Fahrrad als Medium Eine Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens
Magisterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Humb...
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Fahrrad als Medium Eine Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens
Magisterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin von Alexander Klose
Vorgelegt im Februar 2001 Betreuender Erstgutachter: Prof.Dr. Thomas Macho Betreuende Zweitgutachterin: Dr. Astrid Deuber-Mankowsky
Einleitung Erwachen. „Benjamin bezeichnet den Modus des Erwachens - »Erwachen aus dem neunzehnten Jahrhundert«, eine Erkenntnisform, die Elemente aus Traum- und Wachbewußtsein vereine und die im dialektischen Bild ihre stärkste Ausdrucksform habe - als erkenntnistheoretische Methode des Projekts seiner Passagenarbeit. (...) Mein Fahrradprojekt soll Bestandteil der großen zu leistenden Arbeit über das Erwachen aus dem Zeitalter des Automobils werden. Die vektorielle Ordnung des Raumes durch Straßen, seine Homogenisierung durch die Straßenverkehrsordnungen, die »Gefahren und Risiken« des Verkehrs, »Freiheit und Individualismus« der/durch Fortbewegung, sind das »von jeher Gewesene« unserer Epoche, an das es sich individuell anzupassen gilt. Das Fahrrad, Fortbewegungs- und Leistungsoptimierungsmaschine: Produkt und Ausdruck des technischen Dispositivs und zugleich Schlafwandler: Medium »romantischer« Träume von Muße, Reise, Landschaftsschau - einer »ganz anderen« als der entfremdeten maschinisierten und linearisierten Fortbewegung - ist G r e n z g ä n g e r (Schwellentreter) in der Epoche des Autoverkehrs.“1 Als Simon Sparwasser nach zweieinhalb Monaten philosophischen Fahrradtouren dieses Programm zur Weiterführung und Ausarbeitung des bike´n phile Projekts formulierte, war mir nicht wirklich klar, in welche Tiefe und vor allem Breite mich dieses führen würde. Obwohl keiner der folgenden Texte den Rahmen des auf wenigen Zeilen ausgebreiteten Konzepts verlässt, konnte ich in der Zeit und in dem Raum, die/der mir für die Ausformulierung dieser Arbeit zur Verfügung stand, unmöglich in der angemessenen Gründlichkeit und Ausführlichkeit auf alle meines Erachtens wesentlichen Aspekte der sich überlagernden Dispositive von Fahrrad und Automobil eingehen. So mussten einige Aspekte, die in meinen ersten Gliederungen fest verankert waren, vorläufig unbehandelt bleiben. Nicht berücksichtigen konnte ich in der Arbeit in der hier vorliegenden Form den Zusammenhang zwischen Individualverkehr und Stadtentwicklung, auf den nur an einigen Stellen kursorisch verwiesen wird. Bereits in den Überlegungen der Fahrradtheoretiker um die Jahrhundertwende kündigt sich eine 1
Simon Sparwasser, bike´n phile - website, EinTrAG am 30.9. (Paris / Erwachen: Der Traum des Autoverkehrs),
1999.
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Trendwende in der Stadtentwicklung an, die mit dem Automobil ihren radikalen Vollzug erfahren wird und in der Entstehung postmoderner, länderüberspannender Stadtgebilde gipfelt, zu denen das Knüpfen flächendeckender Autobahnnetze ebenso gehört, wie die Aufweichung urspünglich zentralistischer Stadtstrukturen. Vermutlich ließe sich der Zusammenhang zwischen Verkehrspolitik und Stadtentwicklung beispielhaft an dem Verdrängungsprozess der Eisenbahn durch das Automobil - welcher die Argumente für das Fahrrad übernimmt - in den USA untersuchen. Sparwasser war im Laufe seiner Tour zu der Überzeugung gelangt, dass ihm ein Verlassen der Stadt strukturell unmöglich sei, da er sie unter seinen Rädern mit sich führe. Ein weiterer zentraler Aspekt, der draußen bleiben musste, ist der Zusammenhang zwischen Industrialisierung, Arbeit und Sport, wie er sich in der Rekordorientiertheit des Rennsports und seiner Ausstrahlungswirkung auf die breitensportliche Verbreitung des Fahrrads sowie dessen technischer Entwicklung, beispielhaft ausdrückt. Eine Untersuchung in dieser Richtung müsste sich m.E. an den bahnbrechenden Untersuchungen Henning Eichbergs zur Entstehung des modernen Sports als Ausdruck der grundlegenden Veränderung des Verhaltens gegenüber Zeit und Raum ausrichten. Der dritte Zusammenhang, den darzulegen mir hoffentlich zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist, weil ich ihn jetzt nicht berücksichtigen konnte, ist der Komplex einer gewissen Vorstellung von Emanzipation durch Technik. So findet sich fast keine größere deutschsprachige Darstellung der Geschichte des Fahrrads, die nicht die Bedeutung des Fahrrads für die Emanzipation der Frau hervorhebt. Das Gleiche gilt, mit einer zeitlichen Verzögerung von ein paar Jahren und in etwas kleinerem Umfang, auch für die Arbeiterfrage. Die meisten Autor/innen beschränken sich jedoch auf eine Aneinanderreihung der immer gleichen Quellen, welche die Begeisterung oder die moralische Empörung der Jahrhundertwende spiegeln und lassen sich ansonsten von ihrer eigenen Begeisterung über die - in der Tat! - beeindruckende Deutlichkeit der Quellen jener Zeit forttragen. Dahinter scheint mir ein gleichsam evolutionäres Modell gesellschaftlicher Entwicklung zu stehen, das seine Wirksamkeit nicht auf dem Feld der politischen oder philosophischen Diskurse, sondern auf der Basis technologischer bzw. ökonomischer Entwicklungen begründet. Welche Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen der Darstellung der emanzipatorischen Wirkungen des Fahrrads und der anderer neuer Technologien finden? Gibt es strukturelle Übereinstimmungen zwischen
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den Artikulationen der verschiedenen gesellschaftlichen Reformbewegungen um die Jahrhundertwende - ob “technikfreundlich” oder “technikfeindlich” - und wie gestaltet sich das Wechselverhältnis mit der machtvoll sich entfaltenden Produktwerbung auf Plakaten und in Zeitschriften? Eine diskursanalytische Untersuchung dieser Zusammenhänge könnte vielleicht einiges zur Erkenntnis der Konstitution von bis heute wirksamen Mythen über die Bedeutung reformerischer und gegenkultureller Bewegungen seit Beginn des 20.Jahrhunderts zutage fördern. Die Arbeit konzentriert sich stattdessen zum einen auf die Teile, welche die Techniken der Erzählung - der Fahrradtour, der gesellschaftlichen Wirkungen des Fahrrads - untersuchen; zum anderen auf die technologie- und wahrnehmungsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen das Fahrrad sich entwickelte und durchsetzte. Der erste Teil der Arbeit ist also eher diskursanalytischen und klassisch geisteswissenschaftlichen Fragestellungen verpflichtet, während der zweite sich verstärkt in eine kulturhistorische und medientheoretische Perspektive begibt. Im letzten Kapitel versuche ich eine erkenntnistheoretische Reprise des zuvor kulturwissenschaftlich Erarbeiteten und zugleich eine explizite Weiterführung der Sparwasser-Fragestellungen, indem ich Texte aus dem bike´n phile-Projekt mit aktuell geschriebenen montiere. Die Arbeit beschränkt sich bewusst im wesentlichen auf den Zeitraum zwischen etwa 1870 und kurz nach 1900, da in diesem die Hochzeit des Fahrrads als Übergangsmedium liegt; aus einer ersten, kollektiven, Phase der Industrialisierung der Umwelt und des Verkehrs in die zweite, individualtechnologische, welche vielleicht noch heute andauert. Alle wesentlichen Äußerungen sind in dieser Zeit formuliert worden, bis auf diejenigen, welche aus einer verkehrspolitischen oder historischen Perspektive die Renaissance des Fahrrads seit den 1970er Jahren begleiten und vorantreiben. Für eine alltagskulturelle oder sozialhistorische Untersuchung mag der Zeitraum nach dem ersten Weltkrieg und bis zum zweiten oder noch darüber hinaus interessant sein, weil sich die Durchsetzung des Fahrrads als Massenverkehrsmittel dann noch weiter fortsetzt und zu seiner größten zahlenmäßigen Ausbreitung führt. Für eine diskursanalytische und ideengeschichtliche Arbeit dagegen gibt es da nichts mehr zu holen. Auch die genealogische Fragestellung nach dem Imaginären des Automobilismus findet dann keine Zeugnisse mehr.
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Vorspiel: Das Velociferische Ein neuer Kanal für Spiritualität: Nach vielen vielen hundert Seiten und einer inneren und äußeren Reise, die ihn zu der Pilgerstadt Rom, dem Wallfahrtsort Lourdes und in die Elendsviertel von Paris geführt hatte, bricht der Held von Emile Zola´s im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts verfasster Romantrilogie »Les trois villes«, Pierre Fromment, endlich und endgültig mit seinem Priestertum1. Nirgends hatte er gefunden, wonach er sucht, nämlich eine glaubwürdige und integre Art und Weise, den christlichen Glauben im hochkapitalistischen und materialistischen 19.Jahrhundert zu predigen und zu leben. Mit einer Zielsicherheit, die in auffälligem Widerspruch zur sonstigen epischen Breite Zolascher Charakterentwicklung steht, gibt bereits die unmittelbar an den Bruch anschließende Szene die Richtung für den Ausweg aus Pierres Identitäts- und Glaubenskrise; eine Krise, die er nach einer weitverbreiteten Auffassung - jedenfalls aber nach der seines Autors - mit einem Großteil der Menschen seiner Epoche teilt. Pierre bricht zu einer Tour auf, die ihm die verlorengegangene „Gesundheit und Kraft” dauerhaft wiederbringen wird - eine Radtour, eine neue Aufgabe, eine beginnende Liebe. „Sie müssen unbedingt die Freude kennenlernen, auf einer guten Straße zwischen schönen Bäumen dahinzuradeln.”2, sagt die Frau zu ihm, mit der er ein neues Leben beginnen wird, und die sicher nicht zufällig Marie heißt. Eine himmlische Freude, und doch so irdisch. „Es war ein herrlicher Morgen. (...) Aber es war noch etwas anderes: die gesunde, frische Luft, die Freude an der gemeinsamen sportlichen Betätigung, das große Vergnügen, sich draußen in der Natur frei und gesund zu fühlen. (...) Nichts an ihm verriet mehr den Priester außer dem kürzeren Haar an der ein wenig helleren Stelle der im Verschwinden begriffenen Tonsur.“3
Am Ende des 19.Jahrhunderts ist die Fahrt industrialisiert. Der maschinegewordene Rationalismus der Eisenbahnnetze und Dampfschifffahrtslinien umspannt weltweit die Erde. Im ersten Drittel jenes Jahrhunderts, als sich die reale Erreichbarkeit jedes beliebigen Ortes auf der Erde erst ankündigte, hatte Goethe das treibende Prinzip, die Mobilisierung der Zeit selber, die - als „neue“ - das Moment ihrer Überwindung immer schon in sich trägt, erkannt und benannt: „man verspeist im nächsten Augenblick den vorhergehenden und so springts von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil. Alles veloziferisch.“4 1 Emil Zola, Paris, Wiesbaden 1980, S.462f. Die Romane sind ursprünglich in folgender Reihenfolge erschienen: »Lourdes«, Paris1894; »Rome«, Paris 1896; »Paris«, Paris 1898. 2 Zola 1980, S.465f. 3 ebda. 4 J.W.Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Goethe Werke Bd.12, Hamburg 1953, S.380; zit.n. Hoeges 1985, S.9.
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Bereits 1799 klingt dieser Ausdruck in der Bezeichnung von Prototypen des Fahrrads an, Laufrädern, die im „Journal de Paris“ erstmals als Vélocipède (schnellerer Fuß) beschrieben werden. Der Konstrukteur de Sivrac - welcher in der französischen Fahrradgeschichtsschreibung allgemein als Erfinder des Ur-Fahrrads gehandelt wird (während in der deutschen der Freiherr Karl von Drais mit seiner 1818 patentierten und nach ihm benannten lenkbaren Draisine als eigentlicher Vorläufer gilt) - nannte seine Laufräder, mit denen er 1791 erstmals auf den Straßen von Paris zu sehen war, Célérifère („schnelles Eisen“). Dass die sich bereits einer gewissen Verbreitung und Beliebtheit erfreuten (obwohl kein einziges von ihnen erhalten ist), lässt sich vielleicht aus der Tatsache schließen, dass 1804 im Théatre du Vaudeville ein Singspiel mit dem Titel „Les Vélocifères“ uraufgeführt wurde.5 Jedenfalls taucht in dem Titel des Stücks, durch die Fusion der beiden vorgängigen Namen der Fahrradprototypen, eben jene Bezeichnung auf, die Goethe adjektiviert zum Charakteristikum der neuen Zeit erheben wird. Doch das - gleichermaßen materielle wie metaphorische - Gefährt der technischen Beschleunigung ist natürlich die Eisenbahn. ”Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig.” 6 In diesem berühmten Zitat Heinrich Heines, aufgeschrieben in Paris angelegentlich der Eröffnung der Eisenbahnlinien Paris-Orléans und Paris-Rouen im Mai 1843, kommt die Erschütterung zum Ausdruck, welche Zeitgenossen angesichts der Einführung des Prinzips industrialisierter Geschwindigkeit ergriff. Es gibt eine Auffassung wieder, die zu dieser Zeit gang und gäbe war und nach deren Maßgabe sich die Menschheit in den (werdenden) Industrienationen teilte in Befürworter und Gegner des technischen Fortschritts, in solche, die um die verlorene Überschaubarkeit trauerten und solche, die die Effekte der neuen Technologie stürmisch begrüßten und mit utopischen Hoffnungen aufluden. (Das Motiv eines Kampfs gegen den Raum findet sich, restlos ins Selbstverständliche und Positive gewendet, noch 1924, in einem Lexikontext über das Fahrrad wieder: „Das Fahrrad ist also eine gute Waffe beim Kampf gegen den Raum.“7) Überwindung bzw. Zerstörung von Raum (und Zeit) entweder interpretiert als Verlust von Gewissheiten und Hoffnungen, oder als Gewinn neuer Gewissheiten und
5 Diese und die vorhergehenden Informationen über die Frühgeschichte des Rads aus: Gronen / Lemke 1978, S.25. Hier findet sich auch - allerdings ohne Quellenangabe - der Hinweis, Goethe habe am 29.1. und 2.2.1818 in Jena Studenten auf Drais´schen Laufmaschinen beobachtet; ebda., S.29. 6 H.Heine, Werke und Briefe Bd.6, Berlin 1972, S.478; hier zit.n. Hoeges 1984, S.18. 7 Artur Fürst, Das Fahrrad, in: ders., Weltreich der Technik, Bd.2,, S.55.
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Hoffnungen durch die Möglichkeit der unbegrenzten Verbreitung von Ideen; „der Geist geht gleichsam auf Reisen, die Ideen öffnen ihre Schwingen“.8 Hoeges betont die Unvereinbarkeit von romantischer Weltsicht und den Auswirkungen der Technisierung. „Die Technik und ihr pars pro toto, die Eisenbahn, die neue Zeit, die Moderne: das Ende von Traum, Laune und Zufall, Mensch und Welt trigonometrisch bezwungen und beherrscht - eine romantische Vision.“9 Wie Koschorke ausführt, internalisierten jedoch auch die entschiedensten Widersacher der Industrialisierung deren Struktur: ”Die romantischen Dichtungen, in denen das Leiden an den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen thematisch und manifest wird, (...) nehmen die von der bürgerlichen Produktionsweise entfesselte Dynamik als formales Strukturprinzip in sich auf, um diese Dynamik dann auf einen Erwartungshorizont zu beziehen, der sie als ganze transzendieren soll (...) Sie steigern den aufgeklärten Panoramablick, der sich in herrschaftlicher Überschau gefällt, zur Reise in das Unbekannte, das jenseits solcher Weltbeherrschung liegt. So verschiebt sich das utopische Zentrum von der progressiven Vereinnahmung der Raum- und Zeitenferne auf den unsichtbaren und namenlosen Ort, der um den Bruchteil eines Gedankenschritts alle Vereinnahmungen überbietet.”10
Geschwindigkeit ist das Prinzip, welches also diesen eskapistischen Impulsen ebenso zugrundeliegt wie den rationellen Steigerungen der Produktivkräfte. Dies ist wichtig festzuhalten, um sehen zu können, wie verschiedenste Transzendenzhoffnungen - auch und vielleicht gerade die der Gegner des technischen Fortschritts - in Denken und Bewusstsein der neuen Zeit implementiert werden. Das Veloziferische durchdringt alle Ideen der Moderne. Die anti-modernistische Utopie ebenso wie die technische. Das Veloziferische kann als die Struktur begriffen werden, die sich mit versprengten transzendenten - religiösen, idealistischen, ideologischen - Gehalten verschiedenster Art bestückt. Der panoramatische Blick aus der Eisenbahn - die Unmöglichkeit, den Vordergrund scharf ins Bild zu kriegen, der stete Wechsel der Bilder im Mittel- und Hintergrund - kann auch als technische Aktualisierung der progressiven Flucht aus dem einen Panorama begriffen werden. ”Fortbewegung als solche, die schnelle Abfolge von Landschaftsansichten, gewinnt (...) einen utopischen Zug. (...) Das Gegebene versinkt und wird überblendet von der Möglichkeit dessen, was abwesend ist und zugleich magische Anziehung übt. So kommt es zu der für die romantische Imagination wesentlichen Bewegung, nämlich zur permanenten Flucht auf den Horizont zu.”11 Kann man also in dieser Sichtweise behaupten, dass schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts Gegner wie Befürworter der Mechanisierung in einer ”technisierten” epistemologischen Ausgangslage sich befinden, so ist die zweite Hälfte desselben mit ihren Welle auf Welle anbrandenden Industrialisierungs- bzw. Technologisierungsschüben zutiefst geprägt von der Auseinandersetzung mit und um
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Hoeges 1984, S.15. ebda., S.17. 10 Koschorke 1990, S.219. 11 Koschorke 1990, S.208. 9
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die neuen ”technischen” Lebenswelten des industrialisierten Bewusstseins12. Der Streit der verschiedensten politischen - sozialistischen, anarchistischen, demokratischen, religiösen, technologiefeindlichen oder -freundlichen, utopischen oder skeptizistischen, in jedem Fall veränderungsorientierten - Bewegungen schien zum Ende des Jahrhunderts in keinster Weise geklärt, sondern im Gegenteil im Zustand einer heillosen Verwirrung. ”Woher blies der Wind? Wohin segelte das Schiff des Heils, nach welchem Hafen sollte man sich einschiffen? Er hatte sich bereits gesagt, daß er die Bilanz des Jahrhunderts ziehen und, nachdem er das Erbe Rousseaus und der anderen Vorläufer angetreten hatte, die Ideen von Saint-Simon, Auguste Comte, Proudhon und auch Karl Marx studieren müsse, um sich wenigstens über den zurückgelegten Weg (...) klarzuwerden.”13
Emile Zola, der, 1840 geboren, einen bedeutenden Teil der umwälzenden Veränderungen in der ”Hauptstadt des 19.Jahrhunderts” selbst miterlebt hat, verkörpert die Transformation eines romantischen Weltbilds in konkrete und technik-basierte Sozialutopie. Nach romantik-beeinflussten Anfängen wurde er zum Wegbereiter und bedeutendsten Vertreter des Naturalismus. In seinen utopischen Spätschriften kommt die geistige Prägung durch den utopischen Sozialisten Charles Fourier aber auch durch die Arbeits- und Maschinengläubigkeit der Saint-Simonisten deutlich zum Ausdruck. In der „Drei-Städte-Trilogie“ tritt an die Stelle des grüblerischen Laborierens an einer nicht mehr zu rettenden Religion der Vergangenheit die durch einen utopischen Glauben an die sozialreformerische Kraft des technischen Fortschritt beseelte Arbeit an der Modellierung der Zukunft. An die Stelle der obsolet gewordenen Pilgerreise und Wallfahrt tritt die feiertägliche Ausfahrt mit dem Fahrrad in die umgebende Natur zur physischen und seelischen Regeneration14. Zolas Schilderungen spiegeln eine lebensreformerische Grundstimmung am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder: das Bild einer natürlichen Gesundheit des Körpers und das Entstehen eines neuen, damit verbundenen Schönheitsideals, eine physiologische und zugleich metaphysische Sicht auf die Segnungen der freien Natur, das Ethos einer ganzheitlichen nichtentfremdeten Werkstatt-arbeit als Reflex auf die Industrialisierung der Arbeit, die Vorstellung einer natürlichen Spiritualität, die sich aus den für sinnvoll erachteten Existentialien Arbeit, Humanität, Fortschritt (als Entwicklung zu einer gerechten und 12
vgl. Schivelbusch 2000 Kap.10, S.42ff. Zola 1980, S.160. 14 Das Fahrradfahren genoss gerade unter Schriftstellern - den potentiellen Verkündern bzw. Ausformulierern eines solchen Programms - enorme Popularität zu dieser Zeit. ”Die Durchsicht von Biographien, Briefwechseln und Tagebüchern läßt den Eindruck entstehen, um die Jahrhundertwende hätten fast sämtliche Autoren und Autorinnen in die Pedale getreten.” (B.U.Hermann, Das Fahrrad in der englischen Literatur 1880 bis 1960, S.27) Um nur einige der berühmtesten zu nennen, die sich auch schriftlich dazu geäußert haben: Tolstoj, R.Kipling, H.v.Hoffmansthal, A.Schnitzler, F.Wedekind, Th.Mann, A.C.Doyle, H.G.Wells, G.B.Shaw, A.Jarry, E.Zola, G.Hauptmann, M.Twain. 13
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friedlichen Gesellschaft) nährt. Auf diese Weise bekommen der Ausflug in die Natur und die konstruktive Arbeit am Fortschritt zum Wohl der Allgemeinheit eine religiöse Dimension, die nicht mehr genährt ist von dem Glauben an Gott sondern von einem Glauben an Programme - wissenschaftliche und/oder politische. ”Wer auch nur einen Hauch des neuen Geistes in sich verspürt, dessen Erziehung zum modernen Menschen muß das Fahrrad vollenden.”15
Dem Faktor Bewegung kommt in den utopischen Entwürfen eine zentrale Bedeutung zu. Wird die Eisenbahn geradezu ineins gesetzt mit den negativen Auswirkungen der großindustriellen Revolution - Vermassung, Vereinzelung, Verelendung, die permanente Notwendigkeit einer seelenlosen Bewegung - so markiert das Fahrrad den Anfang einer ”klein- oder individualindustriellen” Revolution. Unter den modernen, durch die Intensivierung von Handel und Industrie beschleunigten Lebensbedingungen rückerobert es die in den Städten verlorengegangene Möglichkeit der individuellen Gestaltung der Fortbewegung (und damit des Lebens) und ermöglicht die temporäre Flucht ”auf´s Land”, in die neu- und wiedergefundene Natur. Die ideologisierte Fahrradfahrt verkörpert geradezu idealtypisch die anachronistische - oder man müsste eigentlich sagen: diachronistische - Verfassung der bedeutenden lebensreformerischen und utopischen Entwürfe ihrer Zeit: absolut modern zu sein und zugleich im Rückgriff auf angeblich Verlorenes, Altbewährtes den eigenen Wert aufbauend. Die Erfindung des Fahrrads ist die technische Voraussetzung, die eine Wiederholung des lebensreformerischen Programms von Rousseau unter den industrialisierten Bedingungen der Moderne, und damit die Formulierung eines solchen Programms für die Moderne, ermöglicht. ”Daß wir in der freien Natur in Luft und Sonne baden, zu unserer gemeinsamen Mutter Erde zurückkehren und neue Kraft und Fröhlichkeit aus ihr schöpfen - darin liegt vor allem unsere glückliche Errungenschaft! Sehen Sie nur! Ist dieser Wald, durch den wir gemeinsam fahren, nicht herrlich? Und die gute Luft, die wir dabei einatmen! Wie uns das reinigt, beruhigt und ermutigt!”16
Die Ausfahrt in die Natur gewährt Reinigung, Beruhigung und Ermutigung. In früheren Zeiten ging man in die Kirche, um solcher Segnungen teilhaftig zu werden. Die Radtour substituiert den Gang zur Kirche - wie im Himmel so auf Erden - nach Auffassung der Lebensreformer wie der Gegner des Fahrrads. Der Fahrradphilosoph Eduard Bertz über die geistliche Situation um 1900: ”Dagegen dürfte man es in dem kirchenmüden Deutschland als keinen schweren Verlust betrachten, wenn die Jugend sich sonntags von ihrem Rade in die freie Natur hinaustragen läßt (...). Es mutet seltsam an, wenn Schneidewin in seinem Buche über »Die antike Humanität« von den Radlern und Bootfahrern, die 15 16
Eduard Bertz, S.182. Zola, a.a.O., S.468f
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sonntags ihren Sport ausüben sagt, daß sie »den Kirchenbesuchern die Gleichgültigkeit gegen das, was andern heilig ist, aufdrängen«. Man gewinnt den Eindruck, als wolle er vielmehr andern aufdrängen, was ihm heilig ist. (...) Wenn ein Radfahrer in der Feiertagsstille mit leuchtenden Augen an einem schönen Aussichtspunkte Halt macht und aufatmet in freudiger Naturandacht, so ist er dem Höchsten vielleicht näher als die Gemeinde unter der Kanzel.”17
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Bertz 1900, S.84.
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Kinetische Utopie ”Das ist ... die Frage, ... ob das moderne Ganze von der Seinsweise loskommen kann, die ontologisch durch die Formel Sein-zur-Bewegung bestimmt ist.” (Peter Sloterdijk)
„In England hat der Radsport ein neues Wort geschaffen (...). Wie man unter Zivilisation die Umwandlung eines barbarischen Zustandes in einen Kulturzustand versteht, so wird die besondere Kulturmission, die das Fahrrad (cycle) auf die öffentlichen Zustände ausübt, von den Engländern Cyclisation genannt. Das Fahrrad gilt ihnen also als ein Kulturfaktor und die Cyclisation als eine höhere Stufe der Zivilisation.”1 Dem Nachweis der „besonderen Kulturmission” hat Bertz eigentlich sein ganzes Buch über die Philosophie des Fahrrads gewidmet. Sie betrifft außer der Hebung der Volksgesundheit und dem damit bewirkten „Kampf gegen die Entartung” auch die Förderung bzw. Herausbildung individueller Tugenden wie Aufmerksamkeit, Willenskraft, Selbstvertrauen, Mut, Entschlossenheit, Geistesgegenwart, Kaltblütigkeit, Thatbereitschaft, Ordnungsliebe und Sauberkeit. Doch geht der Nutzen noch weiter: „Es ist gar kein Zweifel, daß man auf dem Rade die Welt, wenn nicht von einem höheren, so doch von einem neuen Standpunkte aus anschauen lernt. Allerlei Staub und Spinnweb fällt von uns ab, sobald wir uns dem Sport ergeben, wir sehen die Proportionen und Beziehungen vieler Dinge in klarerem Licht, brechen mit früheren Irrtümern und treten heraus aus der alten Enge unseres Horizonts.” Das Fahrrad ist die Waffe in dem Kampf, den „eine neue, aufsteigende Zeit gegen die alte, stinkende führt.”2 Schließlich wird das Fahrrad zur Hebung des allgemeinen Kulturniveaus beitragen, indem die dadurch ermöglichte erhöhte Verkehrszirkulation die Trennung von Stadt und Land aufhebt und beide voneinander profitieren: „Die Stadt kommt ins Dorf, das Dorf kommt in die Stadt, die Trennung hat aufgehört, das Volk wird eins. Die Ära des Fahrrads, das ist die neue Zeit mit einer neuen, weiteren, reicheren Zivilisation.”3
Solche Auffassungen vertritt um die selbe Zeit - obgleich mit etwas weniger Pathos - auch der Wiener Volkskundler Michael Haberlandt, der das Fahrradfahren als „gründliche und strenge Schule der Selbstzucht und der Geistesgegenwart” und als
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Bertz 1900, S.192. a.a.O., S.180f. 3 a.a.O., S.192. 2
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„Seelenarcanum” preist und zu dem Schluss kommt, seine weite Verbreitung könne nicht ohne positives „moralisches Gesamtresultat” für die moderne Gesellschaft bleiben. „So hätten wir um die Wette mit anderen Dankbaren, die uns einen Schopenhauer oder Rembrandt als Erzieher preisen, auch mit einigem Recht über diese Zeilen den Titel setzen können: ”Das Fahrrad als Erzieher.”4
Obwohl am Ende des 19.Jahrhunderts die Fortschrittsgläubigkeit ihren Zenith bereits überschritten hatte, formuliert sich in der Cyclisation ein Programm, das von reinstem Zukunftsoptimismus getragen zu sein scheint. Der Verweis auf den Zivilisationsprozess ist nicht zufällig, gab seine Erfindung durch die Aufklärung doch das Muster vor, nach dem sich moderner Fortschrittsglaube ausrichtete. Norbert Elias hat das Wesen des ”Zivilisationsprozesses” folgendermaßen beschrieben: ”Durch den Fortschritt des Wissens (...) soll die Verbesserung der Institutionen, der Erziehung, der Gesetze ins Werk gesetzt werden. Für einen bestimmten Aspekt dieses ganzen fortschreitenden Reformprozesses hat man sich im gesellschaftlichen Verkehr einen festen Begriff geschaffen: ‚civilisation‘.”5 Denn die „Zivilisation“ hatte dazu geführt, dass sich der Einzelne bloß noch als Stückgut in der prozessierenden „Selbstbewegung der abendländischen Gesellschaft“ fühlen konnte, als Stückgut des industriell revolutionierten Transportwesens - oder als hoffnungslos außenseiterischer Phantast.6 Die Cyclisation kann als Versuch gelesen werden, das aufklärerische Programm, das auf die Autonomie des Menschen zielte, mit Hilfe der modernen Technik zu erneuern. „Das Ziel war eine Versöhnung des eigenen Gesellschaftsideals mit der Technik, um eine andere und bessere Moderne zu verwirklichen.”7. Sloterdijk deutet die ontologisch-epistemologische Ausgangslage der Moderne als kinetische Utopie und erklärt aus ihrem „Projektcharakter“, wie ein Optimismus sich aufrechterhalten und erneuern kann, ohne begründet zu werden. „Der Projektcharakter dieses Neuen Zeitalters resultiert aus der großartigen Unterstellung, man könne in ihm den Weltlauf bald so laufen machen, daß sich nur noch das bewegt, was wir durch unsere eigenen Aktivitäten vernünftigerweise in Gang halten wollen. Das Projekt der Moderne gründet somit (...) in einer kinetischen Utopie: die gesamte Weltbewegung soll Ausführung unseres Entwurfs von ihr werden. (...) Es
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Haberlandt 1900, S.132. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd.1, Frankfurt 1981, S.59f. Der rationalistische Fortschrittsglaube der Aufklärung entwickelt sich zu einem selbstläufigen Motor. Der Geschichtsprozess bedarf der Subjektivität der Menschen, durch die er quasi in der Zeit hindurchgeht, fortan nicht mehr. Partizipation bedeutet nach Hegel Aufgehobenwerden, also Verlust jeder Subjektivität. Streben nach Unabhängigkeit von diesem verobjektivierten gesellschaftlichen Entwicklungsprozess dagegen kann nach Schlegel nur zu dem Preis eines völlig verlorengegangenen Realistätsbezugs rein im Imaginären sich verwirklichen; vgl. Sting 1991; S.232. 7 Rohkrämer 1999, S.32. Thomas Rohkrämer weist darauf hin, dass auch Zivilisationskritik (in Deutschland) nach 1880 sich nicht mehr durch einen einseitigen, rückwärtsgewandten Bezug auf Verlorengeglaubtes auszeichnete. Vielmehr sollten industrialisierte Gesellschaftsform und Natur in ein jeweilig unterschiedlich bestimmtes vernünftiges Verhältnis gebracht werden. Vielleicht kann man die gesamte Entwicklung der Moderne im 20.Jahrhundert bis heute auf den Nenner dieser Bewegung bringen (vgl. das Motto der Expo 2000 in Hannover: Mensch-Natur-Technik.) 5 6
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wäre zuwenig, wollte man sagen, daß die Moderne die menschliche Geschichte von nun an selber zu machen versprach. In ihrem heißen Kern will sie nicht nur Geschichte machen, sondern Natur. (...) Das entscheidende Thema der Neuzeit ist die zu machende Natur.”8.
In diesem von Sloterdijk ausgesprochenen Sinne kann man nicht nur die Naturalisierung historischer Abläufe deuten, wie sie in der Konzeption des Zivilisationsoder Geschichtsprozesses und der mythischen Rezeption neuer Technologien deutlich wird. „Natur-machen“ wollen auch gesellschaftliche Programme, die im Anschluss an wissenschaftliche Theorien über komplexe Systeme und zeitliche Abläufe wie den Darwinismus oder die Nationalökonomie versuchen, Eingriffe in bestimmte gesellschaftliche Formationen oder Entwicklungen als notwendig zu begründen. So wäre z.B. Bertzens Herleitung des Cyclisations-Programms aus der darwinistisch begründeten Notwendigkeit des „Kampfs gegen die Entartung“ als eine Manifestation der kinetischen Utopie zu deuten, obwohl sie sich gegen „rastlose Hetzjagd“ und für „Muße“ einsetzt. „Wenn nicht an seiner wirtschaftlichen und ethischen Haltlosigkeit: an dem physischen Unvermögen der Rasse, es auf die Dauer zu ertragen, wird das kapitalistische System, das jetzt die Welt beherrscht, sicher zu Grunde gehen. Doch darauf können wir nicht warten, und inzwischen dürfen wir kein Mittel unbenutzt lassen, das den zersetzenden Einflüssen entgegenzuwirken vermag, die von der Abschwächung der natürlichen Zuchtwahl einerseits und von der wahnsinnigen Überspannung des allgemeinen Wettbewerbs andererseits ausgehen. Wir müssen der rastlosen Hetzjagd, selbst mit Opfern, die Muße abringen, die zu einer rationellen Körperpflege gehört, - für uns selbst, damit unserere Sinne aufnahmefähig bleiben für all das Hohe und Schöne und Köstliche, was das Leben zu bieten hat: das ist unser Recht; und für das Ganze und die kommende Zeit, damit unser Geschlecht immer mehr Macht gewinne, die feindlichen Lebensgewalten zu bändigen; das ist unsere Pflicht. Für unsere Gesundheit sorgen, das gehört nach Herbert Spencer zur Ethik. Und da ist es vor allem tüchtige Leibesübung, was uns notthut.“9
Ähnliche Begründungsfiguren finden sich vermutlich bei den meisten der programmatischen Texte aus dem Umfeld der Lebensreform und anderer diesseitig orientierter Heilslehren um die Jahrhundertwende. Zola lässt seinen Helden Pierre Fromment in einer Religion der Wissenschaft10 das zukünftige Heil der Menschheit erblicken, nachdem der - dank Fahrrad, Liebe, und Arbeit - reif für einen neuen Glauben geworden ist. „Ist das Bedürfnis nach dem Göttlichen nicht einfach das Bedürfnis, Gott zu sehen? Und wenn die Wissenschaft den Wunsch, alles zu wissen und alles zu können, mehr und mehr erfüllt, ist da nicht anzunehmen, daß er sich legen und schließlich mit der befriedigten Wahrheitsliebe verschmelzen wird? Eine Religion der 8 Die ”kinetische Utopie” ist Ausgangspunkt und Hauptgegner der in seinem Buch ”Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik” vorgeschlagenen ”kritischen Theorie der Bewegung”; Zitat: ebda., S.23. 9 Bertz 1900, S.38f. 10 Unter dieser Bezeichnung firmiert im deutschsprachigen Raum der insbesondere durch den Chemiker und späteren Nobelpreisträger Erich Heckel bekannt gemachte Monismus, als Versuch, eine Religion auf der Basis der Wissenschaft zu gründen. Er geht aus von dem spinozistischen Gottesbegriff, dass Gott in der Natur sei (deus sive natura) und folgert aus der Tatsache, dass die Wissenschaft auch auf die Erkenntnis der Natur ausgerichtet sei (und diese auch erreiche), Gottesdienst und Wissenschaft müssen die gleiche Wurzel haben.
