armutslage können aber auch die Bahnhofsgänger der Verantwortung für die eigene Lebensführung nicht einfach ausweichen, weil »… auch diejenigen, die nur vor schlechten Alternativen stehen, aufgefordert sind, sich in ihrer Lebensführung im Dickicht der Optionen einen Weg zu bahnen« (Jurczyk & Rerrich
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1993: 37). Selbst unter erschwerten Bedingungen muss der Alltag in selbständige »Strukturierungsleistungen« umgesetzt werden, weil die Lebensführung nicht eingleisig durch den restriktiven Möglichkeitsraum der Sozialstruktur determiniert werden kann, sondern letztlich immer Freiheitsgrade aufweist, die einen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum vorgeben. »Auch wenn die Tätigkeiten in den verschiedenen Lebensbereichen stark sozial geprägt und die Ressourcen von Lebensführung durch die vorgefundenen Lebensbedingungen restringiert und präformiert sind, bleibt die Herstellung und Erhaltung des Arrangements mit den Lebensbereichen und damit der Lebensführung insgesamt eine unveräußerliche Leistung der Person; man kann sie ihr kaum abnehmen, sie kann sich dem aber auch nicht entziehen« (Voß 1991: 265).
3. Zyklizität und Routinisierung Alltag ist also das Resultat einer integrativen Leistung, indem die Teilbereiche, in denen das Individuum tätig ist, aufeinander abgestimmt und in einen einheitlichen und geordneten Ablauf gebracht werden. Als wesentliches Merkmal von Alltag erweist sich damit die Form, in der Zeit zum Gegenstand von Ordnungen wird (Jurczyk, Treutner, Voß & Zettel 1985: 150 f.). Die alltägliche Lebensführung sorgt als Koordinationszentrum nicht allein für eine sinnvolle Abfolge von einzelnen Aktivitäten, sondern qualifiziert sich speziell durch ihre zyklische Struktur. Hierbei geht es nicht so sehr, wie im Lebenslauf, um ein kontinuierliches Fortschreiten von Aktivitäten, die sich in horizontaler Perspektive zur diachronen Struktur der Biographie verbinden. Zyklizität verweist eher aus einer vertikalen Perspektive auf die Anforderung, jene Aktivitäten, die sich in verschiedenen Lebens- und Tätigkeitsbereichen zum gegenwärtigen Zeitpunkt verstreuen, in das übergreifende Handlungssystem der Lebensführung zu integrieren (Voß 1991: 99 ff.). Alltag synchronisiert sich damit gerade durch die tagtägliche Wiederholung von Aktivitätsformen – aufstehen, duschen, Zähne putzen, anziehen, Sachen für den Tag packen, arbeiten gehen, Einkäufe erledigen, Freizeit, schlafen gehen. Durch die Aufhebung der einzelnen Aktivitäten in der Zyklizität der Lebensführung kommt es zu ihrer Veralltäglichung (Holzkamp 1995: 821). Unter Alltag wird daher der Ort verstanden, den das Individuum jeden Tag
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wieder neu einzunehmen hat, um sein Leben und seine Projekte in einer mehr oder weniger vorausschauenden, geplanten und routinisierten Weise zu realisieren. »›Everyday‹ is not a time of day, a social role, nor a set of activities, particular social occasions, or settings for activity. Instead, the everyday world is just that: what people do in daily, weekly, monthly, ordinary cycles of activity« (Lave 1988: 15). Die »Trivialität des Alltags« (Levebre 1987) gewinnt ihre Charakteristik gerade aus der Wiederholung, aus dem Gewöhnlichen und Gewohnten, was normalerweise als graues Einerlei in Erscheinung tritt. In den tagtäglichen Niederungen bedeutet das Alltagsleben dann häufig kaum mehr als ein Gefangensein in einer Tretmühle tagtäglicher Arbeit und Verpflichtungen. Und doch sorgt die Alltäglichkeit auch für eine grundlegende Entlastung, indem das Zufällige, als der ständig gegenwärtige Anlass von Sorge, Befürchtungen und Ängsten, in einen strikten Planungs- und Ordnungshorizont eingefriedet wird, wodurch das Kommende vorherseh- und erwartbar wird (Erdheim 1988: 269). Zyklizität und Routinisierung des Alltags erbringen damit eine wichtige Handlungsentlastung, wodurch eine Lebensführung, die sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen realisiert, überhaupt erst möglich wird. Dabei ist es vor allem die Ausbildung von Routinen, der eine besondere Funktion bei der Veralltäglichung von Handlung zukommt. Routinen erfüllen auf der Ebene der individuellen Handlungsregulation eine ganz ähnliche Funktion wie Institutionen für soziale Interaktionen (vgl. etwa Berger & Luckmann 1969: 58 ff.). Sie sind Resultat der Habitualisierungen von komplexen Handlungsabläufen, die aufgrund von Gewöhnung und Übung immer leichter von der Hand gehen (Boesch 1976: 15 f.). »Die Integration von Lebensführung erfolgt in erster Linie dadurch, daß die alltäglichen Tätigkeiten in eingeschliffene, praktisch bewährte Tätigkeitskanäle eingebunden und dadurch miteinander verbunden werden. Habitualisierung, Routinen, Gewöhnung bilden das Fundament oder die Klammer für die funktional differenzierten alltäglichen Leistungen. Strukturen, die sich praktisch als funktional erweisen und habitualisieren lassen, entwickeln eine strukturelle Trägheit, die ihren funktionalen Ort sichert [Hervorheb. i. O.]« (Voß 1991: 272). Über den repetitiven Ablauf ihrer Tagtäglichkeit bildet die alltägliche Lebensführung eine sich selbst tragende Struktur aus, die zu einer eigenlogischen Systemqualität auswächst (Voß 1995: 37; Voß 1991: 266 ff.). Durch die Routinisierung werden alle wichtigen Aktivitäten in das organi-
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satorische Rahmengerüst der Lebensführung eingebettet, sodass diese gerade nicht aus dem Alltag herausfallen können, sondern über ihren festen Platz im Tagesablauf ihre Berücksichtigung finden. Die zyklische Struktur der Tagtäglichkeit baut zunächst einmal auf biologischen Regulationssystemen auf, welche aufgrund ihres autonom-vegetativen Vollzugs zwar keine bewussten Handlungseingriffe erfordern, aber aus denen jene elementaren Bedürfnisse entstehen, die regelmäßige Befriedigung erhalten müssen (Schütz & Luckmann 1979: 75). Schon die Notwendigkeit des Schlafens, der Essensaufnahme, der Körperpflege et cetera erfordert einen bewussten Aufbau und eine willkürliche Steuerung zyklischer Handlungssequenzen. Die Routinisierung von Handlungszyklen sorgt gerade dafür, dass man in möglichst geringem Maße durch elementare Bedürfniszustände abgelenkt wird, um an anderen, weiterführenden Tätigkeiten, die ein langfristiges Engagement erfordern, in Ruhe arbeiten zu können. Dagegen macht das Ausgeliefertsein an die eigenen Bedürfnisse eine vorausschauende Lebensplanung immer weniger möglich: indem man etwa ständig übermüdet ist, beim Erledigen von Aufgaben vom Hunger übermannt wird oder durch Vernachlässigung von körperlicher Hygiene und Bedürfnissen schwer erkrankt. Mit der Sicherstellung physiologischer Erfordernisse sorgt die zyklische Organisation der Lebensführung also für jene elementare Handlungsentlastung, über die eine vorausschauende, planbare Daseinsfürsorge überhaupt erst möglich wird (Holzkamp 1995: 843). Dies verdeutlicht sich besonders am Fall der jungen Menschen, wo es angesichts der Armut gerade nicht gelingt, sich mit einem Höchstmaß an Routinisierung, daher mit möglichst geringem Aufwand und möglichst hoher Sicherheit selbst um elementare Lebensbedingungen zu kümmern. Im Alltag der jungen Menschen steht die Bewältigung und Beseitigung der Mangellage derart im Vordergrund, dass die Entwicklung weitergehender Teilhabemöglichkeiten in der Hierarchie alltäglicher Erledigung keine Relevanz erlangt. Durch den regelmäßigen und zeitlich ausgreifenden Geldmangel brechen alle zyklischen Ordnungsversuche in sich zusammen. Kein Geld im Portemonnaie zu haben, bedeutet etwa auch, dass irgendwann das Waschmittel ausgeht und man für keine saubere Wäsche mehr sorgen kann, sodass sich bald erste Anzeichen der Verwahrlosung zeigen. Die fehlende Briefmarke für einen wichtigen Brief an eine Behörde führt dazu, dass man den Antrag auf Kindergeld aus den Augen verliert. Die Fahrt zur Behörde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, um dort die nächste Rate des Arbeitslosengeldes
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bewilligt zu bekommen, wird zum Wagnis, weil man ohne Ticket beim Schwarzfahren erwischt zu werden droht. Aufgrund regelmäßig wiederkehrender Bedarfszustände wird aber nicht allein auf individueller Ebene eine mehr oder weniger regelmäßig aufgebaute Zeitstruktur in sich zurücklaufender Aktivitäten unerlässlich. Diese haben sich aufgrund ihrer Zentralität für die menschliche Daseinsfürsorge ebenso in die zirkadiane Struktur der Sozialwelt eingeschrieben, etwa in Form fester Funktionszuweisungen einzelner Tageszeiten, die sich aus dem Ablauf von morgens, mittags, abends und nachts ergeben. Aus diesem Grund muss die Synchronisation der verschiedenen Bereichstätigkeiten, um mit dem gesellschaftlichen Leben in einen koordinierten Austausch treten zu können, nach Maßgabe der sozialen Weltzeit erfolgen, die intersubjektiv verpflichtenden Charakter hat (Schütz & Luckmann 1979: 77). Angesichts von Ausschluss und Arbeitslosigkeit verlieren dagegen die individuellen Tages- und Lebensplanungen ihre Synchronisation mit gesellschaftlichen Zeitstrukturierungsvorgaben. Eine dauerhafte Beteiligung an strukturierten Sozialräumen, deren chronologische Ordnung nicht ohne weiteres beeinflussbar ist, ist aber kaum aufrechtzuerhalten, wenn die Lebensführung selbst keine Zeitstrukturierung aufweist (vgl. Jurczyk, Treutner, Voß & Zettel 1985: 150 f.). Die Routinisierung alltäglicher Handlungen erbringt über die Ausbildung eines zeitlichen Ordnungsrahmens üblicherweise auch deshalb eine wesentliche Entlastung, weil sich dadurch Platz und Stellenwert der einzelnen Tätigkeiten untereinander begründen, sodass sie vor dem Vergessen bewahrt werden. Auf diese Weise wird für die stetig wiederkehrende, aber auch für unregelmäßig auftretende Bedürfnisse, Notwendigkeiten, Anforderungen die entsprechende Vorsorge getroffen. Die jungen Menschen entbehren jedoch jeder Tagesstruktur, die schon am Morgen zu vergegenwärtigen wäre, um darin auch einmalig auftretende Erledigungen einzuordnen: etwa nach der Arbeit bei der Meldestelle vorbeigehen, um den abgelaufenen Personalausweis erneuern zu lassen. Mehr noch trägt die Automatisierung von Wahrnehmungs- und Handlungsformen zur gravierenden Vereinfachung und Erleichterung der Daseinsbewältigung bei, indem die Offenheit und Unbestimmtheit der Situation auf ein bewährtes Antwortverhalten vereindeutigt wird. »Dadurch bin ich nämlich davon entlastet, zur Handlungsbegründung jedes Mal neu aus den gegebenen Bedeutungsanordnungen Prämissen zu extrahieren und darauf bezogene Handlungsvorsätze zu fassen, und es erübrigt sich ebenso
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für mich, mir jedes Mal neu darüber Klarheit zu verschaffen, wieweit solche Handlungsvorsätze/Handlungen tatsächlich in meinem Lebensinteresse sind« (Holzkamp 1995: 843). Durch Routinen wird sichergestellt, dass die Bewältigung der zu erledigenden Aufgaben quasi automatisch erfolgt – ohne dass eine erneute Begründung der Handlungsziele und -planungen notwendig wird, weil die Tätigkeit bloß zur gegebenen Zeit zu wiederholen ist. Die jungen Menschen aber verfügen nur über ein sehr eingeschränktes Repertoire an Habitualisierungen und Routinen, auf die weitgehend automatisch und selbstverständlich zurückgegriffen werden kann, weil diese schon immer so durchgeführt worden sind, dass diese sich aus sich selbst erklären. Dagegen soll das routinierte Abarbeiten der alltäglich wiederkehrenden Aufgaben gerade verhindern, dass die Notwendigkeit zum Eingreifen in das alltägliche Leben erst dann bemerkt wird, wenn die Handlungsunterlassung zum Problem aufgelaufen und die geordnete Alltagsorganisation womöglich schon zu Schaden gekommen ist. Die Unterbrechung des routinierten Verlaufs bedeutet dagegen meistens eine zu planende und mühevolle Wiederaufnahme der unterbrochenen Aktivitäten: etwa weil das Geld schon wieder ausgegeben ist, bevor der große Einkauf im Supermarkt erledigt worden ist, sodass noch immer keine Lebensmittel im Kühlschrank stehen, das Waschmittel zur Kleidungswäsche fehlt, für das Lebensnotwendigste auf die Ökonomie der Straße zurückgegriffen werden muss. Der Zeitüberschuss, der in Form der Alltagstristesse erfahrbar wird, bedeutet dann auch, dass es keine sachliche Notwendigkeit gibt, sich bei der nächsten Gelegenheit sogleich um die anstehenden Erledigungen zu kümmern. Der Grund, dass die jungen Menschen gerade den einen Termin, den sie an einem Tag haben, vergessen, ist nicht deshalb derart unverständlich, weil sie doch über so viel Zeit verfügen. Ganz im Gegenteil ist es diese zeitliche Strukturlosigkeit des Alltags, warum der Personalausweis nicht besorgt, der wichtige Gang zur Behörde unterlassen, eine Verabredung nicht eingehalten wird. Alle Tagesplanungen fallen in dem uferlosen Zuviel an Zeit aus dem Blick. Die jungen Menschen sitzen daher nicht selten schon lange vor der Öffnungszeit des karitativen Café-Angebots vor der verschlossenen Tür, gerade weil sie nichts Besseres zu tun wissen. Die unstrukturierte Zeitlosigkeit bedeutet dann aber auch, dass ganz unbemerkt schon wieder später Nachmittag geworden ist, sodass die Behörde längst geschlossen hat und man nun auch den restlichen Tag am Bahnhof verbringen kann.
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Das Alltagsleben scheint eine gewisse Begrenztheit seiner Zeitressourcen vorauszusetzen, weil erst dadurch die Notwendigkeit entsteht, eine Relevanzhierarchie des first things first in der eigenen Lebensführung zu etablieren (Schütz & Luckmann 1979: 75 ff.). Und dennoch ist dieser Überfluss an Zeit nur Ausdruck des tieferliegenden Problems, dass es dem Alltag an ausreichender Substanz mangelt, die Motivation und Engagement zu einem lohnenswerten Unternehmen machen würde. Dass auch dieser weitere Versuch der nachhaltigen Verbesserung der eigenen Situation misslingen wird, muss wiederum umso wahrscheinlicher erscheinen, wie es sich gerade nicht um gut eingeübte, routinisierte Handlungsfolgen handelt, die mehr oder weniger automatisch ablaufen. Mühselig müssen notwendige Informationskanäle überhaupt erst erschlossen werden, um die eigenen Handlungsstrategien im Detail ausarbeiten zu können, was umso schwerer fällt, weil die jungen Menschen nur mit wenigen gesellschaftlichen Sozialräumen wirklich vertraut sind. Die ganze Zeit bleiben Handlungspläne und Handlungsumsetzung von Bedenken und Zweifeln überschattet, ob alle wichtigen Informationen überhaupt erfasst und adäquat berücksichtigt worden sind, weil die Umgangserfahrung mit und kognitive Durchdringung von gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen eher gering ist. Angesichts der erfahrungsfundierten Misserfolgserwartung muss, mit Blick auf bisher unternommene Handlungsversuche, schließlich ganz prinzipiell die Erfolgsaussicht in Frage stehen, inwieweit es gelingen mag, neue Handlungsfelder und -routinen in die alltägliche Lebensführung zu integrieren. Während das Familienleben und die Exklusionserfahrung dazu geführt haben, dass die jungen Menschen schon bei einfachen Aktivitätssequenzen die Zuversicht in die eigene Selbstwirksamkeit verloren haben, so erscheinen erst recht längerfristige Handlungsvorsätze, die nicht durch ihren direkten Vollzug zu erreichen sind, schon vom Ansatz her als unrealisierbar. So werden im Strudel des Scheiterns immer weitere Lebensbereiche preisgegeben, weshalb die Lebensführung vollkommen aus dem Ruder zu laufen droht. Im leeren Betrieb des Alltags tritt nur die ganze Wertlosigkeit des eigenen Daseins hervor. Dies kumuliert dann wiederum in dem Verlust eines jeden Lebenssinns. Paula: »… wo ich dann auch manchmal so Phasen hab, wo dann für MICH auch alles egal is, weil ich auch einfach kein ZIEL hab, weil ich einfach auch nich sehe … für WAS, weil, ich meine, man lebt und stirbt und … ja, … der// der// das ZIEL ist mir einfach unbekannt … so irgendwie.«
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4. Zyklizität der Alltagstristesse Die Zyklizität der Lebensführung gewährleistet, dass die Ereignisse und Aktivitäten, die den Alltag auszeichnen, auch am jeweils nächsten Tag anschlussfähig blieben. Durch die rekursiv in sich geschlossenen Aktivitätsformen lässt sich sicherstellen, dass die gestern zurückgelassenen Handlungsbezüge heute wieder aufgenommen und fortgeführt werden können. »Indem hier lineare Veränderungen in den zyklischen Bewegungen aufgehoben sind, die quasi selbst in sich zurücklaufen, ist die Zeitlichkeit in gewissem Sinne stillgelegt, ja erscheinen die Zyklen quasi selbst der Zeitlichkeit enthoben: Morgen früh stehe ich wieder auf, und übermorgen auch, und den darauf folgenden Tag auch, und so geht es immer weiter [Hervorheb. i. O.]« (Holzkamp 1995: 844). Dadurch dass sich in der Zyklizität das »Und-so-weiter« und das »Ich-kann-immer-wieder« zur – wenn auch letztendlich illusorischen – Erfahrungsgewissheit zusammensetzen, wird es möglich, sich seiner eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern (Schütz & Luckmann 1979: 29). In der Kleinteiligkeit der Besorgungsstruktur des Alltags erscheint das Leben überhaupt seiner willkürlich gesetzten Endlichkeit enthoben zu sein, gerade weil in der Antizipation der ständigen Wiederkehr des Gleichen die Themen »Trennung, Verlust und Tod ausgesperrt« bleiben (Holzkamp 1995: 844). Für die Bahnhofsgänger gewinnt die Beständigkeit, Gewohnheit und Gleichförmigkeit des Alltags jedoch eine diametral entgegengesetzte Bedeutung. In der Grundgewissheit des Immer-so-weiter liegt gerade nicht jene tröstliche und beruhigende Sicherheit begründet, dass trotz der ganzen Fülle an tagtäglichen Schwierigkeiten, Sorgen und Beschränkungen das Alltagsleben im Großen und Ganzen in Ordnung ist. Am Bahnhof manifestiert sich vielmehr allerorten die eigene Verzweiflung, weil dem Kreislauf von Geldbeschaffung, Drogenkonsum, Betäubung durch die geplante Drogentherapie nicht zu entgehen, der Absprung aus der Berliner Szene nicht zu schaffen, das idyllische Leben auf dem Lande nicht zu verwirklichen, das Zusammenleben in einer festen Partnerschaft und einer gemeinsamen Wohnung mit gesicherter Arbeitsstelle und ausreichendem Einkommen unerreichbar ist. Angesichts der mangelnden Routinisierung der Alltagsbewältigung fehlen die notwendigen Hebel und Griffe, um den eigenen Lebenslauf selbstbestimmt in eine gewünschte Richtung zu dirigieren. Das Alltagsleben wird daher zu einem Hort von Beunruhigungen und Verunsicherungen, weil der Zustand von Ausschluss, Tristesse und
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Misere in seiner Tagtäglichkeit unabänderlich erscheinen muss. Die jungen Menschen werden daher, wie etwa auch Oliver, beständig von der Angst begleitet, dass sie die Kontrolle über den Alltag jederzeit verlieren könnten: »Na, ne jewisse Angst is immer irgendwo da, dass man noch mal … böse abstürzen könnte oder so, aber … da denk ick halt nich dran oder so. Oder will ick erstma nich dran denken, sa’ick ma, weil … det im Moment jar nich so is oder so.« Gerade weil die Grundlagen der Lebensführung nicht ohne weiteres zu verbessern sind, muss die eigene Lage als Situation der strukturellen Vergeblichkeit hervortreten. In der Zyklizität der Lebensführung ist nun aber nicht nur jene Zeitstruktur aufgehoben, die im Normalfall den jeweils nächsten Tag zu einem erwartbaren und gewohnten Ereignis macht, sondern darin ist die Zeitlichkeit des Lebensvollzugs, damit die eigene Zukunft überhaupt beschlossen. Das tagein, tagaus zu betreibende Geschäft der Alltagsorganisation bildet das Fundament für jene lineare Zeitstruktur, in der sich das Leben in seinem biographischen Verlauf fortentwickelt, sodass es möglich wird, den Alltag hin auf eine intendierte und vorentworfene Richtung zu steuern. Die Zukunft ist aber zumeist nicht im direkten Zugriff ansteuerbar, sondern muss als eine mühselige Unternehmung der »kleinen Schritte« entwickelt werden, durch die von einem Tag auf den anderen an sich unscheinbare Veränderungen und Fortschritte erzielt werden, die am Ende aber in Form eines qualitativen Umschlags eine vollkommene Neugestaltung der eigenen Situation bewirken können: wie etwa der langjährige Schulbesuch zum Schulabschluss führt, das Abzahlen der Schulden neue finanzielle Optionsspielräume eröffnet, durch den lang ersehnten Wohnungsumzug eigene Ansprüche an Wohn- und Lebensqualität zu verwirklichen sind. Die zyklische Struktur der Alltagsorganisation bildet sozusagen den backbone dieser zukunftsorientierten Welteingriffe, indem im Hier und Jetzt Sorge dafür getragen wird, dass auch morgen der Alltag weitergehen wird, sodass sich, quasi in den Falten der permanenten Aufrechterhaltung aller schon hervorgebrachten Strukturen, Freiräume zur Umsetzung langfristiger Vorhaben bieten. Der Tagesablauf erhält seinen Wert, seine Einmaligkeit und Dynamik zugleich aus den Aufgaben- und Aktivitätsbereichen, die über den alltäglichen Vollzug heraustreten und das Leben auf eine lebenswerte und erweiterte Zukunft hin orientieren. Haushaltstätigkeiten zu erledigen, den Aschenbecher zu leeren, den Müll runterzubringen, den Abwasch zu machen, all diese Aufgaben und Aktivitäten bringen zwar die zyklische Zeit-
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struktur der alltäglichen Lebensführung hervor, die dem Alltag Beständigkeit verleiht, und dennoch kann es sich hierbei nicht um alles handeln. Der ganze Aufwand für das In-Gang-Bringen und Fortsetzen der zyklischen Alltagsstruktur rechnet sich auch für die jungen Menschen erst dann, wenn der Alltag auf diesem Wege auf eine bessere Zukunft gerichtet wird. Paula: »Ja, und so halt … mal vom// vom … KOPF her wieder n bisschen klarzukommen und halt auch wirklich mal wieder … zu sehen, ob ich nich doch wieder n Weg finde … oder n Ziel finde, wofür sich der WEG lohnt, sag ich mal. … Weil wenn ich// wenn ich jetzt einfach kein Ziel hab, dann weiß ich auch nich, wofür ich was machen soll. […] … hab ich auch kein Ziel mehr vor Augen so, … wo ich hin will oder wofür es sich lohnt, irgendwie was in Angriff zu nehmen.« Erst indem die Gewinnung umfassender Handlungsfähigkeit zur realistischen Zielperspektive werden würde, gäbe es etwas, worum es sich lohnen würde, zu kämpfen und seinen Einsatz zu wagen. Die Alltagstristesse lässt sich daher nicht allein aus dem Mangel an Geld erklären, weil auch Aktivitäten, die kein Geld kosten, der freie Besuch von Museen, Stadtfesten, Kursen an der Volkshochschule, nicht unternommen werden. Es scheint eher, dass den jungen Menschen ein orientierender Sinn fehlt, der den Alltag im Gesamten zusammenhält, sodass sie sich nur noch von einem Moment zum anderen treiben lassen. Auf der Ebene alltäglicher Lebensführung kommt nun hinzu, dass der Mangel der Alltagsstruktur, die sich über die zyklischen und routinisierten Handlungsformen ausbildet, es zusätzlich fraglich erscheinen lässt, ob das Engagement zur Verwirklichung von langfristigen Zielen überhaupt zielführend ist. Wenn die Planbarkeit fehlt, welches Leben man am nächsten Tag, nächste Woche, nächsten Monat, im nächsten Jahr führen wird, dann erlangen Zielsetzungen wie die Erlangung eines Schulabschlusses, das Abbezahlen der Schulden oder der Wohnungsumzug auch von dieser Seite aus keine ernst zu nehmende Dringlichkeit. Es bleibt nämlich nicht nur unklar, inwieweit diese Ziele überhaupt zu erreichen sind, wenn ich wieder meine Wohnung verliere, am Bahnhof für eine Unterkunft sorgen muss, kein Geld zum Einkaufen habe, sondern auch, ob die Ziele überhaupt noch in das dann geführte Leben hineinpassen. Die jungen Menschen wissen selbst über die Schwierigkeiten sich auf eine verbindliche Zukunft verpflichten zu lassen. Mike: »… ick denke … NIE so weit, ich PLAne auch nie so … Also ick bin so’n Typ, schon immer, … von’ner// also … echt von’ner Hand in’n Mund hab ick jelebt, … von heut auf morgen. Un jetz nur in janz kleenen SCHRITten. … Wenn du mir
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sagst, jetz// äh mich fragst: äh äh ›Wat machste nächste Woche?‹ Wenn da// weeß ick ja nich so. Aber wenn du sagst: ›Pass uff. … Äh ähm nächsten Monat … HEIrate ich, äh kommste zu meiner Hochzeit?‹ Dann kann ick dir nich sagen jetz hier: ›Ja, ick sag da fest zu.‹ ((hebt die Stimme:)) Nein, mach ick nich, weil det is mir zu// … die Zeitspanne is mir einfach zu GROß. … NACH und nach, WENN ick dann irgendwann// wenn ick jetz ma … dieses geregelte Leben HAbe, … zwee, drei Jahre lang, … da kann ick ooch sagen, Mensch, … ich strebe// äh also nächstet Jahr möcht ick gerne in Urlaub flieg’n da und DA hin.«
Für die jungen Menschen macht es keinen Sinn, weitergefasste Zielperspektiven zu verfolgen, wenn der eigentliche Motor, das kleinteilige Alltagshandeln, in der Vielzahl seiner mechanisierten Funktionen nicht richtig läuft. In dem Straßenleben kann jederzeit etwas dazwischenkommen, sodass die Wichtigkeit, die der Verabredung einmal beigemessen wurde, dann nicht mehr zählen wird. Mike sieht es daher als zentrale Voraussetzung an, dass die Organisation und Aufrechterhaltung einer kontingenten Alltagsstruktur erst über einen langen Zeitraum zu üben wäre, um Termine über die nächste Woche hinaus planen zu wollen. Vorweg müsste er sich darüber versichern, dass er über den gelungenen Aufbau eines geregelten Lebens nun endlich selbst den Steuerplatz im Planungszentrum seines Alltags eingenommen hat. Auch wenn der Wunsch nach einem geregelten Leben bei den meisten jungen Menschen in irgendeiner Form da ist, so wissen sie aufgrund der vollkommenen Unvertrautheit damit, wie eine sich selbst tragende Alltagsstruktur aufzubauen ist, nicht, welche Schritte zu unternehmen sind. Die Antizipation einer besseren Zukunft wird vor allem mit dem regelmäßigen Arbeitengehen gleichgesetzt. Tobias: »Jeden T// Tag halt nur das gleiche, Drogen un feiern geht halt auf’n// … geht halt nich auf’e Dauer, man muss halt arbeiten, … wenn man n geregeltes Leben haben will.« Weil es aber an einem strukturierten Tagesablauf fehlt, muss sich angesichts geringer Integrationskapazitäten schnell verdeutlichen, dass einer regelmäßigen Arbeitstätigkeit kaum nachzugehen ist. Während die Ausübung eines 1-Euro-Jobs, dessen Wochenarbeitszeit selten über 20 Stunden hinausgeht, sich schon als große Herausforderung darstellt, der nicht alle nachkommen können, ist an eine 40-Stunden-Woche, die neben frühem Aufstehen eine stringente Wochenplanung erfordert, aus dem Stand heraus kaum zu denken. Dies verdeutlicht sich etwa an den Startschwierigkeiten, von denen Mike nach Aufnahme eines 1-Euro-Jobs berichtet: »… es fiel mir zum Beispiel schwer die Anfangszeit … mit dem SAUbermachen. … KANNT ick nich, dieset morgens Uffstehn, … un dann det REgelmäßije, weeßte?
