Jonathan Carroll Fieberglas Roman
Miranda Romanac verliebt sich in den verheirateten Hugh, der sie an ihre große HighSc...
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Jonathan Carroll Fieberglas Roman
Miranda Romanac verliebt sich in den verheirateten Hugh, der sie an ihre große HighSchool-Liebe erinnerte. Als er sich schließlich von seiner Frau trennt, stirbt er unverse hens an dem Abend, an dem Miranda von ihrer Schwangerschaft erzählen wollte. Merkwürdige Dinge geschehen daraufhin im Haus.
Jonathan Carroll Fieberglas Originaltitel: The Marriage of Sticks Übersetzt aus dem Englischen von Rainer Schmidt © Eichborn AG, Frankfurt am Main, 2002 ISBN 3-8218-0822-5
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Das Buch Die Rückkehr in die Vergangenheit ist immer auch eine Begegnung mit den eigenen Hoffnungen – und den nicht eingelösten Versprechen. Eines dieser Versprechen war James Stillman, den Miranda als junges Mädchen geliebt, aber wieder verlassen hatte. Als sie auf dem Klas sentreffen erfährt, daß Stillman bei einem Autounfall ums Leben kam, weiß Miranda, daß ein nicht gelebter Traum zu Ende ist. Sie ist de primiert, aber mit der ihr eigenen Entschlossenheit stürzt sie sich nach ihrer Rückkehr nach New York in die Arbeit – und lernt den Kunst händler Hugh Oakley kennen. Sein Elan, sein Enthusiasmus, seine Neugier: Alles erinnert Miranda an ihre große Liebe. Die Anziehung ist gegenseitig: Er trennt sich ihr zuliebe von seiner Familie, und beide ziehen aufs Land, in ein Haus, das eine exzentrische alte Dame ihnen zur Verfügung stellt. Als Miranda schwanger wird, scheint ihr Glück vollkommen. Doch an dem Abend, an dem sie ihn mit der freudigen Mitteilung überraschen will, geschieht etwas ganz und gar Ungeheuer liches … Virtuos verknüpft Jonathan Carroll Elemente des magischen Rea lismus mit der nervenzerreißenden Spannung eines Thrillers. Einmal mehr erweist er sich dabei als ein Meister der Verzauberung, der sei nen Romanfiguren die geheimsten Wünsche erfüllt – doch das heißt nicht, daß diese Erfüllung sie glücklich macht.
Der Autor Jonathan Carroll, geboren 1949 in Los Angeles, kommt aus einer Künstlerfamilie, ist an der amerikanischen Ost- und Westküste aufge wachsen und lebt seit 20 Jahren in Wien. Er hat zahlreiche mit inter nationalen Preisen ausgezeichnete Romane geschrieben und genießt weltweiten Kultstatus.
JONATHAN CARROLL fieberglas Roman Aus dem Englischen von Rainer Schmidt
eichborn.
Originaltitel: The Marriage of Sticks
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Carroll, Jonathan:
Fieberglas: Roman / Jonathan Carroll. – Frankfurt: Eichborn, 2002
Einheitssacht.: The marriage of sticks ‹dt.›
ISBN 3-8218-0822-5
Original ©: Jonathan Carroll, 1999
© für die deutsche Ausgabe: Eichborn AG, Frankfurt am Main, 2002
Umschlaggestaltung: Moni Port, unter Verwendung
einer Illustration von Anke Kühl (www.laborproben.de)
Lektorat: Doris Engelke
Satz: Fuldaer Verlagsagentur, Fulda
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
ISBN 3-8218- 0822-5
Verlagsverzeichnis schickt gern:
Eichborn Verlag, Kaiserstr. 66, D-60329 Frankfurt am Main
www.eichborn.de
ERSTER TEIL
der hund macht das bett Am Ende hat jeder von uns nur eine einzige Geschichte zu erzählen. Doch obwohl sie diese Geschichte erlebt haben, haben die meisten Leute weder den Mut dazu, noch wissen sie, wie sie sie erzählen sollen. Ich habe zu lange gelebt, um jetzt, wo ich endlich über mein Leben sprechen kann, zu lügen. Was soll das auch? Es ist niemand mehr da, den ich beeindrucken könnte. Die, die mich einmal geliebt oder gehaßt haben, sind weg oder haben gerade noch genug Energie, um zu atmen. Mit einer Ausnahme. Es gibt jetzt wenig anderes zu tun, außer mich zu erinnern. Ich bin eine alte, alte Frau mit einem Kopf voll Erinnerungen, zerbrechlich wie Eier. Und doch sind die Erinnerungen laut und fordernd. »Erinnere dich an mich!« schreien sie. Oder: »Erinnere dich an den Hund, der gesprochen hat.« Ich antworte: »Sagt die Wahrheit! Seid ihr sicher? Oder erfindet ihr bloß eine passendere Geschichte, damit mir wohler ist?« Es ist zu einfach, dem Spiegel der Geschichte seine Schokoladenseite zuzuwenden. Aber der Geschichte ist das egal. Das habe ich gelernt. Spiegel und Schatzkarten. Das X markiert nicht die Stelle, wo ein Leben beginnt, sondern die, wo es anfängt, etwas zu bedeuten. Vergiß, wer deine Eltern waren, was du gelernt hast, was du getan, gewonnen oder verloren hast. Wo hat die Reise angefangen? Wann wußtest du, daß du durch das Abflug-Gate gehst? 7
Meine Geschichte, das X auf meiner Karte, begann in einem Hotel in Santa Monica mit dem Hund, der das Bett machte. Wir hatten uns gleich nach dem College kennengelernt. Eine Weile, anderthalb Jahre lang, glaubten wir beide ehrlich, daß dies die große Liebe unser beider Leben sein würde. Wir wohnten zusammen, fuhren zusammen zum ersten Mal nach Europa, redeten schüchtern vom Heiraten und wie wir unsere Kinder nennen würden. Wir kauften Dinge und wußten, daß sie in dem großen alten Haus sein würden, das wir eines Tages haben würden, an einem Meer. Er war der beste Liebhaber, den ich je hatte. Was uns ruinierte, war einfach: Mit einundzwanzig ist man zu verdammt optimistisch. Zu sicher, daß das Leben so viele wunderbare Sachen in petto hat und man sich leisten kann, unachtsam zu sein. Wir behandelten unsere Beziehung wie ein zuverlässiges Auto, das immer anspringen würde, egal, wie kalt oder schlecht das Wetter war. Wir irrten uns. Es wurde sehr schnell übel. Keiner von uns war vorbereitet auf das Scheitern und auf die dumme Grausamkeit des anderen. Wenn man so jung ist, werden Liebende leicht innerhalb von zwei Atemzügen zu Feinden. Ich fing an, ihn Dog zu nennen. Er nannte mich Biest. Wir hatten die Namen verdient. Weshalb also saß zwölf Jahre später derselbe Dog in einem teuren Hotelzimmer, als ich aus der Dusche kam, ein Handtuch um die nassen Haare geschlungen, und erfreut sah, daß er das Bett gemacht hatte? Ein Bett, das wir während der letzten zehn Stunden mit dem gleichen Genuß wie immer miteinander geteilt hatten? Weil man nimmt, was man kriegen kann. Frauen reden gern. Wenn man ei8
nen Mann findet, der gern zuhört und zufällig ein großartiger Liebhaber ist – dann zum Teufel mit dem Rest. Jeder von uns muß in seiner Haut und mit seinem Gewissen leben. Wenn du einen alten Lover besuchen und immer noch in dem schwelgen kannst, was ihr einst miteinander hattet, dann gehört es auch immer noch dir, wenn du es willst. Ist es richtig, so etwas zu tun? Ich weiß nur, daß das Leben eine Serie von kleiner werdenden Rückschlägen ist und damit endet, daß man zu viele Tage im Sessel sitzt und vor sich hin starrt. Ich habe immer gespürt, daß es so sein würde. Ich wollte eine alte Frau werden, die sich erinnert und nicht klagt oder schimpft, bis der Tod die Essensglokke läutet. Im Laufe der Jahre hatten Dog und ich uns getroffen, wenn es uns paßte. Fast immer verbrachten wir ein paar freudige, selbstsüchtige Tage miteinander. Beide waren wir nach diesen Treffen wiederaufgefüllt. Sein Ausdruck – und er paßt. Er hatte das Bett gemacht und das Zimmer aufgeräumt. Aber so war Doug Auerbach: ein organisierter Mann, und ein erfolgreicher dazu, bis zu einem gewissen Punkt. Ich bewunderte ihn, aber ich war froh, daß wir nie geheiratet hatten. Das Zimmer sah genauso aus wie am Tag zuvor, als wir hereingekommen waren. Er saß da, die Hände im Schoß und sah sich eine Gameshow im Fernsehen an. Das »Oooh« und »Aaah« des Publikums klang traurig in dem riesigen, lila gestrichenen Zimmer. Ich stand da und schaute ihn an, frottierte mir das Haar und fragte mich, wann wir uns wiedersehen würden. Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, sagte er, er habe über mich nachgedacht. Inwiefern, fragte ich. Er sagte, er habe geheiratet und sich scheiden lassen, habe halbwegs erfolgreich geschafft, was er mit seinem Leben an9
fangen wollte, und insgesamt mehr bereut als mit Stolz betrachtet. Bei mir schiene es ihm genau umgekehrt zu sein. Als ich widersprach, blickte er auf und sagte: »Bitte nicht!« Als wollte ich ihm etwas Schreckliches antun. Dann schaltete er den Fernseher ab und bat mich um einen großen Gefallen. Unserem Hotel gegenüber war ein großer Drugstore. Er wollte, daß ich mit ihm dorthin ging, damit er sich einen Rasierapparat und Shampoo kaufen könnte. Er wußte, daß ich noch eine Menge zu tun hatte, bevor am Abend mein Flug nach New York ging, aber sein Tonfall ließ mir keine Wahl. Ich zog mich schnell an, während er dasaß und mir zuschaute, wie ich im Zimmer umherhetzte. Was konnte an einem Sprung in den Drugstore so wichtig sein? Ich ärgerte mich, aber ich spürte auch, daß seine Bitte etwas ebenso Klägliches wie Dringliches hatte. Der Drugstore war einer dieser großen Discountläden, in denen man dreißig Sorten Zahnpasta kriegt, und alle Kunden schienen sich wie betäubt durch die Gänge zu bewegen. Wie die andern grasten wir Rasierzeug- und Shampooregale ab. Es war klar, daß er keine Eile hatte, zu finden, was er suchte. »Was ist los, Doug?« Er wandte sich mir zu und begann zu lächeln. »Hmm?« »Wieso brauchst du mich dabei, wenn du Seife kaufst?« Einen Moment lang sagte er nichts; er schaute mich nur an und schien über die Frage nachzudenken. »Ich hab mir das gewünscht, seit ich weiß, daß wir uns treffen. Mehr als das Reden, den Sex, mehr als alles. Ich wollte einfach mit dir in einen Laden gehen und so tun, als wären wir Mann 10
und Frau. Kurz losgezogen, um Aspirin zu kaufen und eine Fernsehzeitung, vielleicht ein Eis essen. Richtig spät wär’s noch besser gewesen, aber gestern abend wollte ich nichts sagen. Ich bin immer neidisch, wenn ich in einem 24-StundenDrugstore oder einem Supermarkt Paare zusammen einkaufen sehe. Ich gucke in ihre Körbe, will wissen, was sie da kaufen.« »Hast du das nie mit deiner Frau getan?« Ich wollte seinen Arm berühren, aber ich hielt mich zurück. »Doch, aber da wußte ich nicht, daß ich es tat. Jetzt weiß ich’s. Verstehst du? Damals war es einfach öde, eine Notwendigkeit. Ich wußte, mit dir würde es ein kleines Abenteuer sein, und wir würden wissen, daß wir uns dabei amüsierten. Selbst wenn wir nichts kauften, wäre es …« Er sah mich an, sprach nicht weiter. Das Schlimmste war, ich wußte genau, was er meinte, und es tat mir leid. Aber ich hatte anderes zu tun, und das war mir wichtiger. Ich wollte ihn trösten, aber genauso wollte ich auch weg. Es bedeutete ihm so viel mehr als mir. Wir kauften seine Sachen, gingen zurück ins Hotel und checkten aus. Während wir auf der Straße auf mein Taxi warteten, umarmten wir uns. Ich sagte, wir würden uns am Ende des Sommers in New York treffen. Als das Taxi kam, sagte er: »Du weißt, daß es jetzt einen berühmten Rapper gibt, der Dog heißt, Snoop Doggy Dogg.« »Macht nichts. Du bist der einzige Dog Man, den ich je lieben werde.« Er nickte. »Danke für den Drugstore.«
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Das hätte eigentlich reichen müssen, um mir zu sagen, daß mehr in der Luft lag als bloß Sauerstoff. Wieso braucht man ein ganzes Leben, um zu begreifen, daß man so viele Vorahnungen hat wie Vögel auf einem Kirschbaum sitzen? Auf der Taxifahrt zum Flughafen sah ich noch etwas, das mich, rückblickend betrachtet, auf jeden Fall hätte dazu bringen müssen, über das, was vorging, wirklich nachzudenken, statt bloß auf die Uhr zu schauen und zu hoffen, daß ich mein Flugzeug nicht verpasse. Der Fahrer war ein massiger alter Mann mit einer San Diego Padres-Baseballkappe und tat keinen Mucks, grunzte nur verdrossen, als er meinen Koffer in seinen Kofferraum knallte. Mir war es recht, denn ich saß mit meinem Handy auf dem Rücksitz und rief Leute zurück, denen ich aus dem Weg gegangen war, als ich in L. A. war. Dieses Vorgehen hatte ich zu einer Kunst entwickelt: jemanden anrufen und ihr sagen, daß ich auf dem Weg zum Flughafen sei, mich aber rasch noch mal bei ihr melden wolle, bevor ich abreise. Dann erzählte sie einem in einem 5-Minuten-Plausch alles, wofür sie sonst zwei Stunden bei einem teuren Essen gebraucht hätte. Wer hat behauptet, Geduld kommt mit den Jahren? Ich hatte immer weniger davon und war stolz darauf. Aller Erfolg, den ich hatte, kam daher, daß ich die Dinge kurz und knapp abhandelte und das gleiche auch von anderen erwartete. Bei meinem letzten Telefonat saß ich mit geschlossenen Augen da, und was der Fahrer sagte, drang erst einen Moment später zu mir durch. Als ich sie aufmachte, fuhren wir an einem erstaunlichen Anblick vorbei: Dort am Rand der Autobahn saß eine Frau im Rollstuhl. Es muß acht Uhr abends gewesen sein, und es gab keine Straßenbeleuchtung, nur das Scheinwerferlicht, das sich durch die Dunkelheit von Los Angeles bohrte und schwenkte. Bloß ein kurzer Blick und schon waren wir 12
vorbei. Aber in diesem Moment war sie da, beleuchtet von dem Wagen vor uns und dann von uns: eine Frau in einem Rollstuhl auf der Standspur einer Autobahn irgendwo im Nirgendwo. »Eine Verrückte. L. A. ist voll von Verrückten!« Ich schaute in den Rückspiegel. Der Fahrer starrte mich an und wartete darauf, daß ich ihm zustimmte. »Vielleicht ist sie nicht verrückt. Vielleicht sitzt sie da fest, oder ihr ist etwas passiert.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Niemals. Wenn Sie Taxi fahren, sehen Sie so was viermal am Tag. Wenn Sie wissen wollen, wie verrückt die Welt ist, dann fahren Sie Taxi.« Aber damit gab ich mich nicht zufrieden; ich rief den Notruf an, um es zu melden. Ich mußte den Fahrer fragen, wo genau wir waren. Er antwortete kurz angebunden. Die Telefonistin wollte weitere Einzelheiten wissen. Ich konnte nur sagen, da sitzt eine Frau im Rollstuhl an der Autobahn, und etwas ist nicht in Ordnung, wissen Sie? Auf dem ganzen Flug nach New York dachte ich dauernd an die halbe Stunde im Drugstore und an die Frau im Rollstuhl. Beides bereitete mir Unbehagen. Aber dann landeten wir, und es gab so viel zu tun in der Woche, bevor ich mich mit Zoe traf. Schon der Gedanke daran, meine alte beste Freundin wiederzusehen und zu tun, was wir geplant hatten, machte mich in einem Winkel meines Herzens nervös. Wir würden zum 15-Jahres-Treffen unserer High-School-Klasse gehen. Solche Ereignisse hörten sich ein paar Monate, bevor sie stattfanden, immer großartig an. Wenn dann der Zeitpunkt näher rückte, begann meine Begeisterung zu gerinnen wie verdorbene Milch. Bei diesem Klassentreffen wollte ein 13
Teil meiner selbst wissen, was nach all den Jahren aus bestimmten Klassenkameradinnen geworden war. Der andere Teil war starr vor Entsetzen und Abwehr dagegen, von Leuten gesehen zu werden, denen fünfzehn Jahre zuvor mein Leben gehört hatte. Heute kümmert mich meine Vergangenheit nicht, aber als ich dreiunddreißig war, tat sie es. Damals meldete sich die Verlegenheit noch in Großbuchstaben zu Wort. Bei den meisten Leuten war mir sehr wichtig, was sie von mir dachten. Noch fünfzehn Jahre nach der High School wollte ich auf dem Klassentreffen sicher sein, daß die meisten meiner alten Mitschülerinnen erfreut, beeindruckt oder neidisch sein würden – und das nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Mit Zoe war es anders. Verglichen mit meinem Leben seit der High School war Zoe Hollands Dasein ein Schießstand gewesen, mit ihr als Schießscheibe. Gleich im ersten Jahr verließ sie das College und heiratete, als sie erfuhr, daß sie schwanger war. Der Schuldige war ein eitler kleiner Skorpion namens Andy Holland, der drei Monate nach der Hochzeit anfing, mit jeder ins Bett zu gehen, die ihm über den Weg lief. Weshalb er verheiratet sein wollte, begriffen weder Zoe noch ich. Sie bekamen rasch nacheinander zwei Kinder. Dann verkündete Andy eines Tages aus heiterem Himmel, daß er fortging. Zoe stand plötzlich allein da mit zwei Babys und ohne Aussichten. Daß sie zurechtkam, war eine Inspiration, denn bis dahin hatte sie nichts getan, was sie auf diese Lage vorbereitet hätte. Sie hatte zu den Königinnen unserer High-School-Klasse gehört – gute Noten, viele Freunde, und sie ging mit Kevin Hamilton, dem Captain der High-School-Footballmannschaft. Alle schauten Zoe an und seufzten. Aber sie war so nett, daß fast niemand sich über ihr Glück ärgerte. 14
Sie war eine Optimistin, und selbst in ihrer späteren Not war sie fest davon überzeugt, wenn sie nur hart arbeitete und freundlich blieb, würde es schon wieder besser werden. Sie nahm zwei Teilzeitjobs an und schlug sich durch. Als ihre Kinder in die Schule kamen, schrieb sie sich am Gemeindecollege ein. Dort lernte sie die nächste Katastrophe ihres Lebens kennen, einen gutaussehenden Typen, der, ein paar Monate nachdem er zu ihr gezogen war, anfing, sie zu verprügeln. Um es kurz zu machen: Zoes Philosophie war Wunschdenken, und in den ganzen folgenden Jahren passierte ihr mehr Schlechtes als Gutes. Als das Klassentreffen nahte, wohnte sie in einem traurigen kleinen Haus in unserer alten Heimatstadt; das eine ihrer Kinder war ernstlich auf Drogen, und das andere hatte auch nicht viel vorzuweisen. Von Manhattan aus nahm ich den Zug. Da meine Eltern nach Kalifornien gezogen waren, hatte ich Connecticut zehn Jahre lang nicht mehr gesehen. Die Fahrt an jenem heißen Freitag nachmittag war der Beginn einer Reise in die Vergangenheit, der ich zwiespältig gegenüberstand. Ich hatte Zoe seit Jahren nicht gesehen; allerdings telefonierten wir hin und wieder miteinander. Sie erwartete mich am Bahnhof und sah gleichermaßen glücklich und erschöpft aus. Sie hatte zugenommen, aber vor allem fiel mir auf, wie groß ihre Brüste waren. In der High School hatten wir ständig darüber Witze gemacht, daß wir in dieser Abteilung beide nicht viel vorzuweisen hatten. Jetzt stand sie da in einem schwarzen Polohemd, das sich auf eine Art und Weise spannte, die wirklich alles sagte. Ich muß ziemlich hemmungslos hingestarrt haben, denn nach15
dem wir uns umarmt hatten, trat sie zurück, stemmte die Hände in die Hüften und fragte stolz: »Na, was sagst du?« Weil Leute vorbeigingen, wollte ich nicht allzu deutlich werden. Ich schüttelte den Kopf. »Beeindruckend!« Sie schlang die Arme kurz um sich und grinste. »Sind die nicht toll?« Wir stiegen in ihren alten Subaru-Kombi und fuhren durch die Stadt. Auf der Fahrt schwärmte sie ununterbrochen von ihrem neuen Freund Hector und daß sie nicht wußte, wann ihr je etwas Tolleres passiert war. Das einzige Problem: Hector war verheiratet und hatte vier Kinder. Aber seine Frau verstand ihn nicht, und … man kann sich denken, wie es weitergeht. Sie sah aus wie eine Heilige auf einem religiösen Gemälde. Mein Blick wanderte immer wieder von ihrem Gesicht zu diesen Filmstarbrüsten, und ich wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte. Der verheiratete Hector hatte ihr ganzes Leben in der Hand, aber sie war anscheinend entzückt. Es klang so, als wäre sie einfach glücklich, weil sich überhaupt jemand so sehr für sie interessierte, daß er ihr Leben in der Hand haben wollte, ihr die Last abnahm und sie sich ausruhen konnte. Ihr Haus war so klein, daß es keine Einfahrt hatte; also parkten wir davor auf der Straße. Auf den ersten Blick war es ein Haus, wie man es in den Biographien berühmter Leute sieht: das Haus, in dem sie aufwuchsen, oder das erste, das sie besaßen, als sie anfingen, arm, aber voller Enthusiasmus. Sie hatte dafür gesorgt, daß ihre Kids übers Wochenende weg waren, damit wir das Haus für uns hatten und uns nicht um sie zu kümmern brauchten. Als sie an ihrem Schlüsselbund nach dem Haustürschlüssel fummelte, spürte ich kurz, wie Angst in mir auf16
spritzte. Plötzlich wollte ich dieses Haus nicht betreten. Wollte nicht sehen, was dort war. Wollte sie nicht sehen, die konkreten Resultate des Lebens meiner Freundin auf dem Kaminsims, an der Wand, auf dem Couchtisch. Dinge wie Fotos von Kindern, die mißraten waren, Souvenirs von Orten, an denen sie ein paar Tage glücklich gewesen war, eine billige Couch, auf der Millionen Stunden lang bewegungslose Ärsche gesessen und ohne wirkliches Interesse den Fernseher angestarrt hatten. Aber ich lag vollkommen falsch, und das war fast noch trauriger. Zoe hatte ein wunderbares Zuhause. Irgendwie hatte sie ihre ganze Liebe und Sorgfalt in diese paar Zimmerchen gesteckt. Ich ging herum, bewunderte ihren Geschmack, ihren Humor und ihr Talent, die richtigen Dinge genau an die richtigen Stellen zu plazieren, und dabei fragte ich mich unaufhörlich: Warum hat es nicht geklappt? Warum ist einem so wunderbaren Geschöpf alles so schiefgegangen? Einen kleinen Garten zeigte sie mir als letztes, denn da stand die Überraschung. Mittendrin war ein vertrautes braunes Zelt aufgeschlagen; ich lachte laut auf, als ich es erblickte. »Ist es das?« Zoe strahlte. »Ebendasselbe! Ich hab’s all die Jahre aufgehoben. Heute nacht campieren wir wieder draußen!« Als Teenager vollzogen wir im Sommer jedes Wochenende das gleiche Ritual: Wir bauten dieses Zelt auf, bestückten es mit Junkfood und Modezeitschriften und verbrachten darin die Nacht schwatzend und laut träumend. Unsere Häuser gehörten unseren Eltern, dieses alte BoyScout-Zelt in Zoes Garten gehörte nur uns. Ihre Brüder hatten keinen Zutritt, und wenn sie einzudringen versuchten, reagierten wir schnell. Worüber wir dort drinnen in all 17
den Nächten sprachen, war ebenso geheim und wichtig wie das Blut, das in unseren Adern pulsierte. Ich ging hin und berührte die Zeltklappe. Als ich sie zwischen den Fingern hielt, weckte das rauhe, vertraute Tuch augenblicklich eine taktile Erinnerung an die Zeit, als das Leben noch einleuchtete, Grenzen für alte Leute galten und James Stillman der wichtigste Mensch auf Erden für mich war. »Guck mal rein.« Ich bückte mich und spähte in das Zelt. Zwei Schlafsäkke lagen auf dem Boden, dazwischen stand eine Gaslampe. Eine Schachtel Zagnut-Schokoriegel war auch da. Zagnuts! Mein Gott, Zoe, du hast an alles gedacht! »Ich weiß! Ist es zu fassen, daß die immer noch hergestellt werden? Oh, Miranda, ich hab dir so viel zu erzählen!« Wir gingen wieder ins Haus. Sie führte mich in das Zimmer ihrer Tochter, wo ich mir was Dünneres anzog. Dann wollte sie vor dem Abendessen noch eine Rundfahrt durch die Stadt machen und einen Blick auf unsere alten Jagdgründe werfen. Weit beunruhigender als jede Geisterbahn auf der Kirmes ist die Fahrt durch die alte Heimatstadt, wenn man jahrelang fort war. Was erwartet man? Was möchte man gern sehen? Weil man so lange weg gewesen ist, weiß man, daß es anders aussehen wird. Und trotzdem, der Anblick der unvermeidlichen Veränderungen hinterläßt schnelle, tiefe Wunden in der Seele. Verlust, Verlust. Wo sind all die Orte, an denen ich einmal war? Iansiti’s Pizza Parlor gab es nicht mehr. An seiner Stelle stand jetzt ein Geschäft mit postmoderner Fassade, in dem CDs verkauft wurden. Als ich hier lebte, gab es nur Platten. LPs, keine CDs. Ich dachte an all die Pizzaportionen mit extra Käse 18
und Salami, die wir bei Iansiti’s gegessen hatten, an all die Träume und Teenagerhormone, von denen dieser Schrottladen einst voll gewesen war, an die fleckigen Speisekarten und die Bande fettbäuchiger italienischer Vettern in TShirts, die uns hinter der Theke hervor beäugten. »Wenn ich durch diese Straßen fahre und unsere alten Treffs sehe, dann habe ich manchmal das Gefühl, ich sehe mich selbst da drinnen.« Zoe gluckste und bremste an der gelben Ampel vor der Bank, in der James’ Mutter gearbeitet hatte. Ich drehte mich zu ihr um. »Aber welches Du? Das Du von damals oder das von heute?« »Oh, die ich mal war! Hier sehe ich mich immer als Siebzehnjährige. Ich hab noch nie richtig begriffen, daß ich doppelt so alt bin, aber immer noch in dieser Stadt wohne.« »Ist es kein komisches Gefühl, wenn du an den alten Orten vorbeikommst? Zum Beispiel am Haus deiner Eltern?« »Doch. Aber als sie starben, ist es mitgestorben. Ein Haus, das sind die Leute, die drin wohnen. Nicht das Gebäude. Ich wünschte bloß, ich hätte es nicht verkauft, als der Markt so schlecht war. Aber das ist die Geschichte meines Lebens.« Wir fuhren an der High School vorbei, die trotz einiger neuer Gebäude so trist aussah wie früher. Vorbei am Stadtpark, wo ich in einer Sommernacht mit fünfzehn beinahe meine Jungfräulichkeit verloren hätte. Dann die Post Road hinunter zum Eisstand Carvel, wo James und ich auf der Haube seines alten grünen Saab gesessen und in heiße Schokolade getauchte Vanillehörnchen gegessen hatten. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht den Mumm aufgebracht, Zoe die Frage zu stellen, aber der Anblick dieses geliebten Eiscremestands war das Zeichen, daß es 19
jetzt Zeit war. So beiläufig wie möglich fragte ich: »Kommt James zum Klassentreffen?« Zoe schaute auf die Uhr und atmete dramatisch aus, als habe sie minutenlang die Luft angehalten. »Puh! Du hast eine ganze Stunde durchgehalten, ohne zu fragen. Ich weiß es nicht, Miranda. Ich habe herumgefragt, aber niemand wußte es. Bestimmt hat er von dem Treffen erfahren.« »Bis wir angefangen haben, herumzufahren, war mir nicht klar, daß er in der ganzen Stadt herumgeistert.« Ich drehte mich zu ihr um. »Ich wußte nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich zurückkomme, aber mehr als sonstwas finde ich überall James! Ich sehe dauernd irgendwelche Orte, an denen wir zusammen waren. Wo wir glücklich waren.« »Miranda, er war die Liebe deines Lebens.« »Als ich achtzehn war! Ich habe seitdem durchaus noch was anderes erlebt.« Wie ich das sagte, hörte sich steif, zickig an. Ich war allzusehr in der Defensive. »Nicht halb so viel, wie du glaubst.« Sie grinste und warf mir einen kurzen Blick zu. »Die High School ist eine tödliche Krankheit. Entweder bringt sie dich um, während du noch da bist, oder sie wartet jahrelang in deiner Seele und kommt dann zurück und holt dich.« »Jetzt mach mal einen Punkt, Zoe, das glaubst du doch selbst nicht! Dir ist es auf der High School doch wunderbar gegangen.« »Genau! Und das hat mich umgebracht. Nichts war je besser als die High School.« »Du klingst so fröhlich dabei.« Sie gluckste. »Im Moment freue ich mich auf das Klassentreffen. Ganz gleich, was in den letzten fünfzehn Jahren mit mir passiert ist: In den Augen dieser Leute werden 20
ich immer Zoe sein, das goldene Mädchen mit den Superzensuren, das Cheerleader war und mit dem Captain der Footballmannschaft ging. Und du wirst immer Miranda Romanac sein, das brave Mädchen, das im letzten Schuljahr alle schockierte, weil es mit dem bösesten Jungen der Schule ging.« Sie klatschte mir aufs Knie. In schwerem, irischem Akzent sagte ich: »Aye, und Gott segne den Jungen!« Sie hob die Hand, als halte sie ein Glas und wolle mir zuprosten. »Und Gott segne Kevin. Ich freue mich auch darauf, weil ich hoffe, daß er dasein wird. Und er wird absolut wundervoll sein, er wird mich im Sturm erobern und mich vor dem Rest meines Lebens erretten.« Mein Herz füllte sich so schnell, daß ich nach Luft schnappte. Genau das gleiche dachte ich seit Wochen. Ich lernte James Stillman in Geometrie kennen. Wer er war, hatte ich weiß Gott schon vorher gewußt. Sein Ruf ging ihm fünfzehn Meilen weit voraus. Er hatte unschuldige Mädchen durch Hypnose in sein Bett geholt. Er hatte einmal im Sportgeschäft der Stadt ein Paar Skier geklaut und dann die Frechheit besessen, am nächsten Tag wiederzukommen, um die Kanten schleifen zu lassen. Es hieß, er und seine Freunde hätten bei einer ihrer berüchtigten Partys das leerstehende Brody-Haus niedergebrannt. Alles in allem war James nicht daran interessiert, ein solider Bürger zu werden. Eine Gruppe typischer Rowdys hatte meistens in den Fluren unserer Schule herumgelungert, in auffälligen Lederjacken und mit kunstvoll aufgetürmten Frisuren, die aussahen wie Kühlerfiguren, aber James Stillman war auf eine Weise schlimm, die von diesen menschlichen Klischees Planeten weit entfernt war. Was mich faszinierte, 21
war sein großer, einzigartiger Stil zu einer Zeit, da ich eigentlich noch gar nicht wußte, was dieses Wort bedeutete. Seinem Ruf zum Trotz zog er sich an wie ein Preppy: Tweedjacke, Khakihosen, Mokassins. Er hörte europäische Rockgruppen – Spliff und Guesch Patti –, und man munkelte sogar, daß er gern kochte. Als er mit Claudia Beechman ging, ließ er ihr an ihrem Geburtstag einen Strauß gelbe Rosen in die Turnstunde liefern. Wie die meisten Mädchen auf der High School beobachtete ich ihn aus der Ferne und fragte mich, ob alles stimmte, was man über ihn sagte. Wie würde es wohl sein, ihn kennenzulernen, mit ihm auszugehen, ihn zu küssen? Aber das war eine akademische Frage, denn ich wußte, daß ihm der Gedanke an eine so farblose, wohlerzogene Person niemals in den Sinn kommen würde. »Was hat er gesagt?« Erst nach einem dumpfen Schlag in meinem Gehirn wurde mir klar, daß James Stillman mir eine Frage gestellt hatte. Er saß hinter mir in Geometrie, aber nur weil die Sitzordnung alphabetisch war. Bevor ich Zeit hatte, zu verdauen, was passiert war, wiederholte er die Frage, und diesmal fügte er meinen Namen hinzu. »Miranda? Was hat er gesagt?« Er kannte mich. Er wußte, wer ich war. Der Lehrer hatte gesagt, die Erde sei ein abgeflachter Spheroid, wie ich pflichtschuldig in meinem Heft notiert hatte. Ich drehte mich um und sagte: »Er hat gesagt, die Erde ist ein abgeflachter Spheroid.« James betrachtete mich eindringlich, als habe er den ganzen Morgen darauf gewartet, zu hören, was immer ich sagen würde. »Ein was?« »Ah, ein abgeflachter Spheroid.« 22
»Was ist das?« Ich wollte antworten: »So was wie ein Ei, auf das man sich gestützt hat«, aber etwas in meinem Innern riet mir, den Mund zu halten. Statt dessen zuckte ich die Achseln. Ein kleines Grinsen bog langsam seine Mundwinkel nach oben. »Du weißt es, aber du willst es nicht zugeben.« Ich geriet in Panik. Wußte er, daß ich mich nur seinetwegen dumm stellte? »Es ist okay, wenn man was weiß. Ich weiß eben andere Sachen.« Er lächelte geheimnisvoll und schaute weg. Nach der Stunde hielt ich den Blick gesenkt und sammelte meine Bücher ein, so langsam es ging. Auf diese Weise bestände nicht die Gefahr, daß ich gleichzeitig mit ihm aus dem Zimmer ging. »Es tut mir leid.« Ich blieb stehen und schloß die Augen. Er war hinter mir. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Es war auch nicht nötig, denn er machte eine Kurve und stellte sich vor mich. »Was tut dir leid?« Ich konnte ihn nicht ansehen. »Was ich gesagt habe. Glaubst du, du hättest Lust, mal mit mir auszugehen?« Von diesem Augenblick weiß ich nur noch eins, nämlich daß ich wirklich fühlen konnte, wie sich die Räder des Schicksals in mir drehten. In dem Sekundenbruchteil, bevor ich antwortete, wußte ich, daß jetzt alles anders werden würde, einfach alles. »Du willst mit mir ausgehen?« Ich bemühte mich, leichthin und sarkastisch zu klingen, damit ich mitlachen konnte über seinen Witz, falls es einer sein sollte. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Ja. Du ahnst nicht, wie gern ich mit dir reden wollte.« 23
Den Rest des Jahres waren wir unzertrennlich. Er war alles, was ich nicht war. Zum ersten Mal im Leben erfuhr ich mit zunehmender Freude, daß unterschiedlich auch ergänzend heißen kann. Wir hatten Welten, die wir dem anderen zeigen wollten. Irgendwie paßten diese sehr unterschiedlichen Welten zusammen. Bemerkenswert ist, daß wir nie miteinander schliefen – einer der großen Fehler meines Lebens. James war der erste Mann, den ich mit erwachsenem Herzen liebte. Bis zum heutigen Tag wünschte ich, er wäre mein erster Liebhaber gewesen und nicht jener gutaussehende, belanglose Trottel, zu dem ich ja sagte, als ich einen Monat auf dem College war. Ich fragte nie nach anderen Mädchen vor mir, aber im Gegensatz zu seinem Ruf hat James nie etwas getan, was ich nicht wollte. Er war sanft und liebevoll und behandelte mich mit Respekt. Ein Schaf im Wolfspelz. Und dazu kam, daß er unheimlich gut küßte. Verstehen Sie mich nicht falsch – daß wir es nie taten, schließt ja noch lange nicht aus, daß wir ein paar tausend Stunden horizontal, heiß und hungrig verbrachten. Weil wir so unterschiedliche Seelen waren, schien er entzückt von meiner wohlerzogenen Rock-übers-KnieSicht auf die Welt zu sein. Er wußte, ich wollte als Jungfrau in die Ehe gehen, und versuchte nie, mich unter Druck zu setzen oder zu überreden. Vielleicht, weil er so sehr daran gewöhnt war, daß Mädchen zu allem, was er wollte, ja sagten, war ich für ihn so etwas wie ein Alien – etwas Eigentümliches, das zu studieren sich lohnt. Wie es so oft passiert, war unsere Beziehung zu Ende, als wir in verschiedene Staaten auf verschiedene Colleges gingen. In den ersten Monaten unserer Trennung schrieb ich ihm wilde, leidenschaftliche Briefe. Er antwortete dann und wann mit zwei Zeilen auf einer blöden Postkarte, 24
was tadellos zu seiner Rolle als schlimmer James paßte. Nach und nach ließen das College mit seinen neuen Gesichtern und auch die übrigen Zerstreuungen meines neuen Lebens meine Briefe zu einem Rinnsal schwinden. Das Wiedersehen in jenen ersten Weihnachtsferien zu Hause war warm und zärtlich, aber wir hatten beide ein neues Leben anderswo. Unsere Begegnung war eher nostalgisch als auf den Bau irgendeiner Zukunft gerichtet. Im Laufe der nächsten Jahre hatte ich aus verschiedenen Quellen alles mögliche über James gehört, aber ich wußte nie, was stimmte und was Informationen aus dritter Hand waren. Jemand sagte, er arbeitete auf einer Bootswerft, jemand anders erzählte, er habe das College beendet und dann Jura studiert. Wenn das letzte stimmte, dann war er ein ganz anderer J. Stillman geworden als der, den ich gekannt hatte. Es hieß, er wohne in Colorado, dann, er sei in Philadelphia; er sei verheiratet, er sei es nicht. Manchmal, wenn ich nachts unruhig im Bett lag oder niedergeschlagen war oder einfach von dem träumte, was hätte sein können, dann dachte ich an meine alte Liebe, und ich fragte mich, was aus ihm geworden war. Das erste, was mir in den Sinn kam, als ich die Einladung zu unserem Klassentreffen las, war James Stillman. Um der alten Zeiten willen aßen Zoe und ich in Chucks Steak House zu Abend. Wir hatten einen Sommer lang dort zusammen gekellnert und waren in all den warmen Nächten mit einem hübschen Trinkgeld in der Tasche nach Hause gegangen, und wir hatten uns sehr erwachsen gefühlt. Chuck war schon vor Jahren gestorben, aber sein Sohn hatte das Lokal übernommen und alles so gelassen, wie es war. Anfangs hatte Zoe gesagt, sie habe mir viel zu erzählen, aber seit dem Nachmittag hatte eine köstliche Zeitschleife 25
eingesetzt. Wir beide fühlten uns darin wohl und sprachen hauptsächlich von damals und wenig von heute. Eine halbe Stunde genügte, um uns auf den neuesten Stand unseres jeweiligen Lebens zu bringen. Dies würde ein Wochenende der Erinnerungen werden, der Fotoalben, des »Was ist eigentlich aus …« und der Seufzer, die kommen, wenn man sich erinnert, wer man war. Beim Essen waren wir beide nicht sonderlich darauf erpicht, darüber zu reden, was aus uns geworden war oder was wir im Leben noch zu erreichen hofften. Vielleicht wäre das nach dem Klassentreffen noch gekommen – eine natürliche Bilanz, nachdem wir alte Klassenkameraden gesehen hätten, um das am Wochenende Erlebte in einen Kontext zu bringen. Aber es sollte sich zeigen, daß uns diese Bilanz abgenommen wurde. Von Chuck’s fuhren wir wieder zu Zoe. Wir brannten beide darauf, in das Zelt zu kommen, in unsere alte Stimmung, in jene Zeit. Wir wuschen uns hastig, zogen unsere Pyjamas an, und im zischenden Licht der Gaslampe unterhielten wir uns bis zwei. Am nächsten Morgen stand sie vor mir auf. Das erste, was ich von diesem bedeutsamen Tag in Erinnerung habe, ist ein heftiges Zerren an meinem Arm. Ich wußte nicht, was los war, und ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen und mich gleichzeitig aufzusetzen. Dabei vergaß ich, daß ich nicht im Bett lag, sondern in den Kokon eines Schlafsacks eingewickelt war. Von allen Seiten festgehalten, fing ich an, um mich zu schlagen, verhedderte mich aber nur noch mehr in den Schlafsack. Als ich mich herausgewunden hatte, standen mir die Haare zu Berge, mein Gesicht war auf hundert Grad erhitzt, und meine Pyjamajacke stand weit offen. »Miranda!« »Was? Was ist denn los?« 26
»Ist alles in Ordnung?« So früh es auch war, ich ging doch sofort in die Defensive. »Was meinst du damit?« »Du weißt genau, was ich meine. Wie du da um dich geschlagen hast. Und was du letzte Nacht erzählt hast, wie du die Dinge jetzt siehst … Du hast ein so gutes Leben. Du bist erfolgreich, und du hast selbst gesagt, es hat alles geklappt. Aber du bist nicht glücklich. Wie du redest …« »Wie rede ich, Zoe?« »Als ob du alt wärest. Als ob du nicht mehr damit rechnest, daß noch etwas Besseres passiert, weil du schon zu lange gelebt und zuviel gesehen hast, um noch Hoffnung zu haben. Ich habe mehr Glück als du. Ich glaube auch nicht, daß das Leben besonders freundlich ist, aber ich weiß, daß wir die Hoffnung in der Hand haben. Man kann sie auf- und zudrehen wie einen Wasserhahn. Ich versuche, meinen mit aller Kraft laufen zu lassen.« »Das klingt schön, aber was ist, wenn etwas schiefgeht? Was, wenn du immer wieder enttäuscht wirst?« »Es bringt einen um! Aber man macht weiter, und wenn man genug Kraft hat, fängt man wieder an zu hoffen. Wir entscheiden selbst.« Sie langte herüber und nahm meine Hand. Mir war es höchst unbehaglich. »Vielleicht habe ich nur gelernt, vorsichtig zu sein.« »Hättest du mit deiner Vorsicht denn den Mumm, dich heute noch in einen James Stillman zu verlieben?« Die Frage traf so genau mitten ins Schwarze, daß ich anfing zu weinen. Zoe drückte meine Hand fester, rührte sich aber nicht. »Ich habe letzte Woche am Straßenrand eine Frau in einem Rollstuhl gesehen. Auf der Standspur des L. A. Freeway, wo lauter Autos vorbeisausten. Ich hatte solche 27
Angst um sie. Da draußen mitten im Nirgendwo. Was hat sie da gemacht? Wie ist es dazu gekommen? Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken, und bis jetzt wußte ich nicht, warum. Das war ich, Zoe.« »Du? Wie das?« »Ich weiß es nicht. Ihre Hilflosigkeit, die Gefahr; daß sie dort war, war so vollkommen falsch. Je länger ich lebe, desto vorsichtiger werde ich. Es ist, als ob du aufhörst, bestimmte Glieder zu benutzen, weil du sie nicht mehr brauchst, oder weil du sie nur als Kind gebraucht hast, um am Baum zu schaukeln. Und dann wird dir eines Tages klar, daß du dieses Bein überhaupt nicht mehr bewegen kannst …« »Und am Ende sitzt du im Rollstuhl.« »Genau, aber selbst das ist okay, weil alle um dich herum auch in einem sitzen. Niemand, den wir kennen, klettert noch auf Bäume. Aber früher oder später kommen wir zur Autobahn, und da sind wir allein; niemand ist da, der uns hilft, und wir müssen auf die andere Seite. Wir sitzen fest, und es ist gefährlich.« »Du sitzt also fest?« »Schlimmer: Ich bin vorsichtig, und ich weiß nicht, wie ich damit aufhören soll. Ich würde mich heute nicht mehr in James verlieben. Ich brauchte bloß zu wittern, wie er ist, und würde wegrennen. Oder mit meinem Rollstuhl so schnell wie möglich da wegfahren. Er ist zu gefährlich.« »Weil er noch Beine hat?« »Und Arme … und einen Schwanz! Er könnte sich daran von Baum zu Baum schwingen. Das war das Wunderbare an ihm, das Wunderbare an jener Zeit – ich habe meine Arme und Beine gespürt und benutzt, und ich fand es 28
schön. Heute hätte ich zuviel Angst vor dem Risiko. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wie mein Glück schmeckt.« Sie schaute mich an, während ich weiter weinte. Das Leben war stehengeblieben, an einem schönen Sommertag im Garten meiner ältesten Freundin. Ich hatte kein Verlangen mehr nach dem Klassentreffen, selbst wenn James dasein sollte. Seine Gegenwart würde alles nur noch schlimmer machen.