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Wissenschaft ist das gesteckte, sichere, unabdingbare Ziel des langen Marsches der Menschheit zur Erkenntnis.”11; Doch zielt Sloterdijks Analyse nicht nur auf naturalisierende Wissens-, respektive Glaubenssysteme, sondern die ganzen Dispositive menschengemachter Natur: auf den Umgang mit Technik, nicht nur das Reden oder Schreiben darüber. Indem die neuen technischen Verkehrsmittel die Naturwahrnehmung radikal verändern, machen sie selbige zur Variable von Technik. Man könnte auch sagen, sie setzen sie ein in eine menschengeschaffene zweite Natur, welche die erste ersetzt hat. Das Durchscheinen der ersten Natur garantiert den „natürlichen” Charakter der zweiten. Jenes konstruktive Moment betrifft auch die durch das Fahrrad auf seine Art „wieder”verfügbar gemachte Natur. Dies alles läuft auf eine Bestätigung der Sloterdijk´schen (eindeutig aus der Perspektive des ausgehenden 20.Jahrhunderts: nach Hiroshima, nach Seveso, nach Tschernobyl usw. - verfassten) These hinaus, die in der Feststellung gipfelt, der Zivilisationsprozess sei „eine selbstreflexive Naturkatastrophe”. Die Dynamik dieser „denkenden Lawine” fiele nach Sloterdijk bereits in deren epistemologische Vorzeit. Die Techniken des 19. und v.a. 20.Jahrhunderts hätten bloß verschärft, was das abendländische Denken in seinem sich akkumulierenden Konzentrations- und Projektionsprozess, seiner „Mobilmachung”, möglich gemacht hätte und was in den Philosophien von Marx und Nietzsche erstmals deutlich ausgesprochen worden sei: den „kinetischen Nihilismus”, die Bewegung als Wert an sich zu setzen. „(D)er Wille zur sich selbst aneignenden Selbstproduktion und der Wille zur Macht (als Initiative zur Durchsetzung einer Weltinterpretation) sind zwei alternative Formulierungen für den gleichen kreativen Großangriff des tätigen Geistes auf den »Stoff«, für den gleichen kinetischen Nihilismus, der das Seiende als Energiequelle und Baustelle erfaßt und als sonst nichts.”12
Nach seiner langen spirituellen und existentiellen Reise durch die Abgründe und Untiefen des Glaubens findet Pierre Fromment in eine Weltsicht, die ihn als Vorläufer der „Schlußfigur europäischer Geschichtstheologie”, des Jünger´schen Arbeiter, erscheinen lässt: „(...) denn das ganze Leben war Arbeit, die Welt existierte allein durch Anstrengung.”13 (Und ist nicht das Fahrrad prädestiniert für solch ein Arbeitsethos? 11
Zola 1980, S.660. Sloterdijk, a.a.O., S.69. 13 „Der »Arbeiter« ist neben Blochs »Prinzip Hoffnung« eine Schlußfigur europäischer Geschichtstheologie. In ihm versammeln sich noch einmal die Grundelemente abendländischer Eschatologie. Ein äußerster Zustand wird antizipiert, auf den die Tendenz des Heute gerichtet ist, und der zugleich die überraschende, »außerhalb aller Vergleichsmöglichkeiten stehende« Verwandlung der Gegenwart bezeichnet. Eingeschmolzen in diese Vorstellung einer inkommensurablen Zukunft ist die Idee der Ankunft des Ganz Anderen - die Offenbarung des Bildlosen. Hier aber »Anteil und Dienst zu nehmen« erlaubt nicht, sondern nötigt geradezu, die Welt, in der man lebt, »letzthinnig ernst zu nehmen«. Man entzündet sich am heißen Kernprozeß der Zeit, und man erhält das Versprechen gelingender Selbsttranszendenz.“; Kohler 1991, S.169. 12
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Verbindet es doch selbst Freizeit und Vergnügen noch mit einer Bewegung, die anstrengend ist und in ihrer Gleichförmigkeit und technischen Präzision an den Arbeiter in der Fabrik denken lässt.) Alle utopische Hoffnung Zolas scheint in die Nutzbarmachung des technischen Fortschritts für den individuellen Gebrauch zu fließen, wenn er ganz am Schluss seines epochalen Romanwerks die Frucht der Arbeit seiner Helden Ingenieure durch einen Experten adeln und zum Wunder erheben lässt: „Ein Wunderwerk ... der ideale Motor, der mechanische Antrieb für alle Fahrzeuge ... das Problem der Kraft im Heim endgültig gelöst ... die Menschheit kann sich endlich verbrüdern!”14 Die Kriterien für einen utopischen Aufbruch sind erfüllt: Das Wunder, an dessen Entstehen alle mit religiösem Eifer mitwirkten, kündigt den Anbruch einer Zukunft an, die das ganz Andere bringen wird. Auch ein Messias ist bereits geboren; der Sohn Pierre Fromments, der die Maschine mit intuitivem Verständnis freudig betrachtet und den Arm nach ihr ausstreckt und so seine Seelenverwandtschaft zum Ausdruck bringt. Wird er ein Arbeiter mit planetarischer Perspektive werden und an dem großen Werk der Umwandlung der ganzen Erde in eine Planlandschaft mitwirken? Er muss. „Was Jünger diagnostizierte, war ja nur allzu richtig. Sowohl inmitten faschistisch-autoritärer Mentalitätsstrukturen wie unter dem sozialliberaldemokratischen Gesetz superindustrieller Systemlogiken. Mobilisierung aller Kräfte, Mobilmachung in jedem Lebensbereich, Automatisierung und Beschleunigung der Zugriffe, die Umarbeitung der Erde in konstruktive »Planlandschaft« (Jüngers Zielkategorie im »Arbeiter«).”15
Der Glauben von Zola und Bertz, eine „Verbrüderung aller Menschen” und „Völkerfrieden” lasse sich durch die mobilisierenden Wirkung eines Verkehrsmittels erreichen, kann aus heutiger Sicht nur ein müdes Lächeln hervorrufen. Ernst Jünger obwohl selber alles andere als technikfeindlich - entlarvt im „Arbeiter“ diesen Glauben als die bürgerliche Illusion, Technik und Fortschritt zum Guten in Eins zu setzen: „Die Technik nämlich erscheint im bürgerlichen Raume als ein Organ des Fortschrittes, das sich auf eine vernünftig-tugendhafte Vollkommenheit zubewegt. (...) Die martialische Seite ihres Januskopfes paßt in dieses Schema schlecht hinein. Es ist aber unbestreitbar, dass eine Lokomotive statt eines Speisewagens eine Kompanie Soldaten oder ein Motor statt eines Luxusfahrzeuges einen Tank bewegen kann - daß also die Steigerung des Verkehrs nicht nur die guten, sondern auch die bösen Europäer schneller aneinanderbringt.”.16
Von den katastrophalen ökologischen Auswirkungen des „friedlichen Verkehrs” mit motorisiertem Antrieb ist zu dieser Zeit noch gar nicht die Rede. Was Sloterdijk mit „kinetische Utopie” meint, betrifft aber ja wesentlich gar nicht die inhaltliche Ebene solcher Äußerungen des Fortschrittsglaubens. Ihm geht es um die ontologische - oder
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Zola 1980, S.660ff. Kohler, a.a.O. 16 Ernst Jünger, Der Arbeiter, Stuttgart 1982, S.162f. 15
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onto-theologische17 - Grundstruktur der Moderne, die, in ihrer nihilistischen Variante, einer inhaltlichen Ausgestaltung des Versprechens gar nicht mehr bedarf, um wirksam zu sein18. Die Mobilisierung ist sich selbst genug. Sie ist ein strukturelles Perpetuum Mobile.19 Das ist das Dilemma, vor dessen Hintergrund Sloterdijk einen dritten Weg der Kritik zwischen Marxismus und Frankfurter Schule vorschlägt: eine „kritische Theorie der Bewegung”: „Ihr therapeutisches Kriterium bestünde in der Unterscheidung (...) zwischen richtiger Beweglichkeit und falscher Mobilisierung. Ihr offensiver Wahrheitsanspruch stützte sich auf die Erkenntnis, daß es in kinetischen Dingen ein Spektrum gibt, das vom Physiologischen bis ins Politische reicht. (...) Die Frage nach der Möglichkeit einer realdifferenten, »dritten« kritischen Theorie läuft (...) auf das klassische Rätsel hinaus, wie die Stille im Sturm für durch und durch zur Aktion verurteilte Wesen möglich sei. (...) Sollte ausgerechnet die Kinetik zu einer Schule der Gelassenheit werden? (...) (H)ier soll damit begonnen werden, auf der Passivseite starker Selbstmobilisierungen, in eine Untersuchung des Prozeß-Progresses einzutreten, der durch uns über uns hinwegrast.”20
Dies gibt uns Anlass, noch einmal genauer auf die fortschritts- und technikgläubigen Zukunftsprognosen der Literaturen des Fahrrads zu schauen. Denn wie anders, als durch ein genaues Hinsehen auf die Art der vorgeschlagenen, oder praktizierten, Mobilisierungen ließe sich ermitteln, ob es sich um „richtige oder falsche” im Sinne eines Ausstiegs aus dem katastrophischen Verlauf des Zivilisationsprozesses handelt? Dabei ergeben sich einige signifikante Abweichungen vom bisher Analysierten und ein entscheidender zusätzlicher Faktor. I.) In sehr vielen der damaligen Texte finden sich neben dem Lob der Geschwindigkeit und der Flexibilität des Fahrrads auch Passagen über die Notwendigkeit, das richtige Maß zu halten, bzw. hin und wieder abzusteigen. II.) Bisher völlig unberücksichtigt blieb, dass die Cyclisation ihre Hoffnungen auf eine Lösung der Probleme des Kollektivs durch die Förderung der Individualität setzt. Abgesehen davon, dass dies in einem gewissen Widerspruch zu der bisher entwickelten Perpektive eines totalisierenden gesellschaftlichen Fortschritt-durch-Technik-Entwurfs zu stehen scheint, öffnet es einen Blick auf die Entwicklung des Phänomens, welches man vielleicht als das prägendste für die zivilgesellschaftliche Entwicklung des 20.Jahrhunderts
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vgl. Kohler 1991, S.176f. Kohler formuliert diesen Befund im Hinblick auf die verlorengegangene Möglichkeit, Fortschritt geschichtsmetaphysisch aufzuladen: Die Mobilisierung, das kinetische Prinzip der Moderne ist also kein Mittel zu einem außer ihm liegenden Ziel, sondern sein eigener Zweck; Selbststeigerung und Selbstreferenz sind seine Kennzeichen; und Zukünftig-Gewesenes, das Gegenwart wurde, ist als das Ganz Andere nicht weiter imaginierbar. So ist alles verdorben, was der eschatologisch engagierte Geschichtsgläubige braucht, um sich und seine Epoche utopisch aufzuladen.”; a.a.O., S.172. 19 vgl. Sloterdijk, a.a.O., S.69f. 20 a.a.O., S.52ff. 18
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bezeichnen kann - die kollektive Produktion individueller Wünsche und Mythen; Individualität als Paradigma der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften. I.) In vielen der Fahrrad-Texte der Zeit um 1900, gerade auch in Anleitungsbüchern und Ratgebern21, wird - unter gesundheitlichen Aspekten, aber auch im Hinblick auf den Erlebniswert und die Verbundenheit mit der durchfahrenen Landschaft - Geschwindigkeit und Dauer des Fahrradfahrens diskutiert. Weil ”Sport” im 19.Jahrhundert eine wesentlich allgemeinere Kategorie ist, der das Fahrradfahren - im Sinne von körperlicher Ertüchtigung, die nicht Arbeit ist - im allgemeinen zugeordnet wird, sehen sich viele der Autoren genötigt, dem Rennfahrsport ein eigenes Kapitel zu widmen, um ihn so mehr oder weniger deutlich von dem ”eigentlichen” Gegenstande, den man vielleicht heutzutage mit der Bezeichnung ”Breitensport” belegen würde, abzugrenzen. Das Credo für den Radfahrsport, wie sie ihn für die ganze Bevölkerung empfehlen, ist in der Regel: nicht zu schnell und nicht zu lange; lieber mal absteigen als sich zu verausgaben (hierzu zählt bei manchen schon der Moment, da der Kopf wegen der Anstrengung anfängt, sich zu röten); häufig Pausen machen. Bisweilen nimmt diese geschwindigkeitsskeptische Haltung explizit kulturkritische Züge an. So polemisiert Bertz an mehreren Stellen gegen den Rennsport und rät, insbesondere den Knaben das überschnelle Fahren zu verbieten22. Ausserdem gesteht er in Auseinandersetzung mit Sätzen Rousseaus und Tolstois zu, dass die Fußwanderung bildender sei als die Radtour und empfiehlt darum im Interesse der ”intimeren Reize der Natur”, öfter mal abzusteigen: ”Um den Nachteilen des schattengleichen Vorüberfliegens der landschaftlichen Szenerie zu begegnen, giebt es nur ein Mittel: häufig abzusteigen und zu verweilen. Die Möglichkeit, dies nach Belieben zu thun, ist ja auch der Vorteil des Rades vor Wagen und Eisenbahn.”23
Im Vergleich zu anderen Mitteln der körperlichen Ertüchtigung konstatiert Bertz jedoch die klare Überlegenheit des Fahrrads. Seiner Auffassung nach entspricht es zugleich dem Bedürfnis des modernen Menschen nach gehobener Geschwindigkeit, sprich: schnellerer Abfolge der Reize, und erzeugt oder ermöglicht eine innere Haltung, die dem vormodernen Ideal der Kontemplation nahekommt. Im Rückgriff auf Aristoteles,
21 z.B. ”Katechismus des Radfahrsports” von Karl Biesendahl, Leipzig 1897; ”Handbuch des Radfahrsports” von Moritz Band, Wien 1895; ”Fahrrad und Radfahrer” von Wilhelm Wolf, 1890 (Nachdruck Dortmund 1979), ”Der Radfahrsport in Bild und Wort” hrsg. von Dr. Paul von Salvisberg, München 1897 (Nachdruck Hildesheim/New York 1980). 22 a.a.O., S.81f. 23 a.a.O., S.118.
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Schopenhauer und Richard Avenarius24, leitet Bertz her, wie das Fahrradfahren einem berühmten Motto Hölderlins entspreche: „Die Bewegung (...) ist nach einem Wort Aristoteles das eigentliche Wesen des Lebens. Schopenhauer, der auf seinen täglichen Spaziergängen so schnell zu laufen pflegte, daß man nur mühsam gleichen Schritt mit ihm halten konnte, stellte den Satz auf: omnis motus, quo celerior, eo magis motus, und danach würde das Radfahren das Ideal der Bewegung sein. Indessen erregt die Bewegung des rennenden Menschen bestenfalls nur ein kurzes Lustgefühl, bald jedoch endet sie in Erschöpfung (...). Stead aber sagt sehr richtig, daß es gerade die schnelle Bewegung ohne Anstrengung sei, die den Reiz des Radfahrens bilde. (...). Es kommt auch im Radsport das von Richard Avenarius gefundene Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes zur Geltung. Mit dem möglichst geringen Kraftaufwand wird die größtmögliche Wirkung erreicht. Die Kraftersparnis, die auf dem Rade stattfindet, erregt ein Lustgefühl (...). Die mit dem Radfahren verbundene Bewegung ist wohl die Ursache seines günstigen Einflusses auf die Gesundheit; aber das durch letztere erzeugte Wohlgefühl ist nur eine mittelbare Folge der Bewegung. Die unmittelbare Ursache des Wohlgefühls ist (...) die Ruhe in der Bewegung, die ganz eigenartige Kombination von Ruhe und Bewegung. »Still und bewegt«, das Wort Hölderlins, (...) könnte auch der Wahlspruch der Radfahrer sein.“25
Ein Wiederauflebenlassen des klassisch-romantischen Bildungsideals durch die Mittel der Moderne also. Bertz geht bei diesem Unterfangen ausführlich sowohl auf die Geschichte der Leibesertüchtigung, als auch auf die der Pädagogik ein, auf die wechselseitige Beziehung von Stadtentwicklung und Verkehr, auf das Verhältnis zur Natur, auf andere Verkehrsmittel, insbesondere natürlich die Eisenbahn (was auch kaum eine andere Literatur des Fahrrads lassen kann), aber auch auf das Automobil, auf die Bedeutung des Fahrrads für die Emanzipation der Frau und, wie gesehen, auf physiologische und wahrnehmungstechnische Aspekte. Dabei liegt der Schwerpunkt offensichtlich weniger auf dem Ob als auf dem Wie der Fortbewegung, und damit auf der Frage nach der richtigen Fortbewegung. Leonhart Siegfried ist ein weiterer philosophierender Radfahrer in dieser Zeit, der seine 1894 erschienenen Beschreibungen und Gedanken26 allerdings nicht aus einer theoretischen Perspektive ausbreitet, sondern in die Beschreibungen einer Fahrradtour einflicht. Gleich zu Anfang seines Textes gibt er einen Hinweis darauf, worauf es ihm bei dieser Art zu reisen ankommt und wovon sie sich abhebt. „Ja es ist schön, durch das blühende Land im Fluge getragen zu werden, und schön ist es auch, zu rasten. Dem schlichten Dinge aus Stahl und Gummi sieht niemand an, was in ihm steckt, und dass es aus jedem, der nur ein Herzogtum weit auf ihm fährt, einen schieren Genussmenschen macht. Soll es nicht ein Genuss sein, die Fülle der Natur und des edlen Fleisses vorüberziehen zu sehen, endlos, wie in einem Wandelbilde? Und alles ist wirklich, und was das Auge sieht, das kann die Hand erreichen.“27
24 Avenarius (1843-1896) promovierte über Spinoza, habilitierte sich bei u.a. Wilhelm Wundt in Leipzig und übernahm den Lehrstuhl von Windelband in Zürich, wo er sein erkenntnistheoretisches System des „Empiriokritizismus“ ausbaute, welches auf einem „natürlichen Weltbegriff“ fußt. „A.s Philosophie wirkte sich erst nach seinem frühen Tode geistesgeschichtlich aus in der erkenntnistheoretischen Fundierung der modernen Naturwissenschaften (als „Neupositivismus“ des A.-Schülers J.Petzoldt).“; Neue Deutsche Biographie, 1.Bd., Berlin 1971 (unveränd.Nachdr.d.Ausg.v. 1953), S.468. 25 Bertz, S.110ff. 26 in dem Buch: Quer durch die Geographie - Erlebnisse eines Radfahrers, Leipzig 1894 27 Siegfried 1894, S.2.
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Die Wirklichkeit des Wahrgenommenen wird durch die Möglichkeit garantiert, es haptisch zu erfassen. Dies gibt schon einen Hinweis darauf, dass diejenigen, die „was das Auge sieht“ nicht mit der Hand erreichen können, in den Augen des Autors keine wirkliche Erfahrung machen. Dem Genuss des unmittelbaren Erlebens geht aber ein Kampf voraus. Siegfried (!) stellt diesen in eine ungebrochene Reihe mit einem Kampf, wie ihn schon die sagenhaften Helden kämpfen mussten. Doch scheint mir v.a. signifikant, wie er diesen Kampf ankündigt, nämlich als Arbeit. „Die stete Bewegung in freier Luft, der Wechsel von körperlicher Arbeit und von Ruhe stählt die Muskeln und steigert die körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Auch das Gefühl verfeinert sich, und unversehens gewinnen sämtliche Dinge der Wahrnehmung die Fähigkeit der Rede und sprechen eine Sprache die zum Herzen geht. Im Märchen trinkt der Held von dem Blute des erlegten Drachen und versteht fortan, was die Vögel singen. Das Märchen giebt seine Weisheit nur verhüllt; schält man aber aus der Hülle den Kern heraus, so geht dem Erwachen des Verständnisses der siegreiche Kampf voran, und er allein ist schon eine zureichende Ursache für jene Verfeinerung des Gefühls.“28
Die Arbeit der Selbstbewegung auf dem Rad wiederholt das Erlebnis der Fremdbewegung durch die Eisenbahn. Hinter dieses kann offensichtlich keine der Fahrradliteraturen zurücktreten, sind sie doch Kinder einer Zeit, die durch die Eisenbahn maßgeblich geprägt wurde. So muss man sich gewissermaßen die Freiheit verdienen, die zerstückelte Wahrnehmung künstlich produzierter Weltfragmente wieder in einen eigentlichen Zusammenhang zu bringen, in welchem man sie der eigenen Erfahrung einverleiben kann. Die der Modernität Verfallenen dagegen erleben bloß noch Stückwerk. „Die Eisenbahn ist den Kindern der Welt eine übersorgsame Mutter, sie giebt ihnen im Buch des Lebens zu lesen, was ihr passend scheint, (...). Schade nur, dass auch in den Köpfen aus Stückwerk sich wieder nur Stückwerk gestaltet! Und selbst, was ihr passend scheint, wie hat sie es umgeformt, seit sie das Regiment führt! Jede Stadt trägt heute ausser ihrem erb- und eigentümlichen, ein Stiefgesicht, ein Eisenbahngesicht, und die Welt der Reisenden ist heute eine Welt von lauter Stiefgesichtern.“29 Wer aber die Strasse über das Gebirge herkommt, und den Fluss hinabwandert, oder, was bequemer ist, auf dem Rade fährt, der sieht den Baum des Lebens lebendig sprossen und grünen.30
Siegfried setzt Fahrradtour und Fußwanderung sogar weitgehend in eins, indem er sie gegen die nivellierende Wirkung der Eisenbahnreise kontrastiert31. Außerdem lässt er an verschiedener Stelle durchblicken, dass es ihm nur im zweitrangigen Sinne um Geschwindigkeit geht. Autoren wie er und Bertz scheinen also ein Bewusstsein von dem Problem der ”falschen Mobilisierung” zu haben, der sie eine ihrer Auffassung nach richtige entgegenzusetzen versuchen. Fraglich ist, ob dies nur einem kulturkonservativen Reflex zuzuordnen ist, wie er technikkritischen Ansätzen dieser Zeit
28
a.a.O., S.14. a.a.O., S.13f. 30 a.a.O., S.93. 31 Siegfried 1894, S.91ff. 29
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häufig unterstellt wird. Dann würden sie im Namen einer Natur und einer Art von Erfahrung argumentieren, die am Ende des 19. Jahrhunderts längst passé ist. Doch spricht ja die Tatsache, dass sie sich so emphatisch für die neue Technologie des Fahrrads einsetzen, gegen diese Vermutung. Auch beschäftigen sie sich ausführlich mit den neuen Wahrnehmungsphänomenen, die mit dem Radfahren einhergehen. Man sollte sich nicht von dem manchmal arg beschaulichen Tonfall täuschen lassen und auch nicht übersehen, dass zu dieser Zeit niemand vorhergesehen hat (auch nicht die Futuristen), in welchem Ausmaß und mit welcher maschinenhaften Vollzugslogik im 20.Jahrhundert die Mobilisierung noch einmal forciert werden sollte. Ausserdem muss man aufpassen, dass man in einem Kurzschluss nicht den gewichtigen Unterschied zu den autokritischen Argumenten für das Fahrrad im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts übersieht: Zwar richten sich beide gegen eine dominante ”große” Technologie. Jedoch ist das Plädoyer für das Fahrrad im 20.Jahrhundert in der Regel mit der - vernünftig begründeten - Forderung nach einem „Zurückschalten”, einem Wieder-Kleiner-Werden verknüpft. Das Plädoyer im 19.Jahrhundert begrüßt dagegen emphatisch die Möglichkeiten eines Neuen, welches die Schwächen des Alten überwinden helfen lasse. Nur innerhalb dieser Feier der Ankunft des Neuen als Möglichkeit des ganz Anderen lassen sich die „kulturkonservativen” Reflexe m.E. angemessen interpretieren. Der Utopismus in dieser Spätform entzündet sich noch einmal „am heißen Kernprozeß der Zeit”32 Jedoch baut er, vielleicht in Antizipation postmoderner Vielgerichtetheit, schon die eine oder andere Zeitschleife in Form des Versuches, das Ungleichzeitige gleichzeitig zu machen, ein. „Das Ideal Natur bezog sich (...) in dem hier untersuchten Zeitraum kaum noch auf überkommene Zustände, sondern war Ausdruck einer Forderung nach einer anderen Moderne. Es ging nicht um einen Ausstieg aus dem Industriezeitalter, sondern um naturgemäßere oder menschlichere Formen der Existenz unter modernen Bedingungen. Deshalb stand die Zivilisationskritik generell nicht gegen die Technik an sich, sondern gegen eine als verfehlt angesehene gesellschaftliche Verwendung. Das Ziel war eine Versöhnung des eigenen Gesellschaftsideals mit der Technik, um eine andere und bessere Moderne zu verwirklichen.”33
Rohkrämer unterscheidet in seiner Untersuchung von alternativen ModerneEntwürfen drei typische Formen der Zivilisationskritik: den Versuch, die Technik durch ihre ethische Beherrschung in den Dienst der bürgerlichen Ordnung zu stellen; den Versuch, die Technik durch Entwicklung von naturgemäßen Lebensformen mit der Natur zu versöhnen; und den Versuch, die bestehenden Probleme der Technik durch ihre Perfektionierung zu überwinden. In der Literatur des Fahrrads um die Jahrhundertwende
32 33
Kohler 1991, S.169. Rohkrämer 1999, S.32.
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lassen sich alle drei Typen vorfinden. In einem gewissen Sinne lässt sich sagen, dass in diesen zugleich technikkritischen und technikaffirmierenden Texten Vorläufer von Sloterdijks Projekt zu sehen sind, den „Prozeß-Progress (...), der durch uns über uns hinwegrast” zu untersuchen. Auch wenn ihre affirmative Haltung gänzlich anderen Gründen geschuldet gewesen sein mag, als der Erkenntnis, eine Position im Außen der kinetischen Utopie zu beziehen, sei schlechterdings unmöglich. II.) Guillaume und Thomas Fromment34 in Zola´s „Paris” haben einen Motor erfunden, der zum Betrieb von Automobilen und von kleinen Haushaltsgeräten geeignet ist. In ihn projizieren sie alle Zukunftshoffnungen. Bertz Erziehungsprogramm fußt auf der Förderung individueller Fähigkeiten und Tugenden durch das Fahrradfahren. Ebenso das von Haberlandt. Für ihn ist die Erfindung des Fahrrads die größte Errungenschaft des ausgehenden 19.Jahrhunderts, weil sie die „Emancipation des Individuums” durch die „großartigste Steigerung der individuellen Beweglichkeit” bewirke: „In die ungeheuren, zahllosen Maschen des collectivistischen Verkehrs bringt es die ungebundene Circulation der Individuen, (...) die weiten Maschen des Massenverkehrs ausfüllend und überall Bewegung schaffend, wo früher Ruhe und Festkleben war. (...) wenn man die wichtigste Errungenschaft, welche dem Individuum als solchem das letzte Vierteljahrhundert in irgend einer Art gebracht hat, bezeichnen sollte, so kann man wohl an nichts anderes denken, als an das Fahrrad. (...) Das Rad: Die Freiheit des Individuums in der Sphäre des Verkehres.”35
Ungebundene Circulation der Individuen. Der Ethnologe Martin Scharfe macht diese Formulierung von Haberlandt zum Leitfaden eines Artikels über die Frühzeit des Automobilismus. Er sieht weitgehende Übereinstimmungen in den Programmen der Fahrrad- und der ”Kraftwagen”-Pioniere. Insbesondere „die Funktionen des Fahrens (seien) mit beiden Vehikeln in höchstem Grade identisch”. Für Scharfe antizipieren die Beobachtungen über die Besonderheiten des Rads diejenigen des Automobils; die übers Rad geschriebenen Sätze entfalteten „erst ihren vollen Sinn (...), wenn sie übers Auto gelesen werden.”36 Das strukturelle Moment des Individualverkehrs, die Zirkulation, die Scharfe als „Norm- und Sollvorstellung der Zeit” in medizinischen, sozialen, kulturellen und v.a. in ökonomischen Diskursen verankert sieht37, lässt er korrellieren mit
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Der Bruder und der Neffe Pierres. Haberlandt 1900, S.127ff. 36 Scharfe 1990, S.220. 37 ”Allgemeine Zirkulation: das ist eine tief eingesenkte Norm- und Sollvorstellung der Zeit. (...) - eine Dominante nicht nur im medizinischen Diskurs (der Blutkreislauf!) und im hygienischen (Luft und Licht!), sondern auch im sozialen und kulturellen: allgemeine Zirkulation des Wissens, der Gedanken, der Ideen; vor allem aber war (...) ungehinderte, umfassende, allgemeine Bewegbarkeit, Beweglichkeit und Bewegung von Menschen, Waren, Geld eine Leitvorstellung der Ökonomie.”; a.a.O., S.224. 35
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dem subjektiven Gefühl der Freiheit, als welche die Möglichkeit der Zirkulation erfahren wird. „Dieser Aspekt des Automobilfahrens ist in der Frühzeit so aus- und eindrücklich dokumentiert, daß er sich zum Strukturaspekt der Zirkulation fügt wohl als wichtigster Erfahrungsaspekt.”38
Im Zuge der Verabsolutierung gesellschaftlicher Prozesse war das Bestehen auf persönlichen Eigenheiten zu einer Eigenschaft geworden, die nur Künstler und Dandys sich leisten konnten. Der Rest unterlag einem verschärften Normalisierungszwang39. So mussten selbst Adlige und reiche Gentlemen die proletarische Eisenbahn benutzen, weil ihre Kutschen einfach nicht mehr den Schnelligkeitserfordernissen der Zeit entsprachen. Die Eisenbahn jedoch - abgesehen von dem für die Oberschicht problematischen Faktor, dass sie alle Schichten der Bevölkerung gleichzeitig transportierte - unterwarf die Reisenden schon wahrnehmungstechnisch dem Regiment der Kollektivierung im Geschichtsprozess, wie Sting ausführt: „Die Eisenbahn bildete die moderne Metapher für die Bewegung der Geschichte durch die Zeit (...).Wie in der Schrift entfernt man sich von der direkten Wahrnehmung der Dinge zugunsten der Wahrnehmung von Strukturen, Systemen und Zusammenhängen, die vor allem vom Medium selbst ermöglicht werden.”40
Die Strukturen, welche die Eisenbahn vorgibt, sind Hervorbringungen der Technik, d.h. Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts, also des Geschichtsprozesses: zusammengezogene Wahrnehmung der Geographie, objektivistische Zeit des Fahrplans, lineare und despotische Verbindung der Städte. Das Fahrrad eröffnete den Einzelnen die Möglichkeit, diesem Weltgeist zu entkommen. Die „ungebundene Circulation der Individuen” sollte zum Paradigma einer durch die Technik „wiedergewonnen” Individualität werden. Sie markiert die Geburt des Ideals eines technikgestützten anarchischen, freien Umherschweifens, welches, als der individuelle Gegenmythos, in immer neuen Verbindungen - ältere Mythen aufgreifend und transformierend - dem kollektiven des Fortschreitens im 20.Jahrhunderts hinzutreten sollte: Halbgötter, Kentauren, ewige Juden, Trickster, einsame Wölfe usw. paaren sich mit individuellen Transportmitteln und bevölkern die Sportberichterstattungen, Road Movies, Science Fiction-Romane, Kriegsberichte, Populärphilosophien. Indem Scharfe die Befreiung des Individuums ebenfalls in den Mittelpunkt seiner Analyse der Faszination des Autofahrens stellt, lässt er das Fahrrad als Wegbereiter des Automobils erscheinen, letzteres als Vervollkommnung des ersteren. Interessant ist in diesem 38
a.a.O., S.232. vgl. die Untersuchungen zum Entstehen der Überwachungsgesellschaft um 1800 von Michel Foucault in ”Überwachen und Strafen”. 40 Sting, a.a.O., S.224f. 39
21
Zusammenhang die völlige Verkennung der Bedeutung des Automobils durch viele der Fahrradautoren. „Die durch Benzin oder Elektrizität betriebenen Motoren (...)bedeuten (...) lediglich eine Verpflanzung der Lokomotive auf die Chaussee, ihre Befreiung von dem vorgeschriebenen Schienengeleise (...). Die Automobile sind mithin eine Ausbildung, Weiterbildung der Idee der Lokomotive und wären wahrscheinlich auch ohne den Vorgang des Fahrrads erfunden worden. (...)Welche Wichtigkeit sie als Transport- und Verkehrsmittel besitzen, erkennen wir, wenn wir ihre rasende Geschwindigkeit, die von menschlicher Kraft ganz unabhängig ist, beobachten und dazu ihre Fähigkeit, große Lasten zu schleppen, in Betracht ziehen. (...) Wo aber der Einzelne seine eigenen Wege gehen will, wird das kostspielige Automobil dem verhältnismäßig billigen Rade den Rang nur in seltenen Fällen ablaufen.”41
Es liegt nahe, daraus zu schließen, dass es schon zu diesem frühen Zeitpunkt eine Lagerbildung gegeben hat. Denn viele frühe Fahrradfahrer spielten später eine bedeutende Rolle bei der Weiterentwicklung der Automobil- und Flugzeugtechnologien, sowie als Rennfahrer und Flugpioniere42. Für diese gab es offensichtlich keine Berührungsängste mit der motorisierten Fortbewegung. Fahrrad, Motorrad, Auto, Flugzeug befanden sich bis zum ersten Weltkrieg in einem Dispositiv der permanenten Ausweitung menschlicher Bewegungsmöglichkeiten durch technische Neuerungen und menschliche Rekordleistungen. Für einige Literaturen des Fahrrads hingegen, die, wie Bertz und Siegfried, ihr Bekenntnis zur neuen Technik mit einer reformatorischen Geste der Verlangsamung und Neubesinnung auf Natur verbanden, könnte die Ausbreitung des Automobils schon eine Grenze markiert haben, die sie nur mehr ungern überschreiten wollten. Vielleicht versprach das Fahrrad trotz seines mobilisierenden Effekts eine gewisse Kontinuität in diesem verselbständigten Entwicklungsgesetz des Vorwärtsfallens. Seine paradoxe Verfassung, das einzige Fortbewegungsmittel zu sein, dass nur dann steht, wenn es in Bewegung gesetzt wird, scheint ja schon wesenhaft für eine gewisse zyklische Dauer zu bürgen. Bemerkenswert ist jedenfalls, wie schnell die neue Freiheit des Automobils eine neue Reglementierung der Freizügigkeit im Verkehr nach sich ziehen musste, die ”tiefe(..) Eingriffe in die überkommene psychische und kulturelle Ausstattung des Menschen” mit sich brachte. Das Verkehrsmittel, das - noch viel mehr als das Fahrrad - nach den Zumutungen und Zurichtungen durch Massenverkehrsmittel und Massenpolitikprogramme des 19.Jahrhunderts dem
41
Bertz 1900, S.28f. Vgl. z.B. Rabenstein: “Viele Radrennfahrer werden Automobilisten und Flieger bzw. Konstrukteure in diesem Bereich. Die bekanntesten dieser Rennfahrer sind nach Gronen die Gebrüder Opel, Farman, Wright sowie Rolls, Contenet, Dutrieux, Jaquelin, Poulain, der Erfinder der Zündkerze Champion, Tour-de-France-Sieger Lapize und Steherweltmeister Robl. Es ist der zeitliche Entwicklungsgang der Fahrzeugtechnik, daß die fortschrittlich-kreativen Zeitgenossen zuerst in der Radsportszene aktiv sind und sich dann anderen Problemfeldern zuwenden. Man erlebt sich als eine große Familie des Fortschritts, der Technik, der Geschwindigkeit und auch des Sports.”; 1991, S.43. 42
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freiheitlichen Subjekt endlich wieder Auftrieb verschaffen sollte, wurde zugleich zum Einstieg in die Kontrollgesellschaft43; ”immerhin wurden ja nun mit den Automobil-Kennzeichen zum ersten mal in der Geschichte der Menschheit die Subjekte öffentlich numeriert.”44
Auf dem Hintergrund einer jedermensch erfassenden alltäglichen Routine, die das Leben in im wesentlichen gleiche Abschnitte aus “Arbeit” und “Freizeit” einteilt, wurde das Auto zu dem Projektions- und Fluchtmittel individuellen Freiheitssehnens. Freiheit vom Arbeitskollektiv, von den Zwängen der Familie, von den Zwängen des Alltags und der Konvention, den Beschränkungen der immergleichen Umgebungen. Doch indem die gleichartigen Wünsche der Individuen in den hauptsächlich am ökonomischen Wohlergehen ihrer Bürger ausgerichteten kapitalistischen Staaten systematisch genährt wurden, um dann massenhaft erfüllt zu werden, verlagerte sich die Macht des Kollektivs oder “Systems” über seine Mitglieder auf die Fluchtlinien45, auf die Richtungen, die individuelles Wünschen nimmt. Massenhafte individuelle Wunscherfüllung mündete in eine festgefügte kollektive Ordnung der Fluchten (des Verkehrs).
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Als Kontrollgesellschaft bezeichnet Gilles Deleuze eine Gesellschaft der ”ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen”, in der eine Überwachung oder Bestrafung der Mitglieder, wie in der von Foucault beschriebenen Disziplinargesellschaft, im Sinne des Funktionierens des Kollektivs weitgehend nicht mehr nötig ist, weil sich die individuellen Wunschproduktionen und die kollektiv zur Verfügung gestellten Bilder ihrer Verwirklichung - bzw. der ”individuellen Fluchten” - weitgehend decken; vgl. Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen, Frankfurt/M 1993, S.254f. 44 Scharfe, a.a.O., S.242. 45 Als “Flucht-“ oder “Deterritorialisierungslinien” bezeichnen Deleuze/Guattari diejenigen Kraftvektoren innerhalb eines territorial bestimmten Systems, die einen Ausweg aus dieser Ordnung bilden (zu bilden scheinen) und somit potentiell zu seiner Destabilisierung beitragen.
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Erfahrung oder Erlebnis „Das Fahrrad war nicht nur ein Vehikel, das den Menschen zur Arbeit und bei Besorgungen beförderte; es transportierte als Gefährt für die Freizeit ein ganz neues Bewußtsein: proletarische wie bürgerliche Emanzipationsbestrebungen idealisierten, ja mystifizierten das Fahrrad. Wenn man am Sonntag ins Grüne frei, frank, frisch hinausradelte, der Sonne entgegen, verließ man die dumpfe Plüschwelt der Philister; anstatt zwielichtiger Bierseligkeit erlebte man unmittelbare Natur, Jugend, Erotik.“1
1897 veröffentlicht der in Breslau geborene und in Berlin lehrende Kunsthistoriker Oscar Bie einen Text über „Fahrrad-Ästhetik”2 in dem er das Erlebnis des Fahrradfahrens und die Wahrnehmung auf dem Fahrrad mit der „formalistischen Wendung des modernen Kunstlebens” in Übereinstimmung bringt: „Rückkehr zu ursprünglichen Bewegungsfaktoren, zu einfachen Gestaltungen, zum Natur-Material”. Wie die Kunst des Jugendstils führt das Fahrrad auf einer geschwungenen, schwingenden Linie in die Natur und zur Natur: einem beseelten Erlebniszusammenhang, den es durch seine Linien erschließt3. ”Man hat ja seit zwei Jahren in Hunderten von Zeitungsfeuilletons gelesen, wie das Rad den Verkehr wieder individualisiert, wie es dem Einzelnen Zeit und Freiheit wiedergibt, wie es kostenlos die Entfernungen aufhebt und den Druck der Großstadt mildert.”4
Auffällig an dieser Zusammenfassung Bies ist, dass alle Wirkungen des Fahrrads als retrograd beschrieben werden: Milderung der bedrückenden Auswirkungen der Industrialisierung, Wiedergewinn von Zeit und Freiheit. Als ob es möglich wäre, in den Zustand vor der Industrialisierung zurückzukehren. 1889 - im Jahr der legendären Pariser Weltausstellung mit dem Eiffelturm - war in Paris Henri Bergsons Erstlingswerk Essai sur les données immediates de la conscience erschienen, welches 1911 in Deutschland unter dem Titel ”Zeit und Freiheit” herauskam. Inzwischen hatte Bergson weltweit eine enorme Popularität gewonnen. Er galt als bedeutendster Vertreter der Lebensphilosophie, die im Gefolge Nietzsches gegen die rationalistisch und positivistisch geprägten wissenschaftlichen Diskurse ihrer Zeit angetreten war, um das schöpferisch-intuitive Moment im Denken und in der Philosophie „wieder“ stark zu machen. „Bergson war der intellektuelle Star seiner Epoche. Von einer ganzen Generation wird der Bergsonismus wie eine Befreiung aufgenommen: wie die Errettung des Menschen vor der Fesselung und dem Zugriff der
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Glaser 1981, S.144. Der Kunstwart. Rundschau über Dichtung, Theater, Musik und bildende Künste, 10 (1897), S.339f.; hier zit.n. Jürg Mathes, Theorie des literarischen Jugendstils, Stuttgart 1984, S.65-68. 3 Vgl. Jürg Mathes, a.a.O., S.7. 4 Bie, a.a.O., S.65. 2
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technisch-wissenschaftlichen Rationalisierung des Lebens.”5 Über das letzte Buch Bergsons, La pensée et le mouvant (dt.: „Denken und schöpferisches Werden“), schreibt Henry Miller: „Wäre mir dieses Buch nicht genau in dem Augenblick in die Hände gefallen, hätte ich vielleicht den Verstand verloren.“6
Das ist insofern bemerkenswert, als Miller fast genau das gleiche - und über die gleiche Zeit, seine Jugend in New York - über das Fahrrad sagt: ”Wenn ich damals kein Rad gehabt hätte (...) wäre ich verrückt geworden.”7
Radfahren und Lebensphilosophie funktionieren bei Miller offensichtlich im besten nietzscheanischen Sinne als Heilmittel gegen die Zurichtungen durch die Gesellschaft. Benjamin kennzeichnet diesen Reflex der Lebensphilosophie als „eigentümlichen Sachverhalt”: „Seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts stellte sie eine Reihe von Versuchen an, der »wahren« Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt.”8 Eine Möglichkeit, die Herausforderung durch die Natur- und Humanwissenschaften anzunehmen, war zu versuchen, die bis zur Unkenntlichkeit verpositivierten Instanzen philosophischer (und vielleicht auch: allgemein-menschlicher) Erfahrung und Reflektion auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse neu aufzubauen zu versuchen, um sie so den wissenschaftlichen Diskursen wieder entziehen und einer eigenen, unabhängigen Position einverleiben zu können. Bergson tat dies, indem er bei der Konstruktion seiner Theorie des Verhältnisses zwischen Körper und Geist systematisch auf Erkenntnisse der Naturwissenschaft, v.a. der Biologie zurückgriff. Um die Tätigkeit des Geistes in der von ihm intendierten Weise notwendig mit der des Körpers verbinden zu können, unterschied Bergson zwischen zwei Arten des Gedächtnisses, der mémoire habitude und der mémoire pure. Diese dienen unterschiedlichen Zwecken. Das erste ist ein habituelles und implizites Gedächtnis. Es bildet sich rein nach Erwägungen der Nützlichkeit und dient als Gewohnheit dem Handeln. Das andere ist ein auf das Denken und die Empfindung gehendes explizites Gedächtnis. Es realisiert sich in den Bildern. Es bildet sich unabhängig von jedweden Nützlichkeitserwägungen oder bewußten Vorgängen wie eine Art dauerhaftes 5
Martin Weinmann, Einleitung, in: Deleuze, Bergson, Hamburg 1997, S.13. zit.n. ebda., S.7. 7 Miller 1961, S.27. 8 Walter Benjamin, Übereinige Motive bei Baudelaire, in: ders. 1977, S.185-229; hier: S.186. 6
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Aufzeichnungsgerät und dient als Erinnerung der Selbstvergewisserung und der Reflektion9.. Die memoire pure ist als Medium der Erfahrung wie der geistigphilosophischen Tätigkeit diejenige Instanz, die es nach der Destruktion der alten philosophischen (oder religiösen) Bezugsgrößen zu restituieren galt. „Man könnte die Erfahrung an ihrer Quelle aufsuchen, oder vielmehr oberhalb jener entscheidenden Biegung, wo sie von ihrem ursprünglichen Wege in der Richtung auf unseren Nutzen hin abweicht und im eigentlichen Sinne die menschliche Erfahrung wird. Die Ohnmacht der spekulativen Vernunft, wie Kant sie nachgewiesen hat, ist im Grunde vielleicht nur die Ohnmacht eines an gewisse Notwendigkeiten des körperlichen Lebens gebundenen Verstandes, der sich an einer Materie betätigt, welche zur Befriedigung unserer Bedürfnisse erst zergliedert werden mußte. Unsere Erkenntnis der Dinge wäre alsdann nicht mehr relativ hinsichtlich der fundamentalen Struktur unseres Geistes, sondern nur hinsichtlich seiner oberflächlichen und erworbenen Gewohnheiten und der zufälligen Form, welche ihm durch unsere niederen Bedürfnisse gegeben wurde. Die Relativität der Erkenntnis wäre demnach keine endgültige. Wenn wir zerschlügen, was durch jene Bedürfnisse gebaut wurde, könnten wir die intuitive Anschauung in ihrer ursprünglichen Reinheit und somit den Kontakt mit der Wirklichkeit wieder herstellen.“10
Einen Zugang zur Quelle der Erfahrung, ihrer Dauer (durée) - eine kontinuierliche, nicht durch funktionelle Anforderungen unterteilte subjektive Zeit -glaubt Bergson mithilfe der Intuition erreichen zu können. Gegen genau diese Vorstellung, moderne Zerrissenheit durch die Unmittelbarkeit intuitiver Erkenntnis heilen zu können, meldet Walter Benjamin in dem Text „Über einige Motive bei Baudelaire“, der 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung abgedruckt wurde, massive Bedenken an11. Die Unzugänglichkeit der Erfahrung liege primär in den Wahrnehmungseffekten der industrialisierten Moderne selber begründet, welche die Anwendung eines bis dahin gültigen Wahrnehmungsmodells unmöglich gemacht haben. Deswegen sei die Bergsonsche Fragestellung (und mit ihr der ganze Ansatz der Lebensphilosophie und ihr verwandter lebensreformatorischer Bewegungen) weniger als Ausweg denn als Symptom dieser grundlegenden Änderungen der Moderne zu begreifen. Sie wolle mit ihrer Idee der Intuition versöhnen und zudecken, was nicht mehr zu versöhnen sei. Das Erleben des modernen Menschen schon zu Baudelaires Zeiten, und wieviel mehr zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, sei geprägt durch Chockerlebnisse. Die primäre
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”Man kann (...) sich zwei theoretisch voneinander unabhängige Gedächtnisse vorstellen. Das erste würde in Form von Erinnerungsbildern alle Ereignisse des täglichen Lebens (...) registrieren; (...). Ohne Hintergedanken an Nützlichkeit oder praktische Verwendbarkeit würde es die Vergangenheit (...) aufspeichern. Es würde die intelligente oder vielmehr intellektuelle Wiedererkennung einer früher erlebten Wahrnehmung möglich machen; es käme uns immer zu Hilfe, wenn wir, um ein bestimmtes Bild zu suchen, den Abhang unseres vergangenen Lebens zurückgehen müssen.” (S.70) ”(...)und dieses Bewußtsein einer in der Gegenwart aufgespeicherten Vergangenheit von Handlungen ist (...) ein von jenem durchaus verschiedenenes Gedächtnis, immer auf Tätigkeit gestellt, in der Gegenwart zuhause und nur auf die Zukunft gerichtet (...) es findet in sich die Taten der Vergangenheit nicht als Erinnerungsbilder vor, in denen es sie wiederaufleben lassen könnte, sondern als streng geordnetes System von Bewegungen, die sich aktuell vollziehen. Genau gesagt, es stellt unsere Vergangenheit nicht mehr vor, es spielt sie, es imaginiert sie nicht, es agiert sie (...)” (S.71) 10 Bergson, Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S.180. 11 a.a.O.