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… So, aber jetz ha’ick mich da einjespielt … un JETZ bin ick ooch so weit, dass ick jetz ooch MEHR Stunden machen kann.« In dem Maße, wie Mike durch die Ausübung der Arbeitstätigkeit erfahren kann, dass der 1-Euro-Job eine Bereicherung seines Alltagslebens bedeutet, fällt ihm die Anpassungsleistung der Lebensführung an äußere, sachliche, zeitliche und soziale Strukturvorgaben zunehmend leichter. Daran veranschaulicht sich, dass sich die eigenständige Tagesstrukturierung, das Aufstehen, das regelmäßige Zur-Arbeit-Gehen und die Unterwerfung des Alltags unter eine äußere Zeitstruktur als Regulationsaufgaben sekundär zum Vorhandensein von starken Motivationszielen verhalten. Umgekehrt gibt es nichts Einfacheres, als eine geordnete Lebensführung, wenn diese einmal in Funktion gesetzt ist, unter sonst gleichen Bedingungen für alle Ewigkeit weiterzuführen. Die Motivationsstruktur alltäglicher Lebensführung wird dann frei dafür, sich immer stärker auf Zielsetzungen zu richten, die sich über die strukturierte Beteiligung am gesellschaftlichen Leben eröffnen und zumeist alles übersteigen, was aus einer subsistentiellen, ad-hoc-förmigen Bewältigung des Alltags möglich wäre: beruflicher Aufstieg, neue Herausforderungen, ein höheres Einkommen, der nächste Urlaub, soziale Einbindung am Arbeitsplatz, gemeinsamer Freizeitvertreib nach der Arbeit, Bedeutung, Sinn und Inhalt, soziale Anerkennung, Handlungsfähigkeit et cetera. Dagegen fehlt es in jeder Form an Motivatoren für die kontinuierliche, engagierte Organisation alltäglicher Lebensführung, gerade weil die jungen Menschen derartig umfassend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Oliver bricht, als er von zu Hause abhaut, weil er »es da nicht mehr ausgehalten hat«, mit den etablierten Alltagsroutinen auch seine Ausbildung ab. Während er sein Leben auf der Straße sicherstellt, kümmert er sich für viele Jahre nicht mehr um eine eigenständige Absicherung seiner Existenzgrundlage und gerät ohne eigene Wohnung immer wieder in Obdachlosigkeit. Paula verliert ihren Ausbildungsplatz in einem Blumengeschäft aufgrund einer Allergie gegen Pflanzen. Anstatt sich um eine neue Ausbildung zu kümmern, weil sie zur selben Zeit die Wohnung in dem Wohnprojekt, von dem sie betreut wird, verliert, weicht sie angesichts fehlender Alternativen, Unterkunft und Lebensunterhalt sicherzustellen, auf den Lebensort Straße aus. Hüseyin hält es auf dem Bau nicht länger als drei Wochen aus, wo er als Handlanger eingesetzt wird, den Tag vor allem mit dem Schleppen von Zementsäcken und Schutt verbringt, während er dem Gespött und den Schikanen der Arbeitskollegen ausgesetzt ist, wäh-
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rend ihm nicht allein die miserable Bezahlung verdeutlicht, dass jede Möglichkeit der Gewinnung von Gratifikation und Anerkennung verschlossen bleibt. Arbeit könnte sich aufgrund der Gewinnung erweiterter Integration und Teilhabe als ein attraktives Ziel erweisen, wodurch sich das kleinteilige Besorgen des Alltags in eine übergreifende Sinnperspektive überführen ließe. Die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit, die auch noch individuelle Ansprüche an Bezahlung, Sinn und Anerkennung erfüllt, ist durch den restriktiven Ausschluss vom Arbeitsmarkt aber sehr unwahrscheinlich. Der die moderne Gesellschaft prägende Arbeitsethos, der darauf zielt, gerade jene zu motivieren, die sonst keinen Grund dazu haben, arbeiten zu gehen, weil ihnen außer Anstrengung, Druck und Entbehrung nichts geboten wird, gilt am Bahnhof nichts. Von den jungen Menschen wurde die soziale Norm des Arbeiten-gehen-Müssens immer schon weniger als Chance, mehr als Bedingung des eigenen Ausschlusses erfahren. Dagegen bietet der Bahnhof mit seinen eigenen Einbindungsformen und Werthorizonten eine Alternative, wohin sie gegenüber den als Zumutungen erfahrenen Anforderungen der Erwachsenenwelt ausweichen, um sich nicht alles bieten zu lassen.
Hilflosigkeit, Resignation und Selbstaufgabe
Diese degressiven Handlungs- und Alltagsstrukturen verdichten sich im resignativen Rückzug von der Welt. Die motivierte Durchführung von Handlungen und die engagierte Besorgung der Lebensführung werden am Ende eines fortgesetzten Desintegrationsprozesses sehr selten unternommen, weil die eigene Situation nicht mehr kontrollier- und beeinflussbar erscheint. Die tiefe Hilflosigkeit ist dann nicht mehr allein eine negative Erwartungshaltung gegenüber spezifischen Handlungssituationen, sondern generalisiert sich zur umfassenden psychischen Disposition, in der sich die jungen Menschen eine handelnde Gestaltung ihrer Umwelt erst gar nicht mehr zutrauen. Im Folgenden sollen nun die psychischen Prozesse der Niedergeschlagenheit, Resignation und Apathie dargestellt werden, die sich im Zusammenhang mit der weitgehenden Destruktion von Handlungs- und Alltagsstrukturen entwickeln, sodass sich die jungen Menschen aus allen Gesellschaftsbereichen zurückziehen. Diese resignative Reaktionsform soll mit Blick auf eine psychologische Begriffsbildung zunächst vor dem Hintergrund der Theorie der »erlernten Hilflosigkeit« erläutert werden. Indem die jungen Menschen im Zustand der Hilflosigkeit die Eigenstrukturierung ihrer Lebensführung erst gar nicht mehr initiieren, werden sie schließlich von der Eigendynamik einer sich selbst überlassenen Lebensführung überrollt (1). Die Selbstaufgabe manifestiert sich in verschiedenen psychischen Artikulationsformen, die als dysfunktionale Ausfluchtversuche verstanden werden können, was unter den Gesichtspunkten von Depression (2), Verwahrlosung (3) und Drogen (4) behandelt wird. Und trotz der Vehemenz des psychischen Zusammenbruchs versuchen die jungen Menschen, um nicht völlig aufzugeben, sich noch eine letzte Hoffnung auf ein besseres Leben zu erhalten (5).
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1. Erlernte Hilflosigkeit Der Rückzug aus der Erwachsenenwelt und die Hinwendung zum Bahnhof sind aus der subjektiven Einschätzung der eigenen Möglichkeiten heraus begründet. Die Grunderfahrung ist: »Was immer ich mache, es geht schief.« Die jungen Menschen erzählen selbst, dass ihre Bedrückung, Niedergeschlagenheit und Apathie aus der strukturellen Vergeblichkeit ihrer Situation entsteht. Hüseyin: »Da (muss) ich mir schon selber helfen un so. …… man redet dann [am Bahnhof], danach is es gut, aber … im Endeffekt, ÄNdert sich manchmal was nicht, zum Beispiel an meine Lage und so … dann bin ich irgendwie dep// deprimiert so da, … UNglücklich oder weiß nich so.« Und doch handelt es sich gerade nicht um einzelne Alltagsprobleme, die »manchmal« nicht zu ändern sind. Vielmehr sind Resignation und Apathie zum habituellen Reaktionsschema geworden, aus dem sich die jungen Menschen umso weniger befreien können, wie es ihnen an einer realistischen, das heißt in überschaubaren Schritten umsetzbaren Lebensperspektive fehlt. Hüseyin kehrt gerade wegen dieser offensichtlichen Aussichtslosigkeit immer wieder an den Bahnhof zurück: »Ich wollt schon immer weg vom Bahnhof, aber … irgendwie hat’s mich immer da HINgezogen, weil … ich wusste kein andern Ort, wo ich … meine Zeit dann// äh … äh … was ich mit meine Zeit sonst machen sollte als zum Bahnhof.« Diese resignative Grundhaltung kommt sogleich zum Vorschein, wenn man hinter die Ruhelosigkeit, Kurzweiligkeit und Aufgeregtheit am jugendkulturellen Treffpunkt schaut und sich nach dem persönlichen Wohlergehen erkundigt. An den Antworten verdeutlicht sich, dass sich die jungen Menschen angesichts der Übermacht an Alltagsproblemen geschlagen geben, Versuche der Gewinnung von Einflussnahme auf ihr Alltagsleben aufgegeben haben sowie Armut und sozialen Ausschluss als unüberwindbar hinnehmen. Die Resignation zieht als apathische Reaktion jene zögerliche, regressive Handlungsbereitschaft nach sich, die sich als ein Schleier der Teilnahmslosigkeit und Leidenschaftslosigkeit auf alle Bereiche außerhalb von Bahnhofsszene und Freundeskreis legt. Apathie äußert sich dann in Stimmungen der Niedergeschlagenheit, Schwermut, Traurigkeit, die immer wieder in einzelnen Phasen aufbrechen und vorherrschend werden, sodass die innere Lebendigkeit wie ausgelöscht wirkt. Studien zur »Erlernten Hilflosigkeit« haben deutlich gemacht, dass schon viel geringere Anlässe, als wenn gleich die Einfluss- und Gestal-
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tungsmöglichkeiten auf weite Bereiche des eigenen Lebens verloren gehen, vollkommen ausreichen, um die Zuversicht und das Vertrauen in die eigene Handlungs- und Leistungsfähigkeit zu zerstören (Seligman 1979). Eine Person, die die Erfahrung gemacht hat, dass zwischen eigenem Verhalten und Umweltereignissen keine Beziehung besteht, wird mit »guten Gründen« in ihrer Motiviertheit nachlassen, die in Frage stehende Klasse an Handlungsergebnissen nicht mehr antizipieren und alle diesbezüglichen Handlungen schließlich einstellen. So konnten Seligman und seine Mitarbeiter zeigen, dass nach der wiederholten Erfahrung, dass das Eintreten von negativen Ereignissen nicht vermieden werden kann, sich eine negative Erwartungshaltung auch für zukünftige Situationen herausbildet (Maier & Seligman 1976). Vielmehr noch aber wird mit Blick auf das emotional-affektive Erleben die verminderte Motivations- und Handlungsbereitschaft von einer Reihe an Symptomen wie Apathie, Entmutigung und Niedergeschlagenheit begleitet, bei denen es sich genau um jene Reaktionsmuster handelt, die auch die reduzierte Leistungsbereitschaft der jungen Menschen kennzeichnen (Seligman 1979: 20 ff.). Dabei verweist Seligman (1979) selbst auf die enge Verbindung von Hilflosigkeitserfahrungen und sozialem Ausschluss: »Ich vermute, daß Armut neben allen anderen Auswirkungen die häufige und intensive Erfahrung von Unkontrollierbarkeit bedeutet; Unkontrollierbarkeit verursacht Hilflosigkeit, und diese führt zu der Depression, der Passivität und dem Defätismus, die so oft mit Armut einhergehen« (S. 153). Die objektive Nichtkontrollierbarkeit der Situation bewirkt aber nicht automatisch eine generalisierte Erwartung der Nichtkontrolle, sondern dieser Zusammenhang ist über kognitive Attributionsprozesse vermittelt (Wortman & Dintzer 1978). Die Entstehung erlernter Hilflosigkeit hängt davon ab, wie sich das Individuum die Nichtkontrollierbarkeit seiner Situation kausal erklärt. Dabei werden die Typen von Ursachen klassischerweise auf drei unterschiedlichen Attributionsdimensionen angeordnet: a) »internal – external«, b) »spezifisch – global« und c) »stabil – variabel« (Abramson, Seligman & Teasdale 1978; Weiner 1986: 43 ff.). (a) Auf der Dimension »internal – external« zeigt sich, dass die jungen Menschen in ihrer übergroßen Mehrheit zu einer internalen Attribution von Misserfolgsversuchen tendieren. In dem Interviewsample sind es besonders Sven und Oliver, die sich die Ausweglosigkeit ihrer Situation selbst zuschreiben. Dies wird auch als »persönliche« Hilflosigkeit bezeichnet und geht mit einer drastischen Erniedrigung des Selbstwertgefühls einher (Ab-
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ramson, Seligman & Teasdale 1978: 50 ff.). Sven kommt während des gesamten Interviews trotz aller Pläne, die er für eine bessere Zukunft hegt, immer wieder darauf zurück, dass es ihm letztlich an Zuversicht in seine eigenen Fähigkeiten mangelt, um die von ihm entworfenen Ziele auch mit ausreichender Sicherheit zu erreichen. Im Mittelpunkt seiner Zweifel stehen gerade nicht äußere Schwierigkeiten, die unkontrollierbar sind, sondern dass er sich jeden Misserfolg seiner eigenen Person zuschreibt. Die Selbstzweifel verfestigen sich sogar bis zu dem Punkt, dass er den Suizid eines Freundes als Bestätigung für seine Befürchtung ansieht, dass er für keinen Menschen so viel Wert besitzt, als dass dieser an einer gemeinsamen Beziehung dauerhaft festhalten will: »Und dann hat ER sich das Leben genommen und dann hab ich gesagt, na was soll’s. … Alle Leute, die wichtig sind, hauen irgendwann ab.« Ebenso kann sich Oliver aus dem Gedankenstrudel negativer Selbstattribution nicht befreien, sondern macht sich für alle Dinge, die in seinem Leben nicht erwartungsgemäß verlaufen, selbst verantwortlich. In diesem Bann der Selbstentwertung geraten ihm alle positiven Eigenschaften und Fähigkeiten, die er seiner Person zuschreiben könnte, aus dem Blick. Ein Ausweg aus dem negativen Gedankenstrudel, der sich, einmal in Gang gesetzt, in einem ungesteuerten »Automatismus« selbst verstärkt, wird dann immer weniger sichtbar. Die Unkontrollierbarkeit wird gerade nicht über die handelnde Gestaltung der Situation zu überwinden versucht, sondern verweist nur auf das doppelte Versagen der eigenen Person. Einerseits schafft man es nicht, sich um ein geordnetes Leben zu kümmern, andererseits versagt man vielmehr noch, sich aus dem entstandenen Schlamassel selbst zu befreien. In dieser Weise verfestigen sich die Attributionsformen zu einer habitualisierten Form der Welterklärung und Selbstentwertung: »Na, det heißt, … ick hab keene Hilfe irgendwo in Anspruch jenommen, aber warum nich und wieso weeß ick selbst nich. Und bin immer halt der Meinung jewesen, ick selbst ick schaff det nich und da is keener, der mir helfen tut halt oder so. Ick bin nur für mich irgendwie da jewesen. Und ick hab selbst keen Ausweg jesehn, wie ick det schaffen kann, da irgendwie mit mir wieder klarzukommen halt.« Dass am Bahnhof die Tendenz zu einer internalen Attribution von Unkontrollierbarkeitserfahrungen vorherrscht, kann nicht überraschen, allein weil sich schon im Vergleich zu den »significant others«, also anderen Jugendlichen im gleichen Alter nur zu deutlich zeigt, dass man es selbst ist, der es nicht geschafft hat (Abramson, Seligman & Teasdale 1978: 50 ff.). Den-
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noch finden sich sehr wohl auch einige, die durch eine deutliche Tendenz zur externalen Attribution der Unkontrollierbarkeit ihrer Situation auffallen. Der Resignation versuchen sie sich mit einiger Stringenz durch eine externale Attribution aller Ursachen missglückter Handlungsversuche zu erwehren. Diese Form der »universellen« Handlungsfähigkeit unterscheidet sich von der »persönlichen Hilflosigkeit« dadurch, dass diese nicht mit der Verminderung des Selbstwertgefühls einhergehen muss. Für Frederik waren es immer die anderen, die dafür verantwortlich sind, dass er auf dem Arbeitsmarkt keine Chance gehabt hat. Zunächst wird er in einem Familienbetrieb in die Wirren einer schwulen Dreiecksbeziehung gezogen, weil sein damaliger Chef ebenso »etwas von ihm wollte« wie Frederik von dessen Sohn. »Und dann … war der … CHEF von dem Hotel hinter MIR her, während ich hinter seinem SOHN her war, und das ging dann überhaupt net gut.« Während seiner Bundeswehrzeit wird ihm vom ausbildenden Vorgesetzten nahegelegt, den Militärdienst zu quittieren, weil Frederik sein Wissen um dessen Schwulsein für »kleine« Diensterleichterungen ausnutzt. »Er meinte dann halt so, na ja, ich glaub, das is net so gut, wenn du bleibst.« Schließlich erhält er vom Arbeitsamt genauso wenig Unterstützung wie von dem pädagogischen Wohnprojekt, in dem er wohnt. »… na, dann kriegst du sowieso immer nur zu hören, ja, … schaffst du sowieso nicht, bringt nichts.« Und nachdem er es endlich geschafft hat, in eine Qualifizierungsmaßnahme des Arbeitsamts vermittelt zu werden, trennt sich sein damaliger Lebensgefährte während der Probezeit von ihm, was ihn in eine existentielle Krise stürzt, die an ein Weiterarbeiten nicht mehr denken lässt. Frederik: »… die hab ich angefangen, aber wegen Christian hab ich die ja abgebrochen. … Und die ist auch nicht wichtig.« So findet sich immer wieder eine neue Erklärung für seine missglückte Arbeitsmarktintegration, ohne die Eigenverantwortung mitzureflektieren. In ganz ähnlicher Weise versucht Franziska zumindest auf narrativer Ebene unter Beweis zu stellen, dass sie diejenige ist, welche alle relevanten Entscheidungen trifft und jede Situation im Griff behält. Dies kann aber nicht verhindern, dass sie trotz mehrmaliger Anläufe noch immer keinen Schulabschluss vorweisen kann, den Betreuungsplatz im pädagogischen Wohnprojekt verliert und eine langfristige Stabilisierung ihrer Situation nicht erreichen kann. Anstatt auch die eigene Verantwortung für das Scheitern in Betracht zu ziehen, sind es immer die anderen beziehungsweise die aus der Situation resultierenden Zwänge, weshalb sie nie eine reale Chance hatte. Das Problem ist nicht so sehr, dass diese einseitige
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Form der externalen Attribution an Realitätsverleugnung grenzt, sondern dass ohne die selbstkritische Einsicht in die Eigenverantwortung das eigene Handeln keiner Korrektur zu bedürfen scheint. Hier wird die Hilflosigkeit dahingehend verschoben, dass sich die Welt verschworen hat, indem man durch äußere Umstände ständig zum Stolpern gebracht wird, während man selbst vergeblich alles nur Erdenkliche versucht hat. Der Verlust der Handlungsfähigkeit wird in dem Versuch, zumindest das eigene Selbstbild zu retten, auf diese Weise zementiert. (b) Auf der Dimension »spezifisch – global« findet sich keine solche polarisierende Differenzierung der Bahnhofspopulation. Die Zuschreibung von globalen Ursachen für die eigene Unkontrollierbarkeitserfahrung begründet sich aus der offensichtlichen Tatsache, dass der Alltag umfassend von dem Elend und der Misere sozialer Randständigkeit betroffen ist. Dabei generalisiert sich die Hilflosigkeit auf umso unterschiedlichere Handlungsbereiche, desto globaler die Ursachen eingeschätzt werden. Gerade im Vergleich mit Gleichaltrigen verdeutlicht sich für Hüseyin, dass er es nicht geschafft hat, sich ein eigenes Leben aufzubauen: »Un dann (möcht) ich arbeiten un so. … Es gibt äh … Leute in mein Alter, die ham jetz ähm vielleicht n HAUS oder n … GeSCHÄFT oder so, n AUto, also ich hab … GAR nich’, ich leb von Sozialhilfe.« Es kommt hier angesichts des weitläufigen Scheiterns der eigenen Lebensbewältigung zu einer globalen Verallgemeinerung der Unkontrollierbarkeitserwartung, die schließlich alle Lebensbereiche einbezieht. (c) Auf der Dimension »variabel – stabil« bildet sich eine Erwartungshaltung der fortdauernden Unkontrollierbarkeit auch für die weitere Zukunft heraus. Dies kann nicht überraschen angesichts der sich in der Biographie bis in die Kindheit ziehenden Erfahrung der Missachtung, Negation und Entwürdigung, die sich später im Zuge der ersten Verselbständigungsschritte und des Einstiegs ins gesellschaftliche Leben mit der Exklusionserfahrung überlagert. Indem sich Misserfolg und Scheitern tief in den Erfahrungsstrukturen internalisiert haben, ist damit auch die prinzipielle Kontrollerwartung zukünftiger Handlungssituation grundsätzlich erschüttert. Durch die antizipierte Stabilität der Ursachen chronifiziert sich die gelernte Hilflosigkeit und konsolidiert sich als ein andauerndes Erwartungs- und Verhaltenssyndrom. Durch die Überlagerung der Erwartungen von Stabilität und Globalität schließen sich beide Attributionsachsen zur so genannten Generalitätsdi-
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mension zusammen. Diese ist entscheidend dafür verantwortlich, inwieweit und in welcher Stärke sich die Unkontrollierbarkeitserfahrung zur erlernten Hilflosigkeit generalisiert (Stiensmeier-Pelster & Heckhausen 2006: 385). Aus der Subjektperspektive ist hier nicht mehr ohne weiteres möglich, bei der Verwirklichung eigener Absichten unbeschwert in die Welt zu treten, weil selbst einfache Handlungsschritte zum Scheitern verdammt zu sein scheinen. In Form einer Übergeneralisierung hält die hilflose Person schließlich auch in den Fällen an ihrer Nichtbeeinflussbarkeitserwartung fest, wenn objektiv die Realisierbarkeit der eigenen Handlungsantizipationen noch gegeben ist. Es sind immer wieder nur Probleme und Hindernisse, die angesichts der bisherigen Unkontrollierbarkeitserfahrung zuerst in den Blick geraten, sodass eine nachhaltige Veränderung der eigenen Situation erst gar nicht versucht wird. Verstärkt wird die Hilflosigkeit noch dadurch, dass sich in der prinzipiellen Unübersichtlichkeit und Unabgeschlossenheit des Alltagslebens nur schwer Hinweisreize und Sicherheitssignale identifizieren lassen, anhand derer sich die Unkontrollierbarkeit einer Situation abschätzen und vorhersagen ließe (Seligman 1979: 107). Das Alltagsleben wendet sich immer wieder ganz unerwartet gegen die eigenen Handlungsabsichten, etwa wenn Franziska aus für sie unerfindlichen Gründen aus der Schule geworfen wird, Frederik trotz bester Absichten seinen Ausbildungsplatz verliert, Friedrich an einem Abend für ihn überraschend ohne jede Unterkunft dasteht. Angesichts der ständigen Möglichkeit, dass sich ganz unangekündigt wieder ein Riss in der Welt auftut, weil angesichts begrenzter Handlungskapazitäten die eigene Situation nicht zu kontrollieren ist, leben die jungen Menschen in einem Dauerzustand von Erregung, Anspannung und Stress. Einzelne Phasen mit reduzierter Stressbelastung gibt es nur selten, weil zu jeder Zeit mit dem nächsten Kontrollverlust zu rechnen ist, ohne die kritischen Situationen noch eingrenzen zu können. Die psychologischen Konsequenzen, die sich als subjektive Reaktion darauf einstellen, sind aus der Belastungsforschung allgemein bekannt: »… the young unemployed experience less life satisfaction and suffer more depressive symptoms, diminished self-esteem and higher level of distress« (Meeus & Dekovic 1996: 50).
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2. Depression Die regressive Motivations- und Handlungsdisposition, die aus einer negativen Erwartungshaltung gegenüber persönlichem Erfolg resultiert und sich als funktionaler Rückzug von der Welt verstehen lässt, überschneidet sich gemäß der Theorie erlernter Hilflosigkeit schließlich mit der Symptomatik von Depression (Seligman 1974: 72 ff.; Beck, Rush, Shaw & Emery 1986; Hautzinger & de Jong-Meyer 2003). Gerade weil sich die Erfahrung von Unkontrollierbarkeit in immer neuen Situationen wiederholt, werden Apathie, Entmutigung und Niedergeschlagenheit zu psychischen Reaktionsformen, die für die Bahnhofsszene besonders typisch sind. Auch wenn die Indikation einer Depression im engeren Sinne bei den meisten Bahnhofsgängern sicherlich nicht zutreffend ist, so gehören depressive Verstimmungen als situationsspezifische Reaktionen – im ICD-10 als leichte und mittelschwere depressive Episode (F 32.0 und F 32.1) klassifiziert – gerade im Zusammenhang akuter Hilflosigkeitserfahrungen eher zur Regel (WHO 1993; Feather & Barber 1983: 186). Dabei unterscheiden Bonß, Keupp & Koenen (1984) zwei Reaktionsformen: »Depressive Reaktionen können als spezifische Trauerreaktionen in Verlustreaktionen auftreten; sie sind dann kein pathologischer Endzustand, sondern ein Stadium der Verarbeitung, die zu einer inneren Abkoppelung von bisherigen Alltagsroutinen und den sie tragenden Normen, aber auch zu psychischen Verfassungen, die in der Epidemiologie als ›Demoralisierung‹ beschrieben werden, führen. Im ersten Fall gewinnt das Subjekt Potentiale für grundlegende veränderte Lebenspläne, im zweiten Fall entstehen Muster von Apathie, Resignation und Hoffnungslosigkeit, auf deren Grundlage neue Lebensperspektiven nicht mehr entstehen können« (S. 165). Auch wenn die jungen Menschen deutlich zu einem Zustand der Demoralisierung neigen, sollte der depressive Rückzug von der Welt daher nicht allein als negative Reaktionsform gesehen werden. Ehrenberg (2008) hält einer solchen Einseitigkeit entgegen: »Die Depression ist das Geländer des führungslosen Menschen, sie ist nicht nur sein Elend, sondern das Gegenstück zur Entfaltung seiner Energie« (S. 306). Auch wenn die produktive, sich ständig regenerierende Lebenskraft insofern blockiert ist, als eine Erfüllung persönlicher Bedürfnisse, Interessen und Wünsche gar nicht mehr angestrebt wird, so wird die Depression gerade deshalb zur Stütze, weil die negative Erwartungshaltung als eine Anpassungsleistung an eine unkontrollierbare Welt anzusehen ist. Die jungen Menschen entledi-
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gen sich durch den depressiven Rückzug selbst allen Zielsetzungen, durch die sie nur wieder herausgefordert wären, ein neues Mal den aussichtslos erscheinenden Versuch zu unternehmen, mit Willens- und Tatkraft sich dem eigenen Elend entgegenzustemmen (vgl. Rosa 2005: 388). Sie reagieren daher in den typischen Formen einer Verlust- und Trauerreaktion, durch die sie ihre libidinösen Bindungen an die Welt zu lösen versuchen, damit die erlittenen Versagungen nicht derartig schmerzvoll erfahren werden. Anspruchslosigkeit, Resignation und Apathie, so sehr diese Symptome den jungen Menschen selbst bei der Lösung ihrer Probleme im Wege stehen, sind damit auch als individuelle Verarbeitungsformen der erlebten Realität anzusehen und erlangen subjektive Funktionalität als Schutzmechanismus vor weiteren Enttäuschungen (Wacker 1983: 45 f.). Angesichts von erfahrener Hilflosigkeit und depressiver Verstimmung gibt es keinen Grund mehr, den Tag zu beginnen, um seinen Erledigungen nachzugehen, und dies umso mehr, weil dies allein bedeuten würde, sich wieder der strukturellen Ungesichertheit und Unkontrollierbarkeit der eigenen Situation aussetzen zu müssen (Berth, Förster, Balck, Brähler & Stöbel-Richter 2005; Rogge, Kuhnert & Kastner 2007). Es kommt nach Schmidt-Traub & Lex (2005) zur Selbstverstärkung der apathischen Reaktion: »Depressive zeigen meist zu wenig Verhalten, das verstärkt werden kann, und zu viele passive Verhaltensweisen wie Grübeln und Ausruhen« (S. 238). Auf einer metakognitiven Ebene verrennen sich die jungen Menschen in einer nach unten gerichteten Spirale negativer Einstellung, die sich durch ihre Rückkoppelung auf die Verhaltensebene selbst verstärkt (Papageorgiou & Wells 2003; Beck et al. 1986; Hautzinger 1997). Der Bahnhof wird damit auch von dieser Seite her zum privilegierten Ort, wo durch Ablenkung alle negativen Gedankenketten, die um die eigene Geschichte und Situation kreisen, ausgeblendet werden können. Mike weicht auf diesem Wege jeder tieferen Thematisierung persönlicher Hintergründe aus: »… war ja nich so, dass ick äh … da irgendwie EINsam war, … weeßte. Und et war natürlich ooch so’n jewisset VerDRÄNgen, weil wenn de alleene bis, … grübelste NACH, … weeßte. Und det hab ick verDRÄNGT. … Aber wenn ick bei (w)em war, dann ham we über’n Bahnhof jesprochen oder über irgendwat andret, weeßte.« Selbst wenn das Leben eine Zeitlang gut läuft und alles nach Plan gelingt, bleibt der Alltag im Schatten der eigenen Selbstzweifel zurück. Es sind daher auch nicht mehr allein die Schwierigkeiten, Verkürzungen und Restriktionen der eigenen Situation, die das eigene Bemühen um Hand-
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lungsfähigkeit und Lebensqualität desavouieren. In Anbetracht der Stimmungseinengung und Antriebshemmung werden selbst tagtägliche, kleine und routinierte Erledigungen wie der Einkauf, die Körperpflege, die Haushaltsführung zu einer kaum zu bewältigenden Belastung. Schon die Vergegenwärtigung, dass überhaupt eine Aufgabe zu erledigen ist, wird als »Herkulesarbeit« wahrgenommen (Seligman 1979: 81 f.). Dazu ist auch Paulas Sinnkrise, die ihr alle Kräfte zur Tagesgestaltung raubt, zu zählen, sodass sie an manchen Tagen gleich im Bett liegen bleibt. Gerade hier drin kommt für sie die Ausweglosigkeit und Verfahrenheit ihrer Situation zum Ausdruck: »Na, weil’s das nich sein kann, dass ich aufstehe, um wieder schlafen zu gehen.« Die depressiven Reaktionsformen lassen sich nun entlang der zwei Typen erlernter Hilflosigkeit unterscheiden, in Abhängigkeit davon, ob sich als Konsequenz der Attributionsprozesse eher eine persönliche oder eine universelle Hilflosigkeit ausbildet. Während sich beide Formen auf der Generalisierungsdimension durch Attribution von globalen und stabilen Ursachen für die prekäre Situation auszeichnen, findet sich der Unterschied vor allem im Hinblick darauf, wie das Selbstwertgefühl von der Erfahrung der Unkontrollierbarkeit betroffen ist. Durch eine Externalisierung der Ursachen, wie dies bei Paula und Frederik der Fall ist, wird es möglich, das eigene Selbstwertgefühl weitgehend unbeschadet zu lassen. Dieser Typus des »zuversichtlichen Scheiterers« zeichnet sich dadurch aus, dass nach einer kurzen Phase der Desorientierung Zuversicht und Selbstvertrauen rasch zurückkehren, um sich die Bewältigung der nächsten Situation wieder zuzutrauen. Dagegen sind Sven und Oliver als Typus des »apathischen Scheiterers« zu bezeichnen, weil im Zuge der internalen Attribution die eigene Person als zentrale Ursache für den Misserfolg angesehen wird. Die damit einhergehende Verminderung von Selbstwert führt dazu, dass sich dieser Typus den Herausforderungen des Alltagslebens ganz prinzipiell nicht mehr gewachsen sieht. Das Problem bei der Entstehung von Depressionen besteht gerade in einem übergeneralisierten Pessimismus, der als kognitive Triade eine negative Erwartungshaltung in Bezug auf das Selbst, die Welt und die Zukunft ausbildet (Beck 1970; 1974; Beck, Rush, Shaw & Emery 1986: 41 ff.). Diese negativen Kognitionen lassen sich mit Blick auf die Bahnhofsszene nun weiter anhand der beiden dysfunktionalen Attributionstypen spezifizieren, die sich beide durch Übergeneralisierung, das heißt durch eine Tendenz zu Extremen auszeichnet. Den jungen Menschen gelingt es nicht
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mehr, sich an einem balancierten Verhältnis, das zwischen den beiden Polen der internalen und der externalen Attribution vermittelt, zu orientieren. Die Reflexion der Welt- und Selbsterfahrung ist in automatischen Gedankenketten eingeschlossen, die zu »absolutistischen, verallgemeinernden, verzerrten, unlogischen oder unangemessenen Fehlschlüssen« führen (Beesdo & Wittchen 2006: 746). Weder die alleinige Akzentuierung der Situation noch der Person kann als eine der Realität angemessene Problemund Ursachenanalyse angesehen werden, weil es stets eine dynamische Handlungskomponente gibt, die sich aus der Interaktion von Situation und Person entwickelt. Ohne diesen Kognitionsstil auf einer Metaebene in seiner Einseitigkeit zu reflektieren, wird es zur weiteren Verhärtung und Erstarrung der eingespielten Attributionsformen kommen, gerade weil durch Verkennung der Problemursachen eine konstruktive Realitätsverarbeitung immer unwahrscheinlicher wird. Stattdessen wird entweder der sich ständig wiederholende Misserfolg die Zweifel an der eigenen Person nur vervielfältigen oder die Tendenz zur Rationalisierung des eigenen Scheiterns durch den Rekurs auf äußere Missstände weiter zunehmen, um die eigene Person vor weiteren Identitätsbeschädigungen zu schützen. Die depressive Reaktionsbildung steigert sich bei einigen der jungen Menschen bis hin zu Formen der Selbstverletzungen und Suizidversuchen. Sven fügt sich durch das Ritzen und Schneiden der eigenen Haut mit einer Rasierklinge in kontrollierter Weise Schmerzen zu. Selbstverletzungen geschehen durch Schnittwunden, Abschürfungen, Verätzungen, Verbrühungen und Verbrennungen, wozu neben Rasierklingen auch Scherben, Messer, Scheren, Zigaretten, Chemikalien verwendet werden (Ackermann 2002: 29). Alle Impulse der Verzweiflung, Resignation und Aggression, die im Anblick der eigenen Hilflosigkeit und Ausgeliefertheit auftreten, werden auf eine regressive Ebene der Selbstzerstörung verschoben. Selbstverletzungen stellen zwar keine Lösung für die auftretenden Lebensprobleme dar, können aber eine wichtige Funktion der Spannungsabfuhr und emotionalen Entlastung übernehmen (Teuber 1999: 59). I.: »Und äh … und … gibt’s denn auch so Probleme so, wenn Du mal so richtig fertig gewesen bist, wo Du da gedacht hattest, ach, geh ich da mal hin [zu den Sozialarbeitern] und//« --- Sven: »Nee, (da war ich schon gespalten).« --- I.: »Ja? … So was machst Du dann irgendwie auch selber aus?« --- Sven: »Klar. … mit mir und meiner Rasierklinge.« Die Destruktion des Alltags kann sich aber auch so weit zuspitzen, dass nur noch der Suizid als letzter Ausweg aus der Unerträglichkeit erscheint.