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wovon die toten sprechen »Fragst du dich je, wovon die Toten sprechen?« Wir standen Ellenbogen an Ellenbogen in ihrem winzigen Badezimmer und legten letzte Hand an unser Makeup. »Wie meinst du das?« Sie drehte sich zu mir. Ihr eines Auge war makellos geschminkt, das andere sah nackt und jung aus. Geschminkt oder nicht, ihre Augen waren zu klein, um das viele Leben hinter ihnen zu fassen. In einer Ecke des Raumes spielte ein kleines Radio White Wedding von Billy Idol. »Ich dachte gerade an meine Eltern …« »Nein, bleib bei dem, was du gesagt hast: wovon die Toten reden.« Sie deutete mit ihrem Mascarastift auf mich. »Nun, ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Ich weiß nicht, wie es aussieht, aber ich bin sicher, da erwartet uns noch etwas. Und wenn da noch etwas ist, ist es dann ein großer Ort? Kann man mit Leuten Zusammensein, die man kannte? Nimm es mal für einen Augenblick an. Ich dachte an meine Eltern. Wenn sie sehen könnten, wie wir uns auf heute abend vorbereiten … Was würden sie sagen?« »Niedlich, würden sie sagen.« »Vielleicht. Aber jetzt wissen sie so viel mehr als wir. Immer wenn ich einen Leichenwagen vorbeifahren sehe oder höre, daß jemand gestorben ist, dann ist das erste, 30
was mir in den Sinn kommt: Jetzt wissen sie es. Immer das erste. Jetzt wissen sie es.« »Hmm.« »Selbst die winzigste, belangloseste … Termite von Mensch. Irgendein Kerl, der sein Leben lang in Kalkutta auf der Straße gehockt und gebettelt hat: Er stirbt und kennt plötzlich die größte Antwort von allen.« »Das wird ihm viel nützen, wenn er tot ist. Warum führen wir dieses Gespräch, Zoe? Willst du uns für das Klassentreffen in Stimmung bringen?« »Ich denke laut vor meiner ältesten Freundin.« Jetzt war es an mir, innezuhalten. »Hast du viele Freundinnen? Solche, mit denen du wirklich sprechen und eine Menge bereden kannst?« »Nein. Es wird immer schwerer, je älter man wird. Man hat weniger Geduld. Man braucht so viel Geduld für eine gute Freundschaft.« »Na schön, du bist hier die Optimistin: Was wird denn besser, wenn man älter wird? Du kriegst Falten, du hast weniger Geduld, du müßtest mehr wissen, aber du tust es nicht. Zumindest nicht, soweit es die wichtigen Dinge betrifft.« Sie zögerte keine Sekunde. »Dankbarkeit. Ich weiß die Dinge viel besser zu würdigen. Meine Kids, wenn sie da sind. Oder mit Hector in einer Bar zu sitzen, die muffig und alt riecht … solche Dinge. Mir war nie bewußt, wie die Dinge rochen, als wir klein waren, weißt du das? Immer zu beschäftigt damit, mich zu fragen, ob ich auch richtig aussah oder was als nächstes passieren würde. Jetzt bin ich glücklich, wenn in dieser Minute alles in Ordnung ist. Wenn Frieden in der Luft liegt und ich nirgendwo anders auf der Welt sein möchte. Ich wollte immer woanders sein – sogar, wenn es mir gutging. Ich war immer sicher, es mußte noch was Besseres geben.« 31
Wir schauten uns an, und wie aufs Stichwort schüttelten wir beide langsam den Kopf. »Wünschst du dir nicht, du könntest zurückgehen und dir sagen, was du jetzt weißt? Könntest sagen: ›Zoe, es wird nicht mehr besser, als es ist, also genieße es um Himmels willen.‹« »Das würde nichts ändern. Das sage ich meinen Kindern dauernd, aber sie gucken mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.« Als wir mit dem Make-up fertig waren, musterten wir einander sorgfältig von oben bis unten. »Weshalb sind wir eigentlich so besorgt um unser Aussehen?« fragte sie. »Die Männer werden alle karierte Hosen und weiße Slipper anhaben.« Mit der tiefsten Lauren-Bacall-Stimme, die ich aufbringen konnte, sagte ich: »James Stillman würde niemals weiße Schuhe tragen.« Dann fügte ich hinzu: »Ich bin nicht besorgt wegen heute abend; die Zwölftkläßlerin in mir ist es.« »Blödsinn!« Wir lachten beide. »Los jetzt.« Es war zwar Abend, aber ihr Auto hatte den ganzen Tag in der Sonne gestanden, und es war, als säßen wir in einer Friteuse. Wir sprachen beide nicht viel, denn jede versuchte sich für das zu stählen, was da auf uns zukommen mochte. Der Parkplatz am Country Club war voller Autos, aber nicht so voll, daß mir nicht ein Frösteln über den Rücken lief. »Was ist, wenn wir die einzigen sind, die sich herbemüht haben?« »Ausgeschlossen. Sieh dir doch die vielen Autos an.« »Aber Zoe, das sind nicht viele! Wenn jetzt bloß Bob Zartell und Stephanie Olinka gekommen sind?« 32
Ich brauchte nur die Namen der beiden furchtbarsten Leute aus unserer Klasse auszusprechen und mußte schon lachen. Es war schrecklich, aber ich konnte nichts dazu. »Bob Zartell hat eine Bazillion Dollar.« »Hör auf!« »Doch! Er hat eine riesige Kondomfabrik.« »Kondome? Das gibt dem Wort Pimmelkopf eine ganz neue Bedeutung.« Wir parkten und stiegen aus. Ich war schon so verschwitzt, daß ich mir das Kleid vom Rücken schälen mußte. Ein paar dunkle Schweißflecken hätten meinen großen Auftritt wirklich zur Vollendung gebracht. Wieso hatte ich mich vor heute abend nicht ein bißchen gebräunt? Oder mehr so etwas wie ein Power-Outfit angezogen, eins, das Geld und Coolness ausstrahlte? Bevor ich Gelegenheit hatte, mir weitere derart glückliche Gedanken zu machen, hakte Zoe sich bei mir unter. »Gehen wir.« Ich war erst ein einziges Mal im Spence Hill Country Club gewesen, nämlich in der zehnten Klasse, als ein Mädchen mich einlud, einen Sommernachmittag dort zu verbringen. Ihr Gesicht hatte die Farbe von nassem Zement, und ihre Persönlichkeit paßte dazu. Nach ein paar Stunden hatte ich es so satt, mir anzuhören, wie sehr sie alles haßte, daß ich mich schon früh entschuldigte und nach Hause ging. Mehr als alles ist mir von diesem Tag in Erinnerung geblieben, wie ich nach Hause kam und so froh war, wieder da zu sein, daß ich mich in die Küche setzte und mich bis zum Abendessen mit meiner Mutter unterhielt. »Es geht los, Miranda.« »Ich muß aufs Klo.« 33
»Zoe? Zoe Holland?« Wir drehten uns um, und da stand Henry Ballard, der netteste Mensch aus unserer Klasse, und sah noch genauso aus wie vor fünfzehn Jahren. »Und Miranda! Alle beide. Wie schön!« Einen besseren Anfang konnte der Abend nicht haben. Henry war bei allen beliebt gewesen, genau wie Zoe. Im nächsten Moment schwatzten wir alle drei los, während die Leute um uns herum ins Gebäude gingen. Manche sagten hallo, andere lächelten, und ein paar erkannten wir sogar. Zum ersten Mal an diesem Tag war ich entspannt. Vielleicht würde ja alles gutgehen. »Ich denke, wir sollten mal reinspazieren.« Er nickte, aber dann schaute er sich um. »Ich warte nur auf … ah, da ist er ja!« Ein unauffälliger Mann in einem wunderschönen blauen Anzug winkte und kam eilig auf uns zu. Zoe und ich wechselten einen Blick, wir konnten den Fremden beide nicht unterbringen. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe. Der Autoschlüssel ist mir heruntergefallen; er hat mein Knie getroffen und ist dann unter das Auto gerutscht.« Der Mann lächelte, und der Blick der beiden verriet alles. Wieso gab es mir einen Stich? Weil Henry Football gespielt hatte und mit sexy Erma Bridges gegangen war? Weil ich mal mit ihm im Kino geknutscht hatte und mich immer noch daran erinnern konnte, wie sanft er küßte? Oder weil irgendein abscheulicher Teil meiner selbst nicht akzeptieren konnte, daß er ein Leben lebte, in dem er herausgefunden hatte, daß er Männer liebte, und sie schließlich genauso zärtlich küßte, wie wir uns einmal geküßt hatten? 34
»Zoe, Miranda, das ist Russell Lowry.« Wir gaben ihm die Hand und spazierten dann plaudernd zum Eingang. Henry berührte Russell immer wieder, wie man es tut, wenn eine Beziehung neu ist und noch Funken sprühen läßt. Ich habe nie herausfinden können, ob man sich mit diesen Berührungen vergewissern will, daß der andere noch da ist, oder ob es nur das beglückende Wissen ist, daß er nah genug ist und man ihn berühren kann, wann immer man möchte. »Henry hat mir von Ihnen erzählt. Er hat mich auf diesen Abend gründlich vorbereitet, damit ich weiß, wer wer ist, und keinen schweren Fauxpas begehe.« Ich blieb stehen und fragte: »Was hat er über mich gesagt?« Russell machte schmale Augen und tat, als scrollte er durch eine geistige Datei. »Miranda Romanac. Clever, eher attraktiv als hübsch. In der Zehnten und Elften mächtig in sie verknallt gewesen. Mehrere ernste Knutschsessions. Und vor allem, sagt Henry, waren Sie das erste Mädchen, mit dem er je Zusammensein wollte.« »Wow! Das ist ein Kompliment.« »Das hat er gesagt.« Plötzlich war ich überwältigt von vertrauten Gesichtern, die mir eine Kanonensalve von fünfzehn Jahre alten Erinnerungen entgegenfeuerten. Ich suchte unter ihnen nach James. Manche sahen gut aus, manche schrecklich; manche hätte man unmöglich erkennen können, wenn sie sich nicht vorgestellt hätten oder einem von jemandem gezeigt worden wären. Wir betraten den Ballroom und nahmen alle vier sofort Kurs auf die Bar. Mit großen Drinks standen wir da und lächelten schmal und unecht wie nordkoreanische Diplomaten. 35
Es kam für mich nicht in Frage, herumzuspazieren, zumindest nicht, solange ich nicht das Terrain sondiert hatte. Ich ließ den Blick durch den Raum wandern und erinnerte mich staunend daran, welche Bedeutung manche dieser Leute einmal für mich gehabt hatten. Da war die schöne Melinda Szep, die mir in Algebra 2 das Leben gerettet hatte, indem sie mich hatte abschreiben lassen. Linda Olson, die eines Abends in der Zehnten so freundlich gewesen war, mir einhundert Fragen über das zu beantworten, was wirklich im Bett mit einem Mann passierte, und mir alles zu erklären. Es war ein Wendepunkt gewesen, denn ich hatte mich entspannen können, als ich ihr zuhörte. Und dann war da Steve Solomon, der erste Mensch auf Erden, der mich da unten angefaßt hatte. Selbst der Anblick von Klassenkameraden, mit denen ich nie viel Kontakt gehabt hatte, erfüllte mich mit köstlicher Wärme und Nostalgie. An einem Tisch in einer Ecke saßen Terry West und Eric Maxwell, die Partyboys der Klasse, lieb und doof wie Kühe. Beide waren jetzt dick und rotwangig. Sie schienen sehr glücklich zu sein, wieder zusammenzusein. Hatten sie die Jahre über Kontakt gehalten? War ihr Leben gut verlaufen? Nur wenige Paare tanzten. Es war noch zu früh an diesem gefährlichen Abend. Die meisten lächelten unbehaglich wie wir, oder sie versuchten unsichtbar zu bleiben, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hätten. »Sind das Mike Sesich und Kathy Aroli?« »Ja.« »Er wirkt so alt. Sehen wir auch so schlimm aus?« »Hoffentlich nicht. Aber sie sieht gut aus. Zu gut.« Ich trank mein Glas aus und bestellte ein neues. Würden wir jetzt den ganzen Abend so verbringen? Herausfinden, wer die Leute waren, um dann neidisch oder entsetzt zu sein? 36
Henry und Russell entschuldigten sich und mischten sich unter die andern. »Bloß weil sie glücklich sind, können sie uns doch nicht einfach sitzenlassen.« »Was sagst du dazu? Henry und Russell?« »Allerliebst, aber ich muß immer daran denken, wie wir im Kino geknutscht haben. Es ist merkwürdig.« »Ich habe bloß Mühe, mein Gyroskop einzustellen. Es ist alles okay, aber ich muß aufs Klo. Rühr dich nicht von der Stelle. Bleib ja hier.« Ich nickte und sah ihr nach, als sie davonging. Brandon Brind kam an die Bar und bestellte einen Drink. Er war einer, den ich immer gemocht hatte. Nach einer zögernden Begrüßung fingen wir ein entspanntes Gespräch an. Ihm war es gut ergangen. Die Art, wie er über sein Leben sprach, klang glücklich und vernünftig, und anscheinend freute er sich auf das, was das Morgen zu bieten hatte. Wir unterhielten uns lange miteinander. Erst als Zoe von der Toilette zurückkam und sehr mitgenommen aussah, wurde mir klar, wie lange. Sie war nett zu Brandon und stellte ihm ein paar Fragen, aber es war offensichtlich, daß sie mir etwas zu erzählen hatte. Ich entschuldigte mich, und wir gingen davon. »Sieh uns an: Wir rennen auf die Toilette, um miteinander zu reden. Was ist denn? Was ist passiert?« »Oh, Miranda, du wirst nicht glauben …« »Was denn, was ist los?« Wir wollten eben die Toilette betreten, als von nirgendwoher eine der gespenstischsten menschlichen Stimmen ertönte, die ich je gehört habe. Wenn man eine solche Stimme hört, weiß man instinktiv, daß mit dem, der so spricht, auf furchtbare Weise etwas nicht in Ordnung ist. 37
Eine Zwergenstimme? Nein, sie klang höher. Ich fragte mich, ob es ein Witz sein sollte, ein Tonbandscherz. Es kam von hinten, und so hatte ich keine Gelegenheit, mich umzudrehen, ehe ich sah, wie Zoes Gesicht erstarrte und dann in nacktem Grauen zerschmolz. »Was denn, schon wieder aufs Klo? Stimmt was nicht mit deiner Blase? Was ist los mit dir, Zoe?« Es fing spielerisch an, aber das Ende klang aggressiv. Dann hörte ich: »Hallo, Miranda.« Ich drehte mich um, und das erste, was ich wahrnahm, war sein Haarschnitt. Es war der schlechteste Haarschnitt der Welt. Nicht mal in Ulan Bator konnte sich ein Mann schlimmer zurichten lassen. Das Haar war dicht und struppig an manchen Stellen und viel zu kurz an anderen. Es sah aus, als habe jemand wahllos mit einer Schere auf sein Haar eingehackt und dann keine Lust mehr gehabt und einfach aufgehört. Dann erkannte ich sein Gesicht, vor allem die Augen, denn sie enthielten immer noch ein wenig von der Munterkeit, die sie einst besessen hatten. Aber jetzt sah man auch noch anderes in ihnen: Wahnsinn, Wut und Verwirrung ohnegleichen. Man konnte nicht lange hinschauen. Und man wollte auch nicht hinschauen, weil hier alles falsch war, alles daneben: sein Gesichtsausdruck, die Art, wie seine Augen nicht länger als eine Sekunde auf einem verharrten, ehe sie abglitten und dann wieder herschauten und wieder weg … »Kevin?« Er lächelte und verrenkte den Kopf zur Seite wie ein Hund, wenn er verwirrt ist. Kevin Hamilton, Zoes geliebter Kevin, Captain der Footballmannschaft, Dartmouth College, der gesündeste Bursche, den man sich vorstellen 38
konnte. Jetzt war er so bizarr, daß es mir den Verstand überflutete und sämtliche Schaltungen ausfielen. »Aha! Ich wußte, du würdest hier sein! Als ich Zoe sah, hab ich zu ihr gesagt, ich wette, Miranda Romanac ist auch da. Und ich hatte recht. Ich hatte recht.« Ich war sprachlos. Ich sah Zoe an, und sie starrte ihn an, entsetzt und fasziniert. »Ich bin bloß für das Klassentreffen wieder hergekommen. Wir wohnen jetzt in Orange. Wißt ihr, wo das ist? In New Jersey. Da wohnen wir, seit mein Dad tot ist. Aber ich hatte deine Telefonnummer vergessen, Zoe, deshalb konnte ich dich nicht anrufen, um Bescheid zu sagen, daß ich angekommen bin. Meine Schwester meinte, ich sollte dich nicht anrufen, aber ich habe gesagt: ›Hör mal, wir sind jahrelang miteinander gegangen …‹« So redete er immer weiter, in einem hohen, gespenstisch tönenden, zusammenhanglosen Geschwafel über sich selbst, das Klassentreffen, Zoe, seine »Forschung«. Ich war froh, denn so hatte ich Gelegenheit, den Schock zu verdauen und ihn eingehend zu betrachten, ohne unhöflich zu wirken. Innerhalb von Sekunden wußte man, daß er verrückt war, aber um welche Sorte Verrücktheit es sich handelte, war schwer zu sagen. Obwohl er seltsam sprach, war vieles von dem, was er redete, folgerichtig, ja, intelligent. Als ich ihn so sah, mußte ich mich immer wieder daran erinnern, daß Kevin Hamilton einer unserer Klassenprimusse gewesen war. Wir waren sicher, daß er Großes erreichen würde. Ich hatte fast nichts über ihn gehört, außer daß er sein Examen am Dartmouth College gemacht hatte und dann zur Wharton School of Business gegangen war, aber das war keine Überraschung. Schon mit achtzehn wußten wir, daß man ihn ein Jahrzehnt spä39
ter in einem Fernsehinterview wiedersehen oder in Time von ihm lesen würde. Anscheinend wußten andere bei diesem Treffen über Kevin Bescheid, denn solange wir bei ihm standen, kam niemand in unsere Nähe. Ein- oder zweimal sah ich andere, die ich kannte, und ich lächelte ihnen zu. Sie lächelten zurück und wollten herüberkommen, aber wenn sie ihn sahen, schwenkten sie rasch ab. Er redete immer weiter. Nach und nach kam heraus, was geschehen war. Er war das älteste von vier Kindern. Sein Vater, mit dem ihn ein sehr enges Verhältnis verband, starb plötzlich, als Kevin noch studierte. Kevin mußte die Uni verlassen und nach Hause kommen, um sich um seine Geschwister zu kümmern. Irgendwann im Laufe der Zeit bekam seine Psyche von dem Druck Risse nach oben und unten, und er brach einfach auseinander. Er kam in eine Anstalt, und seitdem war er auf schweren Medikamenten. Er verbrachte seine Tage in der Bibliothek und recherchierte irgend etwas, aber als ich ihn fragte, was, schaute er mich nur argwöhnisch an und wechselte das Thema. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Zoe sich fühlte. Was immer sie zu diesem Abend mitgebracht hatte – an Träumen und Erwartungen –, war gleich am Eingang begrüßt worden von diesem menschlichen Alptraum all dessen, was schiefgehen kann, aller fahrengelassenen Hoffnung. Wieder einmal hatte meine arme Freundin verloren. »Entschuldige, Kevin, aber wir müssen gehen.« Es war mir egal, ob ich ihn kränkte. Ich nahm sie beim Arm, und wir flüchteten auf die Damentoilette. Als die Tür sich wispernd hinter uns schloß, redete er immer noch. Zum Glück war sonst niemand drin. Sprachlos starrten wir einander an. Es war, als wäre ein schöner Kristall auf 40
den Boden gefallen und zersprungen. Natürlich fegt man die Scherben auf, aber vorher muß man sich mit der Tatsache abfinden, daß er für immer fort ist. Zoe ging zum Waschbecken und drehte beide Wasserhähne auf. Sie beugte sich herunter, schöpfte wieder und wieder Wasser mit gewölbten Händen und spritzte es sich ins Gesicht. Dann quetschte sie eine Handvoll grüne Handseife aus dem Spender und wusch sich gründlich das ganze Make-up ab, das sie eine Stunde zuvor so sorgfältig aufgetragen hatte. Ich wünschte mir, so viel klüger zu sein, als ich war, und ich hätte einen passenden Einfall, um wenigstens für einen Augenblick die schwarze Leere auszufüllen, die jetzt, das wußte ich, in ihrem Herzen war und für lange Zeit sein würde. »Wo habe ich meine Klischees gelernt?« Sie schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht war ausdruckslos und glänzte vom Wasser. »Was meinst du damit?« »Die Liebe überwindet alles. Ewig blühet die Hoffnung. Das einzige, was wir mittlerweile hätten lernen sollen, ist, wie man seinem Herzen einen Sicherheitsgurt anlegt. Die Straße ist gefährlich, aber nie legen wir den verdammten Sicherheitsgurt an.« »Zoe …« »Er hat einmal etwas zu mir gesagt, was ich nie vergessen werde. Er hat gesagt: ›Wir fangen an, in Erinnerungen zu schwelgen, wenn wir hundertvier sind, denn bis dahin haben wir zuviel zu tun.‹ Ich wollte heute abend Hector mitbringen. Er hätte mitkommen können. Aber dann dachte ich an Kevin, weißt du, und daß vielleicht die Chance bestand, daß irgend etwas passieren könnte … also hab ich’s bleibenlassen.« 41
Wo war meine Weisheit? Ich fuhr mir unentwegt mit der Zunge über die Lippen und zermarterte mir das Hirn, aber es kam nichts dabei heraus. Sie schaute weiter ausdruckslos in den Spiegel, als sähe sie ihr Gesicht zum ersten Mal. Die Tür ging auf, und Kathy Herlth kam hereingeschlendert. Sie sah hinreißend aus wie immer, aber noch immer umwehte sie der eisige Wind der Verachtung für alles auf Erden, der uns übrige Mitglieder des Menschengeschlechts erfrieren ließ. »Gott, habt ihr Kevin Hamilton gesehen? Der sollte seinen Lobotomisten wechseln! Er steht da draußen und redet wie ein Klingone. Sieht auch irgendwie aus wie einer.« Es war so grausam und wahr, daß Zoe ein mächtiges Lachen hervorhustete. Ich lachte auch. Kathy zuckte die Achseln. »Ich wußte, ich hätte nicht kommen sollen. Es ist so deprimierend. Ihr beide habt den Kreis ja heute abend wirklich geschlossen. Kevin ist verrückt, und James ist tot. Damit ist das Kapitel zu Ende, was?« »Was?« Das Wort kam viel langsamer aus meinem Mund, als ich wollte. Meine Hand erstarrte, ehe ich mir die Lachtränen von der Wange wischen konnte. Als Kathy wieder sprach, schaute ich meine Hand an. Sie hatte sich schon zur Faust geballt. Ich spürte es nicht. Ich spürte gar nichts. Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Was meinst du? Wovon sprichst du?« »Von James.« »James? Was ist denn mit ihm? O Gott, Miranda, hast du es nicht gewußt? Er ist tot. Er ist vor drei Jahren gestorben. Bei einem Autounfall.« Alles war so klar, so unglaublich scharf und akzentuiert: wie Zoe nach Luft schnappte, wie das Wasser im Wasch42
becken rauschte, wie Kathys hohe Absätze auf dem Fliesenboden scharrten. Ihre Gesichter – Kathy kühl, aber interessiert, Zoe über ihr eigenes neues Trauma hinaus schockiert. Diese Dinge waren ganz klar, aber ein wesentlicher Teil meiner selbst war schon gegangen. Er verließ meinen Körper, schwebte hoch über dem Raum und schaute herunter, sah sich noch ein letztes Mal um, bevor er für immer verschwand. Der Teil, der James Stillman mit der Energie und Hingabe geliebt hatte, über die nur Anfänger verfügen. Der Teil, der täglich zwanzig köstliche Zigaretten geraucht, zu laut gelacht und sich keine Sorgen wegen gefährlicher Dinge gemacht hatte. Der Teil, der sich gefragt hatte, wie Sex war und wer wohl der erste sein würde. Der Teil, der im Spiegel zu lange das einzige makellose Gesicht angeschaut hatte, das ich dort je sehen würde. Der furchtlose Teenager, der ich gewesen war – so sicher, daß ich eines Tages einen Partner finden würde, mit dem mein Herz bis ans Ende meiner Tage glücklich sein würde. Einen Mann, den ich auf meine Haut auftragen würde wie eine Lotion. James hatte mich das gelehrt, er hatte mir gezeigt, daß großes Glück möglich war, von Anfang an. Er war tot. »Himmel, Miranda, ich dachte, du weißt es. Es ist doch schon so lange her.« »Wie …« Ich brach ab, um zu schlucken. Meine Kehle war pulvertrocken. »Ähm, wie ist es passiert?« »Ich weiß es nicht. Diana Wise hat es mir erzählt. Aber sie ist heute abend hier! Du kannst sie fragen. Ich habe sie schon gesehen.« Ohne ein weiteres Wort ging ich hinaus. Zoe sagte etwas, aber ich ging weiter. Ich mußte auf der Stelle Diana Wise finden. Ohne die Fakten, ohne eine genaue Schilde43
rung würde James Stillmans Tod in meinem Gehirn flüssig bleiben, und er mußte fest sein, real. War der Ballroom nicht billardkreidenblau gewesen, bevor ich auf die Toilette gegangen war? Blau mit weißen Bordüren? Ich hätte schwören können, daß es so war, aber jetzt war er in mattem Ocker gehalten, in der Farbe junger Möhren. Sogar die Farben hatten sich mit der schrecklichen Neuigkeit verändert. Leute wimmelten umher, plaudernd, lachend, tanzend. Heute abend konnten sie gleichzeitig achtzehn und dreiunddreißig sein. Es war wunderbar. Münder waren voller Zähne und schimmernder Zungen. Worte umgaben mich beim Gehen. Ich fühlte mich wie ein Besucher von einem anderen Planeten. »Sie sind nach Dobbs Ferry gezogen …« »Den hab ich nicht mehr gesehen, seit – o Gott, ich weiß es gar nicht …« »Das ganze Haus war mit dem häßlichsten braunen Zottelteppich ausgelegt …« Als wir achtzehn waren, hörten die Leute noch Schallplatten. Ein Plattenspieler hatte drei Geschwindigkeiten: 33 1/3, 45 und 78. Die 78 benutzte man nur, wenn man lachen wollte. Dann stellte man sie ein und spielte 45er damit ab. Wenn man die vertrauten Stimmen hörte, wie sie in ein hohes, albernes Zirpen verwandelt wurden, gab es immer etwas zu lachen. Während ich immer schneller durch den Raum ging und Diana suchte und dabei an James dachte und daran, daß er tot war, schaltete die Welt um mich herum auf 78. Die Stimmen wurden zu einem beschleunigten Gewirr. Das schwirrende Chaos wurde so stark, daß ich stehenbleiben und die Augen schließen mußte. Ich atmete ein paarmal tief durch und ermahnte mich, nicht in Panik zu geraten. Als ich die Augen öffnete, stand Zoe vor mir. 44
»Alles okay?« »Nein. Hast du Diana gesehen? Ich kann sie nicht finden.« »Werden wir gleich. Komm, sie muß ja hiersein.« Sie nahm meine Hand, und wir gingen zusammen weiter. Später, als mein Kopf wieder klar wurde, dachte ich: Wie lieb von ihr. Zoe hatte erst wenige Minuten vorher ihren eigenen Alptraum erlebt. Aber sie war da und hielt meine Hand, während sie sich ebensogut in ihrem eigenen Schmerz hätte verschließen können, nachdem sie Kevin Hamilton begegnet war. »Da! Da drüben!« Anders als so viele andere bei diesem Klassentreffen sah Diana Wise fast genauso aus wie damals in der Schule. Interessantes Gesicht, langes schwarzes Haar, das sexy Lächeln eines italienischen Filmstars. Auf der High School waren wir Beinahe-Freundinnen gewesen, aber sie war um so viel reifer als wir, daß wir sie immer mit Ehrfurcht betrachtet hatten. »Diana?« Sie sprach mit einem Mann, den ich nicht erkannte. Als sie ihren Namen hörte, drehte sie sich um und sah mich. Sie verabschiedete sich von dem Mann, indem sie seine Hand berührte, und nahm dann meinen Arm. »Miranda. Ich habe dich gesucht.« Ihre Stimme klang kraftvoll und sicher. Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie wußte, was ich brauchte. Ich war dankbar, daß ich die Frage nicht stellen mußte. Daß ich die Worte nicht aussprechen mußte, laut in die Welt: Ist es wahr? Ist er wirklich tot? Zu dritt gingen wir durch die Lobby hinaus in den Sommerabend. Es war warm und schön draußen, die Luft war noch schwer vom Tag und erfüllt vom üppigen Duft des Geißblatts. Ich fühlte mich leer und verängstigt. Ich wuß45
te, was auf mich zukam. Auch wenn ich jetzt Antworten wollte, wußte ich doch: Wenn ich sie gehört hätte, gäbe es keinen Weg zurück zu einem Teil meines Lebens, der bis vor ein paar Stunden noch intakt gewesen war. »Diana, was ist mit James passiert? Wie ist es …« Ich konnte nicht weiter. Sie schob eine Hand in ihr langes schwarzes Haar und strich es langsam aus dem Gesicht. »Wir sind uns vor ein paar Jahren in Philadelphia über den Weg gelaufen. Er arbeitete für eine Firma, die etwas mit Kunst zu tun hatte – haben sie sie verkauft? damit gehandelt? Ich weiß es wirklich nicht mehr. Vielleicht war es ein Auktionshaus, wie Sotheby’s. Jedenfalls – wir sind uns auf der Straße begegnet. Er liebte seinen Job. Er war so aufgedreht. Erinnert ihr euch noch, wie aufgeregt er bei manchen Dingen werden konnte?« Ich hätte ihr gern erzählt, wie ich diese Aufregung erlebt, wie ich gesehen hatte, wie sein ganzes Wesen leuchtete, weil irgend etwas seine Aufmerksamkeit fesselte. »Wir hatten es beide eilig und konnten nur rasch eine Tasse Kaffee zusammen trinken. Aber er hörte sich wunderbar an, Miranda. Zum ersten Mal im Leben habe er das Gefühl, auf dem richtigen Gleis zu sein, sagte er. Alles war da, wo er es haben wollte. Er hatte eine Freundin. Er war absolut oben.« »Wie sah er aus?« Ich wollte ein Bild haben, eine Vorstellung von ihm als Erwachsenem, damit ich mich daran festhalten könnte. »Älter natürlich, schlanker als in der Schule, aber immer noch diese großartigen Augen und das Lächeln.« Sie schwieg kurz. »Er sah aus wie James.« Ich fing an zu weinen. In diesen Worten lag alles, was ich hören und nicht hören wollte. Zoe legte die Arme um 46
mich. So standen wir drei auf dem Rasen, ein paar Schritte – und Lichtjahre weit entfernt von all der Fröhlichkeit und dem Wohlwollen in dem Gebäude. Als das Unwetter in mir fast abgezogen war, bat ich Diana, weiterzureden. »Wir tauschten Telefonnummern aus und versprachen uns, in Kontakt zu bleiben. Ein paarmal haben wir telefoniert, aber ich bin nicht wieder nach Philadelphia gefahren, und wer kommt schon nach Kalamazoo? Eines Abends vor drei Jahren bekam ich einen Anruf. Eine Frau fragte nach mir, zweimal. Sie war so aufgewühlt, daß ich sie überzeugen mußte, daß ich es war. Sie sagte, sie wisse, daß ich eine gute Freundin von James sei, und ich sollte wissen, daß er bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Er war in New York gewesen und hatte einen Anruf von seiner Freundin in Philadelphia bekommen. Sie wollte sich von ihm trennen, weil sie einen andern kennengelernt hatte. So kalt war sie anscheinend – sie wollte raus, und es gab nichts weiter zu bereden. Sofort nach dem Telefonat sprang James ins Auto und fuhr geradewegs hin. Es herrschte starker Frost, und die Straßen waren schlecht. Er kam bis Philadelphia, aber er fuhr zu schnell. Als er die Autobahn verlassen wollte, geriet sein Wagen ins Schleudern und kam von der Straße ab. Sie sagte, er sei sofort tot gewesen.« »Sofort?« »Das hat die Frau gesagt.« »Wer war sie?« »Das weiß ich nicht. Sie wollte mir ihren Namen nicht sagen, nicht einmal, als ich sie danach fragte. Ich wette, es war die Freundin. 47
Er hat sich nach dir erkundigt, Miranda. Als wir beim Kaffee saßen, fragte er, ob ich etwas von dir gehört hätte.« Mein Herz krampfte sich zusammen. »Wirklich?« »Ja. Er war enttäuscht, als ich nichts wußte.« Wir schwiegen, und die Musik vom Klassentreffen erfüllte die Luft um uns her. »Hat sie sonst noch was erzählt?« »Nein. Ich sage ja, ich habe die Frau nach ihrem Namen gefragt, aber sie wollte ihn mir nicht sagen. Gleich danach hat sie aufgelegt.« Zoe seufzte und schaute zu Boden. Es war ein so endgültiges, so auswegloses Seufzen. »Danke, Diana. Das macht es klarer.« Wir umarmten einander. Sie trat einen Schritt zurück, die Hände an meinen Ellenbogen, und schaute mich noch einen Augenblick lang an. Dann wandte sie sich ab und wollte zum Gebäude zurückgehen. »Diana?« »Ja?« »Wirklich – war er glücklich?« Sie nickte nur. Und das war besser als alle Worte. Es ließ mir mein eigenes Vokabular für sein Glück. »Danke.« Sie langte in ihre Handtasche, holte eine Karte hervor und reichte sie mir. »Ruf an, wenn du reden möchtest – oder wenn du je nach Kalamazoo, Michigan, kommen solltest.« Zoe und ich standen stumm auf dem Rasen. Als einige Zeit vergangen war, sagte ich: »Ich möchte da nicht wieder hinein. Ich rufe mir ein Taxi. Könntest du mir einen Schlüssel zu deinem Haus geben?« 48
»Laß uns irgendwohin fahren und eine Menge trinken.« Am Ende fuhren wir statt dessen wieder durch die Gegend. Vorbei an denselben Orten, die wir am Nachmittag gesehen hatten; jetzt kam es mir vor, als sei das eine Million Jahre her. Ich schaltete das Radio ein, und als ob sie unsere Stimmung gekannt hätten, spielten alle Sender nur Songs, die wir geliebt hatten, als wir jung waren. Was aber in Ordnung war, denn in dieser Nacht hörten wir auf, jung zu sein, und da war es richtig, noch ein letztes Mal einzutauchen. Ich hatte nicht darauf geachtet, wohin sie fuhr, und merkte erst, wo wir waren, als sie langsamer wurde und auf den Parkplatz vor dem Eisstand Carvel einbog. »Gute Idee!« »Wenn wir uns schon nicht betrinken, werden wir eben fett.« Wir verlangten nach alter Gewohnheit in heiße Schokolade getauchte Vanillehörnchen, und gingen damit zum Auto zurück. In unseren Partykleidern setzten wir uns auf die Motorhaube und aßen. »Sie sind immer noch köstlich.« »Ich habe seit Jahren keins mehr gegessen. Ich bin immer mit den Kindern hergekommen, als sie noch klein waren, aber heute würden sie lieber tot umfallen, als sich mit mir in der Öffentlichkeit sehen zu lassen.« Wir beobachteten, wie die Leute kamen und gingen. Drüben im Country Club waren unsere Klassenkameraden dabei, zu tanzen und glückliche Zeiten noch einmal zu durchleben. Aber auch Kevin war da, und James. »Zoe, was machen wir jetzt?« »Hoffen, Honey. Genau, wie ich’s vorhin gesagt habe.« »Gibt heute abend nicht viel Hoffnung in Mudville.« 49
»Habe ich dir je erzählt, wie ich Andys Pistole gefunden habe?« Das ließ mich aufhorchen. »Das soll ein Witz sein! Andy, dein schleimiger Exgatte?« »Jawoll. Es war im ersten Jahr unserer Ehe. Ich wollte saubere Unterwäsche in seine Schublade einräumen. Und oben auf seinen Fruit Of The Looms lag eine Pistole.« »Wieso hatte er denn so was?« »Das Interessanteste war: Als ich sie gefunden hatte, ging mir nicht etwa durch den Kopf: ›Er hat eine Pistole!‹ Was mich durchzuckte, war: ›Die Welt ist ein erstaunlicher Ort.‹ Du weißt, wie es ist, wenn du neu mit jemandem zusammen bist, den du liebst: Du denkst, du weißt alles über ihn. Und dann machst du eines Tages eine Schublade auf, und da liegt was: ein alter Liebesbrief, ein Tagebuch, eine Pistole. Und es ist unmöglich, das mit der Person in Verbindung zu bringen, die du zu kennen glaubtest. Irgendwie war es wunderbar, Miranda. Ich wußte, was auch passiert, das Leben würde immer interessant sein.« »Weil du eine Pistole gefunden hattest?« »Nein! Weil auch das ein Teil von Andy war. Ich kannte ihn eigentlich gar nicht, und das fand ich aufregend. Da gab es so viele neue Sachen zu entdecken. Am Ende haben wir uns scheiden lassen, aber damals hatte das Leben erst angefangen. Das fand ich aufregend. Ich finde es immer noch aufregend. Du solltest es genauso machen. Du solltest es geschehen lassen.«
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eine trilogie von joghurt »Sie sind eine Diebin, Miranda.« Ich verdrehte die Augen. »Jawohl, Jaco.« Er schnüffelte, als stinke da etwas im Zimmer, und fuhr fort, als hätte ich gar nichts gesagt. »Vielleicht die skrupelloseste, mit der ich je Geschäfte gemacht habe.« Ich klopfte mit dem Fingernagel gegen einen Schneidezahn. »Jaco, wir haben dieses Gespräch schon öfter geführt. Sie sagen immer das gleiche: Ich bin eine Gaunerin, ein Luder … immer die gleiche Leier. Aber ich finde die Bücher, die Sie haben wollen. Sie wollten eine signierte Erstausgabe von The Gallery, ich habe sie Ihnen besorgt. Sie wollten einen Brief von Eliot; ich habe einen für Sie gefunden …« »Ja, aber dann berechnen Sie so viel, daß ich kein Geld mehr übrig habe!« »Sie müßten noch einmal vierhundert Jahre leben, ehe Ihnen das Geld ausgeht. Kaufen Sie’s nicht! Sie wissen, Dagmar wird es kaufen, wenn Sie es nicht tun.« Es war gemein, so etwas zu sagen, aber ich hatte die Nase in diesem Moment so voll von ihm, daß ich es mir nicht verkneifen konnte. Wie immer bekam er beim Klang ihres verabscheuten Namens einen geraden Rücken, und seine gierigen Augen wurden schmal. Dagmar Breece. Jaco Breeces Nemesis. Ich brauchte nur mit ihrem Namen vor ihm herumzuwedeln, und der nie51
derträchtige Alte fing an zu schnauben wie Ferdinand der Stier. Dagmar und Jaco Breece hatten zwei Leidenschaften: Kaschmir und Autoren des 20. Jahrhunderts. Das war wunderbar, solange sie verheiratet waren und vierzig Jahre lang zusammen eine Pulloverfirma führten. Das Geschäft war erfolgreich; sie bekamen zwei nette Kinder, die aufwuchsen und aus dem Nest entflogen, und sie hatten eine gemeinsame Sammelleidenschaft. Als Dagmar sechzig Jahre alt war, verliebte sie sich in einen anderen Mann und zog prompt aus. Weg mit Schaden. Aber was Jaco sehr viel mehr ärgerte, als sie zu verlieren, war ihre Mitteilung, er könne die Sammlung seltener Bücher und Manuskripte, mit deren Anhäufung sie viele Jahre zugebracht hatten, behalten: Sie werde mit Hilfe ihres reichen neuen Freundes eine neue beginnen. So habe ich sie kennengelernt. Ein paar Jahre zuvor, als sie noch zusammen waren, kam Dagmar ins Geschäft und kaufte ein Edward-Dahlberg-Manuskript, das ich in einem Katalog aufgeführt hatte. Danach stöberte ich einiges für sie auf, sowohl während ihrer Ehe als auch, nachdem sie ausgezogen war. Dagmar mochte ich, aber Jaco nicht. Kein bißchen. Als ich so dastand und zuschaute, wie er kochte, fragte ich mich, wie er wohl reagieren würde, wenn er gewußt hätte, daß ich noch am selben Abend zu einer Dinnerparty zu ihr gehen würde. »Was haben Sie sonst Neues?« »Ein paar Rilke-Briefe …« »Jeder hat Rilke-Briefe. Er hat zu viele geschrieben.« »Jaco, Sie haben gefragt, was es Neues gibt. Ich habe ein paar Briefe – neiiin, halt! Ich habe noch etwas anderes, was Sie interessieren wird!« 52
Mein Laden ist klein, und so waren es bis zum Sideboard nur drei Schritte. Ich konnte den ganzen aufgeblasenen Look von Leder und dunkler Eiche, wie er in den meisten Raritätenbuchhandlungen zu finden ist, nicht leiden, und deshalb war meine mit Heywood-Wakefield-Möbeln aus hellem Holz und einem sehr warmen, rot-weißen chinesischen Teppich eingerichtet. Beides zusammen ließ den Raum hell, ein bißchen seltsam und – hoffentlich – einladend erscheinen. Ich liebte Bücher und alles, was mit ihnen zusammenhing. Ich wollte, daß die Kunden das wußten, sowie sie hereinkamen. Der Unterschied zwischen meinem Geschäft und dem Geschäft anderer Buch- und Manuskripthändler bestand darin, daß ich auch alles andere verkaufte, was mir gefiel. Ich zog eine Schublade auf und nahm ein langes, schmales Etui aus Krokodilleder heraus. Es sah aus wie die, in denen viktorianische Gentlemen ihre Zigarren bei sich trugen. Aber was ich darin hatte, war viel besser. Ich klappte es auf, legte es vor Jaco auf die Theke und wußte, er würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn ihm klar wurde, was es war. »Ich sammle keine Füllfederhalter, Miranda.« »Das ist kein Federhalter. Es ist ein Mabie Todd.« »Mabie Todd macht mich nicht flott.« »Sehr witzig. Schauen Sie sich den Schaft an.« Er sah mich an, als wollte ich ihn über den Tisch ziehen, aber schließlich nahm er den größten Füllfederhalter, den ich je gesehen hatte, in die Hand. »Und? Das ist ein Füller.« »Jaco, drehen Sie ihn um. Schauen Sie genau hin.« Er drehte, bis er den Namen sah, der mit goldenen Lettern in den schwarzen Schaft graviert war. Als er wieder 53