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Aufgabe des Bewusstseins bestünde schon längst nicht mehr in der kontemplativen Verarbeitung von Erlebtem, sondern in der Abwehr von Chocks. ”Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das >Knipsen< des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. Haptischen Erfahrungen dieser Art traten optische an die Seite, wie der Inseratenteil einer Zeitung sie mit sich bringt, aber auch der Verkehr in der großen Stadt. Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen.”12
Nur diejenigen in der nicht abreissen wollenden Kette von Chocks, welche die Abwehr passierten, mit anderen Worten, den Menschen unvorbereitet träfen, gingen in das Unterbewußte, mithin in das Medium der Erfahrung ein13. Alle anderen aber dienten lediglich der Erzeugung von Erlebnissen; in Raum und Zeit klar verorteten Ereignissen, die keinerlei Dauer hätten. Das Problem sei mithin, dass das Bewusstsein so permanent beschäftigt sei, die Vielzahl von Chocks abzuwehren, denen der Mensch in der modernen Umwelt ausgesetzt ist, dass dabei überhaupt keine Zeit mehr für eine andere Rezeptionshaltung bleibe, in der man Erfahrungen sammeln könnte. ”Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses. Vielleicht kann man die eigentümliche Leistung der Chockabwehr zuletzt darin sehen: dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Sie würde den Vorfall zu einem Erlebnis machen.”14
Diese abwehrbereite Grundhaltung der Persönlichkeit, die sich als erhöhte Bewusstheit darstellt, betrifft ja nicht nur die schockartigen Momente im Verkehr, im Umgang mit Technik etc., sondern auch den Umgang mit Natur, mit anderen Menschen und - nicht zuletzt - mit sich selbst. Folgt man diesen Ausführungen Walter Benjamins, dann müsste sich anhand der Behandlung der Kategorien ”Erfahrung” und ”Erlebnis” ein Zugang zu der Literatur des Fahrrads eröffnen. Behandeln doch fast alle Autoren und Autorinnen zumindest am Rand das Problem der modernen Wahrnehmung und ”Oberflächlichkeit”; entweder in der Überzeugung, das Fahrrad biete einen Ausweg aus dieser Misere, weil es ein ganz anderes, eher der früheren ganzheitlichen Erfahrung entsprechendes Erleben erzeuge; oder, genau im Gegenteil, weil es die moderne schnelle Wahrnehmung versöhne mit dem menschlichen Maß und dem Bedürfnis,
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ebda., S.207. Benjamin begründet dies mit den Thesen von Freud aus ”Jenseits des Lustprinzips”, nach denen ”das Bewußtsein als solches überhaupt keine Gedächtnisspuren” auf(nähme). Dagegen hätte es eine andere Funktion, die von Bedeutung ist. Es hätte als Reizschutz aufzutreten.” (ebda., S.191) Diese Annahme läuft aber darauf hinaus, dass das Bewusstsein, da es unter den modernen schockverdichteten Zuständen nur noch damit beschäftigt ist, das Unterbewusste zu schützen, eine paranoide Grundhaltung einnimmt; oder aber, dass es sich, in der Folge eines gewissen Trainingsprozesses, zu einer ”oberflächlicheren” Grundhaltung hin entwickelt. Dies wäre vielleicht der von Simmel so bezeichnete Zustand der ”Blasiertheit” 14 ebda., S.193. 13
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Erfahrungen zu sammeln, und auf diesem Wege eine neue moderne Ästhetik der Geschwindigkeit zeuge. In beiden Fällen aber spielt meiner Auffassung nach die Frage der Versöhnung von Mensch und Technik und das, was ich hier eine technikunterstützte Erzählung15 nennen wollen, eine tragende Rolle. Denn die Wiedervermählung des Stadtmenschen mit der Natur, und mit seiner Natur - d.h. mit seinem Körper und seinen ”natürlichen” Bedürfnissen, wie auch immer diese im einzelnen heißen mögen - findet unter den Bedingungen der Technik - ja, man ist geneigt zu sagen: im Namen der Technik - statt.
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Man kann diesen Vorschlag auch als eine Frühform dessen lesen, was Agentur Bilwet mit dem schönen, der gängigen Computersprache entlehnten und nur leicht verfremdeten, Begriff der ComputerAidedTheory (CAT) bezeichnet haben.
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Exkurs: Der Fahrradfahrer als Flaneur in der Stadt der Geschwindigkeit „Wer unter uns hätte nicht schon in den Tagen des Ehrgeizes das Wunderwerk einer poetischen Prosa erträumt? sie müßte musikalisch ohne Rhythmus und Reim sein, sie müßte geschmeidig und spröde genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal, das zur fixen Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zu Hause ist.“(Charles Baudelaire)1
Es stellt sich die Frage, ob das Erlebnis der Masse unter den Bedingungen fortschreitender Individualisierung durch etwas anderes ersetzt wird. Begreift man die großstädtische Masse als Potentialität, als „Geistermenge der Worte, der Fragmente, der Versanfänge“ 2, gibt man ihr den Charakter eines energetischen Fluidums: eine erregte und erregende Substanz, deren Energie man aufnimmt, indem man in sie eintritt. Dichterische Aktivität wird so wesentlich eine Wirkung von Energie und Bewegung. Die Beschreibung ihrer Ausgangsbedingungen gleicht der einer thermodynamischen Versuchsanordnung3. Wäre es nicht vorstellbar, dass großstädtische Energie und Bewegung, die Lebensbedingungen des Flaneurs, durch etwas anderes bereitgestellt werden, als durch die Masse? (Zumal es sich doch bei der Energie, von der Baudelaire sich nährt, auch schon in großen Teilen um eine potentielle bzw. imaginäre handelt: die imaginäre Anwesenheit der Masse). „Die Anfahrt zur Brücke ist mit Kieseln gepflastert. Ich fahre so langsam, daß jeder Kiesel für sich eine besondere Botschaft zu meiner Wirbelsäule entsendet und durch die Wirbel hindurch zu dem zerbrechlichen Käfig, in dem die Medulla oblongata ihre Signale aufblitzen läßt. Und als ich in Sèvres über die Brücke fahre, wobei ich nach rechts und links schaue, überquere ich jede Brücke, die es gibt, ob sie über die Seine, Marne, den Ourcq, die Aude, Loire, den Lot, den Shannon oder den Liffey, den East River oder den Hudson geht, über den Mississippi, den Colorado, den Amazonenstrom, Orinoko, Jordan, Tigris oder Irawadi, überquere ich alle möglichen Flüsse, und ich habe sie alle überquert, eingeschlossen den Nil, die Donau, die Wolga, den Euphrat, und als ich in Sèvres über die Brücke fahre, brülle ich, wie der besessene heilige Paulus: «Tod, wo ist dein Stachel?» Hinter mir Sèvres, vor mir Boulogne, aber das, was unter mir fliegt, diese Seine, die irgendwo in einer Myriade kleiner Rinnsale ihren Anfang nahm, diese stille, aus einer Myriade Wurzeln weiterrieselnde Wasserader, dieser glatte Spiegel, der die Wolken weiterträgt und die Vergangenheit erstickt, immer und immer weiterströmend, während querdurch zwischen dem Spiegel und den Wolken ich mich bewege, ein vollkommenes, organisiertes Wesen, ein Weltall, in dem unzählige Jahrhunderte ihren Abschluß finden, ich und das, was über mir schwimmt, und alles, was durch mich 1 Charles Baudelaire in der Widmung von „Spleen de Paris“ an Arsène Houssaye; zit.n. Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, S.195. 2 Benjamin 1977, S.196. 3 1847 formulierte Helmholtz in Berlin den 1.Hauptsatz der Thermodynamik oder Energieerhaltungssatz, der besagt, dass in einem geschlossenen System die Gesamtsumme der Energiearten (chemische, mechanische, thermische, elektrische und magnetische) immer gleich bleibt. Voraussetzung und wichtigstes Ergebnis dieses physikalischen Gesetzes ist in diesem Zusammenhang natürlich, dass alle Energien miteinander zusammenhängen und eine in die andere umgewandelt werden kann.
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hindurchzieht, ich und dies, ich und alles übrige, in einer ununterbrochenen Bewegung vereint, diese Seine und jede von einer Brücke überspannte Seine ist für einen Menschen, der sie mit dem Fahrrad überquert, das Wunder.“4
In einem gewissen Sinne lässt sich die Abfolge und Durchmischung von Gedankensplittern, Bildern, Emotionen, wie sie sich auf einer (inspirierten) Fahrradfahrt einstellen kann, vergleichen mit dem Baudelaireschen Ideal einer poetischen Prosa. Die fortwährenden kreisförmigen Bewegungen der Räder und der Pedalen, die ihrerseits in eine Bewegung nach vorne umgewandelt werden, stiften den prosaförmigen Zusammenhang, in dem sich eine, durch die Intensität des Fahrerlebnisses und die physischen wie geistigen Beanspruchungen der Chockabwehr, fragmentarisierte innere Bewegung abspielt, die keinen prinzipiellen Unterschied zwischen „den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewußtseins“ macht. Ende des 19.Jahrhunderts beginnen Individualverkehrsmittel die Vorherrschaft des zu-Fuß-Gehens zu verdrängen. Dieser Verdrängungsprozess wirkt sich zunehmend auf die Gestalt der Stadt aus. Breiteren Schichten der Bevölkerung wird es möglich, ihre Arbeit in der Stadt mit einem Leben „auf dem Land“, d.h. an der Peripherie der Stadt bzw. in ihrem Umland, zu verbinden. Die typische Form amerikanischer Städte, mit ihrem extrem verdichteten Hochhauskern und dem endlos sich in die umliegende Landschaft ausbreitenden Gürtel aus einstöckigen Häusern mit Gartengrundstück und Garage, ist ebenso Ergebnis der individuell verfügbaren erhöhten Geschwindigkeit, wie die insbesondere für die Nachkriegsarchitektur europäischer Städte typische Errichtung großer Hochhaussiedlungen in der Peripherie. „Wohnen im Grünen und doch - auf der neuen Stadtautobahn - nur zehn Minuten vom Zentrum!“ Während also die moderne Stadt ein Resultat der Verdichtung durch Akkumulation von Menschenmassen und Produktionsstätten war, entsteht die postmoderne Stadt aus dem Reflex, dieser Dichte zu entfliehen. Fluchtmittel sind die Maschinen des Individualverkehrs. Ihre erhöhte Geschwindigkeit eröffnet die Möglichkeit, größere Distanzen im gleichen Zeitraum zurückzulegen. An die Stelle des Gangs durch die innerstädtische Masse tritt die Fahrt in den Außenbezirk. So verstanden, substituierte das Erleben der Geschwindigkeit dasselbe der Masse - oder löste es ab. Partizipation an der Gegenwart als Moderne wäre nicht mehr Partizipation an der thermodynamischen Fülle durch Masse sondern an der kinetischen Fülle durch Geschwindigkeit. Geschwindigkeit entzerrt die Masse und schafft Distanz. Physisch: Sie
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Miller 1961, S.27ff.
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bedeutet eine Möglichkeit der Flucht vor der Enge, im Urlaub, in der Ausweitung des städtischen Lebens auf das Umland. Psychophysisch: Im Vorbeirauschen bleibt vom Bedrängenden bloß noch der Schatten, dunkle Ahnung früherer Klaustrophobie5; gleichzeitig zieht sie die Abfolge der Eindrücke zusammen, deren Berührungen noch flüchtiger werden als die der einzelnen Figuren in der Masse. Dies würde erklären, wie aus der Inspiration durch die Masse die Inspiration durch Geschwindigkeit werden konnte: Erstere ist in letzterer noch enthalten - als dasjenige, wovor sie flieht. Wie der Flaneur in die Masse eingesogen wird, von der er lebt, die ihm Energie und Inspiration durch ihre Stöße und durch ihre stete, in alle Richtungen strömende Bewegung liefert, so ergeht es dem radfahrenden Flaneur mit der Geschwindigkeit: Sie zieht ihn und treibt ihn an, ihr gleich einem dunklen Trieb zu folgen. Bereits in Herbert George Wells Fahrradroman Wheels of Chance von 1896 findet sich eine Beschreibung dieses Phänomens der Geschwindigkeitssucht, in der Karikatur eines an sich selber zweifelnden empfindsamen Radfahrers, der nicht dazu kommt, seiner eigentlichen Neigung (das, was er dafür hält) zu folgen, weil er nicht anders kann, als zu rasen. Der Held der Geschichte, Mr. Hoopdriver, sitzt in einem Gasthaus unweit von London: „ .... and as he was eating there came a middleaged man in a drab cycling suit, very red and moist and angry in the face, and asked bitterly for a lemon squash. And he sat down upon the seat in the bar and mopped his face. (...) „Damn!“ said he. Then, „Damned Fool!“ (...) „To have a contemplative disposition and an energetic temperament, sir, is hell. Hell, I tell you. A contemplative disposition and a phlegmatic temperament, all very well. But energy and philosophy --!“ (...) „There´s no hurry, sir, none whatever. I came out for exercise, gentle exercise, and to notice the scenery and to botanise. And no sooner do I get on the accursed machine, than off I go hammer and tongs; I never look to right or left, never notice a flower, never see a view (...). Get me on that machine, and I have to go. Get me on anything, and I have to go. And I don´t want to go a bit. Why should a man rush about like a rocket, all pace and fizzle? Why? It makes me furious. I can assure you, sir, I go scorching along the road, and cursing aloud at myself for doing it. (...)“ He tossed his head with unspeakable self-disgust, pitched the lemon squash into his mouth, paid for it, and without any further remark strode to the door. (...) when Mr.Hoopdriver reached the doorway, the man in
5 Eine überzeugende Darstellung dieses Vorgangs, der sich hier allerdings in einer ganz entgegengesetzten Intention abspielt, findet sich in dem Louis Malle-Dokumentarfilm über die Tour de France. Die Kamera fährt vor dem Feld in die noch leere Ortschaft, zeigt dann die wartenden Zuschauer und die Einfahrt der dem Feld vorausziehenden Werbewagen und schließlich in rasender Vorbeifahrt aus nächster Nähe das Feld der Fahrer. Der Ton des Kommentators setzt erst in diesem Moment des Films ein mit den Worten: „In the rush of the pack they can´t see the crowd. They say to themselves: »Today, I´m going to see my mother, my aunt, my cousin«, but they see no one. They hear, oh yes, they hear the fantastic roar of the crowd.“ (Le tour, Frankreich 1976). Durch dieses synästhetische Spiel funktioniert auch ein MercedesWerbespot, der vor nicht allzu langer Zeit im deutschen Fernsehen lief: Ein Mensch tritt aus einem ventilierten Flughafengebäude in die Hitze und Bedrängung einer tropischen Stadt. Er bahnt sich einen Weg durch die Menge. Jeder will etwas von ihm. Die Enge ist physisch spürbar. Doch sobald er die Türen des wartenden Mercedes hinter sich geschlossen hat, kann er sich zurücklehnen. Die Kakophonie, welche eben noch schrecklich präsent war, ist transformiert in ein bloßes fernes Rauschen. Das Erlebnis des Schutzes vor der Bedrängung durch die Masse in der tropischen Stadt fängt bereits im noch stehenden Transitkörper an: die geschlossene Tür und die geschlossenen Scheiben antizipieren akustisch das optische zu bloßen verschwommenen Farbformen-Werden der städtischen Menschenmenge. Die Umwandlung der thermischen und chemischen Energie in kinetische hat bereits begonnen.
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drab was a score of yards Londonward. He had already gathered pace. He pedalled with ill-suppressed anger, and his head was going down.“6
Wells spricht hier einen Punkt an, der die meisten der Fahrrad-Autoren beschäftigt und sich zu einem, wenn nicht dem Problem der modernen Ära auswachsen wird: die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit zu verlangsamen. Otto Julius Bierbaum, der Pionier der Automobilreise, unternimmt seine große Fahrt Anfang des 20.Jahrhunderts unter dem Motto „reisen statt rasen“ und ist von der Hoffnung beflügelt, ein Großteil seiner Zeitgenossen möge seinem Beispiel folgen. Wie man weiß, hat er Unrecht behalten. Die kontemplativen Bemühungen gingen, wenn überhaupt, eher in Richtung der geschwindigkeitskompatiblen Erschließung einer großen Landschaft, wie im nazideutschen Konzept der „schwingenden“ Autobahnen7. Dies mag daran liegen, dass die kinetische Utopie, überhaupt daran zu glauben, ein Mehr und Besseres dadurch zu erreichen, dass man sich und/oder alles andere in Bewegung setzt, schon immer jeder kontemplativen Regung potentiell diametral gegenüberstand. Für den Flaneur auf dem Fahrrad jedenfalls lässt sich sagen, dass er nur durch die weitere Ausbreitung und Verallgemeinerung des Geschwindigkeitswahns die Chance hatte, seine historische Reife zu erlangen. Darum zieht es ihn auf die Straßen, wo die Geschwindigkeit unumschränkt herrscht. (Das waren ja noch wahrlich geruhsame Zeiten, als der Wells´sche Radfahrer von der Geschwindigkeit nicht lassen konnte, obwohl ihn niemand außer er selber und seine Maschine nötigten!) Nicht auf die Radwege, in die Schloßparks oder Naherholungsgebiete; man muss den Hauptverkehrsrouten folgen, um ins Reich der Geschwindigkeit zu gelangen8, wo sich das Wesen der modernen Auto-Stadt eröffnet: in den Übergängen und Brüchen, in der scheinbar plan- und programmlosen Unterbrochenheit des Weichbilds - der losen Folge von Gewerbeparks, Einfamilienhaussiedlungen, Vorstadtghettos, Gebrauchtwagenhändlern, Möbeloasen, Autobahnauffahrten und - überführungen, den anachronistisch wirkenden Industrieanlagen in ihrer monumantalen Hässlichkeit (oder
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H.G.Wells, Wheels of Chance, in: ders., Works S.32ff. Erhard Schütz zeigt in seinem Buch „Mythos Reichsautobahn“ auf, dass dem nationalsozialistischen Autobahnbau tatsächlich (nicht nur propagandistisch) ein ästhetisches Programm zugrundelag, welches an die Ideen der Wandervogelund Jugendbewegung der Jahrhundertwende anknüpfte. Dieses Programm gerinnt im Begriff der „geschwungenen Linie“, bzw. der „schwingenden Bahn“: „Die Priorität der geschwungenen Linie beim Bau der Reichsautobahnen, die unablässige Beschwörung der Schönheit der schwingenden Bahn in den programmatischen wie künstlerischen Darstellungen (...). Aus dieser Perspektive erscheint die Autobahn als völkisches Gesamtkunstwerk, als ins Werk gesetzte Versöhnung von Technik, Kultur und Natur. Autowandern war folglich die motorisierte Fortsetzung des »Wandervogel«.“ Schütz 1996, S.123f. 8 Um in die ontologische Bestimmung einzutreten, die Virilio „in-Geschwindigkeit-Sein“ nennt; vgl. Fahrzeug, in: Fahren, Fahren, Fahren, Berlin 1978. 7
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Schönheit). Die brachiale Funktionalität von Autotunnels und -überführungen; die Schneisen der Stadtautobahnen, die, wie die Eisenbahn durch den Wald, durch die Häusersiedlungen des letzten Jahrhunderts gerodet wurden. Man muss einer schnurgeraden Ausfallsstraße von der Stadtmitte mit ihrer großbürgerlichen 18. und 19.Jahrhundert-Wohlhabenheit und ihren Rudimenten vergangener residenzstädtischer Größe durch die Gründerzeitsiedlungen, die endlose Kette von Sozialbauten, Arbeitersiedlungen, Kinos, kleinbürgerlichen Einkaufs- und Gastronomieeinrichtungen bis zu den McDonalds DriveThru´s und den 80er Jahre Angestelltensiedlungen-naheam-Grünen-und-am-Autobahnanschluss folgen und darüber hinaus; (vielleicht mündet sie hinter der Autobahn - nach nochmals mehreren Kilometern Gewerbe- und Industrieanlagen in eine dieser alten Landstraßen, die mit Eichen oder sogar Obstbäumen gesäumt sind.) Schon um sie in ihrer ganzen unglaublichen Banalität und Langeweile überhaupt ertragen zu können, müsste man rasen. (Aber das ist kein Einwand, sondern ein Teil der Gesetzmäßigkeit der Geschwindigkeit.) Und dennoch ist man noch langsam genug, um all das zu fühlen und zu sehen, die Übergänge in ihrer ganzen Länge wahrzunehmen, die Gerüche zu riechen, die Menschen hinter den Fenstern zu erspüren. Was Benjamin im Kunstwerkaufsatz über die befreiende Wirkung des Films geschrieben hat: “Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.“9
Das gilt auch für die Wirkung des Automobils und, mit Blick auf Gelassenheit und Abenteuerlichkeit, noch viel mehr für die Fahrt mit dem Fahrrad. Alles erschließt sich dem fahrradfahrenden Flaneur aus dem Blickwinkel der Geschwindigkeit als das AutoGanze, das es ist. Konstruktion und Dekonstruktion dessen, was aus dieser explodierenden, wuchernden Heterogenität der modernen/postmodernen Stadt eine funktional-ästhetische Einheit zeugt: der Blickwinkel der Geschwindigkeit des Automobils und der öffentlichen Nahverkehrsmittel. (Stets auf der Höhe derselben ist auch der Autofahrer Bierbaum´schen Zuschnitts, wenn er den Wunsch zu sehen hat, gezwungenermaßen meist zu schnell bzw. zu reglementiert, um die Flaneur-Wahrnehmung erzeugen zu können. Die 9 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Schweppenhäuser / Adorno, Ges.Werke Bd.?, S.350-384, S.376.
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Benützer öffentlicher Verkehrsmittel sind nicht weniger eingesperrt als sie das schon nach den Beschreibungen aus der Heinrich Heine-Zeit waren. Und für den Fußgänger ist die Stadt schon lange viel zu groß und unterbrochen geworden, als dass er sie noch in ihrem Zusammenhang wahrnehmen könnte. Die Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Innenstädte sind romantisierende Reservate, welche den Blick auf die Realität eher verstellen. Dort und in den gedrängten Zonen der öffentlichen Verkehrsmittel reicht es zu nicht mehr als Schlaglichtern auf die anachronistische Stadt der Menge; die Stadt der Geschwindigkeit entzieht sich den Fußgängern.) So ist es, um bei den aktuellsten literarischen Versuchen nachzusehen, nicht Christian Ude, der in seinem Buch „Stadtradeln“ ein Lob der Langsamkeit und der Möglichkeit, abzusteigen, hält und damit den Radfahrer als eine Figur wie direkt aus dem 19.Jahrhundert entsprungen zeichnet, der ein adäquates Bild des Flaneurs auf dem Fahrrad gibt10: “Der Boden ist vielfältig, wenn man ihn (notgedrungen) aufmerksam studiert.(...) Das Blickfeld des Radfahrers ist unendlich, nicht durch einen Fensterrahmen eingeengt. (...) Auch die Athmosphäre der Stadt lässt sich vom Fahrradsattel aus körperlich wahrnehmen. (...) Radfahren ohne ehrgeizige Routenplanung und ohne Geschwindigkeitsrausch kann ein Fest der Sinne sein. Nichts davon war je durch die Windschutzscheibe oder im Rückspiegel wahrzunehmen. Wer ist jetzt hier privilegiert?”11
Sondern eher Jörg-Uwe Albig, dessen gehetzter und besessener Fahrradkurier Enzberg, der - durchzuckt und getragen von ihren Stößen, von ihrem Strömen - rein von der Geschwindigkeit lebt, die er in der Stadt der Autos er-fährt, wie man Tapferkeitsmedaillen in einem Krieg der Gräben, Panzer und Sturmtrupps sich erkämpft: “Enzberg bremste nie. Dem Straßenverkehr, diesem bewußtlosen, instinktlosen, trägen Tier, trat er mit dem geschärften Bewußtsein und den sicheren Instinkten des entwickelten Menschen gegenüber. Gesammelter Jäger, der er war, mußte er jederzeit schneller sein als das zerstreute Tier. Erst die Fortbewegung trieb Enzbergs Evolution voran. (...) Erst die Fortbewegung hat das Tier zum Individuum gemacht (...) Enzberg sagte: Beweglichkeit ist Freiheit. Beweglichkeit ist die Antwort auf den Mangel.” Es kommt darauf an, die Straße in Bewegung zu halten, die steinernen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, wie man sagt. Die Stadt war ein Bildschirm, der aus dem Off zu Enzberg sprach. Sie knisterte bei Berührung, nicht bei Blickkontakt.” Enzbergs Fahrrad tastete das wilde Pflaster ab wie eine Plattenspielernadel und übertrug die Informationen exakt auf Enzbergs Membran. (...) Hier machte die Stadt endlich die Räume eng, um das Zusammenwachsen zu erleichtern, das Zusammenrücken, das die Nähe des Feindes anzeigte. (...) Er wünschte sich Häuserklippen aus Rost und Beton, die ihm über den Kopf wuchsen und seinen Blick aufs Wesentliche zurückstießen. (...) Er wünschte sich Enge, damit ihm die Enge unerträglich würde.”12
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Obgleich ich ihm natürlich für diesen Standpunkt alle meine Sympathien entgegenbringe. Zumal, da es sich um den Münchener Oberbürgermeister handelt, was ja einige Hoffnungen für eine veränderte Verkehrspolitik keimen lässt. 11 erschienen in der Reihe: Kleine Philosophie des Alltags, München 2000, S..53ff. 12 Albig 1999, S.18f. u. 51 u. 39f.
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Zugegebenermaßen geht auch diesem etwas Entscheidendes ab, um rechtmäßig das Benjaminsch-Baudelairsche Erbe antreten zu können: der „gelassene Habitus“ (der allerdings anderen, weniger Carl-Schmitt-infizierten Profi-Stadtradlern durchaus zueigen sein könnte). Enzberg gebricht es - wie dem „Mann der Menge“ Poes - an Abstand zum „manischen“ Getriebe der Großstadt. Benjamin schließt aus diesem Erfordernis, beim Flaneur handele es sich um eine historische Figur, die ihren Lebensraum nur unter den Bedingungen des Übergangs von der vor-industriellen zur industrialisierten Stadt finden konnte.13 Schivelbusch führt Benjamins These zuende, indem er die Flaneur-Theorie als Versuch, „einen letzten Nachzügler des alten Bildungsreisenden zu beschreiben“, charakterisiert und dessen Existenz im bereits vollindustrialisierten Paris Haussmanns und der Eisenbahn in den 1840er Jahren als eine künstliche.14 Doch widersprach Benjamin an anderer Stelle selbst seinem strengen Urteil, als er im Freund und Zeitgenossen Franz Hessel einen Flaneur erkannte.15 Vielleicht ahnte er, dass es schade wäre, diesen Subversiven avant la lettre aus einer Zeit, als die Revolution(en) noch hoch im Kurs standen, einfach zwischen den Buchdeckeln der Geschichtsschreibung zu mumifizieren. Möglicherweise kann uns nämlich der Flaneur über das zwanzigste noch mehr sagen als über das 19. Jahrhundert. Von den programmatisch übermüdeten Stadtausflügen der Surrealisten, der situationistischen Theorie des dérive, den medienaffirmierenden und zugleich subvertierenden Aktionen der Yippies in den USA bis zur Theorie des Verschwindens bei der Medienagentur Bilwet - in allen findet man die Struktur einer Bewegung wieder, die sich mit dem Typus des Flaneurs in ihrem dialektischen Bezug auf etwas, wovon sie sich zugleich nährt und absetzen möchte, erklären lässt: bewegte Masse, die dem einzelnen Bewegungen abnötigt und eine individuelle Praxis, die versucht, innerhalb dieser Bewegungen einen anderen Sinn zu generieren. Vielleicht muss man, wie Richard Shusterman in einem unlängst erschienen Essay über Berlin, den Aspekt der Abwesenheit betonen, um die Figur des Flaneurs auf heutige Bedingungen übertragen zu können; Abwesenheit der „praktische(n) Absichten und Dringlichkeiten“ welche die Masse dirigieren.16 Im Gegensatz zum Flaneur als anachronistischem
13 vgl. Benjamins Kritik an Baudelaires Poe-Interpretation: „Wo das Privatisieren den Ton angibt, ist für den Flaneur ebensowenig Platz wie im fieberhaften Verkehr der City. London hat seinen Mann der Menge. Der Eckensteher Nante, der in Berlin eine volkstümliche Figur des Vormärz war, steht gewissermaßen Pendant zu ihm; der pariser Flaneur wäre das Mittelstück.“ Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders. 1977, S.205. 14 Schivelbusch 2000, S.174. 15 vgl. Benjamin, Die Wiederkehr des Flaneurs, ursprüngl. veröfftl. in: Die literarische Welt, Jg.5, Nr.40; 4.10.1929), S.277-281. 16 Richard Shusterman, Ästhetik der Abwesenheit, in: lettre international Nr.43/1988, S.30-35, hier: S.34.
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Bildungsreisenden in der Interpretation Schivelbuschs - die eher auf den Anachronismus im Herzen des Tourismus weist - würde der „post-moderne“ Flaneur sich durch das Fehlen jeglicher inhaltlicher Bestimmung des Suchmotivs auszeichnen. „Der Hunger, der den Flaneur definiert, markiert die Anwesenheit einer Abwesenheit, die er nicht füllen möchte, da sie ihren eigenen Rausch mit sich bringt.“17 Der Flaneur lässt sich von der Masse/Geschwindigkeit anstecken, er nährt sich von ihrer Energie, doch er teilt nicht ihre Intentionen. Mit de Certeau könnte man diese Intentionen die (globalen/urbanen) Strategien nennen, welcher sich der Flaneur in einer taktischen Weise zugleich bedient und widersetzt. Eine affirmative und subversive Kunst des Handelns.18 Simon Sparwasser schreibt im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Subversivität des Fahrradfahrens von einer „Praxis der Zweckentfremdung: „Die roten Ampeln auf den Straßen der Autos sind dazu da, den Verkehr anzuhalten, doch ich - als Radfahrer - nütze sie, um mich gegenüber dem Autoverkehr zu beschleunigen. Die Schnellstraße in der Stadt, wie die Bundesstraße auf dem Land, die ihre eigenen Aussichten eröffnen (denn die Straße ist nicht nur eine Mauer oder Brücke, sondern auch Galerie - das ist eine Frage der Geschwindigkeit), sind dazu gemacht, den Verkehr schnellstmöglichst von A nach B zu befördern, doch ich nütze sie, um zu promenieren und zu schauen, meine Verletzlichkeit und mein Recht (dort) zu sein als Schutzschild um mich herum tragend. Die Baustellenabsperrungen tragen ihren Zweck im Namen, die Kantsteine der Bürgersteige markieren eine nicht zu überfahrende Gren-ze, die Vorrichtungen zur Verlangsamung, die Blumenkübel, die Straßenbäume, der Wechsel des Belags am Straßenrand, alle diese Hindernisse und Grenzen und Diskontinuitäten behindern den Autoverkehr oder engen ihn ein; mir können sie die Straße zum Parcours machen, wenn ich in Spiellaune bin.“19
Der Fahrradfahrer wird in der Geschwindigkeit der automobilen Stadt zum Flaneur, wenn und weil er gleichzeitig dazugehört und fremd bleibt. Flaneurtum ist eine Taktik, die aus der Not geboren ist; keine selbstzufriedene großbürgerliche Attitüde, die sich an den idyllischen Momenten der Stadt narzisstisch berauscht, wie sie mit dem Verb „flanieren“ häufig bezeichnet wird, sondern „Überlebensprosa“.20
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ebda. Vgl. de Certeau 1988, S.77ff. 19 Sparwasser, bike`n phile - website, EinTrAG am 26.9., Aqualand, Narbonne, Toulouse / Subversivität, 1999. 20 So die Bezeichnung im Titel für Uwe Dicks „Monolog eines Radfahrers“, Passau 1986 (1985). 18
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Authentizitätsmaschinen - Feldforscher 1883. Das Auto ist zwar schon erfunden, aber noch weit von der Serienreife, als in Denver/Colorado der amerikanische Arbeitersohn Thomas Stevens auf die Idee kommt, die Erde auf dem Landweg zu umrunden. Mit dem Hochrad1. Er ist Sohn einer englischen Familie, die 1871 nach Missouri/USA ausgewandert war, um dort Landwirtschaft zu betreiben, und hatte die letzten Jahre mit verschiedenen Anstellungen im Westen verbracht. Da er keine Lust mehr auf diese Art von Leben hat und ”mehr von der Welt” sehen will, wie sein Landsmann und Fahrradschriftstellerkollege Karl Kron schreibt2, aber auch über keine großen finanziellen Mittel verfügt, fasst er den Plan, mit einer Durchquerung der Vereinigten Staaten mit dem Rad von West nach Ost zu beginnen und das auf dieser Tour Erlebte niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Die Ereignisse auf einer so neuartigen Form von Reiseunternehmen müssten ein attraktives Buch ergeben, für dass er einen Verleger finden würde, der ihm dann auch seine weitere Reise finanziert. Mangelnde Erfahrung glich Stevens offensichtlich durch Mut, Entschlossenheit und Gewitztheit aus - weder war er bisher mit dem Hochrad gefahren noch hatte er je etwas publiziert. Kron - als Yale-Absolvent und Ostküstenbewohner mit einem völlig anderen Hintergrund ausgestattet, und wegen seines Radfahrengagements zu jener Zeit offensichtlich auch eine bekannte Persönlichkeit3 - berichtet in seinem opulenten Fahrradreise- und -literaturwerk Ten Thousand Miles on a Bicycle, wie er mit Stevens vor dessen eigentlicher Reise zusammentraf und ihm Tipps für die publizistische Arbeit gab. Er ist beeindruckt von der hohen journalistischen Qualität der ersten Reiseberichte Stevens´ und attestiert ihm ein natürliches Talent zum Schreiben.
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Der anfängliche Hinweis auf das Automobil erhält hieraus seinen Sinn: Was aus heutiger Sicht etwas erstaunlich erscheinen mag, nämlich die damalige Überlegenheit des Fahrrads gegenüber dem Auto - ”sogar” eines Hochrads - für Unternehmungen dieser Art, erklärt sich v.a. aus der größeren infrastrukturellen Flexibilität des letzteren. ”Während es dem Hochradfahrer Stevens 1886 gelingt, um die Erde zu fahren, scheitert noch 1908 ein großangelegter Versuch, eine ähnliche Route, die Strecke New York - Paris westwärts mit Automobilen zu absolvieren. Natürlich liegen die Gründe des Fehlschlags nicht nur in der mangelnden technischen Leistungsfähigkeit des Kraftfahrzeugs, sondern auch in seiner größeren Abhängigkeit von Straßenbau und Service. Das Fahrrad steht lange Zeit als Individualverkehrsmittel fast konkurrenzlos da.”; Rabenstein, Radsport und Gesellschaft, S.51. Die erste gelungene Unternehmung dieser Art mit dem Auto findet tatsächlich erst 40 Jahre später statt: 1927 bis 1929 umrundet die deutsche Industriellentochter Clärenore Stinnes zusammen mit einem schwedischen Kameramann und einem Begleit-LKW in einem Adler ”Standard 6” die Welt. 2 Kron 1887, S.473 3 So berichtet Stevens beispielsweise davon, wie er in einem Ort eine Geschichte über Kron erzählt bekommen habe, noch bevor er diesen selber kennenlernte: Kron hätte ”den gefährlichen Versuch gemacht, mit dem Zweirad über den Potomac zu schwimmen und sei mit einem Bootshaken vom Grunde aufgefischt worden.” (Um die Erde mit dem Hochrad, S.75.) Auch wenn sich diese Geschichte als unwahr erweist - oder gerade deswegen -, scheint sie doch zu zeigen, dass Radfahrer in dieser Zeit, noch mit der pionierzeittypischen Aura des Exzentrischen ausgezeichnet, einen höheren Grad an öffentlicher Aufmerksamkeit genossen. Aufgrund seines ausgeprägten publizistischen Engagements dürfte Kron einer der bekanntesten unter ihnen zumindest an der Ostküste der Vereinigten Staaten gewesen sein. Sein Buch umfasst viele 100 Seiten und enthält neben seinen eigenen Reiseberichten eine kommentierte lexikalische Zusammenstellung von Fahrradpublikationen, Personen- und Tourbeschreibungen weltweit.
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„Er hatte
bisher noch nie ein Hochrad bestiegen; aber nach einem zweistündigen Probefahren fuhr er nach San Francisco, um dort vor dem Start noch ein paar Wochen zu trainieren. Er kaufte sich ein lackiertes Hochrad »Columbia Standard« mit einem Vorderrad von 1,27 Meter Durchmesser und bugsierte dies ruhig in 105 Tagen über den Kontinent. Colonel Pope tauschte ihm daraufhin sein »Standard« in ein vernickeltes »Expert« um, machte aber ansonsten keine Anstalten, die Fortsetzung des Unterfangens zu sponsern.”4
Colonel Pope, mit bürgerlichem Namen Albert A. Pope - der Militärrang stammte noch aus dem amerikanischen Bürgerkrieg - war offensichtlich ein vorsichtiger Geschäftsmann. Als Verleger der erfolgreichen Zeitschrift für Freizeit, Reise und Naturerlebnis wartete er lieber, bis die ersten Artikel von Stevens erschienen waren, bevor er eine Entscheidung über dessen Ansinnen fällte, die geplante Weltreise als Berichterstatter von Outing finanziert zu bekommen. Doch dann schlug er zu und stellte Stevens als regulären Korrespondenten von Outing ein, damit der seine Reise weiterführen und vollenden konnte. Von Stevens erhält man übrigens keinen Hinweis auf die Unsicherheiten über die Finanzierung seines Projekts, die ihn immerhin für ein halbes Jahr in New York aufhielten. Er stellt alles so dar, als hätte es gar nicht anders kommen können. ”Den Winter 1884/85 verlebte ich in Neuyork. Am 9.April 1885 schiffte ich mich daselbst an Bord der City of Chicago nach Liverpool ein - als Berichterstatter des Outing Magazine.”
Pope war nicht nur Herausgeber, sondern insbesondere einer der Begründer der Fahrradindustrie (und später auch einflussreicher Automobilunternehmer) in den USA5. Indem er alle Patente, die die Produktion von Fahrrädern betrafen, aufkaufte und Konkurrenten mit Patentprozessen aus dem Rennen warf, bzw. gegen Bezahlung Lizenzen vergab, sicherte er sich eine Vormachtstellung, die bis in die 1890er Jahre hielt. Pope war selber Ingenieur und Erfinder und arbeitete beständig an der weiteren Modernisierung und Automatisierung der Fertigungstechnik. Seine Werkzeugmaschinen dienten später dem amerikanischen Automobilbau und auch im Eisenbahnbau kamen einige seiner Neuerungen zum Tragen6. Die Fahrradindustrie hatte zu dieser Zeit eine große wirtschaftliche Bedeutung. Bei der amerikanischen Industrie kann man dies u.a. daran ermessen, dass sich in den 1890er Jahren, als die Preise für Fahrräder wegen der Sättigung des Marktes zu verfallen drohten, ein Kartell zur Erhaltung der Preise unter dem Namen »Bicycle Combination« formierte, an dem auch Rockefeller beteiligt war. Der europäische Markt wurde als Folge dieser Konzentrierung mit Billigrädern aus Amerika überzogen, was sich wiederum erheblich auf die Preise der Räder in Europa 4 Kron ebda., Übers. zit.n. Lessing, Nachwort zu Stevens, 20000 Meilen auf dem Hochrad um die Welt 1884-1886, Stuttgart 1984, S.417 5 über Albert Pope: Steven B. Goddard, Colonel Albert Pope and His American Dream Machines : The Life and Times of a Bicycle Tycoon Turned Automotive Pioneer, Boston/Mass. 2000.