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Oliver erzählt von einem Suizidversuch, den er nach einem stationären Alkoholentzug unternommen hat, weil er trotz des hoffnungsfrohen Anfangs rasch wieder an den Punkt zurückgekehrt war, wo er für sich keine weiterführenden Perspektiven mehr gesehen hat, die über die drängende Tristesse hinausgewiesen hätten: »Aber denn, weeß ick nich, bin ick SO abjedreht, … und wollt da aus’m Fenster springen und … bin ick nich mehr klar jekommen. … Na und der hat mir zurückjezogen denn, … also weil ick hab schon draußen auf so’m Fenstersims jehangen jehabt und so. … Und denn hat der mir erstma erzählt, dat er mich richtig anjebrüllt hatte und so, wa, dat ick da zurückkommen soll. Ick hab det allet nich mehr wahrjenommen, … also richtig … egal so.« Im Zustand panischer Verzweiflung, draußen auf dem Fenstersims, kann sich Oliver nicht mehr seiner Situation vergegenwärtigen. Durch den Verlust der Sinn- und Bedeutungsfäden ist ein absichtsvolles Eingreifen in die Sozialwelt kaum noch möglich. In der Paranoia hat das Leben seine Alltäglichkeit und Vertrautheit verloren. Die fragmentierten Sinnbezüge organisieren sich, ohne dass Oliver noch Kontrolle darüber ausüben könnte, sodass sie für einen ständigen Schrecken und eine nicht enden wollende Panik sorgen. Diese Angst vor dem Leben stellt ihn auf vor die Entscheidung, entweder sich noch einmal dem Leben entgegenzustellen oder alles zu beenden. Es fehlt jedoch ein Weg, der von der Fensterbank herunter und in ein anderes Leben weisen würde. Die ganze Energie zieht sich in dem Wunsch zusammen, allem, der Ausweglosigkeit, der Verzweiflung, dem Schmerz und Leiden einfach ein Ende zu setzen: »Ja. … Uff jeden. Ick hab da im Krankenhaus denn da, bin ick och immer abjedreht halt, … Sicherheitsnadeln jenommen und allet. Allet versucht, die Scheißwunde wieder uff zu kriegen, damit’s richtig blutet und endlich ma den Knall jibt, damit vorbei is und so, wa.« Ein Weg zurück in einen Alltag, in dem die Angstzustände und die Verzweiflung ein Ende haben, wird hier kaum noch sichtbar, weil man feststellen muss, dass Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit des eigenen Lebens in ganz prinzipieller Weise nicht mehr gegeben sind.
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3. Verwahrlosung Die am meisten bedrückende und despotische Form sozialer Exklusion, gerade weil der Betroffene den hoheitlichen Status verliert, als Handlungszentrum noch über die eigenen Geschicke zu entscheiden, findet sich in den Verwahrlosungstendenzen, die im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit auftreten. Verwahrlosung als Resultat des Zusammenbruchs von Situation und Lebensführung tritt auf, weil sich die jungen Menschen aufgrund ihrer regressiven, apathischen Ausweichreaktion nicht mehr um die nächsten Belange ihrer Daseinsfürsorge kümmern (Schmid 2001). Gerade bei Obdachlosigkeit können kleine Vorkommnisse eine dramatische Bedeutung erlangen: im Regen durchnässt zu werden, an einer Erkältung zu erkranken, die Aufkündigung einer Freundschaft oder die Trennung vom fürsorglichen Lebenspartner. Die Kleidungsgarnitur ist nach einigen Wochen täglichen Tragens verdreckt, verschmutzt und ruiniert. Gesundheit und körperliche Konstitution werden mit sich hinziehender Länge der Lebensepisode Straße immer weiter in Mitleidenschaft gezogen: etwa durch ungesunde Ernährung, schlechte hygienische Bedingungen, regelmäßigen Schlafentzug und nächtliche Unterkühlung (Trabert 1995). Die einzelnen Entbehrungen, die nicht mehr abzuwehren sind, haben sich bald zur unabwendbaren Krise aufgeschaukelt, in der Körper und Psyche dauerhaft und irreparabel Schaden erleiden. Indem das Alltagsleben durch die sachlichen Notwendigkeiten der Existenzsicherung eingezwängt wird, schwindet der Handlungsspielraum so weit, dass an eine prinzipielle Änderung der prekären Situation nicht mehr zu denken ist. Auf die außerordentlichen Belastungen, die sich aus dem Straßenleben ergeben und schnell zur Überforderung anwachsen, weist Mike hin, wenn er sagt: »Weil … wenn man auf der STRAße lebt irgendwo, … äh … n AUßensteh’nder denkt, du hast ja nüscht zu tun, d// du lebst da wie sonst wat. ABER … wenn man sich überlegt, man is ACHTzehn, teilweise noch länger, Stunden uff’n BEEN’N.« Verwahrlosung meint im Kontext dieser Arbeit weit mehr als nur die Abweichung von »geltenden und gesellschaftlich durchgesetzten Normen und Verhaltensweisen« als der klassischen Definition soziologischer Theorie (Herriger 1979: 15). Im Anschluss an Aichhorn (1987/1925) ließe sich mit der Psychoanalyse vielmehr präzisieren, dass äußere Verwahrlosung an einen inneren Zustand gebunden ist, in dem das Realitätsprinzip eine nur geringe Geltung für die psychische Eigenstrukturierung erlangt. Dies liegt
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aber keineswegs an einer von Natur aus asozialen respektive dissozialen Libido (ebd.: 10). Verwahrlosung hat ihre Ursache nicht so sehr darin, dass es zu einem Versagen jener sozialisatorischen Anpassungsleistung kommt, die dafür Sorge trägt, dass die egozentrische Libido durch innere Repräsentanzen der äußeren Wirklichkeit gegenbalanciert und kontrolliert wird (ebd.: 12). Vielmehr lässt sich Verwahrlosung aus der Sicht einer theoretisch eher weniger anspruchsvollen, aber zur Erklärung hinreichenden sozialen Lerntheorie daraus erklären, dass die jungen Menschen versuchen, sich so weit es geht vom Realitätsprinzip unabhängig zu machen, weil hieraus nur Versagungen zu erwarten sind. Udo ist Außenseiter am »Bahnhof Zoo«, eben weil die Anzeichen äußerer Verwahrlosung nur zu offensichtlich hervortreten. Seine Kleidung ist verdreckt und verschlissen, ein scharfer Geruch von Tabak, Schweiß und Straße umgibt ihn, und seine rauen, rissigen Hände sind vom Schmutz fast schwarz. Gelegentlich kommt er in die Beratungsstelle »Die Hardenberger«, wenn nachmittags Kaffee und Kuchen angeboten werden, und zieht dann schon beim Betreten der Räumlichkeiten den verächtlichen Hohn und Spott der anderen auf sich, indem etwa ausgerufen wird: »Ach nicht der schon wieder!« Udo lässt es sich oft nicht nehmen, der ihm entgegenschlagenden Ablehnung und Verachtung etwas entgegenzusetzen. Entweder steigt er in den Ring ein und greift die Offerte zum sprachlichen Schlagabtausch auf, oder er versucht, den feindseligen und verletzenden Schmähungen die Spitze zu nehmen, indem er sich auf diese bezieht, um sich über sich selbst lustig zu machen. Beides kann in der Regel aber nicht dazu beitragen, Zustimmung und Sympathie der Anwesenden zu gewinnen, sondern spornt vielmehr an, mit den Spöttereien fortzufahren. Wenn er sich an den Tisch setzt, wird ihm nahegelegt, sich doch zuvor einmal die Hände zu waschen, besser noch eine Dusche zu nehmen, damit er niemandem den Appetit verdirbt. Wenn er sich etwas zu essen nehmen will, werden die Teller und Schüsseln von ihm weggerückt, mit der hämischen Bitte, von dem Essen nichts anzufassen und es sich lieber durch jemanden anderen reichen zu lassen. Auf diese Bevormundung und Entwürdigung reagiert Udo dann bald gereizt und wird nicht selten wütend, sodass er den anderen Prügel androht, um dann schließlich unter wüsten Beschimpfungen wieder zu gehen. Im Gegensatz zu den meisten Bahnhofsgängern gelingt es ihm nicht, selbst diese letzte Ressource, das Netzwerk sozialer Kontakte, für sich zu erschließen und nutzbar zu machen.
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Als ich ihm wieder einmal in der Hardenbergstraße begegne, erkundigt er sich bei mir danach, ob er in der Kleiderkammer nach Schuhen schauen könne, weil ihn das Paar, was er nun schon seit Wochen trägt, an den Füßen drückt. Er könne kaum noch einen Schritt gehen, da sich seine Zehen entzündet haben. Auf meine Nachfrage bestätigt er, dass er nicht zum Arzt gehen könne, da er keine Krankenversicherung habe und auch Sozialleistungen nicht beziehe. Ich verweise ihn auf die Ärztin, die etwas später, wie jede Woche, in der Beratungsstelle eine ambulante Sprechstunde anbieten wird. Als er sich bei der Untersuchung die Schuhe auszieht, kommen seine durch die Wundflüssigkeit durchnässten und verklebten Socken mitsamt seiner verdreckten Füße zum Vorschein, die an den Zehen dick geschwollen und stark vereitert sind. Die Ärztin reinigt und desinfiziert die wunden Stellen, meint dann aber, dass sie die Entzündung des Nagelbetts mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht weiterbehandeln kann. Am Besten wäre es natürlich, eine Woche das Bett zu hüten und seine Füße hochzulegen oder, weil er sicherlich dazu nicht die Möglichkeit habe, sich die Wunde zumindest im Krankenhaus weiter verarzten zu lassen. Als wir aus dem Zimmer herausgehen, rate ich ihm, sich in der »Kleiderkammer« der Beratungsstelle nach einem passenden Paar umzuschauen, damit die Entzündung abklingen kann. Wegen seiner großen Füße finden wir bei unserer Suche aber keine passende Größe, sodass ich ihm nur einige Paar frische Socken geben kann. Auf mein beharrliches Drängen lässt er sich schließlich dazu überzeugen, sich vor dem Anziehen der Strümpfe unter der Dusche die Füße, so weit es der Verband erlaubt, zu waschen und sich bei dieser Gelegenheit doch gleich mit Wasser durch das Gesicht zu gehen, da er wie sonst auch vom Dreck schwarz verkrustete Mundwinkel hat. Weil aber das Problem, Schuhe in einer passenden Größe zu finden, noch nicht gelöst ist, erkläre ich ihm, dass auch die Wohnungslosenambulanz, die an der Jebenstraße, direkt auf der Rückseite des Bahnhofs, zu finden ist, eine Kleiderkammer hat. Ganz glücklich und erleichtert, dass sich sein Problem vielleicht doch noch lösen lässt, verspricht er mir, sich sogleich dorthin auf den Weg zu machen. Zwei Tage später treffe ich ihn noch immer mit denselbem Paar Schuhen an den Füßen, weshalb ich ihn frage, warum er sich nicht um neue Schuhe gekümmert habe. Er habe es, antwortet er mir, bisher schlicht vergessen, zur Kleiderkammer zu gehen, weshalb ich vorschlage, dass ich ihn dorthin begleiten könnte, um jedoch vor der Tür des Hauses feststellen zu müssen, dass die Wohnungslosen-
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ambulanz schon längst geschlossen hat. Auf dem Weg zurück zur Vorderseite des Bahnhofs sprechen wir über seine allgemeine Situation, dass er keine Sozialleistungen bezieht und normalerweise in Obdachlosenunterkünften unterkommt. Ich frage ihn, ob ich ihn einmal zum Sozialamt begleiten solle, damit er neben einem Krankenschein auch die Auszahlung von Sozialleistungen beantragen kann. Er zeigt sich sehr erfreut darüber, dass ich ihm bei der Erledigung dieser Angelegenheiten zur Seite stehen will, sodass wir uns für die nächsten Tage verabreden. Trotz dieser Abmachung habe ich ihn nach diesem Gespräch erst zwei Monate später am Bahnhof wiedergesehen, ohne dass er auf Schuhe, Sozialleistungen oder Unterkunft noch einmal von sich aus zu sprechen gekommen wäre. Hier zeigt sich deutlich, wie Obdachlosigkeit und Verwahrlosung in der Dissoziation von Sinn und Desorganisation von Motivation und Handeln kumulieren. Vernachlässigungen und Verfall der unmittelbaren Lebensumstände gehen mit einer umfassenden Zerstörung psychischer Sinn- und Motivationsstrukturen einher. Die Grundmotivation, das heißt der Wille zur aktiven Gestaltung der Situation, ist in kategorialer Weise zusammengebrochen: auf der Sinnebene bleibt die topologische Repräsentation der Bedeutungs- und Handlungsstruktur der Sozialwelt opak und verschlossen, lässt sich nicht durch einen eigenständigen Identitätsentwurf der Kohärenz des eigenen Erfahrungsstroms, der sozialen Einbindung und der Handlungsfähigkeit versichern, mangelt es an einem durch äußere Anerkennung stabilisierten und verbürgten Selbstwert; genauso wie auf der Handlungsebene durch den Zusammenbruch aller Erfolgsaussichten und Wertsetzungen es schon vom Ansatz her keine ausreichend starke Motivationsquelle mehr gibt und es in der alltäglichen Lebensführung an verlässlichen und bewährten Handlungsroutinen zur Umsetzung möglicher Ziele fehlt. Es gelingt weder, die äußere Situation entgegen des Exklusionsdrucks zu gestalten, noch, für eine ausreichende Strukturierung der Sinnbezüge und Handlungsmotive zu sorgen. Damit spiegeln sich äußere Verwahrlosung und innere Verwahrlosung gegenseitig. Innere Verwahrlosung bedeutet nun gerade, dass die jungen Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich durch die Eigenstrukturierung psychischer Orientierungs- und Entscheidungsprozesse selbst zu motivieren. Armut und Entbehrungen unterwerfen vielmehr von außen her das individuelle Handeln dem rücksichtslosen Diktat der Notwendigkeit: Jetzt ist es kalt und nass, sodass man sich um einen besser geschützten Unterschlupf kümmern muss; jetzt hat man Hunger, sodass man im nächsten Super-
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markt etwas zu essen entwendet; jetzt fühlt man sich elendig und erschöpft, sodass man sich mit Schnaps, Marihuana und Diazepam betäuben will. Anstatt sich vorausschauend und nachhaltig um Unterkunft, Sauberkeit und Schuhe zu kümmern, wird die Welt als Handlungsfeld nur so weit zum Thema, wie diese als Hunger, Kälte und Schmerz unhintergehbare Bewusstseinspräsenz erlangt. Orientierung und Handlungsplanung bleiben fest auf die Gegenwart fixiert und entwickeln sich nur noch von Situation zu Situation, sodass allein für die unmittelbarsten Bedürfnisse und Interessen gesorgt ist. Diese psychische Strukturierung entlang äußerer Zwänge kann aber nicht zum stützenden Korsett der eigenen Lebensführung werden. Vielmehr legt die Vergegenwärtigung des Handlungsdrucks nur den Blick in den Abgrund der eigenen Existenz frei. Das Diktat der Notwendigkeit wird zum energetischen Mechanismus einer durch die Faktizität von Situation und Bedürftigkeit bestimmten Motivation. Entstrukturierung heißt damit, dass äußere Ereignisse und Geschehen bloß noch als faktischer Vollzug von Wirklichkeit erfahren werden, in der man lediglich insoweit drinsteckt, als dass man daran leidet. Dagegen sind Weltaufschluss, Handlungsfähigkeit und Individualitätsentfaltung mit dem Entgleiten der Subjektbezüge kaum noch gegeben. In diesem Dilemma gefangen, ist das eigene Handeln kaum noch mehr als auf eine Entlastung von diesem aversiven Handlungsdruck gerichtet, gerade weil nicht mehr mit einer substantiellen Verbesserung der eigenen Lebensqualität zu rechnen ist, sondern es nur noch um das Abwenden des Schlimmsten geht. So versuchen die jungen Menschen sich mit aller Macht aus den Fesseln ihrer randständigen, elendigen Situation zu befreien, nicht indem sie diese selbst gestalten, sondern indem sie aus dieser zu fliehen versuchen. Der Handlungsentschluss, den Rückzug aus der Welt anzutreten, muss aber letztlich widersprüchlich bleiben. Denn durch die intuitive Fluchtreaktion ist ein Entkommen aus der prekären Lage gar nicht denkbar, gerade weil sich aus der Vernachlässigung nur Not und Ausgeliefertsein weiter vertiefen. In der Obdachlosigkeit angekommen, müssen sie nun feststellen, dass sie trotz des verzweifelten Fluchtversuchs in ihrer leiblichen Existenz, ihrer Bedürftigkeit und Leidensfähigkeit unaufhebbar an die soziale Welt gebunden bleiben. Verwahrlosung ist nun der Versuch, sich in einem letzten Schritt auch noch den Forderungen und Belangen, die der eigene Körper in seiner existentiellen Ausgeliefertheit an die eigene Situation stellt, zu befreien. Mit dem Zusammenbruch der Alltagsstruktur wird die Notwen-
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digkeit, sich um Körper, Gesundheit und Wohlbefinden zu kümmern, zu einer einzigen Zumutung und Belastung: morgens beim Aufwachen in der Parkanlage für die eigene Körperhygiene zu sorgen, wenn man weder über eine Waschmöglichkeit noch über Toilettenpapier verfügt, neben einem passenden Paar Schuhe auch mit warmer und wetterfester Kleidung ausgestattet zu sein, Erkrankungen vorzubauen, ernst zu nehmen und auszukurieren (Trabert 1995). Die jungen Menschen geben es schließlich auf, eine Grenze zwischen Person und Welt durch aktive Strukturierung der eigenen Situation zu ziehen. Diese vollkommene Selbstpreisgabe hat aber selbst noch die Funktion eines Selbstschutzes, in der es zwar nicht mehr um die soziale und körperliche Integrität, aber zumindest um den Schutz der eigenen Psyche geht: Man lässt lieber die Füße in zu kleinen Schuhen vereitern, als dass der Körper zum Gegenstand beständiger Sorge, Beunruhigung und Verzweiflung wird, weil man sich auf der Straße um diese an sich banalen Belange nur sehr schwer kümmern kann.