sprach, war seine Stimme beinahe ein Flüstern, als sei seine Zunge plötzlich zu groß für seine Kehle. »Nein! Stimmt das?« Ich nickte. »Ich habe einen Echtheitsnachweis.« »Woher haben Sie …« »Von einer Versteigerung bei Sotheby’s letzte Woche. Ich habe ihn in ihrem Katalog gesehen. Ich glaube, er stammt aus Lord Eshers Hinterlassenschaft.« »Rolfe.« Ehrfürchtig las er den Namen. »Ich erinnere mich an die Biographie von Symons; er soll immer mit einem großen Füllfederhalter geschrieben haben.« »So ist es.« Verdrossen und zum ersten Mal lächelnd, schüttelte er den Kopf. »Miranda, wie finden Sie solche Dinge? Wie haben Sie Frederick Rolfes Füllfederhalter gefunden?« »Weil ich meine Arbeit liebe – Dinge aufspüren, sie eine Zeitlang in der Hand halten. Ich liebe es auch, sie an Leute wie Sie zu verkaufen, denen etwas daran liegt.« »Aber Sie behalten nie etwas für sich?« »Nie. Man muß sich entscheiden, ob man Sammler oder Verkäufer sein will. Das Sammeln würde mich verzehren. Ich wäre niemals glücklich mit dem, was ich habe; ich würde immer mehr haben wollen. So aber kann ich mich eine Zeitlang an den Dingen erfreuen, und dann verkaufe ich sie an die richtigen Leute.« »Wie Dagmar?« »Wie Dagmar und Sie. Wollen Sie ihn haben?« »Natürlich will ich ihn haben!« Nachdem er gegangen war, wartete ich eine gute halbe Stunde, ehe ich zum Telefon griff. Jaco hatte die verstö54
rende Gewohnheit, wutschnaubend zurückzukommen und für etwas, das er gerade gekauft hatte, einen besseren Preis zu fordern. Anfangs hatte sein Zorn mich eingeschüchtert, inzwischen nicht mehr. »Hallo?« Ihre Stimme klang sanft und elegant, so sexy wie keine andere Frauenstimme, die ich kannte. »Dagmar? Miranda. Jaco war eben hier. Er hat den Füller gekauft.« »Aber natürlich, Darling. Es ist genau das, was er bestimmt haben will. Deshalb habe ich ihn ja gekauft. Es ist ein fabelhaftes Stück.« »Aber warum an ihn verkaufen? Wollten Sie ihn denn nicht für Ihre Sammlung?« »Doch, aber ihm würde sehr viel mehr daran liegen. Baron Corvo ist einer seiner wenigen Helden.« »Das verstehe ich nicht. Nach all den unglücklichen Jahren haben Sie ihn endlich verlassen, aber Sie schenken ihm immer noch Sachen?« »Ich schenke sie ihm nicht, ich verkaufe sie ihm. Jaco zu lieben, das war, als säße man auf einem kalten Stein: Man gibt ihm all seine Wärme, aber er gibt einem nichts zurück. Am Ende hat man einen kalten Hintern. Das konnte ich nicht mehr aushalten. Aber wenn ich ihn verlasse, lösche ich damit nicht den größten Teil meines Erwachsenenlebens aus. Um einiger Dinge willen liebe ich ihn noch, und das wird immer so bleiben. Nicht, daß ich es unbedingt will. Manchmal kann man sich nicht aussuchen, wen man liebt.« »Aber Sie sind froh, daß Sie gegangen sind.« »Ich bin selig. Zurück schaue ich nur, um mich zu vergewissern, daß ich die Tür abgeschlossen habe. Erzählen Sie mir, wie Jaco reagiert hat, als er den Stift gesehen hat.« Fast konnte ich ihr Lächeln durch das Telefon hören. 55
»Er ist ausgeflippt. Er war im Himmel.« »Ohne Zweifel. Hadrian the Seventh ist sein Lieblingsbuch. Kein Wunder – es ist die Geschichte eines jämmerlichen Menschen, der unverdient zum Papst erwählt wird. Jaco identifiziert sich total damit.« »Ich bringe Ihnen heute abend einen Scheck mit.« »Es eilt nicht. Heute bin ich sowieso schon jenseits von Gut und Böse. Der Caterer hat angerufen und gesagt, er wird die Trilogie von Joghurt zum Dessert nicht machen können, und damit ist das Essen im Grunde ruiniert. Aber wir müssen stark sein.« »Trilogie von Joghurt?« »Seien Sie nicht zynisch, Miranda. Einmal gekostet, und Sie wären eine Gläubige. Dazu kommt, unser Apartment riecht wie ein nasser Putzlappen, und ich muß mir die Haare machen lassen. Manchmal wäre es nett, ein Mann zu sein. Dann kostet ein Haarschnitt neun Dollar. Für eine Frau ist es eine religiöse Erfahrung. Ich muß jetzt los, Schätzchen. Wenn ich den heutigen Tag überlebe, bin ich unsterblich. Seien Sie um sieben hier. Ich habe drei ScudRaketen zum Essen eingeladen und jeder gesagt, Sie seien der Fang des Jahrhunderts.« »Wird aber schwer sein, den Erwartungen zu entsprechen.« »Aber es ist doch die Wahrheit!« Nur wenige Leute kamen zum Stöbern in mein Geschäft. Größtenteils wußte die Klientel, was sie wollte. Ich verbrachte einen guten Teil meiner Zeit unterwegs, um die Gegenstände ihrer spezifischen und oft kostspieligen Wünsche aufzuspüren. Man konnte mich über die Armbanduhr pagen oder auf dem kleinsten tragbaren Telefon 56
anrufen, das ich hatte finden können. Ich war glücklich, wenn ich auch nur ein paar Wochen hintereinander im Geschäft verbringen konnte, um aufzuräumen, Rechnungen zu bezahlen, Kataloge und Faxe zu lesen. Aber glücklich war ich auch auf Flughäfen, in Hotelzimmern und in Restaurants, die regionale Gerichte servierten, von denen ich noch nie gehört hatte. Es gab keinen Mann in meinem Leben. Ich war frei, zu kommen und zu gehen, wie es mir gefiel. Mein Hauptfach am College war Soziologie gewesen, aber schon vor dem Examen war mir klargeworden, wie wenig zufriedenstellend demographische Skalen und Begriffe wie »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« waren. Um nebenher Geld zu verdienen, nahm ich einen Job in einem Secondhand-Buchladen an und hatte das Glück, eines Tages da zu sein, als ein Mann mit zwei Pappkartons voller Bücher hereinkam, die er verkaufen wollte. Darunter befand sich ein signiertes Exemplar einer limitierten Ausgabe von Faulkners The Hamlet, das zufällig auf der Lektüreliste eines Seminars stand, das ich belegt hatte. Da ich wußte, daß es wertvoll war, zeigte ich es dem Ladenbesitzer. Er sagte, ich könne es behalten, denn ich sei ehrlich und arbeitete ordentlich. Ich nahm das Buch mit ins Seminar und zeigte es dem Professor. Der machte große Augen und fragte, ob ich es ihm für hundert Dollar verkaufen würde. Irgend etwas in seinem Ton machte mich mißtrauisch. Ich suchte die Telefonnummern mehrerer Raritätenbuchhandlungen heraus und rief dort an, um mich zu erkundigen, was das Buch wert war. Nichts hält ewig, aber Bücher gehören zu den wenigen Dingen, die nah daran sind. Als ich erfuhr, wie wertvoll der Faulkner war, wurde mir klar, daß ich in eines der kleinen Geheimnisse des Lebens eingeweiht worden war: Es gibt Gegenstände, die den meisten Leuten nichts, aber 57
einigen Leuten alles bedeuten. Und mehr noch, wenn man irgend etwas über das Thema wußte, fand man rasch heraus, daß das Sammeln von Büchern eine der letzten Möglichkeiten ist, in unserer Zeit auf Schatzsuche zu gehen. Alte Bücher gibt es überall, und den meisten Leuten liegt nichts an ihnen. Die wenigen aber, denen doch etwas daran liegt, werden bemerkenswerte Dinge tun, um sie in ihren Besitz zu bringen. Als ich weitermachte, merkte ich, daß ich in diesem Beruf gut war – und das allein ist schon ein großer Lohn. Ich liebte das aufgeregte Entzücken meiner Kunden, wenn ich etwas gefunden hatte. Ich liebte das Zufallsglück der Jagd. Ich bekam immer noch Herzklopfen, wenn ich etwas Einzigartiges oder Wichtiges in einem Trödelladen entdeckte, in einem Secondhand-Geschäft, in der Grabbelkiste der Heilsarmee im schmuddeligen Teil irgendeines Stadtzentrums. Langsam griff ich dann danach und nahm es in die Hand, und ich wußte, daß hier eine der größten Freuden von allen war. Ich klappte das Buch auf und prüfte die ersten Seiten, um sicherzugehen, daß es das war, was ich vermutete. Ja, dort war der Beweis, wenn man nur wußte, wonach man suchen mußte – der Buchstabe A, oder das noch offenkundigere Wort »Erstausgabe«. Andere Hinweise, Embleme, Markierungen … das geheime Alphabet und Vokabular der Büchersammler. Auf der Innenseite des vorderen Deckels hatte jemand nachlässig mit Bleistift $1 oder 50c geschrieben. In Louisville bezahlte ich zehn Cent für die schönste Erstausgabe des Great Gatsby, die ich je gesehen habe. Fünf Dollar für The Enormous Room. Ich kapierte nicht, warum es nicht mehr Leute gab, die so etwas taten. Wohin man auch ging, selbst wenn man nur wenig über das Thema wußte, war es wie eine Goldsuche. Nachdem ich die Tagebücher von Edward Weston und Paul Strand gelesen hatte, erwachte mein Interesse an der 58
Fotografie. Damit eröffnete sich eine völlig neue Welt, von den geschäftlichen Möglichkeiten ganz zu schweigen. In Los Angeles entdeckte ich auf einem Trödelmarkt eine große Schachtel mit Fotos. Die meisten zeigten Fremde, aber auf einigen waren berühmte Filmstars der dreißiger und vierziger Jahre zu sehen. Was mir auffiel, war die wunderschöne Ausleuchtung der Bilder und die natürliche Pose der Personen. Auf der Rückseite jedes Bildes war ein Stempel mit dem Namen des Fotografen – Hurrell – und seiner Adresse. Ich kaufte sie und werde nie vergessen, was für ein Gesicht die Frau machte, als ich ihr das Geld gab. Ihr Ausdruck sagte, ich sei ein Dummkopf und sie die Gewinnerin. Aber schon da, ohne daß ich von dem großen Fotografen George Hurrell gehört hatte, wußte ich, daß sie sich irrte. »Miranda?« Ich fuhr aus meinem Dösen auf und sah, daß einer der liebsten Menschen der Welt in der Tür stand. »Clayton! Entschuldige, ich habe geträumt.« »Das Merkmal aller großen Geister. Nimm deinen alten Boß in die Arme.« Wir umarmten einander, und wie immer trug er wieder ein Eau de Cologne von mysteriöser Schönheit, und mir wurde ganz anders. »Was hast du denn heute genommen?« »Etwas Französisches. Heißt Diptyque, ich finde, das paßt zu einem Buchhändler, meinst du nicht auch?« »Absolut. Wo hast du gesteckt, Clayton? Ich habe seit Monaten nichts von dir gehört.« Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einem Stuhl. Er setzte sich und sah sich langsam um, bevor er etwas sagte. Er mußte sechzig sein, sah aber um Jahre jünger aus. Er hatte volles Haar – und die Falten in seinem Gesicht kamen hauptsächlich 59
vom Lächeln. Ich hatte nach dem College bei ihm in New York gearbeitet. Er hatte mir alles beigebracht, was er über den Handel mit seltenen Büchern wußte. Enthusiasmus und Großzügigkeit waren das Herzstück seiner Persönlichkeit. Als ich ihn verließ, um ein eigenes Geschäft zu eröffnen, lieh er mir tausend Dollar Startkapital. »Hast du diesen hübschen Stevens noch? Ich habe einen Käufer. Ein Scientologe aus Utah.« »Ein Scientologe, der Wallace Stevens liest?« »Ganz recht. Ich war draußen im Westen, um ein bißchen zu akquirieren. Bin auf ein paar sehr interessante Leute gestoßen. Ein Mann lebte von einer strengen Möhrendiät und sammelte nichts als Wyndham Lewis. Aber deshalb war ich nicht da. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber in letzter Zeit fliegen bei mir die Bücher nicht gerade aus den Regalen. Deswegen war ich auf Reisen. Und wie ist es bei dir?« »Geht so. Es läuft in Wellen. Vor zwei Monaten habe ich in L. A. einen ganzen Stapel Robert Duncan verkauft. Das hat mich wieder aufs rechte Gleis gebracht. Weißt du, wen ich gesehen habe, als ich drüben war? Doug Auerbach.« »Ah, den Hund. Was treibt er so?« »Er macht Werbefilme. Verdient einen Haufen Geld.« »Aber du hast doch gesagt, er wollte Ingmar Bergman werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man diese Sehnsucht mit Reklame für Hundefutter stillen kann. Vermißt er dich noch?« »Ich nehme es an. Ich glaube, er vermißt die Zeit, als er noch mehr Möglichkeiten im Leben hatte.« »Geht uns das nicht allen so? Tja, Miranda, ich bin hier, um dich zu sehen, aber ich bin auch auf einer Mission. Hast du schon mal von Frances Hatch gehört?« 60
»Muß es mir peinlich sein, wenn ich jetzt nein sage?« »Eigentlich nicht. Sie ist ein gutgehütetes Geheimnis und nur einige wenige kennen sie. Frances Hatch war in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Art GretchenDampf-in-allen-Gassen, ohne irgend etwas wirklich zu beherrschen. Das heißt, durchaus beherrscht hat sie eine erstaunliche Anzahl berühmter Leute. Sie war so eine Art verrückte Kombination aus Alma Mahler, Caresse Crosby und Lee Miller. Sie kam aus St. Louis, aus einer Familie mit großem Geld, aber sie rebellierte und lief weg, nach Prag. Sie ging zur rechten Zeit in die falsche Stadt. Dort war etwas los, genau wie im übrigen Europa der zwanziger Jahre, aber es war nicht annähernd so interessant wie Berlin oder Paris. Sie blieb ein Jahr und studierte Fotografie, und dann zog sie nach Bukarest, mit einem rumänischen Bauchredner. Dessen Bühnenname war ›Der gewaltige Shumda‹.« »Nach Bukarest mit dem ›gewaltigen Shumda‹? Ich liebe sie jetzt schon.« »Ich weiß – eine seltsame Wahl, geographisch. Aber sie ließ sich immer von irgendeinem Mann ins Schlepptau nehmen und ging bereitwillig mit. Egal, nach kurzer Zeit ging sie weg und landete in Paris, allein.« »Aber nicht für lange, stimmt’s?« »Stimmt. Frauen wie Frances bleiben nie lange allein.« Er öffnete seinen Aktenkoffer und nahm ein Foto heraus. »Hier ist ein Selbstporträt, das sie etwa um diese Zeit aufgenommen hat.« Ich schaute das Bild an. Es war eine wunderschöne Schwarzweißaufnahme, die an Arbeiten von Walter Peterhans oder Lyonel Feininger erinnerte: kantig, kontrastreich, sehr germanisch. Ich lachte. »Das ist ein Witz. Du machst einen Witz, stimmt’s, Clayton?« Ich schaute noch 61
einmal hin. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. »Das ist ein Selbstporträt? Es ist wundervoll. Nach deiner Beschreibung hätte ich sie für eine Gans gehalten. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß sie so begabt ist.« »Und?« Er zeigte auf das Foto. Seine Augen funkelten, und er fing an zu lächeln. »Und – sie sieht aus wie ein Schnauzer.« »Mein erster Gedanke war ein Emu.« »Was ist das denn?« »Die sehen aus wie Strauße.« »Und du willst mir erzählen, dieser Emu war die Geliebte von berühmten Leuten? Sie ist häßlich, Clayton. Schau dir diese Nase an!« »Hast du schon mal den französischen Ausdruck belle laide gehört?« »Nein.« »Es bedeutet: häßlich genug, um begehrenswert zu sein. Die Häßlichkeit verstärkt den Sexappeal.« »Diese Frau ist aber kein bißchen belle.« »Vielleicht war sie toll im Bett.« »Das muß sie wohl gewesen sein. Ich kann es nicht glauben, Clayton. Irgendwie vermute ich immer noch, du willst mich verscheißern. Mit wem war sie denn zusammen?« »Kazantzákis, Giacometti. Ihre beste Freundin war Charlotte Perriand. Neben anderen. Sie hat ein faszinierendes Leben gelebt.« Er nahm mir das Foto aus der Hand. Nachdem er noch einen Blick darauf geworfen hatte, legte er es wieder in seinen Aktenkoffer. »Und sie lebt noch! Wohnt in der 112th Street.« »Wie alt ist sie?« 62
»Muß weit über neunzig sein.« »Wieso kennst du sie?« »Man munkelt, daß Frances Hatch Briefe hat, Zeichnungen, Bücher von diesen und von anderen Leuten – Sachen, bei denen jedem Händler die Tränen kommen dürften. Höchst wichtiges Zeug, Miranda, das einfach dort herumliegt und vergilbt. Seit Jahren erweckt sie den Eindruck, daß sie verkaufen will, aber bis jetzt hat sie es nie getan. Ihre Lebensgefährtin ist vor ein paar Monaten gestorben, und sie hat Angst vor dem Alleinsein. Will in ein teures Pflegeheim in Briarcliff ziehen, hat aber nicht das Geld dazu.« »Hört sich toll an – wenn du sie dazu bringen kannst, die Sachen zu verkaufen. Aber warum erzählst du das mir?« »Weil Frances im Alter von paar-und-neunzig Jahren keine Männer mehr mag. Sie hat eine Art späte Offenbarung erfahren und ist lesbisch geworden. Mit Ausnahme ihres Anwalts hat sie nur noch mit Frauen Umgang. Ich kenne sie seit Jahren, und sie sagt, sie ist jetzt wirklich bereit, zu verkaufen, aber nur wenn es über einen weiblichen Händler geht. Wenn sie verkauft, mache ich fifty-fifty mit dir.« Er versuchte nicht, die Verzweiflung zu verbergen. »Das ist nicht nötig, Clayton. Ich helfe gern, wenn ich kann. Außerdem habe ich mir schon immer gewünscht, einen Emu kennenzulernen. Wann würden wir hingehen?« Er schaute auf die Uhr. »Jetzt gleich, heute morgen, wenn du möchtest.« »Also los.« Bevor wir ein Taxi anhielten, sagte Clayton, er müsse noch einen Supermarkt finden, aber er sagte nicht, warum. Ich wartete draußen. Nach ein paar Minuten kam er mit 63
einer Tüte voll astreinem Junkfood wieder heraus. Sachen wie pinkfarbene Snowballs, leuchtend orangegelbe Cheetos, Twinkies, Ding Dongs, Devil Dogs, Yankee Doodles … »Das ist doch wohl nicht für dich?« »Es ist das einzige, was Frances ißt. Von jedem Besucher erwartet sie einen Sack voll von dieser merde.« »Kein Wunder, daß sie neunzig geworden ist! Wenn sie das ihr Leben lang gegessen hat, besteht sie wahrscheinlich zu achtzig Prozent aus Konservierungsmitteln. Wenn sie mal stirbt, wird ihr Leichnam die Halbwertszeit von Plutonium haben.« Er nahm eine Packung aus der Tüte und schaute sie an. »Wann hast du zuletzt ein Ding Dong gegessen? Die klingen alle so obszön – Devil Dogs, Ding Dongs …« Er riß die Packung auf, und zufrieden aßen wir auf der Fahrt nach Uptown Manhattan Schokocremetörtchen. Ms. Hatch wohnte in einem dieser wunderschönen Gebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende, die aussehen wie Festungen. Es hatte seine Nachbarschaft überlebt, aber jetzt verfiel es. An der Fassade prangten Wasserspeier, und davor erstreckte sich ein langer Hof mit einem Springbrunnen, der nicht mehr funktionierte. Es war ein Gebäude, das Ruhe und Zurückhaltung verdiente, aber als wir den Vorhof überquerten, brandete Salsa- und RapMusik aus den offenen Fenstern und prasselte uns auf die Köpfe. Irgendwo schrien ein Mann und eine Frau einander an. Was sie dabei sagten, war peinlich. Wie es in solchen Situationen oft vorkam, fiel mir auf, daß die Leute sich nicht mehr schämen, öffentlich über alles mögliche zu reden. Kürzlich in der U-Bahn hatte ich neben zwei Frauen gesessen, die sich laut über ihre Perioden unterhielten. Nicht ein einziges Mal schaute eine der beiden sich um, ob die Leute vielleicht zuhörten – was sie taten. 64
Als ich eine entsprechende Bemerkung zu Clayton machte, sagte er: »Niemand kümmert sich heutzutage mehr um seine Würde. Die Leute wollen gewinnen, oder sie wollen es bequem haben.« Er deutete auf die Fenster über uns. »Ihnen ist egal, ob du sie hörst. Es ist wie in den Fernsehtalkshows: Diese Idioten haben nichts dagegen, wenn du weißt, daß sie mit ihrer Mutter geschlafen haben oder mit ihrem Hund. Sie glauben, das macht sie interessant. Wir sind da. Hier ist es.« Im Hausflur roch es nach altem Essen und nassem Papier. Unleserliche Graffiti waren mit Spraydosen dick und schwarz über die Briefkästen gesprüht worden. Einen gelben Kinderwagen ohne Räder hatte man an die Wand geschoben. Der Aufzug funktionierte nicht. »In welchem Stockwerk wohnt sie?« »Im zweiten, aber sie geht nicht mehr aus. Manchmal frage ich mich, wie viele alte Leute in dieser Stadt als Gefangene in ihren Wohnungen sitzen. Weil sie zuviel Angst haben, oder weil sie die Treppen nicht mehr steigen können. Es müssen viele sein.« Wir gingen schweigend hinauf. Hier und da sah ich Anzeichen für die einstige Schönheit dieses Gebäudes. Das Treppengeländer war aus Vogelaugenahorn, das Eisengitter darunter verschnörkelt und hübsch. Die Treppenstufen waren aus dunkelgrünem Stein mit schwarzen Wirbeln darin, die aussahen wie ein gefrorener Zyklon. Überall war viel Lärm. Musik, Stimmen, das allgemeine weiße Rauschen von vielen Fernsehapparaten, die mit voller Lautstärke liefen. Ich wußte das Haus zu schätzen, in dem ich wohnte; dort waren die Nachbarn unfreundlich, aber ruhig. Im zweiten Stock angekommen, gingen wir einen langen Korridor hinunter bis zum Ende. Im Gegensatz zu den an65
deren Türen, die aussahen, als ob die Polizei sie immer mal wieder eingeschlagen hätte, war Frances Hatchs Eichentür makellos erhalten. In ein kleines Messingschild war ihr Name eingraviert. Es war kürzlich poliert worden. Clayton läutete. Wir warteten eine ganze Weile. Die Tür öffnete sich, und ich glaube, wir machten beide vor Überraschung einen Schritt rückwärts. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit einem runden kinnlosen Mondgesicht, gekleidet in einen dunklen Anzug mit schwarzer Krawatte und weißem Hemd, stand vor uns. Dem Gesicht nach war er siebzig oder achtzig, aber er stand so gerade, daß er auch jünger hätte sein können. »Ja?« »Ich bin Clayton Blanchard. Ms. Hatch erwartet mich.« »Kommen Sie.« Der Mann wandte sich ab und ging steifbeinig wieder in die Wohnung, als übe er für den Marsch der Zinnsoldaten. Ich schaute Clayton an. »Ich dachte, sie spricht nur mit Frauen?« Bevor er Gelegenheit zu einer Antwort hatte, rief der Zinnsoldat: »Kommen Sie?« Wir hasteten hinein. Ich hatte keine Gelegenheit, einen Blick auf irgend etwas zu werfen, aber meine Nase bemerkte, wie gut es hier roch. »Was ist das für ein Geruch?« »Äpfel?« »Hier herein, bitte.« Die Stimme des Mannes war so gebieterisch, daß ich mir vorkam, als sei ich wieder auf der High School und werde ins Zimmer des Direktors gerufen. Ich sah das Licht, bevor ich das Wohnzimmer betrat. Es war blendend hell und kam in einer weißen Flutwelle durch die Tür. Wir gingen hinein, und ich war verliebt, 66
ehe ich es wußte. Frances Hatchs Wohnzimmer war voll von persischen Teppichen, seltenen Bauhausmöbeln und der größten Katze, die ich je gesehen hatte. Die Teppiche waren in verschiedenen Rottönen gehalten – Rost, Kirsche, Rubin. Sie mischten sich strahlend in den harten Chromglanz der Möbel. Das milderte die Härte, ließ aber auch die einzelnen Möbel in ihrer reinen Schlichtheit hervortreten, fast, als schwebten sie über den verschiedenen Rotnuancen. Hohe Fenster zogen sich die ganze Front entlang und ließen soviel Licht herein, wie der Tag zu bieten hatte. An den Wänden hingen Fotos und Gemälde in großer Zahl. Ich fand keine Zeit, sie anzusehen, bevor eine zweite herrische Stimme rief: »Hier drüben. Ich bin hier.« Als ob sie wüßte, was die Worte bedeuteten, erhob sich die Katze, streckte sich faul und ging hinüber zu Frances Hatch. Sie blieb stehen und schaute zu ihr auf, und der Schwanz peitschte hin und her. »Wie geht es Ihnen, Clayton? Kommen Sie her, damit ich Sie sehen kann.« Er ging zu ihrem Sessel und nahm die große, knochige Hand, die sie ihm entgegenstreckte. »Kalt. Ihre Hände sind immer kalt, Clayton.« »Das liegt in der Familie.« »Na, kalte Hände, warmes Herz. Wen haben Sie da mitgebracht?« Er winkte mich herüber. »Frances, das ist meine Freundin Miranda Romanac.« »Hallo, Miranda. Sie müssen nah herankommen, denn ich kann kaum etwas sehen. Sind Sie hübsch?« »Hallo. Ich bin passabel.« »Ich war immer häßlich; da war also nie eine Frage. Häßliche Leute müssen härter arbeiten, um die Welt auf 67
sich aufmerksam zu machen. Du mußt beweisen, daß es sich lohnt, dir zuzuhören. Haben Sie Irvin kennengelernt?« Ich schaute den Mann mit der großen Stimme an. »Irvin Edelstein, das sind meine Freunde Clayton und Miranda. Setzen Sie sich. Ich kann Sie jetzt besser sehen. Ja, Sie haben wirklich rotes Haar! Dachte ich’s mir doch. Sehr hübsch. Ich liebe Rot. Haben Sie meine Teppiche bemerkt?« »Allerdings. Ich finde es wunderbar, wie Sie dieses Zimmer eingerichtet haben.« »Danke. Es ist mein fliegender Teppich. Wenn ich hier drin bin, habe ich das Gefühl, ich schwebe ein kleines Stück über der Erde. Sie sind also eine Freundin von Clayton. Das ist ein gutes Zeichen. Was sind Sie sonst noch?« »Ich bin auch Buchhändlerin.« »Vorzüglich! Denn darüber möchte ich heute sprechen. Irvin ist hier, um mir zu raten, was ich tun soll. Ich habe sehr kostbare Dinge, Miranda. Wissen Sie, warum ich beschlossen habe, sie zu verkaufen? Weil ich mein Leben lang reich sein wollte. In einem Monat bin ich hundert. Ich denke mir, es ist vielleicht sehr hübsch, mit hundert reich zu sein.« »Was wollen Sie mit dem Geld anfangen?« Es war eine ungezogene Frage, vor allem, nachdem ich gerade erst vorgestellt worden war, aber ich mochte Frances schon jetzt, und ich spürte, daß sie Humor hatte. »Was ich damit anfangen will? Mir ein rotes CadillacCabrio kaufen und damit herumfahren und Männer auflesen. Gott, wie lange ist es her, daß ich mit einem Mann zusammen war? Wissen Sie, wenn Sie in meinem Alter sind, dann denken Sie darüber nach, wer Sie in all den Jahren waren. Wenn man Glück hat, faßt man eine große 68
Zuneigung zu dieser Person. Die Männer, die ich kannte, waren meistens albern, aber sie hatten Mut. Manchmal hatten sie sogar die Sorte Mumm, von der man normalerweise nur träumt. Auf Mumm kommt es an, Miranda. Das hat Kazantzákis mir gesagt. Gott hat uns Mut geschenkt, aber dieser Musik zu lauschen ist gefährlich. Dieser Mann kannte keine Angst. Wissen Sie, wer sein Held war? Blondin. Der größte Hochseilartist, der je gelebt hat. Er ist auf einem Seil über die Niagarafälle gegangen, und auf halbem Wege hat er haltgemacht, um ein Omelett zu braten und zu essen.« »Clayton sagt, Sie haben genug für drei normale Leben erlebt.« »Ja, aber nur, weil ich häßlich war und etwas beweisen mußte. Ich war eine große Liebhaberin, und manchmal hatte ich Mut. Ich habe versucht, die Wahrheit zu sagen, wenn es wichtig war. Das sind die Dinge, auf die ich stolz bin. Jemand wollte, daß ich meine Autobiographie schreibe, aber dies ist mein Leben. Ich will es nicht mit Leuten teilen, denen weniger daran liegt als mir. Außerdem war ich da schon zu alt, um mich noch zu erinnern, ob ich in allem die Wahrheit sagte, und das ist sehr wichtig. Aber Irvin hat mir dieses kleine Maschinchen gegeben, und das ist ein großer Trost.« Sie hielt einen kleinen Kassettenrecorder hoch. »Ich sitze hier und spüre die fliegenden Teppiche unter meinen Füßen, und das Licht vom Fenster ist warm, und wenn mir eine besonders schöne Erinnerung kommt, brauche ich nur auf diesen Knopf zu drücken. Dann erzähle ich der Maschine etwas, woran ich mich schon lange nicht mehr erinnert habe. Gerade heute morgen, kurz bevor Sie gekommen sind, habe ich an ein Picknick gedacht, auf dem ich mit den Hemingways war, bei Auteuil. Lewis Gallantiere, He69
mingway und der verrückte Harry Crosby. Wie diese beiden Männer sich je vertragen konnten, war mir ein Rätsel, aber es war ein schöner Tag. Wir haben westfälischen Schinken gegessen, und Harry hat dreitausend Franc bei den Pferden verloren.« Erstaunt schaute ich Clayton an und formte mit dem Mund das Wort: »Hemingway?« »Ich denke oft an Hemingway. Wissen Sie, die Leute hören nicht auf, über ihn und Giacometti zu reden, aber sie beschreiben beide immer auf eine so verzerrte, aufgedrehte Weise. Die Leute möchten gern glauben, daß alle wild und hemmungslos waren, weil es in ein romantisches Bild paßt. Aber Gallantiere hat vor seinem Tod etwas gesagt, das man nicht vergessen darf: All die großen Künstler haben, als wir in Paris lebten, jeden Tag ihres Lebens fleißig gearbeitet. Die Leute möchten gern glauben, daß diese Bücher und Bilder aus dem Äther kamen, aus der Luft. Aber ich erinnere mich vor allem daran, wie hart sie gearbeitet haben. Giacometti? Der hätte Sie ermordet, wenn Sie in sein Atelier gekommen wären, solange er arbeitete.« Clayton hat mir im Laufe der Jahre manches Wunderbare gegeben, aber daß er mich mit Frances Hatch bekanntgemacht hat, war das Wichtigste. An jenen ersten Vormittag mit ihr werde ich mich erinnern, solange ich lebe. Danach trafen wir uns oft, sowohl, um über den Verkauf ihrer Sammlung zu reden, als auch, weil ich zu gern in diesem Zimmer war, mit ihr und ihren dichtgedrängten Erinnerungen. Auf dem College hatte ich ein Gedicht von Whitman gelesen, über einen alten Mann in einem Boot, der angelt. Er hat ein erfülltes Leben gelebt, aber jetzt ist er müde und wartet friedlich auf den Tod. Bis der kommt, ist er damit zufrieden, dazusitzen und zu angeln und sich zu erinnern. 70
Schon als Kind, heißblütig und voller Flausen, war ich bezaubert von dem Gedanken, ein so erfülltes Leben zu führen, daß es am Ende nichts mehr gibt, was man tun möchte, und man bereitwillig stirbt. Als wir ihre Wohnung an jenem Tag verließen, war mir zumute, als wäre ich in einem Raum voll reiner Klarheit und Verständnis gewesen, wenn es so etwas geben kann. Als wären das konkrete Substanzen, die ich eine Weile in der Hand hatte halten dürfen, und als hätte ich gespürt, wie schwer sie waren und wie sie sich anfühlten. Das bewies, daß es so etwas gab, und es beschwingte mich. Wie unter Hochspannung kehrte ich in mein Geschäft zurück. Ich schwirrte durch den Tag und wünschte mir nur, ich hätte jemanden Wichtiges, um dieses Erlebnis mit ihm zu teilen. Ich war froh über die Party am Abend, froh, daß ich unter Leute gehen und plaudern und auf ein wenig von dem alltäglichen Zauber hoffen konnte, den Frances ihr Leben lang gefunden hatte. Ich war schon öfter zu Dinnerpartys in Dagmar Breeces Wohnung gewesen. Häufig drängten sich dort ebenso viele interessante wie fremde Leute. Im Gegensatz zu Jaco, der es nicht leiden konnte, wenn ihm jemand die Schau stahl, waren Dagmar und ihr Freund Stanley bescheiden und vernünftig genug, um eine faszinierende Gesellschaft einzuladen und es ihr zu überlassen, dem Abend seine Richtung zu geben. Angenehmerweise wurde auch nicht erwartet, daß man sich auftakelte oder eine Vorstellung hinlegte. Große Auftritte wurden mißbilligt, und Egos durften nur dann ungehindert blühen, wenn sie ansprechend waren. Ich fuhr um fünf nach Hause und zog mich um. Das Telefon klingelte, als ich beim Ankleiden war. Es war Zoe; sie wollte plaudern. Wir unterhielten uns zu lange, und ich hatte kaum noch Zeit, mich fertigzumachen. Zum Glück war das Haus, in dem Dagmar und Stan wohnten, nur ein 71
paar Straßen entfernt – allerdings in einer entschieden hübscheren Gegend. Einer der Gründe, weshalb ich gern in Manhattan wohnte, war, daß die Stadt die Stimmung mit einem teilte, sowie man zur Tür hinaustrat. Wenn man es eilig hatte, hatten auch alle andern es eilig, sogar die Tauben. Alles hatte das gleiche Tempo und das gleiche Gefühl, dringend dahin kommen zu müssen, wohin man gerade wollte. Wenn man Zeit totzuschlagen hatte, gab sie einem mit Vergnügen etwas anzuschauen oder zu tun, und mühelos konnte man damit ganze Tage verbringen. Ich stimmte den Leuten nicht zu, die meinten, Manhattan sei eine kalte, gleichgültige Stadt. Natürlich war es schroff, aber es war auch verspielt und manchmal sehr komisch. Auf dem ganzen Weg bis zu Dagmars Haus hatte ich grüne Ampeln. Als ich an ihrem Block angekommen war, sagte ich ein kleines Dankeschön. Sekunden später schlenkerte ein Verrückter vorbei, der einen Kinderwagen voller Müll vor sich herschob. Der Mann lächelte wortlos und lüftete einen imaginären Hut vor mir, als habe er als Sprecher der Stadt meinen Dank entgegengenommen. An der Rückwand des Aufzugs befand sich ein großer Spiegel. Auf der Fahrt nach oben schaute ich hinein. Mein Haar war kürzer als einen Monat zuvor. Warum schneiden Frauen sich das Haar immer kürzer, je älter sie werden? Weil sie sich nicht mehr damit abgeben wollen? Weil nur wenige Gesichter jenseits eines gewissen Alters einen so luxuriösen Rahmen vertragen? Wenn ich genau hinschaute, sah ich mehr Grau in meinem Haar, als ich mit dreiunddreißig erwartet hatte. Die Falten um den Mund waren okay, aber die Schönheitscremes, die ich verwendete, wurden immer teurer, weil sie sehr viel schwerer zu arbeiten hatten. Ich hob beide Hände und drehte sie hin und her, um zu sehen, wie sie sich mach72
ten. Der Aufzug hielt an. Ich ließ die Hände sinken und drehte mich rasch um. Die Tür öffnete sich, und ich trat hinaus in den Flur. Zu meiner Überraschung stand Dagmar mit einem Glas Champagner in jeder Hand vor ihrer Wohnung. »Miranda! Da sind Sie.« »Was tun Sie denn hier draußen?« »Ich verstecke mich vor den Männern. Sie sind da drin und reden vom Boxen.« »Sind denn keine Frauen da?« »Noch nicht. Männer kommen immer zu früh zu Partys, wenn sie wissen, daß hinreißende Frauen dasein werden.« »Sie haben doch hoffentlich andere Frauen eingeladen.« »Natürlich. Auch Paare. Ich würde Sie doch nicht rettungslos den Löwen vorwerfen.« »Jetzt bin ich nervös.« »Müssen Sie nicht sein. Legen Sie nur ab und spazieren Sie hinein. Kommen Sie.« Sie reichte mir ein Glas, und wir gingen hinein. Anders als Frances Hatchs Wohnung war Dagmars und Stans sehr spärlich eingerichtet. Jaco war einmal dagewesen und hatte boshaft erklärt, man könne die ganze Bude mit einem Feuerwehrschlauch und drei Akopads saubermachen. Das stimmte nicht, aber gemütlich war es nicht, und ich habe nie verstanden, wie zwei so warmherzige Menschen sich in einem Hightech-Iglu wohl fühlen konnten. Als ich durch die Diele zum Wohnzimmer ging, hörte ich, wie ein paar Männer in Gelächter ausbrachen. Das Wohnzimmer war voller Leute, aber das Verhältnis war ungefähr halbe-halbe. Bei einem schnellen Rundblick erkannte ich etliche, und einigen winkte ich zu. Die unbekannten Männer, die ich entdeckte, sahen auf den ersten 73
Blick gut, aber uninteressant aus. Sie hatten sich die Haare ausnahmslos entweder im Gangsterstil mit Gel glatt nach hinten gekleistert oder dem Chic des Augenblicks entsprechend schulterlang wachsen lassen. Ich wußte, daß es eine unfaire Einschätzung war, aber so ging ich an solche Dinge heran: schuldig bis zum Beweis der Interessantheit. Dagmar drückte meine Schulter und verschwand, um mit dem Caterer zu reden. Ein Mann, den ich einige Monate zuvor dort kennengelernt hatte, kam heran und stellte sich vor. Er war ein Broker, der auf Eisenbahnaktien spezialisiert war. In den nächsten paar Minuten plauderten wir über Bahnfahrten, die uns gefallen hatten. Mir war es recht, weil er die meiste Zeit redete und ich mich weiter umschauen konnte. Ein Kellner ging mit einem Tablett Horsd’œuvres herum. Ihr angenehmer Duft erinnerte mich daran, daß ich an diesem Tag nur ein Ding Dong und einen Becher Kaffee im Taxi mit Clayton zu mir genommen hatte. Der Eisenbahnmann und ich nahmen etwas, das aussah wie Keks mit Kaviar und Ei, und steckten es uns in den Mund. Das Horsd’œuvre war so mörderisch scharf und würzig, daß es beim Kontakt explodierte. Ich war gerade noch geistesgegenwärtig genug, mir die Hand vor den Mund zu schlagen, bevor ich losquiekte wie ein Kaninchen am Spieß. Er tat fast das gleiche. Wir starrten einander an. Es war so unerwartet und schockierend. Gottlob wühlte er aus seiner Tasche ein Päckchen Papiertaschentücher hervor und reichte mir eins. Ohne zu überlegen, spuckten wir die Bomben in die Taschentücher und wischten uns den Mund ab. Ich glaube, wir hätten vielleicht davonkommen können, aber ein paar Leute hatten uns doch gesehen und beobachteten uns. Er schaute mich an und machte ein Geräusch wie eine Lokomotivpfeife: »Huu-UU-huu!« 74
Ich lachte und gab ihm einen Stoß. Meine Augen tränten, mein Mund brannte wie Feuer, und ich war höllisch verlegen, aber ich konnte nicht aufhören zu lachen. »Alle starren uns an!« »Na und? Gerade ist mein ganzes Leben an mir vorbeigezogen.« Es stimmte, daß alle uns anstarrten, aber das ließ uns nur noch lauter lachen. Stan kam herüber und fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei. Wir erzählten es ihm, und lieb, wie er war, rannte er dem Kellner hinterher, um zu verhindern, daß er noch weiteren Leuten seine Horsd’œuvres anbot. Wer hätte geahnt, daß dieser feurige Augenblick alles verändern sollte? Eine halbe Stunde später wurde zum Essen gebeten. Als wir ins Eßzimmer gingen, kam ein Mann, den ich nicht kannte, zu mir und wollte wissen, ob mir auch nichts fehlte. Er war in den Vierzigern, hatte einen dichten, widerspenstigen braunen Haarschopf à la John Kennedy und ein freundliches, breites Lächeln, das ihn sofort sympathisch machte, wer immer er sein mochte. »Mir geht’s gut. Ich habe nur eben ein Horsd’œuvre aus der Hölle gegessen, und das hat mich gelähmt.« »Sie sahen aus, als hätten Sie eine Geiß gesehen.« Ich stutzte. »Sie meinen einen Geist?« Wieder das Lächeln. »Nein, als hätten Sie eine Geiß ins Zimmer kommen sehen! So etwa.« Und im nächsten Augenblick produzierte er einen schwachsinnigen Gesichtsausdruck, der mich kichern ließ. »So schlimm?« »Nein, eindrucksvoll! Ich bin Hugh Oakley.« »Miranda Romanac.« »Das ist meine Frau Charlotte.« 75
Sie sah umwerfend aus mit dieser einzigartigen Schönheit, die sich mit dem Alter nur vertieft und interessanter wird. Ihre Augen waren preußisch-blau, ihre Haar so weißblond und wellig wie eine Meringue. Mein erster Eindruck war, daß alles an Charlotte Oakley nordisch und … weiß aussah. Bis auf ihren Mund, der üppig war und erotisch. Wie viele Männer hatten schon von diesem Mund phantasiert? »Hallo. Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht.« »Ich dachte, ich hätte eine Leuchtkugel gegessen.« »Sie müssen ein kleines Gebet an den heiligen Bonaventure von Potenza sprechen, bevor Sie heute abend schlafen gehen«, sagte Hugh Oakley. »Wie bitte?« »Das ist der Heilige, den man gegen Erkrankungen der Eingeweide anruft.« »Hugh!« Charlotte zupfte ihn am Ohrläppchen. Aber sie lächelte, und – oh, welch ein Lächeln! Wäre ich ein König gewesen, ich hätte mein Reich dafür gegeben. »Ein Hobby meines Mannes ist das Studium der Heiligen.« »Meine neuen Lieblinge sind Godeleva, die vor einen wunden Hals beschützt, und Homobonus, der Schutzpatron der Schneider.« »Jetzt komm, Sankt Hugh, laß uns essen.« »Nicht vergessen – Sankt Bonaventure von Potenza.« »Ich bete ja schon.« Er berührte meinen Ärmel und entfernte sich mit seiner Frau. Wir gingen weiter zu unseren Plätzen an den Tischen. Zufällig waren Hugh und ich an demselben, aber zwischen uns saßen Leute. Leider fand mein Nachbar Gefallen an mir und stellte mir während der ersten beiden Gänge lauter persönliche 76