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auswirkte7. Als dieses Kartell im Jahre 1900 zusammenbrach, berichteten folglich auch deutsche Zeitungen darüber. Pope gründete Fahrradklubs und setzte sich für die Verbesserung der Straßen ein. Am Massachusetts Institute of Technology finanzierte er eine Spezialvorlesung für den Straßenbau. Als es Anfang 1885 zu der Zusammenarbeit zwischen Pope und Stevens kam, schlossen sich also Industrie und Kommunikationsmedien mit einem Aufschreibsystem, bestehend aus einem Menschen und seinem technischen Fortbewegungsmittel, zu einer Zweckgemeinschaft zusammen, die man als Authentizitätsmaschine bezeichnen könnte. Deren Ziel besteht in einer möglichst publikumswirksamen Erzählung der menschlichen und technischen herausragenden Leistungen der Tour. Diese Verbindung wirkt wie eine Antizipation aller LifeBerichterstattung im 20.Jahrhundert. Die Tour war zwar ein nie dagewesenes Unternehmen, aber literarisch gut vorbereitet. Ein französischer Velocipedist und Schriftsteller, Richard Lesclide (Gründer der ersten Fahrradzeitschrift Le Velocipède Illustré und übrigens Sekretär von Victor Hugo), hatte bereits 1869 einen utopischen Roman mit dem Titel Le tour du monde en Velocipède veröffentlicht. Da der Text allerdings nie über das Erscheinen eines ersten Teils hinauskam, endete die Reise seines Helden, des amerikanischen Millionärs Jonathan Shopp, die in Paris begonnen hatte, in Sibirien. Da war die imaginäre Reise des englischen Gentleman Phileas Fogg, die Lesclides Landsmann Jules Verne 1873 der Öffentlichkeit zum Lesen gegeben hatte, schon erfolgreicher. ”Verne, selbst einer der »Grand-voyageurs du 19ème siècle«, liefert mit seinem Werk die literarische Demonstration der Herrschaft des Szientismus in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, die sich in allen Bereichen zeigt und zu der die Produkte der kinetischen Technik wie die Eisenbahn entscheidend beigetragen haben.”8 Wie man weiss, beendete Fogg nach 81 Tagen seine ”Reise um die Erde in 80 Tagen” und
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Lessing, ebda. S.418 So kostete ein Rad etwa in Deutschland 1873 400-500 Reichsmark (bei einem durchschnittlichen Monatslohn eines Arbeiters von 110 RM), 1900 nur noch 110-140 RM und 1910 war das billigste für 28 RM zu haben; siehe Lessing, Fahrradkultur um 1900, S.16f. Auch waren die Vereinigten Staaten um diese Zeit der weltweit größte Hersteller von Fahrrädern: 1897 wurden weltweit 2 Millionen Fahrräder produziert. Davon kamen 900000 aus den USA, 500000 aus Großbritannien, 350000 aus Deutschland, 90000 aus Frankreich und 60000 aus Österreich-Ungarn; Seyfert, Erich Otto, Die deutsche Fahrradindustrie (Dissertation), Heidelberg 1912; zit.n. Lessing, a.a.O., S.14. Dass für die niedrigeren Preise und höheren Produktionsraten der amerikanischen Fahrradindustrie maßgeblich Automation und Industrialierung der Fertigung verantwortlich waren, belegt z.B. folgende zeitgenössische Darstellung: ”Was dagegen die Fabrikation betrifft, so warf sich der Amerikaner mit voller Kraft auf die Erzeugung nur weniger Fahrradmodelle und richtete sich für diese die beste Arbeitsmethode ein, indem er automatisch wirkende Maschinen konstruierte und möglichst die Handarbeit vermied ... Größere Fahrradfabriken Nordamerikas emanzipierten sich sogar vom Einkaufe des Fahrradzubehörs und der Rohmaterialien, indem sie sich zur Selbstfabrikation von Sätteln, Felgen, Kugeln, Stahlröhren und Gummireifen einrichteten.”; Ritter von Paller, zit.n. Lessing, a.a.O., S.17. 8 Hoeges 1985, S.26. 7
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gewann die Wette, die Auslöser der ganzen Aktion gewesen war, dennoch, weil er im Verlaufe der Umrundung der Erde die Zeit addiert zu einem Tag dazugewonnen hatte, die ihm durch die Zeitverschiebung täglich in Minuten abhanden gekommen war. Allerdings hatte Fogg sich v.a. des Massenverkehrsmittels Eisenbahn bedient, um diese Demonstration menschlicher Verfügungsgewalt über den Raum durchzuführen9. Was durch die imaginäre Reise gewonnen wurde, war eine neue Perspektive, nämlich die planetarische - wie sie z.B. auch Ernst Jünger zum Charakteristikum der weltumspannenden Herrschaft durch Technik erklärte10; ein direkter Vorläufer von McLuhans ”elektronischem Dorf”. Eine Perspektive, die Verne zur Wahrnehmungsgrundlage der meisten seiner zahlreichen ”phantastischen” Romane machte11. Spielt in Vernes Erzählung die Verbindung einer - im weiteren Sinne - sportlichen Leistung (nicht zu vergessen, dass der Sport, in Form der alles auslösenden Wette, sozusagen am Grunde der gesamten Reiseerzählung liegt) mit der Verwendung modernster Technik und der medialen Verarbeitung dieses Ereignisses bereits eine zentrale Rolle - noch verschärft durch den Umstand, dass Fogg zeitweise mit dem Urheber eines prominenten Verbrechens verwechselt wird, so dass sich das Interesse der englischen Öffentlichkeit an der Berichterstattung verdoppelt in den buchmacherischen und in den kriminologischen Teil - so wird sie im Falle der Zusammenarbeit Stevens-Pope zum wahren „materialistischen” Motor. Wie groß der Anteil individueller imaginärer Motive bei Stevens und der herausragenden Fähigkeiten, die ihn zu einer solchen Leistung im besonderen befähigten, auch immer gewesen sein mag, ohne die Voraussetzungen zum einen einer technischen Entwicklung, die aus einem unpraktischen, schweren hölzernen Gegenstande - dem Prototyp des Fahrrads aus den 1860er Jahren - innerhalb von kaum fünfzehn Jahren eine filigrane Maschine aus Stahl machte, welche die Überwindung von 20000 Meilen größtenteils ”offroad” überstehen konnte, zum anderen des Vorhandenseins eines (zahlungswilligen) Interesses einer (Welt)Öffentlichkeit, welches sich kanalisiert in der Gestalt eines
9 Im Text von Jules Verne kommt auch kein Fahrrad vor. Dass das Fahrrad als Zeitmaschine in den Stoff gut hineinpasst, haben allerdings die Macher der Verfilmung von 1956 erkannt. Sie lassen in seiner ersten Szene Passepartout, den zukünftigen Diener Foggs, mit einem Hochrad zur Stelle seiner künftigen Arbeit fahren. Im Abspann übernimmt ein Fahrrad gar die Rolle des gegen die Zeit Reisenden selber: In einer Animation werden die einzelnen Szenen mit ihrem jeweiligen Aufgebot an Schauspielern durch Sequenzen verbunden, in denen ein Hochrad einer Uhr hinterherfährt. 10 Jünger, Der Arbeiter, vgl. auch Kap. ”Kinetische Utopie”. 11 vgl. Leopold Federmair, Entzaubern - Verzaubern. Zu den außergewöhnlichen Reisen Jules Vernes, in: Felderer, Brigitte(Hg.), Wunschmaschine Welterfindung, S.236-249, Wien/New York 1996, S.236f.
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Industriemagnaten und Verlegers, der die Finanzierung übernimmt, wäre es vermutlich nicht zustandegekommen. Zweifellos ist die Zahl der - insbesondere - englischen Gentlemen groß, die im 18. und 19. Jahrhundert auf eigene Kosten bedeutende archäologische oder ethnologische Reisen unternommen haben, und eine solche Konstellation spielt auch im späten 19. Jahrhundert noch eine gewisse Rolle. Doch die Zusammenarbeit Stevens-Pope weist einen Grad an Simultaneität von gesellschaftlichindustrieller Produktivkraft, stellvertretend herausragender individueller Leistung und medienöffentlicher Aufmerksamkeit auf, der aus der älteren Konstellation hinaus und geradewegs in die massenmedialen Bedingungen der Produktion von Wirklichkeiten im 20. Jahrhundert zu führen scheint. Hatte Stevens seine Berichte über die Amerikadurchquerung noch im nachhinein verfasst und veröffentlicht, so erschienen Informationen über den Fortgang seiner Reise ab dem Start Richtung Europa sukzessive, so dass die Leser Anteil an einer Erzählung nehmen konnten, deren Ende noch nicht geschrieben war. Und zwar in ihrer dramatischsten Form. Als Stevens im Winter 1885/86 in Teheran überwintert, schreibt Kron in New York: ”He has already made a straightaway bicycle trail of 8000 m.[miles; d.Verf.], (...) and he will extend it (...) until it completely encircles the globe, unless he gets killed on the way. Leaving the Pacific ocean at San Francisco, April 22, 1884, he pushed the bicycle 3700m. before reaching the Atlantic at Boston, August 4; and resuming his trail, on the other side, at Liverpool, May 2, 1885, he extended it 4300 m. to Teheran, the capital of Persia, September 30, where he halted again for the winter, to prepare himself for the third and most desperate stage of his dangerous round-the-world adventure. (...)”12
Die Faszination der Leser des fahrradfahrenden Berichterstatters wurde durch den ”Live”-Aspekt gleichsam verdoppelt: Man hatte Anteil an einer Handlung, die nicht nur an sich, als - abgeschlossene - Geschichte spannend genug war, sondern wahr und gegenwärtig mit allen (potentiell tödlichen) Konsequenzen; wie später die Live-Ekstasen des weltumspannenden Tele-Kultes bei Mondlandungen, Kriegen oder Olympischen Spielen. Eine ganz ähnliche Ausgangslage aus privatwirtschaftlich und medienöffentlich begründetem Interesse an der Erzeugung und publikumswirksamen Verbreitung individueller, grenzen- und maßstabssprengender Leistungen führte 1903 zur Initiierung der weltweit berühmtesten aller Fahrradtouren - der Tour de France: Henri Desgrange, selber ehemaliger Radrennfahrer - er hatte 1893 in Paris den ersten offiziellen StundenWeltrekord der Geschichte aufgestellt13 -, war 1900 als Chefredakteur der neuen
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Kron 1887, S.474 vgl. Sepp Renggli, Die Geschichte der Tour de France, in: Markus Bühler, Tour de France - Auf den Spuren eines Mythos, Zürich 1999, S.139-157; S.140f. 13
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Sportzeitung L´Auto eingesetzt worden. Er schaffte es dank der Tour de France, diese Zeitung, die nach dem zweiten Weltkrieg in L´Equipe umbenannt wurde, zur bis heute erfolgreichsten Sportzeitung in Frankreich zu machen. Automobil- und Fahrradkonstrukteure hatten sie gegründet, um dem Monopol der etablierten, täglich mit einer Auflage von fast 100000 erscheinenden Sportzeitung Le Vélo zu entgehen, unter deren Ägide das jährlich sich wiederholende, populäre Fahrraddistanzrennen BordeauxParis ausgetragen wurde14. Sie erwischten einen schlechten Start, denn Le Vélo erzwang per Gerichtsdekret eine Änderung des ursprünglichen Namens L´Auto-Vélo, so dass sich die junge Zeitung in L´Auto umbenennen musste. Doch dann überzeugte Desgrange sein junger Mitarbeiter Geo Lefèvre von der Idee, eine Fahrrad-Distanzfahrt nicht wie bisher üblich an einem Stück auszurichten, sondern in mehrere Etappen aufzuteilen und einmal das ganze Land durchqueren zu lassen. So könnte man die Neugier und Aufmerksamkeit der Sportbegeisterten über einen längeren Zeitraum wecken und wegen der sowohl nationalen als auch regionalen Bedeutung eines Sportereignisses, das alle Regionen miteinander verbindet, neue Interessenten gewinnen. Am 1.Juli 1903 verkündet Desgranges in einem Leitartikel der Öffentlichkeit das neue große Rennen. ”Mit dem mächtigen Elan, den Emile Zola in seinem Roman ‚La Terre‘ seinem Bauern gibt, lanciert ‚L´Auto‘ als Zeitung mit avantgardistischem Mut heute das größte Rennen der Welt mit den prächtigsten, unerschrockensten aller Athleten. Während 2400 Kilometern werden sie auf staunende Faulpelze am Wegesrand treffen, die sich ihrer Bequemlichkeit schämen und aufgeweckt werden von der Kraft und der unbezähmbaren Energie dieser außergewöhnlichen Männer.”15
Die schwierigste Aufgabe für die veranstaltende Zeitung war die Berichterstattung über die Tour. Mit ihr stand und fiel der Erfolg des Unternehmens. Desgrange stellte in regelmäßigen Abständen Streckenposten auf, die ihre Zwischenberichte in die Redaktion nach Paris telegraphierten, und forderte die ”farbige Reportage”16. Auch wenn der Tour nicht ein unmittelbarer publizistischer Erfolg beschert war, so gewann sie doch innerhalb weniger Jahre die Aufmerksamkeit der Massen. Nicht zuletzt dafür verantwortlich waren Skandale um Betrug und Manipulation, welche die Touren der folgenden Jahre begleiteten und prägten. Der entscheidende Durchbruch 14
Diese Motivation war zum einen darin begründet, dass Pierre Giffard, der Chefredakteur von Le Vélo, mit den Worten des Fahrradjournalisten Hans Blickensdörfer ”immer selbstherrlicher wird und unverschämte Anzeigenpreise nimmt”, zum anderen hatte es wohl auch politische Motive: Die Dreyfus-Affaire spaltete das Land in zwei Lager. Giffard gehörte zu den einflussreichsten Köpfen, die sich für den verbannten Capitaine Dreyfus einsetzten. Dabei mischte er erfolgreich Sport und Politik. ”Er ist der erste große Mixer von Sport und Politik, und die Konkurrenz stöhnt und tobt vor Hilflosigkeit.”; vgl. Hans Blickensdörfer, Tour de France, S.11. Griffards zweite Zeitung, Le Petit Journal, richtete übrigens 1894 auch das erste organisierte Autorennen der Geschichte auf der traditionellen Fahrraddistanzstrecke Paris-Rouen aus (hier hatte 1869 auch das allererste Fahrraddistanzrennen stattgefunden); Glaser 1986, S.126. 15 zit.n. Blickensdörfer a.a.O., S.19 16 ebda., S.22f.
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gelang aber mit der Einführung der legendären Bergfahrten. 1910 wurden erstmals vier Gipfel der Pyrenäen in den Verlauf der Tour aufgenommen. Im folgenden Jahr auch die Fahrt durch die Alpen. Zuanfangs hielt man in der Öffentlichkeit die Überquerung der Berge mit dem Fahrrad für ganz unmöglich. (Damit es überhaupt, infrastrukturell, möglich gemacht werden konnte, floß 1910 ein Teil des Tour-Etats von L´Auto in die Verbesserung der Straßen in den Pyrenäen.) Doch schon im ersten Jahr zeigt sich, dass die Bergwertungen das mythische Herzstück sind, dass der Tour de France vielleicht noch fehlte; die Etappen, auf denen mit Gewissheit Helden geboren und besungen werden, auf denen sich entscheidet, wer über das menschliche Maß hinauswachsen kann, wer ”von den Göttern geliebt(...)” ist17 und wer nicht. Der entscheidende Grund für den Erfolg des Sport- und Medienspektakels scheint mir die Struktur der Tour zu sein, die auch Stevens Reise zugrundeliegt - eine Aufteilung der gesamten Strecke in einzelne Episoden mit ihren je eigenen Charakteristika und Höhepunkten. Man liest die Tour wie einen Fortsetzungsroman. Die Erzählung der Tour folgt den Spuren ihrer übermenschliche Leistungen vollbringenden Helden in die entlegensten Winkel. Dabei richtet sie sich nach der Geographie der durchfahrenen, bzw. durchreisten Gegenden und bezieht daraus mythische Gehalte. Wie Roland Barthes in einem nicht in der deutschen Ausgabe der ”Mythen des Alltags” enthaltenen Essay über die »Tour de France als Epos« schreibt: ”Le Tour dispose donc d´une véritable géographie homérique. Comme dans l´Odyssée, la course est ici à la fois périple d´épreuves et exploration totale des limites terrestres. Ulysse avait atteint plusieurs fois les portes de la Terre. Le Tour, lui aussi, frole en plusieurs points le monde inhumain (...) Par sa géographie, la tour est donc recensement encyclopédique des espaces humains (...)”.18
So stehen die Geschichten aus den ersten, sogenannten mythischen Jahren der Tour de France auch in ihrem abenteuerlichen Gehalt den Erzählungen von Stevens kaum nach: Es gab Vergiftungen, Anschläge auf Leib und Maschine der in den Zeitungen als ”Giganten der Landstraße” mythisch überhöhten Rennfahrer, schwere Stürze und Verletzungen, systematische Regelübertretungen, Begegnungen mit wilden Tieren und wilden Einwohnern abseitig gelegener Gegenden.19. 17
Roland Barthes, Die Tour de France als Epos, in: Hortleder / Gebauer (Hg.), Sport-Eros-Tod, Frankfurt/M. 1986, S.25-38, S.28. 18 Le Tour de France comme épopée, in: R.Barthes, Mythologies, Paris 1957, S.114. Übersetzung: ”Die Tour verfügt also über eine echt homerische Geographie. Wie in der Odyssee ist das Rennen zugleich eine Rundreise mit Prüfungen und eine vollständige Erforschung der irdischen Grenzen. Odysseus hat mehrere male die Pforten der Erde erreicht. Auch die Tour streift an mehreren Punkten die unmenschliche Welt. (...) Aufgrund ihrer Geographie ist die Tour also eine enzyklopädische Erfassung der menschlichen Räume (...).” Barthes, Die Tour de France als Epos, in: Hortleder / Gebauer (Hg.), a.a.O. 19 Noch 1927 soll der zweimalige Tour-Sieger Ottavio Bottecchia beim Training im Friaul von einem Bauern erschlagen worden sein, der diese Tat erst dreissig Jahre später auf dem Sterbebett beichtete ... Sehr anschauliche
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Mit zunehmender Popularität wurde die Tour von einem größer werdenden Tross von Journalisten, Betreuern und Werbefahrzeugen begleitet20 Diejenigen Fahrer mit Chancen auf einen Sieg waren von Anfang an Profis. Sie fuhren für die Industrie (zunächst naheliegenderweise nur Hersteller von Fahrrädern und -zubehör), die ja schließlich indirekt - über die von ihr ins Leben gerufene Zeitung - auch für die Existenz des Rennens verantwortlich war. Bald sahen sie aus wie ”rasende Plakatsäulen”, wie der Verfasser eines Tour-de-France-Romans aus den zwanziger Jahren, der von der mythischen Anfangszeit vor dem ersten Weltkrieg erzählt, schreibt: ”(...) diese für den Laien rätselhaften Worte >Expreß<, >Stella<, >Brillant<, >Opal<, >Avanti< oder >Riva< sind die eigentliche Erklärung dieses langen Rennens. Wie überall, so muß auch beim Rennsport die Flagge die Ware decken, und die Helden der Landstraße sind letzten Endes nichts weiter als rasende Plakatsäulen.”21
Die Kombination eines epischen Geschehens mit einer von den Massenmedien vorgegebenen seriellen Produktions- und Repräsentationsweise und einem von der Industrie getragenen finanziellen Interesse erweist sich als erfolgreich und zukunftsweisend. Schon bald hat L´Auto ihrer Konkurrentin Le Vélo den Rang als führende Sportzeitung abgelaufen. Auch schon für Stevens brachte seine Fahrt, die er nach der Bewältigung zahlreicher Abenteuer von ebenfalls mythischen Proportionen22 am 17.Dezember 1886 in Yokohama für beendet erklärte, große publizistische Erfolge und weitere abenteuerliche journalistische Reisen, die er samt und sonders ohne Fahrrad antrat23; Indiz einer modernistischen, pragmatischen und an den (technischen) Möglichkeiten ihrer Zeit ausgerichteten Gesinnung, wie sie auch für Radsportler typisch war, von denen viele zum Automobilsport oder zur Fliegerei wechselten, als sich ihnen die Chance bot. Das offensichtliche Fehlen jeglicher sentimentaler Bindung an das Fahrrad, wie sie charakteristisch ist für die meisten Literaturen des Fahrrads, ist jedenfalls auffällig. Stevens´ Buch über seine Weltumradlung hatte in vielen Ländern Wiedererzählungen der Geschichten aus der Frühzeit der Tour finden sich in den ersten Kapiteln von: Blickensdörfer 1997. 20 Inzwischen besteht der Tross aus ”3500 Begleitern, 1200 Autos, drei Dutzend schweren Lastwagen und einer Armada von Motorrädern. 60 TV-Stationen verbreiten Bilder in 165 Länder. 15 Millionen Menschen warten am Straßenrand auf die mobilen Litfasssäulen, fünf Millionen konsumieren die Tour de France in Frankreich täglich am Fernseher. Hollywood könnte die Show nicht besser inszenieren.” Sepp Renggli, a.a.O. 21 André Reuze, Giganten der Landstraße, Nachdruck Berlin 1994, S.22; Herkunft und Datum der Veröffentlichung sind nicht geklärt. Vermutlich handelt es sich bei dem Verfassernamen um ein Pseudonym. 22 Er wurde zahlreiche Male bedroht, er wurde geschlagen und eingesperrt und floh, er speiste in Nomadenlagern und fuhr mit Prinzen auf Pferden um die Wette. In China, das er gegen den Rat aller allein durchquerte, wurde er auch noch krank und entkam dem Tod nur knapp. 23 Zunächst wurde er in führender Position in das Redaktionskollegium von Outing berufen. 1889 machte er sich nach Afrika auf, um den berühmten Afrikareisenden Stanley als erster vor dem Korrespondenten des New Yorker Herald zu treffen - ein Unterfangen, das ihm ebenfalls gelang und in die Veröffentlichung des Buches Scouting for Stanley in East Africa mündete. Im Jahr darauf ritt er mit einem Pferd von Moskau an das Schwarze Meer und berichtete für World über den russischen Alltag (Across Russia on a mustang, 1891, nachgedruckt als Russia observed, New York 1970). Und
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großen Erfolg. So erlebte es in Deutschland drei Auflagen innerhalb von zwei Jahren, noch ehe der zweite Teil in deutscher Übersetzung erschienen war. Hatte Stevens zwar des öfteren den Wert seines Beförderungsmittels betont, so weniger in dem Vergleich mit anderen modernen Verkehrsmitteln als vielmehr in der Konfrontation mit den „unzivilisierten Verhältnissen” in den von ihm durchfahrenen Ländern. So wird denn auch sein Unternehmen von ihm selbst und anderen als Kulturmission, d.h. als ein Medium der Übermittlung und Verbreitung der Errungenschaften der modernen Zivilisation insgesamt interpretiert, und weniger als ein Weg der Sammlung von Eindrücken und Wissen über die Völker und Gegenden der Welt. Stevens hebt vielmehr hervor, er habe weltweit ”gummine Hufabdrücke des populären Rosses unserer Tage”24 hinterlassen. In den Worten des Übersetzers der deutschen Ausgabe von 1887: „Es ist leicht begreiflich, daß das Zweirad die nur halb oder noch weniger zivilisierten Menschen des Ostens immer mit maßlosem Staunen, ja nicht selten mit Ehrfurcht erfüllte - ein Umstand, (...) der auch wieder einen Sieg westlicher Kultur bezeichnet. Und in dieser Hinsicht ist der Fahrt »um die Erde auf dem Zweirad« mit Recht ein höherer Wert beizumessen (...); sie hat eine gewisse kulturgeschichtliche Bedeutung.”25
„Kulturgeschichte” heißt in dieser imperialistischen Variante Expansion. Mit einigem Recht kann man das Fahrrad in der kinetischen Geschichtsschreibung in eine Reihe mit der weltweiten Verbreitung anderer westlicher Kulturgüter wie Automobile, Popmusik und Fernsehen stellen. Bei anderen Autoren um die gleiche Zeit und später tritt dagegen das Lob der Errungenschaften des neuen Verkehrsmittels, im Unterschied zu den anderen - modernen und altüberkommenen - Verkehrsmitteln viel mehr in den Vordergrund. Gegenüber der nur mittelbaren Wahrnehmungsweise der durchreisten Landschaften bei der Fahrt mit der Eisenbahn wird für das Fahrrad die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und Autonomie bei der Wahl der Route und der Geschwindigkeit betont. (Die gleichen Argumente gelten wenig später für das Auto, werden aber im Zuge von dessen ubiquitärer Ausbreitung für das Fahrrad zurückerobert.) Demgegenüber findet sich oft eine Kritik an den vormodernen Fortbewegungsmitteln, die zwar ebenfalls die Unmittelbarkeit des Erlebens zu gewährleisten imstande seien, aber eben als zu 1891 befuhr er mit einem Dampfschiff alleine zwei Monate lang die Donau; diese und weitere Informationen über Stevens in: Lessing 1984, S.417f. 24 Stevens, zit.n. Lessing, a.a.O., S.418 25 Dr.F.W.Schröter, Vorwort zu Stevens, in: Stevens 1888. Noch bei Clärenore Stinnes (s.Fußn.1) findet sich diese Begründungsfigur, wenn auch nicht mehr an vorderster Stelle: ”Lag für mich auch das Hauptinteresse im Kennenlernen der Länder und Völker, so reizte mich daneben doch die sportliche Aufgabe und der praktische Wert für die Allgemeinheit. Die Fahrt sollte die Fähigkeiten eines modernen Fahrzeuges zeigen. Der Wagen (...) sollte einer Prüfung unterworfen sein, wie sie in diesem Ausmaß bisher noch kein Auto bestanden hatte, zugleich aber als Pionier wirken, belehrend für
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unmodern - also zu langsam, zu unflexibel, zu unbequem oder zu kostenintensiv, oder alles zusammen - charakterisiert werden. Neben oder an die Stelle des durch den Zusammenschluss von technischen Medien mit Fortbewegungsmittel und wirtschaftlichem Interesse erzeugten Effektes der Simultaneität, welche Authentizität erzeugt, und zu einer imaginären Ausweitung des Herrschaftsbereiches der Rezipienten ihrer Erzählungen führt, tritt eine andere, ebenfalls im Namen authentischen oder unmittelbaren Erlebens auftretende Perspektive, der es um Originalität im Sinne von Unverfälschtheit der Wahrnehmung zur Ausweitung des Wissens geht. Die Perspektive des Feldforschers. Beide Perspektiven, Feldforscher und Authentizitätsmaschine, sind sozusagen die zwei Seiten der gleichen Medaille: der technischen Erneuerung des Reisens und der mit ihm verknüpften Bedeutungsproduktionen durch Individualverkehrsmittel. Beide entsprechen einem „objektiven Interesse”. Letztere dem kollektiven Bedürfnis einer Medienöffentlichkeit nach möglichst „unmittelbarer” Partizipation an den heldenhaften Leistungen einzelner herausragender ihrer Mitglieder. Ersterer dem individuellen Bedürfnis, einer gewissen, historisch relativ neuen wissenschaftlichen Konzeption folgend, authentisches empirisches Material zu sammeln. „Hence it is my desire (...), to be judged in these writings (...) less as a tourist than as a student abroad.”26
Der englische Radreisende Hugh Callan hat 1895 im Vorwort zu seinem Buch „From the Clyde to the Jordan - Narrative of a Bicycle Journey” das Programm eines solchen wissenschaftlichen Radreisens mit der obigen Bemerkung skizziert. Unter der Überschrift: ”And now a word or two as to the advantages of my mode of travel over most if not all others.” begründet er die Überlegenheit des Fahrrads als Fortbewegungsmittel für den wissenschaftlich ambitionierten Reisenden. Mit wenigen Sätzen verwirft er das Zugfahren als zu künstlich, begrenzt und gleichförmig und das Reiten eines Pferdes als zu aristokratisch und zu schwerfällig, um dann mehrere Abschnitte der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem zu-Fuß-Gehen als einziger ernstzunehmender Alternative für diejenigen zu widmen, welche der Beobachtung und dem Vergleich von Menschen und Sitten in der Fremde ernsthaft (und mit Genuss) nachgehen möchten27. Er nennt „mindestens drei Aspekte”, unter denen sich zu-FußGehen gegenüber dem Radfahren als unterlegen erweist:
die Bewohner der Gegenden, in denen ein Auto noch ein unbekannter Begriff war. Daß dabei nur ein deutsches Fabrikat für mich in Betracht kam, ist selbstverständlich (...)”; Stinnes 1929, S.4. 26 Callan, Hugh, From the Clyde to the Jordan - Narrative of a Bicycle Journey, London/Glasgow/Dublin 1895, S.V 27 a.a.O., S.Vii.
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„First, scientifically cycling is as superiour to walking as the circle is superiour to all other figures. Walking is defined to be a »continual falling forward«, a sort of sliding down the surface of the globe: but cycling is the means whereby man, being put into conformity with the general circular or cyclical law that seems to condition (...) all bodies in the universe, finds least resistance to his progress over the earth. (...) Now in cycling, the configuration of the countries, the physiognomies and characteristics of the people come before you gradually, but never too slowly, nor yet too hurriedly, (...) thus enabling you to form the most interesting and valuable inferences for whatever purposes you have at heart, topography or geography, sociology or ethnology.(...) There is no fear in cycling of being overcome with that oppressive melancholy, which all who ever done much in the way of travelling on foot know is the temperamental result of it (...) There is no time to let the spirit of the place invade you to such a degree that (...) you are incapacitated for being a spectator and judge. But rather, in cycling, it is the brightest and best that appeals to you - and as philosophers aver, we ought to judge of anything (...) by its highest and best form.”28
Während die Ausführungen über das „kreis- oder räderförmige Universalgesetz” wohl als mit einem zwinkernden Auge aufgestellt zu interpretieren sind, scheint mir aus der Betonung der Notwendigkeit einer gewissen erhöhten Grundschnelligkeit, welche das Gehen nicht zu erzeugen imstande sei, sehr deutlich die Modernität des von Callan vertretenen Ansatzes zu sprechen. Die durch den Fluss des Verkehrsmittel zusammengeschobene, oder panoramatische Sicht des an verschiedenen Orten Vorhandenen, ist nämlich eine, die erst durch das Training der Eisenbahnreise möglich wurde29. Auch die als probates Mittel gegen die angeblich durch zu starkes Affiziertwerden vom Bereisten ausgelöste Melancholie vorgestellte Flüchtigkeit der Gegenwart des Fahrradreisenden - der sich so seinerseits dem von Virilio skizzierten Transitreisenden, welcher niemals irgendwo gegenwärtig wird, schon deutlich annähert , scheint mir voll und ganz der ”modernen Flüchtigkeit” zu entsprechen. Auch der deutsche Radreisende Leonhart Siegfried, von dem weiter oben schon die Rede war, verfällt im Laufe seiner Schilderungen immer wieder in soziologische, geographische oder kulturphilosophische Überlegungen. So entwickelt er unter der Überschrift „Die Chaussee” eine an die Biologie angelehnte Taxinomie derjenigen Verkehrsteilnehmer, welche noch oder wieder die alten Landstraßen befahren. „Ich fuhr durch Holstein, Lauenburg, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Westfalen, die Rheinprovinz, Waldeck, Kur- und Darmhessen, Nassau, Hannover, Braunschweig, und Anhalt, und dachte, es wird schon anders kommen, (...), bis mir ein Licht aufging und ich merkte, sie lebt gar nicht mehr, sie ist eine schöne Mumie, eine wohlgepflegte Ruine. (...) Nichts besseres kann, wer heute von dem Leben auf der Chaussee ein Abbild geben möchte, thun, als von der Wissenschaft der Flora das System borgen. Das Leben auf der Chaussee ist dürftig und das Linnéische System einfältig. Aus Dürftigkeit aber und Einfalt erspriesst die Blume der Klarheit! (...) Man thut wohl, die Räder selbst zur Grundlage des Systems zu machen, und nach ihrer Zahl die Klassen und Ordnungen einzurichten. Auf diese Weise bildet das Einrad die erste Klasse, das Zweirad die zweite, das Dreirad die dritte und das Vierrad die vierte.”30
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a.a.O., S.ix. vgl. Kap: ”Zeitreise” und zu einer medien- und wahrnehmungstheoretischen Auseinandersetzung ”Das Fahrrad als optisches Gerät”. 30 Leonhart Siegfried, Quer durch die Geographie - Erlebnisse eines Radfahrers, Leipzig 1894, S.62f. 29
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In seiner Aufzählung kommen vor: als Einräder: Schiebkarren; als Zweiräder: Kärrner und Radfahrer; als Dreiräder: Dreirad und Dampfwalze; und als Vierrad: Milchmann, Gemüsemann, Brotwagen, Schlachter, Viehhändler, Müllmann, Botenmann, Handelsmann, Hausierer, Doktoren, Jahrmarktsaussteller31. „Das zweiachsige System, oder die Zunft der Radfahrer, ist auf der Chaussee das, was auf den Ruinen Roms, vor der großen Generalreinigung der blühende Goldlack war.”32
Diese liebevolle Charakterisierung stellt das Fahrrad zugleich als Fremdkörper und als quasi-natürliche Form der Wiederbelebung der Landstraßen dar. Als ob der Autor geahnt hätte, dass bald eine dominantere Spezies von Verkehrsmittel folgen würde, die die Fahrräder verdrängen wird, stellt er mit dem Hinweis auf die „Generalreinigung” ein Ende dieses „biologischen Systems” in Aussicht. (Obwohl in dem ganzen Buch kein einziger Hinweis auf ein Automobil vorkommt. Lediglich die Eisenbahn spielt eine Rolle.) Hundert Jahre später findet man bei dem österreichischen Sozialwissenschaftler Roland Girtler die gleiche Konzentration auf das Phänomen der alten Landstraße wie bei Siegfried und eine ganz ähnliche Bestimmung der Möglichkeiten soziologischer oder ethnologischer Forschung durch das Medium der Radtour. Girtler bezeichnet sich selber als „(d)er Radfahrer als Feldforscher, der Grenzen überwindet.” Unter dem Titel „Über die Grenzen. Ein Kulturwissenschaftler auf dem Fahrrad” veröffentlicht er seine nachträglich bearbeiteten und ergänzten Aufzeichnungen von einer Radtour durch die österreichischen und bayerischen Alpen, die er mit einer Forschung über Schmuggler und soziale Grenzgänger verband. „Ein Radfahrer überwindet Grenzen zu anderen Gebieten, aber auch zu anderen Menschen. Denn Menschen benötigt der Radfahrer, wenn er keine fixe Route hat, sondern die bestmögliche durch Befragen Einheimischer erkunden muß. Als Tourenfahrer ohne genaues Ziel bin ich in derselben Situation wie ein guter Forscher - ein Soziologe, Volkskundler oder Völkerkundler. (...) Der Soziologe oder überhaupt der Kulturwissenschaftler hat danach zu fragen, was die einzelnen Dinge (...) oder Handlungen (...) den Menschen einer bestimmten Gesellschaft bedeuten. (...) Es ist also danach zu fragen, was meinen die Leute mit ihrem Handeln, welchen Sinn verbinden sie damit. (...) Der wahre Radfahrer, der Land und Menschen kennenlernen will, befindet sich in derselben Situation. Ihn interessiert die Buntheit der Kulturen mit all ihren Erzeugnissen und Symbolen. So ist das Fahrrad ganz allgemein ein Erzeugnis der abendländischen Kultur, und speziell für den Tourenradfahrer ist es Symbol dafür (...), daß er sich von langweiligen Leuten entfernt. Mit dem Rad als Kulturgegenstand bin ich also unterwegs und schaue mir die kleinen oder größeren Welten, in denen Menschen leben, an.”33
Im entscheidenden Unterschied zu seinen historischen Vorläufern richtet sich hier, wie nicht anders zu erwarten, die Kritik an der vorherrschenden entfremdeten 31 32
a.a.O. a.a.O., S.66
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Fortbewegungsweise gegen das Auto. Überraschenderweise setzt sich Girtler bedenkenlos in die Tradition adliger Herrenreiter, während für viele seiner Vorgänger die gesellschaftliche Auszeichnung des Fahrrads gerade in seiner Demokratisierung der individuellen Fortbewegung bestand, von der sie sich einen radikalen und endgültigen Bruch mit der ständischen Tradition erhofften. Und umgekehrt führten Kritiker des Automobilismus immer wieder auch den offensichtlichen Versuch der Autofahrer ins Feld, die verlorene aristokratische Tradition wiederzubeleben34. In einer originellen Umkehrung versucht Girtler dagegen, die Radfahrer mentalitätsgeschichtlich mit den fahrenden Rittern zu verbinden, die Autofahrer dagegen mit den Fuhrleuten: „Als überzeugter Radfahrer und Kulturwissenschaftler bin ich der bescheidenen Meinung, daß ich mich in der noblen Tradition der alten Herrenreiter befinde, nämlich als ein Aristokrat der Landstraße. Im Gegensatz zum Autofahrer, der für mich der Nachfahre der sklavisch arbeitenden und fluchenden Fuhrknechte und Lohnkutscher ist. Sie alle sind durchaus ehrenwerte Leute, aber der noble Mensch läßt sich chauffieren, ob im Autobus oder im Zug. Es sei denn, er setzt sich stolz auf das Rad und wird zum Nachfahren der Herrenreiter.”35
Zum Abschluss dieses eher ver-sammelnden als analysierenden Abschnitts möchte ich noch einen Autor anführen, der empirische Forschung mit dem Fahrrad auf dem Feld betreibt, von dem „Feldforschung” vermutlich ihren Namen entlehnt hat, dem Schlachtfeld. Wilfred Pollock, Sonderkorrespondent der Londoner Morning Post, veröffentlichte 1897 ein Buch über seine Erfahrungen mit dem Fahrrad im griechischtürkischen Krieg unter dem Titel: „War and a Wheel - The Graeco-Turkish War as seen from a bicycle”. Über weite Strecken erinnert der Text auffällig an Sportberichterstattung36. Das Paar Fahrrad-Kriegsberichterstatter - der „Feldforscher” als Authentizitätsmaschine - steht in den Schilderungen Pollocks im Vordergrund. Kapitelüberschriften lauten: „The Bicycle´s Baptism of Fire”, „The Bicycle´s first triumph” oder „The Bicycle scores again”. Der Krieg dient lediglich als Kulisse für den Wettkampf der Korrespondenten, den der Autor dank seines überlegenen Verkehrsmittels ein ums 33
Girtler 1991, S.20ff. So verwendet z.B. Eva Hesse in ihrer Auseinandersetzung mit Marinetti und dessen Umgang mit Technik bei all ihrer Sympathie für die prophetischen, bzw. analytischen Gehalte des futuristischen Programms, den Begriff ”Herrenreiter” als eine der schlimmsten Charakterisierungen einer abzulehnenden anachronistischen Haltung. 35 Girtler, a.a.O., S.11. 36 Eine Stilprobe, die ”Feuertaufe des Fahrrads”: ”So dull was it that most of us went home early (...) And on Friday morning we arrived somewhat late on the scene of action, which, however, made no difference, as the first shot was not fired until nine o´clock. I had (...), as usual, given my bicycle the protection of the chapel, when a single shell hummed down from the Turkish artillery position of the previous days. The Greek guns promptly began to bang away again in the old direction, when suddenly, as soon as the smoke revealed their exact positions, a salvo of half a dozen shells arrived from a new Turkish position (...) The Turks had prepared this surprise for us during the night. Things soon became decidedly lively, as the rocky mound was now far nearer to the line of fire. (...) I had barely reached my bicycle when a shell struck the little church, and bursting, killed a Greek officer who was inside. Two brother officers carried him out to the spot where my bicycle had just been standing but he died at once in their arms, the loss of blood being tremendous. Then I had to cross about a quarter of a mile of soft ploughed land under the shell fire. It was hard work, but I rode it successfully, breaking, however, the saddle-spring when about half the distance was accomplished (...). The saddle was 34
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andere mal gewinnt. Der eigentliche Krieg, welcher in seinem Buch verhandelt wird, ist ein Kommunikationskrieg. Man könnte sagen, eine Ebene des Sports - der Kriegs-Sport, dessentwegen alle gekommen sind und den die Korrespondenten mehr oder weniger passiv über sich ergehen lassen müssen - ist in eine andere Ebene geschachtelt - die Ebene, auf der die Journalisten selber aktiv werden können bzw. müssen; das Feld, auf dem sie ihren Ruhm erkämpfen und in dem es um Schnelligkeit der Übermittlung von Information geht. Nach der entscheidenden Wende und dem Einbruch der griechischen Armee in dem Krieg beginnt zum wiederholten Male ein Wettlauf der Korrespondenten, die, da das nächstliegende Telegraphenamt nur noch Regierungsdepeschen entgegennimmt, gezwungen sind, auf schnellstem Wege nach Athen zu gelangen. Durch kluge und richtige Einschätzung der Lage und weil ihm zum entscheidenden Zeitpunkt das Fahrrad zur Verfügung steht, gewinnt der Autor diesen Wettlauf, der potentiell alle verfügbaren Verkehrsmittel mit einbezieht: Eisenbahn, Pferd, Kutsche, Dampfschiff, Privatyacht ... Fahrrad. In Khalkis, einer Hafenstadt etwa 70km Luftlinie entfernt von Athen, entscheidet er sich - nachdem er seinen Baedecker rekrutiert hat (sic!) - für eine nächtliche Fahrt mit dem Fahrrad, während die anderen Korrespondenten in dem Schiff gezwungen sind, sich nach einer anderen Möglichkeit umzusehen. Er kommt vormittags, nach einer angenehmen Fahrt im Vollmond und einem kleinen Frühstück in einem Dorf, lange vor allen anderen in Athen an und findet sogar noch Zeit, seine Kleidung zu wechseln, um respektabel gekleidet sein Telegramm aufzugeben. „The time was 9.45 A.M. as I rode up the steep Hermes Street to the Hôtel d´Angleterre. After a bath and a change into respectable clothes I sent off my telegram. Next to arrive were Captain Rose and the correspondents of the ‚Times‘ and the ‚Manchester Guardian‘, who had followed me from Chalcis in two carriages. They claim to have handed in their wires just before 4 P.M., but I fancy it was somewhat later. At all events my telegram was duly printed in London on Thursday morning, whereas Reuter´s wire about the same events only appeared on the Friday. They also acknowledge to having hired a fresh team of four horses at Thebes for the carriage (...). This little jaunt cost them 380 drachmas (...); I gave two drachmas for my breakfast. The next correspondent to reach Athens was the ‚Daily Graphic‘ man. He got in about ten o´clock that night. He had chartered a carriage at Lamia, and had driven across Central Greece until he struck the railway between Corinth and Athens. His expenses were over 400 drachmas. The others waited for steamers from Chalcis or from Lamia to Athens, and straggled in during the next two days.”37
Der Sieg ist total. (Und es ist nicht sein erster in diesem Krieg.) Nicht nur, dass er mit Abstand der schnellste war - selbst Reuters Bericht erscheint erst einen Tag nach seinem -, seine finanziellen Ausgaben blieben auch im Vergleich mit den anderen
an inferiour Brooks, with a cradle spring of rectangular steel-bar. Happily only one side of this snapped, and the machine could still be ridden (...) without much discomfort.” Pollock 1897, S.22f. 37 a.a.O., S.89f.
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verschwindend gering. Am Ende seiner Erzählungen fasst Pollock in einem eigenen Kapitel38 die Vorteile des Fahrrads für den Kriegsberichterstatter zusammen: Seine Flexibilität, die es gerade für die häufig notwendige Überbrückung geringer Distanzen ideal erscheinen lasse. Seine einfache Transportierbarkeit. Die Tatsache, dass es im Gegensatz zum Pferd weder Futter noch Wasser brauche, vor keinem Abhang und keinem technischen Gerät scheue und auch nicht gestohlen würde. Die Tatsache, dass es auch bei der Überbrückung mittlerer Distanzen schneller und weniger anstrengend als ein Pferd sei. Schließlich, dass es weniger kostenintensiv als alle anderen Transportmittel sei. Offensichtlich geht Pollock hier von einer Situation aus, in der entweder keine oder nur eine sehr begrenzte Infrastruktur besteht, sei es, dass sie wegen eines Kriegszustandes zusammengebrochen ist, sei es, dass nie eine bestand. Also die typischen Bedingungen für Feldforscher - sowohl der kriegerischen wie der ethnologischen Richtung.