4. Drogen Der »Bahnhof Zoo« steht als Synonym für entgrenzten Alkohol- und Drogenkonsum, was allgemein als die zentrale Ursache für sozialen Niedergang, Straßenkarriere und Verelendung identifiziert wird. Ekstase, reinste Euphorie, entgrenztes Wohlbefinden, irreale Wahrnehmungsverschiebungen sind die Verführungen, denen der Drogensüchtige vermeintlich erliegt. Mit dem Drogenkonsum ist die große Gefahr verbunden, von dem Rausch, durch den spielerisch die Einförmigkeit, Schwere und Undurchdringlichkeit des Alltags zu überflügeln ist, nicht genug bekommen zu können, den Boden unter den Füßen zu verlieren und nicht wieder in die banale und triste Realität zurückkehren zu wollen. Alkohol und Drogen bergen daher das Risiko eines sich sukzessiv verstetigenden Gebrauchs, der am Ende nicht mehr zu kontrollieren ist, wie dies in dem Konzept einer scheinbar aus sich selbst erklärenden Sucht gefasst ist. Neben dem Erlebnischarakter grenzüberschreitender Erfahrungen erlangt der Rausch eine zweite Funktion, nämlich die der Realitätsflucht vor nicht bewältigten Problemsituationen und belastenden biographischen Ereignissen (Uhrig 2000: 287). Oliver hebt die kompensatorische Funktion des Rauscherlebnisses zur Beruhigung der täglichen Sorgen und seelischen
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Anspannung hervor: »Und früher hab ick det halt mit Alkohol und Drogen runterjeschluckt, … Stress und Probleme und so, um det zu verstecken halt und so. … Und … jetzt is det so, … wenn mir det zu viel wird irgendwie, denn … knallt det bei mir uff die Psyche, uff mein’ Körper steigt det denn irgendwie um, wa.« Die Unruhe und Verzweiflung werden auch hier nicht mehr über die Verbesserung der unmittelbaren Lebensumstände zu ändern versucht, zu übermächtig erscheint der Kontrollverlust und das strukturelle Ausgeliefertseins an die eigene Hilflosigkeit. Es geht allein darum, möglichst »breit« zu sein, das heißt alle übermächtigen Verweisungsbezüge auf die abweisende, ausstoßende, kalte Realität zu nichten. Der Rausch hebt damit die Menschen ein Stück weit aus der Misere und dem Elend, sei es durch die explosionsförmige Befriedigung aller emotionalen Bedürfnisse beim Heroin; den extrovertierte Erregung und souveräne Coolness applizierenden Rausch von Amphetaminen, Speed und Kokain; das warm aufsteigende Gefühl glücklich-unbeschwerter Kommunikativität, emotionaler und sozialer Aufgehobenheit, das durch Ecstasy hervorgerufen wird; oder das entspannende, beruhigende Gefühl von Benzodiazepinen (Rohypnol, Valium, Revotril et cetera). Drogenkonsum resultiert aus der großen Hilflosigkeit der jungen Menschen, die in ihrer verfahrenen Lebenslage angesichts der aufsteigenden Verzweiflung weder ein noch aus wissen. Diese drogeninduzierten Fluchtund Vermeidungstendenzen machen nicht nur auf kognitiver Ebene eine Abschattung von und Ausblendung der Realität möglich, sondern auf der affektiven Ebene lassen sich ebenso innere Unruhe und belastende Emotionen ermäßigen (Thomas 2005: 195 ff.). Die Bahnhofsgänger wählen die kontinuierliche Bewusstseinstrübung, die Manipulation ihrer emotionalen Befindlichkeit, das Ausblenden aller problematischen Weltbezüge, anstatt an der Wirklichkeit noch weiter festzuhalten. Dazu sagt Sven: »… also … ich weiß, wie sich das Gefühl anfühlt, … aber ich … ich glaube nicht, dass man das irgendwie benennen kann, ob das n gutes oder negatives ist, weil du bist ja// … stehst ja unter Betäubung also. … Und wenn die Betäubung nachlässt, dann hört das Gefühl auch auf und du weißt nicht, ob das nun n gutes oder n schlechtes Gefühl war. Du weißt nur, dass du das irgendwie// dass es// also ich wusste dann immer, dass// dass das n total schönes Gefühl war, also … na ja, ob das nun n schönes war, nich. Also das Gefühl das war// … es hat süchtig gemacht.«
Auch Frederik versucht, durch Drogen alle Probleme aus dem Bewusstseinsfeld herauszudrängen: »Na ja, … die ganze Situation, in der man
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steckt, man wollte halt nicht darüber nachdenken, was machst du damit, knallst dich halt zu.« Beim regelmäßigen Konsum verblassen aber bald alle bunten Phantasie- und Traumwelten und verwandeln sich, gerade wenn die Dosis weiter gesteigert wird, um überhaupt noch eine Wirkung zu erzielen, in einen traumlosen Zustand rauschhafter Sedierung. Der exzessive Konsum von Alkohol und Drogen wird, wie sich ergreifend an den in der Öffentlichkeit wegnickenden Jugendlichen zeigt, gerade wegen der ständigen Bewusstseinseintrübung anstrengend, zäh und breiig (Metje 2005: 162 f.). Drogenkonsum muss nach Döbert & Nunner-Winkler (1975: 170) im Zusammenhang mit dem Mangel an generalisierten Ich-Ressourcen gesehen werden. Die Drogenabhängigen können sich angesichts der biographischen Erfahrung nicht einer kohärenten und selbstbewussten Identität versichern. Die Droge übernimmt dann die Funktion, die eigene IchSchwäche auszublenden oder zu überspielen. Die Jugendlichen »knallen sich zu«, um nichts mehr zu merken, gerade weil Identität und Selbstwert durch Ausschluss, Missachtung und Liebesentzug bis ins Innerste erschüttert sind. Damit geben die Drogen eine Antwort auf die familiäre Vernachlässigung, den Liebesentzug und die soziale Isolation, indem sie zu einem »optimalen Beziehungsersatz« werden. Mit einem Mal werden die jungen Menschen von allen emotionalen Bedürfnissen nach Aufgehobenheit und Spannungsabfuhr erlöst, ohne dabei Gefahr zu laufen, von der eigenen Beziehungsunfähigkeit überfordert zu werden und hier wieder neue Enttäuschungen zu erleben (Haas 1995: 197). Zugleich wird mit viel Energie die Selbstzerstörung betrieben, um in sich die Gefühle von Scham, Schuld und Verzweiflung absterben zu lassen, die aus der Einsicht resultieren, nicht gut genug zu sein, um anerkannt und geliebt zu werden. Hüseyin charakterisiert den tiefen Fall in die Leere seiner Existenz, bei dem Drogen immer wichtiger geworden sind, wie folgt: »Na ja. Hab ich dann weiter dann meine … DIEBstähle begangen, Portmonees geklaut un … mit den Geld dann … sch// überwiegen Drogen und … äh auch Spielsucht war auch mit drin und … (dann) in’n Puff gegangen, … so. … Na ja. … Also ich hab mir nich viel GeDANken gemacht aus mein Leben, also … meine SUkunft. … Hauptsache äh … ich war breit und … hab Geld gehabt und (au’) was zu essen un was zu rauchen.«
Trotz dieses ausgesprochenen Funktionswertes, den der Rausch für die Alltagsbewältigung erlangt, müssen Verbreitung und Ausmaß des Alkoholund Drogenkonsums in der Bahnhofsszene differenziert betrachtet werden. Entgegen der medial verbreiteten Annahme ist es schlicht falsch, dass
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die meisten Bahnhofsgänger zum Kreis der Konsumenten von harten Drogen zu zählen sind. Zwar erfolgt die Etikettierung des »Bahnhof Zoo« als Drogenszene nicht zu unrecht, und es finden sich gerade im Vergleich zu anderen Jugendgruppierungen viele, die aus dem exzessiven Drogenkonsum für sich keinen Ausweg mehr sehen. Aufgrund von Kriminalisierung und polizeilichem Verfolgungsdruck genauso wie aufgrund des großen Realitätsverlusts und hohen Suchtpotentials wird Heroin aber auch in der Szene als Elendsdroge angesehen, die von denjenigen konsumiert wird, die sonst nicht mehr viel zu verlieren haben. Und zugleich ist auch in der Straßenszene das Konsumverhalten jugendkulturellen Modetrends unterworfen und reagiert auf gesellschaftliche Zeiterscheinungen. So verliert das stark sedierend wirkende Heroin an Attraktivität und wird zugunsten aufputschender Wirkstoffe ersetzt, um damit an das Lebensgefühl unserer schnelllebigen Zeit anzuschließen. Heroin und Kokain finden als die »harten Drogen« unter den Suchtmitteln in der Regel ihre Anwendung in einer polytoxikomanen Konsumform. Neben Speed, Ecstasy, LSD sowie pharmazeutischen Substitutionspräparaten wie Codein und Methadon wird auch die ganze Bandbreite an Psychopharmaka zum »Antörnen« verwendet. Dennoch wissen die jungen Menschen nicht zuletzt aufgrund einer offensiven Drogenaufklärungspolitik, dass sie den Absturz in einen unkontrollierten Drogenkonsum riskieren. Für Frederik stellen sich die Vorbehalte gegenüber Heroin so dar: »… äh, bei den andern Drogen da … hast du wunderschöne BILder oder n schönen FILM und äh die Welt wird so rosig und so bunt. Und bei Heroin, wenn du da die ganzen Opfer siehst, die hängen nur irgendwo völlig apathisch in ihren Ecken rum und ähm kriegen// kriegen … absolut GAR nichts mehr auf die Reihe.« Anstatt durch vorbehaltlosen Rückgriff auf das gesamte Angebot psychotroper Substanzen, die der Schwarzmarkt hergibt, eine möglichst intensive Form der Sedierung zu erzielen, findet sich in der Bahnhofsszene in der Regel ein eher selektives Konsummuster. Dazu noch einmal Frederik: »Und … für mich sind, … wenn ich Drogen nehme, dann sind die sowieso nur dafür da, um ne gute Party noch BESSER zu machen.« Das Antörnen ist zwar verbreitete Tages- und Freizeitbeschäftigung unter den Bahnhofsgängern, allein weil es schon am Mittag keinen wichtigen Grund mehr gibt, den angebotenen Joint oder die gereichte Bierflasche abzulehnen. Aber die jungen Menschen versuchen sich sehr wohl noch die Hoffnung auf ein besseres Leben zu bewahren, was sie vor der vollkom-
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menen Selbstaufgabe, die der Drogenexzess im Kontext Straße bedeutet, zurückschaudern lässt. Und schließlich wirken, wie schon Frederik deutlich gemacht hat, die Verfalls- und Verelendungserscheinungen mehr als abschreckend, die direkt vor Ort im eigenen Bekannten- und Freundeskreis zu beobachten sind: »… weil halt … so viele Leute sich zu dieser Zeit dort also am Zoo, gerade am Zoo kaputt gemacht haben. Also weiß ich nich, da konntste täglich sehn, wie die sich// also wie die runterfallen in’ tiefes, schwarzes Loch so. Und ähm … ja, das … wollt ich mir nich antun.« Denjenigen, die trotz der weiten Aufgeklärtheit in den Abwärtssog des polytoxikomanen Konsums geraten, muss daher ein hohes Maß an selbstzerstörerischer Energie unterstellt werden. Schließlich ist es die Gefahr einer weiteren Verelendung und Verödung der schon an sich desolaten Lebensumstände, die vom Drogenkonsum ausgeht. Dabei erfahren die sozialen Abstiegsprozesse dann eine besondere Dynamisierung, wenn sich die Tagesaktivitäten zunehmend um den betäubenden Drogenrausch zentrieren. Alle Aktivitäten sind gerade bei der polytoxikomanen Konsumform bald nur noch darauf gerichtet, dass auch am jeweils nächsten Tag wieder für ausreichend Geld zum Kauf des nächsten Päckchens gesorgt ist, während alle anderen Lebensbezüge vernachlässigt werden. »Ja, sind wir halt zu zweet oder zu dritt immer zum Schnorrn jefahrn, det wa Kohle hatten, … für Alkohol. … Weil als Sozialhilfeempfänger haste ja nich viel Geld. […] Hm. … Ja, und … am Breiti halt … rumjesessen und überall. […] Na ja, na, wir ham mit Bier// Wir ham// ham immer erst … ruhig mit Bier anjefangen halt den Tach so, … und denn jings richtig los, … ja. […] Ja, wir ham wir immer so wenn wir sechzig, siebzig Mark zusammengeschnorrt ham, denn ham wir uns jenug Alkohol ((unv. Wort)), und denn war okay jewesen. … paar Drogen so n bisschen wat zu Rauchen.«
Trotz der ganzen Hektik, die aus dem ständigen Pendeln zwischen Rausch, Ernüchterung und Drogenbeschaffung entsteht, bleibt Oliver im sich beschleunigenden Kreislauf des Drogenkonsums auf der Stelle stehen. Die Frage, ob Oliver sich nicht anstelle dieser Fixierung auf Szene und Drogen genauso gut eine Arbeit suchen könnte, um Geld zu verdienen, taucht angesichts des eigenwilligen, von jedweden gesellschaftlichen Institutionen zurückgezogenen, nur noch auf die Bahnhofsszene zentrierten Drogenkonsums erst gar nicht auf. Desintegration heißt, dass im Wechselspiel objektiver Exklusionsbedingungen und subjektiver Rückzugsstrategien nicht nur alle sinn- und strukturgebenden Bedeutungs- und Erfahrungs-
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felder zugunsten von Sedierung und Rausch preisgegeben werden, sondern dass der zunehmende Kontrollverlust selbst nicht mehr überbrückbar erscheint. Es bleibt dann nur noch die Droge, die hinwegtröstet und eine gewisse Kontrolle ermöglicht, gerade weil die ganze Wirklichkeit in ihrer kognitiven und emotionalen Evidenz einfach ausgeblendet werden kann. Jedoch muss diese Ausflucht durch den sich verstetigenden Realitäts- und Kontrollverlust, den Abbruch aller Bindungen an ein wertgeschätztes Alltagsleben und die Preisgabe von zureichender Handlungsfähigkeit und Lebensqualität teuer erkauft werden. »Ick sach ma, ick hab// ick hab mit den Leuten jetrunken, weil et mir in der// in der Jesellschaft einfach mal … JUT jing. /I.: Hm/ … Und … hab ick alleene jesessen und jetrunken, … hab ick keene// jings mir nich so jut, als wenn ick in’er Jesellschaft jetrunken hab halt. Also denn … war mehr Blackout halt, negative Situationen nur noch wa. /I.: Hm/ Und … da bleiben nur noch … Suizidjedanken halt, wenn ick alleene jesessen hab, jetrunken hab so. … Weil da dann so immer unter dem Motto, is keener da und … so, warum denn auch und so.«
5. Die letzte Chance Wenn die jungen Menschen nun aber im Einerlei der tagtäglichen Tristesse nichts zu verlieren haben, dann muss man die Frage stellen, warum sie nicht einfach das Risiko auf sich nehmen, zur Tat schreiten und das Schicksal entgegen aller Widrigkeiten herausfordern. Die meisten tun dies gelegentlich, weil, wie sich gezeigt hat, die einzige Fluchtperspektive, die aus der ganzen Misere in Richtung einer substantiellen Verbesserung ihrer Sozialintegration weist, neben dem Aufbau verbindlicher Alltagsstrukturen die (Wieder-)Aufnahme einer Arbeitstätigkeit erfordert. Die Versuche zur nachhaltigen Überwindung ihrer Situation haben daher häufig die Bedeutung und Funktion einer letzten Ausflucht, an der man sich festhalten kann, um nicht ganz der Aussichtslosigkeit und Tristesse ausgeliefert zu sein. So investieren manche viel Energie und Engagement, mehr aber noch die verbliebene Hoffnung in ihre Versuche, den Zustand der Ausgeschlossenheit, Überflüssigkeit und Stigmatisierung doch zu überwinden, um ein ganz normales Leben zu führen. Katharina treffe ich am Kopierer in der »Yorkstraße«, den Büroräume der Streetworker der Treberhilfe. Sie antwortet mir auf meine Frage, was sie gerade mache, dass sie einige Unterlagen kopiere, die sie für die Bewer-
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bung um einen Schulplatz brauche. Jetzt, wo sie in das Methadonprogramm, für das sie sich letzte Woche beworben habe, aufgenommen werde, wolle sie sich endlich einmal um eine »neue Perspektive« kümmern. Ich erinnere mich, dass sie vor einiger Zeit von ihrem Vorhaben erzählte, den Realschulabschluss nachholen zu wollen, wenn sie endlich vom Heroin losgekommen sei. Obwohl die Entscheidung der verantwortlichen Stellen über die Aufnahme ins Substitutionsprogramm noch aussteht, scheint sie wie selbstverständlich davon auszugehen, dass dem Nachholen des Schulabschlusses nun nichts mehr im Wege steht. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die ganze Planung noch unter einer gewissen Vorläufigkeit steht, bis die ersten Schritte in ein geordneteres und strukturierteres Leben auch von Erfolg gekennzeichnet sind. Vielmehr will sie nun ernst machen, um das Ziel, vom Bahnhof wegzukommen, so bald wie möglich zu erreichen. Auf den ersten Blick mag es wie ein vernünftiger Entschluss wirken, sich eine Lebensperspektive abseits der Straßenszene aufzubauen. Andererseits möchte Katharina zwei Schritte auf einmal machen, ohne sehen zu wollen, dass diese anspruchsvolle Zielperspektive der großen Gefahr einer strukturellen Überforderung ausgesetzt ist. Die eigene Hoffnung klammert sich an die verbliebenen Handlungsoptionen wie an einen Strohhalm. Die Frage, ob die auftauchende Zukunftsperspektive wirklich umsetzbar und realisierbar ist, muss gegenüber der Strukturierungsleistung, die zur elementaren Aufhellung des tristen Alltagslebens in der Gegenwart führt, weil man endlich wieder etwas hat, an dem man sich festhalten kann, sekundär bleiben. Dagegen würde sich in einer genauen Situationsanalyse, in der nicht sofort die erste sich bietende Handlungsoption ergriffen, sondern das Für und Wider verschiedener Möglichkeiten kritisch abgewägt wird, nur der ganze Wust an Schwierigkeiten, Beschränkungen und Unmöglichkeiten vergegenwärtigen. Der einfache Weg, jetzt zur Tat zu schreiten und Nägel mit Köpfen zu machen, würde sich bei genauerem Nachdenken damit wieder als jenes vermintes Gelände erweisen, das bisher schon verhindert hat, die bescheidenen Vorstellungen eines geordneten Lebens zu realisieren. Doch aus dieser Niedergeschlagenheit und Trostlosigkeit, die das Alltagsleben gefangen hält, wollen sich die jungen Menschen gerade befreien. Zweifel an den hoffnungsfrohen Plänen werden unterdrückt, die nur wieder einem ernsthaften Anfang im Wege stehen würden. Es soll endlich losgehen, ohne durch die ganzen Einwände und die Fraglichkeit, die bisher
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der Realisierung der Lebensziele im Wege standen, aufgehalten zu werden. Indem aber der eigene Handlungsentschluss nicht mit den vorliegenden Handlungsbedingungen abgeglichen wird, ist ein Scheitern fast vorprogrammiert. Katharina beginnt den Schulbesuch schließlich schon aus dem Grund nicht, weil sie sich von Anfang an nicht an die Auflagen des Substitutionsprogramms gehalten hat, sodass sie ihren Platz wieder verliert. Angesichts der fortgesetzten Notwendigkeit der Drogenbeschaffung ist dann an ein regelmäßiges Zur-Schule-Gehen nicht zu denken. Neben diesem »Ergreifen des letzten Strohhalms«, um dem Gefangensein in der Situation der strukturellen Vergeblichkeit zu entgehen, gibt es auch noch eine entgegengesetzte Variante, nämlich das Aufsparen der »letzten Möglichkeit«, um sich die Hoffnung zu bewahren, der ganzen Misere doch noch einmal entkommen zu können. Mike will diese Perspektive, doch einmal an ein »anständiges« Leben anzuschließen, daher auch nicht leichtfertig aufs Spiel setzten. »Ich hab aber äh … mir kein ZEITpunkt hingesetzt, kein LImit. … Ich habe es ins AUge gefasst, es kann … n JAHR dauern, es kann aber auch … DREI Jahre dauern. /I.: Mhm/ Wenn ich so lange brauche, … da BRAUCH ick d// und die Zeit NEHM ich mir auch. … Ich würde jetz nie jetz hier// äh, äh, sag’n we mal, äh dass ick mir jetz hier ne Freundin suche … un mir jetz n JOB suche. … Un das hat zu KLAPpen. Wenn’s nich klappt, Alter, dann … is nich die Gefahr, bei MIR zumindest, dass ick in so’n tiefet LOCH falle, … dass ick dann vielleicht … die Arbeit verliere, Beziehung geht in’n Arsch … UND ick verlier meine Wohnung … un dann bin ick wieder da, wo ick anjefangen habe.«
Mike sieht für sich die Gefahr, dass sich diese »letzte Chance« als trügerisch und nicht umsetzbar erweisen könnte, wenn er diese zu voreilig angehen würde. Selbst das Verwirklichen jener bescheidenen Vision kleinbürgerlicher Normalität, die neben grundlegenden Sicherheiten für ein ausreichendes Maß an Lebensqualität sorgen soll, wird zur großen Herausforderung. Insbesondere befürchtet er, dass er dem psychischen Druck nicht gewachsen sein könnte. Denn würden sich an irgendeiner Stelle unvorhergesehene Schwierigkeiten der Umsetzung seiner hoffnungsfrohen Pläne in den Weg stellen, dann würde mit der Zukunftsperspektive derartig viel auf dem Spiel stehen, dass sich Mike dem auf ihn lastenden Handlungsdruck bald nicht mehr gewachsen sehen würde. Auch Oliver will sich erst gar nicht zu viel vornehmen, um nicht unter dem Druck, erfolgreich sein zu müssen, zusammenzubrechen:
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»Ja, und ick mir selbst den Druck irgendwo mache halt wa. … Det musste machen, jenet musste machen und da… im Endeffekt nimmste dir zu viel vor … und dann ärgeste dir wie Sau, weil du’s nich schaffen tust. … Der Ehrgeiz irgendwie der is da teilweise zu groß bei mir manchmal. … Halt det … zu schaffen// schaffen so, … schnell, schnell, schnell, Hauptsache fertig, … aber och uffpassen, damit nischt passiert, nicht damit de n Absturz krist irgendwie halt. […] Und deshalb sa’ick mir, lieber die Sache jetzt janz ruhig, janz langsam anjehn, … als wenn ick nachher wieder uff de Straße sitze oder so. … Muss ja nu wirklich nich sein.«
Mit dem Ergeiz wächst die Angst, das Schicksal allzu ernsthaft herauszufordern, weil mit dem Aufbruch in ein neues Leben nun wirklich begonnen wird. Denn wenn bei diesem Versuch wieder etwas schieflaufen sollte, dann hätte sich nur zu deutlich bestätigt, dass man es niemals schaffen wird. Wenn aber die Hoffnung auf eine bessere Zukunft erst einmal wieder begraben ist, dann drohen auch alle anderen Erledigungen und Besorgungen, die dem Alltag ein wenig Struktur und Qualität verleihen, eine sinnorientierende Perspektive zu verlieren, wohingegen die Zuflucht in Selbstmitleid, Alkohol und Drogen nur allzu naheliegt. Es handelt sich daher um eine elementare Entlastung vom Handlungsdruck, wenn die Umsetzung der eigenen Zukunftsperspektive in weite Ferne gerückt wird. Gleichzeitig dient die Aussicht auf ein anderes Leben gerade deshalb als orientierendes Lebensprojekt, weil es von allen Schwierigkeiten und Infragestellungen der Umsetzung unbelastet bleibt. Doch zugleich muss dieses Entwerfen einer Zukunftsperspektive als ein wichtiger Schritt in Richtung der Stabilisierung gewertet werden. Denn der Alltag im Kontext der Straße muss sich selbst erst wieder so weit verbessert und aufgehellt haben, dass die Möglichkeit zu jenem großen Schritt, nämlich eine qualitative Verbesserung durch ein Heraustreten aus der Marginalität zu versuchen, überhaupt denkbar wird. Aber gerade weil nun eine Aussicht auf eine grundlegende Verbesserung von Lebenssituation und Lebensqualität greifbar wird, so entsteht auch wieder die Gefahr, das Erreichte dadurch aufs Spiel zu setzen, indem man sich zu weit hinauswagt und zu viel riskiert. Eine probate Strategie, um diese Gefahr des Scheiterns zu bannen, besteht dann darin, die Verwirklichung der Lebenspläne immer wieder auf den jeweils nächsten Tag zu verschieben. Das Risiko, zur Tat zu schreiten, ist angesichts der strukturellen Exklusion und psychischen Desintegration einfach zu groß. Am Ende würde man nur wieder dort landen, von wo aus man gestartet ist, dies aber mit jener letzten Hoffnung weniger.
Selbstbehauptung am »Bahnhof Zoo«
Die Attraktion des »Bahnhof Zoo« begründet sich aus der fast einer modernen Mythologie gleichkommenden Erzählung vom »Treffpunkt für verlorene Straßenkinder«. Aus der Innenperspektive vom Standpunkt der Bahnhofsgänger zeichnet sich der jugendkulturelle Treffpunkt durch die Erlebnisdichte des städtischen Lebensfeldes und aus den wuchernden Verflechtungen der umherlaufenden Sozialkontakte aus. Der Bahnhof wird für die jungen Menschen zu einem Ort der Selbstbehauptung. In diesem Kapitel soll dargestellt werden, wie die soziale Einbindung in die Bahnhofsszene zur Möglichkeit wird, sich gegenüber dem sozialen Exklusionsdruck zur Wehr zu setzen. Obwohl es sich hier um einen Marginalraum handelt, der selbst in die Zonen des sozialen Abseits verlegt ist, gelingt es den jungen Menschen, den Ausgrenzungsprozessen auf allen drei Ebenen des sich dynamisierenden Armutszirkels – Exklusion, Dissoziation von Sinn und Desorganisation von Handlungen – eigene Formen der Selbstbehauptung entgegenzusetzen. Dass der Bahnhof überhaupt die Möglichkeit zur Selbstbehauptung bietet, liegt darin begründet, dass die jungen Menschen in der großstädtischen Öffentlichkeit einen sozial gestalteten Freiraum vorfinden, wohin sie sich aus ihrer alltäglichen Misere, dem ständigen Scheitern, den sich aufdrängenden Selbstzweifeln zurückziehen können (1). Es sind gerade die sozialen Kontakte, die sich als jugendkulturelles Netzwerk institutionalisieren, wodurch sich inmitten der Innenstadt eine Alternative zur Alltagstristesse und zum sozialen Ausschluss bietet (2). Über die Solidarität der Straße und die straßennahen Versorgungsstrukturen wird es insbesondere möglich, die Auswirkungen der ökonomischen Exklusion zurückzudrängen und die Überlebenssicherung am Rand der Gesellschaft zu erleichtern (3). Die Gesprächszirkel, in denen sich die jungen Menschen auf dem Bahnhof in immer neuen Konstellationen begegnen, sorgen für Abwechslung, Erlebnis und Kurzweil, sodass sie wieder an einer sozialen Welt teilhaben
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können (4). Die Interaktionen werden mehr noch zu kleinen Bühnen der kunstvollen Selbstdarstellung, auf denen die jungen Menschen in einen ständigen Wettstreit um Ansehen und Respekt treten (5). Und schließlich wird die Straße zur Möglichkeit, sich der eigenen Identität zu versichern, in der die tagtägliche Sicherstellung des eigenen Überlebens selbst zur Auszeichnung wird (6).
1. Die Freiheit des Bahnhofs Der Bahnhof bietet den jungen Menschen zunächst einmal eine neue Freiheit. Hierdurch wird es möglich, der ganzen Vehemenz an Alltagsproblemen, dem sozialen Ausschluss, der Isolation, dem fortgesetzten Scheitern, den Identitätsbeschädigungen, der Hilflosigkeit und Verzweiflung zu entkommen. Was sich aus der Außenperspektive als alleinige Regression auf Bahnhof, Anschaffen und Geldausgeben darstellt, wird für Sven zum radikalen Akt der Befreiung aus einem Zustand der persönlichen Niedergeschlagenheit und Verzweiflung: »Hm … also auf// aufgehalten hab ich mich am Zoo so, ich hab// ich hab da die ganzen Leute kennen// also getroffen und ich hab mir da meine … meine Sachen geholt, die ich brauchte. […] Also ich hab woanders angeschafft, nich am Zoo. Ansonsten war ich eigentlich die ganze Zeit am Zoo, … hab mich ablenken lassen, … schöne Sachen gekauft. … Viel Geld ausgegeben.« Der Rückzug von der Welt ist eine Reaktion auf die schmerzliche Zurückweisung, die Sven innerhalb von Familie und Freundeskreis erfahren hat. Nach der Scheidung seiner Eltern bricht nicht nur der Kontakt zum Vater ab, sondern er muss hilflos erleben, wie ihm auch die Mutter ihre Zuwendung und Aufmerksamkeit entzieht. Durch die häufig wechselnden Partnerschaften der Mutter muss Sven immer wieder zu einer neuen Person, die als Stiefvater zum Familienmitglied geworden ist, eine vertrauensvolle Beziehung herstellen. Der Aufbau eigenständiger Sozialkontakte, wodurch sich eine Kompensation des Liebes- und Zuwendungsentzugs der Mutter ergeben könnte, schlägt allein schon wegen der vielen Wohnortwechsel fehl. »Nee, ach … das gab// vorher gab’s auch schon Probleme und eben … FAMily, die Family ist irgendwie// eines Tages brach’s entzwei und denn war’s schon// irgendwie wie der neue Partner war, dann war eh alles vorbei und denn … kam schon wieder n neuer Kerl und, ach,
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es war immer voll komisch so, voll Scheiße gewesen. … Ich kam damit nicht klar, dann bin ich irgendwann … voll ausgetillt.« Erst mit 16 Jahren, nach einem weiteren Umzug in eine Ostberliner Plattenbausiedlung, gelingt es ihm, sich einen Freundeskreis aufzubauen, in dem er sich aufgehoben fühlt. Sein bester Freund jedoch begeht kurze Zeit, nachdem seine Einsamkeit und Isolation ein Ende gefunden hat, Suizid. Die Erfahrung des wiederholten Verlusts engster Bezugs- und Vertrauenspersonen verdichtet sich für Sven schließlich zu der Lehre, dass er die Zuneigung, Wertschätzung und Liebe anderer Menschen nicht verdient. Der Bahnhof wird für Sven zum Rückzugsort, wo er sich von allen Selbstzweifeln und aufdrängenden Suizidgedanken ablenken kann. »Und man hatte … also ICH wurde in de// diesem Moment ganz doll abgelenkt, weil … ich die ganze Zeit damit zu kämpfen hatte, irgendwie … weiterzumachen.« Bei seinem Zeitvertreib steht nicht der soziale Kontakt zur Bahnhofsszene im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, sich von allen Problemen zurückziehen zu können. »Jeder Tag war eigentlich gleich so, ich war am ZOO, hab mir meine DROgen geholt und dann hab ich mich irgendwo hin in die Ecke gesetzt. … Und dann saß ich da und hab gewartet, bis die Zeit vorbei is.« In der Rolle des unbeteiligten Beobachters ist die Gefahr weitgehend gebannt, an der widerständigen Welt zu scheitern, von anderen Menschen verletzt zu werden oder etwas falsch zu machen. Sven: »Ich wollt einfach nur da sitzen und den ganzen Leuten zugucken so, darüber nachdenken, was die jetzt machen so, … zum Beispiel Touris, wenn sie jetzt hier ankommen. … Ob das wirklich so gut is, ob// was sie// was// … ich denk einfach nach, ganz viel nachdenken, macht total viel Spaß … und man kann nichts dabei falsch machen.« Corin (1990) spricht vom »positiven Rückzug«, um die regressiven Reaktionsformen psychisch erkrankter Menschen auf ihre soziale Umwelt zu beschreiben. Aus ganz ähnlichen Motiven wenden sich die jungen Bahnhofsgänger vom gesellschaftlichen Leben ab, um vom Bahnhof aus ihre Weltbezüge neu zu ordnen. Dabei sind es gerade die städtischen Plätze, Bahnhöfe, Eckkneipen, Shopping-Malls, Fast-Food-Restaurants, die jenen noch eine Heimat bieten, die sich ansonsten heimatlos fühlen. Die Menschen können ihre Teilhabe an der Sozialwelt auf ein »passives Engagement« reduzieren, ohne die völlige Isolation vom sozialen Leben in Kauf zu nehmen, indem sie in das Erlebnisfeld der Öffentlichkeit einbezogen bleiben. Zugleich besteht zu jeder Zeit die Option, das eigene Engagement erweitern und sich am sozialen Austausch beteiligen zu können. In diesen
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unverbindlichen Interaktionsfeldern, die das öffentliche Leben bietet, wird es selbst für jene Menschen möglich, die sonst aus allen Integrationsformen heraus gefallen sind, noch eine minimale Teilhabe aufrechtzuerhalten (Lovell 1997: 74 f.). Mehr noch: »Sie schaffen und beschützen einen Raum des Rückzugs, der es ihnen ermöglicht, wieder mit sich selbst in Bezug zu treten und einen vertrauten und privaten Raum entstehen zu lassen und zugleich symbolische und imaginäre Verbindungen zur Außenwelt herzustellen« (Corin 1997: 188). Was nun als Regression erscheinen muss, erlangt für die jungen Menschen eine positive Bedeutung dadurch, dass sie mit der Welt einen inneren Frieden schließen können. Durch den Rückzug wird ein Heraustreten aus den Konfliktlinien des Alltags möglich, die immerzu die eigene Identität und Handlungsfähigkeit beschädigen. In kontrollierter Weise kann Sven hier am sozialen Rand darüber entscheiden, in welchem Grad er der sozialen Welt jenen Wirklichkeitsakzent verleihen möchte, der sein Engagement erst zu einer ernsthaften Unternehmung werden lässt. Die Aufhebung der Weltbezüge ist damit selbst Resultat eines intentionalen Akts, wodurch sich jener Freiraum eröffnet, der ein Minimum an Selbstbestimmung und Selbstbehauptung durch das Heraustreten aus einer heteronomen Situationskonstellation möglich macht. Dabei reduziert er die Bedeutungsmannigfaltigkeit seiner Situation auf ganz wenige Verweisungen, indem er in seiner Zurückgezogenheit nur noch den Passanten und Reisenden bei ihren Erledigungen zuschauen und sich über ihre Absichten seine Gedanken machen will. Diese Reduzierung seiner Teilhabe an der Lebenswelt auf eine rein mentale Gegenwärtigkeit verstärkt er, indem er sein Denken durch die Einnahme von Drogen noch weiter verlangsamt. Durch die selektive Wiederaneignung lebensweltlicher Bedeutungsstränge, indem er sozusagen vom äußersten Rand her tentativ mit der Welt wieder in Kontakt zu treten versucht, wird seine private Welt schließlich zunehmend bewohnbar. Diesmal aber nicht als eine entfremdete Landschaft eines gescheiterten Lebens, wo ihm durch die äußere Situationsdynamik das Heft aus der Hand genommen ist und alle Eingriffsmöglichkeiten entgleiten (Scheidung, wechselnde Partnerschaften, Suizid des Freundes), sondern aus der überschaubaren Ecke vom Bahnhof, versunken in einem kontemplativen Nachdenken über sich und die Welt. Der Bahnhof bietet damit die Möglichkeit zur produktiven Realitätsverarbeitung, indem eine selbstbestimmte Wiederannährung gerade durch die Gewinnung einer ganz alltagspraktischen Distanz zur bedrückenden
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Tristesse möglich wird. Diese Abgrenzung ist notwendige Bedingung, um sich unabhängig von äußeren Forderungen und Zwängen wieder selbst ins Verhältnis zur eigenen Situation zu setzen. Hier kann Sven seine Weltbezüge, die durcheinandergeraten sind, ordnen, aber nicht mehr als der Ausgestoßene, der die Zuneigung anderer Menschen nicht wert ist, sondern indem er sich über den Rückzug in eine überschaubare und handhabbare Situation aus der existentiellen Konfusion herauszuarbeiten versucht (Bilden 1997: 248).