Fragen, die ich ihm nicht beantworten wollte. Manchmal schaute ich zu Hugh Oakley hinüber und sah, daß er mit einem wohlbekannten Galeriebesitzer aus SoHo plauderte. Sie schienen sich köstlich zu amüsieren. Ich wäre lieber bei ihrer Unterhaltung dabeigewesen als bei meiner. Weil ich nicht aufpaßte, was der Kerl zu meiner Rechten sagte, merkte ich es auch nicht, als er anfing, mich beim Sprechen anzufassen. Nichts Schlimmes – nur eine Hand auf meinem Arm, und ein paar Sätze später seine Finger an meinem Ellenbogen, um eine Aussage zu unterstreichen –, aber ich wollte es nicht haben. Einmal, als seine Hand zu lange auf meiner liegenblieb, starrte ich auf unsere Hände, bis er seine langsam wegzog. »Ups. Entschuldigung.« »Schon gut. Ich habe Hunger. Können wir essen?« Das Schweigen, das jetzt folgte, war mir willkommen. Das Essen war gut, und mein Hunger war wieder erwacht. Ich hieb in das Hühnchen mit Wasweißich und begnügte mich damit, zu essen und die Unterhaltung in meinem Bewußtsein ein- und ausfließen zu lassen. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich nicht gehört, was Hugh sagte. »James Stillman wäre einer der Besten gewesen! Es war eine Tragödie, daß er sterben mußte.« »Ich bitte Sie, Hugh, der Kerl war unkontrollierbar. Denken Sie doch an die Katastrophe mit Adcock.« Hughs Stimme klang zornig und laut. »Das war nicht seine Schuld, Dennis. Der Ehemann der Adcock hat uns alle zum Narren gehalten.« »Ja, und Ihren Freund Stillman ganz besonders.« Ich beugte mich so weit vor, daß meine Brust den Tisch berührte. »Sie kannten James Stillman?« 77
Sie sahen mich an. Hugh nickte. Der andere Mann schnaubte abschätzig. »Natürlich, wer kannte ihn nicht? Nach der Adcock-Sache kannte ihn halb New York.« »Was war denn das?« »Sagen Sie’s ihr, Hugh. Sie sind sein großer Verteidiger.« »Verdammt, das bin ich auch!« Er funkelte vor Zorn, aber als er mit mir sprach, senkte sich seine Stimme wieder auf ein normales Maß. »Wissen Sie etwas von der Malerin Lolly Adcock?« »Natürlich.« »Gut. Tja, vor ein paar Jahren behauptete ihr Ehemann, er habe zehn Gemälde von ihr, die noch niemand je gesehen habe. Er wollte sie verkaufen und nahm Kontakt mit Bartholomew’s auf …« »Mit dem Auktionshaus?« »Ja. Adcock wollte, daß sie die Versteigerung organisierten. James arbeitete bei Bartholomew’s. Man hielt dort sehr große Stücke auf ihn; also schickten sie ihn nach Kansas City, um festzustellen, ob die Bilder echt waren.« Der andere Mann schüttelte den Kopf. »Und in seinem großen Enthusiasmus machte Mr. Stillman das Geschäft mit dem gerissenen Mr. Adcock. Nur stellte sich dann heraus, daß die Bilder Fälschungen waren.« »Es war ein ehrlicher Irrtum!« »Es war ein dummer Irrtum, und das wissen Sie auch, Hugh. Sie hätten es doch nie so gemacht. Stillman war berühmt dafür, daß er Hals über Kopf agierte. Hals über Kopf. Hals über Adcock. Ist mir noch nie in den Sinn gekommen. Sehr passend.« »Dann erklären Sie mir, wie er den Messerschmidt-Kopf gefunden hat, der hundert Jahre lang verschwunden war.« 78
»Anfängerglück. Ich brauche noch etwas zu trinken.« Der Mann winkte einem Kellner. Als er seine Bestellung aufgab, ergriff ich meine Chance. »Kannten Sie ihn gut?« »James? Ja, sehr gut.« »Könnten wir … äh, entschuldigen Sie, aber hätten Sie was dagegen, wenn wir die Plätze wechseln? Ich würde Hugh wirklich gern ein paar Fragen stellen.« Der Galeriebesitzer nahm seinen Teller. Während wir tauschten, fragte er: »Waren Sie auch ein Stillman-Fan?« »Er war mein Freund auf der High School.« »Wirklich? Ich wußte nicht, daß er eine Vergangenheit hatte.« Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare sträubten. »Er war ein guter Mann.« »Keine Ahnung. Ich hatte nie Lust, Zeit mit ihm zu verbringen.« Als ich mich hinsetzte, war ich so wütend, daß ich nicht sprechen konnte. Hugh tätschelte mir das Knie. »Achten Sie nicht auf Dennis. Er braucht Sankt Ubald.« »Wer ist das?« »Der Schutzpatron gegen die Tollwut. Erzählen Sie mir von sich und James.« Wir redeten während des restlichen Essens und während des Desserts. Ich aß keinen Bissen mehr. Hugh Oakley war Kunstexperte. Er reiste in der Welt umher und sagte den Leuten, was sie besaßen oder was sie kaufen sollten. Als ich ihm so zuhörte, verstand ich bald, weshalb er so jung aussah. Seine Begeisterung für seine Arbeit war ansteckend. Seine Erzählungen von seltenen oder wunderbaren Dingen, die er ausgegraben hatte, waren 79
Geschichten von einem Jungen mit einer Schatzkarte und einem Herzen voller Hoffnung. Er liebte seine Arbeit. Und ich liebte es, ihn davon erzählen zu hören. Vor Jahren hatte er mehrere Vorträge an der Tyler School of Art in Philadelphia gehalten, und dort hatte er James kennengelernt. Er beschrieb ihn als einen jungen Mann voller Ratlosigkeit, der aber davon überzeugt war, daß etwas Bedeutsames auf ihn wartete. Etwas, das eines Tages aus heiterem Himmel zu ihm kommen und ihn heimführen würde. »Nach meinem letzten Vortrag kam er zu mir und sah so verwirrt aus, daß ich beunruhigt war. Ich fragte ihn, ob ihm etwas fehle. Aber er konnte immer nur sagen: ›Ich will etwas darüber wissen, Ich muß mehr darüber wissen.‹ Ich hatte das gleiche erregende Gefühl an der Columbia verspürt, als ich Federico Zeri sprechen hörte. Kennen Sie sein Buch Behind the Image? Das müssen Sie lesen. Ich schreibe Ihnen den Titel auf.« Er schob eine Hand in die Tasche, holte ein Notizbuch aus Connolly-Leder und einen silbernen Drehbleistift hervor und schrieb den Titel und den Namen des Autors in Blockbuchstaben von ausgeprägter Eigenart auf. Erst später erfuhr ich, daß diese Schriftart Bremen hieß: Ein weiteres von Hugh Oakleys zahlreichen Hobbys war es, Gedichte und Geschichten, die ihm gefielen, akribisch in verschiedenen Schrifttypen zu kopieren und sie dann wie ein Mönch aus dem Mittelalter mit Farben zu illuminieren, die er selbst herstellte. Ich war so gefangen von dem, was er sagte, daß es eine Weile dauerte, bis ich merkte, daß ich ihn vor den übrigen Gästen mit Beschlag belegte. Besorgt fragte ich mich, was seine Frau denken mochte. Ich schaute mich um und sah erleichtert, daß sie in eine Unterhaltung mit Dagmar Breece vertieft war. 80
Irgendwie waren wir von James abgekommen. Aber ich mußte so viel wissen, wie Hugh bereitwillig erzählen würde. »Was ist James eigentlich genau zugestoßen?« »Das idiotische Herz.« »Was meinen Sie damit?« »›Hoffnung schimmert im idiotischen Herzen.‹ Das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Majakowski. Seine Freundin hatte diese Worte – das idiotische Herz – innen auf das Handgelenk tätowiert, wie ein Armband. Können Sie sich das vorstellen? Aber wir leben ja im Zeitalter der Tattoos. Sie hieß Kiera Stewart. Sie studierte an der Temple. Eine wunderschöne Schottin aus Aberdeen. James war verrückt nach ihr, aber man brauchte sie nur einmal zu sehen, um zu wissen, daß sie ein Meer von schlechten Nachrichten war. Frauen wie sie beschenken einen Mann in den ersten paar Monaten wunderbar, aber wenn die Beziehung dann weitergeht, nehmen sie alles Stück für Stück wieder zurück. Nach einer Weile fragt man sich, ob es all die tollen Dinge wirklich gegeben hat. Aber inzwischen ist man so scharf darauf und auf all die kleinen köstlichen Brosamen, die sie einem zuteilt, daß es fast wie eine Drogensucht ist. Das Tragische war, daß James um die Zeit, als sie einander kennenlernten, gerade aufzublühen begann. Er hatte herausgefunden, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Und er war so gut darin, daß die richtigen Leute bereits ein Auge auf ihn geworfen hatten und wissen wollten, was er als nächstes tun würde. Das Gute ist immer ein Feind des Besseren. Von Anfang an besaß er die seltene Fähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden. Das Dumme war, in unserer Branche kommen die Erkenntnisse oft langsam und nur durch penible 81
Detektivarbeit. James wollte seine Erfolge immer sofort, in diesem Augenblick.« Hugh schüttelte den Kopf. »Er hat einmal gesagt, er müsse eine Menge beweisen, aber er wisse nicht, wem. Also passierte alles auf einmal. Nicht viele Leute können damit fertigwerden. Sein Stern war im Aufgehen, er hatte eine wilde Frau kennengelernt, die ihn rotieren ließ, und dann beauftragten seine Chefs ihn, die Adcock-Bilder zu begutachten. James hielt sich für unbesiegbar. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob das stimme. Dann brach alles zusammen. Er beging einen großen Fehler. Der Ehemann der Adcock erwies sich als cleverer Gauner, aber er war nicht clever genug. Der ganze Handel flog James um die Ohren. Das war schon schlimm genug, aber dann bekam Kiera Wind von dem, was da passierte. Sie teilte ihm am Telefon mit, daß die Beziehung beendet sei. Am Telefon. Das hat Klasse, nicht wahr? Ein Miststück der Platinklasse. Mitten in der Nacht stieg er ins Auto und fuhr von Philadelphia herunter, um mit ihr zu sprechen, aber er kam nie an. Das ist die Geschichte, Miranda. Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht mehr erzählen kann. Er war mein großer Favorit.« »Sie haben Ihr Dessert nicht angerührt!« Erschrocken fühlte ich eine feste Hand auf meiner Schulter. Als ich aufschaute, funkelte Dagmar uns an. »Entschuldigung. Wir haben uns unterhalten …« »Es gibt keine Entschuldigung. Das ist eine Trilogie von Joghurt, und ich mußte einen Mann foltern, damit er sie machte. Also wird gegessen!« Sie blieb stehen, bis wir unsere Löffel zur Hand nahmen und anfingen zu schaufeln. Für mich schmeckte es wie Joghurt. Alle andern waren fertig und standen vom Tisch auf. Charlotte Oakley kam vorbei. 82
»Worüber redet ihr zwei? Es sieht aus, als ob ihr euch atomare Staatsgeheimnisse erzähltet.« Sie lächelte, und ihre Stimme klang nur freundlich. Eine schöne, nette Frau. Aber wieso sollte sie auch beunruhigt sein? Sie hätte in dieser Wohnung jeden Schönheitswettbewerb gewonnen. Wann immer ich zu ihr hinsah, merkte ich, daß mindestens zwei Männer sie anstarrten. Wer hätte es auch nicht getan? »Charlotte, es ist wirklich unglaublich! James Stillman war Mirandas Freund auf der High School.« »Tatsächlich? Ich mochte James sehr. Er erinnerte mich an Hugh, als er jung war.« Das war es! Ich hatte nicht genau in Worte fassen können, weshalb ich Hugh Oakley so sympathisch fand. Kaum hatte sie es ausgesprochen, wurde mir klar, daß die Anziehungskraft ihres Mannes auf mich zu einem großen Teil darauf beruhte, daß er den gleichen donnernden Elan, die gleiche Neugier zu besitzen schien wie James. »Ich hatte ihn seit der High School nicht mehr gesehen. Dann war ich auf einem Klassentreffen und erfuhr dort, daß er tot war.« Sie runzelte die Stirn. »Ein schlechter Ort für eine solche Neuigkeit. James war der verlorene Sohn, der immer wieder durch die Hundetür zurückgeschlichen kam. Der böse Junge im Sinne des Wortes, und immer wieder eine Freude! Immer, wenn wir ein bißchen Zeit miteinander verbrachten, ließ er meine Unterwäsche restlos schmelzen. Ich wäre jederzeit mit ihm durchgebrannt. Aber diese Freundin, Kiera! Von Null auf Miststück in zwei Sekunden.« »Was ist aus ihr geworden?« »Warten Sie, ich habe ein Bild von den beiden.« »Wirklich?« Hugh war offenbar genauso überrascht wie ich. 83
»Aber natürlich? Als wir alle auf Block Island waren.« Charlotte hatte eine kleine Handtasche, aber darin klemmte eine große Brieftasche. Sie zog sie hervor und wühlte darin. »Hier bitte.« Sie reichte mir ein Foto. Ich nahm es zwar, aber ich konnte es nicht sofort anschauen. »Was ist?« »Es ist schwer – das Leben, das ich nie gelebt habe, ist hier. Auf diesem Stück Papier.« »Ach was. Na los, Miranda. Dann verfolgt es Sie auch nicht.« Ich holte tief Luft und schaute hin. James, Charlotte und Kiera lächelten in die Kamera. Er hatte kurze Haare, was ein Schock war, denn als wir zusammen waren, hatten sie ihm bis auf die Schultern gereicht. Er sah älter aus. Ich sah Falten, und das hagere Gesicht, das er auf der High School gehabt hatte, war ein bißchen voller geworden, aber da war immer noch das gleiche Lächeln mit den weißen, weißen Zähnen. Lange Künstlerhände. Meine Augen füllten sich. »Ich halte das nicht aus.« »Er war großartig. Sie hätten ihn geliebt.« »Das habe ich.« Ich schaute Charlotte an und versuchte zu lächeln.
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babe ruths kleiner kopf Im darauffolgenden Monat dachte ich nicht viel an die Oakleys. Das Geschäft wurde lebhafter, und ich lernte einen Mann kennen, der es in nur vier Dates von »Vielversprechend!« zu »Vergiß es!« schaffte. Do(u)g Auerbach kam, und wir verschlangen einander ein Wochenende lang. Zweimal ging ich zu Frances Hatch zum Tee. Nach dem zweiten Mal sagte sie, hinter meinem Gesicht sitze ein Gehirn, und ich gefiele ihr. Das tat mir sehr gut. Ich sagte, sie gefalle mir auch. Spielerisch antwortete sie: »Aber möchten Sie lieben oder geliebt werden?« Lange Zeit flatterte mir die Frage im Kopf herum wie Vögel, die in ein Gebäude geraten sind und nicht mehr hinausfinden. Doug hatte erzählt, daß er in Deutschland im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Leute gesehen habe, für die Amputierte ein sexueller Fetisch sind. Der Bericht sei sehr ruhig, informativ und frei von jeder Attitüde gewesen. Sie hatten Ausschnitte aus Amputiertenpornos, -heften, -clubs und sogar -comics gezeigt. »Ich bin ja eher cool. Du weißt schon, ich versuche, andere nicht zu verurteilen und so offen wie möglich zu sein. Aber als ich diesen Film sah, fiel mir doch der Unterkiefer herunter. Ich habe mich immer wieder gefragt: Lebe ich auf demselben Planeten wie diese Leute?« Frances redete gern über Sex. Also erzählte ich ihr davon. »Was ist los mit Ihnen, Miranda?« »Was meinen Sie?« 85
»Sie klingen so prüde. Würden Sie mit einem Mann, dem ein Bein oder ein Arm fehlt, nicht ins Bett gehen, wenn Sie ihn liebten?« »Doch, natürlich.« »Und mit einer Frau?« »Ich kann mir nicht vorstellen, eine Frau auf diese Weise zu lieben.« »Mit einem Kind?« »Frances, Sie wollen mich nur provozieren.« »Wie alt ist ein Kind für Sie? Wie alt müßte es sein, bevor Sie mit ihm schlafen würden?« »Ich weiß nicht. Siebzehn?« »Ha! Viele Männer haben mit mir geschlafen, bevor ich siebzehn war, und das ist achtzig Jahre her.« »Ja, aber verglichen mit den meisten Leuten haben Sie ein ziemlich einzigartiges Leben geführt.« »Na und? Wissen Sie, wann ich jemanden alt genug finde, um mit ihm zu schlafen? Wenn er interessant wird.« Sie hielt einen Stock in der Hand und klopfte damit auf den Boden. »Ich glaube, mit diesem Programm sollten Sie nicht fürs Weiße Haus kandidieren, Frances. Man könnte Sie auf den Scheiterhaufen bringen.« »Ich weiß. Ich bin zu alt. Mein Herz lebt nicht mehr hier. Deswegen sind Erinnerungen so gut: Man wacht morgens auf und kann sie auftragen wie eine Handcreme. Auf diese Weise können die Tage nicht austrocknen. Hören Sie, Miranda, ich muß Sie um einen Gefallen bitten. Kennen Sie die Malerin Lolly Adcock?« Sofort sah ich Hugh Oakleys Gesicht vor mir. »Komisch, daß Sie danach fragen. Gerade neulich hat jemand von ihr gesprochen.« 86
»Eine jämmerliche Frau, aber eine ziemlich gute Malerin. Ich habe ein kleines Aquarell von ihr, das ich verkaufen möchte. Wären Sie bereit, sich zu überlegen, wie ich das am besten anfange?« Ich erzählte ihr von James Stillman, von seinem Geschäft mit der Adcockschen Hinterlassenschaft, und was danach mit ihm passiert war. »Schade, daß Sie einander nicht begegnet sind, als Sie älter waren; wahrscheinlich wären Sie glücklich verheiratet und hätten ein Haus voller Kinder. Aber so geht es: Immer wieder lernen wir Leute zur falschen Zeit kennen, machen wir Erfahrungen zur falschen Zeit. Die größte Liebe meines Lebens war ein Mann namens Shumda, aber das wußte ich erst, als ich zehn Jahre klüger war. Als wir zusammen waren, war ich eine Göre, die verschiedene Männer für rasende Liebesaffären proben ließ. Was ich suchte, war Hitze, nicht Licht. Sie kennen das, wie man zurückschaut und sagt: ›Mann, war ich mit siebzehn blöd.‹ Aber wenn Sie es nun andersherum betrachten – die siebzehnjährige Miranda schaut jetzt nach vorn zu Ihnen. Was würde sie wohl zu dem sagen, was aus Ihnen geworden ist?« »Was würde mein siebzehnjähriges Ich von mir halten, so wie ich heute bin?« Ich lachte. »Genau. Wahrscheinlich würde sie toben vor Wut, weil Sie diesen James nicht geheiratet und ihn gerettet haben.« Hugh hatte mir auf der Party seine Visitenkarte gegeben. Ich rief ihn an, und wir verabredeten uns. Frances gab mir das Bild von Lolly Adcock, damit ich es ihm zeigen konnte. Ich war überrascht, daß sie bereit war, mir etwas so Wertvolles anzuvertrauen. »Sie können’s nur stehlen. Aber wenn Sie das tun, können Sie nicht mehr wiederkommen und mich besuchen. 87
Ich an Ihrer Stelle, ich würde mich lieber kennen als beklauen.« Am Tag vor unserem Termin rief Hugh an und sagte, er müsse unverzüglich nach Dublin. Wir könnten das Meeting absagen, oder er könnte einen Mitarbeiter schicken. Ich sagte, der Mitarbeiter wäre mir recht. Falls nötig, könnten wir uns ja nach seiner Rückkehr treffen. Als er auflegte, war ich enttäuscht, aber mehr nicht. Eine Stunde vor dem Termin hatte ich eine Auseinandersetzung mit dem Mann, mit dem ich gerade ausging. Er kam ins Geschäft und war ganz aufgeregt wegen einer neuen Videokamera, die er sich eben gekauft hatte. Keine fünfzehn Minuten später beschimpfte er mich. Ich sei kalt und berechnend. Ich hätte ihn ausgequetscht wie eine Tube Zahnpasta und dann in den Mülleimer geworfen. Ich ließ ihn reden, bis er nur noch blubberte. »Ich habe jetzt einen Termin. Ich muß gehen.« »Das war’s? Mehr fällt dir dazu nicht ein?« »Hast du nicht schon alles gesagt?« Ich stand auf. Ich weiß nicht, was mein Gesicht in diesem Augenblick ausdrückte. Mein Herz und mein Magen waren ganz ruhig. Mehr als sonst etwas war ich froh, daß es dazu gekommen war. Jetzt brauchte ich nicht mehr diplomatisch um ihn herumzuscharwenzeln. Ich hätte vermutet, daß mein Gesicht völlig ausdruckslos war. Aber wer weiß? Was immer da war, seine Augen weiteten sich, und er schlug mir ins Gesicht. Ich taumelte rückwärts und stieß gegen einen stählernen Aktenschrank. Die Kante traf mich ins Kreuz. Mit einem Aufschrei fiel ich auf die Knie. Ich sah, wie seine Füße auf mich zukamen. Ich krümmte mich zusammen, denn ich war sicher, daß er mich prügeln würde. 88
Er fing an zu lachen. »Jetzt sieh dich an! Genau da gehörst du hin, auf deine verdammten Knie. Laß mich eine Aufnahme machen. Ich möchte das nicht vergessen.« Ich hörte ein Sirren, und als ich angstvoll hochblickte, sah ich, daß er die Kamera vor dem Auge hatte und auf mich gerichtet hielt. »Das muß ich haben! Was für eine Erinnerung!« Es dauerte ewig, aber ich hatte nicht vor, etwas zu tun, womit ich ihn noch wütender gemacht hätte. »Miranda, steh doch auf, Honey. Du brauchst nicht vor mir zu betteln. Du bist doch eine emanzipierte Frau.« Er ließ die Kamera sinken und ging hinaus. Meine Mutter pflegte mich zu schlagen. Als ich längst erwachsen war und mit ihr über solche Dinge reden konnte, fragte ich sie, warum. Sie bestritt, daß sie es je getan hatte. Ich sagte: »Weißt du nicht mehr, wie ich einmal deine Handtasche kaputtgemacht habe und wie du mich geohrfeigt hast?« »Ach so, ja, natürlich, das meinst du. Dad hatte mir diese Tasche geschenkt.« »Ich weiß, Mom, aber du hast mich geschlagen!« »Das hattest du verdient, mein Schatz. Das ist kein Schlagen.« Als ich ganz erwachsen, starr vor Angst, auf den Knien lag und fürchtete, er könne zurückkommen und mir noch Schlimmeres antun, fragte ich mich, ob ich auch das verdient hatte. Ich hätte die Polizei rufen können – aber was würde er dann womöglich tun? Ich fühlte mich hilflos. Im Geschäft war ich so hart und klar und setzte mich in den meisten Situationen mühelos durch, aber die meisten Situationen 89
ängstigten einen auch nicht bis ins Mark, dort, wo noch immer ein Kind lebt und sich vor den realen Ungeheuern duckt, die auf Erden wandeln. Hugh Oakleys Büro war in der 61st Street. Trotz dem, was gerade geschehen war, ging ich hin. Ich wußte, wenn ich es nicht täte, würde ich nach Hause gehen und mich fürchten. Ich brauchte etwas zu tun. Diese Besprechung war nicht so wichtig, daß ich nicht, sollte ich mittendrin wieder anfangen zu weinen, schnell wieder gehen könnte. Als ich aus dem Aufzug trat, atmete ich zweimal tief durch und versuchte mich zusammenzureißen. In den nächsten paar Minuten konnte ich kühl, knapp und professionell sein. Konnte versuchen, auf diese Art meiner Angst aus dem Weg zu gehen. Aber wenn es vorbei wäre, würde ich in die Welt zurückkehren müssen, in der er lebte. Was konnte ich daran ändern? Auf der Tür stand schlicht OAKLEY ASSOCIATES, in den gleichen Lettern, die Hugh benutzt hatte, um mir auf der Party den Buchtitel aufzuschreiben. Als ich die Hand auf den Messingtürknauf legte, hörte ich ganz schwach eine Geige im Büro, die etwas Munteres spielte. Freude durchzuckte mich. Die unerwartete Musik sagte mir, daß es immer noch hübsche Dinge auf Erden gab. Ich trat ein. Das Vorzimmer war voller Antiquitäten und Gemälden, aber von einer Empfangsdame war nichts zu sehen. An dem Telefon auf dem Schreibtisch leuchteten mehrere Lampen. Die Musik wurde viel lauter. Ich hörte jetzt auch eine Flöte und einen Baß neben der Violine. Ich verstehe nichts von irischer Musik, aber dem Hüpfen und Fließen nach hatte ich so eine Ahnung. Ich ging ein paar Schritte ins Büro hinein und rief zögernd: »Hallo?« Nichts. Noch ein paar Schritte, noch ein 90
»Hallo«. Die Musik spielte weiter, leicht und fröhlich wie zum Tanz. Ich dachte mir, was soll’s, zum Teufel, und ging darauf zu. Es gab mehrere Zimmer. Eins stand offen, und ich spähte hinein. Hier sah es aus wie in einem Labor. Reagenzgläser, Bunsenbrenner … Es erinnerte mich zu sehr an den Chemieunterricht auf der High School, und ich ging weiter. Am Ende des Flurs war noch eine offene Tür, und von dort kam die Musik. Sie brach abrupt ab, und eine Frauenstimme sagte: »Verdammt!« »Das war gut! Warum haben Sie aufgehört?« »Weil ich die verdammte Passage schon wieder verpatzt habe!« »Wen kümmert das?« fragte Hugh. »Mich kümmert es.« Ich ging bis zur Tür und klopfte. »Hallo?« Langsam schob ich den Kopf hinein, und ich sah Hugh, einen Mann und eine Frau; sie saßen auf Stühlen und hatten Notenständer vor sich. Hugh hielt eine Violine im Schoß, die Frau eine Art Flöte und der Mann eine akustische Baßgitarre. »Miranda, hallo! Kommen Sie herein!« »Störe ich?« »Nein, wir üben nur. Miranda Romanac, das ist Courtney Hill, und das ist Ronan Mariner. Wir arbeiten zusammen.« »Ihre Musik ist wundervoll.« »Unsere Mittagspause. Kommen Sie, setzen Sie sich. Wir spielen es noch einmal durch, und dann können wir uns unterhalten. Wir spielen Ferny Hill. Kennen Sie das?« »Leider nicht.« »Es wird Ihnen gefallen. Also.« 91
Sie fingen an zu spielen. Ich fing an zu weinen. Ich merkte es erst, als Courtney mich anschaute und große Augen machte. Da spürte ich die Tränen auf der Wange und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, es sei die Musik. Und das war es auch, mehr als alles andere. Irische Folkmusic ist das Schizophrenste, was ich je gehört habe. Wie kann sie nur so traurig und fröhlich gleichzeitig sein, sogar in ein und derselben Note? Einfach und direkt sagt sie dir, jawohl, die Welt ist voller Schmerz, aber es gibt einen Weg hindurch. Solange du in der Musik bleibst, hält alles Schlechte sich fern. Sie spielten das Stück tadellos. Diese paar Minuten lang weinte ich und war zugleich so zufrieden, wie ich es seit Tagen nicht gewesen war. Sie endeten schwungvoll und schauten einander an wie Kinder, die ein großes Abenteuer überstanden haben, ohne eine Schramme davonzutragen. »Das war schön.« »Es war gut, hm? Aber kommen wir zum Geschäft. Was haben Sie uns mitgebracht?« Hugh schaute mich an. Offensichtlich sah er die Tränen, aber er sagte nichts. Das gefiel mir. Ich löste die Verschnürung und das Papier und hielt das Bild hoch, so daß alle drei es gleichzeitig sehen konnten. Sie schauten erst das Bild, dann einander an. »Ist es das, wofür ich es halte? Ein Lolly Adcock?« »Ja.« Hugh nahm es mir aus der Hand. Sie steckten die Köpfe darüber zusammen, machten leise Bemerkungen, zeigten hierhin und dahin. »Hugh hat nichts davon gesagt, daß Sie einen Adcock mitbringen.« »Hätte ich aber, wenn ich nach Dublin geflogen wäre«, sagte Hugh. 92
Ronan rieb sich den Mund. »Wissen Sie, was meine erste Reaktion ist, aus dem Bauch sozusagen? Lassen Sie um Himmels willen die Finger davon, Hugh. Selbst wenn es echt ist – nach dem Stillman-Fiasko wird man jeden aufs Korn nehmen, der einen Adcock beglaubigt.« Hugh hielt das Bild dicht vors Gesicht und schnupperte. »Es riecht nicht nach Fälschung.« »Das ist nicht komisch, Hugh. Sie wissen genau, was er sagen will.« »Allerdings, Courtney, aber das ist unser Geschäft, nicht wahr? Wir nehmen sie an, wie sie kommen. Wenn wir uns irren, irren wir uns. Wer weiß, vielleicht stellen wir ja fest, daß es gefälscht ist.« »Ich bin trotzdem Ronans Meinung. Was immer dabei für uns herauskommt, ist den Ärger nicht wert.« Sie schaute das Gemälde an und schüttelte den Kopf. »Schon recht. Aber würden Sie anfangen, es für mich zu untersuchen?« Er sprach ruhig. Die andern erhoben sich eilig von ihren Stühlen und gingen zur Tür. Wir blieben sitzen und lauschten, wie sie den Gang hinuntergingen. Weit hinten schloß sich eine Tür. »Warum haben Sie geweint?« »Ich dachte, Sie würden mich fragen, woher ich das Bild habe.« »Später. Warum haben Sie geweint?« »Ist das wichtig?« »Ja. Als Sie hereinkamen, war Ihr Gesicht woanders. An einem üblen Ort.« »Wie bitte?« »Sie hatten damit nicht gerechnet.« Er hielt seine Geige hoch. »Sie haben ein anderes Gesicht gemacht, und Sie mußten es sehr schnell ändern. Eine Sekunde lang konnte 93
ich sehen, daß Sie etwas Furchtbares von draußen mit hereingebracht hatten. Die Tränen waren der Beweis.« »Sie sind ein guter Detektiv, Hugh.« »Nur, weil mir an Ihnen liegt.« Was konnte ich darauf sagen? Wir saßen eine ganze Weile schweigend da. »Jemand hat mich geschlagen.« »Brauchen Sie Hilfe deswegen?« »Das glaube ich nicht.« »Warum kann jemand Sie schlagen wollen?« »Er findet, ich bin ein Biest.« Hugh nahm zwei gelbe Bonbons aus einer Hemdtasche und reichte mir eins. Während ich es auswickelte, packte er das andere aus und steckte es in den Mund; dann griff er zur Geige und fing an, leise zu spielen. »Ich finde nicht, daß ich ein Biest bin.« Er lächelte. »Wer war’s?« »Ein Mann, mit dem ich ein paarmal ausgegangen bin.« Er nickte und sagte wortlos: Erzählen Sie weiter. Er spielte For No One von den Beatles. Ich begann langsam, aber nach wenigen Augenblicken lief ich volle Kraft voraus. Ich erzählte, wie wir uns kennengelernt hatten, erzählte von unseren Dates, von den Dingen, über die wir gesprochen hatten, und was ich bis zu dieser schicksalhaften Ohrfeige von ihm gehalten hatte. »Ein Bilderlecker.« »Was heißt das?« »Es gibt einen Mann in England, der leckt an den Bildern, die er liebt. Anschauen genügt ihm nicht. Er will eine intimere Erfahrung mit seinen Lieblingsgemälden machen, und deshalb leckt er an ihnen, wenn er in einem 94
Museum ist und die Wärter nicht aufpassen. Er hat eine Sammlung von Postkarten von allen, die er schon erledigt hat.« »Verrückt.« »Ja, aber ich kann es verstehen. Ich glaube, so ist es auch diesem Mann ergangen: Er konnte Sie nicht haben, und das hat ihn verrückt gemacht. Also hat er das einzige getan, was er tun konnte, um Sie für ein paar Minuten zu besitzen: Er hat Ihnen angst gemacht. Das funktioniert immer. Für heute – oder solange Sie Angst vor ihm haben – besitzt er sie doch.« »Verdammt! Zum Teufel mit der Macht, die Männer haben. Wenn ihnen etwas nicht paßt, können sie uns immer schlagen. Dieses Gefühl werden Sie niemals kennen. Immer dieses kleine bißchen Angst in unserm Herzen.« »Nicht alle Männer schlagen Frauen, Miranda.« »Aber sie können es, und das ist der Unterschied.« Ein kleiner weißer Bullterrier kam ins Zimmer und lief zu Hugh. »Easy! Miranda, das ist Easy. Wenn wir musizieren, läuft sie weg und versteckt sich. Sie ist der einzige Hund, den ich kenne, der eine aktive Abneigung gegen Musik hat.« »Diese Rasse macht mir immer angst.« »Bullterrier? Aber sie ist ein Sahnetörtchen. Sie sieht nur aus wie ein Dieb.« Sie sah eher aus wie ein gebleichtes Schwein, aber ihr Gesicht war lieb, und sie wedelte so wild mit dem Schwanz, daß ich nicht widerstehen konnte: Ich streckte die Hand aus, um sie zu tätscheln. Sie kam herüber und lehnte sich wie ein Stein an mein Bein. »Warum heißt sie Easy?« 95
»Meine Tochter hat sie so getauft. Ohne Grund. Ich habe sie aus dem Zwinger mitgebracht; Brigit hat einen Blick auf sie geworfen und gesagt, sie heiße Easy. So einfach war das.« »Wie viele Kinder haben Sie?« »Eine Tochter und einen Sohn. Brigit und Oisin. Oischien.« »Oisin? Ist das irisch?« »Ja. Beide Kinder sind in Dublin geboren.« »Übrigens, warum sind Sie eigentlich nicht in Dublin?« »Weil Sie kommen wollten. Als Sie sagten, Sie werden gern auch mit meinem Mitarbeiter sprechen, dachte ich: Oha, wann werde ich sie dann wiedersehen? Da wußte ich, daß ich hier sein mußte.« Wieder wußte ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte. »Sie sagen Sachen, die mich aus der Fassung bringen, Hugh.« »Die Leute finden immer, ich bin zu direkt. Ich bin nicht nach Dublin geflogen, weil ich Sie wiedersehen wollte. Ganz einfach.« Courtney rief vom Flur und bat ihn, zu kommen. Er stand auf, legte die Geige auf den Stuhl und ging zur Tür. »Ich wollte Sie neulich anrufen, aber da haben Sie mich angerufen. Ich wollte nicht länger warten. Seit wir uns begegnet sind, scheinen sich meine Tage größtenteils um Sie zu drehen.« Er ließ mich sitzen, und Easy lehnte an meinem Bein. Es dauerte eine Weile, bis mein Körper anfing zu zittern, aber dann tat er es heftig. So heftig, daß es die Hündin aus ihrem Dösen riß. Sie schaute zu mir auf. Ich schloß die Augen. Mein Herz hämmerte in seinem Knochenkäfig. Ich konnte es nicht erwarten, daß er zurückkam. 96
Hier sitze ich, eine alte Frau mit zittriger Hand und einem billigen Stift, und schreibe über Sex. Gibt es eine größere Ironie? Die meiste Zeit kann ich mich nicht mal erinnern, was ich gestern gegessen habe. Wie will ich mir anmaßen, mich an diesen vergänglichsten aller Akte zu erinnern und ehrlich darüber zu schreiben, fünfzig Jahre, nachdem er geschehen ist? Ich werde aufstehen und in die Küche gehen. Unterwegs werde ich mir überlegen, wie ich es mache. Es sind noch ein paar Schokoladenkekse da. Ich will zwei Stück essen und ein Glas kaltes Wasser trinken. Essen ist Sex für alte Leute. Dies ist mein Zuhause – das, was von einem Leben übrig ist, in ein paar letzten Zimmern. Hier sind ein paar Fotos. Meine Eltern. Hugh und ich. Zoe auf der Veranda dieses Hauses. Das einzige Möbelstück, das ich all die Jahre behalten habe, ist Hughs Sessel. Obwohl er zweimal neu bezogen worden ist, sieht er jetzt schäbig aus, aber ich würde ihn niemals weggeben. Auf dem Tisch daneben steht ein Foto von Frances in ihrem New Yorker Apartment. Ihr ganzer Besitz umgibt sie, die Bilder und die Teppiche, dieser üppige Überfluß an Farbe, der so sehr Teil ihres Wesens war. Der Unterschied ist, Frances wollte sich an alles erinnern, und ich nicht. Besser, ich halte meine letzte Umgebung schlicht. Meide jede fatale Erinnerung oder bösartige Verbindung zu Dingen, die am besten ihrem unruhigen Schlaf in meinem Herzen überlassen bleiben. Gewisse Dinge müssen hier sein. Am wichtigsten der Stapel Hölzer im Kamin. Jedes dieser Holzstücke ist wichtig. Auf jedem steht ein Datum und ein Grund. Ich habe sie nie gezählt, aber ich würde schätzen, daß es jetzt zwanzig sind. Hughs Sammlung war viel größer, aber er hat damit auch Jahre vor mir angefangen. 97
Es war seine Idee: Wenn etwas wirklich Wichtiges in deinem Leben passiert, suche, wo immer du zufällig gerade bist, ein Stück Holz und schreibe den Anlaß und das Datum darauf. Halte die Hölzer zusammen und beschütze sie. Es dürfen nicht zu viele sein; schau sie dir alle paar Jahre an und trenne die Ereignisse, die immer noch wirklich wichtig sind, von denen, die es waren, aber nicht mehr sind. Du kennst den Unterschied. Den Rest wirfst du weg. Wenn du sehr alt bist, sehr krank, oder sicher, daß du nicht mehr lange zu leben hast, leg sie zusammen und verbrenne sie. Die Ehe der Holzstücke. Eine Stunde, nachdem ich in sein Büro gekommen war, um das Bild begutachten zu lassen, gingen Hugh und ich durch den Central Park. Er erzählte mir von der Ehe der Holzstücke und schlug vor, ich solle auf der Stelle mit meiner Sammlung beginnen. Das, was geschehen würde, machte mich so nervös, daß ich es tat, ohne nachzudenken. Das Stück Holz war von einer Rotbuche. Ich wußte damals nichts über Bäume. Laub, Pflanzen, Dinge, die wuchsen. Ich war ein Großstadtmädchen, das eilig auf dem Weg in ein Hotel war, um mit einem Mann zu schlafen, von dem ich wußte, daß er verheiratet war und zwei Kinder hatte. »Was ist?« Er blieb stehen und drehte mich herum, so daß wir uns ansahen. Wir hielten uns bei den Händen. Einen Augenblick zuvor hatten wir es eilig gehabt, zu einem Hotel zu kommen. Ich nahm an, daß er schon dort gewesen war. Wie viele Frauen hatte er so mitgezogen in seiner Hast, sie ins Bett zu kriegen? »Du siehst unglücklich aus.« »Ich bin nicht unglücklich, Hugh, ich bin mit den Nerven am Ende! Heute morgen hat mich jemand geschlagen, und 98
jetzt bin ich hier mit dir.« Ich starrte auf unsere verschränkten Hände und starrte immer weiter, während ich sprach. »Ich tue so etwas nicht. Es ist alles auf einmal, volle Power. Gefährlich, richtig, falsch … Alles. Ich dachte, du wärest in Irland. Ich dachte, dein Mitarbeiter wird das Bild begutachten, und dann gehe ich nach Hause. Nicht so etwas. Das ist alles ein ganz neues Terrain für mich.« Er schaute sich um, sah eine Parkbank und zog mich hin. »Setz dich. Hör zu. Was du tust, ist richtig. Dein Herz und der abenteuerlustige Teil deiner selbst sagen: Okay. Unser System von Kontrolle und Gegengewicht hindert uns zu oft daran, etwas zu riskieren. Laß es nicht zu, Miranda. Tu es. Und sei es nur, weil du dich später daran erinnern und sagen wirst, es war verrückt, aber du bist froh, daß du es getan hast.« Meine Augen waren geschlossen. »Kann ich dich etwas fragen? Wirst du mir ehrlich antworten?« »Was du willst.« Ich setzte mich aufrecht. »Bist du es wert?« Ich hörte ihn scharf einatmen, um zu antworten, aber dann schwieg er eine ganze Weile. »Ich glaube. Ich hoffe.« »Gehst du oft mit Frauen in Hotels?« »Nein. Manchmal.« »Das gibt mir nicht das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.« »Ich werde mich nicht für den Menschen entschuldigen, den du bis heute nicht kanntest.« »Das ist oberflächlich, Hugh. Das hier ist eine große Sache für mich.« »Ich werde tun, was immer du willst, Miranda. Wir können hierbleiben und miteinander reden. Wir können ins 99
Kino gehen, oder wir können irgendwohin gehen und miteinander schlafen. Mir ist es gleich. Ich will nur mit dir Zusammensein.« Zwei Rollerblader donnerten vorbei, gefolgt von einer Bande Kids, die schiefsitzende Baseballmützen trugen und einen großen Ghettoblaster mitschleppten. Wir schauten zu, wie die Parade vorüberzog, bevor ich weitersprach. »Weißt du, was ich tun möchte? Vor allem andern?« »Was?« »Zu Gap gehen und mir eine Khakihose kaufen.« Es war ein Test, schlicht und einfach. Ich sagte es nur, um zu sehen, wie er reagieren würde. Sein Gesicht leuchtete auf, und er lächelte. Es war ein echtes Lächeln. »Na klar! Gehen wir.« »Was ist mit dem Hotel?« Er hielt inne. Als er sprach, tat er es langsam und sorgfältig. »Du begreifst es nicht, wie? Ich bin keine zwanzig, Miranda. Ich reite nicht auf meinem Schwanz herum wie eine Hexe auf ihrem Besenstiel. Ich möchte bei dir sein. Wenn das im Bett ist – großartig. Wenn nicht, kommt es nur auf das Zusammensein an.« »Warum wollten wir dann in ein Hotel gehen?« »Weil ich dich berühren möchte, darum. Ich dachte, du empfindest genauso. Aber ich habe mich geirrt. Macht nichts. Gehen wir deine Hose kaufen.« »Wirklich?« Das Wort kam ängstlich aus meinem Mund. Er legte mir die Hand auf die Wange. »Wirklich.« Wir verließen den Park so schnell, wie wir ihn betreten hatten. Ich hätte einen Monat meines Lebens dafür gegeben, zu wissen, was er wirklich dachte. Er nahm wieder 100
meine Hand, und wir drückten sie uns unentwegt gegenseitig, hin und her, als wollten wir sagen: Ich bin hier, ich bin immer noch bei dir. Ganz gleich, wie dieser Tag enden würde, ich wußte, ich würde ihn noch lange in meinem Kopf wiederholen. Ich brauchte keine neue Hose. Ich hatte es überhaupt nur gesagt, weil ich ein paar Minuten vorher eine Anzeige von Gap auf einem Crosstown-Bus gesehen hatte. »Da sind wir.« Ich hatte angestrengt über das, was geschah, nachgedacht und dabei gar nicht gemerkt, daß wir vor der Tür einer Gap-Filiale angekommen waren. »Du holst dir deine Khakihose, und ich kaufe mir eine Mütze. Das wird mich an heute erinnern. Du hast dein erstes Stück Holz, und ich habe eine Baseballkappe.« »Bist du wütend, Hugh? Sag die Wahrheit.« »Ich bin aufgeregt.« Ohne ein weiteres Wort stieß er die Tür auf und winkte mich hinein. »Wieso?« »Ich erzähl’s dir später.« Wir gingen hinein. Er entfernte sich von mir und hob ein grünes Sweatshirt hoch. Mir blieb nichts anderes übrig, als die verdammte Hose zu suchen. Als eine Verkäuferin herankam und freundlich fragte, ob sie mir helfen könnte, fauchte ich: »Khakihosen! Ich suche Khakihosen, okay?« Sie wich zurück, und ihr Gesicht war ein großes »Oh-oh«. Mir war es egal. Ich war in einem verdammten GapLaden und kaufte ein, statt verwegenen Sex mit einem faszinierenden Mann zu treiben. Wieso war ich bei ihm so feige? Ich hatte es doch früher getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Das eine Mal vor dem China Moon Restaurant in San Francisco? Oder mit dem Dressman in Ham101