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The War Correspondent and the Bicycle, a.a.O.
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Zeitreise H.G.Wells gehört zu den englischsprachigen Autoren der Jahrhundertwende, die dem Fahrrad einen gewichtigen Platz in ihrem literarischen Schaffen einräumten. Bei ihm verbinden sich Fahrradfahrt und literarische Produktion zu einer Einheit, die sich zum Teil in der inhaltlichen Ausgestaltung seiner Werke widerspiegelt (in den nicht wenigen Passagen, wo das Fahrrad selber eine Rolle spielt), insbesondere aber die Bedingungen schaffte, um eine bestimmte Art von Literatur hervorzubringen. In seiner Autobiographie schreibt Wells über seine Fluchten aus London - vor der Künstlichkeit der Umgebung der Stadt und vor dem Dasein als Theaterkritiker (das er übrigens mit seinem nicht minder berühmten Kollegen G.B.Shaw teilte, der wie Bertrand Russel oder Rudyard Kipling dasselbe Fluchtmittel wählte) - in der Zeit um 1895: „(...) in all directions stretched open and undeveloped heath land, so that we could walk and presently learn to ride bicycles and restore our broken contact with the open air. There I planned and wrote the War of the Worlds, the Wheels of Chance, and the Invisible Man. I learnt to ride my bycicle upon sandy tracks with none but God to help me; he chastened me considerably in the process, and after a fall one day I wrote down a description of the state of my legs which became the opening chapter of the Wheels of Chance. I rode wherever Mr.Hoopdriver rode in that story. Later on I wheeled about the district marking down suitable places and people for destruction by my Martians.“1
Die Eindrücke der Fahrradfahrten mündeten hier nicht wie in den vorangegangenen Beispielen in den Versuch, eine neue oder verloren geglaubte Form von Unmittelbarkeit wiederzugewinnen. Die Fahrradnovelle The Wheels of Chance ist wie The History of Mr.Polly von 1910, in der ebenfalls einer Fahrradtour zentrale Bedeutung zukommt, in erster Linie eine Erzählung in der Tradition des Schelmenromans über die Lebensbedingungen des Kleinbürgertums und deren - mehr oder weniger fruchtlose - Versuche, die Klassenschranken zu überwinden. Das Fahrradfahren eignet sich deshalb gut als Medium dieser Art von Erzählung, weil es, als ehemalig privilegierte Sportart der Oberschicht, in den späten neunziger Jahren anfängt, für andere Schichten zugänglich zu sein und darum die Klassengrenzen - zumindest temporär - verwischt2. Aber in der autobiographischen Passage kommt noch etwas ganz anderes zum Ausdruck: nämlich die Tatsache, dass Wells das Material für seinen vielleicht bekanntesten Text, The War of the Worlds, auf dem Fahrrad sammelte. Mit dem Fahrrad 1 Wells, Experiment in Autobiography, Vol.II, London 1934, S.543. Diesen Hinweis, wie den auf Shaw und Kipling, entnehme ich der Magisterarbeit von Bernd Uwe Herrmann, Das Fahrrad in der englischen Literatur 1880 bis 1960, S.33ff. 2 Auf den Zusammenhang dieser quasi stillen und technikunterstützten Form der Gesellschaftsreform werde ich später noch ausführlich zu sprechen kommen.
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konnte Wells völlig frei die Orte und Menschen in der Provinz aufsuchen, die er durch „seine Marsianer“ zerstören lassen wollte und trotzdem weiter seinen Verpflichtungen in London nachkommen. So kann man sagen, dass aus dem Zusammengehen von schriftstellerischer Energie und der Tour mit dem neuen Verkehrsmittel eine neue Form geboren wurde - die Science Fiction. Es soll Leute gegeben haben, die vermuteten, dass sich der Zeitreisende in Wells 1895 in fünf Folgen der Monatszeitschrift New Review veröffentlichter Erzählung, „The Time Machine“, die ihrem Autor einen enorm erfolgreichen Einstieg in die publizistische Welt bescherte, lediglich einen Scherz auf Kosten seiner wartenden Gäste erlaubt hat, als er mit gut einer halben Stunde Verspätung in abgerissenem Zustand völlig erschöpft und ausgehungert in der donnerstäglichen Herrenrunde erschien und behauptete, er habe in den letzten drei Stunden acht volle Tage verlebt und sei hunderttausende von Jahren in die Zukunft gereist. Tatsächlich sei er einfach von einer besonders erlebnisreichen Fahrradtour heimgekehrt, bei der er gestürzt sei. Zudem habe er zuwenig zu Essen eingepackt gehabt, und Hunger regt ja bekanntlich den freien Fluß der Gedanken und Bilder an. Auch erinnerten „die Beschreibung der Maschine mit Sattel und Gestänge auffällig an ein Fahrrad“3 Diese Ähnlichkeit hebt auch Werner Oeder in dem Text „Die wirklich erste Zeitmaschine“ hervor, dadurch, dass er ein Szenenphoto aus der Verfilmung der Erzählung von 1959 einer Aufnahme von Wells und seiner Frau mit einem Tandem gegenüberstellt. „Die Zeitmaschine ist nicht wie Vernes Vehikel imaginäres Gehäuse, die scientistische Figuration einer »Geste des Einschließens«, sondern ein offenes »Gestell«, eine Kreuzung aus Wells´ heißgeliebtem Fahrrad und der kurz zuvor erfundenen Automobilkutsche.“ 4 Tatsächlich ist auffällig, dass Wells als Form seines Vehikels nicht die geschlossene von Schiffen oder Zügen wählte, an der sich ein Großteil der nachfolgenden Science Fiction-Literatur bei der Konstruktion ihrer Gefährte orientieren sollte. Bei dieser Form ist nämlich nahes und direktes Erleben auf das des Innenraums beschränkt, während sich das außerhalb des Gefährts Abspielende nur in der abstrahierenden panoramatischen Sicht zeigt. Da Wells die Zeitreise als eine der Reise durch den Raum vergleichbare Bewegung einführt, wäre ein solches Zeitschiff oder vielleicht eine Zeitbahn - auch eine naheliegende Lösung gewesen. Doch scheint
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Schenkel, Elmar, Als das Fahrrad in die Literatur kam, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.97/1997, 26.4.1997. Werner Oeder in: Tholen/Scholl/Heller (Hg.), Zeitreise, S.34.
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es ihm bei seiner Erzählung auf die Unmittelbarkeit des Erlebens der durch die Zeitreise erzeugten psycho-physischen Effekte angekommen zu sein: Schwindel, Nervosität, Sinnenverwirrung, Verwischen, Unsichtbarwerden, eine Art hysterischer Heiterkeit. Dies sind zum Teil Effekte, wie sie schon aus den Diskursen über die Wirkungen des Panoramas aus dem späten 18.Jahrhundert5 und über die Auswirkungen der Eisenbahnreise um die Mitte des 19.Jahrhunderts6 bekannt sind. Doch kann man annehmen, dass diese Kicks aufgrund des Trainings von einer bzw. mehrerer Generationen am Ende des 19.Jahrhunderts nicht mehr spürbar waren. Das Erlebnis der puren Geschwindigkeit, welches die Zeitreise ermöglicht, muss direkt am Körper wirken. Ein Mann in der Geschwindigkeit. Und das Fahrrad war zu dieser Zeit das neue Individualverkehrsmittel, mit dem man die größten Geschwindigkeiten erzielte - bei geradezu brutal unmittelbaren körperlichen Auswirkungen; man denke an die Bezeichnung der damals immer noch in Gebrauch befindlichen, wenn auch veralteten, Fahrräder mit Stahlrahmen aus Vollrohren: boneshaker. Unter den vier hervorstechendsten Eigenschaften, neben denen, die ihm von der Literaturwissenschaft üblicherweise zugesprochen werden (zeitkritischer Prophet, Utopist, Pessimist, Vater der Science Fiction) hebt Oeder auch die Tatsache hervor, dass Wells Fahrradfahrer war: „Obwohl Wells The Time Machine traditionell erzählt und zur Etablierung seiner Erfindung viele ehrwürdige Topoi abendländischer Zeit- und Wissensspeicher versammelt (Schrift, Buch, Museum, Reise, Haus/Laboratorium), hat er diese »Schaltpläne des neuzeitlichen Wissens und Erkennens« mit veritablen Zeitzündern versehen. Diese entfalten ihre Sprengkraft aber nur, wenn die Lektüre die Perspektive wechselt: weg von Wells, dem zeitkritischen Propheten, Utopisten und Pessimisten, dem Vater der Science Fiction, hin zum »Populizer« wissenschaftlicher Spekulationen, zum passionierten Hobbyphotographen, Fahrradfahrer (»I´m a cyclist«) und Drehbuchautoren »avant la lettre«. Dann offenbaren sich die Geheimnisse der »vierten Dimension« und schreiben eine Phänomenologie der ersten Zeitmaschine mit ihren Wahrnehmungseffekten fast von selbst.“7
Die Wahrnehmungseffekte, welche Oeder beschreibt, betreffen die Funktion von literarischen Texten, Erkenntnisse der Physik sowie die Entwicklung neuer optischer Technologien, namentlich Kino und Fernsehen. Mich interessiert an dieser Stelle natürlich vor allem das Fahrrad. Auch wenn sich ein Zusammenhang zwischen dem Verfassen von The Time Machine und den Radtouren von Wells nicht wie im Fall von War of the Worlds nachweisen lässt, scheint mir das Fahrradfahren für die Zeitreise noch in anderer Hinsicht als in der Vorbildfunktion für das Modell der Zeitreisemaschine
5 vgl z.B. Albrecht Koschorke, Das Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800, in: Harro Segeberg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens, S.149ff. 6 hierzu v.a.in: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, das Kap. „Pathologie der Eisenbahnreise“, S.107ff. 7 a.a.O., S.30f.
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von Bedeutung zu sein. Handelt es sich doch bei den Radtouren der Städter in das umgebende Land am Ende des neunzehnten Jahrhunderts tatsächlich auch um eine Art von Zeitreisen: Die Städte waren im Laufe der letzten hundert Jahre auf das Zehnfache ihrer Größe und mehr angewachsen und hatten ihr Gesicht gründlich verändert.8 Auf dem Land dagegen hatte die Einführung der Eisenbahn vermutlich sogar dazu geführt, dass sich der Austausch mit den Kräften der Veränderung noch verringerte. Die Eisenbahn fuhr an den Dörfern und kleinen Städten einfach vorbei, während die alten Landstraßen, auf denen früher reger Verkehr gewesen war, die jetzt aber kaum noch einer benützte, weil man eben Eisenbahn fuhr, direkt durch sie hindurch liefen. „(K)ein Mensch, der sie nicht mit Händen griff, macht sich ein rechtes Bild von der Einsamkeit, die heut da herrscht, wo ehemals der Verkehr flutete, auf der »länderverbindenden Strasse«. Sie gleicht einem Flussbett, dem ein Kanal das Wasser entzog. Der Kanal ist die Eisenbahn (...).“9 So muss es den Radausflüglern in der Zeit, bevor die Urbanisierungswelle begann, aus den Städten in das Umland zurückzuschwappen, erschienen sein, als ob sie in eine andere Zeit reisen. Aus der Zukunft ins Mittelalter. „In der Thalenge hinten, zwischen dem Gebirge und dem Fluss, dort steht ein altes Thor, von römischer Bauart (...). - Die steinerne Brücke, unterhalb der Eisenbahnbrücke, sie hat der Bischof Balduin gebaut (...). Unter der grossen Linde hat Bonifazius den Heiden gepredigt; an dem Brunnen der Kaiser Heinrich Rast gehalten, auf der Flucht. Der Dom reckte schon vor tausend Jahren seinen grauen Thurm empor gen Himmel, und leitete den Wanderer von Ferne (...) zu den Stätten der Gesittung, in den Frieden der Stadt, auf den Markt, (...) wo trotzige Giebel und zierliche Erker Zeugnis geben von der Tatkraft und dem Bürgerstolz vergangener Geschlechter. Das alles bleibt dem modernen Reisenden verborgen.“10.
Dieses annähernd gleichzeitige Verfügbarmachen unterschiedlichster Lebensformen und -umgebungen durch die zusammenziehende Beherrschung des Raumes war als Effekt schon an der Eisenbahnreise bemerkt worden. Kommunikationsmittel - Zeitung, Telegraph, Telefon - verschärften den Effekt, an zwei oder mehr Orten, und das heißt auch: Zeiten, gleichzeitig zu sein. Im 20.Jahrhundert mündete die Erkennntnis dieses Umstands in den für die frühen Avantgarden wichtigen Begriff der „Simultaneität“11. Birgit Wagner bezeichnet diesen als „Leit-Begriff für die
8 „Die Transformation der weitgehend noch vom Mittelalter geprägten europäischen Stadt im 19.Jahrhundert, die Sprengung ihrer räumlichen Geschlossenheit, ihre weitflächige Ausdehnung als Stadtlandschaft, die Entstehung spezialisierter Distrikte (Wohn-, Geschäfts-, Industriebezirke, bürgerliche und proletarische Stadtteile, usw.) ist Resultat der industriellen Revolution im allgemeinen, der Transportrevolution der Eisenbahn im besonderen.“; Schivelbusch 2000, S.158. 9 Siegfried 1894, S.59. 10 Dieser Umstand, dass die deutschen Ortschaften, wie die englischen und französischen, ihr Gepräge im Mittalalter bekommen haben, wird auch in einer anderen Passage der Beschreibungen Siegfrieds deutlich, wenn er aufzählt, was alles der moderne Reisende (also der Eisenbahnreisende) nicht mehr zu sehen bekäme: a.a.O., S. 92f. 11 So schreibt Marinetti 1913 in dem Manifest Distruzione della sintassi. Imaginazione senza fili. Parole in libertà über die Notwendigkeit, die Auswirkungen der neuen Technologien auf die Psyche des Menschen ernstzunehmen:
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Möglichkeiten avantgardistischer Ästhetik, Veränderungen im zeit-räumlichen Vorstellungsvermögen auszudrücken“. In einem weiteren Schritt verknüpft sie ihn mit dem „Lebensgefühl der Ubiquität“, das durch die Entwicklung der Verkehrstechnik verursacht sei und schlägt für diese verkehrstechnologisch induzierte Unterart der Simultanität den Begriff „Syntopie“ vor: „Syntopie als zeit-räumliche Denkkategorie des »industrialisierten Bewußtseins« (...)“12. Das Fahrrad nun fügte zwei, drei Jahrzehnte früher, um die Zeit, als die Zeitreise als literarisches Motiv bei Verne und Wells - noch in der Sprache und den Interieurs des vorindustriellen Zeitalters - erstmals zu sich selber kam, den Reisen eine neue syntopische Spielart hinzu, indem es ein sehr altes Movens des Reisens technisch erneuerte: die Selbst-Suche. Neben das Motiv, den Kontakt zur Natur wiederherzustellen, tritt die Vorstellung des Städters, auf dem Land einer „ursprünglicheren“ Lebenswelt begegnen zu können, die - sozusagen ontogenetisch Teil der eigenen Vergangenheit sei. Die Ausfahrt aus der Stadt verbindet sich mit dem imaginären Wunsch, das Leben einer „vergangenen“ Zeit er-fahren und vielleicht auch von den dort „noch“ vorhandenen, hier (in der Stadt) aber längst untergegangenen Werten profitieren zu können Die „Unkompliziertheit“ oder „Ausgeglichenheit“ der Landbevölkerung dient dabei, nicht anders als die Darstellung der radikal zweigeteilten Gesellschaft der Zukunft in Wells Time Machine, in erster Linie als Projektionsfläche der eigenen Situation; die Möglichkeit, ein verändertes Spiegelbild des eigenen Imaginären in eine andere Lebensumwelt zu werfen - als Reflektions- und/oder Veränderungsmittel der eigenen realen Bedingungen - als Konstruktionsebene für eine Utopie. „Die Zeitmaschine ist ein bewährtes Fluchtgefährt aus der Gegenwart, das auf der Suche nach der verlorenen Utopie in eine bessere Zukunft führt (...).“13
„Der Futurismus wurzelt in der vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität, die durch die großen Entdeckungen der Wissenschaft bewirkt wird. Die Menschen von heute benutzen den Telegrafen, das Telefon, den Phonographen, die Eisenbahn, das Fahrrad, das Motorrad, das Automobil, das Luftschiff, das Flugzeug, das Kino, die große Zeitung (Synthese eines Tages im Leben des Erdballs), ohne zu begreifen, daß diese vielfältigen Mittel der Kommunikation, des Transports und der Information wesentliche Auswirkungen auf ihre Psyche haben. Ein einfacher Mann kann an einem einzigen Tag mit der Eisenbahm von einer toten Kleinstadt, wo auf menschenleeren Plätzen Sonne, Staub und Wind spielen, in eine große, lichterstarrende, lärmende, hektische Weltstadt gelangen. Beim Lesen einer Zeitung kann der Bewohner eines Bergdorfs, geschüttelt vor Erregung, den Volksaufstand in China, die Demonstrationen der Suffragetten in London und New York, den Doktor Carrel und die heldenhaften Hundeschlitten der Polarforscher miterleben. Der ängstliche und stubenhockerische Einwohner einer Provinzstadt kann sich dem Rausch der Gefahr hingeben, wenn er einen Filin über die Großwildjagd in Kongo anschaut. Er kann japanische Athleten, schwarze Boxer, unermüdliche amerikanische Spaßmacher, elegante Pariser Damen bewundern, indem er den Eintritt von einem Franc für ein Varieté berappt. Dann, in seinem bequemen Bett liegend, kann er der fernen sündteuren Stimme eines Caruso oder einer Burzio lauschen.“ 12 Birgit Wagner, Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden, S.54 u. S.55. 13 Oeder a.a.O., S.40.
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Insofern knüpft diese Art der Tour in das Umland der Städte an die Reisen Winckelmannscher Prägung zur „Wiege der europäischen Kultur“ an. Als technisierte Variante der Erneuerung (oder Regeneration) des Selbst durch das - vergangene Andere14. (weil nur das Vergangene den eigenen Projektionen widerstandslos zur Verfügung steht) stellt sie ein Bindeglied von dieser Tradition mit der für die Nachkriegszeit in Deutschland typischen Autoreise in die Berge oder an das Mittelmeer dar. Jede Epoche schreibt sich ihre Mythen selber. Die Zeit der Aufklärung warf ihre Spiegel in Richtung eines idealen Roms und Athens aus, um die Bilder zu erhalten, mit denen sich eine bürgerliche Gesellschaft humanistisch begründen ließe. Die Moderne projiziert Bilder einer naheliegenden und dennoch verlorenen eigenen Vergangenheit, in der die Menschen mit und in der Natur im Einklang gelebt hätten und die Dinge noch in eine überschaubare feste Ordnung eingebunden gewesen wären. Diese mythische Vergangenheit - gegenwärtig noch in ihren architektonischen und topographischen Spuren - ist das Mittelalter15. Seine Spuren trägt auch die Zeitmaschine von Wells, wie Oeden ausführt: „Das Design der Zeitmaschine ist der Maschinenangst des Viktorianismus und dem Handwerks-Credo der ‚Arts-and-Crafts´-Bewegung eines William Morris mehr verpflichtet als den rationalisierten Fertigungsmethoden der zehn Jahre später anlaufenden Fließbänder.“16
Der Begriff Erfahrung deutet an, dass die Wirksamkeit solcher Mythen mit der Zurücklegung eines gewissen Weges in Verbindung steht. Machten in der Antike und auch noch in der Zeit der Aufklärung und der Klassik nur einige wenige - Schriftsteller, Gelehrte, Künstler - stellvertretend für alle anderen diese Reisen oder Fahrten, deren Ergebnis eine mythische Erzählung sein konnte, nach der sich das Leben der vielen ausrichten könnte, so wurde es in der Moderne vielleicht genau zum Kennzeichen der Individualität, sich seine Bilder selber geholt zu haben.17 Die Fortbewegungs- und die Reproduktionsmittel schließen sich zu einer Maschine zusammen, deren primäres Ziel
14 „Die archäologische Reise führt also, wie es ja auch das Winckelmannsche Nachahmungspostulat vorsieht - »Der einzige weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten» -, nicht nur in die große architektonische Vergangenheit der besuchten Länder, sondern zugleich in die architektonische Zukunft der Heimatländer der Reisenden.“; Ernst Osterkamp, Auf dem Weg in die Idealität. Altertumskundliche Reisen zur Zeit des Greek Revival, in: Bausinger u.a., Reisekultur, S.190. 15 Äußerlich betrachtet so unterschiedliche Bewegungen wie die englische Arts&Crafts-Bewegung und der erstarkende deutsche Nationalismus suchen ihr Ideal in einem prä-neuzeitlichen Hochmittelalter und dessen ständischer Ordnung des Produktionsprozesses. In Deutschland erhöht man die mittelalterlichen Dombauhütten zum Produktionsgemeinschaftsideal, während Kirchen, Schulen, Verwaltungen und Kraftwerke im neogotischen oder neoromanischen Stil serienweise in industrieller Fertigung hochgezogen werden. Noch am Ende des Jahrhunderts bezieht sich die „Wiederentdeckung“ der einfachen Linie, der Flächigkeit und des Ornaments im Jugendstil bzw. Art Déco auf die Stile vor der Zeit der naturalistischen und perspektivistischen Wende der Malerei durch die Renaissance. 16 Oeder, a.a.O., S.34 17 In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, dass Wells nicht nur Fahrradfahrer sondern auch „Hobbyphotograph“ war. Sein Zeitreisender beklagt mehrfach die Tatsache, keinen Photoapparat mitgenommen zu haben.
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es ist, im Leben jedes einzelnen die Mythen zu (re)produzieren, nach denen sich das Leben aller ausrichtet. Die Zeitreise ist die pragmatisierte und vor allem beschleunigte Variante mythenbildenden Reisens. Sie beginnt morgens oder mittags neben dem Haus in der Garage, und endet dort abends auch wieder. Dazwischen liegt eine Reise, die möglicherweise genauso angefüllt ist mit Bildern mythischen Erlebens wie eine Episode aus der Gralssuche Parzifals oder aus der Odyssee. In die kontinuierliche, objektive Zeitökonomie des Arbeitsalltags schlägt sie eine zweifache Bresche: Einmal, weil die Reise in das Umland, wie ausgeführt, einer Reise in eine andere Zeit entspricht. Zum zweiten, weil die Zeit der Tour vielmehr als die des Arbeitens, selbst wenn am Anfang und am Ende eine klare Uhrzeit steht, die der Bergsonschen durée ist: Stunden können durch die Mannigfaltigkeit und Intensität des Erlebens fast beliebig zu Tagen ausgedehnt werden, Gefahrenmomente oder auch solche rauschhaften Glücks „Ewigkeiten währen“. Folgerichtig lässt Oeder seinen Artikel über Zeitmaschinen im Wohnzimmer enden. Das Fernsehen löste die mobile Form des Zeitreisens - welche in der Garage ihren Ausgangs- und Endpunkt nahm - durch sein in der Simultaneität der Programme (und Zeiten) eingelöstes Versprechen einer niemals endenden Kette erfüllter Augenblicke ab. „Diese telegene »Chrono-Slow-Motion« der Potatoes [gemeint sind Couch-Potatoes, also die Dauerfernseher] unterschiede sich nun aber in zwei entscheidenden Punkten vom Zeitreisen des Wellsschen Protagonisten: denn er brachte aus der Zukunft nicht nur eine »live« erlebte Story mit, sondern auch einen Bärenhunger.“18
[Wenn das keine angemessene Beschreibung der Vorzüge einer Radtour ist!]
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a.a.O., S.43
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Exkurs: Ablösung durch das Automobil Viele der hier behandelten Texte könnte man zu einer Gruppe zusammenfügen, deren Bezeichnung „empfindsame Reiseliteratur“ lautete1. Denn sie versuchen in der Ausfahrt mit dem Fahrrad ein Ideal des Reisens, bzw. der Erfahrung, für das moderne Bewusstsein zurückzugewinnen, dass zum letzten mal zu Goethes Zeit verwirklichbar schien. „(W)as haben wir nicht alles zu sehen bekommen, was heute sonst kein Mensch mehr sieht, der auf Reisen geht?“2 Im Unterschied zum Sterneschen empfindsamen Reisenden stehen bei den modernen Reisenden nicht mehr die Regungen des Herzens sondern die Reizungen der Sinne an erster Stelle. Ihnen zu folgen, ihnen allen gerecht zu werden, seinen Intuitionen und den Impulsen von außen zu folgen, wie sie gerade kommen, mit allen Sinnen gleichermaßen offen zu sein, wäre die modernisierte Neuauflage empfindsamen Reisens. „Das Abenteuerliche, Normlose und Ungebundene hat mit Wandern zu tun, mit der Straße, mit der Distanz zur Langeweile und Strenge des Alltags. (...) Der Radfahrer, wie er hier geschildert wurde, versucht, diese romantische Idee von der Straße zu verwirklichen. Auch wenn es nur ein Traum bleibt, das planlose Herumziehen, wie ich es liebe, so stellt es doch eine fantastische Reaktion auf die moderne Konsumwelt (...) dar. Durch das Fahrrad kann ich mich in einer zauberhaften Gegenwelt bewegen. (...) Johann Gottfried Seume (...) schreibt [in: Spaziergang nach Syrakus, München, 5.Aufl., 1979, S.5]: »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste im Menschen und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.« Ich füge dem hinzu, daß das Radfahren eine ebenso ehrenvolle Angelegenheit ist.“3
Ausgerechnet ein Autor, der gar nicht mit dem Rad, sondern mit dem Automobil unterwegs war, stellte tatsächlich die Verknüpfung des Attributs „empfindsam“ mit den Reisebedingungen moderner Verkehrstechnik her. Der prominente JugendstilSchriftsteller und -Herausgeber Otto Julius Bierbaum4. unternahm 1902 eine Reise von Berlin nach Italien, deren Beschreibung er 1903 unter dem Titel „Eine empfindsame Reise im Automobil - von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein. In Briefen an
1 Dies entspricht nicht exakt der Bestimmung, wie sie Laurence Sterne, dessen Roman Sentimental Journey through France and Italy by Mr.Yorick, erschienen 1768, als Begründer dieser Art von Literatur gilt, gegeben hat. Denn sein Reisender ist ohne statistische, ethnologische, kunsthistorische oder geographische Interessen einzig den Regungen seines Herzens folgend unterwegs. Allerdings entwickelte sich im Zuge des großen Erfolgs des Romans ein ganzes Genre epigonaler Texte, in denen einige Neuheiten der Schreib- und Wahrnehmungsweise Sternes mit dem Stil älterer Reiseliteraturen gemischt wurden. Zudem wurde der Begriff „empfindsam“ noch Jahrzehnte später, zumeist in ironischer Weise, wiederaufgegriffen und mit Reiseberichten verknüpft, die gänzlich andere Inhalte haben konnten; vgl. Gerhard Sauder, Empfindsame Reisen, in: Bausinger u.a. (Hg.) 1991, S.276ff. Entscheidend scheint mir darum für die Anwendbarkeit der Bezeichnung „empfindsame Reise“ nicht die wortwörtliche Befolgung des keine-objektivistischeHerangehensweise-Gebots Sternes, sondern das Vorliegen einer subjektivistischen, intuitiven Grundhaltung des Reisenden, möglicherweise gepaart mit einer anti-rationalistischen Tendenz. Dies dürfte auch die Haltung sein, derentwegen Bierbaum das Attribut wiederaufgriff. 2 Siegfried 1894, S.10. 3 Girtler 1991, S.198-207. 4 Er arbeitete mit an der Zeitschrift „Pan“. Später gründete er die Zeitschrift „Insel“, aus welcher der Inselverlag hervorgehen sollte.
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Freunde beschrieben“5 veröffentlichte. Seine Apologie des neuen Reisemittels übernimmt alle Argumente des Fahrrads: Individualität, erhöhte Aufmerksamkeit, frische Luft, Gesundheit, Luftdusche, Möglichkeit anzuhalten, wo man will, usw. „Kommt dieses mein freudiges Lebensgefühl jetzt (...) vom - Automobil? - ja, wenn es ein Rausch ist, der mich jetzt so heiter macht, so ist es der Bewegungsrausch. (...) Die passive Bewegung durch das Laufwagenfahren ist es allerdings gewiß nicht allein, die diesen angenehmen Effekt hat, sondem es kommt der stundenlange Aufenthalt in frischer Luft, dieses Luftwellenbad hinzu, das wohl mehr als eine bloße Hautwirkung hat. Und schließlich darf auch die heilsame Entlastung des Gemütes nicht vergessen werden, dieses Reisegefühl der Freiheit und fortwährenden Befruchtung mit neuen Eindrücken. Gebe ich jedem dieser drei Faktoren ein Drittel des Verdienstes an dieser Steigerung des Gesundheitsgefühls, so bleibt doch bestehen, daß keiner der drei Faktoren fehlen dürfte - und sie alle drei finden sich nur bei der Reise im Laufwagen in so glücklicher Dosierung vereint. Ganz junge oder besonders kraftvolle Leute wie Sie, mein Freund und Meister in allen schönen Künsten des Leibes, können es ja billiger haben: auf Schusters Rappen oder dem Rade. Für uns andere aber, die wir mit Bäuchen gesegnet und auch sonst nicht ganz auf der Höhe physischer Leistungsfähigkeit sind, erfordert andauerndes Laufen und Radeln über weite Strecken zuviel Muskelenergie, und statt Erfrischung pflegen wir Abspannung oder Überreiztheit zu gewinnen. Für uns ist also das Laufwagenreisen das Wahre.“6
Das Auto wird im Grunde vorgestellt als Fahrradersatz für unsportliche Leute. (Interpretierte man etwas überspitzt den Bierbauch als physisches Handycap und das Radfahren als bereits naturalisierte Bewegungsform, dann könnte man den Schritt vom Fahrrad zum Automobil ganz im McLuhanschen Sinne als prothetische Erweiterung interpretieren ...) Das Fahrrad als Vergleichsmaßstab zu nehmen liegt aber in dieser Zeit, da es noch kaum Automobile gab, auch aus einem anderen Grund nahe: Meistens sind es Fahrradhersteller, die zur Produktion von Automobilen übergehen. Im Falle von Bierbaums Adler Phaeton sogar die renommierteste deutsche Fahrradmarke. Im Text findet sich ein Hinweis, aus dem hervorgeht, dass Bierbaum auf dem Weg in Werkstätten sein Automobil warten ließ, die auch zur Reparatur von Fahrrädern unterhalten wurden. Die Welten von Fahrrad und Auto waren also damals noch nicht getrennt. Das Auto hatte die absolute Vormacht noch längst nicht erreicht und maß sich deshalb an seinem älteren Geschwister. Der Hauptgegner auch des neueren Individualverkehrsmittels Auto ist die Eisenbahn, die wie bei den Literaturen des Fahrrads als Verkörperung der geist- und seelenlosen, jede Individualität abtötenden Modernisierung eingesetzt wird. Erfahrung und Maschine gehen also auch in diesem Fall ein Bündnis für eine alternative Moderne ein. Bierbaum formuliert kein ganzes Lebensreformprogramm wie Bertz, aber sein Programm zur Erneuerung des Reisens richtet sich ebenfalls an alle und ist getragen von der Hoffnung, an der Erzeugung einer besseren Zukunft mitzuwirken. Zwar ist er
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Die hier zugrunde liegende Ausgabe ist ein Reprint der Erstausgabe von 1903,ersch. München/Wien 1979. ebda., S.24ff.
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sich der Gefahr bewusst, Geschwindigkeitsrausch, nicht Restitution der Empfindsamkeit, könnte zum beherrschenden Faktor der gesellschaftlichen Verbreitung des Autos werden. Aber er glaubt daran, sie durch sein leuchtendes Beispiel bannen zu können. „Die ihr es als das fauchende Ungetüm der Landstraße kennt, als die Explosionskarre, die Gestank und Entsetzen verbreitet, Pferde scheu, Kutscher wild, Hühner, Gänse, Hunde tot macht; die ihr in ihm den Moloch auf Pneumatiks erblickt, der Kilometer in sich verschlingt, um sie als Wolken benzingeschwängerten Staubes von sich zu geben; die ihr es als Maschine begreift, die den Wahnsinn up to date verkörpert: den Rasenwahn - ihr kennt es nicht. Und ihr, die es zu alledem mißbraucht, ihr verkennt seine Bedeutung auf ruchlos törichte Art. Der Sinn des Automobils ist nicht, die Schnelligkeit der Eisenbahn zu übertrumpfen, ist nicht Rekord, ist nicht Sport. Der Sinn des Automobils ist Freiheit, Besonnenheit, Selbstzucht, Behagen. In ihm lebt die Reisekutsche mit all ihrer Fülle von Poesie wieder auf, nur unendlich bereichert um köstliche Möglichkeiten des intensiveren und gleichzeitig erweiterten Genusses. Niemals vordem hat die Menschheit ein solches Mittel zur Ausbildung einer der schönsten Künste des Lebens besessen: der Kunst zu reisen. Die Reisekutsche, das Pferd, das Fahrrad, ja selbst Schusters Rappen (mit denen doch ehemals Hunderttausende deutscher Handwerksburschen wahre Meisterstücke in dieser herrlichen freien Kunst zustande gebracht haben) - sie alle sind im Vergleich mit ihm kümmerliche Surrogate, und die Eisenbahn kommt in diesem Zusammenhang überhaupt nicht in Betracht, denn sie, gerade sie, hat die Kunst des Reisens vernichtet.7
Es ist Walter Benjamin, der die entscheidende Schwachstelle dieser Argumentation erkannt und benannt hat. „Der reaktionäre Versuch, technisch bedingte Formen, das heißt abhängige Variable zu Konstanten zu machen, tritt ähnlich wie im Jugendstil im Futurismus auf.“8 Im Zusammenhang mit der Verwendung von Technik überhaupt von einem Sinn zu sprechen, der ihr innewohne und diesen aus ihrer Genealogie zu begründen, kommt einer Naturalisierung der Technik gleich. Dass eine solche Argumentation beliebig ihre Richtung wechseln kann, zeigt das Beispiel des Futurismus, der fast zeitgleich mit Bierbaum in einem Zug seine eigenen und die Wurzeln des Automythos des 20. Jahrhunderts formuliert.9 Dieser Vorwurf trifft viele der Fahrrad-Literaturen in gleicher Weise, nur dass sich das Problem einer extremen Verwendung mit extremen Folgen für Mensch und Natur hier nie stellte. Rückblickend ergibt sich als Credo aus den Ausführungen Bierbaums nicht in erster Linie der gelungene Versuch einer Wiederbelebung der klassischen Ideale des Reisens. Ihr vorrangiger Wert lag viel mehr in der pioniermäßigen Erprobung des neuen Verkehrsmittels für die nicht sportlich-wettkämpferische Dauerbelastung. „Folgenreich nicht für die Dichtung, sondern für die Technik.“10 Schließlich war Bierbaum auch 7
Bierbaum, Mit dem Automobil nach Weimar, in: a.a.O., S.234f. Benjamin, Zentralpark, in: Illuminationen, Frankfurt/M , S.246. 9 Das erste Futuristische Manifest, in dem die rasende Fahrt mit einem Auto der Formulierung der Thesen des futuristischen Bewusstseins vorausgeht, erschien 1909. Schon vorher kündigte sich in den Gedichten Marinettis die Maschinenverherrlichung an; vgl.Vinall 1985, S.82ff. 10 So auch Göpel: „Erstaunlich ist die sprachliche Klarheit, mit der Bierbaum die technischen Vorrichtungen und Vorgänge darstellt. Dabei hat er erfaßt, daß das Auto, wie jede Maschine, ein eigenes Lebewesen ist. Während dreier Monate macht sich sein lebhafter Geist täglich Gedanken über dieses neue Gefährt. Dabei kommt er zu Resultaten, die seine Reise-Aufzeichnungen über Renaissance und Antike, Reformation, Religion, Tod und ewige Seligkeit an Gehalt und Konsequenz bei weitem übertreffen. Weil neben Pan und Eros der Fortschritt sein heimlicher Gott ist. Es muß gelingen, 8
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durchaus zukunftsweisend auf Kosten eines Verlags und mit einem von den AdlerWerken gestellten Fahrer unterwegs.11 Von Bierbaums sorgfältiger Berichterstattung profitierten vielleicht auch die Liebhaber des wiederbelebten Genres empfindsamer Reiseliteratur12 durch einen kreativen Geist. Der zweischneidige Haupterfolg von Bierbaums Mission besteht jedoch darin, dem Tourismus in doppelter Hinsicht den Weg gebahnt zu haben: geistig und technisch. Die Ausgangslage für diese selbstzerstörerische Vermählung von humanistischen Idealen mit dem technischen Fortschritt, „der Wille zur Maschine, der Befreierin“13 ist dieselbe wie bei der Fahrradliteratur. Insofern kann man sagen, das Fahrrad habe das Vorbild für jenes Maschinenideal nach menschlichem Maß abgegeben. Dass es sich nicht durchsetzen wird, zeigt die Geschichte.
ihn mit der Schönheit, der strahlenden Göttin, zu vermählen, soll seine Anschauung der Welt nicht in sich zusammenstürzen. Und es gelingt wahrhaftig. (...)So wußte sich der Zeitgeist auch eines romantisch-barock wirkenden Dichters und seiner »empfindsamen Reise im Automobil« zu bedienen, um seine Ziele zu erreichen.“; a.a.O.,S. S.277f. 11 „Fahrer war Louis Riegel aus Frankfurt, Angestellter der Adler-Werke (...). Er war offenbar mit allen Instruktionen versehen, für ein glänzendes Funktionieren des »Laufwagens« zu sorgen, handelte es sich doch um eine Art Propagandafahrt für den Scherl-Verlag Berlin. Die Reisebriefe dürften zuerst als Feuilletons in den Scherlschen Blättern erschienen sein. An Lob für die Adler-Werke wird nicht gespart, die Sicherheit und der Eifer des »Führers« immer wieder gerühmt.“, so Erhard Göpel in seinem Vorwort zur Ausgabe von 1954, „Der Dichter im Auto - oder Die Wendung vom Jugendstil zur technischen Form“; Bierbaum 1979, S.276. 12 Das wäre eine eigene Untersuchung wert, ob diese Art von Reisebeschreibungen im 19. Jahrhundert tatsächlich aussterben bzw. wann sie wiederbelebt werden und in den Formenschatz eingehen, aus dem Reiseführer im Dispositiv desTourismus schöpfen. 13 Bierbaum, Ein Gespräch über das Automobil, in: a.a.O., S.242.
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Optische Apparatur „Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft (...), die du „Geist” nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. (...) Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist; hinter ihnen liegt noch das Selbst. (...) Hinter deinen Gedanken und Gefühlen (...) steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heisst Selbst. In deinem Leib wohnt er, dein Leib ist er.” (Friedrich Nietzsche - Zarathustra)
Auf der Suche nach Zeugen einer Genealogie seiner Idee einer Erkenntnistheorie des Fahrrads richtete Sparwasser an alle Philosophen, die er aufsuchte, dieselbe Frage: Lässt sich ihr Modell eines in Bewegung befindlichen Denkens mit der Vorstellung einer bestimmten Leiblichkeit so verknüpfen, dass sich daraus notwendig ein Einfluss der körperlichen Bewegung auf die geistige ableitet? Beim Aufstieg auf den Simplonpass stellt er in bezug auf Zarathustra fest, dass dieser zwar ständig seine größten Weisheiten auf der Höhe der Berge empfängt, Nietzsche aber niemals die Anstrengung des Weges dort hoch thematisiert. „Die Lektüre von Zarathustra und die Fahrten durchs Gebirge bleiben relativ unverbunden. Ich hab den Eindruck, dass der Zarathustra eigentlich eher ein Buch für die Untenbleibenden ist. Zwar werde ich dadurch angegriffen, doch nicht unbedingt in einer das Hier-oben-Sein oder Hochfahren oder auch Runterfahren verstärkenden Art und Weise. (...) Sondern in einer Art und Weise, die mich an Zuhause denken lässt und an Entscheidungen für Zuhause und an Charaktere, die ich zuhause treffe. All die Leichtigkeit und das Tanzen, das Fliegen, von dem die Rede ist in diesem Buch, scheint mir eher eins zu sein, das man heraufbeschwört - von zuhause, oder, vielleicht, von einem Unterwegs, aber einem zurückgelehnteren. In dem Buch findet (..) die Mühsal eigentlich nicht statt (...)”1
Hätte Sparwasser auf seinem Weg Kittler gelesen. (Der Besuch in Freiburg würde eine Lektüre von ”Aufschreibsysteme 1800/1900” den Spielregeln der Tour gemäß ermöglicht haben; allerdings lag hier natürlich ein Namenskonflikt vor: an die kleine Stadt knüpfte sich schon ein größerer Name - Heidegger. Bei aller Liebe, nach Todtnau wollte Sparwasser dann doch nicht fahren. Ausserdem gibt es in Freiburg kein Friedrich-Kittler Medienzentrum, wohl aber einen Martin-Heidegger-Wanderweg.) Der Weg, den Kittler weist, führt über die physiologische Natur am Boden der Sprachtheorie Nietzsches. „Wie Nietzsches Ästhetik geht auch seine Sprachtheorie von Nervenreizen aus.”2 Hinter den Metaphern lasse sich nach und seit Nietzsche keine - wie auch immer geartete - Natur der Sprache oder des Besprochenen (mehr) finden, sondern lediglich die Natur der Sprach- bzw. Rezeptionsorgane. „Statt Medien auf eine gemeinsame Wurzel vom Typ poetischer Einbildungskraft zurückzuführen, trennt Nietzsche Optik und Akustik wie »Schauwelt« und »Hörwelt«. (...) Nur eine Hörwelt, wo Klänge und Farben 1
Simon Sparwasser, aus den Tondokumenten, Bergwertung.2, Simplonpass, Schweiz 1999.