2. Soziales Netzwerk und Ressourcen Die Belebtheit und Umtriebigkeit des »Lebensorts Straße« bildet den Kontrapunkt zur persönlichen Hilflosigkeit. In der Gemeinschaft der Bahnhofsgänger wird die Aufhebung der »Verzweiflung der Ortlosigkeit«, die anderswo erfahren wird, ein Stück weit möglich (Thiersch 1995: 72). Selbst die Bahnhofsgänger, die in der Gesellschaft sonst ständig die Entwertung und Nichtigkeit ihrer Person erfahren müssen, können hier auf ein weit gespanntes Netzwerk sozialer Kontakte zurückgreifen, was die verbreitete Unruhe, Beklemmung und Verzweiflung zumindest für den Moment vergessen lässt. Trotz der Marginalität dieser jugendkulturellen Lebenswelt erscheinen dann selbst die gebrochenen Formen des sozialen Anschlusses, die über den jugendkulturellen Treffpunkt möglich werden, als fundamentaler Gewinn. Für Franziska findet das Leiden an der ungestillten Sehnsucht nach Geselligkeit und Teilhabe in der Bahnhofswelt eine Aufhebung: »Und ähm … ja, … läuft halt durch die Gegend, … einmal um die Gedächtniskirche so ungefähr ((lacht kurz auf)). Und … ja, labert dann weiter … so … war witzig, keine Ahnung ((lacht verhalten)) trotz der ganzen Langeweile dort war’s witzig. Weil man ja auch nich alleine war, also /I.: Hm/ das war so für mich total wichtig, dass ich nich alleine irgendwie durch die Gegend laufen muss oder so. … Dass da immer jemand war.« Die ersten Kontakte zur Bahnhofsszene sind leicht geknüpft, da man angesichts des weit verzweigten Netzwerks nur jemanden zu kennen braucht, der wiederum jemanden vom »Bahnhof Zoo« kennt. Viele haben schon zuvor von diesem berüchtigten Treffpunkt heimatloser Jugendlicher, Ausreißer und Trebegänger gehört. Gerade im Kontrast zu den rastlosen und eiligen Passanten stellt sich anhand der verweilenden und beschauli-
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chen Präsenz, in der am Bahnhof die Jugendlichen ihre Zeit vertreiben, bei genauerem Hinsehen leicht heraus, wer der Bahnhofsszene angehört. Es handelt sich hier um ihr Territorium, das sie sich als Streifraum und Aufenthaltsort angeeignet haben. Die erste Kontaktaufnahme erfolgt schon allein über die Blicke, in denen die Jugendlichen beständig den Raum sondieren und jeden Neuankömmling sogleich taxieren, um festzustellen, um wen es sich da handelt und was der hier will. Zugleich wird dem Außenstehenden mit diesem selbstbewussten Auftreten signalisiert, wer hier mit dem Heimrecht das Sagen hat. Tobias lernt die ersten Bahnhofsgänger kurz nachdem er aus dem Zug ausgestiegen ist, mit dem er aus Westdeutschland für ein Wochenende nach Berlin angereist ist, im Erdgeschoss der Bahnhofshalle kennen. Er verlängert das Wochenende kurzerhand um einige Wochen, weil zu Hause nur ein Haftbefehl auf ihn wartet, während er schon am Abend eine Unterkunft bei Martin gefunden hat. Bei seinem zweiten Fluchtversuch aus der Heimatstadt, nachdem er seine Haftstrafe nun abgesessen hat, kann er noch ein Jahr später an die zuvor geschlossenen Kontakte anknüpfen: »Weil ich schon ma, n Jahr davor, schon ma in Berlin war, AUCH am Zoo … un halt da gemerkt hab, dass man da die Leute schnell kennen lernt un so ((schnieft)) un dass ich auch ma was zum Wohnen hatte un so. Hab ich gedacht, dass da ANdre Leute sin … un dass ich da vielleicht n neues LEben anfangen kann.« Auf der anderen Seite sind es Zufallsbekanntschaften, aus denen sich die Kontaktaufnahme zur Bahnhofsszene entwickelt, weil man an anderen jugendkulturellen Szenetreffpunkten, in Kriseneinrichtungen und Wohnprojekten, über karitative Essensausgabestellen jemanden vom »Bahnhof Zoo« kennen gelernt hat. Im Fall von Sven vermittelt sich der Einstieg über eine Bekannte aus dem Wohnprojekt, in dem er zu dieser Zeit lebt: »In’er WG hab ich jemand kennen gelernt, … hm die … kannte … auch schon n paar Leute, also sie … hat jemand kennen gelernt, der war vom Zoo, … dann hat se m// sind wir ma mitgelaufen, … und … irgendwie paar Leute da kennen gelernt und so und’s war irgendwie ganz lustig.« Trotz des berechtigten Misstrauens, mit dem man Fremden am Bahnhof begegnet, schließen die jungen Menschen, wenn sie einmal ein paar Worte gewechselt haben, schnell vertrauensvollen Kontakt. Die Jugendlichen, die sich an diesem marginalen Treffpunkt aufhalten, teilen allesamt die Erfahrung des sozialen Ausschlusses und wissen um die Isolation des anderen. Gerade wenn der erste Kontakt über einen gemeinsamen Be-
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kannten und Freund gestiftet wird, zeigt man sich an dem Neuankömmling weitgehend vorbehaltlos interessiert, verwickelt ihn in ein Gespräch und versucht etwa durch die Aufzählung gemeinsamer Bekannte weitere Überscheidungen zu finden. Der Neue kann damit rechnen, dass ihm mit Rat und Tat, wie man sich auf der Straße hier in Berlin durchzuschlagen hat, zur Seite gestanden wird. Mike: »Un DEN hab ick da (na,) wo’s … zum Ende des JAHres hinging äh gefragt, wat der im WINter macht, weil im Winter kann man ja nich uff’n Platz da stehn, un da hat der (mir) jesagt, er geht zum Bahnhof ZOO. … Un da hab ich ihn (offen) … gefragt, ich sag: ›Na ja, kuck’ste jetz nur die … Züge an// ankommen, abfahr’n?‹ Meint er: ›Nee, da musste ma mitkomm’n.‹ … Ham wir uns ne Zeitlang nich geSEHN … un dann bin ich da wirklich MIT, also er hat mich zum Bahnhof Zoo … geBRACHT. … Und … man wurde damals wie heute sehr nett UFFgenommen.«
Selbstbehauptung umfasst zunächst wenig mehr als die Möglichkeit, über einen Ort zu wissen, wohin man sich zurückziehen kann. Der öffentliche Straßenraum wird von den Passanten vornehmlich als Transitraum genutzt, auf den niemand explizite Besitzansprüche stellt, sodass sich den Außenseitern, Heimatlosen und Exkludierten hier eine Möglichkeit bietet, sich einen Sozialraum anzueignen, der ihnen nur schwer streitig gemacht werden kann (Sibley 1995). Die Straße gewinnt ihre Attraktivität gerade daraus, dass die jungen Menschen weitgehend ungestört von der Aufsicht und Kontrolle durch Erwachsene ihre eigenen sozialen Freizeit- und Beschäftigungsformen etablieren können. Bei der Straße handelt es sich daher um den klassischen Sozialraum zum freien Zeitvertreib für Jugendliche, die einen Großteil des Tages außerhalb von Schule, Arbeitswelt, Warengesellschaft und anderen Institution der Erwachsenenwelt verbringen. Für Frederik bietet der »Bahnhof Zoo« eine probate Alternative gegenüber der perspektivlosen Fortsetzung seines Lebens in Frankfurt, wo sich keine neuen Anschlussmöglichkeiten ergeben haben. Für Franziska wird es möglich, dem Rauswurf aus dem Wohnprojekt zuvorzukommen und sich allen daraus resultierenden Problemen erst einmal zu entziehen. Oliver verliert mit dem Weggang aus seiner Heimatstadt jede Form sozialer Einbindung, wohingegen die Straßenszene in Berlin zur ersten Anlaufstelle wird, um darüber Unterkunft und Unterstützung zu erhalten. Und auch für Tobias ist die Hinwendung zur Bahnhofsszene zunächst eine Befreiung aus dem Wust an Problemen durch den Gewinn einer neuen Freiheit. Tobias: »Wir sin morgens wachgeword’n, zusammen was gegessen, wenn was zu essen da war, … bisschen … Musik gehört, ham we uns fertiggemach’,
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angezogen, uns gestritten, was we ANziehn soll’n, dann sin we zum Zoo gefahrn, geguckt, was da LOS is, meistens zu ((unv. 1–2 Wörter)), was essen gegangen oder so, un danach sin we fast den ganzen Tag am Bahnhof Zoo rumgehangen oder am Kudamm spazier’n g’gang’n oder zum Wannsee gefahrn, wenn schönes Wetter war.« Abenteuer, Erlebnisdichte und soziale Einbindung sind es aber nicht allein, welche die Attraktivität des Treffpunkts begründen. Innerhalb des dichten Kontaktgeflechts des sozialen Netzwerks entsteht vielmehr eine Ersatzwelt, die nicht mehr zuerst Exklusion, Stigmatisierung und Isolation bedeutet. Ferchhoff (1999) weist auf die doppelte Funktion dieser jugendkulturellen Treffpunkte hin: »Heute scheinen manche jugendliche CitySzenen nicht nur zentraler Flucht- und Überlebensort, sondern die Alternative Straße ist für viele so genannte desintegrierte Jugendliche zugleich auch stabilisierender Erlebnisort und attraktiver Marktplatz mit einer starken Sogwirkung jenseits von Familie und Schule sowie jenseits des verdampfenden ›Drohpotentials‹ der Jugendhilfe [Hervorheb. i. O.]« (S. 179). Für Grundmann (2006) liegt die Bedeutung solcher über die Peer-Group vermittelten Sozialverbände gerade in der Möglichkeit zur Distanzierung: »Die Vernetzung von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten dient u. a. auch dazu, sich von gesellschaftlichen Anforderungen zu distanzieren, die ihre Handlungsspielräume einschränken bzw. sie vereinnahmen« (S. 134). Angesichts der Vielzahl an Personen, die sich täglich am Bahnhof eintreffen, bietet sich immer die Gelegenheit, mit jemandem beim Bier zusammenzustehen und sich die Zeit bei einem kleinen Schwätzchen zu vertreiben, dabei dann wieder Anschluss an die vielen Geschichten und Gerüchte zu erlangen, die in der Bahnhofsszene kursieren. »Die LEUte. … Vor allen Dingen … es pasSIERT immer was am Bahnhof. … Du hast ja da wirklich … dieses ReALity, … Du hast also, ob det nu … ne SchlägeREI is oder ob et nu äh äh ähm … ne Messerstecherei, Schießerei gab’s AUCH schon. … Und äh du bist mittenDRIN. … Man kennt das ja eigentlich sonst nur gefiltert aus’m FERNseher oder man liest in der Zeitung. … Aber da biste mittenDRIN. Und äh dieses: … Man könnte was verPASsen. … Wenn ick ma n Tag nich DA war … und dann, oder zwee Tage, und BIN dann … am Bahnhof /I.: Mhm/, ((senkt die Stimme)) dann erfahr ick: ›Mann! WÄRSte ma da jewesen. Da war das un das.‹«
Inmitten der Berliner City können die jungen Menschen jeden Tag von neuem in die bunte Ereignishaftigkeit des jugendkulturellen Treffpunkts eintauchen und an dem städtischen Großstadtleben teilhaben. Hat man am
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Bahnhof erst einmal seine Bekannten und Freunde getroffen, dann zieht man gemeinsam über das Bahnhofsareal, durchstreift den Tiergarten, bummelt durch die Geschäftsstraßen oder geht weitere Freunde besuchen. Die Ruhelosigkeit der Stadt, die Hektik und Geschäftigkeit des sozialen Feldes, die ständige Bewegung unter den Jugendlichen kommen zugleich den unruhigen Lebensformen entgegen. Die Straße wird zu einem offenen Raum, gerade wegen der weitläufigen Kommunikations- und Interaktionskreise, die sich als lose Gesprächsrunden über den Bahnhof verstreuen. Durch das Hineintreten in ein Feld sozialer Interaktionen wird ein Zurückdrängen der sozialen Isolation und Vereinzelung möglich. Das spontane Weben eines informellen Netzwerkes eröffnet einen Sozialraum, in dem die intersubjektive Bezogenheit im Sehen- und Gesehenwerden sowie Sprechen und Gehörtwerden die Erfahrungsmöglichkeit gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung eröffnet (Arendt 2002: 62 f.). In ganz elementarer Weise erlaubt dies die Rekonstruktion verloren gegangener Lebensbezüge und Einbindungsformen. So erlangen diese urbanen Orte trotz der Marginalität eine wichtige Funktion, weil sie entgegen des erlittenen Exklusionsdrucks zu greifbaren Möglichkeiten der individuellen und kollektiven Selbstbehauptung werden. Auch wenn sich der öffentliche Raum inmitten der Großstadt angesichts seiner unübersichtlichen Geschäftigkeit und Ruhelosigkeit in besonderer Weise zur Konstituierung des jugendkulturellen Treffpunkts eignet, so werden mit dem Gang auf die Straße allerdings erhebliche Risiken eingegangen. Außerhalb der direkten Kontrolle und Überwachung durch gesellschaftliche Ordnungsinstanzen ist die Straße immer schon mit dem Verbotenen, Gefährlichen und Devianten verbunden. Die hier offerierten Angebote werden ansonsten von der Gesellschaft hochgradig reguliert: Drogen, Kriminalität, Sexualität. Gerade aufgrund dieser Distanz zu den legitimen und gutbürgerlichen Sozialbereichen erfährt die Bahnhofswelt ihre Abwertung als Marginalraum, an dem sich der soziale Abstieg wegen der unverblümten Stigmatisierung nur weiter besiegelt. Ein eigenständiges Nutzungsrecht wird ihnen trotz der großen Wichtigkeit des Bahnhofs zur Gewinnung sozialen Anschlusses keineswegs zugestanden. Vor allem besteht ein ständiger Konflikt mit den öffentlichen Raumwärtern, die versuchen, die Hegemonie über diesen Marginalraum dadurch wiederzugewinnen, indem sie die Gegenwart der Jugendlichen unter die Oberfläche der öffentlichen Ordnung zurückzudrängen versuchen. Daher sind die jungen Menschen selbst hier, wo sich ihnen eine bescheidene Teilhabe am öffent-
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lichen Raum eröffnet, angesichts der geballten Übermacht von Polizei, Wachschutz, den Eignern der Ladenlokale einem steten Verdrängungsund Vertreibungsdruck ausgesetzt. Und doch wird auch hier Selbstbehauptung möglich, gerade weil sich die soziale Isolation, in der die Einsamkeit und Zurückgeworfenheit auf die eigene Existenz sicherlich am schmerzvollsten zum Ausdruck kommt, über die soziale Einbindung in das Netzwerk des jugendkulturellen Treffpunkt ein Stück aufheben lässt.
3. Solidarität der Straße und Schattenökonomie Die Bahnhofsszene und die Straßenökonomie ermöglichen es neben der Behauptung einer neuen Freiheit auch in ganz handfester Weise, sich dem erfahrenen Exklusionsdruck zu erwehren. Die Solidarität der Straße bietet nicht nur soziale Integration und zwischenmenschliche Anteilnahme, sondern wird zudem zur zentralen Ressource für die tägliche Daseinsfürsorge. Der Bahnhof erfüllt aufgrund der über das soziale Netzwerk vermittelten Hilfeleistungen die Funktion einer Art informellen Sozialversicherung. Trotz Ressourcenknappheit helfen die jungen Menschen aus eigener Betroffenheit untereinander. In einem Akt spontaner und gelebter Solidarität gewähren sie sich in überraschend großzügiger Weise gegenseitig Hilfe und Unterstützung. Hierdurch wird die Bahnhofsszene zum letzten Auffangnetz für diejenigen, die durch die Maschen der wohlfahrtsstaatlichen Sozialintegration durchgefallen sind. Umso mehr jemand über Sozialkompetenzen und sozialen Status in der Bahnhofs- und Straßenszene verfügt, desto verlässlicher kann er über den Aufbau eines weitläufigen Bekanntenkreises für die meisten Eventualitäten vorsorgen. So konnte es Mike viele Jahre vermeiden, obwohl er weder eine eigene Wohnung besaß noch Sozialhilfe bezog, dass seine Armutslage in offene Formen der Verelendung und Verwahrlosung überging. Stattdessen ergab sich fast immer eine Möglichkeit, irgendwo zu wohnen, seine Sachen unterzustellen und sich zu verpflegen. Auch für Paula hat das Abgleiten in die Obdachlosigkeit aufgrund des sozialen Anschluss an die Bahnhofsszene nichts Bedrohliches gehabt. Während der Zeit auf der Straße übernachtet sie bei »Kumpels«, in Obdachlosenpensionen und Abbruchhäusern; versorgt sich mit Essen in Suppenküchen, bei der Bahnhofsmission und anderen Essensausgabestellen;
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während alles andere, insbesondere das zum Überleben notwendige Geld, von ihrem Freund beschafft wird. Auf Diebestouren durch Supermärkte und Einkaufsläden erbeutet er das, was zum Leben notwendig ist, stiehlt aber auch für einen dubiosen Auftraggeber gelegentlich Autos. Für Paula hat die Straße angesichts des familiären Problemdrucks zunächst eine entlastende Funktion: »… hab mich dann auch nicht// nicht// um nichts weiter gekümmert, weil ich hab da ja dann auch gemerkt oder gesehn, dass es halt auch ANders laufen kann, … dass man also nicht unbedingt n Dach über’m Kopf braucht. Also, wie gesagt, ich hatte dann zu der Zeit auch schon … am Bahnhof ähm … mein’ Freund gefunden, der ja mich dann auch … so … weit … versorgt und verpflegt hatte, dass ich mir darum kein’ Kopf machen brauchte, also nicht um Schlafplatz, nicht um Essen.« Diese Solidarität der Straße wird zur wichtigen Ressource, um die Absicherung elementarer Bedürfnisse zu gewährleisten, gerade wenn das Geld bis zum letzten Cent ausgegeben ist. Über informelle Tauschzirkel helfen sich die Bahnhofsgänger gegenseitig, unabhängig davon, ob es sich um kleine Geldbeträge, etwas zu essen, ein Bier, eine Zigarette handelt. Der Zigarettenstummel, der auf die Bitte, doch noch etwas stehen zu lassen, weitergereicht wird, wird dann nicht selten noch unter zwei, drei Freunden aufgeteilt. Und auch die Dose Bier schmeckt in vertrauter Runde nur dann, wenn auch die anderen versorgt sind. Gerade unter besseren Freunden bilden sich durch die reihum erfolgende Verleihung kleiner Geldbeträge regelrechte Schuldenzirkel. Kredit wird besonders leicht jenen eingeräumt, die in den nächsten Tagen wieder ihre Sozialleistungen ausgezahlt erhalten. Damit nimmt die spontane Solidarität, sich gegenseitig weiterzuhelfen, gerade am Monatsende, wenn das ganze Geld längst ausgegeben ist, der Armut die Schärfe. Ein Nichtbegleichen der verauslagten Zuwendungen, indem man sich, wenn man selbst über Bares verfügt, nicht als ebenso spendabler Gönner erweist, bringt einen drastischen Verlust von Anerkennung und Wertschätzung mit sich und birgt das Risiko, aus den Solidaritätsbeziehungen des Freundeskreises herauszufallen. Solange man aber die Hilfe, die einmal gewährt wurde, wieder zurück in die Gruppe trägt, erlangen die Tauschzirkel ein hohes Maß sozialer Verlässlichkeit. Dennoch ist dieser Solidaritätspakt mit dem immanenten Konstruktionsfehler behaftet, dass das soziale Kapital umso mehr abfließt, wie der Betroffene aufgrund zunehmender Desintegration und Prekarität auf den materiellen und sozialen Rückhalt
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angewiesen ist. Das Straßenleben bringt daher eine starke Beanspruchung des sozialen Unterstützungsnetzwerks mit sich, gerade weil eine dauerhafte Unterstützung des Freundes, der in Not geraten ist, ohne dass dieser sich alsbald von seiner Seite erkenntlich zeigt, kaum möglich ist. Weiterhin erfüllt die Bahnhofswelt die Funktion einer Informationsbörse, in der sich die jungen Menschen mit Rat zur Seite stehen. Besonders bei Problemen bei der Durchsetzung des Sozialleistungsanspruches bietet die Gemeinschaft des Treffpunkts eine wichtige Unterstützungsfunktion. Erstens wird für Aufklärung über den grundsätzlichen Anspruch auf Sozialleistungen gesorgt. Zweitens werden persönliche Erfahrungen, die bei der Beantragung von Sozialleistungen gemacht worden sind, weitergegeben. Drittens sind in den Bahnhofsrunden moralischer Zuspruch und emotionale Unterstützung zu erhalten, sodass sich daraus Mut und Selbstvertrauen entwickeln können, den Sozialleistungsanspruch selbst gegen Widerstände durchzusetzen. Ebenso bietet die Ökonomie der Straße über die Trias von Kriminalität, Prostitution und Betteln die Möglichkeit, sich mit Geld zu versorgen. Ohne Geld ist es auch auf der Straße kaum möglich, das tagtägliche Überleben sicherzustellen. Mehr noch aber stehen die finanziellen Mittel in symbolischer Hinsicht dafür ein, dass ein minimales Anschlusshalten an die Wohlstandsgesellschaft noch gelingt. Einige erweisen sich sogar als derart geschäftstüchtig, dass sie über die Straßenökonomie ein weitaus besseres Einkommen erzielen als das, was sie jemals auf dem regulären Arbeitsmarkt erwarten könnten. Jedoch bleiben in einer langfristigen Perspektive diese Einkommensquellen an unkalkulierbare Risiken gebunden. Sicherheit, Gesundheit und Zukunft – als elementare Lebensvoraussetzungen – sind der persönlicher Preis, der im Tausch gegen das schnelle Geld zu entrichten ist. Schließlich sind es die karitativen Angebote der Straße, die von den jungen Menschen als Ressource zur Überlebenssicherung genutzt werden. Man wendet sich an Wohnprojekte, Notübernachtungen und Obdachlosenunterkünfte, an die Bahnhofsmissionen, Kleiderkammern und Essensausgabestellen, an pädagogische Beratungsangebote, die über Café- und Essensangebote hinaus nicht selten auch Dusch- und Waschmöglichkeiten offerieren. Eine elementare Versorgung mit zum Leben notwendigen Gütern ist über karitative Einrichtungen aber nur mit hohem zeitlichem Aufwand zu sichern. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln an 24 Stunden täglich und 7 Tagen in der Woche ist selbst in einer Großstadt wie Berlin, in der
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ein differenziertes, weit gespanntes Hilfesystem vorzufinden ist, nur schwer zu realisieren. Grundlegendes wie Wäsche waschen, neues Hemd besorgen, Besuch der Essensausgabe sind Organisationsaufgaben, die einen Großteil des täglichen Zeitbudgets beanspruchen. Mike: »Und det is ja ooch STRESS, det is STRESS. Du musst ja ooch PLAnen. … WO holste dir wat zu essen, WO kannste pennen, WO … kriegste Klamotten her. … Äh äh … und det is ja ooch// äh det jeht uff die PSYche halt, weeßte, und irgendwann, bevor de da DURCHdrehst, weeßte, … un du hast ja eigentlich immer n Kopf voll.«
4. Interaktion und Kommunikation als soziales Event In den über das Bahnhofsterrain verstreuten Gesprächskreisen wird für die jungen Menschen wieder eine Welt greifbar. Corrigan hat die vorherrschende Aktivität von Jugendlichen, die den Tag über auf der Straße abhängen, folgendermaßen beschrieben: »All diese Aktivitäten fallen unter die Rubrik ›Nichtstun‹, und sie repräsentieren die größte Jugend-Subkultur. Das wichtigste Element beim Nichtstun ist das Reden« (1979: 176). Auch die Bahnhofsgänger versammeln sich hier jeden Tag aufs Neue, um an dem sozialen Erlebnisfeld teilzuhaben, das Areal auf der Suche nach Freunden zu durchstreifen und die am Vortag abgebrochenen Kontakte zu erneuern. Es gibt hier am Bahnhof nur wenige explizite Zwecke, die sich verfolgen ließen, sodass es vor allem die sozialen Kontakte sind, warum alle hierherkommen. In dem Moment, wenn sich zwei Menschen in der Bahnhofshalle begegnen, sich zur Begrüßung beide Gesichter zu einem Lächeln erhellen, der Blick in die Augen des jeweils anderen die gegenseitige Anteilnahme bezeugt, wird es auch möglich, sich wieder der eigenen Existenz zu versichern. Die Sorgenvielfalt und Unruhe, Langeweile und Einsamkeit, Ausschluss und Armut ziehen sich umso mehr zurück, wie alle im Beziehungsgeflecht des Netzwerks zu Teilnehmern einer umfassenderen Kommunikationsgemeinschaft werden. Im Mittelpunkt der Gruppenaktivitäten steht das generische Hin und Her der Interaktions- und Kommunikationssequenzen (Young 2004: 39). Die Gespräche kreisen am Bahnhof insbesondere um drei Themenbereiche: Bahnhofsleben, Alltagsthemen und Lebensgeschichten.