burg in dem Bett mit der kaputten Sprungfeder? Ich war mit anderen Männern ins Bett gesprungen, und es hatte prima geklappt. Die Erinnerungen daran waren glücklich und frei von Schuld. Ich schaute mich im Geschäft um und sah Hugh vor einem Spiegel stehen und Baseballmützen aufprobieren. Ein nett aussehender Mittvierziger im dunklen Anzug, der sich Jungenmützen auf den großen Schädel setzte. Wieso nicht mit ihm? Weil ich ihn lieben könnte. Es begann in seinem Büro, als er sagte: »Weil mir an Ihnen liegt.« So ehrlich und einfach wie ein Stück weißes Papier mit diesen Worten in großen, schwarzen Druckbuchstaben. Seine Offenheit verstörte mich, weil ich sie liebte. Anscheinend war alles, was er sagte, entweder ehrlich oder interessant, und meistens beides. Er wußte so viel, und selbst wenn ein Thema mir bis dahin nie etwas bedeutet hatte, war ich fasziniert, sobald er anfing, davon zu sprechen. Zum Beispiel über die Khalkha-Wörter, die er gelernt hatte, als er in der Mongolei über Dschingis-Khan geforscht hatte. Oder über James Agee im Gegensatz zu Graham Greene als Filmkritiker, oder über das Installationssystem, das Thomas Jefferson für Monticello entwickelt hatte … Sein Gesicht war voller Leben, ganz Winkel und Augen. Sein Kinn war eckig, seine Zähne waren gelb vom Rauchen. Zu beiden Seiten seines Mundes zogen sich tiefe Falten herab. Wenn er lächelte, verschwanden sie fast. Seine Wimpern waren lang und dicht. Ich wollte ihn noch nicht küssen, aber ich würde nicht nein sagen, wenn er versuchen sollte, mich zu küssen. Als er mich zum Lunch einlud, sagte ich ja. Als wir sein Büro verließen und seine Kollegen uns anstarrten, war mir das gleichgültig. Als wir auf der Straße standen und Hugh sagte, er wolle mich haben, sagte ich okay, ohne zu zögern. 102
Im Geschäft stellte ich mich hinter ihn und sprach mit seinem Spiegelbild. Er trug eine grüne Baseballkappe, leicht nach rechts gerückt. »Kannst du mitkommen und sehen, wie die hier aussieht?« Ich hielt die Hose hoch. Ich hatte keine Ahnung, welche Größe es war. Ich hatte die erste gegriffen, die ich im Regal gefunden hatte. »Gern. Hast du gewußt, daß Babe Ruth für einen Mann seiner Größe einen kleinen Kopf hatte? Siebendreiachtel.« Seine Miene veränderte sich nicht. Ich fragte eine vorübergehende Verkäuferin nach den Umkleidekabinen. Sie zeigte sie mir, und ich nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter mir her. Draußen vor den Kabinen stand noch eine Verkäuferin, aber sie sah nicht überrascht aus, als wir zusammen hineingingen. Drinnen war es sehr eng. Ich riß den Vorhang zu, ließ die Hose fallen und drehte mich zu ihm um. Wir standen nur zwei Handbreit auseinander, und zum ersten Mal konnte ich ihn riechen. Noch nie waren wir einander so nah gewesen. Nach Orangen und Zimt duftendes Rasierwasser, Tabak, eine leichte Säuerlichkeit, die schon jetzt köstlich war. Ich hob die Hand, schob ihm die Mütze vom Kopf und küßte ihn. Seine Lippen waren weicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie gaben noch nichts, denn jetzt lag es an mir, und wir wußten beide, daß es so sein mußte. Ich ließ meine Arme über seinen Rücken nach oben gleiten, zog ihn aber nicht an mich. Er hob die Hand und strich mir über den Hinterkopf. Wir starrten uns an. »Werden wir auch Freunde sein?« Ich fuhr mit dem Finger an einer der Falten neben seinem Mund herunter. Sie war so tief. »Es kann nur so funktionieren.« Er nahm meinen Finger und küßte ihn. 103
»Ich möchte an deinem Rückgrat lecken.« Weiter geschah nichts. Wir knutschten ein, zwei dampfende Minuten lang, und als wir aus der Kabine kamen, lächelten wir wie zwei Lotteriegewinner. Hugh bestand darauf, die Kappe als Souvenir zu kaufen. Er trug sie den Rest des Tages über, während wir durch die Stadt gingen, immer tiefer hinein ins Leben des anderen. Was immer mir an schlechten Gedanken in den Sinn kam – seine nette Frau, seine Kinder –, besaß kaum ernstes Gewicht. Die guten Gedanken, die Hoffnungen, die erregenden Möglichkeiten, wogen schwer wie Berge. Ich wußte, hier begann etwas, das schlecht für alle Beteiligten war, so raffiniert man es auch rechtfertigen mochte. Ich war nie mit einem verheirateten Mann zusammengewesen, auch wenn es reichlich Gelegenheiten gegeben hatte. Ich glaubte daran, daß man auch ernten muß, was man sät. Wenn ich mit dem Ehemann einer andern eng tanzen wollte, würden die Götter sicher einen abscheulichen Weg finden, es mir heimzuzahlen. Wir blieben draußen an einem U-Bahn-Eingang stehen. Unser Tag war vorüber. Er ging jetzt zurück in sein anderes Leben, wo seine Familie nichtsahnend auf ihn wartete. Wir betrachteten einander mit dem gesteigerten Verlangen, das eine Trennung immer bringt. »Holst du deine Hündin ab?« »Ja. Und dann gehe ich zu Fuß mit ihr nach Hause und denke an dich.« »Ich denke an deine Familie.« Er schüttelte den Kopf. »Das nützt nichts.« »Aber so was ist neu für mich. Früher oder später muß es herauskommen.« »Miranda, früher oder später müssen wir sterben. Ich habe immer viel über ›früher oder später‹ nachgedacht, 104
aber weißt du was? Früher wurde plötzlich später, und mir wurde klar, daß ich zuviel Zeit damit verschwendet hatte, mir deswegen Sorgen zu machen, statt zu leben.« »Eine Freundin hat mich gefragt, was ich lieber will, lieben oder geliebt werden. Ich würde lieber lieben.« Er nickte. »Dann hast du deine Antwort. Ich muß gehen.« Wir küßten uns; er berührte meinen Hals und ging dann die Treppe zur U-Bahn hinunter. Als er halb unten war, drehte er sich um, und sein Gesicht erstrahlte in einem großartigen Lächeln. »Wo bist du gewesen? Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« Ich hörte zwei Tage nichts von ihm. Man kann sich vorstellen, wie laut diese Stille war. Am dritten Tag, besorgt und verärgert, blieb ich auf dem Weg ins Geschäft am Briefkasten stehen. Die üblichen Rechnungen und Werbesendungen steckten drin, aber der letzte Umschlag in dem Packen war der Jackpot. Er trug meinen Namen und meine Adresse in Hughs Handschrift. Mein Herz fing an zu galoppieren. In dem Umschlag war eine Postkarte. Ein Walker-Evans-Foto von einem müden Zimmer, in dem nur ein Bett und ein Tischchen mit einem Wasserkrug standen. Die Tapete war vor langer Zeit gestorben und von den allgegenwärtigen Wasserflecken verzehrt worden. Die schräge Decke über dem Bett ließ erkennen, daß das Zimmer wahrscheinlich unter einem Dach lag. Ohne das Bett war es ein Hurenzimmer aus dem Wendekreis des Krebses oder aus einer frühen Hemingway-Story über das Leben ohne Geld in Paris. Aber wie durch Alchimie verwandelte das unglaubliche Weiß der Laken und Kissen es in einen Raum von Sex und 105
Unendlichkeit. Ein Zimmer, in das man mit jemandem gehen würde, mit dem man wieder und wieder ficken wollte. Dann würde man ineinander verschlungen einschlafen. Es war nichts Besonderes an diesem Zimmer – abgesehen davon, wie sorgfältig das Bett gemacht war, mit gebügelten, strahlend weißen Laken und Kissenbezügen. In der tristen Umgebung wölbten sich die beiden prall aufgeschüttelten Kissen wie frische Wolken. Eine Patchworkdecke lag auf dem Bett. Ich konnte die abgestandene Luft des Zimmers riechen, konnte ihre Temperatur auf meiner Haut fühlen und dann die Berührung dessen, der mich dorthin bringen würde, wer es auch wäre. Auf der Postkarte selbst stand nichts, aber auf einem separaten Blatt las ich: Das ist alles, was ich jetzt mit Dir will: ein einfaches Zimmer, eine Lampe, die an einem langen Kabel unter der Decke hängt, wie man es in billigen Apartments sieht, oder in Hotelzimmern, bei denen niemand sich erinnern kann, je wirklich darin gewohnt zu haben. In der Nacht dringt das traurige, trübe Licht nie in die entlegenen Ekken. Es hängt über einem Raum voller Schatten. Ihm ist das gleich. Aber für uns ist Licht hier nicht wichtig. Tagsüber ist das Zimmer sauber und hell. Vielleicht bietet das Fenster eine gute Aussicht. Es ist das Zimmer, an dem mir liegt, ein Bett, breit genug, daß wir beide bequem darin liegen können. Die Gesichter einander nah genug, daß jeder den Atem des andern spüren kann. Deine Haut ist gerötet. Mit dem Finger verfolge ich eine Linie von Deinem Unterkiefer den Hals herunter, über die Schulter, den Arm. Es weckt ein Lächeln und ein Frösteln bei Dir. Wie kann Dich frösteln, wenn es hier drin so warm ist? 106
Ich will dieses Zimmer. Ich will dieses Zimmer mit Dir darin, nackt neben mir. Ich weiß nicht, wo wir sind. Vielleicht am Meer. Oder mitten in einer Stadt, wo der Lärm vor dem Fenster ebenso geschäftig ist wie wir. Der Nachmittag gehört uns. Der Abend und die Nacht auch. Bis dahin werden wir müde sein, aber wir werden trotzdem ausgehen und eine große Mahlzeit verzehren. Dein Körper wird wunderbar wund und roh sein. Das wird dich lächeln lassen, während wir zum Restaurant gehen. Ich werde Dich ansehen und fragen, ob etwas nicht stimmt. Du wirst verneinen und meinen Arm drücken. Wir brauchen diese Zeit draußen in der Welt, um uns daran zu erinnern, daß es heute außer uns selbst, diesem Zimmer, unseren Körpern, noch etwas anderes gibt. In einem lauten Restaurant werden wir leise miteinander sprechen. Stimmen und Gesichter geglättet von all den Stunden im Bett. Jeder, der uns anschaut, wird wissen, daß wir gefickt haben. Es ist so offensichtlich. Später, wieder im Zimmer, wenn nichts fehlt, werde ich ein paar Stunden schlafen wollen und mit Dir an meine Seite gedrängt erwachen. Vielleicht werde ich Dich umfassen. Vielleicht werde ich nur Dein Handgelenk berühren und Deinen schlafenden, verschwiegenen Puls fühlen. Der Rest kann warten. Wir haben jetzt Zeit. Behalte dieses Bild bei Dir. Leg es auf den Tisch, auf den Schreibtisch, wo immer Du bist. Wenn jemand fragt, warum Du es hast, sag, es sei ein Ort, an dem Du glücklich wärest. Schau es an und wisse, daß ich warte. Schau es noch einmal an. Ich ging aus dem Haus, und meine Beine waren wie nasse Spaghetti. Draußen auf der Straße war die Welt wie immer, aber ich mußte doch zwei oder drei Häuserblocks 107
weit gehen, ehe ich meine Orientierung wiederfand und sah, daß ich immer noch auf dem Planeten Erde war. Als ich zu mir kam, merkte ich, daß ich den Brief mit beiden Händen fest umklammert hatte. Um meine Freude zu erhalten, solange ich konnte, blieb ich stehen, schloß die Augen und sagte laut: »Ich muß es mir einprägen. Ich muß mich daran erinnern, solange ich lebe.« Das erste, was ich sah, als ich die Augen wieder öffnete, war James Stillman. Mein Herz erkannte ihn vor jedem anderen Teil meiner selbst. Und war ruhig. Es sagte: »Da ist er. James ist auf der anderen Straßenseite.« Er sah aus wie fünfzehn Jahre zuvor, als ich ihn gekannt hatte. Er war unverwechselbar, sogar im Strom der Menschen um ihn herum. Er trug Anzug und Krawatte. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Wir starrten einander an, bis er die Hand hob und mir zuwinkte, langsam, hin und her. Ein übertriebenes Winken, wie man es macht, wenn jemand mit dem Auto wegfährt und man sicher sein will, daß man bis zur letzten Sekunde gesehen wird. Ohne zu überlegen, lief ich in den Verkehr hinaus und wurde von kreischenden Bremsen und wütenden Hupen empfangen. Als ich halb drüben war, ging er weiter. Als ich die andere Seite erreicht hatte, hatte er bereits einen großen Vorsprung. Ich fing an zu rennen, aber irgendwie gelang es ihm, weit vor mir zu bleiben. Er bog um eine Ecke. Als ich dort angekommen war, hatte er seinen Vorsprung schon verdoppelt. Ich konnte ihn nicht einholen. Als ich stehenblieb, blieb er ebenfalls stehen. Er drehte sich um und tat etwas, das typisch James Stillman war: Er legte die flache Hand an die Stirn, strich dann zu seinem Mund herunter und warf mir eine Kußhand zu. Das hatte er immer getan, wenn wir uns verabschiedeten. Er hatte es in einem alten Tausendundeine-Nacht-Film gesehen und 108
hielt es für die coolste Geste, die man sich denken konnte: Hand an die Stirn, an den Mund, Kuß. Mein arabischer Ritter war von den Toten auferstanden. »Ich habe ein Gespenst gesehen und bin in einen verheirateten Mann verliebt.« »Willkommen im Club.« »Zoe, es ist mein Ernst.« »Verheiratete Männer sind immer viel köstlicher als ledige, Miranda. Genau darin liegt die Herausforderung. Und an Gespenster habe ich mein Leben lang geglaubt. Aber erzähl mir zuerst von Mr. Ehemann, denn auf diesem Gebiet bin ich Expertin.« Wir saßen beim Lunch. Sie war für einen Tag in die Stadt gekommen. Ihr verheirateter Boyfriend Hector hatte die Affäre beendet, und sie befand sich am Ende ihrer Trauerphase. Wochenlang hatte ich ihr vorgeschlagen, einen Tag in der Stadt zu verbringen und zusammen zu tun, was Mädchen so tun, um sich auf diese Weise von ihm abzulenken, und schließlich hatte sie ja gesagt. Jetzt war ich doppelt froh, sie zu sehen, um ihren Kommentar zu meinen neuen »unheimlichen Geschichten« zu hören. »Das Gespenst war James Stillman.« »Super! Wo?« »Auf der Straße, nicht weit von meinem Zuhause. Er hat mir zugewinkt, auf seine alte Art, weißt du noch?« Ich führte die Geste vor, und sie lächelte. »Ein höchst romantischer Bursche, kein Zweifel.« »Aber Zoe, ich habe ihn gesehen. Er sah genauso aus wie damals auf der High School.« Sie faltete ihre Serviette ein paarmal und legte sie auf den Tisch. »Weißt du noch, wie wir diese spiritistischen 109
Sitzungen gemacht und Kontakt zu all diesen alten Geistern aufgenommen haben, oder was immer sie waren? Meine Mutter glaubte, wenn Leute sterben, stürzen sie manchmal in ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Deshalb kann man mit ihnen reden, durch ein Medium oder bei einer Séance. Sie sind halb hier, halb drüben.« »Glaubst du das?« »Wieso sollte man sich sonst weiter am Leben festhalten, wenn es doch für einen vorbei ist?« »Er war so real. Handfest. Kein Ektoplasma, kein Casper, der einen halben Meter über dem Boden in einem weißen Laken durch die Gegend schwebt. Es war James. Völlig real.« »Vielleicht. Da mußt du einen Experten befragen. Warum sollte er ausgerechnet jetzt zurückkommen? Warum nicht schon früher?« Weiter sprachen wir nicht mehr viel darüber. Wir wußten beide nicht, was es zu bedeuten hatte, und so war jede längere Diskussion sinnlos. »Erzähl mir von deinem neuen Mann. Von dem lebendigen.« Ich erzählte ihr alles bis ins Detail, und dazu bestellten wir immer neue Drinks, die uns helfen sollten, meine neue Situation zu analysieren. »Weißt du, was mir gerade eingefallen ist? Was ist, wenn James zurückgekommen ist, um mir zu sagen, daß ich es nicht tun soll?« Zoe warf entnervt die Hände hoch. »Herrgott noch mal! Wenn du Schuldgefühle haben willst, dann schieb das keinem Gespenst in die Schuhe. Ich bin sicher, die haben was Besseres zu tun, als sich um dein Sexualverhalten zu kümmern.« 110
»Aber ich habe doch noch gar nicht mit ihm geschlafen!« »Miranda?« Eine vertraute Stimme sprach meinen Namen; ich drehte mich um und sah Doug Auerbach. Er starrte Zoe an. »Dog! Was machst du denn hier? Warum hast du nicht angerufen?« »Ich wußte erst gestern, daß ich in die Stadt komme. Ich wollte dich nachher anrufen. Ich soll hier mit einem Klienten zu Mittag essen.« Ich machte ihn mit Zoe bekannt, und er setzte sich. Bald war klar, daß er sich nur für meine älteste Freundin interessierte. Anfangs lächelte sie und lachte höflich über seine Witze. Als ihr sein Interesse klar wurde, verwandelte sie sich in ein sexy Rasseweib. So hatte ich sie noch nie gesehen. Es war faszinierend, wie geschickt sie sowohl mit Doug als auch mit ihrer neuen Rolle fertig wurde. Natürlich war ich beunruhigt. Ein Teil meiner selbst reagierte eifersüchtig und besitzergreifend. Wie konnten sie es wagen! Der Rest allerdings erinnerte sich daran, wie klein die Rolle war, die Doug in meinem Leben spielte, und wie groß Zoes liebevolle Fürsorge. In einem geeigneten Augenblick »fiel mir plötzlich ein«, daß ich noch einen Termin hatte – und ob sie etwas dagegen hätten, wenn ich jetzt ginge? Als ich draußen auf der Straße nach einem Taxi Ausschau hielt, kam ich mir vor wie Charlotte Oakley, die unerwünschte Dritte. Mich schauderte, und ich ging weg, so schnell ich konnte. Eines Nachmittags, als seine Familie für das Wochenende verreist war, lud Hugh mich in ihre Wohnung ein. Easy, 111
der Bullterrier, folgte mir von Zimmer zu Zimmer. Ich hatte Turnschuhe an, und so hörte man nur das Ticken von Easys langen Krallen auf dem Parkettboden. Hier wohnte er. Wohnte sie. Jeder Gegenstand hatte seine eigene Bedeutung und Erinnerungen. Ständig schaute ich Dinge an und fragte mich, warum die Oakleys sie hatten oder was sie ihnen bedeuteten. Es war eine seltsame Archäologie der Lebenden. Der Mann, der das alles für mich dechiffrieren konnte, saß in einem anderen Zimmer und las Zeitung, aber ich hatte nicht vor, irgendwelche Fragen zu stellen. Bilder von seinen Kindern, von Charlotte, von der ganzen Familie. Auf einem gelben Segelboot, beim Skilaufen, unter einem großen Weihnachtsbaum. Dies war sein Zuhause, seine Familie, sein Leben. Warum war ich hier? Warum seinen Geschichten Gesichter geben oder die Geschenke sehen, die er diesen Menschen, die er liebte, von seinen Reisen mitgebracht hatte? Auf dem Klavier stand eine Kristalldose mit Zigaretten. Ich nahm sie in die Hand und las den Namen Waterford an der Unterseite. Eine große rotweiße Steinkugel stand daneben. Kristall und Stein. Ich streichelte die kalte Kugel und ging weiter. Als ich darum gebeten hatte, sein Heim sehen zu dürfen, hatte Hugh keinen Augenblick gezögert. Sie hatten ein Haus in East Hampton. Im Sommer verbrachte die Familie normalerweise das Wochenende dort. Als sie das erste Mal ohne Hugh gefahren waren, rief er mich an und sagte, die Luft sei rein, die Küste sicher. Und es war eine Art Küste; sie lebten im Osten, ich im Westen. Ich anstelle seiner Frau wäre wütend gewesen, wenn ich erfahren hätte, daß eine andere Frau in meiner Wohnung gewesen war, mein Leben betrachtet und alles angefaßt hatte. Warum also war ich hier? Wenn ich mit Hugh Zusammensein wollte, warum bemühte ich mich nicht, seine beiden Welten voneinander getrennt zu halten und mich zu112
friedenzugeben mit dem, was ich hatte? Weil ich gierig war. Ich wollte so viel wie möglich über ihn wissen. Dazu gehörte auch die Art, wie er lebte, wenn ich nicht dabei war. Dadurch, daß ich mir seine Wohnung anschaute, dachte ich mir, würde ich weniger Angst vor dem haben, was dort vor sich ging. Ich hatte recht: Als ich durch die Zimmer wanderte, beruhigte es mich, zu sehen, daß hier nur Menschen lebten, keine Herrenrasse oder Götter, die allesamt unglaublich viel besser, stärker und heroischer waren, als ich je hoffen konnte zu werden. Als Kind habe ich jedes Märchen, jede Sage gelesen, die ich finden konnte. Schokoladenpudding war für mich eine Geschichte, die so anfing: »In alten Zeiten, als die Tiere die Sprache der Menschen sprachen und sogar die Bäume miteinander redeten …« Mehr als alles andere wünschte ich mir, daß meine eigene kleine Welt solchen Zauber enthalten könnte. Aber erwachsen werden bedeutet, zu lernen, daß es wenig Zauber in der Welt gibt, daß die Tiere nur mit ihresgleichen sprechen und daß unsere Jahre über die Berggipfel dahingehen, ohne daß sich jemals besonders viele Wunder ereignen. Was mir aus meiner Kindheit geblieben war, war die heimliche Hoffnung, daß die Wunder irgendwo in der Nähe lebten. Drachen und Kobolde, Difs, Cú Chulainn, der Eiserne Heinrich und Mamadreqja, die Großmutter der Hexen … ich wollte, daß es sie gab, und war noch immer fasziniert von Fernsehsendungen über Engel, Yetis und Wunder. Ich grabschte nach jedem Heft des National Enquirer, dessen Schlagzeile von einem Schaf mit Elvis’ Gesicht kündete oder behauptete, daß die Heilige Jungfrau an einer Souvlaki-Bude in Oregon gesichtet worden war. Äußerlich war ich ein Aktenkoffer im Straßenkostüm, aber mein Herz hielt ständig Ausschau nach Flügeln. 113
Sie waren in seinem Arbeitszimmer und warteten auf mich, aber das wußte ich erst viele Jahre später. Das Zimmer war groß und kahl bis auf einen Kiefernholztisch, den Hugh als Schreibtisch benutzte. Darauf drängten sich Papierstapel, Bücher und ein Computer. Dem Schreibtisch gegenüber an der Wand hingen vier kleine Gemälde, die dieselbe Frau zeigten. »Was hältst du davon?« Ich war so sehr ins Anschauen der Bilder vertieft, daß ich nicht gehört hatte, wie er hereinkam. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob sie faszinierend sind oder ob sie mir angst machen.« »Dir angst machen? Warum?« Seine Stimme klang nicht amüsiert. »Wer ist sie?« Er legte mir die Hände auf die Schultern. »Ich weiß es nicht. Etwa um die Zeit, als wir beide uns kennenlernten, kam ein Mann ins Büro und fragte, ob ich sie kaufen wollte. Er wußte nichts darüber. Er hatte kürzlich ein Haus in Mississippi gekauft, und sie hatten mit einem Haufen anderem Zeugs auf dem Dachboden gelegen. Ich habe nicht mal um den Preis gefeilscht.« »Warum habe ich das Gefühl, daß ich sie kenne?« »Das habe ich auch! Sie hat etwas sehr Vertrautes an sich. Sie sind alle vier nicht signiert oder datiert. Ich habe keine Ahnung, wer sie gemalt hat. Ich habe lange recherchiert. Aber das macht sie nur noch geheimnisvoller.« Sie war jung – Mitte Zwanzig – und trug das Haar offen, aber nach keiner erkennbaren Mode, die einen Hinweis auf die Periode hätte geben können. Sie war attraktiv, aber nicht so sehr, daß man deshalb innegehalten und einen zweiten Blick auf sie geworfen hätte. 114
Auf einem Bild saß sie auf einem Sofa und blickte starr geradeaus. Auf einem andern saß sie in einem Garten und schaute ein bißchen nach rechts. Es war ein exzellenter Maler, der ihr wahres Wesen festgehalten hatte. So oft schaute ich mir Bilder an, auch berühmte, und empfand eine Art Leblosigkeit in dem Werk, als wäre der Dargestellte jenseits eines bestimmten Punktes gestorben und zu einem Gemälde geworden. Aber hier war es nicht so. »Hugh, ist es dir eigentlich klar? Seit wir uns kennen, bin ich verprügelt worden, habe ich ein Gespenst gesehen und in einem Gap-Geschäft geknutscht, und jetzt schaue ich mir Bilder von einer Person an, die ich nie gesehen habe, und doch weiß ich, daß ich sie kenne.« »Das ist die Geschichte von Zitterbart. Kennst du sie?« »Nein.« »Zitterbart ist ein deutsches Märchen, aber keins von den Gebrüdern Grimm. Es war einmal ein König namens Zitterbart, und er hieß so, weil sein Bart, wenn er zornig wurde, so sehr zu zittern anfing, daß seine Untertanen den Wind noch im hintersten Winkel seines Königreichs spüren konnten. Er war grausam und ließ den Leuten schon die Köpfe abschlagen, wenn sie nur falsch niesten. Aber er hatte eine Schwäche, und das war seine Tochter Senga, Die Prinzessin war rasend verliebt in einen Ritter namens Blasius. Zitterbart war einverstanden, daß sie heirateten, aber eines Tages zog Blasius in die Schlacht und fiel im Kampf mit einem anderen Ritter, der Cornelts Brom hieß.« »Blasius und Brom? Das klingt wie Magentropfen.« »Senga war niedergeschmettert und schwor, sie werde sich beim nächsten Neumond umbringen. Der König bekam solche Angst, daß er das ganze Königreich nach gutaussehenden Männern durchkämmen ließ und gelobte, 115
wenn ihr einer von ihnen gefiele, dürfe der sie heiraten. Aber er hatte kein Glück. Man führte ihr die interessantesten Männer vor, aber sie warf nur einen Blick auf sie und wandte sich dann zum Fenster, um zu sehen, ob bald Neumond sei. Zitterbarts Verzweiflung wuchs. Er ließ die Verfügung verbreiten, daß nunmehr jeder Mann, der seiner Tochter gefiele, ihre Hand bekomme. Davon hörte auch Cornelts Brom. Er hatte schon gehört, wie schön Senga war, und beschloß, einmal einen Blick auf sie zu werfen. Das Dumme an Brom war nur, er war der unscheinbarste Mann im ganzen Universum. Sein Gesicht war so wenig einprägsam, daß die Leute sich mitten im Gespräch abwandten, weil sie vergessen hatten, daß er da war. Sie glaubten, sie führten Selbstgespräche. Deshalb war er auch ein so großer Kämpfer: Er war im Grunde unsichtbar. Als Kind war ihm klargeworden, wenn er der Welt seinen Stempel aufdrücken wollte, mußte er sich auf irgendeinem Gebiet auszeichnen, und so wurde er zum besten Fechter weit und breit. Dazu kam, wenn er tatsächlich einmal in einen Schwertkampf geriet …« »Vergaßen seine Gegner, daß er da war.« Hugh lächelte. »Genau. Aber Senga interessierte sich nicht für große Fechter, und außerdem hatte dieser Mann ihren Geliebten getötet! Aber Brom war schlau, und mit seinem unauffälligen Gesicht konnte er sich mühelos in die Stadt schleichen, um sich die Prinzessin anzuschauen. Jeden Dienstag ging die Prinzessin mit ihrer Kammerfrau zum Markt, um einzukaufen. Brom stand neben ihr und sah zu, wie sie Tomaten drückte, um den Preis für Gurken feilschte und ihren Korb füllte. Er hatte sofort Mitleid mit ihr, und Mitleid ist ein schlechter Anfang für die Liebe. Er wußte, daß sie sich 116
wirklich umbringen würde, denn er hatte in der Schlacht schon den gleichen verlorenen Ausdruck absoluter Hoffnungslosigkeit bei Männern gesehen, die nichts weiter wollten als den Frieden des Todes. Es war eine Verzweiflung von besonderer Art, die dann aufkommt, wenn ein Mensch den Weg zurück zu seinem eigenen Herzen nicht mehr finden kann. Brom war schuld, daß Senga so etwas passiert war, und er war darüber ehrlich betrübt. Und weil er ein anständiger Mann war, schwor er sich, ihr zu helfen, und wenn es das letzte wäre, was er tat. Vor der Stadt wohnten drei mindere Teufel namens Nepomuk, Knud und Gangolf. Sie machten gute Geschäfte, indem sie den Menschen Wünsche erfüllten und dafür einen Teil ihrer Seele erwarben. Wenn man sich etwas wünschte, ging man zu diesen kleinen Scheißern und sagte: ›Ich möchte gern reich sein.‹ Dann schauten sie in ihre Kontobücher und sagten: ›Wir wollen deine Freude. Gib uns deine Fähigkeit, Freude zu empfinden, und wir machen dich reich.‹ Und die meisten Leute waren dazu auch noch bereit, denn sie wußten nicht, daß sie damit etwas sehr viel Wertvolleres als Reichtum hergaben.« Als er »kleine Scheißer« sagte, mußte ich lachen und rieb mir erwartungsvoll die Hände. Er setzte sich neben mich. »Brom ging zu diesen Teufeln und sagte, er wolle die Prinzessin wieder glücklich machen. Das brachte sie durcheinander, denn sie hatten angenommen, daß er sicher gern schön werden wollte. Daraufhin gerieten sie untereinander in Streit. Nepomuk wollte Broms unauffälliges Gesicht haben, weil er wußte, daß er dann auf dem Schlachtfeld unverwundbar sein würde. Gangolf wollte seinen Humor, denn kein Kämpfer ist groß, wenn er nicht lachen kann. Knud bestand auf seiner Angst, denn wer ohne Angst lebt, ist entweder dumm oder tot. 117
Am Ende einigten sie sich auf seinen Mut. Brom zögerte nicht. ›Nehmt meinen Mut für das Glück der Prinzessin.‹ In der Ecke ihres Hauses war eine große Uhr. Alle drei Teufel gingen zu ihr und bliesen sie an. Die Uhr blieb mitten im Ticken stehen, und der Handel war perfekt. Zu Hause im Schloß hörte die Prinzessin auf, nach dem Neumond zu schauen; sie legte eine Hand aufs Herz und fing an zu singen. Sie wußte nicht, warum, aber sie konnte nicht anders. Zur selben Zeit stand Brom im Haus der Teufel in der Tür und war außerstande, sich zu rühren, denn er hatte Angst vor allem. Er ahnte nicht, daß die Teufel ihm Sengas Angst gegeben hatten; diese nämlich hatte in ihr den Wunsch erweckt, zu sterben. Das Leben ist voller Überraschungen, aber wenn du davon überzeugt bist, daß sie alle böse sein werden, was hat es dann noch für einen Sinn, weiterzumachen?« Hugh sprang auf, nahm mich in die Arme und tanzte mit mir im Zimmer herum. »Und?« »Was und?« »Was ist aus Brom geworden?« »Ich weiß nicht. Ich hab’s mir noch nicht überlegt.« »Du hast dir das alles ausgedacht?« »Ja.« Er kippte mich hintenüber. »Was hat das denn mit mir zu tun?« »Wenn du den Weg zurück zu deinem Herzen findest, passieren erstaunliche Dinge. Du siehst Gespenster, du verliebst dich; alles ist möglich. Ich habe versucht, mir ein großartiges Ende für die Geschichte auszudenken, um dir das alles zu sagen. Aber ich kam nicht darauf, wie es weiterging, und … Ich wollte dir eine Geschichte erzählen, die dich davon überzeugt, daß es Zeit ist, Miranda. Zeit, 118
loszulassen und anzufangen, mir zu vertrauen. Laß es geschehen.« »Ich vertraue dir doch. Ich habe nur Angst.« Ich löste mich von ihm und deutete mit einer weiten Armbewegung auf sein Zimmer, sein Zuhause, seine Familie. »Aber ich bin auch bereit. Komm, wir gehen zu mir.«
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man streichelt keinen brennenden hund Hier in der Nachbarschaft gab es einen Hund, den ich gern hatte. Weil ich nicht wußte, wie er hieß, fing ich an, ihn Easy zu nennen, nach Hughs Bullterrier. Der Hund hatte anscheinend nichts dagegen. Er war ein Mischling mit der Farbe und der Zeichnung einer Kuh – ein brauner Fleck hier, ein weißer da. Mittelgroß, kurzhaarig, mit ruhigen braunen Augen: ein richtiger Hundehund. Ein- oder zweimal wöchentlich kam er auf seinen Runden vorbei. Als Gentleman blieb er unweigerlich unten an der Verandatreppe stehen und wartete, bis ich ihn heraufbat. Ich freute mich immer, ihn zu sehen. In meinem Alter bekommt man wenig Besuch. Meistens saß ich dann im Schaukelstuhl mit einer Illustrierten oder einem Buch oder nur mit meinen Altweibergedanken. Das ist eins der Dinge, die mir an diesem Haus gefallen: Es hat eine gute Veranda zum Sitzen. Man kann dort einen ordentlichen Brocken des Tages damit verbringen, zu träumen und diesem kleinen Bezirk des Universums beim Kommen und Gehen zuzusehen. Mein Haus steht dicht am Beechwood Canyon in Los Angeles. Tagsüber sind die meisten meiner Nachbarn auf der Arbeit, und die Kinder sind in der Schule, und deshalb ist es überraschend still und friedlich für eine Straße, die nur zehn Minuten vom Hollywood Boulevard entfernt ist. Meistens hört man nichts als gelegentliche Gesprächsfetzen, das Zischeln von Rasensprengern oder das Dröhnen von 120
Laubbläsern sowie das gedämpfte, aber beständige Summen und Rumoren des Verkehrs auf dem eine Meile weit entfernten Hollywood Freeway. Es ist ein gutes Haus zum Altsein. Kein Obergeschoß, nur ein paar Zimmer, nicht viel Arbeit, das alles sauberzuhalten. Von der Veranda blickt man auf eine friedliche Straße mit freundlichen Nachbarn, die winken oder lächeln, wenn sie vorbeigehen. Wenn Easy zu Besuch kam, gab ich ihm immer zwei Oreo-Kekse. Er wußte, das war das Limit, und selbst wenn ich eine ganze Packung bei mir hatte, versuchte er nicht, um mehr zu bitten. Der Hund hatte seine Würde; niemals bettelte er oder starrte mich mit »Gib mir mehr!«-Augen an. Das gefiel mir. Mir gefiel auch, wie er eine Zeitlang bei mir auf der Veranda sitzenblieb, nachdem er langsam seine Kekse verspeist hatte. Für einen kleinen Teil des Tages war er mein Gefährte, und während wir zuschauten, wie die Parade des Lebens vorüberzog, erzählte ich ihm, was ich so gedacht hatte. Wer will einem schon zuhören, wenn man alt ist? Ein mitfühlender Hund ist besser als ein leerer Stuhl. Manchmal passierten seltsame Dinge. Einmal flog ein Vogel so tief, daß er beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. Einmal fiel ein Kind unmittelbar vor uns vom Fahrrad. Easy schaute mich an, um zu sehen, ob so etwas sein durfte – ob die Welt noch in Ordnung war. Ich sagte dann: »Das ist okay. Nichts Besonderes«, und er legte den Kopf wieder zwischen die Vorderpfoten und schaute weiter auf die Straße oder schlief. Hunde sind da, um uns daran zu erinnern, daß das Leben in Wirklichkeit eine einfache Sache ist. Man ißt, schläft, geht spazieren und pinkelt, wenn man muß. Das ist ungefähr alles. Übergriffe verzeihen sie schnell, und sie gehen davon aus, daß Fremde freundlich sind. 121
Als ich hörte, daß jemand diesen Hund mit Benzin übergossen und angezündet hatte, wurde mir klar, daß ich nicht länger auf dich warten konnte. In diesen vielen Jahren war dein Kommen die einzige Hoffnung, die mir noch geblieben war. Ich glaubte wirklich daran, daß es eines Tages passieren würde. Ich hatte zwar keine Ahnung, was passieren würde, wenn wir uns begegnen, aber ich dachte doch dauernd daran. Nachdem Easy ermordet worden war, wurde mir klar, daß ich diesen Bericht so bald wie möglich zu Ende bringen muß, weil wir uns vielleicht nicht mehr begegnen, bevor ich sterbe. Ob es nun dazu kommt oder nicht, dieses Tagebuch wird da sein, um dir zu helfen. Dir zu erklären, woher du wirklich gekommen bist. Vielleicht bewahrt dich dieses Wissen vor einigen der schrecklichen Erfahrungen, die ich gemacht habe, weil die Unkenntnis meiner eigenen Geschichte mein Leben ruiniert hat. Was ist wichtig am Tod eines Hundes, wenn im Laufe der Jahre so viel anderes passiert ist? Ich kann nur sagen, er brachte mir die Erkenntnis, daß es nicht mehr wichtig war, ob ich weiterlebte oder nicht. Ich hatte gedacht, dieser Augenblick sei schon vor Jahren gekommen, aber da irrte ich mich. Das Alter kommt wie die ersten Tage des Herbstes. Eines Nachmittags blickt man auf, oder man riecht etwas in der Luft, und instinktiv weiß man, daß sich etwas verändert hat. Vermutlich gilt das gleiche für unseren eigenen Tod. Plötzlich ist er so nah, daß wir ihn riechen können. Trotzdem muß ich diese Geschichte weiterschreiben. Ob ich noch lebe oder nicht, wenn du sie liest – du mußt jedenfalls wissen, was passiert ist und warum. Ist es möglich, die ersten Monate, nachdem Hugh und ich ein Liebespaar geworden waren, angemessen zu beschrei122
ben? Es hieße ja, Glück zu beschreiben, und kein Wort trägt das Gewicht wahrer Freude. Ich kann dir von Mahlzeiten und Wochenendtrips erzählen, von Gesprächen beim Spaziergang durch eine Straße auf Block Island, als die Sommerluft dick wie Atemhauch war, weil es regnen wollte, und der Nachmittag plötzlich überall violett wurde. Unsere Herzen waren immer zu voll. Aber was heißt das? Daß jeder von uns eigene und unerfüllbare Hoffnungen hegte, die wir mitgebracht hatten wie heimliche Extrakoffer. Seine leichten Berührungen an meinem Arm, meinen Haaren, meiner Hand erinnerten mich immer an einen Schwarm silbriger Fische, die in brennender Neugier heranschwimmen, den Kontakt herstellen und bei meiner geringsten Bewegung wieder flüchten. Aber ich bewegte mich immer auf Hugh zu, nicht von ihm weg, und nach einer Weile blieb seine Hand, wo sie war, wenn er mich berührte. Ich habe mich nie im Leben so geliebt gefühlt. Anfangs machte es mich mißtrauisch. Wie eine Schildkröte zog ich immer wieder den Kopf in meinen Panzer zurück, weil ich sicher war, daß mir ein Schlag drohte. Aber als das Band zwischen uns stärker wurde, ließ ich den Kopf draußen und begriff, wieviel ich mein ganzes Leben lang verpaßt hatte. Die große Überraschung bestand darin, wie schnell wir einander verstanden. Selbst in den besten Beziehungen, die ich gehabt hatte, waren bestimmte Dinge niemals mitgeteilt oder verstanden worden. So fließend man eine Sprache auch beherrscht, manchmal entstehen Situationen, in denen man ratlos ist, wie man genau ausdrücken soll, was gesagt werden muß. Das Zusammensein mit Hugh verhalf mir zu den Wörtern, und dies wiederum half mir, mich selbst besser kennenzulernen. Indem ich ihm vertraute, öffnete ich mich auf eine völlig neue Weise. 123
Auf sexuellem Gebiet war er wundervoll, weil er so viel Erfahrung hatte. Jahrelang hatte er zugelassen, daß Frauen wie Weihrauch in sein Leben hinein- und wieder hinauswehten. Seine Frau wußte über viele dieser Affären Bescheid, aber sie hatten diesbezüglich eine Art Waffenstillstand geschlossen; solange er diskret war und niemals Teile dieser Beziehungen mit nach Hause brachte, drückte Charlotte ein Auge zu. Führten sie also nur eine Zweckehe? Hatte sie auch Liebhaber? Nein. Sie hielt nichts von Affären, und, nein, ihre Ehe war stark und wichtig. Und wenn das stimmte, warum hatte er mir dann erlaubt, in seine Wohnung zu kommen? »Weil ich dir da schon verfallen war. Verfallen wie niemandem je zuvor. Ich hätte alles getan. Ich habe jede meiner Regeln gebrochen.« »Warum, Hugh? Warum ich nach all diesen anderen Frauen? Wie du manche von ihnen schilderst, waren sie doch unglaublich.« »Darauf gibt es keine zufriedenstellende Antwort. Was immer ich sage, wird dich nicht beruhigen oder deine Zweifel verringern. Liebe ist wie ein autistisches Kind, wenn es darum geht, gute Erklärungen zu geben. Manchmal lieben wir an den anderen Dinge, deren sie sich selbst überhaupt nicht bewußt sind. Oder die sie für lächerlich halten. Ich liebe deine Handtasche.« »Meine Handtasche? Wieso?« »Ich habe noch nie eine Frau mit einer solchen ZenHandtasche gesehen. Du hast nur die allernötigsten oder schönsten Dinge darin. Das verrät so viel über dich, und alles genieße und bewundere ich. Ich liebe die Art, wie du deine Stirn an meinen Hals legst, wenn wir schlafen. Und wie du deinen Arm über meine Schulter legst, wenn wir die Straße hinunterspazieren. Wie zwei Freunde.« 124
»Du bist mein Freund. Mein liebster Freund. Wenn ich dir mal einen Brief schreibe, wird er so anfangen: Mein liebster Freund.« Wie stand ich zu seiner Frau? Wie zu erwarten war, und es wurde um so schwieriger durch eine Eigenschaft, die ich an Hugh besonders liebte: Er sagte nur Gutes über Charlotte, ganz gleich, in welchem Zusammenhang. Seiner Beschreibung nach war sie eine liebevolle, großzügige Frau, die das Leben für alle nur besser machte. Verheiratete Männer fühlen sich oft genötigt, einer neuen Geliebten gegenüber ihre Ehepartnerin lächerlich zu machen. Ich wußte das von meinen Freundinnen, vor allem aus Zoes Erzählungen über ihren Ex-Boyfriend Hector. Es leuchtet ein, ist aber weder ehrlich noch mutig. Wir haben Affären, weil wir gierig sind. Diese Gier darf man nicht einem andern in die Schuhe schieben. Die Menschen verstehen sich brillant darauf, ihre Motive zu rechtfertigen. Es ist eines unserer häßlichsten Talente. Hugh und ich begehrten einander, und wir waren bereit, andere zu verletzen, wenn damit unsere Beziehung sicherer wurde. Es gab andere Erklärungs- und Rationalisierungsversuche, und keiner davon hatte etwas mit der Wahrheit zu tun. Wir waren einfach gierig. Wann erfuhr Charlotte davon? Ich glaube, nach ungefähr zwei Monaten. Hugh sagte nie ausdrücklich: »Sie weiß es.« Aber im Gespräch traten Dinge zutage, die darauf hinwiesen, daß sie es wußte. Es ist seltsam, aber je weiter wir uns aufeinander einließen, desto mehr wurde ich wie sie, indem ich von seinem anderen Leben nichts wissen wollte. Anfangs faszinierte es mich noch, zu erfahren, was sie gemeinsam unternahmen. Oder mit was für einer Frau er da verheiratet war. Aber eines Tages hörte das auf. So gut es ging, versuchte ich, sie aus meinen Gedanken auszusperren und die Tatsache zu ignorieren, daß es sie gab. 125