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über Formen und Moralen triumphieren, bliebe bei aller Selektion ihrem unmenschlichen Hintergrund nahe, der (wie man weiß) auf den Götternamen Dionysos hört. Aber auch das optische Medium Apollons fungiert nicht anders. (...) Nietzsches Schauwelt entsteht im Auge selber.”3 Nietzsche vergleicht die „Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden”4 mit den Flecken, welche durch den ungeschützten Blick in die Sonne hervorgerufen werden. Die Welt des zu Sehen Gegebenen als Reizschutz. Das nimmt unmittelbar Bezug auf die seit der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts fortdauernden wahrnehmungsphysiologischen Versuche im Sinne eines Gustav Fechner, Hermann von Helmholtz oder, etwas später, Wilhelm Wundt, die unternehmen, Wahrnehmungen - als Nervenreize - auf ihren physiologischen, quantifizierbaren Grund zu bringen. Gustav Fechner - den man wegen seines 1860 erschienenen Werks „Elemente der Psychophysik” und v.a. wegen des nach ihm und seinem Lehrer Ernst Weber benannten „Weber-Fechnerschen Gesetzes”, welches die funktionelle Beziehung zwischen Empfindung und Reiz mathematisch ausdrück- (und rechen-)bar machte, als Begründer einer „streng empirischen, experimentellen und quantitativen Psychologie” betrachten kann5 - unternahm wie seine Forscherkollegen Sir David Brewster, der Erfinder des Kaleidoskops und des Stereoskops, und Joseph Plateau, der Erfinder des Phenakistiskops, optische Selbstversuche. Alle drei erblindeten in Folge ihrer Nachbildversuche mit der Sonne vorübergehend oder - wie im Falle Plateaus dauerhaft. Helmholtz, der 1847 den 1. Hauptsatz der Thermodynamik biologisch begründet hatte und dem es 1852 als erstem gelang, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Nervenerregungen zu messen, setzte „Empfindungen” konsequent in Abhängigkeit von den elektrophysikalischen Flüssen der sie begründenden Nervenreize. Er verglich Nervenbahnen mit Telegraphendrähten und machte so den wahrnehmenden Körper zum Medium eines komplexen Informationsübermittlungssystems, das keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen körperinneren und körperäußeren Informationsquellen bzw. der sie sendenden, verarbeitenden und/oder speichernden Maschinen/Organe kennt. „Der Betrachter wird nun zu einem neutralen Leiter, einem Sender unter anderen, mit optimalen Zirkulations- und Austauschmöglichkeiten, ob es um Waren, um Energie, um Kapital, Bilder oder Informationen geht.”6
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Kittler 1987, S.193. ebda., S.193f. Nietzsche, Geburt der Tragödie; hier zit.n. Kittler a.a.O. 5 vgl. hierzu wie zu allen anderen optische Phänomene und Geräte sowie Forschungen im 19.Jahrhundert betreffenden Aspekten das hervorragende Buch von Jonathan Crary, Techniken des Betrachters; hier: S. 145f. 6 Crary a.a.O., S.99. 3 4
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Kittler nun interpretiert Nietzsches Beschreibung der Lichtbilderscheinungen des Apollinischen als Filmtheorie vor Erfindung des Films. „Apollinisches und Kino, beide basieren sie auf angewandter Physiologie: den entoptischen Nachbildern bzw. der gleichfalls von Nachbild- und Stroboskopeffekt bewirkten Illusion, diskrete Bilder von zureichend hoher Frequenz seien ein Kontinuum.”7 In ähnlicher Weise finden sich in zahlreichen literaturwissenschaftlichen und filmhistorischen Arbeiten die optischen Geräte und Effekte, wie auch deren Beschreibungen bzw. metaphorischen Verwendungen in Texten und Kunstwerken der Neuzeit, als ”proto-kinematographische”8 Phänomene in eine genealogische Geschichte eingeordnet, an deren Ende, oder als deren Vollendung, das Kino steht. Die Konzentration auf das Kino suggeriert, dass der entscheidende Wandel zum modernen „kinematographi-schen Wesen” unserer Wahrnehmung9 gegen Ende des 19.Jahrhunderts, um die Erfindung des Kinematographen im Jahr 1895 herum, stattgefunden habe. Crary betont dagegen die Notwendigkeit zu sehen, dass es nicht einfach eine genealogische Linie von der Camera obscura der Renaissance über den Fotoapparat - der 1839 erfunden wurde - bis zur Projektion bewegter Bilder gebe. „Wenn der Film und die Fotografie im späteren 19.Jahrhundert formale Vergleiche mit der Camera obscura geradezu herauszufordern scheinen, dann geschieht das innerhalb eines sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Kontexts, der bereits tiefgreifend mit den Bedingungen des Sehens, die die Voraussetzung dieses Gerätes waren, gebrochen hatte.”10 Vielmehr habe bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein entscheidender Einschnitt, der zum Entstehen der modernen Wahrnehmung führte, stattgefunden. Die sich als Wissenschaft zwischen 1820 und 1840 neu formierende Physiologie gehört zu den Wissenschaften, die den von Foucault so ausführlich beschriebenen Bruch in der episteme um 1800 vollziehen: Die Form der Erkenntnis ist künftig nicht mehr abhängig von irgendwelchen, wie auch immer zu bestimmenden, idealen oder transzendentalen Größen, sondern von den anatomischen und physischen Funktionen de der SprachtBlick aus Fleisch”11. Dieser wahrnehmungsphysiologische und empirische turn in den wissenschaftlihchen Untersuchungen ging einher mit Erfindungen neuer beweglicher und bewegter 7 Kittler a.a.O., S.194. Verwendung desselben Arguments vor dem Hintergrund der Fechner´schen Untersuchungen zum Nachbildeffekt auch in: Kittler, Grammophon Film Typewriter, S.184. 8 Diesen Begriff entnehme ich dem - übrigens sehr informativen - Sammelband ”Die Mobilisierung des Sehens - Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst”, hg.v. Harro Segeberg. 9 So Bergson in: Schöpferische Entwicklung, Jena 1907, zit.n. Segeberg, Proto-kinematographische und kinematographische Wahrnehmung, in: ders., a.a.O. S.353. 10 Crary, a.a.O. S.39.
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optiescher Apparaturen, welche auf der Basis deorie Nietzsches. „„ Nietzsche vschungsmögelichkeit des menschlichen Auges funktionieren und den Bewohnern der modrgnen Geselllschaften bis zur Einführung des Kinos als wichtigste optische Unterhaltungsmittel (neben der Photographie) dienten: Thaumatrop, Phenakistiskop, Zootrop, Stereoskop. Betrachtet man die Bedingungen, unter denen diese Geräte erfunden wurden, sowie diejenigen, unter denen sie funktionieren, fällt auf, welch große Rolle Verkehr und Maschinen - konkret: die sich schnell drehenden Räder der Industrialisierung - dabei spielen. Die Beobachtung sich drehender Eisenbahnräder oder Zahnräder oder der Rhythmisierung der optischen Eindrücke beim Blick aus dem fahrenden Zug lieferten oftmals die entscheidenden Erkenntnisse und Ideen zur Konstruktion eines optischen Apparates12. eWie die Erforschung des Nachbildes so führten auch neue Erfahrungen mit Geschwindigkeit und mechanischen Bewegungen zu der Erkenntnis, daß es zwischen den optischen Eindrücken und ihren äußeren Ursachen große Divergenzen geben kann. Das Phenakistiskop belegt Benjamins Argument: »So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art.« (...) Das Gerät, mit dem ein neuentstandenes Publikum Bilder konsumierte, die die Illusion von Wirklichkeit erweckten, glich formal den Apparaturen, mit denen Erkenntnisse über das Sehen und den Betrachter gesammelt wurden. (...) Der individuelle Betrachter ist zugleich Zuschauer, Objekt empirischer Forschung und Beobachtung sowie Bestandteil der maschinellen Produktion. (...) In allen drei oben erwähnten Modi wird der Körper einer Anordnung von sich drehenden und sich regelmäßig bewegenden Teilen angegliedert und bedient sie zugleich.”13
In einer kinozentrierten mediengeschichtlichen Erzählung droht die alle Lebensbereiche betreffende Reichweite des Prozesses der Industrialisierung der Sinne aus den Augen zu geraten. Dies geschieht in einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Industrialisierungsprozess und Kino: Möglicherweise ist das Kino tatsächlich die wirkungsmächtigste Umsetzung des neuen Wahrnehmungsdisposititvs der Moderne. Dies begründete zurecht seine Verwendung als Leitmetapher. Jedoch verschwindet in dieser Verwendung, wenn sie - wie so oft - der zukunftsprojektiven Erzählung einer Geschichte der Entwicklung zum Computer und zur Virtualität der Wahrnehmungen untergeordnet ist, leicht das Wissen um die Herkunft des Kinos aus dem
11
vgl. Abschnitt 9.III, Die Analytik der Endlichkeit, in: Foucault, Die Ordnung der Dinge, S.377ff. Bei Crary: a.a.O.,
S.87f.
12 so bei Faraday, Purkinje und Roget; vgl. Crary a.a.O. S.115f. Die Bedeutung des Rads hebt auch Weibel in seiner ansonsten allerdings völlig (computer)bild-zentrierten Darstellung der Geschichte der Wahrnehmung hervor: ”Die Maschinen benützten gleichsam die optischen Defizite des Auges, die vom Physiologen vermessen wurden, um eine maschinengestützte Kunst der optischen Täuschungen, insbesondere der Bewegungssimulation, zu erzeugen. Weil diese frühe mechanische Phase der industriellen Revolution selbst von Rad-Technologien gezeichnet war, hießen auch die ersten kinematographischen Apparate ”Lebensrad” (Stampfer), ”Radbilder” (Faraday), ”Scheiben” (Stampfer), ”Trommeln” (W.G.Horner).” Peter Weibel, Neurocinema. Zum Wandel der Wahrnehmung im technischen Zeitalter, in: Felderer, Wunschmaschine Welterfindung, S.167-184, hier: S.170f. 13 Crary, a.a.O. S. 116.
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Industrialisierungsprozess, der mit einer Hinwendung zum Körper einherging. Dann wird Industrialisierung zur bloßen Fußnote der Mediengeschichte. Plötzlich war der bewegte, vermessene, in Apparaturen eingeschlossene und manipulierte, abeicht die „ilderscheinungen deRecht” gebrachte, Körper schon immer (oder wieder) bloß die Hülle, die man auf dem Schreibtischstuhl oder in der Couch zurücklässt, wenn man in Cyberwelten unterwegs ist. Der Ansatz von Crary dagegen erlaubt eine gleichberechtigte Untersuchung neuer Wahrnehmungstatsachen in der Moderne auf verschiedensten Gebieten, bei der die Frage nach der Art und Weise, in der Körper in bestimmte Wahrnehmungskonfigurationen - also auch und insbesondere in die von Verkehrsmitteln - eingespannt sind ebenso berücksichtigt wird, wie die Frage nach der Qualität medientechnologisch erzeugter optischer oder akustischer Phänomene. sKaleidoskopisch” nennt Wilhelm Wolf in sophokleitzten Blick in die SonFahrrad und Radfahrer” die Wahrnehmung des Fahrradfahrens.14 Baudelaire hatte das Kaleidoskop mit der Moderne schlechthin gleichgesetzt. Kosmopolitisches Ideal nannte er, ein »mit Bewußtsein ausgestane hervors fortdauernden wahrnehBei Baudelaire symbolisiert das Kaleidoskop als Apparat zur Fragmentierung fester Bildpunkte und zum Zertrümmern jeglicher Stabilität die Desintegration einer vormals einheitlichen Subjektivität und die Zerstreuung des Begehrens in neue wechselhafte und labile Anordnungen.”15 Das Fahrrad ist eine optische Apparatur, welche es den Menschen am Ende des ersten modernen Jahrhunderts erlaubt, dmungsphyseines 1860 erschienenenmit Bewusstsein ausgestatteten Kaleidoskop zu werden”. Hier rühre ich an die Grundthatsache in der Ästhetik des Fahrrades. Der flüchtige Blick, die Raschheit des Wechsels, die Flucht der Momentbilder im rasenden Flug, auf dem rollenden Rad, während das Auge unablässig die Bahn controlliert: diese neue Art zu schauen bedingt gewissermaßen auch eine neue Ästhetik. Das Weltbild zu Rad ist ein anderes als im Auge des Ruhenden, der sich in jedem Blicke sättigen mag. Ich möchte glauben, dass die Momentphotographie des Radfahrerauges der modernen Art, dem nervösen Geiste der Zeit völlig entspricht. Beschaulichkeit, Versenkung - nichts könnte unzeitgemäßer sein. Wir nehmen überall am liebsten nur ein paar Augen voll, aber das herzhaft. So macht es der Radfahrer. Der rasche Coulissenwechsel ist es gerade, der entzückt. Es ist wie mit dem Theater im Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie das Drama die Begebenbeiten des Lebens zusammendrängt, seine Nichtigkeiten unter den Tisch wirft, die Ereignisse von Jahren in wenige Stunden bannt, so gedrängt wird das Schauen zu Rad: die langen Veduten werden zu eiligen Blicken, überall flinker Scenenwechsel und rasche Anschlüsse.”16
Diese Zeichnung der Wahrnehmung des Fahrradfahrens durch den Wiener Volkskundler Haberlandt ist Ausdruck der Selbstcharakterisierung der modernen 14
Wolf 1979, S. 238. Crary, a.a.O. S.118. Haberlandt 1900, S.130f. Die Metapher einer Fotografie, die sich in der Geschwindigkeit auf die Innenseite des Gehirns belichtet, noch ehe man weiss, was man von dem Gesehenen zu halten hat, verwendet auch Wells in der Geschichte von Mr.Hoopdriver, die ich im ”Zeitreise”-Kapitel bereits ausführlicher behandelt habe: ”And then he had 15 16
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großstädtischen Wahrnehmung als Resultat einer ”Steigerung des Nervenlebens”17. Zugleich enthält sie alle wichtigen Aspekte des von Schivelbusch charakterisierten panoramatischen BlicksWerks „m Lehrer Ernst WeberDer flüchtige Blick, die Raschheit des Wechsels, die Flucht der Momentbilde benannten „r machte, als Begrünam liebsten nuder einer „enerregungen zu messflinker Scenenwechsel und rasche Anschlüsse”; dies alles sind Voraussetzungen und zugleich Ergebnis dessen, was der Eisenbahnautor Gastineau 1861 treffend als synthetische Philosophie des Auges bezeichnet hatte18. Diese musste sich unter den neuen industrialisierten Bedingungen des Reisens erst entwickeln, damit die Eisenbahnfahrt als lustvoll erfahren werden konnte. Denn für die Vertreter der alten Form des Reisens bedeutete die Fahrt mit der Eisenbahn ausschließlich einen fundamentalen Verlust gegenüber der vorindustriellen Reise und war im übrigen beständiger Quell von Ängsten19. Am deutlichsten kommt diese Wahrnehmung in der Metapher vom Eisenbahnreisenden als Gepäckstück und von der Eisenbaen, setzte „„eorie vor ErfindungSo wie die Eisenbahn als Projektil wird die Reise in ihr als Geschossenwerden durch die Landschaft erlebt, bei dem Sehen und Hören vergeht. (...) Geräusche, Gerüche, Synästhesien gar, wie sie für die Reisenden der Goethezeit zum Weg gehörten, entfallen. (...) Die Reisenden, die im Unterschied zum Lokführer nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit haben, vorwärts zu schauen, sehen nur mehr eine verflüchtigte Landschaft.”20 (Einen Nachhall findet diese Ansicht in den zahlreichen, für eine bestimmte Art von Fahrradliteratur konstitutiven, Eisenbahnkritiken à la Bertz oder Siegfried.) Ganz anders dagegen die Vertreter einer neuen Ästhetik der Geschwindigkeit, die wie Gastineau das Niedagewesene der durch die Eisenbahnreise erzeugten Landschaftserfahrung sehen und begrüßen. Der panoramatische Blick aus dem Abteilfenster wird Zeuge einer ”durch die Bewegung konstituierte(n) Szenerie, deren Flüchtigkeit die Erfassung des Ganzen, d.h. einen Überblick möglich macht.”21 Aus der Anpassung des Menschen an die Maschine Eisenbahn entsteht eine völlig neue Sicht der Welt und das heisst, des Films. „scheidende Wandel zDer panoramatische
passed them, and was riding on towards Haslemere to make what he could of the swift picture that had photographed itself on his brain.” Wells 1925, S.63. 17 vgl. Simmel, Die Großstädter und das Geistesleben: ”Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht”; in: ders., Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Dresden 1903, S. 185-206. 18 Benjamin Gastineau, La vie en chemin de fer, Paris 1861; zit.n. Schivelbusch 2000 (1977), S.59. Auf Gastineau bezieht sich auch Virilio im Rahmen seiner die Dromologie begründenden Untersuchungen zum Phänomen der Geschwindigkeit bzw. des Fahrens; vgl. Fahrzeug, in: ders. Fahren, fahren, fahren, Berlin 1978, S.19-73; hier: S.25. 19 vgl. dazu Schivelbusch 2000, S. 52ff. u. 74f. 20 ebda. S.53f. 21 ebda. S. 59.
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Blick gehört (...) nicht mehr dem gleichen Raum an wie die wahrgenommenen Gegenstände. Er sieht die Gegenstände, Landschaften usw. durch die Apparatur hindurch, mit der er sich durch die Welt bewegt. Diese Apparatur, d.h. die Bewegung, die sie herstellt, geht ein in den Blick, der folglich nur noch mobil sehen kann. Die Mobilität, für ein traditionell orientiertes Sensorium (...) Agent der Wirklichkeitsauflösung, ist für den panoramatischen Blick die Grundlage der neuen Normalität.”22 Dies sind die technik- und wahrnehmungsgeschichtlichen Voraussetzungen, vor deren Hium modernen „-, um die ErfindungÄsthetik des Fahrrads” proklamiert. Was ist das tatsächlich Neue daran? Der Jugendstilautor Oscar Bie sucht drei Jahre vor Haberlandt eine Antwort auf diese Frage, indem er das Erlebnis der Ausfahrt von der Stadt ins Land im Zug vergleicht mit dem auf dem Fahrrad. Wenn man nach langem Stadtaufenthalt in der Eisenbahn hinausfährt, so saugt man gierig die Landschaft durch die Fenster. Die Bahnhofshalle bleibt zurück, die Geleise laufen allmählich zusammen, der Zug schneidet auf gebundener Route gleichmäßig stolz durch die Vorstädte hindurch, die ersten ärmlichen Felder kommen, noch wie gesengt vom Stadtdunst, die Villen, die Gartenlokale, die offene Landschaft und das dörfliche Leben entwickeln sich organisch und dann fliegt das ganze Land vorbei. Was man vom Eisenbahnfenster sieht, ist kein intimer Genuß, es ist ein geographisch-kultureller Genuß. Es ist die Entwicklung der Stadt zum Land und des Landes in seinen großen Zügen; aber man sieht es doch immer wieder und man fühlt einen unendlichen Reiz gerade in der Schnelligkeit der Entwicklung. Dieser eigentümliche Natursinn, der vom Eisenbahnfenster aus gleichsam nur gebunden und käfigartig sich befriedigt, wird beim Radeln frei und selbständig. Man hält sich nicht beim Grashalm und der Libelle auf, man zwingt die Landschaft in großen Zügen und erlebt die Geographie als etwas Wirkliches. Es in der eignen Macht zu haben, sich aufzusetzen, das Geäder der Stadt bis zum Land und die natürlichen Linien des Landes selbsttätig zu durchlaufen, das weitet den Horizont und gibt Dingen einen Wert, den sie durch die Periode der intimen Landschaft verloren hatten. Ich kann mir einen genialen Maler vorstellen, der auf dem Rade das Breite, Reiche, Vedutenhafte, das früher an der Bädekerei scheiterte, in einem anderen, modernen, großzügigen Sinne der Landschaft wiedergewinnt.”23
Zunächst beschreibt Bie anschaulich Qualität und Funktionsweise des panoramatischen Blicks, der dem Reisenden am Ende des 19.Jahrhunderts in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dann stellt er die Verbindung zum Fahrradfahren her, indem er zugleich den Bruch markiert: Dasselbe panoramatische Erleben eröffne sich auch dem Fahrradfahrenden, aber ohne die Beschränkdes Kinematon der Camera obscuranur gebunden und käfigartig sich befriedigt.” Schivelbusch hat den Zusammenhang zwischen Eisenbahnreise und Industrialisierung mit Marx auf die Formel gebracht, die industrielle Produktion der Eisenbahn sei die Ortsveränderung. Das Besondere dieses Industrieproduktes sei, dass Produktion und Konsumtion gleichzeitig stattfänden. Wie in allen anderen Sphären der Industrialisierung auch sei aber die industrielle Fertigung eines Gutes immer mit einem Verlust der individuellen
22 23
ebda S.62f. Oscar Bie, Fahrradästhetik, in: Jürg Mathes 1984, S.65-68.
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schöpferischen Beziehung zum Pro der Renaister Bilder gebe. „Die industrielle Revolution, sowohl die der gewerblichen Produktion wie die des Reiseverkehrs, macht mit der ästhetischen Freiheit des Individuums Schluß. Das vorindustrielle Subjekt bildete sich in lebendiger unmittelbarer Interaktion mit seinem Gegenstand, sei es als Handwerker im Verhältnis zum Arbeitsgegenstand, sei es als Reisender im plastischen Verhältnis zur durchreisten Landschaft. Diese lebendige Verbindung wird vernichtet durch die sich immer mächtiger dazwischenschiebende Maschinerie.”24 Wenn das Fahrrad im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts eine neue subjektive Ästhetik begründet, wie Bie und Haberlandt übereinstimmend konstatieren, dann ist das Neue des Fahrraderlebnisses im Vergleich zum Eisenbahttgefunden. Die sich als Wissenästhetischen Freiheit des Individuums” für das industrialisierte Bewusstsein. Hatte die Eisenbahn als optische Apparatur alle ihre Insassen gezwungen, im gleichen Takt der Maschine dieses Training der synthetisierenden Kraft der Wahrnehmung unter beschleunigten Bedingungen zu absolvieren, so ermöglicht das Fahrrad (wie später auch das Auto) die freie Anwendung des neu Erlernten, eine lustvolle individuelle Aneignung der durch die Industrialisierung beschleunigtenie Form der Erkenntnis ist künfiBlieb die Geschwindigkeit des Eisenbahnpassagiers an die kollektive Bewegung des Zuges gebunden, so konnte der Radfahrer diese »Momentbilder« durch Steuerung der Bewegung seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend anpassen, intensivieren oder verlangsamen. In der Kontinuität dieser Modernitätserfahrung wurde die panoramatische Wahrnehmung bei gleichzeitiger individueller Beherrschung der Geschwindigkeit gleichfalls zu einer verinnerlichten Erfahrungsform des Autofahrers.”25 Erzeugt die Eisenbahn eine lineare und stetige Abfolge diskreter Bilder, so fragmentarisiert der kaleidoskopische Blick des Fahrradfahrens die Ergebnisse der synthetischen Leistungen der panoramatischen Wahrnehmung und erzeugt potentiell eine simultane, bzw. syntopische26 (Un)Ordnung heterogener Bildinhalte. Wichtig ist noch, dass die Produktion und Geschwindigkeit der kaleidoskopischen Effekte in einem hohen Maße der Kontrolle des Fahrradfahrenden unterliegt (zumindest sobald er oder sie das Fahren halbwegs sicher beherrscht). Geschwindigkeit, Blickrichtung, Blicktiefe sind - neben der natürlich nicht zu unterschätzenden Bedeutung der Straßenbeschaffenheit und geografischer Verhältnisse - Funktionen eines Menschen 24 25
Schivelbusch, a.a.O. S.111. Wolfgang Ruppert, Das Auto, in: ders. (Hg.) 1993, S.144f.
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und nicht einer Maschine. Man könnte auch sagen, während der Blick aus dem Eisenbahnabteil dem Blick durch eine statisch installierte Kamera entspricht (ob man nun selber durch die Landschaft fährt oder die Landschaft wie im Studiofilm als Rollkulisse an der Kamera vorbeigezogen wird, macht bei fehlendem Vordergrund optisch keinen Unterschied), wird die Kamera im Blick vom Fahrrad zur Handkamera, die sich nach Belieben in unterschiedlichste Richtungen und Entfernungen fokussiert. Die individuelle und intuitive Anwendung des durch die Trainingseinheiten mit Eisenbahn und den expliziten optischen Apparaturen Verinnerlichten weist Fahrradfahren - wie vermutlich alle Praktiken von Geschwindigkeits- und Zeitsportarten in dieser Zeit - als Protagschen Funktionen deaus, in der „der Alltag selber, vom Arbeitsplatz bis zur Freizeit, längst ein Labor geworden ist.”27 (Nicht zufällig bezieht sich der Fahrradphilosoph Bertz gerade in den Passagen, die die Rationalität des neuen Verkehrsmittel behandeln, auf Richard Avenarius, einen Schüler Wilhelm Wundts, dem Begründer der experimentellen Psychologie.28) Kittler zeigt, dass für die Entstehung einzelner spezialisierter technischer Medien und der späteren Medienverbünde die Isolierung der Wahrnehmungsorgane und die Ausschaltung (oder maximale Steigerung) von Nervenreizen bis zur „sensory deprivation” in physiologischen Versuchsanordnungen konstitutiv war29. Das gleiche Phänomen lässt sich bei der Entwicklung der „Medien” des modernen Verkehrs beobachten. War den frühen Eisenbahnreisenden, wie in der oben zitierten Beschreibung Schivelbuschs zu lesen, „hören und sehen vergangen”, so errichtete sich auf der Grundlage dieses durch Überforderung (des Augensinns) bzw. Isolierung (der dem Bereich der durchfahrenen Landschaft zugehörigen akustischen, olfaktorischen und haptischen Phänomene von dem Raum, in dem sich der Eisenbahnreisende befindet) erzeugten Rauschens der panoramatische Blick als rein optische Rezeptionsweise30. Demgegenüber wird das Erlebnis des Fahrradfahrens bis heute als ein Wiederzusammenfügen der getrennten Wahrnehmungsbereiche beschrieben, als Rückgewinn einer gewissen Form von
26 Diesen Begriff schlägt Birgit Wagner für die verkehrstechnische Produktion des für die Moderne zentralen Gefühls der Simultaneität vor; vgl. Kap. ”Kinetische Utopie”. 27 Kittler 1986, S.238. 28 vgl. Bertz 1900, S.113f. 29 vgl. Kittler a.a.O., S.27 u. 251. 30 bezüglich der anderen Wahrnehmungstatsachen, die ja vorhanden, aber eben rein technisch erzeugt sind, geht die Tendenz, wie Schivelbusch zeigt, zur möglichsten Ausschaltung, da sie in ihrer penetranten Maschinenhaftigkeit eher als angsteinflößend und krankmachend erlebt werden. Also: Verringerung des Lärmpegels der Maschine - die z.B. heute in der serienmäßigen Ausstattung jedes Großraumwagenplatzes mit einem Kopfhöreranschluss gipfelt, akustisches Aquivalent zur Reiselektüre; Dämpfung der Erschütterungen durch Polsterung; vgl. Kap. Pathologie der Eisenbahnreise. Hinzufügen könnte man heute noch: Erzeugung eines komplett künstlichen Luftkreislaufes durch Klimatisierung.
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„Unmittelbarkeit”. Dabei wird leicht übersehen, dass Fahrradfahren, wie gezeigt, dem neuen Dispositiv industrialisierter Fortbewegung angehört. Die Geschwindigkeit lässt im gleichen Zug den Vordergrund verschwinden und ermöglicht einen panoramatischen Blick. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Auch der Radfahrer befindet sich also in einem „Un-Raum” der Geschwindigkeit, der sich mit ihm mitbewegt und ihn vom unmittelbaren Kontakt zur Umgebung abschneidet. (Auch wenn dieser Raum selbstverständlich viel kleiner ist, als beim Zug oder Automobil und sich nicht in einer, mehr oder weniger, zugluftfreien Kabine materialisiert.) Dies wird am deutlichsten in dem Moment, das immer wieder als das lusterfüllteste und signifikanteste an der Fahrt mit dem Rad herausgestellt wird - die Aufkündigung des Bodenkontakts, das Fliegen. „Ernesto Mancini hat 1896 in der Nuava Antologia einen Aufsatz über die Geschichte und die Psychologie des Radfahrens veröffentlicht, in welchem er (...) erörtert, weshalb es ein so großes Lustgefühl erregt, (...): »Die einen behaupten, die fortwährende Luftdouche und das Gefühl, sich so leicht im Gleichgewicht zu halten, sei die Ursache der Freude am Sport; andere weisen auf die Erregung hin, welche durch die gesteigerte Lebensenergie erzielt werde (...)«. Alle diese Urteile sind wertvolle Beiträge zur Erörterung des Problems; (...) doch eins fehlt noch, die Hauptsache: das ist der Flug. Zola schildert in seinem Roman Paris das Modell eines Engels: »(...) der Körper, nackt, kaum verhüllt, war der eines Epheben, schlank und kräftig, das Haupt in jauchzende Luft getaucht, wie hingerissen von dem Entzücken des weiten Himmels.« (...) Es scheint kaum zweifelhaft, daß Zola, der Radfahrer, hier aus eigener Erfahrung geschöpft hat; denn die Wonne seines Engels, der sich glückverloren in die Luft aufschwingt, ist genau das, was wir auf dem Rade wieder und wieder in köstlichen Stunden empfinden.”31
Wenn Radfahrer sich in ihren größten Momenten in die Luft aufschwingen, kann „unmittelbares Erleben” von etwas anderem, als ihrer - künstlichen - Flugathmosphäre sich nur auf der Grundlage anderer Sinneswahrnehmungen einstellen als denen des Auges. (Es sei denn, man interpretiert die Unmittelbarkeit etwa der mémoire involontaire als eine transzendentale metaphysische Erfahrung. Doch sind es ja gerade die materialistischen Konfigurationen der Erfahrung, denen Menschen im 19.Jahrhundert mit ihren Gerätschaften und Apparaturen auf den Leib rücken.) Der Blick von oben ist nun mal untrennbar mit einer gewissen Distanz vom Boden verbunden. Gerüche, Klänge, das Gefühl der durchfahrenen Luft auf der Haut müssen an der Stelle des Augensinns einen (körper)nahen Kontakt zur Natur herstellen. „Und welche Lust, durch diese königliche Allee in der frischen Luft, dem Hauch der Gräser und Blätter, deren kräftiger Geruch ihnen ins Gesicht schlug, gleich dicht über der Erde schwebenden Schwalben dahinzufahren! Sie berührten kaum den Boden, Flügel waren ihnen gewachsen, die sie im gleichen Schwung durch Sonnenstrahlen und Schatten, durch das vielfältige Leben des großen erschauernden Waldes mit seinem Moos, den Quellen, Tieren und Düften davontrugen. (...) Da überkam sie infolge der Geschwindigkeit eine fröhliche Trunkenheit, das berauschende Gefühl des Gleichgewichts, während man in blitzartigem Tempo dahinfährt, so daß man fast außer Atem gerät, die graue Straße unter den Füßen entflieht und die Bäume zu beiden Seiten wie die Stäbe eines sich entfaltenden Fächers vorbeirauschen. Der sanfte Wind bläst wie ein Sturm, man eilt dem Horizont, der Unendlichkeit entgegen, die dort in der
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Bertz 1900, S. 109.
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Ferne stets zurückweicht. Es ist die grenzenlose Hoffnung, die Befreiung von zu schweren Fesseln durch den Raum. Nichts kann erregender sein, die Herzen schlagen unter freiem Himmel schneller.”32
In den hymnischen Sätzen Zolas wird diese ausgeprägte synästhetische Qualität deutlich, die das Erleben des Fahrrads von dem anderer optischer Apparaturen unterscheidet. Im Medienverbund Verkehr verschaltet das Fahrrad den technisch bewegten Menschen mit seinen eigenen Sinnen und mit der ihn umgebenden Landschaft als ”Natur”. Wenn das Auto, wie gezeigt, anfänglich die Argumente übernimmt, die einen Rückgewinn der Intensität des Reisens durch das technische Fortbewegungsmittel betonen, so nimmt die weitere Entwicklung des maschinellen und gesellschaftlichen Ensembles Auto (= Auto + Straßen + Regelwerk) schon bald eine andere Richtung. Schließung der Verdecke, Steigerung der Geschwindigkeiten, exponentielle Zunahme der Verkehrsdichte, lückenlose Regulierung des Autoverkehrs, die den Straßenraum zu einem reinen Zeichenraum werden lässt, Anschluss der einzelnen Verkehrsteilnehmer an Funkleitsysteme. Dieser Prozess, den man als Virtualisierung des Autofahrerlebnisses bezeichnen könnte, führt in vielen Aspekten zu einer Wiederkehr der Argumente, die um die Jahrhundertwende gegen die Eisenbahn für den Individualverkehr von Fahrrädern, Motorrädern und Autos in Stellung gebracht worden waren.33 Autokritik ist in ihren subjektiven Gehalten - also denen, die nicht ökologische, wirtschaftliche oder städteplanerische Aspekte betreffen - im wesentlichen Wahrnehmungskritik. Das filmische Auge der Fahrt, das beim Fahrrad noch als Ausweitung und Befreiung empfunden wurde - wenn auch möglicherweise nur, weil es im synästhetischen Medienverbund Mensch-Technik-Natur eingebunden ist -, wird wieder zur Manifestation des Prozesses umfassender Artifizialisierung der Lebenswelten und Virtualisierung aller darin wahrgenommenen Formen (egal ob Schilder, Autos oder Kinder). „Über Lenkrad, Schalthebel und Pedale ist der Körper in einem konstanten Kontakt mit der inneren Physiognomie der Maschine, die ihn gleichsam decodiert, während das Auge ähnlich wie im Film eine maximale Vielfalt von Stimulationen erfährt durch den ununterbrochenen Signalstrom von außen: Fahrbahnmarkierungen, Schilder, die umgebenden Fahrzeuge, Fassaden- und Landschaftsbänder. Diese beständige Stimulation durch die beiden Ströme bewirkt eine Liquidierung des Bewußtseins, eine zentrifugale Auslagerung des Körperschwerpunkts in zwei Pole: den des motorisierten Auges und den der vibrierenden, kompakten Maschine. Das Sehen löst sich vom Gehen ab und wird reliefloses, filmisches
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Zola 1980, S.469f. Auf diesen wichtigen Vorgang kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingehen. Man müsste ihm eine eigene Untersuchung widmen, deren Zeitraum sich ziemlich genau an den Zeitraum der vorliegenden anschließen und bis in die ersten zehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg reichen würde: Frühe, zum Teil klassenkämpferisch begründete Widerstände gegen das Automobil; Verdrängung des Fahrrads als technische Inkarnation des kollektiven Traums individueller Freiheit; Gewöhnung an Motorfortbewegungsmittel durch die Kriege; systematische Verdrängung der Eisenbahn als wichtigstes Massenverkehrsmittel zuerst und exemplarisch in den USA, später in den europäischen Staaten, als ein Vorgang, in dem industrielle und ideologische Interessen eine extrem erfolgreiche Fusion eingehen; Volkswagen- und Autobahnprogramme; Motortourismus. 33
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Sehen. Sehen aus bewegten Glasscheiben bei verlorenem Bodenkontakt, Verschmelzung von teleskopischer und kinematischer Wahrnehmung (...).”34
In dieser Perspektive verschaltet sich das Auto ausschließlich mit dem Dispositiv Auto, zu dem gleichermaßen die Straßen wie die Verkehrsleitsysteme wie die Wagenlenker gehören, aber nichts, das nicht seinen Regelvorgaben gehorcht. Auto=AUTO, wie Simon Werle schreibt; Subjekt und Fortbewegungsmittel verschmelzen zu einem technischen Zeichen im Symbolischen des Verkehrs, dem jedes Imaginäre, das sich nicht in seine symbolischen Funktionen einsetzen lässt, radikal fremd bleiben muss, während sich das Reale (und das hieße in diesem Fall z.B.: ein spielendes Kind, ein wechselndes Wild, eine zu langsame Oma; alles, was sich aufgrund eines maschinellen Defizits nicht der Ordnung des Prozessierens fügt) - seiner Natur gemäß lediglich als Unfall in Erscheinung bringen kann. Eine entscheidende Schwäche dieses Ansatzes scheint mir jedoch darin zu liegen, dass Werles Argumentation auf die intuitive (dem gesunden Menschenverstand entspringende) Ablehnung der technischphysiologisch induzierten Bewusstlosigkeit baut, die das Auto=AUTO-System kennzeichnet. Denn, ob es sich um „natürliche” oder um „künstliche” Verhaltensabläufe handelt, oder um eine Mischform aus beidem (wie man sie vielleicht bei vielen Sportarten konstatieren würde); die physiologischen und psychologischen Experimente des 19. und 20.Jahrhunderts haben gezeigt, dass Verinnerlichung immer mit Bewusstloswerden einhergeht, ja, dass Bewusstlosigkeit eines Vorgangs geradezu der Garant für seinen reibungslosen Durchlauf ist. Dies betrifft sowohl Funktionen des Körpers wie der Wahrnehmung wie des Denkens und des Gedächtnisses. Eine Erkenntnis, die für die Gedächtnistheorien Bergsons und Freuds genauso konstitutiv ist, wie für behavioristische Lernkonzepte im Anschluss an Fechner. Und als Prinzip selbstverständlich auch im Erlernen und in der Beherrschung der Maschine Fahrrad waltet. Setzt man sich in der Moderne mit Phänomenen des Bewusstseins auseinander, kommt man gar nicht umhin, Bewusstlosigkeit geradezu als Ausgangspunkt oder Hintergrund der untersuchten Abläufe vorauszusetzen. Möglicherweise liegen die Momente größter Bewusstheit und größter Bewusstlosigkeit nur einen Wimpernschlag auseinander. „Diese schnellen Wachzustände wären der Raum für Inspiration, für blitzhafte Erkenntnis: in einem kurzen Augenblick fließt soviel Information, daß eine Intensität entsteht, die das filternde Bewußtsein überzeugt sein läßt, der Ausschnitt, den es herausgefiltert hat, berge einen Wahrheitsgehalt. Ein intentionaler Umgang mit den schnellen Wachzuständen entspräche einer Art von Technologie des Selbst. 34 Simon Werle, In der Lichtgeschwindigkeit des Verkehrs stehen die Stadtteilnehmer in unverknüpfbarer Buchstäblichkeit, in: Tumult - Zeitschr.für Verkehrswissenschaft, Nr.2, S. 90-113, Weinheim/Basel 1982.
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Situationen erzeugen, in denen es vermehrt zu solchen Absencen kommen kann. Wandern, aber noch mehr, Fahrradfahren können solche Tätigkeiten sein: der Körper ist an eine intensive Betätigung gebunden, in einem Zustand der Halbaufmerksamkeit, oder der sehr schnell von einem zum anderen wechselnden Aufmerksamkeit, bieten sich viele Lücken, Raum für überraschende Gedanken, für Assoziationsketten, die sich unterbrechen und wiederaufnehmen, kontinuierlich gespeist von blitzlichternden Eindrücken, deren Herkunft nicht (unbedingt) geklärt zu werden braucht (...).”35
Reliefloses, filmisches Sehen, Verlust des Bodenkontakts, Auflösen des Bewusstseins in der Totalität und Intensität des Bewegungsvorgangs. Dies sind Charakteristika ebenfalls einiger der größten Momente des Fahrradfahrens, das doch in der zeitgenössischen Autokritik regelmäßig das Gegenmodell einer vernünftigen Mobilität nach menschlichem Maß verkörpert. Autokritik als Wahrnehmungskritik müsste sich darum m.E. ganz auf die Verbundschaltungen konzentrieren, die ein jeweiliges Fortbewegungsmittel ermöglicht (oder verhindert). „Helm und Windschutzscheibe reduzieren den Ausschnitt der sichtbaren Welt auf den strategisch relevanten, eine Komprimierung der berechenbaren Horizontalen. Der solchermaßen Ausgerichtete befindet sich in einem konzentriert geo-strategischen Raum. Die für die Steuerungsvorgänge unwesentlichen Aspekte (alle Geschehnisse ausserhalb des Raums der Strasse sowie alle Gerüche und Geräusche) sind weitestgehend ausgeblendet.”
Die Antwort auf die Frage, die sich Sparwasser im Laufe seiner Tour stellte, welcher Unterschied eigentlich noch zwischen einem mit Helm und Brille vollaufgerüstetem Mountainbiker und einem Autofahrer bestehe, bemisst sich am Grad der Möglichkeit des Hereinbrechens anderer, und nicht als Funktion der Fahrt verursachter, Sinneseindrücke.
„Fahrradfahrend dagegen befindet man sich in der ständigen Gefahr, dass einem der Himmel (oder die Straße) auf den Kopf fällt36
35 Sparwasser, bike´n phile - Website, EinTrAG 19.9., Mistral/paradoxes Wachsein. Diese Überlegungen hatten Virilios Ausführungen über Pyknolepsie und den Zustand des paradoxen Wachseins zum Ausgangspunkt; vgl. Virilio, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S.14f. 36 bike´n phile - Website, EinTrAG am 12.8., Schräge Niedersicht.
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Nähmaschine - Fahrrad - Schreibmaschine „Ich sollte noch sagen, daß kurz vor Weihnachten 1883 Adam Opel von Rüsselsheim nach Frankfurt kam und von Heinrich Kleyer für seine 5 Buben 5 Herold Hochräder verschiedener Größen kaufte. Dieser Kauf dürfte für die späteren weltbekannten Opelwerke von entscheidender Bedeutung gewesen sein.” (aus einer Gedenkschrift für Heinrich Kleyer, dem Gründer der Adler-Werke)
Martin Heidegger behandelt in den Überlegungen zu einer einleitenden Vorlesung in die Philosophie im Wintersemester 1944/45 den Vergleich zwischen Fahrradfahren und Dichten als eine »in sich ungehörige Vergleichsmöglichkeit«. „Das Gleiche an ihnen besteht darin, daß sie beide menschliche Tätigkeiten sind. Das Verschiedene zeigt sich daran, daß Radfahren eine leibliche Tätigkeit ist, die eine Maschine benutzt, wogegen das Dichten doch eine geistige Tätigkeit ist. Zwar sollen, wie man bisweilen hört, moderne Dichter unmittelbar in die Schreibmaschine dichten. So wäre zwischen Radfahren und Dichten auch in dieser Hinsicht ein Gleiches, das aber doch verschieden bleibt, insofern das Fahrrad und die Schreibmaschine verschiedene Maschinen sind.”