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Markus scheint sehr aufgeregt zu sein, kommt mit finsterer, angespannter Miene in eiligem Schritt auf mich zugelaufen, fragt mich unumwunden, ob er mir mal etwas zeigen könne, und zieht schon seine Jacke aus, ohne meine Antwort abzuwarten. Er weist mich auf einige nicht sehr tief gehende Schnittwunden hin, die quer zur Innenseite seines Unterarms verlaufen, etwa fünf bis acht Zentimeter lang, und schon leicht verschorft sind. Ich frage ihn, ob er sich selbst verletzt habe, worauf er mit dem Kopf schüttelt und meint, dass er an solchem Kinderkram keinen Gefallen habe. Nachdem er durch seinen theatralischen Auftritt – diesem taking-the-floor – meiner Aufmerksamkeit halbwegs sicher sein kann (Mehan 1979), kann er nun mit seiner Erzählung ansetzen: Er sei gestern zusammen mit Susanne unterwegs gewesen und sie haben einen ihrer Bekannten bei sich zu Hause besucht. Dort sei er dann mit »gepanschten Drogen« betäubt worden. Er habe eigentlich nur etwas getrunken und einen Joint geraucht. Doch irgendwann habe er das Bewusstsein fast verloren, im Halbschlaf nur noch auf dem Sofa liegen und sich nicht mehr bewegen können. Susanne sei dann vor seinen Augen vergewaltigt und danach in brutaler Weise verprügelt worden, indem der Typ ihr mehrmals in den Bauch getreten habe. Er habe nichts machen können und musste allem hilflos zusehen. Nachdem der Typ von Susanne abgelassen habe, habe dieser sich das Messer genommen und ihm den Arm aufgeritzt. Von meiner Idee, Susanne ins Krankenhaus zu bringen, damit sie sich dort untersuchen lässt, hält Markus nicht viel, und wegen der »paar Kratzer« brauche er keinen Arzt. Susanne wolle jetzt nur ihre Ruhe haben und morgen dann allein zum Arzt gehen, erläutert er mir. Während mit dem Ende seiner Erzählung die Unruhe wieder Besitz von ihm ergreift, hat er sich auch schon verabschiedet. Er wolle erst einmal weiterziehen, um von dem Vorfall auch den anderen zu erzählen. In kürzester Zeit ist die gesamte Bahnhofsszene in Aufregung und Empörung versetzt. Es kommt immer wieder jemand auf mich zu und fragt, ob ich denn schon die Geschichte von Markus gehört habe. Einige meinen, dass der doch spinnen würde und sich die Geschichte zusammengereimt habe, bezichtigen Markus der Verantwortungslosigkeit, verstehen Susanne nicht, dass sie nach einem solchen Erlebnis noch zum Bahnhof kommt, während andere noch heute Abend losziehen wollen, um den Typen in seiner Wohnung aufzusuchen und sich dafür zu rächen, was er Susanne angetan habe. Während das Bahnhofsleben bisher in aller Beschaulichkeit dahingetrieben war, ist der Zeitrhythmus jetzt in jäher Weise beschleunigt. Alle laufen aufgebracht
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und aufgeregt von einer Clique zur anderen, tragen die verschiedensten Informationen, Meinungen und Spekulationen zusammen, bis sich jeder seinen eigenen Reim auf das Geschehene gemacht hat, ohne es aber recht fassen zu können. Niemand will den Anschluss an die neuesten Entwicklungen des Ereignisses des Tages verpassen. Angesichts dieser Beschleunigung tritt die Bahnhofssituation vollends zurück, wo man inmitten von hunderten ahnungslosen Passanten steht, die von dem, was hier alle in Unglaube und Aufruhe versetzt, keine Ahnung haben. In den nächsten Tagen wird diese Story immer wieder einmal zum Thema, weitere Details werden nachgetragen und in das bisherige Bild eingepasst, neue Ereignisse – etwa dass Susanne noch immer nicht zum Arzt gegangen ist – kommentiert, ohne dass dies eine letzte Klarheit über das Vorgefallene erbringt. Es ist gerade diese Offenheit und Unabgeschlossenheit der thematischen Struktur der Bahnhofswelt, aus der sich die Kohäsionskraft der Kommunikationsgemeinschaft entwickelt. Für kurze Zeit wurden alle Anwesenden über den verbindenden Gesprächsstoff zu Teilnehmern einer geschlossenen Gesellschaft. Wie im wirklichen Leben folgen dabei auch die Bahnhofsgeschichten keinem vorhersehbaren Plot, der auf ein finales Ende, sogar auf ein Happyend zusteuern würde. Die Szenen am Bahnhof erfahren in der Regel keine Auflösung, sondern geraten mit dem abfallenden Interesse, während sich das Alltagsleben längst neuen Geschichten zugewendet hat, einfach in Vergessenheit. Weil die am Bahnhof zirkulierenden Gesprächsthemen gerade nicht in der Setzung eines Schlusssteins ihren Abschluss finden, ist zugleich garantiert, dass die kommunikativen Anschlussstellen für immer neue Geschichten offenbleiben, wodurch das Bahnhofsleben eine fortwährende Erneuerung erhält. Neben den täglichen Ereignissen und Geschichten ist es die bunte Mischung an Allerweltsthemen, die den Zusammenkünften am Bahnhof ein weiteres Thema vorgeben. Am Montag werden die Fußballergebnisse vom Wochenende, insbesondere das Abschneiden des Berliner Fußballclubs Hertha BSC besprochen. Ebenso zeigt man sich informiert über die neuesten Kinofilme, Musik-CDs, Marken, Moden und Trends. Es werden einzelne Berichte aus der Tagespresse herausgegriffen, populäre Themen und Allerweltswissen ausgetauscht. Angesichts der Vielfalt möglicher Sichtweisen und Meinungen gehen selbst ganz unverfängliche Themen bald in kontroverse Streitgespräche über. Das Sprechen als praktisches Erkenntnis- und Kommunikationsmedium dient damit nicht allein zum Austausch von Wissen und Ansichten, sondern wird zu einem sozialen Event, durch
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das sich Gemeinsamkeit und Kurzweil immer wieder erneuern. Dies ist besonders dort der Fall, wo es um das Informiertsein über andere Angehörige der Bahnhofsszene geht. Auch hier am Bahnhof gibt es scheinbar kaum etwas Schöneres als sich über gemeinsame Bekannte zu unterhalten. Daher ist es gerade der Klatsch und Tratsch, wodurch sich ein Band der Zugehörigkeit zwischen den Beteiligten flechtet, allein schon weil man in der Bahnhofsszene über das Bescheidwissen von Details und Intimitäten als Insider gelten kann (Bergmann 1987). Lebensgeschichten und persönliche Probleme sind schließlich der dritte große Bereich an typischen Gesprächsthemen. Die jungen Menschen haben außerhalb der Bahnhofsszene selten jemanden, dem sie sich anvertrauen können, obwohl die Probleme zahlreich genug sind, um ausreichend Gesprächsbedarf zu bieten. Auch wenn man sich regelmäßig darüber beklagt, dass am Bahnhof selten jemand zu finden ist, der wirklich zuhören kann, so wirkt allein schon das Reden über die eigenen Probleme entlastend. Indem das, was belastet, ausgesprochen wird, zeigt es sich in seiner sprachlichen Form schon nicht mehr derartig bedrohlich. So geht auch Franziska, nachdem sie sich mit ihrem Freund gestritten hat, zuerst einmal zum Bahnhof: »Und dann bin ich halt zum Zoo, hab mich da bei’n paar Leuten ausgeheult. ((lacht)) Und … ja, dann gi// gings mir auf jeden Fall besser, also ich hatte Ablenkung ohne Ende, weil immer irgendwie was zum Labern da war.« Über das Erzählen wird das Unvorstellbare und Unaushaltbare wieder rückgebunden an Sinnbezüge, die es in einen intelligiblen Rahmen stellen, sodass man nicht mehr vollends den eigenen Geschicken ausgeliefert zu sein scheint. Es sind damit die kleinen Tragödien und die glücklichen Augenblicke, das heißt die existentielle Erfahrung des Alltags, die sich in dem Mikrokosmos Bahnhof genauso brechen wie in allen anderen sozialen Lebenssphären. Es sind die sozialen Beziehungen unter den jungen Menschen, die zu jenem Stoff werden, der hier in der Bahnhofsszene gehandelt wird und diesem Ort jene Attraktivität verleiht, sodass immer wieder neue Menschen hier stranden.
5. Interaktion, Prestige und sozialer Status Am Bahnhof ist heute, an einem sonnigen, warmen Sommertag, viel los. Timo hat mir vorne auf dem Hardenbergplatz gleich erzählt, dass mal
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wieder eine Menge Leute aus ihren Löchern gekrochen seien. Während wir uns über das jahreszeitabhängige Auf und Ab am Treffpunkt unterhalten, werden wir fortwährend von weiteren Bahnhofsgängern begrüßt, die den schönen Tag für einen Ausflug in die Innenstadt nutzen. Um uns ein wenig umzuschauen, machen wir uns auf und schlendern gemächlich durch die Bahnhofshalle in Richtung Hinterausgang und stehen unvermittelt, nachdem wir durch die Tür geschritten sind, in einer Gruppe von 35 bis 40 Jugendlichen, die sich auf der Jebenstraße in losen Untergruppen verteilt zusammengefunden haben. Es geschieht nur sehr selten, dass eine solche große Gruppe hier auf dem Bahnhofsterrain zusammensteht, allein schon weil dies bald die Aufmerksamkeit der Ordnungskräfte auf sich zieht. Während ich zur Begrüßung einigen die Hand reiche, schlägt Timo bei jedem Einzelnen mit der erhobenen Hand ein, verhakt sich dann mit seinem Arm in dem des anderen, woraufhin sich beide mit einem kraftvollen Ruck einander entgegenziehen, um Schulter gegen Schulter voneinander abzuprallen. Nachdem er Frank in dieser Weise begrüßt hat, fragt Timo ihn, ob er noch immer Betonplatten in seiner Jacke trage. Frank entgegnet, dass Timos Schmerzen mit dem Pudding in den Armen kein Wunder seien. Timo hält sich zugute, dass er zumindest keinen Pudding im Kopf habe, wie so mancher andere hier. Einige Bahnhofsgänger sitzen unbekümmert in der Sonne auf den Motorhauben der entlang des Bürgersteigs parkenden Autos, als ob sie durch diesen offensichtlichen Normverstoß ihre Coolheit und Lässigkeit umso mehr unterstreichen wollen. Angesichts der Lautstärke, Ausgelassenheit und Unbekümmertheit wird sofort deutlich, dass es sich hier heute um ihr Revier handelt. Die wenigen Fußgänger, die vorbeigehen wollen, machen voller Respekt einen kleinen Bogen um die Gruppe. Die Situation wird in einem Spannungszustand des Ordnungswidrigen und Verbotenen gehalten, da jederzeit die Gefahr besteht, dass einer der Besitzer der parkenden Autos zurückkommen und sich beschweren könnte oder sogar der Zweier-Trupp Wachschützer, der täglich über das Bahnhofsgelände streift, dem Gelage ein Ende bereitet. Doch in der großen Gruppe, die heute hier in der Jebenstraße zusammengekommen ist, fühlt man sich stark und aufgehoben, sodass man die drohenden Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten der ausstoßenden Erwachsenenwelt weitgehend ignoriert. Und doch gehört diese freizügige und ausgelassene Stimmung zu den ausgewiesenen Sternstunden am Bahnhof.
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Timo zeigt uns, einer kleinen Fünfer-Gruppe, sein neues Handy, was Frank dazu verleitet, Timo zu fragen, ob dieser seine Sozialhilfe schon auf den Kopf gehauen habe, ohne seine Schulden bei ihm zurückgezahlt zu haben. Timo entgegnet, dass man wohl kaum davon sprechen könne, dass die Schulden noch unbeglichen seien, da er doch erst vorgestern ein paar Runden Bier geschmissen habe. Frank hält das nicht für fair, weil er doch eingeladen worden sei. Timo geht darauf nicht weiter ein, sondern will nun endlich sein neues Telefon vorführen, das Frank sogleich staunend in die Hand nimmt, während Timo ihn warnt, keine fettigen Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen. Anstatt etwas zu erwidern, steckt Frank sich das Telefon ein, damit er, wie er sagt, ein Pfand habe, um sein Geld noch einmal wiederzusehen. Timo versteht nun aber keinen Spaß mehr, packt Frank am Jackenrevers und fordert die unverzügliche Herausgabe des Telefons. Die anderen schauen gespannt, spöttisch und belustigt den beiden Raufenden zu, während sich Franks zunächst gespielt ernste Miene mit einem Mal in ein gefälliges Lächeln verwandelt, er in die Tasche greift und Timo sein Handy aushändigt. Den freundlichen Rat, doch besser auf seine Sachen aufzupassen, will er sich aber nicht ersparen, während Timo noch immer nicht zum Lachen ist, seine Hand aber wieder von der Jacke nimmt und das Telefon in der eigenen Hosentasche verschwinden lässt. Zu den beliebten Interaktionsritualen am Bahnhof gehören das gegenseitige Sich-auf-den-Arm-Nehmen, Frotzeleien, Provokationen und Anmache. Hierdurch wird die Kommunikation noch viel stärker auf die Unmittelbarkeit und Diffusität der Situation gerichtet. Es ist gerade der andere, seine Ansichten und Meinungen sowie sein Verhalten, was zum Interaktionsgegenstand gemacht wird (Becker, Eigenbrodt & May 1984: 118 f.). Die Kommunikation zielt dabei nicht so sehr auf die inhaltliche Gesprächsebene, in der es um eine ernsthafte Klärung von Situationsdeutungen und thematischen Gegenständen geht, sondern durch ein performatives Interaktionsritual wird die Kommunikation selbst zum Gegenstand. Dies wird vor allem durch die Einnahme einer »So-tun-als-ob«-Haltung erreicht, in der alle Gesprächsteilnehmer darstellerisch vorgeben, als ob sie sich wirklich über Muskeln, Schulden und Handys unterhalten würden. Sicherlich tun sie dies auch, aber die Themen haben eine deutliche Aufhängerfunktion, um den weiteren Kommunikationsverlauf in einen spaßigironischen Modus einer nicht endenden Kette von Aktionen und Reaktionen zu versetzen (Schmitt 1992: 101). Angesichts der Unernsthaftigkeit dieser Interaktionsriten ist es vor allem der Sprachwitz, der hier im Mittel-
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punkt der Auseinandersetzung steht, ohne aber zugleich die sachliche Ebene des argumentativen Austausches ganz verlassen zu können. Durch ein Übermaß an Ironisierung würde der thematische Bogen, der die Kommunikationssituation zusammenhält, zu zerreißen drohen, weil damit der eigentliche Anlass des Gesprächs abhanden kommt. Es sind deshalb besonders die theatralen Performanzen, welche für das Kommunikationsgeschehen die verbindende Funktion eines thematischen Interaktionsrahmen übernehmen, der die Handlungs- und Redebeiträge der Interaktionsteilnehmer hin auf eine gemeinsam etablierte und unablässig fortgeschriebene Ordnung orientiert (Goffman 1974; Klein & Friedrich 2003: 162). Insbesondere Begrüßungszeremonien haben die Funktion, ein thematisches Feld durch das Stellen von banalen, scheinbar interessierten Fragen zu eröffnen und zu strukturieren: Wie geht es Dir? Hast Du eine Zigarette? Wie spät ist es? (Schegloff 1968). Allein schon anhand solcher Fragen entfaltet sich ein kleiner Mikrokosmos an möglichen Referenzen, um dem Gespräch eine weitere Fortsetzung zu geben. Die Gesprächsdynamik entwickelt sich gerade nicht entlang der Zielperspektive, Zustimmung und Konsens über Situations- und Objektbeschreibungen zu erreichen. Vielmehr versetzen Gegenargumente, Erwiderungen, metathematische Kommentare das Kommunikationsfeld in eine dynamische Eigenbewegung. Wie beim Spiel versinken alle Anwesenden bald in die Logik des Wortwechsels und des Austauschs schlagfertiger Argumente, sodass sich der Aufmerksamkeitsfokus der Beteiligten antizipierend auf den Fortgang der sich schrittweise entfaltenden Interaktion konzentriert. Angesichts der Offenheit und Unabgeschlossenheit dieses spaßig-ironischen Austauschs ist nicht abzusehen, ob der nächste originelle Beitrag dem weiteren Gesprächsverlauf eine unerwartete, überraschende Richtung geben wird. Während der Interaktionsrahmen nun durch seine sukzessive Fortschreibung für die Kontinuität des sozialen Austauschs sorgt, bringen die Drehungen und Wendungen des Gesprächsverlaufs jene Überraschungsmomente, Abwechslung und Begeisterung hervor, wodurch es überhaupt erst lohnenswert wird, sich jeden Tag wieder neu unter die Gesprächszirkel am Bahnhof zu mischen. Durch Klamauk, Frotzeleien und Brüskierungen lassen sich Kommunikationssituationen selbst in solchen Situationen etablieren, wenn ein sachlich-inhaltliches Thema fehlt. Maynard (1980) bezeichnet diese selbstreferentielle Kommunikationsform als »setting talk«, indem es durch das Aufgreifen unmittelbar in der Situation liegender Topics darum geht, einen
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»turn-by-turn talk« zu etablieren, der sich durch das rasche Vor- und Zurückschalten zwischen thematischen Situations- und Personenverweisen zunehmend selbst trägt. Diese eigengenerative Etablierung von Kommunikation findet in der Bahnhofsszene allein deshalb eine solch große Verbreitung, weil die jungen Menschen in ihrer Alltagspraxis von den großen thematischen Bedeutungs- und Handlungsbezügen, die sich aus der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ergeben, weitgehend abgeschnitten sind. Arbeit, Freizeit und Konsum müssen als mögliche Themenkreise am Bahnhof weitgehend ausgeklammert bleiben. Angesichts dieser Wortkargheit und Einsilbigkeit sind es daher die Sozialbeziehungen selbst, die in den Fokus des sozialen Austauschs rücken. Die Rededuelle und Frotzeleien erlangen ihre Eigendynamik also dadurch, dass sich die Situation des gelangweilten, wort- und themenlosen Herumstehens am Bahnhof jederzeit in einen spannungsreichen Wettstreit versetzen lässt. Es geht dann vor allem darum, sich gegenüber den anderen Beteiligten und Zuhörern als redegewandt darzustellen und sich im Wettstreit der besseren Argumente zu bewähren. In den verbalen Schaukämpfen wird auf der Basis von Argumentationskraft und Sprachwitz die eigene Person zur Darstellung gebracht. »Das Ziel des Spiels ist, die Strategie eines jeden vor einem unentschuldbaren Widerspruch zu bewahren, wobei man freilich möglichst viele Minuspunkte für seinen Widersacher sammelt und möglichst viele Pluspunkte für sich selbst. Für diesen Kampf ist ein Publikum fast eine Notwendigkeit« (Goffman 1986: 31). Diese symbolische Praxis der Selbstbehauptung wird umso wichtiger, als man sich angesichts des Exklusionsdrucks auf der Straße immer wieder auf die soziale Position eines Niemands zurückgedrängt sehen muss. Dagegen findet sich im Kreis der Freunde jene kleine Bühne, die zum zentralen Ort der eigenen Selbstvergewisserung wird, weil man dort über die abgewiesene, ausgeschlossene, reine Subjektivität hinauswachsen und eine eigene Rolle spielen kann. Durch die soziale Einbindung in diese überschaubaren Bekanntenund Freundeszirkel hat man letztlich wieder an einer Öffentlichkeit teil, in der man sich durch seine schlagfertigen und gewitzten Worte und Taten unter Beweis stellen und seiner eigenen Existenz versichern kann. In diesen competitions sind aber nicht allein die Kontrahenten, die ihren Hahnenkampf in die Bahnhofsöffentlichkeit tragen, unmittelbar einbezogen, sondern ebenso die Umherstehenden, selbst wenn diese nicht direkt an der Auseinandersetzung beteiligt sind. Sie bekommen die Rolle des Zuschauers zugewiesen, der mit seinen Reaktionen, Gesten und Kom-
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mentaren die Auseinandersetzung überhaupt erst auf die Bühne gemeinsamer Aufmerksamkeit hebt. Als Zuschauer sind sie gefordert, sich als Anhänger einer der sich streitenden Parteien zu bekennen, wodurch jeder Wettkampf erst seine Ernsthaftigkeit und Schärfe erlangt. Trotzdem kann jeder zwischen diesen Rollenzuweisungen wechseln. Jener, der als Zuschauer dem Spektakel bisher unbeteiligt gegenüberstand, kann durch eine flapsige, provokative Bemerkung den Kampfring jederzeit selbst betreten, um sich im schwungvollen Wechsel der Zueignung von Sympathien und Antipathien zu beweisen, wohingegen sich jemand anderes aus den Konfliktlinien zurückziehen mag, indem er die Fortsetzung des argumentativen Wettstreits den anderen überlässt. Die Straße wird für die Bahnhofsgänger damit zur Bühne der eigenen Selbstdarstellung, während die Umherstehenden das Auditorium bieten, vor dem sich die Akteure in ihrer theatralischen Selbstpräsentation bewähren müssen. Auf diesen Minispielfeldern sozialen Wettstreits, wo jeder seinen Einsatz wagen kann, geht es um nichts weniger als um Ansehen, Respektabilität und Anerkennung. Die Performativität der Straßenrituale gewinnt eine substantielle Ebene, weil sich aus den Wettbewerben eine differenzierte Hierarchie an Statuspositionen entwickelt. Die Rededuelle finden ihre Grundlage und erweiterte Zielsetzung im Aushandeln von Prestige, indem man ständig beweisen muss, dass man schlagfertiger, wortgewitzter und durchsetzungsstärker, schlicht der Bessere ist. Aus dem eingenommenen Platz innerhalb der Sozialprestige-Hierarchie gehen territoriale Verfügungsansprüche, Dominanzverhältnisse in sozialen Interaktionen, Rede- und Entscheidungsrechte, Respekt und Anerkennung hervor. Die Sicherung der eigenen street credibility erfordert es geradezu, ständig Ausschau zu halten nach Situationen, in denen man sich bewähren kann (Bourgois 2003). Die verbale Performance wird auf der Straße damit zu einem zentralen Mittel der Selbstbehauptung (Abrahams 1974: 241). Provokationen, Anmache, Kräftemessen zielen trotz ihres offensiven Charakters keineswegs auf eine gewaltförmige Eskalation der Gesprächssituation. Zwar geht es darum, wie Becker, Eigenbrodt & May (1984) beschreiben, den anderen durch die eigene Schlagfertigkeit in der verbalen Interaktion aus der Reserve zu locken. Aber: »Wer die Maske spöttischer Lässigkeit, seine ›Coolness‹, die zur Schau gestellte Überheblichkeit, die rituell inszenierte Arroganz des ›Darüberstehens‹ nicht mehr aufrechterhalten kann, hat verloren« (S. 119). Auf der anderen Seite wird gerade durch die Inszenierung von Spannung, Gefahr und Gewalt die Extremsitu-
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ation Straße expressiv gestaltbar. Auf der Straße gibt es keine verlässlichen Allianzen, sichere Rückzugsbereiche und zuverlässigen Schutz. Hier muss man auf der Hut sein, schnell, mutig und gewitzt auf die ständig sich verändernde Situation reagieren und allen Bedrängnissen und Gefährdungen schon im Vorhinein mit aller Entschlossenheit entgegentreten. Auf der Straße ist daher eine gute Reputation nur zu erhalten, wenn man als jemand gilt, der zwar keinen Ärger sucht, aber ebenso wenig Ärger ausweicht. Nach außen muss man daher ständig die Bereitschaft signalisieren, im Notfall selbst unter Einsatz körperlicher Gewalt den eigenen Platz zu verteidigen. Auf der Straße etabliert sich schließlich eine soziale Ordnung, die über jugendkulturelle Codes und street credibility einen eigenständigen Wert- und Normenkosmos ausbildet. Während die jungen Menschen sonst über ihren Ausschluss nur die Entwertung ihrer Identitätsentwürfe erfahren, entsteht an den Rändern der Gesellschaft eine Rangordnung an Statuspositionen, innerhalb derer Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstwert auszuweisen sind. Schon Whyte (1996) hat darauf hingewiesen, dass die Sozialstruktur der Straße als eine »Hierarchie persönlicher Beziehungen, die auf einem System reziproker Verpflichtungen beruhen« angesehen werden kann (S. 272). Durch diese »counterculture of compensatory respect« wird eine Begründung und Bestätigung von Selbstwert auch jenseits der sozial vorgegebenen Bewertungsmaßstäbe möglich (Honneth 1990: 200). Häufig werden diese Formen der symbolischen Selbstbehauptung auch als street culture beschrieben, worunter Bourgois (2003) versteht: »a complex and conflictual web of beliefs, symbols, modes of interaction, values, and ideologies that have emerged in opposition to exclusion from mainstream society« (S. 8). Hierbei handelt es sich also um ein semiotisches System, das aus eigenen Interaktionsregeln, Autoritäten, Glaubensgrundsätzen, Grundüberzeugungen, einem Wert- und Ehrenkodex, Verfahren der Gewaltkontrolle und der Erzeugung legitimen Rechts besteht. Durch den Anschluss an die eigene community wird es gerade möglich, der Selbstentwertung und Diskriminierung entgegenzuwirken, indem ein positiv besetztes, (sub-)kulturelles Wertesystem der Bestätigung und Anerkennung etabliert wird (Rommelspacher 1997: 258 f.).
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6. Identitätsversicherungen Der »Bahnhof Zoo«, obwohl mit dem Stigma des verworfenen Ortes belegt, wird durch die subkulturelle Etablierung einer eigenen Wert- und Prestige-Hierarchie zugleich Orientierungspunkt für Identitätsbildung. Besonders nahe liegt die Identifikation mit dem Identitätstypus des großstädtischen Einzelkämpfers. Marc beschwört das Leben der Straße, weil es ihm, wie er sagt, überhaupt erst die Augen für die Wirklichkeit geöffnet habe. »Weil jetz hab ich’s gelernt. ((nachdrücklich:)) Jetz hab ich sehr viel hier am Zoo gelernt, NUR von der Straße.« Marc bezeichnet sich im Interview als »street judge«, eine Reminiszenz auf einen Film mit Sylvester Stallone, in dem sich die Gerechtigkeit in einer dystopischen Zukunft nicht mehr durch die moralischen und rechtlichen Institutionen der Gesellschaft, über die öffentliche Ordnung bewahrheitet, sondern auf der Straße erkämpft werden muss. Die Lektion, die hier zu lernen ist, lautet: Über die zerstörerische, inhumane, traumatische Gewalt der Straße ist nur mittels der Entfaltung einer massiven Gegengewalt zu triumphieren. Auf Gerechtigkeit und Anerkennung ist kein Verlass, weil sich die Welt zutiefst gleichgültig gegenüber den Menschen verhält. Es muss aber nicht unbedingt die Figur des Einzelkämpfers sein, und dennoch werden Straße und Bahnhof für die meisten zu einem naturgleichen Handlungsfeld, das einem eigenen Gesetz folgt. Die Totalität der Welt erscheint, wie im mythischen Weltenkosmos, der nicht durch die praktische und kognitive Instrumentalität menschlichen Handelns durchdrungen und erschlossen ist, als eine übermächtige Naturgewalt. Die Straße ist nicht wirklich zu bezähmen, sondern es gilt, sich unter den gegebenen Bedingungen bestmöglich einzurichten. Und dennoch kann es immer wieder passieren, dass unverhofft ein Unglück hereinbricht, sodass man auf seine nackte Existenz verwiesen ist, wenn etwa in der Essensausgabestelle schon alles verteilt ist, man bei einer polizeilichen Personenkontrolle unverhofft seiner Freiheit beraubt und mit auf die Wache genommen wird oder aufgrund von Entzugserscheinungen das Verlangen nach der Droge übermächtig wird. Bei dem »Leben auf der Straße« handelt es sich daher um eine Wirklichkeit, wo die Gewalt der »Naturbedingungen« immer wieder unbarmherzig auf die Handlungsebene durchschlägt und eine autonome Lebensplanung durchkreuzt. Auf der einen Seite vollzieht sich die narrative Inszenierung des Einzelkämpfers über eine Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Über
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die Redefinition des Handlungsfeldes erscheint auch das eigene Leben im neuen Licht, das eine alternative Interpretation der Ursachen für die eigene Misere ermöglicht. Vor allem lassen sich darüber die sozialen Bedingungen der eigenen Misere ausblenden. Das Leben verwandelt sich in einen ewigen Kampf, dem man nicht wie durch das Zerschlagen eines gordischen Knotens entkommen kann. Denn das gewagte Spiel, das dem erbahmungslosen Gesetz der Straße folgt, bringt es mit sich, dass man nur gewinnen kann, wenn man das Verlieren erlernt hat. Indem das Leben zur erweiterten Kampfzone erklärt wird, verliert das Gescheitertsein damit auch seine identitätsbeschädigende Qualität. Gegen die übermächtigen, naturgleichen Bedingungen anzutreten und den Kürzeren zu ziehen, kann eher als fast schon legitim erscheinen. Infolge der Re-Definition des Handlungsfeldes, wodurch die eigene Situation als Ausschnitt einer gnadenlosen und unbarmherzigen Umwelt inszenierbar wird, werden auch die persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Qualitäten in einer neuen Weise darstellbar. Der öffentliche Straßenraum ist ihr Revier, wo die jungen Menschen sich auskennen und eigene Überlebensstrategien entwickelt haben, wo sie beim Räuber-undGendarm-Spielen dem Wachschutz zu entwischen wissen und über dunkle Kanäle die Hehlerware zu Geld machen können. Die Bahnhofsgänger erweisen sich, indem sie jeden Tag von neuem der naturwüchsigen Misere tapfer entgegentreten, endlich als durchsetzungsstark, kompetent und erfolgreich. Dass der Autonomie enge Grenzen gesetzt sind, weil sie durch die Preisgabe der Individualintegration auf eine ausreichende Ressourcenausstattung, damit auf eine umfassende Gestaltung ihrer Lebenssituation verzichten, wird gar nicht mehr sichtbar. Situationskontrolle und Individualitätsentfaltung reduzieren sich vielmehr auf eine geschickte Anpassung an die Bedingungen der Straße, um das Ärgste, das Abrutschen in die Obdachlosigkeit, zu vermeiden. Insbesondere gehört es zum Nimbus des Einzelkämpfers, sich durch ein möglichst cooles und abgeklärtes Auftreten als harten Typen unter Beweis zu stellen. Dieser Identitätskonfiguration liegen genderspezifische Wertvorstellungen von Männlichkeit zugrunde, wie diese gerade in sozial schwachen und bildungsfernen Sozialmilieus verbreitet sind (Willis 1990), in denen ein Habitus der körperlichen Stärke und emotionalen Abgehärtetheit kultiviert wird, über den sich auch die Bahnhofsgänger ihre brüchige Sozialintegration und einen rudimentären Sozialstatus zu behaupten versuchen (Charlesworth 2000: 161 f.). Dabei handelt es sich aber nicht
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nur um Männer, sondern ebenso um Frauen, die sich diese expressiven, körperbetonten Formen des gegenseitigen Umgangs zu eigen machen. »Most of all, the aim is to maintain honour and reputation whilst escaping intimidation and ›being picked on‹. To achieve this you have to grapple with the complexities of ›hardness‹ in social performance« (Willis 1990: 103). Die körperliche Stärke wird immer wieder gerne vorgeführt, entweder anhand von Mutproben, in denen Entschlossenheit, Ausdauer und Schmerzunempfindlichkeit demonstriert werden, oder seltener in Prügeleien, in denen zwei Kontrahenten ihre Kräfte messen, um sich den knappen Entfaltungs- und Einflussspielraum nicht durch die Ansprüche eines Dritten weiter einschränken zu lassen. Durch die narrative Selbstdarstellung wird ebenso die innere Abgehärtetheit nach außen gekehrt, indem darauf hingewiesen wird, dass man schon alles in der Welt gesehen hat, das Leben von seinen hässlichen Seiten kennt, man vor nichts mehr Angst hat. Und dennoch dient dieses emotionale Schutzgehäuse auch zum Erhalt der eigenen Empfindsamkeit, indem man sich nach außen als hart erweist, um sich dahinter einen Rest an Gefühlen, Leidensfähigkeit und Menschlichkeit zu erhalten. Die eigene Souveränität, Unabhängigkeit und Stärke werden aber vor allem mit dem Bekenntnis zum Ausdruck gebracht, dass man auf niemanden angewiesen ist und keine Freunde braucht. Das Angebot der sozialen Unterstützung und der fürsorglichen Zuwendung hat Mike lange Zeit aus Selbstschutz zurückgewiesen: »Ooch, wo ick uff der STRAße jepennt hab, ey, die ham immer: ›Komm, … wir bring’n dich unter‹ … Ick ha’ nur jesagt: ›Nee, nee. Is allet in Ordnung.‹ Ick// … WOLLT ick nich, weil … det ooch dieset Schutzding is, ick hab (jedacht), nee, ick lasse keen’n an mich// an mich RAN.« Autonomie verkehrt sich am Bahnhof damit in jene negative Freiheit der Straße, die sich im Rückzug von den ausschließenden Institutionen der Erwachsenenwelt und in der Lossagung von Sozialbeziehungen zeigt. Was als inhaltlicher Bezugspunkt der eigenen Selbstverortung bleibt, ist der Stolz, ohne soziale Unterstützung das Leben abseits der Normalintegrationsformen bewältigt zu haben. Marc: »Un hier [am Bahnhof] hab ich ganz UNten angefangen. … So weit, wie ich jetz bin. … Bin ich zwar zwischendurch// also (denk) ich// äh ähm (was willste denn da) ((Unruhe, Rumkramen)) Ja, genau. ((Unruhe, Rumkramen)) Ja, un hier hab ich mir alles SELber aufgebaut, hat mir KEIner geholf’n. … Das musst ich alles SELber machen.« In der Not, die eigene Identität nur in Widersprüchen begründen zu können, verkehrt sich der soziale Ausschluss
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in einen demonstrativen Beweis für die eigene Selbständigkeit und in einen unbezwingbaren Durchhaltewillen. »Ich w// will// ich einfach Respekt. … Was bringt n mir das? … Ich will nur, dass// dass IHR, alle wie ihr seid, mich nehmt wie ich bin. Ich bin nich a// ich kann nich anders. … Ich hab alles alLEIne erreicht. Alles.« Zugleich signalisiert eine solche kämpferische Selbstdarstellung, dass man sich nicht unterkriegen lässt, auch unter der Bedingung weitermacht, wenn die Chancen auf Erfolg gering sind. Diese glorifizierende, heldenhafte Narrationskonfiguration, die sich in unterschiedlichen Weisen ausfüllen lässt, eignet sich gerade wegen ihrer inneren Widersprüchlichkeit als leistungsstarke Quelle individueller Sinnproduktion. Angesichts der Exklusion können sich die jungen Menschen symbolisch retten, gerade in ihrem Scheitern. Bei der Identitätskonfiguration des unnahbaren, starken, autarken Einzelkämpfers handelt es sich schließlich um eine klassische Stilisierung aus der Populärkultur, die gerade für sozial schwache Schichten, die sich um die Versprechungen der modernen Gesellschaft betrogen sehen müssen, eine große Attraktivität hat. Der Einzelkämpfer schlüpft als outlaw und Rebell in die Rolle eines zeitgenössischen Idols, der gegen die anonyme und großstädtische Gesellschaftsordnung, die sich als zutiefst ungerecht erweist, antritt, um für das Gute zu kämpfen. Dieser Kampf wird geführt gegen die ganze Falschheit der Gesellschaft, wo man sich verstellen muss, nicht mit offenen Visieren einander gegenübersteht, ständig jemand anderes sein muss, seine Rolle spielen muss, um etwas im Leben zu erreichen. Die Straße wird damit zur Gegenwelt der funktional differenzierten Institutionen der Erwachsenen, weil man dort nicht auf die Verstellungen dieses falschen Rollenspiels angewiesen ist, sondern wo man sich als harter Bursche beweisen kann, als jemand, der sich durchzusetzen weiß, um sich Achtung und Anerkennung im alltäglichen Existenzkampf genauso wie im direkten Kräftemessen zu erwerben. Auf der Straße bemächtigen sich die jungen Menschen damit eines rudimentären, naturwüchsigen Rechtsverhältnisses, das einen Sinn von Gerechtigkeit bewahrt, der in der Übermacht der institutionellen Erwachsenenwelt nicht mehr zu finden ist. Selbstbehauptung wird also auch dadurch möglich, dass der Bahnhof ein Feld von Identitätspositionen bietet, auf die sich die jungen Menschen beziehen können, um zu zeigen, wer sie sind.