Es funktionierte eine Zeitlang, aber nach sechs Monaten klingelte das Telefon, und ich nahm den Hörer ab und hätte mich fast übergeben, als die ruhige Stimme am anderen Ende sagte: »Hier ist Charlotte Oakley.« »Hallo.« »Ich glaube, Sie wissen, warum ich anrufe.« »Ja.« Ich wollte auch so eine gefaßte Stimme haben. Eine, die sagte: Ich bin darauf vorbereitet, bin auf dich vorbereitet; nichts, was du sagen könntest, wird meine Gefühle ändern. »Mein Mann hat mir erzählt, daß er Sie liebt. Ich habe gesagt, ich würde Sie anrufen. Er nahm mir das Versprechen ab, es nicht zu tun, aber es gibt ein paar Dinge, die gesagt werden müssen, bevor diese Sache weitergeht. Ich finde, Sie sollten sie wissen. Er hat sehr offen über Ihre Beziehung gesprochen. Ich kenne Sie nicht und kann mich deshalb nur an das halten, was er gesagt hat. Hugh liebt die Frauen und hat im Laufe der Jahre viele Geliebte gehabt.« »Das hat er mir erzählt.« War das der Kurs, den sie einschlagen wollte? Wollte sie versuchen, mich zu demütigen, indem sie mir das Gefühl gab, ich sei nur eins seiner vielen Herzchen? Sofort leuchtete etwas in mir auf. Ich strich mir das Haar aus dem Gesicht, das einen Augenblick zuvor nach vorn gefallen war, als ich dasaß und es herabhängen ließ wie eine Schuldige. »Das glaube ich. So ist Hugh. Die Frauen lieben meinen Mann, weil er so ehrlich ist. Und komisch. Und so aufmerksam, daß sie das Gefühl haben, er sei ihr Alter ego. Wovon Sie aber nichts wissen, ist seine Gewohnheit, sich immer und immer wieder die gleiche Sorte Frau auszusuchen, Miranda. Sie sind immer hübsch und sehr intel126
ligent. Sie haben etwas zu sagen. Sie fangen etwas Interessantes mit ihrem Leben an. Aber wenn man sich das Feingedruckte in seiner Stellenbeschreibung anschaut, dann müssen sie auch in Not sein. Hugh möchte Sie vor Ihren Drachen retten. Er ist ein ritterlicher Mann. Ich bin sicher, Sie brauchen Hilfe, und er ist da, um sie Ihnen zu bringen.« »Ich werde jetzt auflegen.« Zum ersten Mal wurde ihre Stimme schroff. »Ich sage Ihnen hier etwas, das uns allen Zeit und Schmerz ersparen wird! Wenn Sie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit seinen anderen Freundinnen haben, dann lieben Sie ihn, weil Sie ihn brauchen, und nicht andersherum. Sie werden in dieser Beziehung versinken, bis Sie ohne ihn hilflos sind. Vielleicht sind Sie es schon. Aber ich warne Sie, wenn es soweit ist und wenn Ihre Schwäche ihn langweilt, dann wird er gehen. Das hat er immer getan. Er ist einfach so. Er wird es liebevoll tun, und es wird aussehen, als leide er dabei so sehr, daß Sie glauben werden, es sei Ihre Schuld, aber das ist es nicht …« »Wie können Sie so etwas über Ihren Mann sagen?« Sie lachte, und der Ton erschreckte mich. Es klang entspannt, wissend. Dies war ein Gebiet, auf dem sie sich gut auskannte. Mit mir, einer Anfängerin, darüber zu reden, war erheiternd. »Hat er Ihnen schon die Autobiographie von Kazantzákis zu lesen gegeben? Report to Greco? Er wird es tun. Es steht eine Zeile darin, die er liebt: ›Sie waren Spatzen, und ich wollte sie zu Adlern machen.« Ich legte auf. Das hatte ich im Leben noch nicht getan. Ich wollte sie beiseite schieben, aber ich konnte es nicht, denn was sie gesagt hatte, stimmte: Ich war schwach. Ich brauchte ihn wirklich. 127
Minutenlang haßte ich Hugh und mich selbst gleichermaßen. Warum konnte es nicht einfach eine Affäre sein? Damit wäre ich doch zufrieden gewesen. Warum konnten wir unseren Wagen nicht einfach bis zu dieser Stelle am Straßenrand fahren und dann anhalten? Wessen Schuld war es, daß wir so weit gefahren waren? Als er eine Stunde später anrief, saß ich noch immer auf demselben Stuhl. Ich berichtete ihm von dem Gespräch mit seiner Frau und sagte, daß ich ihn nicht wiedersehen wollte. »Warte! Warte, Miranda! Bitte, du mußt noch etwas wissen. Hat sie dir unser ganzes Gespräch wiedergegeben? Hat sie dir erzählt, wie es weiterging? Ich habe gesagt, ich will mich von ihr trennen.« »Was?« »Ich habe ihr gesagt, ich liebe dich so sehr, daß ich die Trennung will.« Ich nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn fassungslos an, als wäre es Hugh. »Was redest du da, Hugh? Davon hast du mir nie etwas gesagt!« »Doch, das habe ich, aber du hast nicht geglaubt, daß es wahr ist.« »Nein, so hast du es nicht gesagt! Ich weiß nicht, was hier los ist. Ich bin wie deine anderen Freundinnen. Charlotte hat recht: Ich bin wieder ein neues, schwaches kleines Vögelchen in deinem Fanclub. Warum willst du sie verlassen …« »Weil ich dich liebe!« »Du verläßt deine Frau nach zwanzig Jahren Ehe und deine Kinder und … Blödsinn! Ich will diese Verantwortung nicht auf mich nehmen. Oder diese Schuld. Ich muß weg.« »Nein, bitte …« Ich legte auf. 128
Ich versuchte, zu meinem Leben vor Hugh Oakley zurückzukehren, und fast gelang es mir. Man kann sich so viel Arbeit schaffen, wie nötig ist. Das Problem liegt in der Zeit zwischen den Dingen, wenn einem die Gedanken und Erinnerungen aus dem Hirn bersten wie Granatsplitter. Ich unternahm Reisen nach Kalifornien, nach Boston und London. An einem trübseligen Stand mit gebrauchten Büchern in der Nähe der Hayward Gallery entdeckte ich eins der wertvollsten Bücher, die ich je gesehen hatte, zum Preis von fünf Pfund. Zu jeder anderen Zeit hätte ich einen Salto gemacht. Jetzt kamen mir die Tränen, denn der einzige, dem ich diesen Schatz zeigen wollte, war Hugh Oakley. Er rief unentwegt an. Wenn ich zu Hause war, zwang ich mich, den Anrufbeantworter anspringen zu lassen. Seine Botschaften rangierten zwischen Gelassenheit und Pein. Er schickte Briefe, Blumen, liebevolle Geschenke, die mir den Atem verschlugen. Nur eins tat er nicht: Er kreuzte weder in meiner Wohnung noch in meinem Geschäft auf. Ich war dankbar. Ihn zu sehen, war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Das mußte er begriffen und akzeptiert haben, Gott sei Dank. Ich erzählte Zoe und Frances Hatch, was geschehen war. Sie hatten unterschiedliche Auffassungen von dem, was ich tun sollte. Zoe hatte ihren Teil an verheirateten Männern gehabt und betrachtete die Möglichkeit, daß Hugh seine Frau verlassen könnte, mit noch größerer Skepsis als ich. »Schlags dir aus dem Kopf! Das sagen sie alle, bis sie wissen, daß sie dich wieder unter Kontrolle haben. Danach werden sie wieder unentschieden. Ein verheirateter Mann will den Kitzel und den Reiz des Neuen bei seiner Geliebten, kombiniert mit dem Komfort und dem Frieden seiner Familie. Das ist eine unmögliche und unfaire Kombinati129
on. Wie könntest du ihm beides geben, wenn du erst seit ein paar Monaten in seinem Leben bist? Jemand hat mal gesagt, die erste Frau richtet den Mann zu, und die zweite kriegt dann all die Süßigkeiten, aber ich glaube nicht, daß es so ist. Ganz im Gegenteil. Wenn er seine Frau wirklich verläßt, schleppst du sein zehn Tonnen schweres schlechtes Gewissen auf dem Rücken eurer Beziehung, und zwar bis zu deiner letzten Stunde. Kennst du den Witz von dem Mann, der sich einen neuen Anzug machen läßt? Der Schneider nimmt Maß und sagt, kommen Sie in zwei Wochen wieder. Der Typ kommt und probiert den Anzug an. Es sieht grauenhaft aus. Der linke Ärmel ist zehn Zentimeter zu lang, das Revers ist schief, der Schritt hängt zwischen den Knien wie bei einer Haremshose. Es ist der schlechteste Anzug der Welt. Der Typ beschwert sich, aber der Schneider sagt, er sieht es falsch. ›Sie müssen nur den linken Ärmel hochziehen und mit dem Kinn dort festhalten. Dann heben Sie die rechte Schulter zehn Zentimeter höher, um das Revers geradezurücken, und stecken die rechte Hand in die Hosentasche, um den Schritt hochzuziehen …‹ Du kannst es dir vorstellen. Der Mann tut das alles, und am Ende sieht er aus wie der Glöckner von Notre Dame. Aber als er wieder in den Spiegel schaut, sieht der Anzug klasse aus. Der Schneider sagt: ›Das ist heutzutage der neue Stil.‹ Der Trottel kauft den Anzug und geht aus dem Laden. Er torkelt die Straße hinunter wie Quasimodo und begegnet zwei Männern. Sie drehen sich um und sehen ihm nach, wie er davonhinkt. Der erste Typ sagt: ›Behinderte tun mir so leid.‹ – ›Ja‹, sagt der andere, ›aber was für ein fabelhafter Anzug!‹ Das ist die beste Metapher, die ich je gehört habe, um die Art zu beschreiben, wie wir versuchen, solche Bezie130
hungen zum Laufen zu bringen. Oder was wir uns selbst antun, um irgend etwas Wichtiges zum Laufen zu bringen. Tu das nicht, Miranda. Du hast so vieles, was für dich spricht. Du brauchst ihn nicht, ganz egal, wie gut du es findest.« »Aber was ist, wenn es das ist, Zoe? Was ist, wenn ich weggehe, und es stellt sich heraus, daß dies die wichtigste Beziehung meines Lebens war? Wenn die Erinnerung zu gewaltig ist und mich am Ende zerdrückt?« »Wenn wir Glück haben und den Richtigen finden, dann sind siebzig oder achtzig Prozent von Anfang an da. Die anderen zwanzig mußt du selber schaffen. Hier geht es um weit mehr als zwanzig Prozent, Miranda. Aber wenn du es tun mußt, dann tu es. Vergiß nur nicht, einen Stahlhelm aufzusetzen, und lerne das Geräusch anfliegender Granaten zu erkennen, wenn sie herunterprasseln. Denn kommen werden sie – in Salven!« Ein Brief kam von Hugh: Ich hatte letzte Nacht einen Traum, und ich habe keine Ahnung, was er bedeutet. Aber ich wollte ihn dir erzählen, weil ich glaube, daß er etwas mit uns zu tun hat. Ich bin in Los Angeles und brauche ein Auto. Also gehe ich zu einem Gebrauchtwagenhändler und kaufe einen Oldsmobile 88 aus den sechziger Jahren. Er ist kanariengelb und in gutem Zustand, vor allem das Radio. Aber wirklich außergewöhnlich ist der Motor, denn er ist eine große Kartoffel! Jemand hat das Original durch diese Riesenknolle ersetzt. Aus irgendeinem wunderbaren Grund funktioniert er tadellos. Ich fahre mit meinem neuen alten Auto mit dem Kartoffelmotor in L. A. umher und fühle mich wunderbar. Ich habe das einzige Auto der Welt, des131
sen Motor man kochen und aufessen kann, wenn man Hunger hat. Eines Tages halte ich an einer Ampel, und der Motor setzt aus. Das beunruhigt mich, zumal da das Ding schon weit über hunderttausend Meilen auf dem Buckel hat. Ich fahre also zu einer Tankstelle und sage dem Mechaniker, was passiert ist. Er klappt die Haube auf und wundert sich nicht über das, was er sieht. Er sagt, ich soll in die Werkstatt fahren. Er und ein anderer Mann heben die Kartoffel mit der Winde aus dem Wagen und lassen sie auf den Boden fallen. Sie bricht entzwei. Ich bin entsetzt. Innerlich ist sie wie jeder verschlissene Motor voll dikker, schwarzer Ölschmiere. Ich frage, was es kosten wird, sie zu ersetzen. Die beiden sagen, sie können mir nur einen neuen, normalen Motor einbauen, aber der ist nicht teuer – ein paar hundert Dollar. Kurz bevor ich aufwache, bin ich unschlüssig. Ich denke immer nur: Warum können sie nicht eine neue Kartoffel einsetzen? Ich will keinen normalen Motor. Was hat das zu bedeuten, Miranda? »Woher soll ich wissen, was das bedeutet, Miranda?« sagte Frances Hatch. »Ich bin nicht Carl Jung! Dein Freund träumt von Kartoffeln, und du verlangst von mir, daß ich es deute? Ich bin nur alt. Alt sein bedeutet nicht, daß man mehr weiß; es bedeutet nur, daß man genug Ballaststoffe gegessen hat. Den größten Teil meines Lebens hindurch konnten sich die Leute nicht auf Psychiater verlassen. Wenn man schlecht träumte, lag es entweder daran, daß man am Abend vorher etwas gegessen hatte, oder an einer zu lebhaften Phantasie. Ich halte nichts von Traumdeutung. Du solltest auch die Finger davon lassen. Zerbrich dir nicht den Kopf über das, was Hughs Traum sagt, sondern über das, was er mit offe132
nen Augen sagt. Wenn er wegen seiner Frau und seiner Kinder keine Beklemmungen hat, dann brauchst du auch keine zu haben! Bist du sein Gewissen oder seine Geliebte? Ich finde es großartig, zu wissen, daß er deinetwegen alles über Bord wirft. So sollen Liebesgeschichten sein. Es ist arrogant, zu glauben, daß man weiß, was richtig ist. Tugendhaftigkeit ist die meiste Zeit nur Feigheit. Wir vermeiden schlechtes Benehmen nicht, weil es sich nicht schickt; in Wirklichkeit haben wir nur Angst davor, zu sehen, wie weit es bis zum Boden ist. Es ist weit, und du kannst sterben, wenn du unten aufschlägst. Aber manchmal überlebt man den Sprung, und da unten ist die Welt eine Million Male besser als da, wo du jetzt lebst.« Als ich anrief, um ihm zu sagen, daß ich ihn sehen wollte, wollte Hugh wissen, was mich umgestimmt habe. Ich sagte, die Tage seien tot ohne ihn, und ich könne es nicht mehr aushalten. Wir trafen uns auf neutralem Boden – in einem unserer Lieblingsrestaurants –, aber es dauerte keine Stunde, und wir waren wieder draußen und in meinem Bett. Wenn ich die Befürchtung gehegt hatte, er werde mich verlassen, so legte sie sich rasch. Innerhalb von zwei Wochen zog er zu mir. Er brachte so wenig mit, daß ich Sorge hatte, er betrachte seinen Einzug als Testfahrt: Solange seine ganze Habe noch in seiner Wohnung war, konnte er, wenn wir scheitern sollten, jederzeit dorthin zurückkehren. Aber eines Samstags, als er in seinem Büro war, läutete es unten an der Tür. Ein Möbelgeschäft lieferte einen großen Sessel, den ich nicht bestellt hatte. Als sie sagten, ein Hugh Oakley habe ihn bestellt, klatschte ich in die Hände. Hugh las abends gern, aber er sagte, das gehe nur in einem perfekten Sessel. Jetzt hatte er für sein neues Heim einen gekauft. 133
Charlotte erlaubte nicht, daß ich ihre Kinder kennenlernte. Sie war überzeugt, ich sei nur ein Lichtpunkt auf dem Radarschirm der Midlife-crisis ihres Ehemanns. Infolgedessen würden sie sich, wenn er wieder zur Besinnung gekommen wäre, wieder versöhnen, und ich wäre Schnee von gestern. Warum also die Kinder weiteren Verwirrungen aussetzen? Hugh interessierte ihre Ansicht nicht; er bestand unerbittlich darauf, daß ich Zeit mit ihnen verbrachte. Ich sagte nein. Sie lebten in einem Paralleluniversum, in das ich noch nicht gehörte. Dafür würde es in Zukunft noch Gelegenheit geben. Insgeheim hatte ich eine Todesangst davor, was passieren würde, wenn wir uns schließlich doch kennenlernten. Ich stellte mir vor, wie zwei Kinder mich mit feurigen Augen schmelzen lassen würden, ehe ich ihnen sagen könnte, daß ich alles tun wollte, um ihre Freundin zu werden. Er vermißte seine Kinder schrecklich, und ich ermutigte ihn, sich mit ihnen zu treffen, sooft er konnte. Ich wußte, daß er in gewisser Hinsicht auch Charlotte vermißte. Ich bin sicher, es gab Gespräche und Treffen zwischen ihnen, von denen er mir nie erzählte. Seine Emotionen kreuzten hin und her wie ein Segelschiff im Sturm. Was konnte ich tun, um ihm zu helfen? Seine Freundin sein. Ihn wissen lassen, wie sehr ich ihn liebte und schätzte. Den Mund halten, wenn es nötig war, mich um Rücksicht bemühen, wenn mein erster Impuls war, nach allem zu schnappen, was ich nicht verstand oder was mich bedrohte. Mein ganzes Erwachsenenleben lang hatte Hugh Oakley in einer Ehe gelebt, in einem fremden Land, das ich nie betreten hatte. Es war leicht, mir vorzustellen, wie es dort aussah, aber das war, als lese man einen Prospekt im Reisebüro. Wirklich kennenlernen konnte man das Land erst, wenn man hinfuhr. 134
»Hast du je von Crane’s View gehört?« Frances lächelte mit geschlossenen Augen. Sie saß an einem Fenster in ihrem Wohnzimmer mit den roten Teppichen, und die Morgensonne beschien ihr Gesicht. Ein paar Minuten zuvor, als ich hereingekommen war und ihr einen Kuß auf die Wange gegeben hatte, war sie fast heiß gewesen. Wir tranken Gunpowder-Tee und aßen englische Muffins – ihr bevorzugtes Frühstück. »Was ist Crane’s View?« »Eine Stadt am Hudson, ungefähr eine Stunde von hier. Ich habe sie vor dreißig Jahren entdeckt und mir dort ein Haus gekauft. Es ist klein, aber der Blick auf den Fluß ist spektakulär. Deshalb habe ich es gekauft.« »Ich wußte nicht, daß du ein Haus hast, Frances. Fährst du je hin?« »Nicht mehr. Es macht mich traurig. Ich hatte zwei gute Liebesaffären und einen netten Hund in diesem Haus. Habe mal fast ein Jahr dort verbracht, als ich wütend auf New York war und es boykottierte. Ich habe letzte Woche daran denken müssen. Häuser sollten nicht leer sein. Man sollte entweder darin wohnen oder sie verkaufen. Möchtest du es haben?« Ich schüttelte den Kopf und stellte die Tasse hin. »Du kannst nicht einfach ein Haus verschenken. Bist du verrückt?« Sie öffnete die Augen und hob den Muffin zum Mund. Ein Klecks Marmelade begann seine langsame Rutschfahrt. Sehr sorgfältig fing sie ihn mit dem Daumen ab und schob ihn wieder nach oben. Sie musterte mich kalt, sagte aber nichts, bis sie zu Ende gekaut hatte. »Entschuldigung, aber ich kann tun, was ich will. Sei nicht gräßlich und behandle mich nicht wie eine schwachsinnige Alte. Wenn ich dir mein Haus schenken will, dann werde ich dir mein 135
Haus schenken. Du mußt es nicht nehmen, aber das ist deine Sache.« »Aber …« »Miranda, du hast mir mindestens viermal erzählt, wie gern du und Hugh umziehen wollt. Dein Apartment ist zu klein, und ihr braucht etwas, wo ihr zusammen ein ganz neues Leben anfangen könnt. Das finde ich auch. Ich weiß nicht, ob es euch in Crane’s View gefallen würde. Es ist eine Kleinstadt. Viel zu tun gibt es da nicht. Aber ihr könntet beide zur Arbeit in die Stadt fahren. Die Fahrt mit dem Zug dauert nur eine Stunde, und sie ist hübsch – die ganze Zeit am Fluß entlang. Sieh es dir wenigstens an. Was hast du zu verlieren?« Am nächsten Sonntag mieteten wir uns ein Auto, holten Frances ab und fuhren mit ihr nach Crane’s View. Es war das erste Mal seit Monaten, daß sie ihre Wohnung verließ. Sie fand es gleichzeitig aufregend und beängstigend, wieder draußen in der Welt zu sein. Die meiste Zeit wollte sie meinen Arm nicht loslassen, aber sie war so aufgedreht, daß sie nicht eine Minute lang aufhörte zu reden. Von ihrer ersten Begegnung an mochten Frances und Hugh einander sehr gern. Ihr Leben und die Leute, die sie gekannt hatte, faszinierten ihn. Ihre größte Freude war es, mit jemandem, dem daran lag, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sie stritten sich auch dauernd, aber Frances liebte einen anständigen Streit. Trotz ihres hohen Alters brannte immer noch ein großes Feuer in ihr, das nach Nahrung lechzte. Hugh spürte das sofort, und zu meiner Bestürzung brach er gleich bei der ersten Begegnung eine Auseinandersetzung vom Zaun. Ihr Gesicht verriet reines Glück. Mitten in der Schlacht hieb Frances sich mit der flachen Hand auf ihr Vogelknie und verkündete: »Wenn Sie das nicht gesagt hätten, hätte es jemand anders getan. Das ist der Unterschied zwischen den Cleveren und den Großen.« 136
Hugh johlte und erklärte, er werde zum heiligen Gildas beten, der die Menschen vor bissigen Hunden beschützte. Als wir gingen, nahm sie mich beiseite und sagte: »Er ist ganz anders, als du ihn beschrieben hast, Miranda. So viel besser und so viel ärgerlicher!« Danach besuchten wir sie zusammen. Wenn Hugh für uns einkaufen ging, brachte er unweigerlich eine Kollektion von Ding Dongs, Pinwheels, Twinkies und anderen Süßigkeiten für sie mit. Als ich Frances erzählte, daß er derjenige war, der ihr dieses Junkfood kaufte, traten ihr die Tränen in die Augen. Aber das Plakat eroberte ihr Herz für alle Zeit. Als ich es das erste Mal sah, fragte ich ihn, wie zum Teufel er es gefunden habe. Hugh sagte nur, er habe Glück gehabt. Seine Mitarbeiterin Courtney gestand später, Hugh habe alle seine europäischen Kontakte monatelang suchen lassen, bis sie im polnischen Wroclaw eines aufgetrieben hätten. Es war ein großes Farbplakat vom RonacherTheater in Wien aus dem Jahr 1922, und es kündigte einen Auftritt des »Gewaltigen Shumda« an, des »weltbekannten Bauchredners« und natürlich der großen Liebe im Leben von Frances Hatch. Auf dem Plakat steht er mit verschränkten Armen da und wirkt riesig, selbstsicher und geheimnisvoll in seinem Smoking und dem bodenlangen Umhang. Er ist ein gutaussehender Mann mit glänzend schwarzem, glatt nach hinten gekämmtem Haar und einem verrucht aussehenden kleinen Spitzbart. Als Frances das Bild sah, legte sie die Hände an die Wangen und rief: »Dieser Spitzbart! Morgens hat er immer als erstes Florida Water draufgespritzt. Nie im Leben habt ihr etwas so Gutes gerochen.« Als wir an diesem Tag aus New York City hinausfuhren, fing sie wieder an, von ihm zu reden. »Auf eine komische 137
Art und Weise hat Shumda mir Crane’s View geschenkt. Nicht direkt. Er war ja schon seit Jahren weg, ehe ich überhaupt hier heraufkam. Aber Tyndall hat hier gewohnt, und er war Shumdas größter Fan.« Ich drehte mich zum Rücksitz um und schaute sie an. Sie trug eine tomatenrote Wollmütze und einen Pelzmantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. »Tyndall, der Ölmann?« Frances nickte. »Ja. Wir hatten ihn in den zwanziger Jahren in Bukarest kennengelernt. Damals war er einer von vielen Fans von Shumda. Wir blieben über die Jahre in Kontakt. Anfang der Fünfziger lud er mich auf ein Wochenende nach Crane’s View ein. Ich verliebte mich in den Ort und kam immer wieder zurück. Es war die perfekte Möglichkeit, aus New York zu entkommen, und Lionel war immer froh, mich bei sich aufzunehmen. Im letzten Jahr gab es dort einen Mordfall.« Sie sagte eine Zeitlang nichts, und als ich mich nach ihr umsah, war sie eingeschlafen. Das war eins der wenigen Symptome ihrer nahezu hundert Jahre: Sie schlief schneller ein als irgend jemand, den ich je gekannt habe. Wir fuhren lange Zeit in behaglichem Schweigen. Ich schaute aus dem Fenster und sah zu, wie die Stadt sich in Vororte verwandelte und dann beinahe zum Lande wurde. Hugh legte mir eine Hand aufs Knie und sagte leise: »Ich liebe dich. Weißt du das?« Ich schaute ihn an und sagte: »Niemand auf der Welt könnte glücklicher sein, als ich es in diesem Augenblick bin. Niemand.« Wir weckten Frances erst, als wir die erste Ankündigung der Ausfahrt Crane’s View sahen. Genaugenommen weckten wir sie überhaupt nicht; eine Meile vor der Ausfahrt fuhren wir beide hoch, als sie rief: »Die nächste rechts!« 138
Ich drehte den Rückspiegel so, daß ich sie sehen konnte. »Woher weißt du, wann du aufwachen mußt?« Sie klopfte mit flacher Hand ein Gähnen nieder. »Lionel Tyndall hat immer für mich geschwärmt. Er war so häßlich wie ein Eiersalat-Sandwich, aber das war okay. Ich bin in der Abteilung ja auch nicht preisverdächtig. Nein, mein Fehler war es, daß ich ein paarmal mit ihm geschlafen habe. Er wußte nicht, was er tat. Aber ich wußte es, und das machte ihn unvernünftig. Der Kerl kannte den Unterschied zwischen seinem großen Kopf und seinem kleinen nicht. Jetzt rechts, Hugh. So ist es richtig. Wir sind fast da.« Sie redete weiter, während wir auf die Stadt zufuhren. Ich wußte nicht, was ich erwarten sollte, aber was es dann dort gab, entsprach ziemlich genau meinen Vorstellungen. Crane’s View selbst war putzig und klein. Die Läden in der Stadtmitte erfüllten den Grundbedarf – Lebensmittel, Kleider, Haushaltswaren, Zeitungen –, und ein oder zwei Spezialitätengeschäfte gab es auch. Es war eine Stadt, die auf Hügel gebaut war, und von diesen Hügeln aus konnte man oft einen Blick hinunter auf den Hudson River werfen. Als ich an diesem ersten Tag dort herumfuhr, dachte ich immer wieder: Es ist ein hübscher Ort, eine echte Fünfziger-JahreKleinstadt im Staat New York. Aber es hatte nichts Besonderes. Ich fragte mich, warum Frances behauptete, sie liebe es. Crane’s View war all das, was Frances Hatch nicht war – ruhig, gemächlich, frei von Überraschungen. »Haltet hier! Hier muß man zu Mittag essen. Die haben die beste Pizza im County.« Hugh bremste hart und schwenkte auf den Parkplatz vor einer schäbig aussehenden Pizzeria. Wir stiegen aus und folgten Frances hinein. Der köstliche Duft von heißem Knoblauch begrüßte uns. Zwei Kleinstadt-Hengste lehnten 139
an der Theke und musterten uns langsam. Wir bestellten jeder eine Pizza; als sie kamen, waren alle drei so groß wie Langspielplatten. Frances streute gemahlenes Chili auf ihre. Wir holten uns Softdrinks aus einem Kühlschrank und setzten uns an einen verschrammten Tisch. Während wir aßen, kam ein gutaussehender Mann in einem teuer aussehenden Zweireiher herein. Er blieb stehen, und sein Gesicht erstrahlte in einem breiten Lächeln, das von Herzen kam. »Frances! Was machst du hier?« »Frannie!« Er kam herüber, und sie umarmten einander. »Ich bin wirklich froh, dich zu sehen, alte Frau! Warum hast du nicht angerufen und gesagt, daß du kommst? Wir hätten zusammen essen können oder so was.« »Ich wollte dein Gesicht erleben, wenn du siehst, daß ich noch existiere. Frannie, das sind meine Freunde Miranda und Hugh. Das ist Frannie McCabe, der Polizeichef. Ich kenne ihn seit fünfundzwanzig Jahren. Wie geht’s, Chief?« »Gut! Ich bin wieder verheiratet. Magda und ich haben es endlich getan, auch wenn ich sie unter Geschrei und Gestrampel zum Altar schleppen mußte.« »Schön für dich! Magda McCabe, was? Ein hübscher Name. Hör mal, wir wollen nach dem Lunch zu meinem Haus. Ist alles okay da drüben?« Er verschränkte die Arme und verdrehte die Augen entnervt zur Decke. »Frances, haben wir dieses Gespräch schon einmal geführt? Du weißt, daß ich das Haus für dich im Auge behalte! Wie oft muß ich es dir sagen? Es könnte einen neuen Anstrich gebrauchen, aber darüber haben wir schon gesprochen. Ansonsten ist es prima. Willst du wieder einziehen?« 140
»Nein, aber die beiden vielleicht. Deshalb sind wir gekommen, um es anzuschauen.« McCabe zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Es ist ein hübsches Haus, aber wenn Sie da wohnen wollen, ist ein bißchen Arbeit nötig. Auf jeden Fall ein neuer Anstrich, und der Keller wird feucht. Ich könnte Sie mit ein paar Leuten bekannt machen, die ordentlich arbeiten und nicht allzu teuer sind.« Frances hatte ihre Pizza verspeist und wischte sich die Hände ab. »Frannie ist der König von Crane’s View. Er kennt hier jeden. Wenn sie nicht zu seiner Familie gehören, waren sie in seiner Bande. Er war früher ein jugendlicher Straftäter. So haben wir uns kennengelernt; er ist in mein Haus eingebrochen, als er fünfzehn war, aber ich war zufällig da.« Sie wandte sich zu ihm um. »Warum fährst du nicht mit uns hin?« »Das würde ich gern, aber ich habe zuviel zu tun. Der Flächennutzungsausschuß tagt heute nachmittag, und ich muß dabei sein. Die Firma, die das Tyndall-Haus gekauft hatte, hat es nach dem Mord, der letztes Jahr dort passiert ist, wieder verkauft. Kann nicht sagen, daß ich es ihnen verdenke. Jetzt schnüffelt da ein Konsortium herum. Sie wollen es abreißen und ein Hotel oder so was hinbauen. Was soll eine langweilige kleine Stadt wie unsere mit einem Hotel anfangen? Wer soll da wohnen? Rip van Winkle? Aber jetzt muß ich los. Wenn Sie beide etwas brauchen – Frances hat meine Nummer. Ich wünschte, du würdest wieder herziehen, Frances. Ich besuche dich lieber hier als in diesem gruseligen Apartment unten in der Stadt.« Sie gaben einander einen Kuß, und wir schüttelten ihm die Hand. Er wollte zur Tür gehen, aber der spöttisch zwinkernde Kellner rief ihn zurück und hielt die bestellte 141
Pizza hoch. McCabe grinste und kam zurück, um sie zu holen. »Gibt es hier viel Kriminalität? Sie sprachen vorhin von einem Mord.« Sein Lächeln verflog, und er starrte mich an, bevor er antwortete. »Das war eine einmalige Sache. Und es gab eine Menge mildernde Umstände. Crane’s View ist eine ruhige Stadt. Langweilig meistens, ’ne Menge Arbeiter hier, ein paar Pendler. Alle arbeiten hart. Am Wochenende mähen sie ihren Rasen oder schauen sich ein Spiel an. Ich bin hier schon lange Cop. Das schlimmste Verbrechen, das hier passiert, ist, daß ab und zu einem das Auto geklaut wird. Mehr nicht. Hören Sie, ich muß jetzt wirklich weg. Ms. Hatch, wir sprechen uns bald. Und Sie beide lassen es mich wissen, wenn Sie hier einziehen wollen. Ich schicke dann vorher ein paar Leute hinüber, die das Haus auf Vordermann bringen, damit es wenigstens bewohnbar ist, wenn Sie kommen.« Der Kellner jodelte: »Byyyyye, Chief!« McCabe zeigte ihm den Mittelfinger und lächelte. »Kein Respekt.« Dann war er weg. Ich sah, wie er in ein wunderschönes silbernes Auto stieg und abfuhr. »Fährt ein sehr nettes Auto für einen Polizisten.« Hugh hatte es auch gesehen, und er nickte. »Hast du seine Armbanduhr gesehen? Das war eine Da Vinci! So eine Zwiebel kostet echt Geld.« Frances zuckte die Achseln. »Er hat Geld wie Heu. Er braucht nicht als Cop zu arbeiten, aber es macht ihm Spaß. Hat mit seiner ersten Frau zusammen eine Menge Geld gemacht. Irgendwas mit Fernsehen. Er hat es mir mal erzählt, aber ich hab’s vergessen.« 142
»Er gefällt mir. Er ist ein tough guy.« Hugh hob die Fäuste und tat, als wolle er boxen. »Wirklich? Mich erinnert er an einen der Gangster in Goodfellas. Ich möchte ihm nicht in die Quere kommen.« Frances tätschelte mir die Hand. »Nein, das solltest du auch nicht. Er ist wie eine Viper, wenn du ihn ärgerst. Aber er ist ein großartiger Freund und gehört zu den wenigen Leuten, auf die man sich vollständig verlassen kann. Wollen wir gehen? Ich kann’s nicht erwarten, mein Haus zu sehen.« Diesmal setzte Frances sich auf den Beifahrersitz und dirigierte Hugh zum Haus. Während wir durch Crane’s View fuhren, stellte ich mir vor, wie ich durch diese Straße ging, wie ich in dem Laden dort einkaufte. Briefe für uns würden in dem kleinen grauen Post-Office am Ende der Main Street ankommen. Nach einer Weile würden wir die Namen der Männer auf dem orangegelben Müllauto kennen, das dort an der Ecke hielt. Kids fuhren mit ihren Fahrrädern in trunkenen Schlangenlinien den Gehweg hinunter. Hunde überquerten die Straße in dem ihnen eigenen Tempo. Zwei Mädchen hatten auf der einen Seite einer baumgesäumten Straße einen Limonadenstand aufgestellt. Die Sonne schien durch das Laub und betupfte die Mädchen, und sie schauten uns stirnrunzelnd an, als wir vorbeifuhren. »Hugh, sieh doch!« Ein hübscher Teenager führte einen Bullterrier spazieren, der aussah wie Hughs. Die beiden hatten es nicht eilig. Der Hund beschnupperte etwas auf dem Gehweg und wedelte langsam mit dem Schwanz. Das Mädchen trug einen Walkman und wartete mit verschränkten Armen. Sie blickte auf, als wir vorbeikamen, und winkte. Frances winkte zurück. »Das ist Barbara Flood. Gutaussehendes Mädchen, nicht? Ihr Großvater war Tyndalls Gärtner. Hier rechts.« 143
»Sie ist die erste Schwarze, die ich hier gesehen habe.« Frances gab Hugh einen Schubs. »Fangen Sie nicht mit der liberalen Litanei an. Es gibt jede Menge Schwarze in Crane’s View. Der Bürgermeister ist schwarz.« Er schaute mich im Rückspiegel an und zwinkerte. »Ich habe nur eine Bemerkung gemacht.« »Ja, schön, aber sie hatte ein Gewicht von zehn Pfund. Das ist es. Halten Sie hier.« »Das ist das Haus? Sie machen Witze.« Frances’ Stimme fuhr herab wie ein Karatehieb. »Was ist los damit?« Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können. »Nichts ist los. Es ist nur groß. Du hast gesagt, es ist klein, aber das ist kein kleines Haus, Frances.« Es war blau, halbwegs. Blau mit weißen Verzierungen. Aber mit den Jahren war der Anstrich zur Farbe einer alten Jeans verblichen. Das Weiß um Fenster und Tür war vergilbt und blätterte überall ab. McCabe hatte recht: Das erste, was hier nötig wäre, war eine Menge Farbe. Das Haus war viereckig, geformt wie eine Hutschachtel, es hatte ein Obergeschoß, und vorn war eine große Veranda. Am Abend vor der Fahrt dorthin hatten Hugh und ich ein ganzes Essen damit zugebracht, uns vorzustellen, wie es wohl sein würde. Keine unserer Phantasien erreichte das hier auch nur annähernd. 189 BROADWAY // CRANE’S VIEW, NEW YORK »Hier, Hugh, machen Sie die Tür auf. Ich will mich noch umsehen.« Frances reichte ihm den Schlüsselbund und ging auf die Verandatreppe zu. Sie beugte sich vor und 144
küßte den hölzernen Geländerpfosten. »Hab dich lange nicht gesehen.« Langsam kletterte sie hinauf und tätschelte dabei das Geländer. Oben angekommen, streckte sie die Hand aus und drückte auf den Klingelknopf. Drinnen läutete es laut. Hugh legte mir den Arm um die Schultern. »Hast du das gehört? Eine richtige Glocke! Ding, dong!« Ich fragte leise: »Was meinst du?« »Mir gefällt es! Erinnert mich an ein Haus auf einem Bild von Edward Hopper. Aber es braucht eine Menge Arbeit, das sehe ich schon.« Er stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete das Haus abschätzend. »Es ist wirklich sehr viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich dachte, es wäre eine Art großer Bungalow.« Frances ging bis zum Ende der Veranda und blieb dort stehen. Sie hatte uns den Rücken zugewandt, und sie drehte sich endlos lange nicht wieder um. »Was macht sie da?« »Hängt wahrscheinlich ihren Erinnerungen nach. Laß uns hineingehen. Ich kann’s nicht erwarten, zu sehen, wie es drinnen ist.« Hugh schob den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn zweimal um. Bevor er die Tür aufdrückte, strich er mit der Hand über die Fläche, hin und her. »Hübsche Tür, nicht? Eiche.« Sie schwang auf. Die ersten Gerüche unseres neuen Heims wehten heraus und sagten hallo: Staub, Feuchtigkeit, alter Stoff und etwas, das in absolutem Kontrast zu dem Bouquet eines alten Hauses stand. Hugh ging hinein, aber ich blieb in der Tür stehen und versuchte diesem einen Geruch auf den Grund zu kommen. Er war sauber und süß und paßte überhaupt nicht zu einem Gebäude, das jahrelang abgeschlossen und unbenutzt dagestanden hatte. Es 145
roch frisch und köstlich, aber ich konnte nicht sagen, was es war. »Miranda, kommst du?« »Gleich. Geh nur schon.« Ich hörte Hughs Schritte auf dem Fußboden, und dann öffnete sich knarrend eine Tür. Etwas dort drinnen ließ ihn leise »Wow!« sagen, und dann hörte ich wieder seine Schritte. Was war das für ein Geruch? Ich tat ein paar Schritte ins Haus, sah mich um und schloß die Augen. Als ich sie einen Moment später wieder öffnete, war der Hausflur voller Menschen. Voller Kinder, genauer gesagt, und nur ein paar Erwachsene standen herum und verfolgten die Show. Kids rannten und sprangen umher, schnitten Grimassen und spielten. Sie rannten hin und her, von einem Zimmer ins andere, polterten die Treppe hinauf und hinunter, aßen gelbe und blaue Torte (das war es – es duftete nach Torte!), tuteten in Plastikhörner und schlugen einander. Die meisten trugen pastellfarbene Partyhüte. Als ich sie sah, wurde mir klar, was das war: ein Kindergeburtstag. Ich war nicht überrascht. Ich muß das noch einmal sagen, denn es ist sehr wichtig. Von einem Augenblick auf den andern war Frances Hatchs leeres Haus blitzartig erfüllt vom fröhlichen Chaos eines Kindergeburtstages, aber das überraschte mich kein bißchen. Ich schaute einfach zu und nahm es hin. Ein kleiner Junge mit einem schiefen Partyhütchen stand mitten im Hausflur und beobachtete die Party um sich herum. Er trug ein weißes Hemd mit Buttondownkragen, steife neue Bluejeans und zebragestreifte Turnschuhe. Er sah aus wie eine Miniaturausgabe von Hugh Oakley, bis hin zu Farbe und Beschaffenheit seiner langen Haare und dem breiten Grinsen in seinem Gesicht. Es war ein Lä146
cheln, das ich inzwischen so gut kannte und liebte. Das mußte Hughs Junge sein. Er sah mich geradewegs an und tat dann etwas ganz Wunderbares. Er schloß langsam die Augen und erschauerte am ganzen Körper. Ich wußte, es kam von seinem Entzücken über die Party ringsum. Denn es war seine Party, sein Geburtstag. Er hieß Jack Oakley, und er war acht Jahre alt. Er war der Sohn, den Hugh und ich haben würden, wenn wir zusammen in diesem Haus wohnten. Wir hatten schon oft über Kinder gesprochen und uns im Scherz erzählt, wie sie heißen würden. Jack und Ciara. Die heilige Ciara von Tipperary, die mit ihren Gebeten ein Feuer löschen konnte. Und jetzt stand unser Jack Oakley vor mir, heute acht Jahre alt geworden, und sah aus wie sein Vater. Von mir war auch etwas in ihm. Die hohe Stirn und der Aufwärtsschwung der Augenbrauen. Ich rührte mich nicht; ich hatte Angst, wenn ich es täte, würde diese prachtvolle Vision der Zukunft verschwinden. Der Junge schaute mich an und warf, immer noch lächelnd, die Hände in die Luft, als wären sie voll Konfetti. »Miranda?« Erschrocken riß ich den Kopf nach links. Hugh kam auf mich zu. Er lächelte wie sein Sohn. Unser Sohn. Ich schaute wieder dahin, wo der Junge gestanden hatte. Alles war fort – Jack, die Kinder, die Party. »Alles okay?« »Wir müssen hier wohnen, Hugh. Wir müssen in diesem Haus wohnen.« »Aber du hast dich doch noch gar nicht umgesehen! Du hast dich noch nicht von der Stelle gerührt. Komm, ich muß dir etwas zeigen.« Er legte mir den Arm um die Schultern und schob mich sanft voran. Ich ging mit, aber 147
einmal, zweimal schaute ich mich doch um – für den Fall, daß Jack wieder da wäre. Der kleine Junge, unser kleiner Junge, der gekommen war, um zu zeigen, wie wunderbar es hier für uns alle werden würde.