[An dieser Stelle gilt es festzuhalten: 1.) Heidegger benützt die prinzipielle Unterscheidung zwischen »leiblich« und »geistig« zur Markierung des ersten, wie anzunehmen ist: allgemeinsten, oder auch: prinzipiellsten, Unterschiedes zwischen Radfahren und Dichten. 2.) die Schreibmaschine: Sie taucht hier so unvermittelt auf, dass sich der Verdacht einschleicht, es ginge mehr um diese als um das Fahrrad. Oder vielleicht synekdochisch um alle Maschinen, um die mechanisierte Verrichtung von Tätigkeiten, die vorher, und nach der Überzeugung Heideggers: eigentlich, mit der Hand und mit dem Geist verrichtet wurden/gehören.] „(I)n diesem Vergleich, der irgendwie zuvor schon immer eine Gleichsetzung ist, bleibt eine Entwürdigung des Dichtens auch dann, wenn wir das Radfahren als eine gute Einrichtung anerkennen. Gerade weil die Möglichkeit des Vergleichens grenzenlos ist, liegt in der jeweils vollzogenen Ansetzung eines Vergleiches ein wissentlicher oder ein ahnender oder auch ein nichtwissender und nichtsahnender Entscheid über das Gleiche, in das die Verglichenen gesetzt, aus denen sie erblickt sind.(...) Das Vergleichen soll ja nicht nur die Feststellung von Gleichem und Verschiedenem zum Ergebnis haben, sondern wir trachten im echten Vergleichen darnach, durch das Gleiche das Verschiedene und durch das Verschiedene des Gleichen hindurch das jeweils eigene Wesen dessen zu erblicken, was im Vergleich steht.(...) Der Vergleich des Dichtens mit dem Radfahren wirft nicht nur zu wenig ab, weil beide zu weit auseinanderliegen, sondern der Vergleich wäre, wenn er versucht würde, eine Geschmacklosigkeit, wenn nicht gar noch Schlimmeres.” 1
Hier enden die Ausführungen zum Vergleich. Weil im Vergleichen das Verglichene einander nähergerückt wird, empfindet und bezeichnet Heidegger den Vergleich zwischen Fahrradfahren und Dichten nicht nur als abwegig sondern als geschmacklos; „wenn nicht gar noch Schlimmeres.” Was könnte dieses Schlimmere sein, dessen mögliches Vorhandensein er nur konstatiert, aber inhaltlich nicht einmal andeutet? Denkt man an die fast verächtliche Anführung der Schreibmaschine („Es soll 1 Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie - Denken und Dichten, Überlegungen zur Vorlesung, Ges.ausg. Bd.50, Frankfurt/M. 1990, S.137f.
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Dichter geben, die ...”) dann könnte es sich bei diesem Schlimmeren um eine (weitere) Gefährdung des existentiellen Verhältnisses des Menschen zum Wort, und damit zu seinem Sein, durch Technik handeln. Da Sprache nach Heidegger das Haus des Seins des Menschen ist, also die fundamentalontologische Bestimmung dessen, was seine Menschlichkeit ausmacht - seine Humanitas2 - birgt jede Bemächtigung der Sprache die größte Gefahr3. Moderne Technik, die nach Heidegger wie alle Technik in der Geschichte der Metaphysik gründet, liefert den Menschen unbemerkt der Seinsvergessenheit aus, indem sie sich an den Zugang zu seinen Quellen setzt und dabei so rezipiert wird (so wirkt), als sei sie bloß Werkzeug. Seinsvergessenheit heisst (z.B.): Naturalisierung historischer Vorgänge, Biologismus, Pragmatismus; der Verlust des Zugangs zur dichterischen Natur der Sprache als Urgrund menschlichen Seins. „Der moderne Mensch schreibt nicht zufällig »mit« der Schreibmaschine und »diktiert« (dasselbe Wort wie »Dichten«) »in« die Maschine. Diese »Geschichte« der Art des Schreibens ist mit ein Hauptgrund für die zunehmende Zerstörung des Wortes. (...) Das maschinelle Schreiben nimmt der Hand im Bereich des geschriebenen Wortes den Rang und degradiert das Wort zu einem Verkehrsmittel. (...) In der Schreibmaschine liegt der Einbruch des Mechanismus in den Bereich des Wortes. (...) In der »Schreibmaschine« erscheint die Maschine, d.h. die Technik, in einem fast alltäglichen und daher unbemerkten (...) Bezug zur Schrift, d.h. zum Wort, d.h. zur Wesensauszeichnung des Menschen. (...) Diese in der nächsten Nachbarschaft zum Wort umgehende »Maschine« ist im Gebrauch; sie drängt sich diesem auf. Selbst dort, wo diese Maschine nicht benützt wird, fordert sie die Rücksichtnahme auf »sich« heraus in der Gestalt, daß wir auf sie verzichten und sie umgehen. Dieses Verhältnis wiederholt sich überall und ständig in allen Bezügen des neuzeitlichen Menschen zur Technik. Die Technik ist in unserer Geschichte.”4
Degradierung des Wortes zu einem Verkehrsmittel. Einbruch des Mechanismus in den Bereich des Wortes. Bekanntlich setzte sich Heidegger zeit seines Philosophenlebens mit Nietzsche auseinander, der - einem Wort Friedrich Kittlers zu Folge - der erste ”mechanisierte Philosoph” gewesen ist, weil er seine Worte, phasenweise, mittels einer ganz frühen Schreibmaschine zu Papier brachte und über diese Möglichkeit wegen seiner großen Sehschwäche sehr froh war5. Einer jener
2 vgl. ders., Brief über den »Humanismus« (1946), in: Gesamtausgabe Bd.9, Wegmarken, Frankfurt/M. 1976, S.313364; z.B. S.352f. 3 vgl. auch folgende Stelle: ”Man weiß, daß jetzt im Zusammenhang mit der Konstruktion des Elektronenhirns nicht nur Rechenmaschinen, sondern auch Denk- und Übersetzungsmaschinen gebaut werden. Alles Rechnen im engeren und weiteren Sinne, alles Denken und Übersetzen bewegt sich jedoch im Element der Sprache. Durch die genannten Maschinen hat sich die Sprachmaschine verwirklicht. Die Sprachmaschine (...) regelt und bemißt (...) von ihren maschinellen Energien her bereits die Art unseres möglichen Gebrauchs der Sprache. Die Sprachmaschine ist - und wird vor allem erst noch - eine Weise, wie die moderne Technik über die Art und die Welt der Sprache als solcher verfügt. Inzwischen erhält sich vordergründig immer noch der Anschein, als meistere der Mensch die Sprachmaschine. Aber die Wahrheit dürfte sein, daß die Sprachmaschine die Sprache in Betrieb nimmt und so das Wesen des Menschen meistert.”; Martin Heidegger, Hebel - der Hausfreund, in: Ges.Werke Bd.13, Aus der Erfahrung des Denkens, Frankfurt/M. 1993, S.133-150; hier: S.148f. Die Tatsache, dass wir Maschinen benützen, die unsere Sprache hervorbringen und setzen, birgt die Gefahr, dass Maschinen, bzw. Programme, bestimmen, was wie gesagt werden kann. Eine bemerkenswerte Vorwegnahme der weltumspannenden Disziplinarmacht von Microsoft Word. 4 ders., 1942-43/1982S118f. und 125-127; zit.n. Kittler 1987, S.290ff. 5 Kittler 1986, S.293; zum Verhältnis von Nietzsches Philosophie und seiner Schreibmaschine von ”Malling Hansen” vgl. insbes. ebda., S.296-310 und Kittler 1985, S.199ff.
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gerüchteweisen „modernen Dichter, die unmittelbar in die Schreibmaschine dichten.” Angesichts der großen Wertschätzung, die Heidegger Nietzsche entgegenbrachte, ist es bemerkenswert, dass ihr Umgang mit Technik, und ihre Einschätzung derselben, derartig auseinandergehen. „»Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«, schrieb Nietzsche. »Die Technik ist in unserer Geschichte«, sagte Heidegger. Aber der eine schrieb den Satz von und auf seiner Schreibmaschine, der andere beschrieb (in großartiger Sütterlinschrift) nur Schreibmaschinen überhaupt. Deshalb war es Nietzsche, dem mit seinem philosophisch skandalösen Medientechnikersatz die Umwertung aller Werte zufiel. An die Stelle des Menschen, seiner Gedanken und seiner Autorschaft traten 1882: zwei Geschlechter, der Text und ein blindes Werkzeug.”6 Heideggers Philosophie ist durchsetzt mit Bewegungsmetaphern (man denke an den berühmten „Feldweg” und die zahlreichen anderen Beispiele aus dem Bereich des bäuerlichen Arbeitens als Metaphern oder Analogien für die geistige Bewegung des Denkenden). Doch scheint er nicht im mindesten aufgeschlossen für Phänomene des modernen Verkehrs. Denn so abwegig, wie der Vergleich zwischen Fahrradfahren und Dichten zunächst schien, ist er möglicherweise gar nicht: Vielleicht führt Heidegger bloß deshalb den - nach Nietzsche! - naiven kategorischen Unterschied zwischen leiblicher und geistiger Bewegung ein, um zwischen die direkte Auseinandersetzung mit der Nähe der Technik eine zerstreuende Ebene zu schieben. Die Aufspaltung in Schreibmaschine und Fahrrad zerfasert das Annäherung heischende Bild dann gleichsam weiter. Und die rhetorische Andeutung schreibmaschinenschreibender Dichter lenkt den Blick dezidiert in eine etwas andere Richtung. Auf dem Spiel steht eine Betrachtungsweise (die hier eben nicht diskutiert, sondern nur implizit angewandt wird), die versucht, ein handwerkliches Eigentliches gegen die Umwälzungen und Mobilisierungen der Moderne zu behaupten. Dabei treffen Heideggers sprachliche Interventionen durchaus das Wesen der Veränderungsprozesse. Mechanisierung ist das beherrschende strukturelle Moment der umwälzenden Veränderungen der Lebenswelten der Moderne. Verkehrsmittel lenken sowohl real als auch metaphorisch Sprache - Text, Information - in, durch und über ganz andere Kanäle als den Feldweg. Der Vergleich zwischen Fahrradfahren und Dichten gefährdet tatsächlich die Auffassung der dichterischen Wesenhaftigkeit der Sprache. „Die Industrialisierung schlug gleichzeitig Handschrift und Handarbeit. Nicht zufällig war es Williem K.Jenne, Chef der Nähmaschinenabteilung bei Remington&Son, der 1874 den Prototyp von Sholes zum 6
ebda.
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serienreifen »Type-Writer« entwickelte. Nicht zufällig kamen frühe Konkurrenzmodelle von der Domestic Sewing Machine Co., der Sächsischen Strickmaschinenfabrik Meteor oder von Seidel&Naumann. Der polare Geschlechterunterschied samt seinen tragenden Symbolen verschwand auf industriellen Fertigungsstraßen. (...) Maschinenschrift besagt Desexualisierung des Schreibens, das seine Metaphysik einbüßt und Word Processing wird.”7
Wo sind da die Fahrräder? Es gibt, wie bereits im letzten Kapitel gezeigt, diesseits aller medientheoretischen oder philosophischen Meditationen über das Wesen der Schrift einen ganz handfesten Zusammenhang zwischen Schreibmaschinen, Nähmaschinen und Fahrrädern: Sie wurden in denselben Fabriken hergestellt. Sigfried Giedion beschreibt, wie im Norden Englands des späten 18.Jahrhundert mit dem Bau der ersten Produktionsmaschinen die Epoche der Industrialisierung eingeleitet wurde. Die Mechanisierung des Spinnens „wurde im folgenden Jahrhundert überall nahezu zum Synonym für Industrialisierung”.8 Mit dem Anstieg der Größe und Bedeutung der Industrie wechselte der Fortschrittsglaube von der Wissenschaft zur Mechanisierung. Obwohl die Erfinder sich jetzt zu Maschinisten bzw. Ingenieuren eines durchrationalisierten Vorganges verwandelten, behielten ihre Produkte die Aura des Wunderbaren, dem die Schöpfungen von Erfindern jahrhundertelang verpflichtet gewesen waren. Kathedralen für die Erscheinungen dieses beständig erneuerten, industriellen Wunderbaren waren die Industrieausstellungen, insbesondere die Weltausstellungen, deren erste 1851 in einem eigens dafür entworfenen und konstruierten Glaspalast im Hyde Park stattfand. Zu den auf den Weltausstellungen präsentierten Maschinen gehörten von Anfang an Nähmaschinen. Über mehrere Jahrzehnte beschäftigten sich die Mechaniker mit dem Problem von deren Antrieb: Fuß- oder Handantrieb? Beide Varianten existierten nebeneinander, obgleich sich in den 1860er Jahren der Fußantrieb mit Pedal als Norm durchsetzte. 1867 präsentierte Pierre Michaux in Paris auf der Weltausstellung sein Fahrrad mit Pedaldirektantrieb am Vorderrad. Dieser Prototyp des modernen Fahrrads hat sich durchgesetzt und wurde nach seinem Konstrukteur Michauline getauft.9 Zu den ersten 7
ebda., S. 278 Giedion 1994 S.58. 9 Tatsächlich gab es einen anderen Konstrukteur namens Pierre Lallement, der ziemlich genau zur gleichen Zeit in den Vereinigten Staaten ebenfalls Pedalen an das Vorderrad einer Draisine montierte und sich dies dort patentieren ließ. Der Aufkauf dieses Patents wurde zur Grundlage des Fahrradimperiums von Albert Pope, in den 1890er Jahren der weltweit größte Fahrradhersteller; vgl. Lessing 1995, o.S. Auch ein deutscher Konstrukteur namens Philipp Moritz Fischer hat angeblich bereits in den 50er Jahren ein Fahrrad mit Pedalen ausgestattet, wurde aber „von der Geschichte übergangen”, was einer Reihe von deutsch-patriotisch gesinnten Verkehrshistorikern Anlass zum Weinen gab; vgl. Gronen/Lemke 1978 S.42; zum Weinen z.B. Fürst 1924 (1985), S.57f. Nach Lessing handelte es sich aber um einen Nachbau von 1869, den „nach dem Tod der Gemeindesekratär 1891 in einer patriotischen Anwandlung auf 1852 vordatierte.”; Lessing a.a.O. Dass aber die meisten Fahrradgeschichtsschreibungen bis in unsere Tage die Rolle von Lallements Patent ignorieren, zeugt von einem gewissen Eurozentrismus derselben. ”Schon in der Geschichte des Fahrrades liegt für den ”guten Europäer” eine erhebende Symbolik: es ist ein gemeinsames Werk der Kulturmenschheit.”(S.3f.) Bertz Hohelied des Internationalismus der Fahrradproduktion von 1900 blendet geradezu 8
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Käufern zählte der französische Kaiser Napoleon III., der das Sportgerät für seinen Sohn kaufte. Die Tatsache, dass im erlauchtesten aller Fürstenhäuser Fahrrad gefahren wurde, trug vermutlich in nicht geringem Maße zum folgenden enormen Aufschwung der Nachfrage nach Michaulinen bei, da sich Adel und Großbürgertum am Vorbild der Fürstenhäuser orientierten. Für eine oder zwei Saisonen fuhr tout Paris mit dem neuen Gefährt.10 Michaux konnte seine Werkstatt zur Fabrik mit 300 Arbeitern ausbauen.11 Andere Hersteller in Frankreich, in England, Deutschland und USA begannen ebenfalls mit der Produktion von Michaulinen. 1868 fand das erste Fahrrad-Bahnrennen der Geschichte in Paris über eine Distanz von 1200 m statt. 1869 das erste internationale Straßenrennen der Welt auf der 123 km langen Strecke Paris - Rouen. Im gleichen Jahr startete anläßlich der Industrieausstellung in Altona das erste „Velociped-Wettrennen” in Deutschland. In Frankreich erschien die erste Ausgabe der ersten Fahrradzeitschrift der Welt. Auch in England wurden die ersten Rennen ausgetragen und es gründete sich der erste Verein.12 In zahlreichen Städten eröffneten Radfahrschulen. (Diese schnelle Abfolge von Informationen nur, um die kulturelle Bandbreite dieser ausbruchsartigen Verbreitung einer neuen Technik zu demonstrieren.) Bei der ebenfalls 1869 in Stuttgart in Betrieb genommenen ersten deutschen Fahrradfabrik (die dieses Attribut im Namen trägt. Sie heißt: »Die erste deutsche Vélocipèdes-Fabrik C.F.Müller«) erwarb noch im gleichen Jahr Carl Benz eine Michauline. „Jetzt konnte ich pferdelos über die Landstraße dahineilen ... das heißt, vorläufig konnte ich noch nicht, aber nach vierzehn Tagen hatte ich es doch erlernt ... War das eine Sensation, als ich durch Mannheims Straßen pedalierte!”13 16 Jahre später stattete er ein dreirädriges Fahrrad mit Motor und Getriebe aus und schuf so den ersten Prototyp des Automobils. „Das Fahrrad ist ein Resultat aus den Versuchen, ein Fahrzeug ohne Pferde zu finden, anders gesagt, das Pferd für die schnelle Fortbewegung entbehrlich zu machen. Aber anders als bei den vielfältigen Versuchen, statt der Pferde die Dampfmaschine einzuspannen, kommt seit Karl v.Drais der Fahrer selbst ins Geschirr. (...) Daß mit der Beinarbeit und nicht mit der Armeskraft die höchste Leistung erzielt wird, war für Drais schon gesichertes Wissen, das er gegen Kritiker und Besserwisser verteidigte. Wie sollten Handwerker die Beinarbeit hochschätzen? Seit den antiken Tretmühlen und Trettrommeln in den Hebekränen war diese Arbeit die niedrigste. (...) Die Maschinen mußten erst wesentlich kleiner, leichter und
stereotypisch den zu diesem Zeitpunkt schon eigentlich nicht mehr zu übersehenden Anteil der Amerikaner an den „Werken der Kulturmenschheit” aus. Möglicherweise kann man das europäische Entsetzen über den amerikanischen „Kulturimperialismus” des 20.Jhs. aus dieser Borniertheit erklären. 10 Lessing weist daraufhin, dass das plötzliche Ende dieses Booms aber nicht auf den Ausbruch des deutschfranzösischen Kriegs 1870 zurückzuführen sei, wie die meisten Fahrradgeschichtserzählungen behaupten; sondern auf das Aufkommen eines neuen populären Sports, des Rollschuhfahrens; vgl. Lessing a.a.O. Dazu stehen die Ausführungen Krausses im Widerspruch, der den Höhepunkt dieses ersten Fahrradbooms und des damit verbundenen unternehmerischen Erolgs für Michaux in die Jahre 1868 und 1869 legt, für die Lessing bereits den Niedergang behauptet; vgl Krausse 1973, S.97. 11 vgl. Krausse 1993, S.97f. 12 Gronen / Lemke 1978, S.49ff. u.55 13 zit.n. Lessing 1995, o.S.
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präziser sein, um vorteilhaft vom Fußantrieb Gebrach zu machen. Dies war offensichtlich erst mit den ersten Nähmaschinenkonstruktionen der Fall (...). Im Jahr 1862 war die Nähmaschine bereits ein prominentes Industrieprodukt, vertreten auf den Weltausstellungen, verbreitet in den Industrieländern. Von den damals verkauften vierhunderttausend Stück waren zwei Drittel in den USA produziert worden. Der Fußantrieb mit Pedalen war die Norm. Konstruktiv und fabrikationstechnisch war die Nähmaschinenentwicklung der des Fahrrades um etwa zwei Jahrzehnte voraus. Was lag näher, als bei der Nähmaschine Anleihen für das Fahrrad zu machen.” 14
Der englische Konstrukteur und Mechaniker James Starley begann seine Karriere als Nähmaschinenkonstrukteur in London. Während er tagsüber für seinen Arbeitgeber an der Verbesserung eines existierenden Modells arbeitete, entwickelte er nachts eine Neukonstruktion, die an die Stelle der Handkurbel zum Antrieb eine Fußpedale setzte. Mit Hilfe eines Vorgesetzten und Geldern von Investoren aus Coventry, darunter der bekannte Waffenschmied John Newark, ließ er das Modell patentieren und beteiligte sich 1861 an der Neugründung einer Nähmaschinenfabrik in Coventry. Als deren Geschäfte in der zweiten Hälfte der 60er Jahre nicht mehr so gut liefen, begann sie 1868 mit dem Nachbau von Michaulinen. Starley wiederholte, was er bereits bei der Nähmaschine gemacht hatte; er arbeitete zugleich an der Verbesserung eines existierenden Modells und an einer Neukonzeption. Dazu nahm er das aus Frankreich mitgebrachte Fahrrad aus der Fabrik Michauxs völlig auseinander und baute es schrittweise wieder auf. 1870 war das Modell des Hochrads fertig, das er patentieren ließ und in einer wiederum neugegründeten Firma seit 1871 produzierte und unter dem Namen Ariel vertrieb.15 „Sollte das Velociped allgemeine Verwendung finden, so musste mit allen Mitteln der Technik danach gestrebt werden, die von Michaux im Prinzip festgelegte Fahrrad-Konstruktion der Leistungsfähigkeit der menschlichen Muskelkräfte anzupassen; (...) in Schlagworten: Verwirklichung des wirtschaftlichen Prinzips unter dem Gesichtspunkt grösster Bequemlichkeit für den Fahrenden! (...) Es leuchtet ein, dass die hier genannten Ziele des damaligen Fahrradbaues (...) für ihre Realisierung dort den geeignetsten Boden fanden, wo die Maschinentechnik und Industrie (...) bereits eine höhere Stufe der Entwicklung erreicht hatten (...). Unter diesen Umständen darf es uns nicht wundern, dass England die Heimat des Fahrrads wurde: die gut eingerichteten Werkstätten der englischen Maschinenbau-Anstalten gestatteten eine verhältnismässig vollendete Fabrikation und der früh aufgekommene englische Sport garantierte einen gewissen Absatz; - das Land des mechanischen Webstuhls, der ersten Dampfmaschine und der ersten Lokomotive wurde auch zum Lande des Fahrrades! In Englands Werkstätten spielte sich bis zu Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Entwicklungsprozess des Fahrrades bis zu seiner vollständigen Gebrauchsfähigkeit ab (...).”16
Auf der ersten internationalen Vélo-Ausstellung 1869 in Paris konnte man zahlreiche Modelle und Konstruktionen verschiedener Hersteller besichtigen. Unter anderem ein Fahrrad mit Kettenantrieb für das Hinterrad, das sich aber bemerkenswerterweise zu dieser Zeit noch nicht durchsetzen konnte. (Erst etwa 15 Jahre später, als das Hochrad die Popularität des Fahrrads weiter verbreitet hatte, aber 14
Krausse 1993, S.99. vgl. ebda., S.111. 16 Alexander Lang, Die Adler Fahrradwerke 1880-1905, Berlin 1905, S.7f. 15
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den Massen (und insbesondere den Frauen unter ihnen) der Zugang zu dem neuen Verkehrsmittel weiter versperrt blieb, da es zu hohe sportliche Anforderungen an seine Betreiber stellte und regelmäßig zu gefährlichen Stürzen führte, wurde der Antrieb vermittels Kette zum Hinterrad zur entscheidenden technischen Neuerung, welche das neue Rover Nieder- oder Sicherheitsrad, den Prototypen der allermeisten Fahrräder bis auf den heutigen Tag, auf den Weg brachte.) In ihm kündigte sich aber ein entscheidender Wechsel an. Hatten sich die Kutschenmacher Michaux und Lallement bei ihren Konstruktionen des Fahrrads noch an dem Modell der Kutsche orientiert, so schlug der Uhrmacher André Guilmet einen völlig neuen Weg ein, um das Problem der Kraftübertragung zu lösen.17 Dieses Prinzip des fertigungsbereichsübergreifenden Wissenstransfers führte auch James Starley zur Vervollkommnung eines der entscheidensten Prinzipien nicht nur der modernen Fahrzeugtechnik. „Hier setzt sich offensichtlich eine allgemeine Tendenz durch, die auch die anderen Anwendungsbereiche wie z.B. Brücken- und Hallenbau, aber auch die Produktion von Alltagsdingen wie Schirme, Betten, Hausrat usw. erfaßt: das Austauschen von Holz- gegen Metallteile und der Übergang von der Druck- und Biegebeanspruchung zur kombinierten Zug- und Druckbeanspruchung, wo immer es auf Leichtigkeit in Verbindung mit hoher Festigkeit ankommt.”18
1869, auf der gleichen internationalen Fahrradmesse, auf der auch der erste Kettenantrieb vorgestellt wurde, präsentierten die Engländer F.W.Reynolds und J.A.Mays ihr Phantom-Bicycle, dessen Rahmen aus dünnen Eisenstangen bestand und dessen Räder aus eisenbereiften Holzfelgen nicht, wie bis dahin üblich, durch Holzspeichen mit der Nabe verbunden waren, sondern durch gespannte Eisendrähte. Das erste Drahtspeichenrad. Dessen Funktionsprinzip beruht darauf, dass das Gewicht des Fahrers, das auf die Nabe wirkt, nicht mehr von der einen, gerade unten befindlichen Speiche direkt auf den Boden übertragen wird und also nur an einer Stelle wirkt, sondern durch die nach oben führenden Speichen, an denen die Nabe, respektive der Fahrer, gleichsam hängt, auf die ganze Felge verteilt wird. Der konstruktive Wechsel von der Druckbelastung zur Zugspannung stellte eine Revolution in der Bautechnik, bzw. Statik dar, welche die Entwicklung moderner Bautechniken mit Stahlgerüsten, namentlich im Brückenbau, entscheidend vorwärts brachte.19 James Starley baute ebenfalls 1969 zum erstenmal ein Rad mit zugbelasteten Speichen, wofür er allerdings schmale, blanke Blechrippen verwendete. Das hatte er der Konstruktion des 17
vgl. Krausse 1973 S.102 Krausse 1973, S.103. Krausse weist auf die Schrittmacherfunktion des Brückenbaus für die zugbelasteten Konstruktionen hin, deren größte und triumphalste lange Zeit die 1883 fertiggestellte Brooklyn Bridge zwischen Brooklyn und New York war. (Dieser Abschnitt meiner Arbeit verdankt einige seiner Gedankengänge Krausses brilliantem Artikel über den konstruktions- und geistesgeschichtlichen Rahmen des Fahrrads im 19.Jht. Darum werde ich noch ein paar mal auf ihn zurückkommen.) 18 19
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Regenschirms abgeschaut, den Samuel Fox 1852 erstmals über Blechrippen statt über Fischbein gespannt hatte. Die Blechrippen wurden bald durch Draht ersetzt. 1876 vervollkommnete Starley die Konstruktion, indem er die Speichen in der bis heute üblichen Weise tangential - also nicht zum Mittelpunkt, sondern zu einem jeweils rückwärtigen außenliegenden Punkt der Nabe - einspannte. Mit dieser Konstruktion wurde erstmals nicht nur der senkrecht wirkenden Gewichtskräfte gedacht - wie bei einem idealerweise stehenden Gefährt -, sondern der waagerecht angreifenden Kräfte durch die Beschleunigung. In einer 1902 erschienenen Schrift über „Die modernen Verkehrsmittel zu Wasser und zu Land” ist über die Geschichte von Fahrrädern und Automobilen zu lesen: ”In der Entwicklung der Konstruktion war der bedeutendste Schritt die Erfindung des pneumatischen Reifens durch den Schotten Dunlop, welche gestattete, alle Teile leichter auszuführen (...). Auch das von William Brown in den achtziger Jahren eingeführte Kugellager war für die Konstruktion des Fahrrades von größter Bedeutung. Sowohl das letztere als auch der Pneumatikreifen sind für den Bau der Automobile grundlegend gewesen”20. Artur Fürst, Verfasser einer 1924 veröffentlichten vierbändigen Technikenzyklopädie mit dem Titel ”Weltreich der Technik”, betont in dem Kapitel über das Fahrrad ebenfalls besonders die bahnbrechende Bedeutung des Luftreifens: „Doch alle diese Vorrichtungen, so fein sie erdacht sind, und so groß ihre Nützlichkeit ist, hätten doch das Fahrrad nie zu einem wirklich volkstümlichen Verkehrswerkzeug machen können, wenn nicht schon lange vorher eine Erfindung in die Welt getreten wäre, die alle betrachteten an Großartigkeit weit übertrifft. Trotz der Drahtspeichenräder und Kugellager wäre das Fahrrad für immer ein Knochenschüttler geblieben, könnte es sich nicht des Luftreifens bedienen. Dessen Federwirkung, die durch nichts anderes ersetzt zu werden vermag, glättet die Rauhheiten der Landstraße vor dem Radfahrer, sie läßt ihn auf seinem Radzeug sich wiegen, als wären ihm Flügel gewachsen.”21
Hierbei täuscht er sich allerdings in einem wichtigen Punkt: Die Wirkung der Pneus ist es nicht in erster Linie, die Stärke der Erschütterungen zu verringern. Diese Aufgabe fällt in viel höherem Maße dem Fahrgestell, sprich: dem Rahmen zu. Die von ihm erwähnten bone shaker waren deshalb ebensolche, weil sie aus geschmiedeten Vollrohren hergestellt wurden, die über fast keine Elastizität verfügten und deshalb Stöße der Fahrbahn ungefedert an den Radfahrer weitergaben. Durchschlagenden Erfolg sicherte dem Luftreifen v.a. sein deutlich reduzierter Rollwiderstand.22”Die Zukunft wird es zeigen, ob diese Erfindung für den Landverkehr nicht wichtiger war als die 20 Otto Feeg, Die modernen Verkehrsmittel zu Wasser und zu Land. (Seedampfer, Eisenbahn, Fahrrad und Automobil), Hamm i.W. 1902, S.31. 21 Artur Fürst, Weltreich der Technik Bd.2, Berlin 1924, S.66. 22 vgl. Christoph Guder, Zur Koevolution von Fahrrad- und Kautschukindustrie im 19.Jahrhundert, in: Briese/Matthies/Renda 1997, S.133-149; hier: 139.
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Erfindung des Explosionsmotors.”23 In einem Text über die moderne Entwicklung des Fahrwerks, der aus der Sicht des Autos geschrieben ist, werden „vier Grundprobleme der Fahrwerkstechnik” aufgeführt, „deren Lösungsansätze sich schon von der Frühgeschichte des Räderfahrzeuges an verfolgen lassen”: „... der leichte Lauf der Räder ohne große Reibungsverluste, daneben die Beherrschung der Eigengeschwindigkeit bei Talfahrt und vor Hindernissen durch ausreichende Bremsen, außerdem ein möglichst elastisches Abfangen der Fahrbahnstöße durch optimale Federung sowie schließlich entsprechende Kurvenlaufeigenschaften beim vierrädrigen Fahrzeug durch ein gutes Lenksystem.”24 Auch in diesem Text wird die besondere Bedeutung des Fahrrads bei der Entwicklung der Kugellager behandelt und hervorgehoben. Was aus meinen bisherigen Ausführungen hoffentlich deutlich wurde ist dieses: Die bedeutendsten Neuentwicklungen des Fahrrads - sowie das Prinzip des Fahrrads selber - hatten alle mit der Optimierung des Verhältnisses zwischen Kraftaufwand und Leistung zu tun. Dies wurde v.a. erreicht durch Leichtbauweise (Hohlrohrrahmen, Drahtspeichenrad, Experimente mit Leichtmetallen) und Verminderung der Reibungsverluste (Luftreifen, Kugellager, in Ansätzen auch Aerodynamik25). Deswegen konnte die Fahrradtechnologie auf diesen Gebieten wegweisend für andere
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Lessing 1979. S.262. Horst Hoof, Zur Entwicklung des Fahrwerks im Zeitalter der Technik, in: Wilhelm Treue (Hg.), Achse, Rad und Wagen. Fünftausend Jahre Kultur- und Technikgeschichte, S.313-359; hier: S.313. 25 Lessing weist auf Experimente mit Verkleidungen für Fahrräder hin, die aber nicht weitergeführt worden seien. Seiner Ansicht nach, weil bei der Fahrradentwicklung immer Rennen die Priorität gehabt hätten. Statt an der weiteren Perfektionierung des einzelnen „zivilen” Fahrrads zu arbeiten, habe man ab einem bestimmten Punkt alle Energie in die Kreation technischer Ensembles zur Erzielung von Höchstgeschwindigkeitsrekorden gesteckt: motorisierte Schrittmachermaschinen mit Windschutz, Bahnen in wind- und wetterunabhängigen Hallen, auf denen Räder fahren, von denen alles „Überflüssige” (einschließlich der Bremsen) abgeschraubt wurde. Die Entwicklung der Fahrräder für den Breitensport bzw. die normale Alltagsnutzung richtete sich seitdem an den Rennsportbedingungen aus. In diesem Zusammenhang weist er ebenfalls daraufhin, dass auch das Differentialgetriebe eine der Erfindungen James Starleys und anderer, allerdings für das Dreirad, gewesen sei, welches dem Geschwindigkeitswahn völlig zum Opfer gefallen sei; vgl. Lessing 1979. Aus meiner Sicht argumentiert Lessing hier aber zu einseitig, weil er die psychologische Bedeutung der Geschwindigkeit und des Rekords als moderne Neufassungen der religiösen Überschreitung - als profanisierte und industrialisierte Teleologie - nicht berücksichtigt. Hätte das Fahrrad Menschen nicht zu solchen titanischen Leistungen instandegesetzt, von denen auch der untrainierte Feierabendradler eine Ahnung bekommen konnte, wenn er sich mal richtig in die Pedalen klemmte, wäre es auch nicht so erfolgreich geworden. Umgekehrt ist das Bedauern über das systematische Aussterbenlassen der sozialen und gemütlichen Dreiräder ein ziemlich hypothetisches, weil a.) alle, denen es primär auf Bequemlichkeit ankam, sowieso auf den direkten Nachfolger des dreirädrigen Selbstfahrers, das Automobil, umgestiegen sind, sobald sie es sich leisten konnten, was b.) dazu führte, dass weder die Verkehrsbedingungen noch die in der Regel zurückzulegenden Entfernungen ernsthaft an eine Konkurrenzfähigkeit des Dreirads glauben lassen. Meine Gegenthese wäre: Das Auto bedeutete den Untergang des Dreirads, während das Fahrrad einen entscheidenden Vorteil gegen das Auto immer behaupten konnte, seine Flexibilität und seine „Schmiegsamkeit im Verkehr”, wie Fürst das sehr schön ausdrückt. Dass Dreiräder jetzt - in Form von Fahrradtaxis - wieder im Kommen sein könnten, deutet auf ein sich veränderndes Verhältnis zum Straßenraum in der Stadt hin, das eine veränderte Verkehrspolitik nach sich ziehen könnte. Nur wenn solch ein grundlegender Wandel geschieht, haben das Dreirad und vergleichbare gemütliche und soziale Fahrradkonstruktionen aus der Prä-Automobilzeit eine Chance, neben oder statt des Autos dauerhaft existieren zu können. 24
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Technologien, v.a. natürlich Automobil- und Flugzeugbau26, werden. Diese Entwicklung scheint völlig folgerichtig, wenn man bedenkt, dass das Fahrrad das einzige moderne Verkehrsmittel ist, bei dem die Menge der zugeführten Energie nicht, oder jedenfalls nur in geringem Maße, gesteigert werden kann - 1 MS bleibt 1 MS. Bei der Geschichte des Automobils dagegen fällt auf, wie schon sehr früh die Entscheidungen gegen Leichtbauweise und Leistungsoptimierung als oberstes Prinzip zugunsten Repräsentativität und Komfort fielen. Es waren schließlich Luxuskonsum und die Nachfrage nach einer angemessenen individualverkehrstechnischen Nachfolge der Kutsche („Benzinkutsche”), welche die Automobilindustrie auf den Weg brachten.27 Neben der zeitweisen Rolle des avantgardistischen Vorantreibers eines wesentlichen Aspekts moderner Technik, des immer kleiner und immer leichter Werdens, offenbart sich in dieser Hochphase der Entwicklung des Fahrrads von Mitte der 1870er Jahre bis 1903 (Entwicklung der Freilaufnabe bei Fichtel&Sachs in Schweinfurth) noch ein weiteres, für das Wesen der technischen Innovation in der Moderne wesentliches Prinzip: die wechselseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von unterschiedlichen Industriezweigen sowie der Übersprung von fertigungstechnischem Knowhow, Maschinen und Fachkräften. Dies wurde bereits am Beispiel der Bedeutung der Nähmaschine ersichtlich. Ich möchte es anhand einer Darstellung der Geschichte des Luftreifens und des Kugellagers vertiefen. Der Luftreifen ist zweimal erfunden und zweimal patentiert worden. Bereits in den 1840er Jahren hatte der Engländer Robert William Thomson ein Patent für mit Ventilen versehene Gummischläuche unter dem Schutz eines Ledermantels angemeldet. Aber die Erfindung konnte sich damals nicht durchsetzen und versank noch einmal für gut vierzig Jahre in der Versenkung. Dafür gibt es mehrere Vermutungen. Eine oft angeführte, die Straßen damals seien einfach noch zu schlecht gewesen, ist geradezu paradox, da der Luftreifen ja gerade bei schlechten Straßen zu einer wesentlichen Verbesserung der Fahreigenschaften beiträgt. Möglicherweise sagt diese Begründung mehr über die damals existierenden Vorurteile gegen die Neuerung aus, als über tatsächliche Gründe. Eine zweite Vermutung ist, dass es einfach keine Nachfrage gab, Thomson hatte die Reifen auf eine Kutsche montiert, aber Kutschen waren seit 26 Auf den Zusammenhang zwischen Fahrrad- und Flugzeugkonstruktionen kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingehen; einen Anfang könnte man vielleicht machen mit: Fred Fisk / W.Todd Marlin, The Wright Brothers - From Bicycle to Airplane, Dayton/Ohio 1990. 27 Vgl. dazu z.B. Wolfgang Sachs, Die auto-mobile Gesellschaft. Vom Aufstieg und Niedergang einer Utopie, in: Brüggemeier / Rommelspacher, Besiegte Natur, München 1989, S.106-123.