Desorganisation von Handlungen
Auf der vierten Ebene des Subjekt-Integrations-Modells wurde vor dem Hintergrund der Exklusionsdynamik die Desorganisation von Motivation und Handlung untersucht. Das restriktive Handlungsfeld der Exklusion macht eine abgesicherte Daseinsfürsorge und differenzierte Individualitätsentfaltung kaum möglich. Genauso wie schon die subjektiven Sinnbezüge gegenüber der ausschließenden Sozialwelt zerfasert und zerrissen sind, so muss die psychische Situation auch noch in zweiter Hinsicht zur Entfremdung führen. Der Handlungs- und Entfaltungsspielraum am sozialen Rand ist derartig knapp bemessen, dass Handlungsentwürfe, um die eigene Situation nach eigenen Interessen und Vorstellungen zu gestalten, darin kaum Platz haben. Vielmehr ist ein hilfloses Ausgeliefertsein an die Zufälligkeit und Willkür einer fremdbestimmten Situation zu beobachten, wo materielle, soziale und personelle Ressourcen fehlen, um ausreichend Kontrolle und Einfluss auf die Daseinsumstände zu gewinnen. Die Desorganisation findet ihren Ursprung im Zerbrechen der verhaltenswirksamen Basisstruktur von Motivation und Handlung. Die jungen Menschen entbehren sowohl wirkmächtige Mittel als auch tragfähige Zwecke, um in der Erwachsenenwelt handelnd und gestalterisch tätig zu werden. Aus einer motivationspsychologischen Perspektive führt dies zur Aufhebung der auf die Handlung gerichteten Erwartungs- und Wertantizipationen. Die psychische Handlungssituation verweigert sich hier Sinnanschlüssen, die vom Individuum als Motivationszusammenhänge ausgebaut werden könnten. Angesichts der strukturellen Vergeblichkeit und Ausweglosigkeit geht vielmehr die zentrale Grundvoraussetzung menschlichen Handelns verloren, dass die Person für sich eine greifbare Erfolgschance bei der Verwirklichung von Handlungsentwürfen sehen kann. Der soziale Ausschluss, der im Alltag wieder und wieder als individuelles Scheitern und Versagen in Erscheinung tritt, verallgemeinert sich über das subjektive Repräsentationsmodell in Form einer negativistischen Erwartungshaltung.
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Mehr noch aber zerbricht Vertrauen und Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten, sodass sich eine erfolgreiche Handlungsdurchführung nicht mehr zugetraut wird. Die Desorganisation verschärft sich in Form eines Appetenz-Aversions-Konflikts. Denn an sich attraktive und notwendige Handlungsziele, welche auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweisen, erfahren über den wiederholten Misserfolg ihre weitgehende Entwertung. Schließlich setzen sich Aushöhlung und Unterminierung der Motivation über die vier verschiedenen Phasen des Rubikon-Modells hinweg fort. Erstens wird gemäß der Fazittendenzen keine ausreichende Bestimmtheit und Entschlossenheit bei der Übernahme realistischer Handlungsziele erreicht, weil angesichts der restriktiven Handlungssituation die Realisierbarkeit und Wünschbarkeit weithin in Frage steht. Zweitens kann ebenso die Fiattendenz nur in seltenen Fällen einen kritischen Schwellenwert überschreiten, weil die Konkretisierung der Handlungsziele durch die Entwicklung von situationsbezogenen, konkret umsetzbaren Handlungsstrategien unterbleibt. Langfristige Zielsetzungen werden wegen der Fraglichkeit des eigenen Handlungserfolges so gut wie nie in der Strategieplanung ausgearbeitet. Stattdessen rücken angesichts einer kurzschlüssigen Lust-/Unlustorientierung vorwiegend kurzfristig zu erreichende Handlungsziele ins Blickfeld. Drittens lässt sich beim Handlungsvollzug beobachten, dass die jungen Menschen in der Lageorientierung verharren, gerade weil in den komplexen und restriktiven Handlungsfeldern des gesellschaftlichen Lebens immer wieder etwas dazwischenzukommen droht, was die Umsetzung der Handlungsabsichten vereitelt. Viertens schließt sich über die Evaluation der Handlungskonsequenzen eine negative Feedbackschleife, sodass die jungen Menschen der Möglichkeit zukünftigen Handelns von Anfang an mit einer gebrochenen Motivation begegnen. Der Misserfolg, der sich in Form des sich selbst verstärkenden Regress einer »self-fulfilling prophecy« immer weiter verstärkt, internalisiert sich damit auch in den subjektiven Motivationsstrukturen. Auf der höheren Prozessebene alltäglicher Lebensführung mündet die Desorganisation einzelner Handlungssequenzen in den Schwierigkeiten des Aufbaus einer tragfähigen Alltagsstruktur, über die für alles Notwendige und Gewünschte gesorgt ist. Eine abgesicherte und erfolgreiche Individualintegration ist nur zu erreichen, wenn sich das Individuum durch eine aktive und engagierte Lebensführung kontinuierlich um zentrale Lebensbereiche kümmert, regelmäßig zur Arbeit geht, die Miete zahlt, die Beziehungen zu seinem sozialen Umfeld immer wieder von neuem belebt. Die
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Etablierung und Verankerung einer eingespielten, routinisierten Handlungsorganisation misslingt aber umso mehr, wie schon aufgrund des Mangels an sinnstrukturierenden Tagesaktivitäten die alltägliche Lebensführung jeder Substantialität und Stabilität entbehrt. Desorganisation wird hier durch das Fehlen eines orientierenden Rahmens bewirkt, um im Tagesablauf allen Alltagsaufgaben einen festen Platz zuweisen zu können. Auf der subjektiven Ebene kommt es zur Handlungsüberlastung, insoweit es nicht gelingt, die alltägliche Lebensführung in festen Zyklen und Routinen zu institutionalisieren. Weil die Lebensführung der jungen Menschen eine solche sich selbst tragende, eigenlogische Systemqualität entbehrt, sind sie mit dem Alltagshandeln zunehmend überfordert. Zu dieser Überforderung steht keineswegs im Widerspruch, dass die jungen Menschen in einem uferlosen Zuviel an Zeit versinken, in dem Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten kaum hervortreten, weil eine strukturierte Handlungssituation nicht zu etablieren ist. In der Tagtäglichkeit des Alltags zerbrechen schließlich Vertrauen und Sicherheit, dass auch am jeweils nächsten Tag das Leben in der bisherigen Weise so weitergeht. Vielmehr sehen sich die jungen Menschen, weil keine lohnenswerte Zukunfts- und Entwicklungsperspektiven hervortreten, an die sie anknüpfen könnten, in die triste Inhaltslosigkeit und Wertlosigkeit eingeschlossen. Angesichts der existentiellen Verzweiflung an der eigenen Situation wird eine aktive, vorausschauende Planung der Lebensführung schließlich im Gesamten preisgegeben. Der Rückzug von der versagenden und frustrierenden Sozialwelt ist an ein Syndrom der Resignation, Niedergeschlagenheit und Apathie gebunden. Die Übermacht der Unkontrollierbarkeit bewirkt eine Regression aller in die Welt ausgreifenden Motivations- und Handlungspotentiale, sodass im Zustand der erlernten Hilflosigkeit das Individuum als Planungs- und Aktivitätszentrum wie paralysiert zu sein scheint. Einzig die Flucht in die Bahnhofsszene wird hier zum letzten Ausweg, führt aber zugleich, gerade wegen der Vernachlässigung aller Lebens- und Weltbezüge, zu einer Vertiefung des sozialen Ausschlusses. Die resignative, apathische Reaktion auf den existentiellen Vertrauensverlust in die Verlässlichkeit der Welt und auf das Entgleiten der Handlungskontrolle kann sich zu depressiven Episoden verstärken. Depression lässt sich als Ausdruck tiefer psychischer Demoralisierung und Verstörung verstehen, weil das Individuum in seinen handelnden Welteingriffen immer wieder ins Leere greift, sodass es seine Lebensenergien ganz von der Welt abzieht. Doch selbst diese regressive Reaktionsform weist noch einen sekundären Gewinn auf, weil eine elementare
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Entlastung von dem Handlungsdruck, eine praktische Verbesserung der eigenen Situation bewirken zu müssen, möglich wird. In gleicher Richtung erlangen Selbstverletzungen die Funktion einer kontrollierten Affektabfuhr, indem der eigene Körper zum Ausdrucksfeld des inneren Schmerzes wird. Schließlich bietet der Suizid die Aussicht auf einen letzten Ausweg, um der zur Verzweiflung treibenden Hoffnungslosigkeit zu entgehen. In ganz ähnlicher Weise lässt sich auch Verwahrlosung als subjektiv funktionale Flucht- und Vermeidungstendenz verstehen, um sich auf dem sozialen Handlungsfeld der Alltagsorganisation nicht weitere Niederlagen, Blessuren und Verletzungen einhandeln zu müssen. Indem sich das Individuum vor den Ansprüchen, Gefährdungen und Übergriffen nicht mehr schützen kann, erfahren sowohl die psychische Integrität der Person als auch die physische Gesundheit ihre fortlaufende Gefährdung und Beschädigung. Hier wird selbst die Sorge um den eigenen Körper, das heißt um die letzte, nicht überschreitbare Grenz- und Rückzugslinie aufgegeben. Schließlich findet sich im Alkohol- und Drogenkonsum eine dritte Reaktionsform, durch die sich die jungen Menschen der peinigenden, entehrenden Erfahrung zu entledigen versuchen, dass sie die hoheitliche Handlungskontrolle über die eigenen Lebensumstände längst verloren haben. Das Rauscherlebnis zielt hier auf Realitätsverdrängung, indem genauso alle kognitiven Verweisungen auf die eigene Misere ausgeblendet wie alle Bedrückung, Apathie und Verzweiflung über die Manipulation der Affekte aufgehoben werden. Dennoch versuchen sich die jungen Menschen den Glauben an eine eigene, gestaltbare, bessere Zukunft zu bewahren. Ihre Änderungswünsche gewinnen oftmals die Bedeutung eines letzten Strohhalms, um sich an diesem festzuhalten. Über Einwände, Zweifel und Schwierigkeiten wird sich leichtfertig hinweggesetzt, um die Ernsthaftigkeit ihrer Veränderungsabsichten umso wirksamer demonstrieren zu können. Ein Scheitern ist aufgrund des Fehlens einer realistischen Einschätzung der eigenen Zukunftsentwürfe häufig schon vorprogrammiert. Eine weitere Strategie besteht darin, an dem letzten Versuch, das eigene Leben doch noch grundlegend zu verändern, festzuhalten, ohne an eine Umsetzung wirklich zu denken, um einen möglichen Misserfolg erst gar nicht zu riskieren. Im Gesamtblick verdeutlicht sich, dass Motivations- und Handlungszusammenhänge aus der Balance geraten, weil das Leben in ganz prinzipieller Weise seine einmalige Qualität verloren hat, im Rahmen gegebener Möglichkeiten gemäß eigener Interessen gestaltbar zu sein. Das Problem ist,
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und dies zeigen Studien zur erlernten Hilflosigkeit immer wieder, dass es die Erfahrung der Ausweglosigkeit, der Unentrinnbarkeit und Zeitlosigkeit des eigenen Leidens ist, die zu einer gravierenden Verstörung des Individuums auf der Handlungsebene führen. In der Arbeitslosenforschung wird dieser Zusammenbruch der individuellen Handlungsfähigkeit, weil die Integration in jene Basisinstitutionen, die für Daseinssicherung und Individualitätsentfaltung zentral sind, misslingt, schon lange beobachtet (Eisenberg & Lazersfeld 1938; Feather & Barber 1983; Bonß, Keupp & Koenen 1984). Mehr noch aber reagieren nach Kronauer, Vogel & Gerlach (1993) Menschen, die dauerhaft am Rand der Gesellschaft stehen, auf die erlittenen Unzumutbarkeiten schließlich mit der »inneren Kündigung«. Schon Lewin beschrieb dies folgendermaßen: »Hat jemand seine Stellung verloren, versucht er, sich seine Hoffnung nicht nehmen zu lassen. Wenn er sie dann schließlich doch aufgibt, beschränkt er vielfach sein Tun weit mehr, als er eigentlich muß. Obwohl er sehr viel Zeit hat, fängt er an, seine häuslichen Pflichten zu vernachlässigen. Unter Umständen hört er auf, seinen unmittelbaren Nachbarschaftsbereich zu verlassen; selbst sein Denken und seine Wünsche werden eng« (Lewin 1953: 152). Die anomische Tendenz von Exklusion kommt auf der Handlungsebene also darin zum Ausdruck, dass soziale Normen und Werte ihre Geltungskraft bei der Prägung individueller Wahrnehmungs- und Handlungsorientierungen einbüßen (Merton 1967; Bohle, Heitmeyer, Kühnel & Sander 1997). Die jungen Menschen verfügen aufgrund ihres sozialen Ausschlusses nicht über die gesellschaftlich legitimen und gebilligten Mittel, um den gesellschaftlichen Zwecken, die Leistung, Wohlanständigkeit und Integration fordern, in ausreichendem Maß nachzukommen. Vielmehr fangen sie an, sich selbst zu den »Überflüssigen« zu zählen, und nehmen in einer zunehmend fatalistischen Haltung ihre Aussteuerung an den sozialen Rand hin (vgl. Bude 1998). Bourdieu bezeichnet jene Haltung als Desillusionierung, die sich in den unteren Sozialschichten aufgrund des steigenden Exklusions- und Entwertungsdrucks immer weiter ausbreitet (1987: 242; 1997). Abseits von der ausgrenzenden Gesellschaft entwickeln die jungen Menschen daher ihre eigenen Lebensstrategien, die sich aus guten Gründen nicht mehr an dem gesellschaftlichen Versprechen orientieren, durch regelmäßige Arbeit an einem Mindestmaß an Wohlstand und sozialer Sicherheit zu partizipieren. Der »Bahnhof Zoo« wird zur Möglichkeit der Selbstbehauptung, indem in Form des sozialen Beziehungsnetzes eine Ersatzwelt entsteht, die den
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sozialen Ausschluss kompensieren kann. Gerade im Kontrast zur Erwachsenenwelt erscheint der »Bahnhof Zoo« als Insel und Refugium, um aus der Gefechtslinie alltäglicher Verkürzungen von Entfaltungsmöglichkeiten und Lebensperspektiven zu fliehen. Auch wenn an diesem marginalen Ort alle Mittel und Ressourcen fehlen, um die eigenen Weltbezüge aus der sozialen Randständigkeit wieder herauszuführen, so wird zumindest wieder eine soziale Welt greifbar. Hier können die jungen Menschen den alltäglichen Zumutungen entfliehen, Unterstützung bei der Organisation des tagtäglichen Überlebens erfahren, sich innerhalb der szeneinternen Statusund Prestigehierarchien unter Beweis stellen, sich eine eigene Identität aufbauen und als Person wieder etwas zählen.
Eine integrative Theorie der Armut
Eine integrative Theorie der Armut muss ihren analytischen Fokus auf das Ineinanderspielen von sozialer Exklusion und psychischer Desintegration richten. Denn gerade die Verbindung der Analyse von objektiven Ausschlussformen und psychischen Subjektantworten hat sich als Schlüssel zum Verständnis der besonderen Dynamik von Armuts- und Exklusionsprozessen erwiesen. Zum Verständnis eines alltäglichen Phänomens wie der Armut war es notwendig, die Erkenntnisansprüche von Soziologie und Psychologie unter dem Anspruch einer interdisziplinären Sozialwissenschaft konvergieren zu lassen. Entlang der vier Dimensionen des psychologischen Subjekt-Integrations-Modells ließ sich zeigen, wie Integration, Orientierung, Identität/Selbstwert und Handlung prekär werden und in einer Dynamisierung und Verfestigung von Armutsprozessen münden. Exklusion erscheint hier als eine teils erzwungene, teils hingenommene Verknappung an gesellschaftlichen Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten, die schließlich zur psychischen Desintegration von Sinn- und Handlungsstrukturen führt, sodass sich vermittelt über den resignativen Rückzug vom sozialen Leben der Aussteuerungsprozess in die Zonen des sozialen Abseits weiter festsetzt und beschleunigt. Diese Exklusions-DesintegrationsDynamik soll daher als integratives Kernkonzept dieser Arbeit zugrunde gelegt werden.
1. Soziologie der Armut: Exklusion In modernen Gesellschaften bilden Klassengrenzen immer weniger objektive Barrieren, die den Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft von Klasse, Stand und Schicht bei ihrem Versuch im Wege stehen, eine zureichende Individualintegration ins gesellschaftliche Leben zu realisieren.
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Dennoch ist die soziale Situation, in der das Individuum als unmittelbarer Erfahrungs- und Handlungskontext steht, dadurch gekennzeichnet, dass diese durch das gesellschaftliche Leben weitgehend vorgegeben ist. Hier findet das Individuum ein strukturiertes Bedingungsgefüge an Möglichkeiten und Beschränkungen seiner Daseinsentfaltung vor. Innerhalb dieser Opportunitätsstruktur, wie diese in der Lebenswelt als konkrete Institutionen und Sozialräume Gestalt annehmen, muss das Individuum seine eigenen Handlungen entwerfen und durchführen. In besonderer Weise steht es vor der Herausforderung, seine Individualintegration entlang zentraler Integrationsbereiche sicherzustellen. Entlang dieser grundlegenden Dimensionen individueller Integration wurden sozialstrukturell verursachte Exklusionsformen analysiert. Mit Blick auf die soziale Seite lässt sich die Exklusions-Desintegrations-Dynamik nun folgendermaßen konkretisieren.
Arbeitsweltlicher Integrationsbereich
Ökonomischer Integrationsbereich
Gesellschaft differenziert in Funktionsbereiche/ Institutionen und lebensweltliche Sozialräume
Sozialräumlicher Integrationsbereich
wechselseitige Dynamisierung von Exklusion
Institutioneller Integrationsbereich
SOZIALE SITUATION: restriktive structure of opportunities and constraints
Sozialer Integrationsbereich Kultureller Integrationsbereich
Abb.4 : Soziale Seite der Exklusions-Desintegrations-Dynamik
Der dynamische Knoten sozialer Ausschlussprozesse findet sich entgegen aller Abgesänge auf die Arbeitsgesellschaft in der Arbeitslosigkeit. Für die soziale Integration des Individuums weist die Arbeitswelt als zentrale Basisinstitution der Individualintegration geradewegs eine komplementäre Zweigesichtigkeit auf: Auf der einen Seite bedeutet Arbeitslosigkeit ein Herausfallen aus den gesellschaftlichen Gratifikations-, Anerkennungsund Sozialbeziehungen. Die Möglichkeit, eine anerkannte soziale Position zu erlangen, setzt die Integration in die Reproduktionsformen gesellschaft-
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lich nützlicher Arbeit notwendig voraus, sodass der Einzelne seinen positiven Beitrag, den er für das Gemeinwesen erbringt, identifizieren und gegenüber anderen ausweisen kann (Honneth 1994: 142). Die Menschen sind in dem Dilemma gefangen, dass selbst wenn sie der Randständigkeit entfliehen wollen, ihnen der Haupteingang in ein gesellschaftlich integriertes Leben, nämlich die Arbeitwelt, verschlossen ist. Vielmehr verfestigt sich hier, wenn man sich ganz hinten am Ende der langen Schlangen der Arbeitslosen, die auf der Suche nach einer Arbeitstätigkeit sind, anstellen muss, die Gewissheit, von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, keine Bedeutung für die Mitmenschen zu haben, als Überflüssiger entwertet zu sein (Bude 1998). Aus der subjektiven Innenperspektive des sozialen Ausschlusses zeigt sich bald kein Ausweg mehr, weil die alltägliche Lebensführung mit dem breiten Verlust notwendiger Teilhabe und Teilnahmemöglichkeiten aus den Fugen gerät. Dies muss umso unüberwindlicher erscheinen, desto länger der Zeitraum ist, während dessen Armut und sozialer Ausschluss alle materiellen, sozialen und persönlichen Ressourcen zur Lebensbewältigung ausgezehrt haben. Auf der anderen Seite mündet Dauerarbeitslosigkeit in der prekären Einkommenssituation, worüber sich der diskrete Ausschluss von allen Lebensbereichen, wo Geld als Eintrittskarte vorzuweisen ist, weiter verschärft. Dadurch ziehen die durch Armut verursachten Integrationsprobleme bei weitem größere Kreise, als dass sich diese auf die unmittelbaren Folgen von Arbeitslosigkeit reduzieren ließen. Die betroffenen Menschen geraten in den Sog sozialer Desintegration, insoweit sich der Ausschluss vom tätigen Arbeitsleben und von der erlebnisorientierten Waren- und Konsumgesellschaft mit dem Herausfallen aus sozialen Lebenszusammenhängen überlagert. Ohne Geld ist die Teilhabe am sozialen Leben, der Kino-, Theater-, Museumsbesuch, die Vereinsmitgliedschaft, ein Bier in der Kneipe, der Anschluss an den Freundes- und Bekanntenkreis nur schwer aufrechtzuerhalten, sodass bald alle Interessen- und Betätigungsfelder brachliegen. Die Verengung der Lebenskreise reduziert die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit immer stärker auf die Wertlosigkeit der am sozialen Rand vorgefundenen Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten und damit auf die banale Dimension der Überlebenssicherung. Armut ist daher Resultat einer restriktiven Verengung der »structure of possibilities and constraints«, sodass die Menschen in dieser »Spirale der Prekarität« von zentralen Gütern und Ressourcen ausgeschlossen bleiben, die einer abgesicherten Lebensbewältigung und einer freien Individualitätsgestaltung vor-
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ausgesetzt wären (Paugam 1995). Die Menschen stehen schließlich umso mehr, wie sie von dem »Feld der Exklusion« eingeschlossen werden, vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens, wissen nichts Rechtes mit dem Tag anzufangen, schlagen die zum Überfluss stehende Zeit tot, wenden sich wegen der Isolation begierig an jede Möglichkeit, die eine Rekonstruktion sozialer Einbindung ermöglicht. In Bezug auf die unteren Sozialschichten wird daher immer häufiger von negativer Individualisierung gesprochen (Heitmeyer 1994: 389; Castel 2000a: 401 ff.). Die Entdifferenzierung und Entbettung sozialer Institutionen führt hier keineswegs zu einer Ausweitung der Options- und Entwurfschancen, eine individualisierte, selbst gestaltete, gegenüber den Alltagszwängen autonome Lebensform zu realisieren. Vielmehr werden die Menschen, die sowieso durch ihre schwache Sozialposition nur in sehr geringem Maße von der Mobilisierung der Gesellschaft profitieren, noch um ihre überkommenen Integrations- und Teilhabeformen betrogen. Die Spezifik kontemporärer Armutsformen besteht gerade darin, dass das Individuum mit der Auflösung traditioneller Sicherheitsbestände, die qua Geburtsrecht einen festen Platz im geschichteten Ordnungsgefüge der Gesellschaft einmal garantiert haben, gleich auf mehreren Integrationsachsen zerrieben wird. Auch wenn über Wohlstand und Wohlfahrtsstaat das existentielle Überleben nicht mehr in Frage steht, so sind immer mehr Menschen schlicht damit überfordert, die Integration in jene Sozialbereiche selbst in die Hand zu nehmen, die in der modernen Gesellschaft für Teilhabe und Teilnahme unabkömmlich sind. Eigenverantwortung wird von den Überforderten nicht als Chance angesehen, sondern diese lastet auf Lebensführung und Biographiemuster umso mehr, wie Orientierungs- und Handlungsmuster als haltbietende, richtungweisende Leitseile abhandengekommen sind. Dies wäre kein Problem, wenn jedem ein Platz in der Gesellschaft garantiert sein würde. In der Konkurrenzgesellschaft wird aber die Verwertbarkeit der eigenen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zur Bewährungsprobe dafür, ob den Individualisierungs- und Selbstverwirklichungsformen ein Wert für das Gemeinwesen beigemessen oder ob man als Überflüssiger an den sozialen Rand verwiesen wird. Eigeninitiative, Selbstbezug und Reflexivität als notwendige Sekundärtugenden des mobilisierten Menschen werden daher für diejenigen, die zu keiner Zeit die Erfahrung machen konnten, dass den eigenen Fähigkeiten und Chancen zu vertrauen ist, zu normierenden Ausschlusskriterien (Bröckling 2007). In
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dem Maße, wie aufgrund sozialen Ausschlusses die Basis der eigenen Handlungsfähigkeit verloren geht, kommt es zum Individualitätszerfall. Dieser persönliche Verfallsprozess im Strudel einer negativen Individualisierung wird auch nicht dadurch aufgehalten, dass der moderne Wohlfahrtsstaat die Alimentierung elementarer Lebensansprüche sichert. Die Überführung des Armutsproblems in einen behördlichen Verwaltungsakt bewirkt eher eine fortgesetzte Partikularisierung und Atomisierung der betroffenen Menschen als einzelner Problemfall. Während sie im Warteraum auf ihren Aufruf waren, um sich in ihrem vereinzelten Armutsschicksal ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum in Form von Sozialleistungen zu erstreiten, erblicken sie in der Gegenwart des anderen nur schamhaft die eigene soziale Minderwertigkeit. Die Beziehung zwischen ihrem persönlichen Schicksal und dem durch soziale Strukturbedingungen verursachten Kollektivschicksal einer sozialen Schicht, die den Verwerfungen sozialer Ungleichheit zum Opfer gefallen ist, wird hier nicht mehr sichtbar. Der Sozialleistungsbezug wird vielmehr zur persönlichen Degradierung und Demütigung (Castel 2000a: 74). Hinzu tritt, dass es durch den gegenwärtigen Umbau des fürsorglichen Sozialstaats in einen aktivierenden Sozialstaat, wo das Gebot eines nicht einklagbaren Förderns und eines mit der ganzen Sanktionsgewalt ausgestatteten Forderns waltet, die schon längst Erschöpften nur mit weiteren Überlastungen konfrontiert sind. Zwar lässt sich durch den regelmäßigen Gang zur Behörde das tagtägliche Überleben sichern, doch als Sozialtransferempfänger bleiben sie weiterhin von der Gesellschaft ausgesperrt, weil die Drehtüren der Arbeitsagenturen nicht in den Eingangspavillon der Arbeitsgesellschaft führen. Schließlich hat diese individualisierende Heilung der schlimmsten Auswüchse von Armut und Ausschluss zudem noch den sozialadministrativ erwünschten Nebeneffekt, dass diese zur Auflösung jener Kompensationsmilieus beigetragen haben, in denen sich als eine »Kultur der Armut« Subsistenz- und Solidaritätsformen tradieren konnten (Lewis 1964). In Berlin finden sich zwar wieder großstädtische Armutsquartiere, aber das soziale Leben bietet dort keinen einheitlichen Erfahrungs- und Lebenszusammenhang mehr, an dem man sich beteiligen kann (Häußermann 2004). Es fehlen die intermediären Institutionen einer sozialintegrativen Armutskultur (Berger & Luckmann 1969), die über politische Gruppierungen, Vereins- oder Gewerkschaftsleben, Tante-Emma-Laden und Eckkneipe und sozial integrierte Nachbarschaft für soziale Solidarität und Kohäsion sorgen (Wilson 1996). Die Auflösung jener Großmilieus, in denen die Ar-
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mut als Kollektivschicksal erfahrbar wurde und durch solidarische Lebensund Überlebensformen balanciert werden konnte, hat es mit sich gebracht, dass der soziale Ausschluss in unvermittelter Härte rasch auf alle Ebenen der Sozialintegration durchschlägt. Ein angestammter Platz im Gemeinwesen ist unter der Bedingung von Armut immer schwerer zu behaupten. Von diesen Erosionstendenzen sind schließlich auch soziale Beziehungen betroffen, die in der individualisierten Gesellschaft, in der jeder seinen eigenen Lebensprojekten und Karrierechancen nachgeht, umso zerbrechlicher sind, je weniger sie von institutionalisierten Lebenszusammenhängen gerahmt werden. Obwohl nun der »Bahnhof Zoo« gewisse Möglichkeiten der Selbstbehauptung bietet, findet sich nur schlechter Ersatz, um sich der Einbindung in eine soziokulturelle Lebensgemeinschaft vergewissern zu können. Die sozialen Randzonen sind in der modernen Gesellschaft längst kein Refugium mehr, sondern hier waltet die Überdetermination des sozialen Scheiterns. Der »Bahnhof Zoo« wird zur Sammelstelle der sozial Exkludierten, die sich auf der Suche nach sozialem Anschluss zusammenfinden, während ihnen von außerhalb die ganze Allmacht der Polizei- und Sicherheitskräfte, die stigmatisierenden Bilderwelten medialer Inszenierungen, die offene Verachtung der Passanten entgegenschlägt. In den verworfenen Zonen des sozialen Abseits findet sich auch unter den Bahnhofsgängern keine verbindende Kultur der Armut, sondern nur ein widerwilliges Bekenntnis zur Bahnhofsszene. Individualintegration erscheint aus den Peripherien des sozialen Abseits nur noch als vage Hoffnung, aber nicht als konkret greifbare Lebensoption.