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tarzan hotel Ich stand am Fuße der Treppe und atmete lange und tief durch. Vierunddreißig Stufen. Nach vierunddreißig Stufen könnte ich haltmachen und ein Weilchen ausruhen. Und das gerade zur rechten Zeit, denn meine Arme fühlten sich allmählich an wie ausgekautes Kaugummi. Ich trug einen schweren Pappkarton. Oben quer stand »Sky Average«. Frag mich nicht, was das bedeuten sollte, denn was in dem Karton war, gehörte Hugh. An diesem Vormittag hatte ich schon »Pontus Harmon«, »Tarzan Hotel«, »Ugly Voila« und jetzt »Sky Average« zu dem Zimmer hinaufgeschleppt, das er als Arbeitszimmer benutzen würde. Als ich das erste Mal gesehen hatte, wie er diese seltsamen Worte in New York auf Kartons schrieb, hatte ich die Kartons angeschaut, dann Hugh, dann wieder die Kartons. »Habe ich etwas nicht mitgekriegt? Woher weißt du, was da drin ist?« Er drückte die Kappe auf den dicken Marker, mit dem er geschrieben hatte, und schob den Stift in die Gesäßtasche. »Ich packe nach Stimmung. In freier Form. In einen Karton kommen Sachen, die zueinander in Beziehung stehen, aber genug Raum für Überraschungen lassen, wenn ich den Karton wieder aufmache und entdecke, was alles drin ist.« »Und was bedeutet Tarzan Hotel?« »Das habe ich als Kind gebaut. Ich habe eine Schuhschachtel genommen, sie zerschnitten und angemalt. Da 149
war ich sieben. Ich habe daraus ein Hotel für ein paar Lieblingsspielsachen gemacht.« »Und das hast du all die Jahre behalten?« »Nein.« Achselzuckend sah er mich an. »Das heißt … das Tarzan Hotel ist nicht in deinem Tarzan-Hotel-Karton?« »Nein.« »Hugh, ich glaube, wir sind hier irgendwo von der Straße abgekommen. Sollte ich den Allradantrieb zuschalten?« »Nein. Reich mir mal das Klebeband, ja? Im Tarzan Hotel habe ich meine liebsten Sachen aufbewahrt. Also sind in diesem Karton ein paar meiner Lieblingssachen. Meine Taschenmessersammlung, Federhalter, ein paar großartige Bücher. Der Roman, den du mir geschenkt hast – The Story of Harold. Auch noch andere Sachen, aber ich hab’s nicht aufgeschrieben, damit ich später eine Überraschung habe.« »Du bist ein komischer Kerl, aber ich hab dich gern.« Hugh hatte das Einpacken meiner Einrichtung erträglich gemacht. Ich war nie gern umgezogen. Wer zieht schon gern um? Aber seine Gesellschaft und sein ungebrochener Enthusiasmus machten die Arbeit erträglich, und manchmal sogar amüsant. Häufig verfiel ich ins Manische und bekam das Gefühl, wir müßten innerhalb dieser oder jener Frist alles getan/gepackt/erledigt haben. Er sah alles sehr viel entspannter, und diese Stimmung beruhigte mich wieder. Oft brachte er mir irgendeinen Gegenstand – eine Lampe, eine Figur, ein deutsches Fernglas – und wollte wissen, welche Geschichte sich hinter dem Ding verbarg. Es war keine Schnüffelei, und er wollte auch nicht, daß ich irgendwelche Geheimnisse enthüllte; er wollte mich durch 150
die Dinge, die mir gehörten, kennenlernen. Nicht selten erzählte ich ihm die Geschichte hinter diesen Dingen unversehens in allen Einzelheiten, und dabei entspannte ich mich und durchlebte vergangene Zeiten auf angenehme Weise. Wenn wir beide erschöpft und schmutzig waren, badeten wir zusammen und gingen dann essen. Unweigerlich saßen wir danach noch weiter am Tisch und plauderten darüber, wie unser Leben in Crane’s View sein würde. Und nicht nur das. Wir führten endlose Gespräche darüber, wie unser gemeinsames Leben sein würde. Eines Abends nach dem Essen zog er ein Blatt Papier aus der Tasche und las mir ein Gedicht vor. Ich habe das Blatt behalten und es einrahmen lassen. Im Laufe der Jahre muß ich es mir viele hundert Male aufgesagt haben. Wenn ich dich lieben darf, tritt bitte ein ohne Klopfen, doch bedenke es gut: meine Strohmatratze gehört dann dir, das staubige Stroh, das raschelnde Seufzen. Ich gieße frisches Wasser in unsern Krug, deine Schuhe wische ich ab, eh du gehst, keiner wird uns stören hier, gebeugt könntest du unsere Kleider flicken in Frieden. Wenn die Stille groß ist, dann spreche ich mit dir, wenn du müde bist, nimm meinen einzigen Stuhl, wenn es warm ist, öffne den Kragen, nimm die Krawatte ab, wenn du hungrig bist, ist hier ein sauberes Blatt als Teller, wenn es Essen gibt, aber laß etwas übrig für mich – auch ich habe immerfort Hunger.
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Wenn ich dich lieben darf, tritt ein ohne Klopfen, doch bedenke es gut: es würde schmerzen, wenn du lange Zeit fortbliebst. Ich wuchtete die Kiste mit der Aufschrift Sky Average hoch und begann den Aufstieg. Weil ich die Arme voll hatte, konnte ich nichts sehen und mußte die Stufen zählen. Ich hatte festgestellt, daß es den Aufstieg irgendwie erleichterte, wenn ich rückwärts zählte. Bei Stufe sechzehn rief Hugh von oben. Ich ging weiter und war bei sieben angelangt, als er noch einmal rief. »Moment!« Ich hörte seine Schritte, und dann wurde mir die Kiste aus den Armen genommen. Sofort wurde mir schwindlig, und fast wäre ich rückwärts gefallen. Ich packte das Geländer und hielt mich fest. Hugh ging mit dem Karton die Treppe hinauf und sah nicht, was passierte. Gut so. Es war der zweite Schwindelanfall an diesem Morgen, und das war beunruhigend. Wir hatten zu hart gearbeitet. Drei Tage zuvor hatten wir einen gelben RyderLastwagen gemietet und ihn mit unseren Sachen beladen. Als wir fertig waren, standen wir auf dem Gehweg vor meinem Apartment und schauten hinein. Hugh meinte, es bringe einen doch aus der Fassung, wenn man die Besitztümer zweier Menschenleben säuberlich gestapelt auf der Ladefläche eines gar nicht besonders großen Lasters sehe. Für diese diplomatischen Worte drückte ich ihm einen Kuß auf die Schulter. In Uptown Manhattan, bei Charlotte in der Wohnung, hatte er die Besitztümer eines ganzen weiteren Lebens, und sie hätten zweifellos mehrere Lastwagen gefüllt, aber das hatte er nicht erwähnt. Er brachte eine Menge mit nach Crane’s View, aber nicht so sehr viel, wenn ich bedachte, was er hätte mitbringen können. 152
Als Charlotte hörte, daß wir wegzogen, bekam sie einen flammenden Wutanfall. Von diesem Tag an tat sie alles Erdenkliche, um Hugh das Leben schwerzumachen. Sie verstand sich gut darauf. In ihrer letzten zivilen Unterredung, bevor die Anwälte begannen, die Überreste zu umkreisen, beschoß sie ihn mit allem, was sie hatte, und sie zielte dahin, wo es am meisten weh tat. Was war mit ihrer Ehe, mit seiner Verantwortung, ihren Kindern? War ihm klar, was er ihnen damit antat? Wie konnte er nur? War er wirklich so selbstsüchtig? War ihm das Leben dreier Menschen gleichgültig? »Miranda?« Er stand oben an der Treppe, die Hände in den Taschen, und schaute mich an. »Alles in Ordnung mit dir?« »Ja. Ich dachte gerade an dich und Charlotte.« Sein Gesicht verhärtete sich. »Dachtest was?« »Ich dachte, ich werde dir niemals genug dafür danken können, daß du mit mir hierhergekommen bist.« »Du brauchst mir nicht zu danken. Liebe mich einfach.« »Ich habe solche Angst, daß ich es falsch machen werde, Hugh. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Herz reißt sich los, weil ich mir so sehr wünsche, daß es klappt. Wie liebt man jemanden auf die richtige Weise?« »Man nimmt reichlich Butter.« Er zog sich das T-Shirt aus der Hose und über den Kopf. Er ließ es zu Boden fallen und schaute mich die ganze Zeit an. »Und keine Margarine. Manche Leute versuchen zu schummeln, indem sie Margarine nehmen, aber den Unterschied schmeckt man immer.« Er schnallte seinen Gürtel auf und streifte die Jeans herunter. »Ich dachte, wir sollten auspacken.« Ich verschränkte die Arme und ließ sie dann wieder herunterhängen. 153
»Sollen wir auch, aber du wolltest doch wissen, wie man jemanden richtig liebt. Ich sag’s dir.« »Mit Butter.« Ich fing an, mein Hemd aufzuknöpfen. »Genau.« Er stand da in seinen weißen Jockey-Shorts und stemmte die Hände in die Hüften. Dann winkte er mich mit gekrümmtem Zeigefinger die restlichen Stufen zu sich herauf. Als ich bei ihm ankam, war mein Hemd offen. Er strich mit den Händen über meine Brüste. »Frauen werden immer gewinnen, weil sie Brüste haben. Es kommt nicht darauf an, wie groß sie sind; schon die Tatsache, daß ihr sie habt, bedeutet, daß ihr immer gewinnen werdet.« Er zog mich langsam zu Boden. Das Holz fühlte sich kalt an am Rücken. Ich bog mich ihm entgegen. »Männer haben Schwänze.« »Schwänze sind blöd.« Er küßte meinen Hals. »Zu offensichtlich. Brüste sind Kunst.« Ich legte meine Hand auf seinen Mund. Schob die Finger auf seiner Zunge vor und zurück, ließ sie dann wieder herausgleiten und strich ihm die Feuchtigkeit auf die Wange. Sie glitzerte. Ich küßte sie. Das Telefon klingelte. Ich schob eine Hand zwischen seine Beine und flüsterte: »Wir sind nicht zu Hause, aber Sie können eine Nachricht hinterlassen. Wir rufen zurück, sobald wir gekommen sind.« Es klingelte und klingelte. »Was würdest du tun, wenn ich jetzt ranginge?« Er lächelte und zuckte dann zusammen, als ich ihn zu hart drückte. Sein Gesicht war nur eine Handbreit über meinem. Manche Stoppeln in seinem Bart waren golden, andere schwarz. Ich rieb mit der Hand über seine rauhe Wange. Dann hörte ich auf, ließ die Hand aber dort. Er starrte mich an. Irgend etwas lenkte ihn ab, und er riß den Kopf hoch. Seine Augen weiteten sich. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, den ich noch nie an ihm gesehen 154
hatte: Wut. Empörung. Er sprang auf. Bevor ich etwas sagen konnte, sprintete er schon den Flur hinunter. »Scheißkerl!« »Hugh!« Ich raffte meine Hose an mich und stand zu hastig auf. Wieder überkam mich ein rauschender Schwindelanfall. Er verging langsam, und dann lief ich Hugh nach. Er war in unserm Schlafzimmer und schaute sich hektisch um. »Da war jemand! Er hat uns beobachtet. Ich habe hochgeschaut und einen Mann gesehen; er stand in der Tür und beobachtete uns!« »Wo ist er hin?« »Ich dachte, er ist hier drin. Aber er ist nicht da. Die Fenster sind geschlossen … Ich weiß es nicht. Lieber Gott.« »Sollen wir die Polizei rufen?« »Es wird nichts nützen, wenn er nicht hier ist. Als er sah, daß ich ihn bemerkt hatte, ist er wieder hier hineingegangen, aber jetzt … Nichts. Was zum Teufel …« »Wie sah er denn aus?« »Ich weiß nicht. Ein Mann. Er stand im Schatten. Ich weiß es nicht.« Er sah sich immer wieder um. Er öffnete eine Schranktür. Er ging zu einem Fenster, stieß es auf, streckte den Kopf weit hinaus und spähte in alle Richtungen. Wir durchsuchten das Haus lange Zeit von oben bis unten. Aber Hugh war dabei viel aufgeregter als ich. Vielleicht, weil er den Mann wirklich gesehen hatte. Was mich mehr beunruhigte, war der Umstand, daß in Frances’ Haus jetzt schon zweimal etwas Seltsames geschehen war, und wir waren noch nicht mal eingezogen. Beim Suchen dachte ich dauernd an den kleinen Jungen und seine Geburtstagsparty. An diesen kleinen, schönen Jungen.
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»Sieh dir das an!« Eine Stunde später war ich in der Küche und machte uns etwas zu essen, als Hugh hereinkam. Er hielt etwas Großes in der Hand. Besser gesagt, in den Fingern – er hielt es weit vor sich, als wäre es etwas ganz und gar nicht Hübsches. Ich roch es, bevor ich erkannte, was es war. Ein Knochen. Ein großer Rinderknochen, wie man ihn dem Hund zum Benagen gibt. »Wo hast du den denn gefunden?« »Unterm Schreibtisch in meinem Zimmer! Aber du mußt ihn anfassen – das ist das Unheimliche.« Ich deutete auf die Lebensmittel auf der Arbeitstheke. »Hugh, ich mache uns Lunch. Ich möchte keinen Knochen anfassen.« Er ließ ihn wippen, als wolle er das Gewicht schätzen. »Er ist noch warm. Warm und schleimig. Als ob noch vor fünf Minuten drauf gekaut worden wäre.« »In deinem Zimmer?« »Unter meinem Schreibtisch. Ich habe hier keinen Hund gesehen. Aber das Ding ist warm. Etwas hat in meinem Zimmer auf diesem Knochen gekaut. Und zwar eben gerade.« Ich legte das Messer aus der Hand. »Glaubst du, es hat etwas mit dem Mann zu tun, den du heute morgen gesehen hast?« Er schaute zu Boden und zuckte die Achseln. »Du meinst, vielleicht hat der Hund auf diesem Ding gekaut, während sein Herrchen uns bespitzelte? Ich weiß es nicht. Ich habe auch schon in diese Richtung gedacht. Wenn man annimmt, daß er einen Hund bei sich gehabt hat, wird die Sache um so unheimlicher.« Wieder klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und hörte erleichtert Frances Hatchs kratzige Stimme am 156
anderen Ende. Sie wollte wissen, wie wir vorankämen. Ich erzählte ihr von unserem Vormittag mit dem Eindringling und dem warmen Knochen. »Das Haus hat lange Zeit leer gestanden, Miranda. Wer weiß, wer da im Laufe der Jahre so alles ein- und ausgegangen ist. McCabe sagt, er hat ein Auge drauf gehabt, aber er kann ja nicht den ganzen Tag da sein. Ich sage ihm Bescheid. Ihr beide seid vorsichtig.« Dann wollte sie Hugh sprechen. Ich reichte ihm den Hörer und wandte mich wieder unserem Mittagessen zu. Als ich alles fertig hatte, trug ich es zum Tisch. Hugh sprach weiter mit Frances, während er aß. Ich wollte mich setzen, als ich merkte, daß ich zur Toilette mußte. Das war eins der wenigen lästigen Dinge an diesem Haus: Im Erdgeschoß war keine Toilette. Wieder stapfte ich die Treppe hinauf und ging den Korridor entlang. Kurz vor dem Bad blieb ich stehen, denn drinnen hörte ich etwas: Da lief Wasser. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich sie aufstieß und nach dem Lichtschalter an der Wand tastete. Das Licht ging an, und ich sah, wie das Wasser in einem dünnen Faden aus dem Hahn rann. Ich ging hin, drehte es ab und schaute mich im Spiegel an. Noch etwas. Noch etwas stimmte nicht, aber ein paar Augenblicke lang war mir nicht klar, was es war. Der Türknopf. Der alte Porzellanknopf an der Toilettentür war warm gewesen, als ich ihn berührt hatte. Ich ging zurück und legte zwei Finger darauf, um sicher zu sein. Warm. Wie konnte das sein, wenn ihn seit Stunden niemand angefaßt hatte. Ich holte tief Luft und sprach ein ordentliches, kehliges »Scheiße!«, bevor ich mich daranmachte, auf eigene Faust die oberen Zimmer zu untersuchen. Obwohl Hugh unten war, graute mir vor dem Gedanken, allein nachzusehen, aber ich wußte, daß es sein mußte. Ich durfte keine Angst vor diesem Haus 157
haben, aber das würde ich, wenn ich mich jetzt ins Bockshorn jagen ließe und in Deckung ginge. Als ich die Tür zu unserem Schlafzimmer öffnete, verharrte meine Hand einen Moment lang auf dem Türknopf, um die Temperatur zu prüfen. Kühl. Kein Problem. Unser Schlafzimmer, Hughs Arbeitszimmer, das, was eines Tages das Gästezimmer und beizeiten dann das Kinderzimmer sein würde – alle waren sie nur voller Kartons und aufgestapelter Möbel. Weiter war nichts da. Keine Schattenmänner, keine Hunde, die an Knochen nagten. In Hughs Zimmer ging ich sogar in die Knie und betastete den Boden unter dem Schreibtisch, wo der Knochen, wie er sagte, gelegen hatte. Nichts. Was ich dann tat, war merkwürdig, erschien mir aber in jenem Augenblick ganz richtig. Ich senkte die Stirn, bis sie den Boden berührte. Und ich betete. Oder ich sagte zu jemandem, der mächtig und wichtig war und das Kommando hatte: »Bitte laß alles in Ordnung sein. Bitte mach, daß wir in Sicherheit sind.« Und dann ging ich wieder die Treppe hinunter, um mit meinem Liebsten zu Ende zu essen. Ich sah zu, wie mitten auf dem Löschpapier langsam ein rotes Kreuz erschien. Obwohl ich es schon wußte, ahnte, seit Tagen spürte, tobte doch ein Sturm in mir, als ich tatsächlich den physischen Beweis sah. Ich war schwanger. Der Apotheker hatte mir gesagt, daß diese Heimtests normalerweise zu achtundneunzig Prozent sicher waren. Ich hatte ihn in der Nähe meines Geschäfts in einer Apotheke gekauft. Ich hatte ihn in meine Handtasche gesteckt und drei Tage mit mir herumgetragen; ich freute mich und scheute mich gleichzeitig, ihn zu benutzen. Immer wieder nahm ich ihn heraus, las die Gebrauchsanweisung noch einmal, drehte die Schachtel in den Händen um und um 158
und schüttelte sie an meinem Ohr, als hätte sie mir vielleicht etwas zu sagen – und am Ende warf ich sie wieder in die Handtasche und sagte: »Später.« Nachdem zu viele seltsame Dinge geschehen waren – fortgesetzte Schwindelanfälle, Erschöpfung, plötzliche Übelkeit, wenn ich Kaffee roch –, wußte ich, daß ich feststellen mußte, was da in mir im Gange war. Zu Hause hatte Hugh ein Buch über medizinische Symptome. Als ich las, wie eine Schwangerschaft beschrieben wurde – Schwindelanfälle, Erschöpfung, Übelkeit –, klappte ich das Buch zu und biß mir auf die Lippe. Was würde er sagen, wenn er hörte, daß es so schnell, nachdem wir zusammengezogen waren, passiert war? Inmitten des Tumults mit Charlotte und seinen Kindern? Wie würde er reagieren? An dem Tag, als ich mich entschloß, den Test zu machen, fuhren wir zusammen mit dem Zug nach Manhattan hinein. Wir waren kurz hinter Spuyten Duyvil, und ich lenkte unser morgendliches Geplauder behutsam auf das Thema Kinder. Hugh hatte sich einen Versteigerungskatalog von Sotheby’s mit seltenen Musikinstrumenten angeschaut. Er trommelte mit den Fingern auf das Cover. »Ich liebe Fellini-Filme, und meine liebsten Szenen zeigen ein großes Familienfest: eine Hochzeit oder eine Geburtstagsparty. Auf einem freien Feld sind Tische aufgestellt, und alle essen und amüsieren sich großartig. Eine schlechte Kapelle aus der Gegend spielt, und Kinder rennen herum. Immer weht der Wind, und Kreppapier oder Ballons fliegen durch die Gegend, und Blätter …«Er schaute aus dem Fenster, hauchte an die Scheibe und machte einen kleinen Nebelfleck. Dann wischte er ihn mit dem Handballen weg. »Manchmal hört man in der Ferne einen Zug vorbeifahren. Ein, zwei traurige Pfiffe. 159
Auf solchen Festen möchte ich sein, und meine fünf Kinder sollen da herumlaufen. Sie haben zuviel Kuchen gegessen und wollen nicht mehr stillsitzen. Vielleicht sind es auch meine Enkelkinder, und ich habe weiße Haare und werde allmählich schläfrig, weil ich zuviel Wein getrunken habe. Ich liebe die Italiener. All die großen Familien mit ihren Kindern. Ich liebe Kinder. Ich wäre so glücklich, wenn wir welche hätten. Aber natürlich nur, wenn du auch welche willst.« Ich starrte auf das leuchtend rote Kreuz auf dem Teststreifen und merkte, daß ich I Feel Fine von den Beatles summte. Ich hatte einen Plan. Ich schob den Teststreifen in einen kleinen verschließbaren Plastikbeutel und legte ihn in meinen Schreibtisch. Dann ging ich in einen Getränkeladen und kaufte eine Flasche von ihrem besten Champagner. Mein erster Gedanke war, in Hughs Büro zu gehen und ihn zu überraschen, aber ich wollte nicht, daß seine Mitarbeiter es schon erfuhren. Also rief ich ihn an und fragte, ob wir zusammen zu Mittag essen könnten. Zu meiner großen Enttäuschung sagte er nein; er müsse sich den ganzen Nachmittag mit Kunden treffen und werde vielleicht erst spät nach Hause kommen. In diesem Augenblick war ich kurz davor, es ihm zu erzählen, aber das wäre falsch gewesen. Am Telefon? Dies war unser größtes Erlebnis, und es verdiente eine besondere Behandlung. Die Bekanntmachung mußte warten bis später. So stand ich mitten auf der 81st Street mit einer Flasche Champagner und der besten Neuigkeit, die ich je gehabt hatte, und es gab niemanden, mit dem ich das alles hätte teilen können. Wenn doch meine Eltern noch gelebt hätten. Um die Sache noch schlimmer zu machen, fing drei Schritt vor mir auf dem Gehweg eine gutgekleidete Frau mittleren Alters plötzlich an zu kreischen: »Wo gehen sie 160
nur alle hin?« Wieder und wieder schrie sie, mit einer Stimme, die den Toten die Augen hätte öffnen können. Auf typisch New Yorker Art machten die Leute einen weiten Bogen um sie, aber ich war wie gebannt. Sie drückte die Fäuste an die Wangen und sah aus wie eine wahnsinnige Figur von Edvard Munch. Natürlich starrte sie am Ende mich an, ihr Ein-Personen-Publikum. Ich erwachte jäh aus meiner Trance und wußte nicht, sollte ich fliehen oder versuchen, ihr zu helfen. »Wo gehen sie hin?« flehte sie, als wüßte ich, wer »sie« waren oder wohin sie gingen. Sie starrte mich weiter eindringlich beschwörend an. Ich konnte nur sagen: »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie müssen es doch wissen; Sie waren länger hier als sonst irgend jemand von uns!« Und damit lief sie davon, die Straße hinunter, in einem flinken Taumelgang, der ebenso schrecklich anzusehen war wie ihr Gesichtsausdruck. Als ich mich vergewissert hatte, daß sie nicht zurückkam, kehrte ich zu dem Münztelefon zurück, um Zoe anzurufen. Als ich ihre Nummer halb eingetippt hatte, legte ich wieder auf; mir fiel ein, daß sie vor zwei Tagen nach Los Angeles geflogen war, um Doug Auerbach zu besuchen. Frances! Frances war immer zu Hause, Gott sei Dank. Sie meldete sich nach dem fünften Klingeln. Als ich fragte, ob ich vorbeikommen dürfte, antwortete sie glücklich: »Natürlich!« Ich ging in ein Delikatessengeschäft und kaufte Dosen mit Paté und russischem Kaviar, ein wunderbar frisches französisches Brot und eine Schachtel belgische Pralinen. Das Taxi winkte ich in strahlendem Sonnenschein heran, aber auf der Fahrt nach Uptown verdunkelte der Himmel 161
sich jäh, und Donner grollte. Der Regen setzte ein, kurz bevor ich die Verrückte wieder sah. Jetzt ging sie flott und mit zielstrebigem Schritt, als wollte sie sagen: Aus dem Weg, ich hab’s eilig. Ganz anders als kurz zuvor, als sie auf dem Gehweg gestanden und ausgesehen hatte, als ob ein paar Aliens in ihrem Schädel gelandet wären. Jetzt blickte sie starr geradeaus, und ihre Arme bewegten sich wie Pumpenschwengel vor und zurück – rump, rump, rump. Aber als wir aneinander vorbeikamen, fuhr ihr Kopf ruckhaft zu mir herum. Sie hob die Hand und bewegte tadelnd den Finger hin und her. Erschrocken wandte ich mich ab. Der Regen wirbelte silbrig am Fenster herunter. Die Straße leuchtete glänzend schwarz. Autos zischelten vorbei. Überall waren Schirme. Ich wollte noch einmal zu ihr hinschauen, aber ich hatte Angst. Auf dem Rest der Fahrt bemühte ich mich, die Augen geschlossen zu halten. Ich lauschte auf den Regen und das Rumpeln der Reifen, wenn sie über Dellen in der Straße fuhren. Ich dachte an das Baby. Ich dachte an Hugh. Bei Frances angekommen, bezahlte ich das Taxi und rannte über den Vorhof in ihren Teil des Gebäudes. Der Regen durchweichte die Tüte mit den Lebensmitteln in meinen Händen, und ich merkte, daß sie sich auflöste. Auf einem Treppenabsatz blieb ich stehen und nahm die Sachen heraus. Ich legte sie mir in die Armbeuge und stieg weiter die Treppe hinauf. Sie waren nicht schwer, aber nach kurzer Zeit waren sie viel zu schwer. Plötzlich war mir schwindlig und zu heiß, um weiterzugehen. Ich schaffte es kaum, mich auf eine Stufe sinken zu lassen, ohne umzukippen. Ich legte die Dosen hin und stützte den Kopf in meine Hände. Würde so die Schwangerschaft sein? Neun Monate lang himmelhoch jauchzend und dann abrupt das Gefühl, umzukippen? 162
Normalerweise war es in diesem Gebäude so laut wie in einem Bahnhof. Kinder rannten schreiend die Treppen herauf und herab, Hunde bellten, Radios und Fernseher plärrten. Heute war es buchstäblich still bis auf den Regen, der draußen prasselte. Ich saß da und versuchte, den Schwindel mit meiner Willenskraft niederzukämpfen, damit ich aufstehen und Frances meine freudige Nachricht überbringen könnte. Gleichzeitig war es aber angenehm, so allein auf der kalten Treppenstufe zu sitzen und dem Regen draußen zu lauschen, wie er auf Metall klimperte, auf Stein klatschte und drängend in die Gullys gurgelte. Mir war nie zuvor klar gewesen, welche Vielfalt von Regengeräuschen es gab. Regen war immer Regen gewesen – etwas, das man mied oder verträumt durch ein Fenster betrachtete. Er ließ die vertraute Welt für eine Weile naß und glänzend und anders aussehen, und dann vergaß man ihn wieder bis zum nächsten Mal. Aber jetzt, allein und umgeben nur von Regengeräuschen, konnte ich immer mehr Unterschiede erkennen: Regen auf Holz, Regen, der an Glas herunterrollte, Regen auf Regen. Ja, sogar der hatte ein Geräusch, aber ein verborgenes, ein ganz geheimes. Ich hob den Kopf und sagte laut: »Das ist nicht richtig. Niemand kann so etwas hören.« Aber da hörte ich bereits noch andere Dinge: Gespräche, den Wechsel des Senders in einem Fernseher, jemanden, der hart in eine Toilette pinkelte. Und mehr noch, ich wußte genau, was jedes dieser Geräusche war. Schritte auf einem Fußboden, eine schnurrende Katze, jemand, der sich im Schlaf die trockenen Lippen leckte, Zehennägel, die geschnitten wurden. Ich schaute mich um, ob in der Nähe irgendwelche Türen offen waren. Nein. Nur der Regen draußen, und jetzt diese unerbittliche Kaskade von Lauten, die sich über mich ergoß. Hinter geschlossenen Türen hervor, aus Woh163
nungen, die fünf, ja zehn Meter weit entfernt waren. Laute, die ich nicht hätte hören dürfen. Unmöglich, da, wo ich saß. Hinten in einem Schlafzimmer hinter geschlossenen Türen, wo zwei Kinder eigentlich Mittagsschlaf halten sollten, flüsterte ein kleiner Junge seinem Bruder etwas zu; beide lagen unter einer Decke in ihrem Bett. Irgendwo anders im Haus sang eine Frau beim Geschirrspülen leise zur Musik aus dem Radio; es war The Chapel of Love von den Dixie Cups. Ich hörte das Rauschen von durchlüftetem Wasser im Spülbecken, das Quietschen eines Schwamms an Glas, ihre leise, melancholische Stimme. »Ich ficke dich gut. Du weißt, daß ich dich gut ficke.« »Fick mich hart.« Ich hörte ihr grunzendes Atmen, das Schmatzen von Küssen, das Gleiten von Händen auf Haut. Ich hörte alles. Aber wo waren diese Leute? Wie war das möglich? Ich stand auf. Ich wollte es nicht hören. Aber nichts von all dem hörte auf. Autos rauschten und hupten draußen auf der Straße, ein Heizungsrohr dröhnte blechern im Keller, Tauben gurrten auf dem Fenstersims, Essen briet auf einem Herd, Leute stritten sich, eine alte Frau betete. »O Gott, Du weißt, wieviel Angst ich habe, aber Du hilfst mir nicht hindurch.« All die Geräusche eines Regentags in Manhattan waren zu nah, und ich konnte sie nicht zum Verstummen bringen. Ich hielt mir die Ohren zu und schüttelte den Kopf hin und her wie ein nasser Hund. Für einen Augenblick hörten die Geräusche der Welt auf. Es trat wieder Stille ein. Schöne, leere Stille kehrte zurück. Aber dann begann es, und es war das größte Geräusch von allen. Mein Herz. Das dumpfe, mächtige Dröhnen meines klopfenden Herzens erfüllte die Luft und den Raum der Welt um mich herum. Entsetzt konnte ich nur 164
dasitzen und lauschen. Und noch schlimmer war die Unregelmäßigkeit. Bumm bumm bumm, dann sekundenlang gar nichts. Es fing wieder an, ging weiter, hörte auf, ging weiter, ohne Gleichmaß, ohne Rhythmus und Struktur. Es schlug, wenn es Lust dazu hatte. Dann hörte es wieder auf. Es war launisch. Es tat, was ihm paßte. Aber es war mein Herz, und es sollte die gleichmäßigste Maschine von allen sein. Ich wußte, daß ich es war, weil ich mein Leben lang Herzrhythmusstörungen gehabt hatte. Ein paar Jahre zuvor war es so ernst geworden, daß ich eine Nacht im Krankenhaus verbracht hatte, wo ich rigoros untersucht und einem 24-Stunden-EKG unterzogen wurde. Das lauteste Geräusch, das ich je gehört hatte, pulste und stoppte und pulste wieder, aber ohne System, ohne sicher erkennbaren Rhythmus. Vielleicht würde es noch einmal schlagen. Vielleicht nicht mehr. »Miranda? Ist alles in Ordnung?« Ein Augenblick verging, ehe mein Verstand sich auf ihre Stimme und ihr Gesicht konzentrierte. Frances stand ein paar Stufen über mir. Sie trug einen roten Hausmantel und dazu passende Pantoffeln, was das intensive Weiß ihrer Haut im Dunkel des Treppenhauses zum Leuchten brachte. »Was ist los, Liebes?« Ihre Stimme ließ alles zurückkommen. Ich wollte sprechen, aber ich konnte nicht. Langsam plagte sie sich herunter. Als sie mich erreicht hatte, legte sie mir eine Hand auf den Ellenbogen. »Ich habe am Fenster gesessen und dich kommen sehen. Ich war beunruhigt, weil du nicht geklingelt hast.« Sie half mir den Rest der Treppe hinauf. Ich weiß nicht, wie ich es ohne diese Hilfe geschafft hätte. 165
»Es ist alles meine Schuld.« »Sei nicht albern, Frances. Es sei denn, du wärest dafür verantwortlich, daß mir das alles passiert ist.« Es sollte scherzhaft klingen, aber die Worte waren voller Selbstmitleid. »Du verstehst das nicht. Es ist komplizierter.« Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich hatte ihr gerade alles erzählt. Von dem Tag, als ich James Stillman auf der Straße gesehen hatte, bis hin zu den unglaublichen Geräuschen, die ich draußen im Treppenhaus gehört hatte. Als ich einmal angefangen hatte, sprang die ganze Geschichte aus mir heraus wie ein Tier, das zu lange im Käfig gefangen gewesen war. Vom bloßen Erzählen all dieser seltsamen Ereignisse wurde mir schon besser. Frances schwieg die ganze Zeit und sprach erst nach einer langen Pause. »Daß du schwanger warst, wußte ich an dem Tag, als wir nach Crane’s View fuhren. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber als wir bei meinem Haus angekommen waren, bin ich auf der Veranda stehengeblieben und wollte allein sein, während ihr beide hineingingt.« »Daran erinnere ich mich. Hugh hat es erwähnt.« »Ihr solltet mein Gesicht nicht sehen, denn das hätte es verraten können. Da wußte ich es.« »Woher denn, Frances? Bist du ein Medium?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber als junge Frau in Rumänien habe ich Leute kennengelernt. Shumda hat mich mit ihnen bekannt gemacht, und sie haben mir einiges beigebracht. Das war der größte Fehler meines Lebens: Sie wollten mir noch viel mehr beibringen, aber ich war nicht interessiert. Unglaublich. Unglaublich dumm. 166
Shumda war Rumäne. Er war auf dem Land aufgewachsen, und für die Leute auf dem Land ist Zauberei nichts Besonderes. Solche Dinge sollten auch nichts Besonderes sein. Sie sind es nur für uns, weil wir so sophisticated sind, so skeptisch, daß wir über solch primitivem Hokuspokus stehen. Aber es gibt eine andere Welt, Miranda. Die meisten von uns weigern sich, das zu akzeptieren, weil es uns angst macht. Weil es uns die Zügel aus der Hand zu nehmen droht. Aber davon geht sie nicht weg. Ich will dir etwas vorlesen.« Sie ging zu einem Tisch und nahm eins der vielen Notizbücher, die sie in der Wohnung verwahrte. Sie nannte sie Tagebücher und füllte sie mit ihren Gedanken und mit Zitaten aus Texten, die sie gelesen und die ihr gefallen hatten. Sie blätterte durch das Buch. »Hier, hör dir das an: ›Was von anderswo kommt, wird mich vielleicht verrückte Dinge tun lassen; vielleicht ist diese unsichtbare Welt dämonisch, und man sollte sie ausschließen. Was ich nicht sehen kann, kann ich nicht kennen, und was ich nicht kenne, fürchte ich. Was ich fürchte, das hasse ich, und was ich hasse, das will ich vernichten.‹« »Aber, Frances, ich glaube an solche Dinge. Das habe ich immer schon getan. Ich hatte nur bis jetzt keinen Kontakt mit ihnen. Wußtest du wirklich schon an dem Tag, daß ich schwanger war? Woher?« »Dein Geruch. Und die Farbe deiner Fingerspitzen.« »Wie riecht denn eine schwangere Frau?« »Nach Hoffnung.« Ich lächelte und merkte, wie ich wieder Mut faßte. »Kann man Hoffnung riechen?« Sie nickte. »Wenn man weiß, wie es geht.« »Und die Fingerspitzen?« 167
»Sieh sie dir an.« Ich hielt die linke Hand hoch, aber zunächst sah ich gar nichts. Dann schnappte ich nach Luft. Meine Fingerspitzen wechselten die Farben – die Farben von Wolken am Himmel. Als blase ein starker Wind wattige Wolken über den Himmel, Wolken, die weiß waren, violett, orangerot. Sie zogen in fließendem Strom über meine Fingerspitzen. Die Farben von Unwettern, Sonnenuntergängen, frühen Morgen. Alle zusammen flogen sie über meine Fingerspitzen. Ich glaube, ich machte noch ein Geräusch, denn im selben Augenblick verschwanden die Farben, und meine Finger sahen wieder aus, wie es sich gehört. Ich starrte weiter auf meine Hand. Schließlich sah ich wieder Frances an, aber aus einer ganz neuen Perspektive. »Das habe ich gesehen, als wir in Crane’s View waren. Du kannst es nicht, weil du nicht dazu ausgebildet bist. Ich habe es jetzt für dich getan, damit du es selbst sehen konntest.« »Und alle Frauen haben das? An ihren Fingerspitzen? Alle haben das, wenn sie schwanger sind?« »Ja.« »Und das hast du in Rumänien gelernt?« »Unter anderm.« »Was denn noch, Frances? Was kannst du noch?« Sie seufzte laut. »Nicht genug. Ich war zu jung und wußte nicht zu schätzen, was sie mir boten. Das Wissen verfolgte mich, aber ich war schneller. Wenn du jung bist, interessierst du dich nur für Taschenspielertricks, Miranda, für Dinge, mit denen du bei anderen Eindruck schinden kannst oder die dir irgendwelche Türen öffnen. Aber diese Leute – und sie kamen aus allen Bereichen des Lebens – waren bereit, mich unglaubliche Dinge zu 168
lehren, weil ich mit Shumda zusammen war. Hätte ich nur genügend Geduld und Hingabe gehabt! Ich habe einen jezidischen Priester kennengelernt, und Leute von der Sarmoun-Bruderschaft … du kannst dir nicht vorstellen, wen ich alles kannte, als ich dort war. Aber nichts von all dem drang zu mir durch. Junge Leute sind wie Gummi – alles prallt von ihnen ab. Shumda nannte mich bimba viziata, sein verwöhntes Kind, und das war ich auch.« Sie seufzte wieder und rieb sich den Brustkorb. »Man spricht zu viel mit Schatten, wenn man alt wird. Hängt alten Erinnerungen nach, bedauert Vergangenes. Ich hätte viel lernen können, als ich jung war, aber ich habe es nicht getan, und das war ein großer Fehler. Immerhin, einiges weiß ich. Ich wußte, daß du schwanger bist. Ich weiß, daß alles, was du jetzt durchmachst, ein Resultat deiner Schwangerschaft ist.« »Und James’ Geist? Oder die Geräusche, die ich hier draußen gehört habe? Der kleine Junge in unserem Haus?« »Das gehört dazu. Glaube mir, das alles muß jetzt sein. Etwas Gewaltiges wird in dein Leben treten, und all diese Dinge sind Teil der Ouvertüre.« Sie kam herüber, legte mir die Hände auf die angespannten Schultern und küßte mich auf den Scheitel. Es war das erste Mal, daß Frances mich geküßt hatte. Als ich nach Crane’s View zurückkam, hatte der Regen gerade eine Pause eingelegt, und der Himmel war voll von dicken schwarzen Gewitterwolken. Als ich ausgestiegen war, blieb ich auf dem Bahnsteig stehen und starrte in diesen turbulenten Himmel hinauf, und ich dachte an meine Fingerspitzen und an das, was bei Frances zu Hause passiert war. Der Tag hatte mich erschöpft, aber ich beschloß trotzdem, die eine Meile bis zu unserem Haus zu Fuß zu 169
gehen. Ich brauchte Bewegung. Die Luft roch köstlich und reif wie immer auf dem Land, wenn es geregnet hat. Während ich so ging und tief die schwere Luft einatmete, dachte ich immer wieder an das, was sie mir erzählt hatte. Vor allem die Worte »Es gibt eine andere Welt« hallten in meinem Kopf wie eine Uhr, die zwölf schlägt. Ob es mir gefiel oder nicht, diese Welt war ein Teil von meiner geworden. Ich würde mich damit abfinden und gehen müssen, wohin sie mich führte. Aber wie würde sich das auf meine Beziehung zu Hugh auswirken? Und auf unser Kind? Frances hatte mir von einem langweiligen Mann erzählt, den sie kannte; im mittleren Alter hatte er plötzlich sehen können, wie Leute aussehen würden, wenn sie alt wären. Bis zum Ende seiner Tage hatte er damit leben müssen, mit diesem … Talent? Fluch? Wie sollte man es nennen? Ein anderer Mann entwickelte plötzlich eine beängstigend treffsichere Fähigkeit, Handlinien zu lesen. Der Glückspilz wurde wahnsinnig, weil es so weit kam, daß er nichts anderes mehr sah als die Handlinien der Leute und das unumgängliche Schicksal, das sie erwartete. »Brauchen Sie eine Fahrgelegenheit? Sie sehen müde aus.« Ich blickte auf und sah Chief McCabe, der vor der Bäkkerei stand, auf das Dach seines Autos gestützt. Er hielt ein Hefeteilchen in der einen Hand und eine kleine Tüte Milch in der andern. »Nein, vielen Dank. Ich bin gerade mit dem Zug gekommen, und dieser Spaziergang erweckt mich wieder zum Leben Aber ich habe eine Frage.« Er grinste und nickte. »Sie wollen nicht mitfahren, aber Sie haben eine Frage. Okay. Schießen Sie los.« 170
»Haben Sie schon mal jemanden mit besonderen Fähigkeiten gekannt? Leute, die Ihnen die Zukunft vorhersagen oder aus der Hand lesen konnten? So etwas?« Er zögerte nicht. »Meine Großmutter. Die unheimlichste Person, die ich je gekannt habe. Wußte immer, wenn man log. Familienlegende. Keiner von uns hat sie je belogen, weil sie es immer wußte. Und das Schlimmste war, wenn man log, kriegte man Prügel von ihr. Lüge – PENG! Als Kind muß sie mich ungefähr tausendmal erwischt haben! Das zeigt, wie schlau ich war, hm? Aber warum fragen Sie?« Ich kannte McCabe überhaupt nicht, aber einen Augenblick lang wollte ich ihm alles erzählen. Nach allem, was an diesem Tag passiert war, brauchte ich vielleicht nur einen Freund. »O ja«, fuhr er fort, »und Frances Hatch auch. Sie schaltet manchmal auf gespenstische Kanäle.« Sein Radio krächzte, und er beugte sich in den Wagen, um zuzuhören. Ich verstand nicht, was gesagt wurde. »Muß los. In der Skidmore Street schreit jemand.« Er stopfte sich den Rest seines Gebäcks in den Mund und nahm die Milch mit, als er einstieg. Er fuhr davon, bevor ich es ihm erzählen konnte. Es war eine Japanerin. Eine Mrs. Hayashi. Ich hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte zu viele Tabletten genommen, und die Halluzinationen brachten sie zur Raserei. Ihre Kinder standen in einem hohen Gebäude auf dem Fenstersims und winkten fröhlich zu ihr herunter. Byebye, Mama. Und dann sprangen sie, eins nach dem andern. Sie schaute zu, wie sie durch die Luft segelten und unmittelbar vor ihr aufschlugen. Ich sah ihr Gesicht, den weit offenen Mund, der zu ihrem Verstand um Hilfe schrie. Vor ihrem kleinen Haus in der Skidmore Street standen die Nachbarn besorgt am Fenster und beobachteten sie, 171
wie sie drinnen auf dem Boden lag, sich die Haare raufte und in einer Sprache schrie, die keiner verstand. Ich sah es. Fünf Stunden später kam Hugh. Er sah blaß und sehr bedrückt aus. Er ging ins Wohnzimmer, setzte sich in seinen neuen Sessel und stöhnte leise. Ich holte ihm einen Drink und fragte ihn, ob ich etwas tun könne. Ohne zu lächeln, küßte er mir die Hand und sagte nein. Lieb, wie er war, schaute er mit müden Augen zu mir auf und entschuldigte sich dafür, daß er am Mittag nicht habe zum Lunch kommen können. Er hatte einen furchtbaren Tag hinter sich. Ein wichtiges Geschäft, bei dem es um eine seltene Guadagnini-Violine gegangen war, war gescheitert. Er hatte sich mit seinen Mitarbeitern gestritten. Charlotte hatte angerufen und ihm schreckliche Vorwürfe gemacht. Ich setzte mich neben ihm auf den Boden und lehnte den Kopf an sein Bein. Ich hatte eine wunderbare Neuigkeit für ihn, aber ich erzählte sie ihm nicht. Erst nach dem Essen. Ich würde kochen, und es würde wunderbar werden, das köstlichste Essen, das ich je gemacht hatte. Nach dem Essen, wenn wir uns beide besser fühlten und der Tag wieder uns gehörte und der richtige Augenblick für eine solche Überraschung gekommen wäre. Dann. Schweigend saßen wir da. Es fing wieder an zu regnen. Als Hugh sprach, klang seine Stimme flach und tonlos, als wäre alle Farbe herausgewaschen. »Weißt du, was ich liebe? Im Sommer, wenn man die Fenster offenläßt und schlafen geht. Es weht ein leichter Wind, den man gerade noch spürt im Gesicht. Während du eindämmerst, wird der Wind stärker, aber du bist zu schläfrig, um etwas dagegen zu tun. 172
Und dann, mitten in der Nacht, weckt dich ein Riesenknall innerhalb von einer Sekunde. Draußen tobt ein Unwetter, und sämtliche Fenster klappern hin und her. Als ob sie applaudierten. Als ob sie dem Unwetter applaudierten. Also stehst du auf, entsetzlich schlaftrunken, aber elektrisiert von dem Schreck, und gehst umher und machst die Fenster zu. Alles ist naß, die Fensterbänke, der Boden … Während du geschlafen hast, ist dieses Ding hereingestürmt und hat alles durchweicht. Und das Beste dabei ist, am offenen Fenster zu stehen und naß zu werden. Ich lege die Hände auf das Fenstersims und strecke den Kopf hinaus. Der Wind peitscht, und es ist ungeheuer da draußen. Es ist drei Uhr morgens, und niemand ist da, um es zu sehen. Nur du. Die ganze Show ist nur für dich.« Ich legte den Arm um sein Bein und drückte es fest. Seine Hand lag auf meinem Kopf und zerzauste mir das Haar. Minutenlang bewegte sich keiner von uns. Das einzige, was sich änderte, war das Geräusch des Windes draußen. Hughs Hand hörte auf, sich zu bewegen. Der Regen ließ allmählich nach und hörte dann auch auf. Alles hörte auf. Die Stille war dicht wie ein Pelz. Trotz aller Überraschungen und Aufregungen an diesem bizarren Tag, waren die nächsten paar Augenblicke die friedlichsten und erfüllendsten, die ich je erlebt habe. Als ich mich schließlich bewegte, um aufzustehen, weil mein Rücken anfing weh zu tun, weil es Zeit war, das Abendessen zu machen, weil ich Hugh danach von unserem Baby erzählen könnte, da rutschte seine Hand von meinem Kopf herunter. Ich sah, daß er schlief. Er war tot.