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Jahrhunderten „gut” mit eisenbeschlagenen Holzrädern gefahren. Warum sollten sie etwas ändern, was sich bewährt hat?28 Das Bild eines tiefeingewurzelten Konservatismus bei den Fuhrleuten wird im Zusammenhang mit der Durchsetzungsgeschichte des Fahrrads und des Automobils oft und gerne wiederholt. Insofern könnte es einem wahren Kern entspringen. Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass auch dieses Handwerk von der Industrialisierung ergriffen wurde. Diese führte zunächst nicht zu einer Abnahme sondern zu einer massiven Zunahme des durch Pferdetransporte abgewickelten Güterverkehrs29. Mit der Einführung moderner Zeiten verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen der Fuhrwerk- und Omnibusfahrer, die durchweg niederen sozialen Schichten angehörten, massiv. Das gespannte Verhältnis zwischen ”modernen” Radlern und Autofahrern als privilegierten Freizeit-Verkehrsteilnehmern und ”rückständigen” Lohnkutschern stellt sich so eher als primär eines sozialer Unterschiede dar.30 Insofern ist allen Begründungen, die mit der natürlichen Rückständigkeit der Kutscher argumentieren, mit äußerster Vorsicht zu begegnen. Am plausibelsten scheint das Argument, die Gummiindustrie sei zu dieser Zeit einfach noch nicht so weit gewesen, die Produktion des Luftreifens in ausreichender Menge und zu einem realistischen Preis aufzunehmen.31 Der Siegeszug der Gummibereifung begann 1869 mit einigen Siegen auf vollgummibereiften Rädern bei Fahrradrennen. In der Folge nahmen zahlreiche der neu gegründeten Gummifabriken (unter ihnen Continental, 1871 in Hannover gegründet, und Metzeler, 1873 in München) Vollgummireifen in ihr Sortiment. Die junge Gummiindustrie erlebte in den 1870er Jahren weltweit (d.h. in Deutschland, England, Frankreich, Amerika) einen ersten Boom, der aber noch nur zu einem kleinen Teil mit dem Erfolg des Fahrrads zusammenhing, obwohl Hochräder bereits standardmäßig mit Gummireifen ausgestattet waren. Der Durchbruch zur Reifenindustrie geschah nach 1888 und hing mit der Neuerfindung des Luftreifens und 28
Diese These vertritt u.a. Lessing (1979) im Anschluss an Wolf (1890 / 1979). Vgl. dazu Sombart, dessen mit Zahlen belegte Ausführungen über die Entwicklung des Verkehrs im 19.Jahrhundert die vielzitierte Behauptung, die Eisenbahn habe die Landstraße redikal geleert, sosehr in Frage stellen, dass ich mich des Verdachts nicht erwehren kann, ein ganzes Genre von wissenschaftlicher wie literarischer Reiseliteratur arbeite hier an der Konstruktion eines Mythos, bzw. sei demselben aufgesessen: "So beherrschend nun aber auch der Einfluß der Eisenbahnen auf das Verkehrswesen des verflossenen Jahrhunderts zweifellos ist, so wäre es doch ganz verkehrt, zu glauben: seit dem Aufkommen der Eisenbahnen seien die andern Transportmittel im Binnenlandsverkehr völlig außer Übung gekommen. Eher ist das Gegenteil richtig: Personenpost, Frachtfuhrwesen, Binnenschiffahrt sind erst durch die Eisenbahnen zu rechter Blüte gelangt. Jedenfalls hat keines von ihnen vorher auch nur annähernd die Bedeutung besessen, wie in dem Zeitalter der Eisenbahnen.”; vgl. Sombart 1954 (1909), S.247. 30 Nach der Erhebung einer Reichskommission für Arbeiterstatistik im Jahre 1902 arbeiteten 83% aller Omnibuskutscher mehr als 16 Stunden täglich. Der Grund der gängigen Beschwerden von Autofahrern und Radfahrern über die Kutscher, diese seien extrem unaufmerksam und aggressiv, lässt sich also möglicherweise zu einem guten Teil auf die extremen physiologischen Belastungen derselben und auf einen - berechtigterweise, möchte man sagen schwelenden Zorn gegen die privilegierten Freizeit-Verkehrsteilnehmer zurückführen; vgl. Scharfe 1990 S.239ff. 31 Christoph Guder, Zur Koevolution von Fahrrad- und Kautschukindustrie im 19.Jahrhundert, in: Briese/Matthies/Renda 1997, S.133-149; hier: 139. 29
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mit dem Erfolg des Niederrads zusammen. „Es begann eine neue Phase, in der die großen Betriebe der Gummiindustrie nun als Betriebe der Reifenindustrie anzusprechen waren.”32 Seit 1885 war John Kemp Starleys (einem Neffen von James Starley, der dessen Fabrik übernahm) Niederrad Rover von Coventry aus vertrieben worden. Schon im darauffolgenden Jahr begann die Firma Adler in Frankfurt/Main mit der Produktion eines eigenen Niederrads. In der Firmenchronik heisst es dazu: „Durch die Erfindung des Niederrades war der Absatz in Fahrrädern enorm gestiegen, denn die neue Maschine genügte allen billigen Ansprüchen; sie war niedrig, leicht besteigbar, beliebig zu übersetzen, passend für jede Personengrösse, für Herren sowohl als auch für Damen, dabei absolut sicher; beim Bremsen, Beschreiben von Kurven, Befahren von schmalen Fusspfaden etc. erwies sie sich als unübertrefflich.” (...) Da (...) der mit der Erfindung des Niederrads einsetzende gewaltige Aufschwung mit Sicherheit vorauszusehen war, entschloss sich die Firma im Jahre 1887 (...) eine grosse, mit allen Mitteln der modernen Technik ausgestattete Fabrikanlage zu errichten. (...) Der Bau (...) wurde im Jahre 1887 begonnen und im Jahre 1889 dem Betriebe übergeben. Mit dieser Fabrik und ihren Einrichtungen war ein Werk geschaffen worden, das sich in jeder Beziehung mit den ersten Etablissements Englands messen konnte. (...) Dadurch dass diese gesammten Fabrikanlagen einzig und allein nur für den Fahrradbau eingerichtet worden waren und nicht, wie jene vieler andrer Werke gleichzeitig auch sonstigen Zwecken, wie der Nähmaschinenproduktion etc. dienen sollten, war man in der Organisation des Betriebs damals schon so weit fortgeschritten, dass die Werkstücke bei ihrer Bearbeitung nur einmal die Runde durch die Fabrikationsräume nehmen mussten, um vom Rohmaterial zum fertigen Fahrrad überzugehen (...).”33
In Deutschland gab es jetzt also auch eine richtige Fahrradfabrik wie die Starleys in Coventry/England oder die der Gebrüder Pope in Boston/Mass. USA, deren Konstruktion und Produktion rein auf einen möglichst rationellen Herstellungsprozess von Fahrrädern zugeschnitten war. Am 23.Juli 1888 meldete John Boyd Dunlop seine Luftreifenkonstruktion an. Am 18.11.1889 gründete er auf der Grundlage seines Patents eine eigene Reifenfirma, die »Pneumatic Rubber and Booth´s Cycle Company«, welche später in »Dunlop Rubber Company« umbenannt wurde. Im September 1890 wurde das Thomson-Patent wiederentdeckt. Ausserhalb Englands erkannte man Dunlop seine Rechte ab, was zur Folge hatte, dass sich die französiche und die deutsche Reifenindustrie (und vermutlich auch die amerikanische) frei entwickeln konnten. Der Luftreifen setzte sich aufgrund seiner unübersehbaren Überlegenheit innerhalb nur weniger Jahre durch. So steigerte z.B. die Continental, welche als erste deutsche Firma 1891 mit der Produktion von Luftreifen begonnen hatte, ihre jährliche Luftreifen-Produktion von 55.632 im Jahr 1893 auf 500.000-600.000 im Jahr 1897. Parallel dazu steigerte sich die ungefähre jährliche Fahrradproduktion im gleichen Zeitraum von 55.000 Stück auf 350.000. ”Es spielten sich 32 33
ebda., S.138. Alexander Lang, Die Adler Fahrradwerke 1880-1905, Berlin 1905, S.24ff.
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hier zwei Produktionszweige gegenseitig Gewinnchancen zu, so daß durchaus von einer symbiotischen Beziehung zwischen Fahrrad- und Kautschukindustrie zu sprechen ist.” 34 Fast genauso verhielt es sich mit der Entwicklung des Kugellagers. Das erste Wälzlager35 war bereits 1794 von dem Engländer Philip Vaugham erfunden und patentiert worden. Doch insbesondere fertigungstechnische Schwierigkeiten - die Unmöglichkeit, mit den Maschinen und Materialien der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts kleine Teile mit hoher Genauigkeit und gleichbleibender Qualität in großen Stückzahlen zu produzieren - verhindern zunächst das Entstehen einer LagerIndustrie. „Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kommt es zu fertigungstechnischen Fortschritten sowie zum Entstehen einer entsprechenden Industrie, zunächst verbunden mit der wachsenden Bedeutung des Fahrrades.”36 Hoof erwähnt erst das im Jahr 1879 patentierte staubdichte, nachstellbare Kugellager für Fahrräder von William Brown, der im darauffolgenden Jahr eine Kugellager-Manufaktur eröffnete. Doch in der Adler-Chronologie liest sich die Geschichte anders und mit einer sehr bemerkenswerten Wiederholung: „Die hochwichtige Erfindung des Kugellagers, (...) war in ihrer praktischen Vollendung im Jahre 1877 dem Ingenieur Georg Weickum in Wien seitens des deutschen Reichs-Patentamtes patentiert worden. -Infolge gründlicher Kenntnisse auf dem einschlägigen Gebiete des amerikanischen und englischen Patentwesens, fand Heinrich Kleyer bald eine überraschende Aehnlichkeit des amerikanischen und englischen Kugellagers mit dem etwa 10 Jahre später in Deutschland aufgenommenen Weickumschen Kugellager-Patent, und so entschloss er sich zur Fabrikation solcher Lager. Weickum forderte im Jahre 1884 die Firma auf, ihm als Patentinhaber für alle gefertigten und weiter zu fertigenden oder aus England bezogenen Kugellager eine Abgabe vom M. 10.- pro Lager zu entrichten, was mit dem Bemerken abgelehnt wurde, dass Weickums Patent keine Rechtskraft besitze. Die gegen die Firma seitens der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage führte zur Freisprechung; das Patent wurde für nichtig erklärt. - Durch diesen Sieg wurde das Recht der Anwendung des Kugellager-Systems, das bislang in der Hand eines Ausländers lag, auf jedermann in ganz Deutschland übertragen. Die Kugellagerfrage war speziell für die Fahrrad-Industrie eine Lebensfrage geworden und ihre Lösung bedeutete für dieselbe eine grosse Erleichterung.”37
Wie die Luftreifenfrage ist also auch die Kugellagerfrage durch die gerichtliche Aufhebung der Geltung von Patenten gelöst worden.38 Wie man sieht, wurden einige der bedeutensten technischen Neuerungen für das Fahrrad zweimal gemacht; einmal zu früh und einmal unter den technikgeschichtlichen Bedingungen, die ihre Integration in den Produktionsprozess ermöglichten, bzw. erforderten. Eine Technologie scheint im Zeitalter der Industrialisierung niemals für sich zu stehen, sondern ist immer Bestandteil 34
ebda., S.143f. Wälzlager ist der Oberbegriff. Laut aktuellem Brockhaus gehören zu den W. Kugel- und Rollenlager. Hoof 1986, S.317 37 Lang a.a.O., S.22f. 38 Das mutet angesichts der großen Bedeutung, die man damals dem Patentrecht - auch und gerade für die Entwicklung neuer Technologien - beimaß, paradox an. Offensichtlich besteht der Hauptzweck von Patenten nicht darin, 35 36
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eines techno-, material- und marktlogischen Ensembles. Erst wenn „die Zeit reif ist”, d.h. die technologischen Voraussetzungen für eine massenhafte maschinelle Produktion gegeben und die notwendigen Rohstoffe vorhanden sind, sowie eine entsprechende Nachfrage vorausgesetzt (oder erzeugt) werden kann, fügt sich eine neue Technologie in das bestehende Ensemble ein, bzw. bildet mit anderen zusammen ein neues. Solche neuen Ensembles waren die ersten englischen Fahrradfabriken, die aus den Maschinen und dem Wissen der bereits industriellen Nähmaschinen- und Waffenfabrikation hervorgingen und damit die Fahrzeugherstellung industrialisierten. Die Koevolution von Kautschuk- und Fahrradindustrie seit dem Ende der 1880er Jahre sowie das Entstehen spezialisierter Produktionsorte für Kugellager (und wenig später Schaltungen) sind weitere Beispiele für das netzwerkartige oder rhizomatische Zusammenspiel der Fertigungsbereiche. Daraus folgt, dass ein komplexes industrielles Gut wie das Fahrrad, das Auto, oder z.B. ein beliebiges elektrisches Haushaltsgerät, niemals als eine Einheit verstanden werden kann. (Eine Logik der Einheit oder des Geschlossenen entsteht erst in der mythischen Lage der Konsumtion als wunderbaren Gegenstand.) Nicht das konstruktive Zusammengehen eines Werkstücks mit einem mehr oder weniger komplexen Wissen, das aber einer Intention gehorcht, im Sinne der (handwerklichen) Bearbeitung und Aufwertung des Materials zum Werk in einem einheitlichen schöpferischen Prozess. Vielmehr muss man es als Vielheit sich durchkreuzender Kräfte - Fähigkeiten, Potentialitäten, Intentionen - begreifen, die an einem -mehr oder weniger zufällig bestimmten Ort einer bestimmten Idee verpflichtet kunstvoll zu einem funktionierenden Ensemble sich verbinden, aus dem die Bedingungen seiner Produktion wie die seiner Rezeption nicht wegzudenken sind. Krausse bezeichnet dieses konstitutive Prinzip der industriellen Fertigung, welches in der Genese des Fahrrads deutlich wurde - einen zentralen Begriff der Kunsthistorie des 20.Jahrhunderts entleihend - als Montage: Transfer (Zweckentfremdung) - Analyse (Auseinandernehmen) - Synthese (Zusammenfügen des Heterogenen zu einem funktionierenden Zusammenspiel). „Das Problem, das zu lösen dem Erfinder wie dem Künstler aufgegeben ist, besteht darin, daß die disparaten Teile zusammenpassen müssen, aufgehoben in einem neuen Ganzen.”39 In einem erstaunlich kühnen Bogen stellt er über den Begriff der Montage eine zwingende Verbindung zwischen industrieller Produktion und einer Urszene der literarischen und künstlerischen Moderne her. die Rechte des Erfinders zu schützen, sondern andere zum Einsatz ihrer kreativen Kräfte zur Umgehung derselben anzuregen.
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Lautréamont (Isidor Ducasse), der jungverstorbene französische Dichter, den die Surrealisten als ihrer mythischen Vorläufer adaptierten, weil er eine traumhafte Technik des Schreibens verwandte, die auf die écriture automatique hinzuführen scheint, veröffentlichte sein berühmtes Buch »Chants de Maldoror« 1869 (im Jahr der Übergabe des Stabes der Fahrradinnovation von Frankreich nach England). Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk weist darauf hin, dass das Entstehen der traumartigen Literatur und der Kult der Dinge, der seinen Höhepunkt mit den Weltausstellungen in den 1860er Jahren erreicht habe, zeitlich zusammenfallen. Zugleich befinde sich in den Texten Lautréamonts nur vorgefertigtes Material, bekannt aus anderen Literaturen, zu traumartigen Sequenzen zusammengesetzt.40 Krausse nun führt aus, dass die in der berühmten Lautréamont-Stelle von der Schönheit der zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch aufgerufenen Objekte alle „gerade als Industrieprodukte am Kult der Dinge teilnahmen.” Aus dem selten mitzitierten Zusammenhang des Zitats geht hervor, dass es sich bei dem so verglichenen Schönen um einen englischen Jungen von sechzehn Jahren handelt, der mit seinen Eltern in Paris weilt. Krausse (rück)überträgt die Bedeutung der Sätze, die von den Surrealisten zum Emblem moderner künstlerischer Produktionsweise erhoben wurden, auf die Welt der industriellen Produktionsweise, der die aufgerufenen Objekte entstammen. Die Montage - „Sezieren, Auseinandernehmen und neu Zusammensetzen” - sei nicht nur das Prinzip der Schreibweise Lautréamonts, sondern - wie gezeigt - auch das der industriellen Herstellung eben jener Gegenstände. In dem Bild verdoppeln und vereinigen sich also gleichsam die Bedeutungen und Wirkungsbereiche der Montage. (Und stellen möglicherweise den Zusammenhang her, aus dem das Prinzip historisch hergeleitet werden muss.) Dass es ein Engländer ist, dessen Schönheit an die prä-operative Zusammenkunft der beiden Industrieprodukte erinnert, führt Krausse zu folgender Überlegung: „Da dies ein innerer Zusammenhang ist, kann es nicht verwundern, daß simultan zur Imagination des Dichters tatsächlich ein Engländer für die Analyse eines Objekts aus Frankreich sorgt, es auf dem »Seziertisch« auseinandernimmt, um hinter das Bauprinzip zu kommen und an Stelle der ungeeigneten Teile neue zu setzen, die aus anderen Zusammenhängen herausgelöst neu zusammenmontiert werden mußten. Wie wir sahen, ergab sich aus dem Zusammentreffen von Leichtbauweise - prototypisch: Regenschirm - und Präzisionsmechanik - prototypisch: Nähmaschine - der Schritt zum wirklich modernen Industrieprodukt Fahrrad. Es verdankt seine Entstehung eben nicht nur einem zweckdienlichen Pragmatismus, sondern ebensosehr einer dem Traum ähnlichen Assoziation.”41
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Krausse 1973, S.111. Elisabeth Lenk, Traum als Konstruktionsprinzip bei Lautréamont und Carroll, in: dies., Kritische Phantasie, München 1986, S.122ff.; zit.n.Krausse 1973, S.116. 41 Krausse 1973, S.116f. 40
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Hier schließt sich der Bogen von der Literatur zur Technik und wieder zurück zum Regelkreis. Und zugleich wird eine Deutung dessen offenbar, was Heidegger den Vergleich zwischen Fahrradfahren und Dichten so sehr fürchten oder verabscheuen ließ, dass er seine Richtung als „Geschmacklosigkeit, wenn nicht noch mehr” nicht einmal andeutungsweise weiter vorantrieb: Die Montage, das Prinzip, welches das Fahrrad hervorbrachte und gleichermaßen die Kunst bzw. Literatur der klassischen Moderne, ist ein industrielles Konstruktionsprinzip. Der Vergleich zwischen Fahrradfahren und Dichten gefährdet mindestens ebensosehr wie das Anerkenntnis der Möglichkeit des Verfassens von Lyrik auf der Schreibmaschine das handwerkliche Wesen des Schreibens wie der Philosophie und der Kunst, dem Heidegger sich verpflichtet fühlt. Darin verborgen scheint mir ein weiterer Komplex zu liegen. Hand in Hand mit der beständigen Anrufung des Handwerklichen geht bei Heidegger ein Ablehnen alles Städtischen. Aus dem Fahrrad-Dichten-Vergleich geht aber hervor, dass Literatur wie Technik Angelegenheiten sind, die sich nur in Wechselwirkung mit anderen konstruktiven Strömungen erneuern können. Solche Bedingungen finden sich jedenfalls in der Moderne - nur in den Städten. Nur dort kann beispielsweise der freie Güter- und v.a. Wissensaustausch zwischen unterschiedlichen Handwerken und Gewerben entstehen, da hier die Macht von Zünften und Kirchen am ehesten zugunsten eines entfesselten Willens zum Handel und zur Innovation niedergeht. Zur zünftigen Ordnung gehörten aber - eben weil sie tatsächlich die handwerkliche Geschichte haben, die Heidegger zu ihrem wesenhaften Anfang macht - Kunst und Literatur. Im Laufe des 19. und zu Beginn des 20.Jahrhundert haben sie sich in der Stadt mit Technik aufgeladen. Dies wird auch und gerade in den zahlreichen Zeugnissen radikaler Ablehnung deutlich, die sich ja gewissermaßen von ihren eigenen Quellen abschneidet, also auch bei Heidegger selber, der den Ursprung konsequenterweise dann in einer vorgängigen nicht-historischen Bestimmung durch Sprache sucht, wie sie nur bei den alten Griechen und in wenigen Künsten sich offenbare.
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Erkenntnistheorie des Fahrrads „Der radfahrende Geistesarbeiter darf sicher sein, daß er nicht zum einseitigen Stubengelehrten entarten wird.“ (Eduard Bertz)
Der Ansatz einer Erkenntnistheorie des Fahrrads, die von den spezifischen körperlichen Effekten ausgeht, welche durch das Fahrradfahren hervorgerufen werden, und von diesen Rückschlüsse auf die Verfasstheit anderer Erkenntnistheorien, bzw, auf die kinetische Grundverfassung unserer Zeit zulässt, erwies sich nicht als so abwegig, wie ich zwischenzeitlich befürchtete. „Ich hatte auf der einen Seite ja diesen Ansatz, wenn Landschaft als Text betrachtet werden kann, dann auch Texte als Landschaft. Und wenn Texte als Landschaft betrachtet werden können, dann muss auch die Art und Weise, wie man sich in ihnen fortbewegt von Interesse sein, und, ob sich da nicht möglicherweise eine Verbindung zu meinem Fahrradprojekt knüpfen lässt. Einmal durch dieses Lesen auf Tour und zum zweiten, als es vielleicht spezifische Arten der Bewegung, v.a. der Geschwindigkeit, oder auch des Rhythmus gibt beim Fahrradfahren. Aber ich weiß nicht, im Moment zweifle ich da etwas, ob dieses Ganze nicht irgenwie nur metaphorisch von Interesse sein kann, wenn überhaupt.“1 Es gehen nicht nur, wie gezeigt, diverse philosophische bzw. medientheoretische Theorien, die sich mit Bewegungs- und Zeitphänomenen auseinandersetzen, von einer direkten Verbindung zwischen kinetischen und epistemologischen Faktoren aus. Ich erhielt auch Bestätigung der experimentellen, praktischen Anteile meines Ansatzes. So findet sich bei dem Fahrradphilosophen Eduard Bertz ein Kapitel mit Tagebuchaufzeichnungen. Als „Bruchteil des Allgemeinen“ transportierten sie einen gewissen objektiven Gehalt, der ihren Einsatz in einem Text rechtfertigen soll, der - bei aller Liebe zum behandelten Objekt - durchaus mit wissenschaftlichem Anspruch verfasst ist. „Man darf (...) das Persönliche als ein Zeugnis schätzen, das wenigstens als ein Bruchteil des Allgemeinen seinen Wert hat, und in diesem Sinne mögen hier ein paar Auszüge aus dem Tagebuch meiner Radfahrten und Abenteuer folgen. Immer kurz nach der Heimkehr niedergeschrieben, spiegeln sie den unmittelbaren Eindruck wieder. Es ist sicher, daß dies schnelle, leichte Hinfliegen das Lustgefühl am Leben, die reine Daseinsfreude steigert. Man fühlt sich so dankbar für die Flügel, die einem gewachsen sind, und daß einem der Weg durch die Welt, den man sonst Schritt für Schritt nachmessen mußte, so zu heitrem Spiel gemacht ist (...) Und wenn auch beim Radfahren die Gedanken ruhen, so zerstreut es doch nicht, sondern es giebt viel mehr Sammlung und Stille. Denn wie ich ohne Gefährten, ohne die Abwechslung großstädtischer Szenen, nur den ländlichen Straßen folgend, durch die einsame Landschaft streife, gehöre ich auf diesen Fahrten ganz mir selbst (...). Nicht die Ideen herrschen, aber die Stimmung ist verinnerlicht; sie schwebt hoch über dem Leben. Das ist sicher ein Gewinn (...): meine geistige Regsamkeit hat nicht unter dem Radsport gelitten, 1
Simon Sparwasser, bike´n phile, Transskription aus den Tondokumenten, 1999/2001. Alle kursiven und nicht durch eine andere Formatierung wiedergegebenen Textpassagen im folgenden sind Textpassagen aus den bike´n phile Tondokumenten oder der Website. Ich werde sie nicht gesondert belegen.
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sondern im Gegenteil fühle ich mich frischer, angeregter, produktionslustiger, energischer, mehr zur Thätigkeit getrieben, denn je.“2
Im Grunde kann man hier schon die gleiche Strategie finden, der ich auch folgte, die darin besteht, sich selber zu verdoppeln. Neben die berühmten Zeugnisse der Künstler und Schriftsteller, die sozusagen von Staats wegen dazu berufen sind, stellvertretend für ganze Epochen Innerlichkeiten auszudrücken, kann auf diese Art noch eine weitere Kategorie des subjektiven Zeugnisses treten. Allerdings vertrete ich, was die Art der geistigen Beanspruchung betrifft, eine gänzlich andere Auffassung als Bertz. Es kommt vor, dass „beim Radfahren die Gedanken ruhen“. Doch diesen Idealzustand zu erreichen, ist gar nicht so leicht. Typisch scheint mir eher ein permanenter Fluss von Gedanken, der durch die mehr oder weniger schockartige Einwirkung äußerer Umstände häufig dazu genötigt wird, seinen Gegenstand, seine Richtung, oder seine Geschwindigkeit zu ändern. "Ein Fahrtenschreiber wäre recht, hirnstromgesteuert, mit synchroner Außenkamera, Tonband und Geruchsanalysator. Das gäb zu lesen! Denkfiguren, Projektionen, Assoziationsmuster, Wortcluster, Sprachstrebigkeit. Plus Hormonspiegel, Pulswerte, Dauerkardiogramm: ich käm Hirn Dick schon auf die Schliche! Ob unser selbstgesprächiger Autor (Rad-Tor, hä hä: ES kalauert - und wenn´s ihn schmeißt, doch wieder Autor), ob unser Peripedaliker auf dem knubbelreichen Waldpfad weniger episch, also statt der freien Rhythmen durchbrochener, vorsichtiger (auch stoßatmiger) daherkommt? Gesätz-mäßigkeiten?“3
Die Ausgangskonstellation von Uwe Dicks „Monolog eines Radfahrers“ nimmt beinahe exakt die meines Projekts vorweg: Schreiben über das Denken über das Schreiben auf dem Rad (meine: Schreiben über das Denken über das Denken auf dem Rad). Aber in einem Punkt verhält sie sich genau gegensätzlich: Er fährt „200 mal Wasserburg-Rosenheim und zurück“ und schreibt einmal darüber. Ich fahre jeden Streckenabschnitt nur ein einziges mal und schreibe die ganze Zeit darüber. Vielleicht waren Radfahrer zu Eduard Bertz Zeiten noch viel mehr von der Beherrschung der Technik und der Fährnisse des Weges in Anspruch genommen als heutige. „Man kann auf dem Rade nicht viel um sich schauen und nicht viel nachdenken; man ist wie die Indianer, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Fährte im Grase richten, oder wie das Tier, das (...) seinen natürlichen Instinkten folgt.“4
Bei mir füllt im ruhigsten Falle eine Melodie - in der Regel ein Stück Lied - den Gedankenraum aus; was bisweilen auch extrem enervierend werden kann, wenn es einen oder sogar mehrere Tage lang immer die gleiche ist. Die Technik, die ich bei den
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Bertz 1900, S.112f. Dick 1986, S.20f. 4 Bertz 1900, S.112. 3
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Bergwertungen zu Bestandsaufnahmen meines Lektüre- und Denkweges einsetzte, qua Vorsatz einem Gedankengang über einen längeren Zeitraum des Radfahrens mit Nachdruck zu folgen - d.h. immer wieder anzusetzen, wenn er unterbrochen wurde -, ist nicht zuletzt eine Strategie zur Verdrängung enervierender Gedankenwirkungen. Ich kann mich erinnern, dass ich sie schon in frühen Jugendtagen bei den ersten Radtouren einsetzte, um mich von unangenehmen Begleitumständen (Regen, Kälte, unendlich scheinende Steigungen) abzulenken. Anlässlich der Sparwasser-Touren kam als Neues lediglich die Konzentration auf vorgegebene Fragestellungen und das Aufnahmegerät hinzu. Beim Radfahren ist man sich selber der schlimmste Feind. Vielleicht führt die permanente Kreisbewegung der Beine dazu, dass auch die Gedanken im Kopf kreisen. Hat sich jedenfalls erst mal so ein giftiger, jähzorniger Gedanke seine Bahn ins Gehirn geschliffen, führt man einen doppelten Kampf, wo man vielleicht gar keinen zu führen bräuchte. Die schlimmsten Gegner, die man in sich aufbauen kann, sind immer mit dem Gefühl verbunden, nicht von der Stelle zu kommen, bzw. dass etwas nie vorbei geht: Gegenwind; schlechter Untergrund (Sand, Schotter); eine großräumige Landschaft, deren Perspektiven sich nicht merklich verändern; nicht sichtbare Steigungen; starke, lange Steigungen; Energielosigkeit, weil man vergaß zu essen (der Klassiker; unter Rennfahrern bekannt als „Hungerast“). Ein deutlicher Beleg für das raum-fresserische Wesen auch des Radfahrens, scheint mir. Aber inzwischen hat sich mir ja noch ein zweiter Punkt eröffnet, nämlich, was ich hier eigentlich mache: Ich bewege mich permanent zwischen den verschiedenen Räumen, die der Landschaft, des Fahrradfahrens, der Fahrradtour - was ja in erster Linie ein Raum ist, der mit Straßen zu tun hat, Transitraum - die der Bücher - Texte, philosophischen Theorien - und des Computers, bzw. der Kommunikationsmöglichkeiten, die sich über den Computer eröffnen. ... und, was ich versuche ist zum einen in so einer Art Selbstversuch, wie sich das überhaupt alles vereinbaren lässt, zum anderen aber natürlich auch, wie sich das zur Deckung bringen lässt. Als Radfahrer befindet man sich - wie bei den anderen individualtechnischen Verschaltungen auch - in einer kentaurischen Konfiguration. Die Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Technik stellt sich seit Ausbruch der Industrialisierung in zunehmend sich verschärfendem Maße. Während Simmel zu Anfang des 20.Jahrhunderts noch von der Gefahr einer Verselbständigung der Werkzeuge spricht, deren Sklave der Mensch vielleicht bald werden könnte, statt - wie intendiert - ihr Meister zu sein, betont Freyer in einer Reflexion der Simmelschen Gedanken, dass es sich bei
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moderner Technik gar nicht mehr um Werkzeug handle, das einem, bestimmten Nutzen dienen soll, sondern vielmehr um Machtpotentiale, deren verschiedene Nutzen in ihnen und in sich selbst - zu finden sich nach deren Erfindung als die Aufgabe stelle, welcher die Menschen sich fügen. „Die in der industriellen Revolution geborene Technik schafft nicht mehr bloß spezifische Mittel für vorgegebene Zwecke. Sie schafft geballte Kräfte, hochgradige Spannungen, manipulierbare Verfahrensweisen, die für viele Zwecke verwendbar sind. Sie schafft gleichsam ein Können überhaupt - ein Können, das das natürliche Können des Menschen transzendiert - so daß sich nunmehr die ganz andere Frage stellt: was kann ich damit alles machen d.h. was kann ich nun alles wollen? (...) Der Sinn der Technik ist nicht mehr der Nutzen (der immer ein Nutzen für oder zu etwas ist), sondern ist die Macht, die nach Max Webers Wort wesentlich amorph ist. Der technische Geist wird damit gleichsam absolut gesetzt, er wird aus der Führung vorgegebener Zielsetzungen entlassen.“5
Durch die Individualisierung der Technologien wandert die technische Verfügbarkeit über die kantischen Anschauungsformen Raum und Zeit in scheinbar oder tatsächlich autonome Bereiche der Einzelnen. In den narzisstischen Spiegelungen der kentaurischen Konstellation kommen verschiedene Gewichtungen bzw. Mischverhältnisse der menschlichen und technischen Potentialitäten zum Tragen. Bereits in den Jahren um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert formulieren sich die Extreme der Sichtweise des Kentauren, dieses typischen fin-de-siècle-Mythos.6 Bei Oscar Bie, dem Vertreter des Jugendstils - einer Apologetik kleiner, handwerklich orientierter Technologie - gelingt die Verschmelzung von Mensch und Maschine ganz im Zeichen des Menschen. „Die kleine Bezwingung der Schwierigkeiten macht das Zweirad zu einem Teil des Menschen, es setzt Flügel an seine Füße und verliert den Maschinencharakter. Jeder Anfänger macht den Moment durch, in dem er das erstemal das Rad unter sich als einen Teil von sich selbst fühlt: es geht plötzlich eine leichte Welle durch seinen Körper, und er fühlt nicht mehr die Last der Maschine. Von diesem Augenblick an hat das Rad Leben von seinem Leben erhalten. Das Pferd wird nur zur Hälfte zum Teil des Reiters, zur Hälfte behält es ein eignes Leben, dessen Rasse sein unüberwundener Reiz ist. Das Rad aber geht ganz in seinem Reiter auf, und dieser fühlt die Überwindung der Maschine. Der Radler ist der erste moderne Mensch, der die Überwindung der Maschine erlebt; kein Hilfeleisten mehr, sondern ein Aufgehn in das Wesen und den Bewegungsmechanismus des Menschen.“7
Genau die Tatsache, dass es sich um eine Maschine handelt, macht nach Bie die Überlegenheit der Cyborg-Verschmelzung gegenüber der herkömmlichen kentaurischen Verbindung mit dem Organischen aus. Letzteres behalte immer „zur Hälfte ... ein eignes Leben“, während erstere - offensichtlich verstanden als Werkzeug im Wesen des Menschen aufgehe. Mensch-Werden der Maschine. Bei Marinetti, dem Futuristen, der die Ästhetik der Maschine verkünden wird, nimmt dagegen schon in den 5 Hans Freyer, Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, in: Fischer 1996, S.237-254; hier: S.247. 6 vgl. Wagner 1996, S.47f.
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noch stark von Symbolismus und Baudelaire geprägten prä-futuristischen Gedichten die Technik den Platz Gottes ein. Sein lyrisches Ich sucht die Verschmelzung mit der Maschine, um damit in einem Höheren, Größeren restlos aufzugehen. Verschmelzung mit Technik ist nur zu dem Preis der Selbstaufgabe zu haben. Statt Autonomie Untergang im maschinellen Unendlichen als Krönung der Individualität. Feuriger Gott aus stählernem Geschlecht, / Automobil, das fernensüchtig / geängstigt stampft, (...) nach Horizonten gierig und nach Sternenbeute, / (...) Ich lasse den Zügel los und du / stürmst trunken in befreiende Unendlichkeit! ... / (...) Daß ich in deiner Macht bin, schöner Teufel - sei´s! / (...) Die Bremsen los! Ihr könnt nicht? Brecht sie denn, / daß sich des Motors Schwung verhundertfacht! Hurrah! Die niedre Erde fesselt mich nicht mehr. / Endlich befrei ich mich und fliege schon / berauscht hinein in alle Überfülle / des Sternenstroms im großen Bett der Nacht.8
Autos und Flugzeuge sind bevorzugtes Medium der Marinettischen kentaurischen Verschmelzung, deren Attraktivität nicht primär in der Steigerung irdischmenschlicher Potenz, sondern in der weltflüchtigen Teilhabe an einem Übermenschlichen besteht. Wider alle möglichen Vorbehalte gegen das AntiHumanistische dieses metaphysischen Programms und v.a. gegen den Anachronismus der sprachlichen Gestaltung, kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass Marinetti, im Gegensatz zu Bie, die entscheidende - ontologische - Wende der technischen Moderne erkennt und sichtbar macht (während die idyllisierende Konfiguration des Jugendstils diese verschleiert): die Wende von der Metaphysik zur Technik als aktuellem Modus der Seinsvergessenheit. Der immer noch übliche Aufruf des Fahrrads als angeblichen Zeugen einer handwerklich-ursprünglichen Tradition gegen die maschinelle Entfremdung des Automobilismus wiederholt bis auf den heutigen Tag diese Konfiguration der Seinsvergessenheit.. Deren Anfänge liegen allerdings auch im Automobilismus, indem dieser im Zuge seines Durchsetzens zur Leit-Technologie das Fahrrad zum personifizierten schlechten Gewissen über die Vernichtung einer ruhigeren und langsameren Zeit macht. So findet man schon im ersten Manifest des Futurismus, das zugleich Manifest einer neuen Kunst und eines neuen Zeitalters des Verkehrs ist, jene Konstellation vor. Bevor der futuristische Held, der mit seinem Auto verschmilzt, die neuen Thesen verkünden kann, hat er einen Unfall, bei dem er den Zusammenstoß mit der alten Zeit - zwei Radfahrern,
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Bie, Fahrrad-Ästhetik, in: Mathes 1984, S.66. aus: F.T.Marinetti, An das Rennautomobil, in: ders., Futuristische Dichtungen (1912), übers.v. Else Hadwiger, hrsg.v. Joan Bleicher, Siegen 1985. Das Gedicht erschien erstmals 1905 in der von Marinetti herausgegebenen Zeitschrift Poesia unter dem Titel: A l’Automobile. 8
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der bürgerlichen Verkehrsordnung - nur dadurch vermeiden kann, dass er den Wagen in einen Abflussgraben lenkt. "Verlassen wir der Weisheit schreckliches Gehäuse, und werfen wir uns, wie mit Stolz gefärbte Früchte, in den riesigen und fletschenden Rachen des Windes! ... Werfen wir uns dem Unbekannten zum Fraß hin, nicht aus Verzweiflung, sondern nur, um die tiefen Brunnen des Absurden zu füllen! Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich micht mit derselben tollen Trunkenheit der Hunde, die sich in den eigenen Schwanz beißen wollen, scharf um mich selbst drehte, und im gleichen Augenblick sah ich zwei Radfahrer auf mich zukommen, die mich ins Unrecht setzten und vor mir zauderten wie zwei Überlegungen, die beide überzeugend und trotzdem kontradiktorisch sind. Ihr dummes Dilemma spielte sich auf meinem Gelände ab ... Wie dumm! Puh! ... Ich bremste hart und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern nach oben, in einen Graben ... Oh, mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfe gierig deinen stärkenden Schlamm (...) Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt - diesem Gemisch aus Metallschlacke, nutzlosem Schweiß und himmlischem Ruß zerbeult und mit verbundenen Armen, aber unerschrocken, diktierten wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde (...)"9
Trotz seiner ontologischen Gleichrangigkeit birgt das Fahrrad aber möglicherweise eine größere Erkenntnismöglichkeit eben dieser fundamentalen Zusammenhänge als alle anderen modernen Technologien. Im Unterschied zu diesen, die im Zuge des Prozesses der Herstellung immer einfacherer Verfügbarkeiten angefangen z.B. bei jenem legendären Druckknopf an Photoapparaten und Fahrstühlen, auf den schon Benjamin hinweist - ihre Funktionsweisen verbergen, trägt das altmodische Fahrrad sein Wesen nachwievor außen. „Mit seinem Kettenzug und seinen Gängen ist das Fahrrad das Wesen der Technik: Es umschließt und entfaltet, es vollzieht die große Kehre der Erde.“10 Dabei ist mir der Gedanke gekommen, dass - im Unterschied zum Reisenden des 18.Jahrhunderts und des beginnenden 19.Jahrhunderts, der hinter dem Horizont das ganz Andere erwartete, und der danach auf der Suche war, oder vielleicht auch nach der Wahrheit in sich selber - der Reisende heutzutage mit einer Art Konzept unterwegs ist, was ja eigentlich nichts anderes ist als ein Text, und im Grunde permanent darum bemüht ist, diesen Text und die Landschaft, oder das Erleben, zur Deckung zu bringen. Die Glücksmomente bestehen dann vielleicht in diesem zurDeckung-Bringen, zum einen jedenfalls. Dann gibt es natürlich noch die Frage, warum man überhaupt, warum man dann überhaupt auf Reisen geht. In dem technischen Gefüge des Sparwasser-Projekts stellte sich die Machtfrage primär nicht als kentaurische; „mein Fahrrad und ich“ befanden sich sozusagen in einer gesicherten partnerschaftlichen Beziehung, während es bei dem vielebenigen Reiseprojekt vielmehr 9
F.T.Marinetti, Manifst des Futurismus, 1909; zit.n. Schmidt-Bergmann 1993, S.76. Gilles Deleuze in seiner Interpretation Alfred Jarrys als unerkanntem Vorläufer Heideggers, in: Deleuze, Kritik und Klinik, Framklfurt/M. 2000, S.126. 10
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mit den Aufschreibmedien auszutarieren galt, wer letztendlich über den Zugang zu Räumen entscheidet, d.h. welches Konzept sich durchsetzt. Es ist an der Zeit mal etwas ueber die Seltsamkeit dieser Art des verbundenen Unterwegs-Seins zu schreiben: Lesen ist auch eine Form der Ent-Wirklichung, bzw. der Schaffung von Parallelwelten, das weiß ich schon lange. Aber dieses Notebook traegt eine ganze Technologie mit sich, die mir noch viel neuer ist. Es (...) erzeugt eine Aura um sich herum und es schafft Aufregungen, die mit seiner Funktionabilitaet zusammenhaengen (zumindest was den Online-Teil angeht). Als ich endlich das Netzzugangsproblem erstmalig bewaeltigt und einen Arbeitsabend bis um eins hinter mir hatte, traeumte ich von Computern und Computerproblemen; nicht von den Inhalten, die ich ja auch immerhin in dieser Nacht plaziert hatte, und um die es mir in erster Linie zu gehen scheint. The Medium is the Message. Fuck it! * Das allein kann es nicht sein, dass ich mich mit hunderttausend Problemen herumschlage und mir lauter Stress auflade, nur damit ich auf Reisen Online sein kann, EGAL, WAS ICH ZU PRAESENTIEREN HABE. (...) Wenn ein Grossteil meiner Energie in das Funktionieren der elektronischen Kanaele geht, dann werden mein Fahrrad und ich zu Werkzeugen bzw. Agenten des Notebooks und der Website. Die Verwendung des Computers zwang mich vielmehr als jedes Buch oder jeder Schreibblock - gar nicht zu reden von den Aufzeichnungsmedien für Ton und Bild, derer ich mich problemlos im Fahren bediente - zum Aufsuchen stationärer Örtlichkeiten. Das Diktatorische, oder besser: Sperrige der neuen Technologie bestand genau darin, ein Vermischen seiner Räume mit denen der anderen Realitätserzeugungen fast nur unter seinen Bedingungen zuzulassen. Ich konnte es nicht während der Fahrt aufklappen, war meist angewiesen auf Steckdosen und/oder Telefonanschlüsse. Die spezifische Art der Mensch-Maschine-Kopplung verlangte bei längeren Arbeiten (und Arbeiten am Computer werden fast immer länger) nach einem Schreibtisch, sprich: einem Hotelzimmer; da ich ansonsten leicht Kreuzschmerzen bekomme. Doch erinnert man sich an die in diesem Abschnitt zitierten Ausführungen von Bertz zur Dominanz der Medialität des Fahrrads im Erleben der frühen Radfahrer, so besteht berechtigter Grund zu der Annahme, dass auch meine Erfahrungen sich durch ein relativ frühes Stadium des Umgangs mit der Technik erklären lassen. (Für diese These spricht z.B. der souveräne öffentliche Umgang junger wie alter Benutzer von sog. Palmtops, der in letzter Zeit zu beobachten ist). Dennoch ergaben sich einige idealtypische Situationen der Vermischung der Räume des Computers mit den anderen Räumen der Reise. Das simultane
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Umherschweifen in grundverschiedenen realen und imaginären Räumen stellt nicht zuletzt eine syntopische psychophysische Art des Zugangs zu Welten dar, welche vielleicht typisch ist für unsere fortgeschritten medialisierte Kultur. Wenn Freiheit bzw. Autonomie in erster Linie „free access“ bedeutet und die Möglichkeit, in diesem permanenten Strömen von Erleben zu einer Erfahrung zu kommen, rein vom Zufall abhängt, dann bekommen simultaneistische, spielerische EchtzeitVersuchsanordnungen wie die Sparwassers eine existentielle Qualität. Vor dem Hintergrund eines durchschaubaren, formalen Konzepts (ähnlich simpel und eingängig wie der Mechanismus eines Fahrrads, z.B.) vervielfachen sie die Wahrscheinlichkeit des Auftretens durchschlagender, grenzüberschreitender Augenblicke. Die Tour als Zufallsgenerator. Und - anknüpfend an das was ich vorher gesagt hab über Nietzsche und über das Bejahen der Immanenz, der Wiederkehr des Immergleichen -, nämlich auch das Bejahen der Kontingenz, der absoluten Kontingenz. Beim Reisen kann das Erleben in einem durchaus erhabenen Sinne als absolute Kontingenz, (...) - in einem kleineren, sozusagen spieltechnischen, Sinne, nämlich als Zufallsgenerator, oder sowas, als Generator von Momenten, die immer wieder irgendwelche kleineren oder größeren Unwägbarkeiten mit sich bringen und so diese ganze Reisetätigkeit zu einem spannenden Spiel - oh, jetzt kommt ein Auto. Ich hab keine Beleuchtung. - zu machen imstande sind. - Naja, ich bin hell gekleidet. Ausserdem ist es noch nicht ganz dunkel, wenn auch schon ziemlich. [schweres Atmen, ein Auto braust vorbei]
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