2. Psychologie der Armut: Psychische Desintegration Die Exklusions-Desintegrations-Dynamik wirkt sich komplementär zu den sozialstrukturellen Verursachungsbedingungen ebenso auf die subjektive Seite aus. Mit der Exklusion gehen nämlich auch die inneren, persönlichen, psychischen Voraussetzungen für eine umfassende Individualintegration verloren. Desintegrationsprozesse wurden in den Sozialwissenschaften bisher vorwiegend aus der sozialen Perspektive untersucht, ohne die psychische Komplementärseite systematisch einbezogen zu haben (Heitmeyer 1997b). Gemäß des zugrunde gelegten Subjekt-Integrations-Modells ist es
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dagegen Anspruch dieser Arbeit, gerade das Zueinander von sozialer und psychischer Seite in das konzeptionelle Zentrum der Untersuchung von Armutsprozessen zu stellen. Diese müssen daher auch in Hinblick auf die Auswirkungen analysiert werden, die das exkludierende Situationsgefüge auf die psychische Realitätsverarbeitung hat. Psychische Desintegration manifestiert sich in Form eines unzulänglichen Integrationsniveaus von Erfahrungs- und Motivationsstrukturen. Einerseits ist zur Bestimmung des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses, das Orientierung, Identität und Selbstwert bietet, die Integration von Sinn durch Ausbildung eines mentalen Repräsentationsmodells von Welt und Selbst notwendig. Andererseits bedarf es zur Etablierung eines strukturierten Austauschprozesses zwischen Subjekt und Welt der Integration von Handlungszielen in realisierbare Motivations- und Handlungszusammenhänge. Desintegration meint hier in der Konsequenz den dauerhaften Verlust der Orientierungs-, Selbstverortungs- und Handlungsfähigkeit, sodass der Aufbau eines zureichenden Niveaus an Individualintegration, um in die soziale Lebenswelt gemäß eigener Bedürfnisse und Interessen zweckrational eingreifen zu können, auch von subjektiver Seite aus misslingen muss. Identität Identitätsdiffusion und gebrochener Selbstwert SOZIALE SITUATION: Exklusion und Restriktionen
Realitätsabwehr und -ausblendung anstatt Umweltoffenheit Sinn-Dissoziation
PSYCHISCHE SITUATION: Erfahrung von Chancenlosigkeit und Vergeblichkeit
Aufschichtung der biographischen Erfahrung des Scheiterns
Orientierung Opazität, Bedeutungsverlust, Aversionen
Mentales Repräsentationsmodell
Abb. 5: Psychische Seite der Exklusions-Dissoziations-Dynamik I: Dissoziation von Sinn
Auf der Sinn-Ebene verdeutlicht sich, dass es nicht allein äußere Armut ist, wodurch sich der soziale Ausschluss geltend macht. Ebenso wirken sich Exklusionsprozesse auf die psychische Situation aus, insofern dass die alltägliche Misere eine »innere Armut« bewirkt. Die Welt tritt in dem ko-
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gnitiven Repräsentationsmodell angesichts der Opazität, des Bedeutsamkeitsverlusts und aversiver Affekte kaum noch als greifbares Handlungsund Lebensfeld hervor. Das ständige Scheitern wird zum unwiderlegbaren Beweis dafür, dass die soziale Welt gerade nicht jener überschaubare, kontrollierbare, sichere Erfahrungs- und Handlungsbereich ist, wo man sich in seiner prekären Existenz verorten kann. Eigene Sinnsetzungen prallen von der Welt ab, weil der individuelle Optionsspielraum durch die marginale Sozialposition auf die engen Grenzen eines »Geschmacks der Notwendigkeit« vereindeutigt ist (Bourdieu 1987: 585 ff.). Die Sozialwelt verweigert sich damit beständig den eigenen Absichten und Entwürfen, während die eigene Person in ein despektierliches Bedeutungsfeld alltäglicher Ausschlusserfahrung und Entwertung gezogen wird. Ebenso wenig bietet die biographische Erfahrung einen selbstgewiss zu vergegenwärtigenden Erinnerungs- und Erlebnisraum, in dem man sich über die Aneignung der Lebensgeschichte der eigenen Identität versichern könnte. Missachtung und Demütigung führen vielmehr dazu, dass den Menschen die Möglichkeit versperrt bleibt, sich als sozial gewertschätzte Person zu begreifen, um darüber Selbstwert, Selbstvertrauen und Selbstachtung zu begründen. Armut und Ausschluss bewirken damit eine tiefe Verstörung des Urvertrauens in die Verlässlichkeit von Welt und Person. Die ständige Infragestellung, Isolation und Negation muss aufgrund der biographischen Persistenz als gegeben und unabänderlich hingenommen werden. Die soziale Welt, die nicht zu kontrollieren ist, wirkt im höchsten Grade demoralisierend, weil die existentielle Verunsicherung das psychische Fundament der eigenen Selbstbejahung und Selbstakzeptanz zerstört (Margalit 1997: 43). In der Konsequenz mündet psychische Desintegration im Hinblick auf die Identitätskonstitution geradewegs in einem Zustand, den Sennett (1998) als »corrosion of character« (Identitätsdiffusion) beschrieben hat, weil die Person in dem Maße innerlich zerbricht, wie Resignation und Apathie das Alltagsleben infizieren (Castel 2005: 38 f.).
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SOZIALE SITUATION: - Exklusion und Restriktionen - Preisgabe von Alltag und Lebensführung - Regression auf Bahnhofsszene
PSYCHISCHE SITUATION: Erfahrung von Chancenlosigkeit und Vergeblichkeit
Handlungsunterlassung und Rückzug
Handlung
Handlungsgründe kreisen um Hilflosigkeit, Resignation und Selbstaufgabe
Abb. 6: Psychische Seite der Exklusions-Dissoziations-Dynamik II: Desorganisation von Handlung
Auf der Handlungs-Ebene zeigt sich, dass den Menschen neben den äußeren auch die inneren Handlungsbezüge entrissen werden. Genauso wie die lebensweltlichen Handlungsmöglichkeiten verloren gehen, erodieren die subjektiven Motivationspotentiale. Die eigene Handlungsfähigkeit ist gegenüber der Übermacht der Exklusionsprozesse nicht zu behaupten. Der am Bahnhof vorherrschende Zustand der erlernten Hilflosigkeit zeigt, dass aus subjektiver Perspektive eine Beeinflussung und Gestaltung der eigenen Situation gemäß eigener Bedürfnisse und Interessen nicht mehr möglich erscheint. Die jungen Menschen ziehen sich daher mit »guten Gründen« aufgrund eigener Entschlusssetzungen, die sich aus der Wahrnehmung der mit der eigenen Situation gegebenen Möglichkeiten begründen, von der Erwachsenenwelt ins gesellschaftliche Abseits zurück. Durch die Vernachlässigung der alltäglichen Lebensführungen werden gerade jene gesellschaftlichen Lebensbereiche preisgegeben, die einer umfassenden Teilnahme und Teilhabe, damit der Individualintegration in die zentralen Basisinstitutionen des sozialen Lebens vorausgesetzt sind. In der Armut
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überlagern sich Exklusion und Selbstausgrenzung, weil infolge von Hilflosigkeit, Resignation und Rückzug die Menschen der äußeren Bedrohung auszuweichen versuchen (Engberson 2004). Exklusion ist daher nicht so sehr Resultat eines gewaltsamen Einschlusses in die Zonen des sozialen Abseits, sondern vielmehr über die psychische Erfahrungs- und Realitätsverarbeitung vermittelt. Selbst real ergreifbare Handlungsmöglichkeiten, die auf eine Verbesserung der Misere verweisen, werden nicht mehr wahrgenommen und umgesetzt. Das Handlungsengagement reduziert sich mit dem Verlust der Individualintegration immer stärker auf die Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus der unmittelbaren Daseinssicherung ergeben. Umso weiter die jungen Menschen ins soziale Abseits abgleiten, desto mehr müssen sie sich in ihrem Subjektbezug entmachtet sehen. Sie beschreiben ihre Situation selbst, als ob sie entgegen ihren Willen unaufhörlich von einer ungreifbaren Kraft an den Bahnhof gefesselt bleiben, ohne über die substantielle Freiheit zu verfügen, diesen verworfenen Ort in einem endgültigen Schritt zu überwinden. Einmal in die Zonen des sozialen Ausschlusses abgedrängt, ist der Ausblick auf ein besseres Leben, in dem Eigeninitiative und Zukunftspläne wieder zählen, zu verhängt und verdüstert. Denn je weiter die jungen Menschen von dem gesellschaftlichen Leben abgedrängt werden, desto beschwerlicher und unüberschaubarer muss der weite Weg zurück erscheinen. Bahnhofsleben, Drogenkonsum und Suizid werden dann für viele zum kurzschlüssigen Ausweg aus der Zukunfts-, Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Die psychische Desintegration lässt die Menschen leer und ausgebrannt zurück, weil es mit dem Verlust subjektiver Sinnsetzung und Handlungsbezüge nicht mehr viel gibt, was der eigenen Subjektivität Substanz geben könnte. Damit ist es gerade nicht der Hunger, wodurch Armut in der modernen Wohlstandsgesellschaft ihre Brisanz erhält. Es ist vor allem der umfassende Kontrollverlust über die eigenen Lebensumstände, der mit einer durchgreifenden Beschädigung von Orientierungsvermögen, Identität und Handlungsfähigkeit endet. Während aus der Außenperspektive der Weg aus der Not so einfach erscheint: Sozialleistungen beantragen, Wohnung anmieten, Ausbildung machen, so erklärt sich erst aus der Zerstörung der inneren Sinn- und Handlungsbezüge, warum die Menschen diese an sich so einfach wirkenden Handlungsschritte nicht mehr unternehmen. Die Armutsproblematik kann daher nur unter Berücksichtigung der psychischen Folgekosten angemessen verstanden werden, die sich aus der Ent-
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wertung von Lebensperspektiven, der inneren Kündigung gegenüber der Gesellschaft, der persönlichen Hilflosigkeit und Verzweiflung ergeben. Armut ist kein Schicksal, welches äußerlich bleiben kann, sondern das Individuum ist mit Leib und Seele in den sozialen Ausschlussprozess einbezogen.
3. Exklusions-Desintegrations-Dynamik Die ganze Brisanz moderner Armuts- und Ausschlussformen, wie diese ihre Macht über Lebenssituation und Biographie gewinnen, entwickelt sich also aus der Exklusions-Desintegrations-Dynamik. Durch den sukzessiven Entzug von lebenswichtigen Ressourcen, die als Einkommen, Freiheiten und Chancen der individuellen Entfaltung vorausgesetzt sind, nehmen die Armutsrisiken immer weiter zu (Böhnke 2006). Mit dem Verlust der Teilhabe- und Verwirklichungschancen einer am allgemeinen Lebensstandard anschließenden Existenzsicherung und Daseinsentfaltung gehen schließlich auch die Sinn- und Motivationspotentiale verloren, sich um die eigene Individualintegration zu kümmern (Sen 2002). Der Armutszirkel, in den die Menschen eingeschlossen sind, ist schließlich kaum noch aufzusprengen, weil die sozialen und psychischen Voraussetzungen, die als Spieleinsatz von den Individuen mitgebracht werden, zu unvollkommen und zu minderwertig sind, um sich hier in der Konkurrenz um die knappen Plätze durchsetzen zu können. Dadurch entgleiten aber zugleich jene äußeren Möglichkeiten, die dafür notwendig wären, die inneren Handlungsvoraussetzungen zu entwickeln. Erfolgreich und durchsetzungsstark zu sein, setzt den Glauben in sich und an die eigenen Fähigkeiten voraus, was aufgrund familiärer Probleme und gesellschaftlichen Scheiterns unterentwickelt ist. Die basale Motivationsorientierung ist daher nicht auf Integration gerichtet, sondern auf Vermeidung eines allzu großen Engagements im Feld des Scheiterns, der Gesellschaft. Dabei sind es vor allem die Perspektiv- und die Hoffnungslosigkeit, die zum Zerfall der psychischen Orientierungspotentiale und Handlungsbereitschaft, das heißt von Sinn und Motivation führen. Die individualisierte Gesellschaft krankt an dem offensichtlichen Widerspruch, dass zwar einerseits das sozialstrukturelle Schichtsystem durchlässiger geworden ist, dass es andererseits, wenn man einmal aus der Arbeitsgesellschaft herausgefal-
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len ist, rasch zur kumulativen Überlagerung sozialer Ausgrenzungsformen kommt. Mit wachsendem Abstand zum gesellschaftlichen Leben wird die Welt immer schwieriger und unverständlicher. Es schwinden alle Hoffnungen, jemals den Weg zurück in die legitimen Sphären der Teilhabe und Anerkennung zu finden. Wenn man sich erst einmal in den destruktiven Fallstricken der Armut verfangen hat, dann wäre die Entwertung eigener Lebenschancen und Selbstbestimmungsmöglichkeiten nur durch eine konzertierte Aktivierung von Ressourcen und Motivationspotentialen abzuwenden. Gerade aber weil an den sozialen Rändern die äußeren und inneren Handlungsbedingungen umso weniger zur Verfügung stehen, mündet die Exklusions-Desintegrations-Dynamik deshalb im »destruktiven Zirkel der Armut«. Es verknappen sich gerade für jene die Optionen, die auf das Vorhandensein von greifbaren Alternativen angewiesen sind. Als Ursache für den sozialen Abstieg kann hier nicht allein auf die sozialstrukturellen Barrieren und Hindernisse verwiesen werden. Angesichts von Individualisierung wird die subjektive Seite immer mehr zum entscheidenden Transmissionsriemen dafür, dass sich Exklusionsprozesse verstetigen, in der Biographie festsetzen und den Betroffenen nicht mehr aus dem festen Griff einer entwerteten Sozialposition entlassen. Die Dynamik des sozialen Ausschlusses resultiert daher aus der Vermitteltheit von objektiven Exklusionsbedingungen und subjektiven Erfahrungs- und Reaktionsformen.
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Soziale Seite: Exklusion
Verlust der Einflussnahme auf die Soziale Situation
Feld der Exklusion: Verengung der persönlichen Möglichkeitsstruktur
Zunahme des Exklusionsdrucks auf verschiedenen Lebensfeldern
ARMUT ALS »CIRCULUS VITIOSUS« DER PERSPEKTIVUND HOFFNUNGSLOSIGKEIT
Dissoziation von Sinn: Alltagstristesse als Leere und Öde
Desorganisation von Handlung: Verlust von Erfolgs- und Wirksamkeitserwartungen
Preisgabe von Lebensführung und Alltag Regression auf marginale Lebensbereiche Hilflosigkeit, Resignation und Rückzug
Psychische Seite: Desintegration
Abb. 7: Exklusions-Desintegrations-Dynamik
In dieser double-bind-Situation gefangen, gleicht die Situation der Marginalisierten dem Münchhausen-Dilemma. Dem Baron Münchhausen, der im Sumpf stecken geblieben ist, bleibt nichts anderes übrig, als sich samt Pferd am eigenen Schopf aus seiner Notlage zu befreien. Ebenso droht derjenige, der einmal aus dem Tritt gekommen ist, auf der »Armutsrutsche« immer tiefer in eine sich prekärisierende Lebenslage abzugleiten. Die Lösung, um der Armut zu entkommen, scheint hier nur auf den ersten Blick so einfach: Jetzt endlich loslegen, sich um alles Notwendige kümmern, damit die eigene Situation sich vielleicht doch noch zum Besseren wenden lässt. Mit den ersten Verselbständigungsversuchen aktualisieren sich jedoch sogleich wieder alle Probleme, die bisher schon dem Lebensweg im Wege standen. Das Perfide und Hinterhältlige an Armut besteht gerade darin,
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dass es umso schwieriger wird, sich aus der prekären Lage zu befreien, desto weniger Ressourcen zur Verfügung stehen. Das Misslingen der eigenen Individualintegration besiegelt sich schließlich im »vicious circle of poverty«. Angesichts dieser zirkulären Begründung der Armuts- und Ausschlussprozesse, die zwischen der Entdifferenzierung äußerer Handlungsbedingungen und der Entstrukturierung von Realitätsbezug und Handlungskompetenz pendelt, zerbricht schließlich der individuelle Daseinsvollzug auf allen vier Dimensionen des Subjekt-Integrations-Modells Integration, Orientierung, Identität/Selbstwert und Motivation. Anhand der massiven Aussteuerung der Bahnhofsgänger in die Zonen des sozialen Ausschlusses ließen sich gerade wegen der Überdeterminiertheit ihrer Armutskarriere die Konsequenzen misslungener Individualisierung sozusagen in konzentrierter Reinform nachzeichnen. In einer Gesellschaft, in der von der integrierten, meinungsbildenden Mittelschicht der Individualisierung als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung individueller Potentiale fast schon gehuldigt wird, um, wie es scheint, die eigenen Bedrohungen und Risiken, die aus den Verwerfungen sozialer Integrationsformen resultieren, auszublenden, wird den Ausgeschlossenen noch die Verantwortung für den sozialen Ausschluss zugeschoben. Von den Betroffenen wird das Unmögliche gefordert, nämlich durch die omnipräsente Erfahrung der Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit aufgestachelt, sich andauernd bemühen zu müssen, einen eigenen Ausweg aus der verfahrenen Misere zu finden. Doch weder stehen die multioptionalen Möglichkeits- und Verwirklichungsräume offen, noch werden die Lebens- und Individualitätsformen als selbstgestaltbar erfahrbar. Die Notwendigkeit zur eigenverantwortlichen Individualintegration in der modernen Gesellschaft bedeutet weniger ein Reich zu entdeckender Freiheiten, sondern sozialen Ausschluss, Verlust sozialer Sicherheit und Vereinzelung. Als subjektiv funktionale Reaktion kehren die Menschen den sich auftürmenden Problemen schlicht den Rücken zu, während der sich festsetzende Verlust der Individualintegration billigend in Kauf genommen wird. Dennoch ist durch Rückzug in die Peripherien der Gesellschaft dem Münchhausen-Dilemma keineswegs zu entgehen. Hier am äußersten sozialen Rand dreht sich der Armutszirkel erst recht mit erhöhter Rasanz, sodass an Ausstieg nicht zu denken ist. Der Bahnhof wäre nicht mehr Treffpunkt der Marginalisierten und Überflüssigen, würde es ohne weiteres möglich sein, Armut und Ausgrenzung aus einer simplen Entscheidung zum Neuanfang zu entgehen. Die meisten hätten sich längst von diesem so
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zwiespältigen Ort abgewendet, um auch für sich Teilhabe und Anerkennung zu realisieren. Damit ist letztlich die Gesellschaft gefordert, allen Menschen die Chance auf eine abgesicherte und anerkannte Sozialposition innerhalb des Gemeinwesens zu eröffnen, sodass nicht die Zone des sozialen Ausschlusses zur letzten und einzigen Möglichkeit wird. Und dennoch bietet die Straße auch den Menschen am sozialen Rand Refugien der Selbstbehauptung. Durch den solidarischen Zusammenschluss stehen sie sich als Mitmenschen und Freunde gegenseitig zur Seite. Gerade in der städtischen Öffentlichkeit schaffen sich jene Menschen, deren vermeintliche Überflüssigkeit ihnen von der Gesellschaft tagtäglich nur zu deutlich vor Augen geführt wird, einzelne Nischen, in denen sie über die gegenseitig entgegengebrachte Anerkennung ein wenig ihres erschütterten Selbstwerts wiedergewinnen können. An diesen marginalen Orten wird es möglich, sich des sozialen Ausgrenzungsdruckes ein Stück weit zu erwehren, indem man auf sein Recht beharrt, als sozialer Mensch zu existieren. Die jungen Menschen schöpfen dabei aus wenig mehr als aus der Gewissheit der Gegenwart des anderen, wodurch jedoch die Entfaltung einer sozialen Wirklichkeit möglich wird, an der sie teilhaben und teilnehmen können. Und vielleicht dient diese Erfahrung irgendwann einmal auch als Ausgangspunkt, um sich in umfassenderer Weise um eine Verselbständigung der eigenen Lebensführung zu kümmern.
4. Was ist zu tun? Die Begründung von Eingreifmöglichkeiten, die sich aus den gewonnenen Einsichten in die sozialen und psychischen Wirkmechanismen, Vermittlungsformen und Auswirkungen von Armut und Exklusion ergeben, würde eine eigene Untersuchung notwendig machen. Dennoch möchte ich im Rückblick auf die Problemanalyse entlang der zentralen Untersuchungsdimensionen skizzieren, welche Konsequenzen aus den dargelegten Befunden zu ziehen sind und wo angesetzt werden muss, um den ausschließenden und desintegrativen Tendenzen der Gesellschaft entgegenzutreten. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass es zur Abschaffung von Armut gerade nicht ausreichen wird, allein die wohlfahrtsstaatliche Alimentierung der Betroffenen zu verbessern. Dies ergibt sich gerade daraus, weil sozialer Ausschluss nicht auf Einkommensarmut zu reduzieren ist, sondern diese
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nur eine Facette im vielgestaltigen Spiel sozialer Ungleichheit bildet, die den Einzelnen ausgrenzt und überflüssig macht. Exklusion und Desintegration lassen sich daher nur aufheben, wenn alle vier Ebenen des SubjektIntegrations-Modells berücksichtigt werden, um eine fundamentale Verbesserung der prekären Situation der Exkludierten zu erreichen: Die Aufhebung von Armut erfordert es, dass die Integrationspfade in gesellschaftliche Basisinstitutionen und Sozialräume für alle Menschen in verlässlicher Weise offenstehen. Anstatt mit Ausschluss und Elend zu rechnen, muss auch der marginal Integrierte eine Chance haben, seine entwertete Sozialposition zu überwinden, um sich innerhalb des sozialen Lebensprozesses mit seinen Potentialen, seinem Engagement, seinen Fähigkeiten betätigen und verwirklichen zu können. Die Entwicklung und Ausbildung individuellen Orientierungsvermögens ist notwendig, um in einer komplexer werdenden Gesellschaft die »richtigen« Entscheidungen über den eigenen Lebensweg treffen zu können. Eine selbständige Aneignung von Wissen, Kultur und Praxis setzt voraus, dass Menschen unter unbelasteten Sozialisationsbedingungen aufwachsen, durch Bildungsinstitutionen gefördert und über reichhaltige Weltkontakte angeregt werden. Interesse, Neugier und Lernbereitschaft lassen sich nur wecken, wenn der Einzelne nicht von den lebendigen Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten seiner Lebenswelt durch Armut und Ausschluss abgeschnitten wird, sondern einen Platz inmitten der Gesellschaft finden kann. Identität, Ich-Stärke und Selbstwert haben ihr Fundament in einem biographischen Erfahrungsfundus, über den sich die Besonderheit der eigenen Lebensgeschichte, die soziale Einbindung und Wertschätzung sowie Souveränität und Handlungsfähigkeit vergewissern lässt. Integrität der eigenen Identität setzt voraus, dass Hilflosigkeit, Missachtung und Wertlosigkeit nicht zur alltäglichen Erfahrung werden, sondern dass die Menschen mit Blick auf ihre Fähigkeiten und Eigenschaften, gerade weil sie von der Gesellschaft gebraucht werden, ein Gefühl des Stolzes entwickeln können. Zur Entwicklung und Entfaltung intrinsischer Handlungs- und Motivationspotentiale müssen Entwicklungs- und Erfahrungsräume geboten werden, in denen man sich schon als junger Mensch der Unterstützung und Fürsorge durch Erwachsene sicher sein kann. Die Gesellschaft und ihre Institutionen müssen von ihren Zugängen her offen gestaltet sein, um Übernahme von Verantwortung genauso für die persönlichen Lebensum-
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stände wie für die soziale Mitwelt zu ermöglichen und zu fördern, wohingegen Armut und Ausschluss nur auf den regressiven Zustand der Hilflosigkeit und Ausgeliefertheit verweisen. Schließlich setzt die Aufhebung von Armut und sozialer Ungleichheit vor allem eine öffentliche Debatte über die Grundlagen unserer Gesellschaft voraus, in deren Mittelpunkt die Erörterung der Sozialen Frage in ihrer Bedeutung für das 21. Jahrhundert gehört. Hier muss die Gesellschaft sich allgemein fragen, ob sie eine wachsende Kluft bei der Verteilung gesellschaftlicher Güter und Ressourcen und damit eine sich vertiefende Segregation sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, die dauerhaft an den sozialen Rand ausgesteuert und herausgedrängt werden, auch weiterhin in Kauf nimmt. Mehr noch aber ist der gegenwärtigen Gesellschaftsform aufgrund der krisenförmigen Entwicklungs- und Erneuerungsschübe einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die den sozialen Wandel längst über die subjektiven Integrationskapazitäten viel zu vieler Menschen hinaus ausgedehnt hat, die Tendenz zur sozialen Desintegration, Entwurzlung und Isolation immanent (Habermas 1981: 275 ff.; Willisch 2008; Heitmeyer 1997b: 15). Die Integrationskapazitäten der sozialen Lebenswelt und der darin lebenden Menschen können mit den aufgewiesenen Exklusions- und Desintegrationstendenzen offensichtlich nicht mehr Schritt halten. Vielmehr ist der Eigenlogik der gesellschaftlichen Systemwelten – speziell Ökonomie und Macht –, die der Lebenswelt fremd und den menschlichen Bedürfnissen gleichgültig gegenüberstehen, zu widersprechen, indem das große Projekt eines humanen, lebenswerten, integrierten Gemeinwesens in den Mittelpunkt sozialer Verständigung und Handelns gerückt wird. Ihre Identität kann Gesellschaft nur über Solidarität, demokratische Entscheidungsformen und ein soziales Miteinander finden, wo die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Hier wird es keine Zauberlösung geben, sondern im besten Falle ließe sich ein gesellschaftlicher Konsens darüber anstreben, wie die Entfesselung der Systemkräfte, insbesondere der globalisierten Arbeitswelt, wieder an Ansprüche der Lebenswelt nach Integration, Teilhabe, Lebensqualität rückzubinden und diese als das eigentliche Primat des gesellschaftlichen Lebens- und Entwicklungsprozesses durchzusetzen sind.
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