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ZWEITER TEIL
sündtags Drei Tage nach seiner Beerdigung sah ich Hugh wieder. Ich stand am Spülbecken in der Küche und schaute aus dem Fenster in den kleinen Garten hinter dem Haus. Ich fühlte meinen Körper nicht. Ich fühlte überhaupt nichts. Seit er tot war, wandelte ich wie betäubt durch die Tage, und so war mir am wohlsten. Was mich überrascht hatte, war nicht das Grauen des Verlustes, sondern der Gewinn so vieler schrecklicher Dinge. Der Zeitgewinn: Wäre er jetzt hier, würden wir dies und jenes zusammen tun. Jetzt gab es nichts zu tun. Wäre er jetzt hier, würde ich dies und jenes für ihn tun. Jetzt gab es nichts zu tun. Wäre er jetzt hier, würde ich ihn berühren, mit ihm sprechen, ihn nebenan im Nachbarzimmer wissen … die Vielfalt war furchtbar und endlos. Wie der Platz um mich herum. Der Platz in unserem neuen Doppelbett, in dem Haus, in dem Leben, das wir soeben zusammen begonnen hatten. Hughs leerer Sessel, die leeren Schuhe, die sorgfältig aufgereiht in seinem Schrank standen, der Tisch, an dem nur ein Platz gedeckt war. Die Stille nahm greifbar zu, die Länge der Tage auch, die Unbeschreiblichkeit der Nächte. Und Gegenstände bekamen eine plötzliche, beinahe religiöse Bedeutung: seine Kaffeetasse, sein Rasierapparat, sein Lieblingsrezept, seine Lieblingsfernsehsendung, -farbe, -baumart. Ich starrte seine Umzugskartons mit den komischen Namen an. Tarzan Hotel. Manchmal faßte ich hinein und berührte 175
einen Gegenstand. Manche Sachen waren scharf. Manche glatt. Alle gehörten Hugh. Ein silbernes Taschenmesser mit einer abgebrochenen Klinge und der Inschrift Sarajevo an der Seite. Eine preiselbeerrote Baseballmütze, auf der Earlham stand. Ein Gedichtband mit dem Titel Unbekannter Rilke. Ich blätterte zwei Seiten weit, und ehe ich etwas erfaßte, hatte ich folgendes gelesen: Nun wachen wir mit den Erinnerungen und halten das Gesicht an das, was war; flüsternde Süße, die uns einst durchdrungen, sitzt schweigend neben mit gelöstem Haar Ein anderer Karton enthielt einige der Hölzer, die er gesammelt hatte. Als ich sie sah, verließ ich sofort das Zimmer. Ich durchstöberte meinen Kopf nach Dingen, die er gesagt hatte, nach seinen Ansichten, Überzeugungen, Scherzen, nach allem, was er spontan bemerkt hatte, beiläufig, ernsthaft. Nach allem. Alles schrieb ich auf, denn ich wollte jede Spur von Hugh Oakley für mich und unseren Sohn bewahren. Ich saß Stunde um Stunde in seinem Sessel und versuchte mich an alles zu erinnern. Aber es war, als sammle man Reiskorn für Reiskorn auf, nachdem man einen ganzen Sack davon auf einen weißen Boden voller Risse gekippt hatte. Es war überall verteilt, und so viel davon war unsichtbar. Ich hielt ein Glas Wasser in den Händen, stand am Küchenfenster und starrte hinaus in den Garten. Bevor ich es merkte, lächelte ich, denn mir war etwas Neues eingefallen: Hugh hatte gesagt, wir sollten da draußen Kürbisse und Sonnenblumen säen, denn das wären die Clowns im Reich der Blumen. Wer konnte nicht über einen Kürbis 176
lachen? Wen brachten Sonnenblumen nicht zum Lächeln? Ich trank einen Schluck Wasser und fühlte es kühl in meiner Kehle. Ich hielt mir das Glas an die Stirn und rieb es hin und her. Das Telefon klingelte, und ich schloß die Augen. Wer würde es diesmal sein? Was um alles in der Welt konnte ich ihnen sagen? Laßt mich in Ruhe. Könnt ihr mich jetzt nicht einfach alle in Ruhe lassen? Ich öffnete die Augen wieder. Fünf Meter weit vor mir im Garten standen Hugh und der kleine Junge, den ich bei unserem ersten Besuch im Haus gesehen hatte. Das Telefon klingelte wieder. Hugh sah genauso aus wie an dem Tag, als er gestorben war. Er trug die gleichen Kleider – dunkle Hose, weißes Hemd, das Sportsakko aus blauem Tweed aus Irland, das er so gern gehabt hatte. Das Telefon klingelte immer weiter. Durch diesen Klang hörte ich etwas klopfen. Ich wußte nicht, was es war, bis ich nach unten schaute und meine zitternde Hand sah. Das Wasserglas trommelte, rat-tat-tat, auf der Stahlspüle. Der kleine Junge drehte sich um und kniete nieder. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Ich hörte meine ruhige Stimme, wie sie die alte Mitteilung sprach: »Wir sind nicht da, aber hinterlassen Sie bitte eine Nachricht …« Ich konnte meine zitternden Hände kaum beherrschen, als ich das Fenster hochschob und Hughs Namen rief. Ich rief, weinte, wisperte – ich weiß nicht, wie es herauskam. Er sah mich an und winkte kurz und unbeschwert, als hätte ich ihn zum Essen gerufen, und er würde gleich kommen. Aber er hatte mich gehört! Und er war wirklich da! Aber er war tot. Aber da war er. Ich war so erstaunt, so gebannt, daß ich nicht bemerkte, was der Junge tat. Ich sah nicht, wie er den Stein aufhob und warf. 177
Er traf mich im Gesicht. Ich grunzte und taumelte rückwärts. Drückte die Hände auf die Augen, als schon warmes Blut mir über die Finger quoll. Ich trat auf etwas, knickte schwer um und fiel. Ich streckte die Hand aus, um den Fall zu bremsen, aber sie war so glitschig vom Blut, daß sie seitwärts rutschte, kaum daß sie den Boden berührte. Ich schlug laut mit dem Kopf auf den Boden. Ich lag auf der Seite und versuchte blinzelnd, einen klaren Kopf zu bekommen. Alles hatte sich fast bis zum Stillstand verlangsamt. Ich hatte Blut in den Augen und bekam sie nicht richtig auf. Ein tückisches Schwindelgefühl erfüllte mich. Ich lag still da und hörte mich keuchen. Als ich es konnte, wischte ich mir übers Gesicht und öffnete die Augen. Ich sah den Stein auf dem Boden. Das war es, worüber ich gestolpert war. Er war braun und silbrig und groß. Ein dicker Stein auf dem Küchenfußboden. Ich weiß noch, wie ich – selbst dort, selbst da – dachte: Was macht dieser Stein hier? Und dann noch etwas. Ganz in der Nähe lachte ein Kind. Nichts davon begriff ich. Ich versuchte, meine Gedanken auf dieses und auf jenes zu konzentrieren – das Blut aus den Augen zu bekommen, klar zu sehen, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Aber die Realität war umgekippt, und ich konnte sie nicht wieder aufrichten. Das Kinderlachen blieb über meiner Verwirrung, in ihr und um sie herum. Es war die einzige Konstante, und es war sehr klar. »Was ist denn mit Ihnen passiert? Das ist eine böse Platzwunde.« »Ich bin hingefallen.« Zum ersten Mal, seit sie hereingekommen war, hörte die Ärztin auf mit ihrem geschäftigen Getue. Sie war eine häßliche Frau mit einer Mönchsfrisur, und jetzt machte sie schmale Augen. »Sie sind hingefallen?« 178
Sie trug weiße OP-Handschuhe. Mit dem Finger zeigte sie auf das Pflaster an meiner Stirn. »Das sieht nicht nach einem Sturz aus, Ms. Romanac. Sind Sie sicher?« Ihr Lächeln dauerte eine Sekunde. Wir wußten beide, was sie sagen wollte. »Es sieht aus, als hätte man Sie geschlagen. Mit einem Gegenstand, schwer und scharfkantig.« Bei dem letzten Wort hob sie die Stimme. Ihr strenges Gesicht war bereit zur Empörung. Wenn ich ihr nicht die Wahrheit sage, würde ich diese Empörung zu spüren bekommen. Ihre Art, sich zu bewegen und zu sprechen, verriet die unterschiedslose Gewißheit eines gnadenlosen Richters. Ich war froh, daß ich die Ärztin nicht kannte. Ich fing an, den Kopf zu schütteln, aber der Hals tat mir schrecklich weh, und ich hörte gleich wieder auf. »Der Hals tut mir auch weh.« Sie berührte ihn mit der Hand, tastete langsam mit den Fingern auf und ab. »Das ist normal. Entweder ist es ein Trauma von Ihrem Sturz, oder Sie haben ihn unnatürlich verdreht und einen Muskel gezerrt. Das ist in zwei Tagen wieder weg. Aber das hier beunruhigt mich wirklich.« Wieder zeigte sie auf meine Stirn. »Solche Platzwunden sehen wir normalerweise nicht nach einem Sturz.« Ich holte tief Luft und ließ sie mit einem entnervten, überdrüssigen Pusten wieder entweichen. »Niemand hat mich geschlagen, Doktor. Okay? Ich bin allein. Der Mann, mit dem ich zusammengelebt habe, ist vor ein paar Tagen gestorben.« Ihre Miene blieb unverändert. Ambulanzärzte haben jede Lügengeschichte der Welt schon einmal gehört. »Das tut mir leid. Aber eine Verletzung wie Ihre deutet normalerweise auf Mißhandlungen hin. Ich könnte Ihnen den technischen Aspekt erklären, aber das ist gar nicht nötig. Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?« 179
»Nein. Man hat mir Valium gegeben, aber das nehme ich nicht.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und kritzelte etwas auf einen Block. »Ich verschreibe Ihnen hier ein Muskelrelaxans für Ihren Hals, und das hier ist gegen Schmerzen. Haben Sie jemanden? Einen Psychologen oder Therapeuten? Das kann sehr hilfreich sein, wenn man einen nahestehenden Menschen verloren hat.« »Geister«, hätte ich gern gesagt. Ich habe keinen Therapeuten, aber ich habe Geister. Einer hat mich sogar mit einem Stein beworfen. »Danke für Ihre Besorgnis, Doktor. Soll ich noch mal wiederkommen?« »Ja. Ich muß in einer Woche die Fäden ziehen.« Ich stand sehr langsam auf, und trotzdem pochte es in meinem Kopf, und der Schmerz schoß mir feurig heiß durch den Nacken. Ich wollte hinaus aus diesem Zimmer, weg von dieser aggressiven, offensiven Frau, wieder hinaus in die Welt. Ich wollte nur noch hinaus auf die Straße. »Wir haben auch die Resultate von Schwangerschaftstest und Ultraschall, Ms. Romanac. Beides positiv.« Ich hatte ihr den Rücken zugewandt und versuchte den Kopf zu drehen, aber der Schmerz sagte nein. Ich drehte mich ganz um und schaute sie an. Es gab nichts zu sagen. Ich wußte es ja schon. Die Tests im Krankenhaus hatte ich nur nachträglich machen lassen. An dem Tag, als Hugh gestorben war, hatte ich gewußt, daß ich schwanger war, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, es ihm zu erzählen. Das war das Schlimmste. Das absolut Schlimmste. »Darüber könnten Sie auch mit Ihrem Psychologen reden.« 180
Ich verstand nicht, was sie meinte. Sie sah die Frage in meinem Gesicht und preßte die Lippen zusammen. »Das Kind. Wenn Ihr Partner nicht mehr da ist, könnte es sein, daß Sie vielleicht einen Abbruch in Betracht …« Mehr ihrem Ton als den eigentlichen Worten entnahm ich, was sie mir sagen wollte. »Ich werde dieses Baby behalten, Doktor. Kann ich jetzt gehen?« »Möchten Sie gern wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist?« Ich wandte mich zur Tür. »Es ist ein Junge. Das weiß ich schon.« Ihr Ton war hochfahrend und wegwerfend. »Nein, tatsächlich ist es ein Mädchen.« Mein Liebster machte die besten Sandwiches. Er kochte gern, aber Sandwiches waren seine Spezialität. Er unternahm Wallfahrten zu besonderen Bäckereien in Manhattan, um das perfekte kalifornische Sauerteigbrot, österreichisches Dreikornbrot, italienische Focaccia zu kaufen. Er experimentierte mit exotischen Zutaten und Gewürzen wie Piri Piri, Wasabi, Mango-Chutney. Er träufelte auf spezielle Weise hergestelltes Kürbiskernöl in dünnem Rinnsal auf das Brot und wärmte es an, bevor er irgend etwas anderes tat. Er besaß einen Satz japanischer Kochmesser, wie ich sie schöner und ominöser nie gesehen habe. Ich glaube, sie zu schärfen und zu pflegen machte ihm ebenso viel Freude, wie sie zu benutzen. Alles das ging mir durch den Kopf, als ich eine Stunde nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus die Kühlschranktür öffnete, um etwas zu essen zu suchen. Eines Tages war er tot. Vier Tage später war er beerdigt. Drei 181
Tage später sah ich ihn im Garten mit einem Kind, das nie geboren worden war. Eine Woche. Auf den Tag genau eine Woche ist es her, da stellte ich fest, ich war schwanger, und Hugh starb. In einem Fach lag eine dicke Scheibe Fontina, sein Lieblingskäse. Er schnitt manchmal ein Stück davon ab, hielt es in der flachen Hand und forderte mich auf, es anzuschauen – dieses Meisterstück anzuschauen. Ein wenig von dieser »Käsekunst« und ein Apfel. Diese Kleinigkeiten würde ich essen können, ohne daß mir schlecht würde, oder? Abendessen. Ich hatte lange Zeit nichts gegessen. Ich war nicht hungrig, aber ich mußte jetzt regelmäßig essen. Für das Kind. Für das Mädchen in mir. Mädchen oder Junge, es war Hughs Kind, und ich würde mit jeder Zelle meines Körpers für es sorgen. Ich hatte keine Angst, wieder in der Küche zu sein. Als ich vor einer Stunde die Haustür geöffnet hatte und eingetreten war, da hatte ich welche gehabt, aber das war vorbei. Ich hatte alle Lampen angeschaltet und war von Zimmer zu Zimmer gegangen. Manchmal hatte ich »Hallo?« gesagt, laut, zu laut. Aber damit hatte ich nur den Raum und die Stille ringsum ausfüllen wollen. Als ich gesehen hatte, daß alle Zimmer leer waren, war es okay. Ich konnte sogar wieder in die Küche gehen und aus dem Fenster in den Garten schauen. Der Abend war gekommen, und da draußen war nichts zu sehen. Ich schaltete das Radio ein und hörte zu meiner Freude den letzten Teil von Keith Jarretts Köln Concert, einer meiner Lieblingsmusiken. Deck den Tisch und iß etwas, damit du Kraft bekommst. Ich nahm ein kanariengelbes Set aus einer Schublade und einen großen blauen Teller aus dem Schrank. Der Kühlschrank war voll von Hughs Sachen. Der Lavazza-Kaffee, den er so gern trank, die feurige jamaikani182
sche Sauce für sein gedörrtes Huhn, Sesamöl, LimettenChutney. Ich sah es, und ich wußte, jedes einzelne würde mir das Herz brechen, wenn ich anfinge, darüber nachzudenken. Da waren der Käse und die Äpfel, und jetzt war es Zeit zum Essen. Herausnehmen. Tür schließen. Daran denken, daß du irgendwann bald einmal den Kühlschrank ausräumst, damit du nicht dauernd auf diese Dinge stößt. Als der Jarrett zu Ende war, folgte irgendein furchtbarer, krächzender Jazz. Ich stellte das Radio ab. Die Stille ringsum war plötzlich riesig, und sie schwoll an wie eine Flutwelle. Hastig schaltete ich den kleinen Fernseher ein, der gegenüber vom Küchentisch stand. Hugh liebte Fernsehen und machte kein Hehl daraus, wenn er sich Infomercials, Bowling und schwachsinnige Sitcoms anschaute. Seltsamerweise tat er das meistens im Stehen, selbst wenn das manchmal stundenlanges Stehen bedeutete. Anfangs war es mir unbehaglich gewesen, wenn er einen Schritt neben mir gestanden und Friends angeschaut hatte, aber nach und nach hatte ich es gern gehabt. Ein Teil des Zusammenlebens mit jemandem besteht darin, daß man seine Marotten liebgewinnt. Hugh Oakley behielt beim Schlafen manchmal die Socken an. Er schrieb sich mit grüner Tinte Mitteilungen an sich selbst auf den Zeigefinger, war mißtrauisch gegen Mikrowellenherde und sah im Stehen fern. Was fängt man mit seiner Liebe zu jemandem an, wenn er stirbt? Oder mit den Erinnerungen, die er hinterlassen hat? Packt man sie in Umzugskisten und schreibt seltsame Namen quer über den Deckel? Und wo tut man sie dann hin, sie und den Rest eines Lebens, das man doch mit jemandem hatte teilen sollen, der dann ohne Vorwarnung verschwunden ist? Ich zappte durch die Kanäle und dachte an Hughs Karton mit der Aufschrift Tarzan Hotel und wieviel Spaß es ihm 183
gemacht hatte, nicht zu wissen, was drin war. Einmal hatte er gesagt: »Man darf nie versuchen, dem Regen aus dem Weg zu gehen, indem man dicht an einer Hauswand entlanggeht. Immer treffen einen dann die dicken Tropfen, die vom Dach fallen.« Gedanken, Bilder, Erinnerungen an ihn durchfluteten mich. Ich wäre fortgeschwemmt worden, wenn nicht eine hohe, trillernde Flöte im Fernsehen angefangen hätte, Ring’s End Rose zu spielen, einen fröhlichen irischen Song über eine neue Liebe, eins von Hughs Lieblingsliedern. Bevor ich mich noch dem Fernseher zuwenden konnte, um festzustellen, warum das Stück gespielt wurde, dachte ich: So wird es sein, jetzt und vielleicht in Ewigkeit – alles ist Hugh Oakley. Ich sollte mich lieber daran gewöhnen, denn sonst wird es Trauer und Erinnerung in mich hineintreiben, wie ein Hammer einen Pfahl in die weiche Erde treibt. Auf dem Bildschirm saß Hugh an einem Swimmingpool und spielte auf einer irischen Pennywhistle. Im Pool waren Charlotte und der inzwischen vertraute kleine Junge; sie hielten sich an den Händen und tanzten miteinander zu seiner Musik. Hugh sah zehn Jahre älter aus – er war dicker geworden und röter im Gesicht, hatte weniger Haare, und seine Bewegungen waren von jener langsamen Sorgfalt, wie man sie bei alternden Menschen sieht. Er mochte Ende Fünfzig sein. Seine großen Jahre waren vorüber; er war in dem Alter, wo man nimmt, was man kriegt. Aber in seiner Miene loderte das Glück, als er den beiden Tanzenden zusah, und es durchdrang auch sein Flötenspiel. Charlotte sah hinreißend aus. Sie war zwar zehn Jahre jünger als Hugh, aber sie sah älter aus als bei unserem letzten Zusammentreffen. Ihre immer noch gute Figur wurde durch einen schlichten, schwarzen einteiligen Ba184
deanzug hervorgehoben, der ihre hohen, eckigen Schultern und den langen Hals betonte. Ihr platinblondes Haar war sehr kurz und modisch. Sie trug eine minimale Brille mit einem schicken Stahlgestell. Der strenge, zurückhaltende Look stand ihr vorzüglich. Er sagte: Jawohl, ich bin älter, aber ich weiß genau, wie ich damit umgehen muß. Ich stutze meine Schönheit auf das Wesentliche herunter, und was übrigbleibt, ist nur das Beste. »Daddy, komm rein! Du hast versprochen, auch reinzukommen!« »Daddy ist glücklich, wenn er für uns spielen kann, Honey. Komm, laß uns beide noch ein wenig tanzen.« Das taten sie, und so viel Liebe umgab diese drei, daß ich mich innerlich zusammenkrümmte. Hugh spielte Foggy Dew. Hugh war im Fernsehen. Hugh, zehn Jahre älter, kahler. Hugh, noch am Leben, aber wieder bei Charlotte. Und ihrem Sohn. Sie tanzten und planschten und sangen mit. Hugh spielte weiter, aber er stand auf und tanzte einen Gig am Rande des Pools. Der Junge sprang umher und warf sich Charlotte in die Arme. Die Brille flog ihr von der Nase, aber mit einer über die Maßen schönen, präzisen Bewegung fing sie sie aus der Luft, bevor sie das Wasser berührte. Als er zu Ende gespielt hatte, ging Hugh ins Haus. Der Junge klammerte sich an den Beckenrand und versuchte ihn zurückzurufen. Hugh winkte nur und ging weiter. Er ging durch die Küche, durch das Wohnzimmer, hinaus auf die Vorderveranda. Dort öffnete er einen Briefkasten und nahm eine Handvoll Briefe und Zeitschriften heraus. Er blätterte durch den Packen und hörte erst auf, als er auf eine übergroße Postkarte stieß. Auf der Vorderseite war ein Foto von einem malerischen Hafen mit weißgestrichenen Häusern vor einem grünen 185
Hang und dem blauesten Himmel. Er drehte die Karte um. Die Handschrift war auf den ersten Blick erkennbar. Es war meine. Hugh, ich bin auf Samos, und es ist hübsch. Es hat mir gutgetan, hierherzufahren, denn die Griechen haben es nicht eilig. Es ist leicht, es ihnen nachzumachen. Ich habe gesehen, wie ein Mann mit dem Motorrad geradewegs in eine Taverna gefahren ist. Sie geben Dir hier eine ganze Zitrone, um sie über Deine Calamares zu spritzen, und die Luft riecht nach heißen Blumen. Ich esse oft in einem Lokal, das Seifengrill heißt. Sie machen dort ein köstliches Gyros-Sandwich aus Pita, Lammfleisch, Pommes frites und Zaziki. Es erinnert mich an die, die Du immer für uns gemacht hast. Wie hieß der Satz noch? Selbst ein einzelnes Haar wirft einen Schatten. In diesem Fall ist es ein einzelnes Sandwich. Wann hört es auf, Hugh? Wann kann ich um eine Ecke meines Lebens gehen und nicht auf Dich stoßen, auf Deine Sandwiches, Deinen Geist, meine Erinnerungen, was war? Du hast einmal gesagt, »alles fließt«. Aber das stimmt nicht, Hugh. Zu vieles bleibt einfach stehen, und so sehr man sich auch bemüht, es läßt sich dann nicht mehr bewegen. Wie Erinnerung. Und Liebe. Miranda. Er las zu Ende, schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf. »Samos. Samos.« Er sagte das Wort zweimal, als wolle er es auf der Zunge kosten. Sein Gesichtsausdruck war unverwechselbar: Erleichterung. Er war kein bißchen traurig, weil ich fort war. 186
»Darling, ist die Post schon da?« Charlotte kam herein, gefolgt von einem jungen Dalmatiner, der knurrte und an einem rosaroten Handtuch zerrte, das sie auf dem Rücken hielt. Hugh hielt ihr meine Postkarte entgegen. Sie warf einen Blick darauf, zog eine Braue hoch, fragte: »Miranda?« Er gab ihr die Karte, ohne zu zögern. Sie legte den Kopf auf eine Weise schräg, die erkennen ließ, daß ihre Brille zu schwach war, las rasch und reichte sie zurück. »Wie lange ist es her, daß du sie zuletzt gesehen hast? Acht Jahre?« Er faltete die Karte in der Mitte. »Neun. Eine lange Zeit.« »Aber seitdem schreibt sie dir.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Er hob eine Hand und zog die Schultern hoch, als wolle er sagen: Was kann ich machen? Der Hund legte die Vorderpfoten an sein Bein und dehnte sich träge. Hugh packte seinen Kopf und küßte ihn. Charlotte tätschelte den Hund. »Ist es nicht seltsam? Miranda ist die einzige von deinen Freundinnen, die dir treu geblieben ist. All der Ärger und der Schmerz, den du am Ende mit ihr durchmachen mußtest, aber zehn Jahre später schickt sie dir immer noch Postkarten von ihren Reisen.« Dem Hund schlenkerte die Zunge aus der Schnauze wie ein langer roter Gürtel, und er fing an, Hughs Knie zu rammeln. Sie lachten. Hugh sagte: »Ein perfektes Timing«, und schob den Hund weg. Der Junge kam ins Zimmer gestürmt. »Dad! Es wird dunkel draußen. Die Sonnenfinsternis fängt an! Komm schon!« Er nahm seinen Vater bei der Hand, und als dieser sich als unbeweglich erwies, stürmte er wieder hinaus. 187
Charlottes Mund straffte sich, und sie deutete auf den Jungen. »Wenn du nun bei ihr geblieben wärest? Dann hätten wir ihn nie bekommen.« Hugh hob die Hand und berührte die Wange seiner Frau. »Aber ich bin nicht bei ihr geblieben. Denk nicht mehr dran, Sweetheart.« »Ich denke die ganze Zeit daran. Gott sei Dank, daß du geblieben bist.« »Du hast gewonnen, Char. Sieh dir diese Postkarten an. Sie ist mitleiderregend.« Sie legte einen Finger an seine Lippen. Paß auf, was du sagst. Das Fernsehbild wechselte abrupt zu einer Szene aus Amarcord. Hughs Lieblingsfilm. Durch das Rauschen des Fernsehers kam hinter mir ein Geräusch auf, das schwer unterzubringen war. Aber dann wußte ich es – Krallen, die auf einem Holzboden klickten. Ich drehte mich um, als der junge Dalmatiner in meine Küche kam. Er plumpste zu Boden und starrte mich an. Sein Schwanz klopfte auf den Boden. Derselbe Hund, der einen Augenblick zuvor im Fernsehen bei Hugh und seiner Familie gewesen war, war jetzt bei mir. »Er heißt Bob.« Nichts ist unbeschreiblicher als eine Stimme, aber ein paar bleiben doch erkennbar, solange wir leben. Selbst wenn wir sie schon vor einem ganzen Menschenleben verloren haben. James Stillman stand in meiner Tür. Aber dies war James, der Erwachsene, den ich nie gekannt hatte, dessen Gesicht ich nur einmal gesehen hatte, auf einem Foto. Er war dünner; sein Haar war modisch kurz geschnitten, und die Anfänge einiger konzentrischer Falten umrahmten 188
seine Mundwinkel. Aber seine Augen waren noch dieselben. Augen, die ich mir einst eingeprägt hatte – die Augen eines Halunken, die Augen eines Typen, der ein paar Tricks im Ärmel oder einen tollen Witz zu erzählen hat. Er lehnte lässig am Türrahmen, die Hände tief in den Taschen, das eine Bein nonchalant vor das andere gekreuzt. Das alles machte er unbewußt. Seine Mutter nannte es immer seine Cary-Grant-Pose. Ich konnte sein Rasierwasser riechen. Ich roch das Zizanie-Duftwasser, und irgendwie war dies das Schockierendste von allem. Es ließ es um so realer werden. Denn Träume riechen nach nichts. Der Hund sprang an ihm hoch und kratzte wie wild, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. James hob ihn auf. Bob geriet vollends aus dem Häuschen. Er zappelte und leckte und wand sich gleichzeitig. Es war zuviel; James setzte ihn wieder ab, kraulte aber weiter den hektischen Kopf. »Ich erinnere mich an deinen Hund, Miranda. Wie hieß er noch?« »Oscar.« Er grinste. »Oscar! Genau. Der lauteste Hund, den ich je erlebt habe. Weißt du noch, wie er geschnarcht hat? Und gefurzt?« »James …« Er hob die Hand, um mir das Wort abzuschneiden. »Noch nicht. Ich möchte mich erst wieder an dich gewöhnen.« Er kam quer durch die Küche auf mich zu. Mein Gott, dieses zu süße Rasierwasser. Sein Markenzeichen. Der erste Mann, den ich kannte, der täglich Rasierwasser benutzte. Er klaute es immer, in wunderschönen Silberflaschen aus Griebs Drogerie. Ich hatte es seit Jahren nicht mehr gerochen, aber die Erinnerung war wie ein Blitzlicht, das vor meinem Gesicht losging. 189
Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, beugte er sich vor, bis wir nur noch eine Handbreit auseinander waren. Was ich wissen wollte, wissen mußte: Wieviel von ihm war hier? Wenn ich die Hand ausstreckte und ihn berührte, wäre er aus Haut und Knochen, real, oder wäre er ein Geist, ein Schatten, meine schreiende Phantasie? Er schüttelte den Kopf und schloß die Augen. »Tu’s nicht. Du willst es nicht wissen.« Schaudernd wich ich zurück. »Du weißt, was ich denke?« »Nein, aber es steht in deinen Augen geschrieben.« Ich legte die Hände vors Gesicht und senkte den Kopf auf den Tisch. Das Holz war kalt. Meine Haut war heiß. Ich verstand gar nichts mehr. Eine lange, dauerhafte Stille trat ein. Nach und nach hörte ich Geräusche. Die Lautstärke schwoll an. Stärker. Zusammen waren sie mir vertraut. Vor Jahren vertraut. Gehaste, metallisches Schlagen, alles laut, schrill. Viele Stimmen, Gelächter, Fußgetrappel, Bewegung. Eine scheppernde Glocke. Schule? Die Glocke, die achtmal täglich in der High School klingelte, wenn die Stunde um war und man drei Minuten Zeit hatte, um zur nächsten zu gehen? Diese Geräusche waren so deutlich. Ich hob den Kopf und sah. Es war alles vertraut, bis ins Blut vertraut, aber weil es unmöglich war, brauchte ich immer noch Zeit, um es zu verstehen, zu registrieren. Ich war wieder in der Schule. Ich war wieder auf der High School! Gesichter aus längst vergangenen Jahren wirbelten und strömten um mich herum. Joe del Tufo, Niklas Bahn, Ryder Pierce. Ein Football sauste durch die Luft und wurde zweihändig gefangen von Owen King. 190
»Mr. King, geben Sie mir diesen Ball.« Miss Cheryl Jeans, die Algebralehrerin, stand in der Tür zu ihrem Klassenzimmer, groß und schlank wie ein Bleistift, und bedeutete Owen mit einer Handbewegung, er solle ihr den Ball reichen. Sie war so schön und gutmütig, daß sie eine der beliebtesten Lehrerinnen der Schule war. »Kommen Sie, Miss Jeans. Wir tuns auch nicht wieder.« »Sie können ihn nach der Schule abholen, Owen. Jetzt gehört er mir. Geben Sie ihn her.« Er gab ihr den Ball und starrte sie immer noch an, als sie sich abgewandt hatte und in ihr Zimmer zurückging. Die Schule. Ich stand im Flur meiner High School, umgeben von vielen der Leute, die ich vor ein paar Monaten auf dem Klassentreffen gesehen hatte. Aber da waren sie erwachsen gewesen – das, was Jahre später aus ihnen werden würde, wenn sie von hier fort und ins Leben hinausgezogen wären. Hier waren sie wieder Teenager mit schlechten Haarschnitten, Zahnklammern und unmodernen Kleidern, die uns fünfzehn Jahre zuvor so cool und unentbehrlich vorgekommen waren. Gebannt stand ich da. Kids, die ich gekannt, gehaßt, geliebt, verachtet, verehrt, an denen ich mich auf dem Weg in die Klasse, zur Toilette, zur heimlichen Zigarette an der Hintertür vorbeigedrängt hatte. Tony Gioe. Brandon Brind. Und dann kam ich mit Zoe aus einem Klassenzimmer. Zoe Holland und Miranda Romanac, achtzehn Jahre alt, gingen einen halben Meter entfernt an mir vorbei. Beide lächelten verschwörerisch, als wäre soeben etwas Komisches und Geheimes passiert, das sie gemeinsam genossen hatten. Zum Beweis der Realität brandete mir ein starker Parfümgeruch entgegen. Jungle Gardenia – das billige Zeug, das ich auf der High School jeden Tag getragen hat191
te. Die beiden Mädchen gingen den Flur hinunter, und ich folgte ihnen. Sie merkten es nicht. Ich ging neben ihnen her, und keine merkte es. »Ich glaub’s einfach nicht! Miranda, sagst du die Wahrheit? Schwörst du bei Gott, absolut?« Zoes Augen funkelten vor Neugier. Mirandas Gesicht blieb ausdruckslos und frei von jeder Regung, aber dann konnte sie doch nicht mehr an sich halten und platzte lachend heraus. »Wir haben’s getan.« Zoe hielt sich die Bücher vors Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf. »O Gott! Komm hier herein!« Sie schob Miranda den Flur hinunter und in den Mädchenwaschraum. Sie gingen zu den Spiegeln und legten ihre Bücher auf die benachbarten Waschbecken. »Und?« Miranda schaute in den Spiegel und zog einen Schmollmund. »Und was?« Zoe packte sie bei der Schulter und riß sie herum. »Hör auf mit dem Quatsch, Miranda. Erzähl mir alles.« »Als er mich gestern abend abholte, sagte er, wir würden auf Abenteuer gehen. Ich sagte: ›Oh-oh‹, denn du weißt ja, was James meint, wenn er das sagt. Er fuhr zu Leslie Swids Haus und parkte weiter unten an der Straße. Es war dunkel in dem Haus, denn die Swids sind ja verreist, nicht? James sagte, wir würden da einbrechen.« Zoe richtete den Blick zum Himmel. »O mein Gott! Und das habt ihr getan? Du bist mit ihm in ihr Haus eingebrochen? Du bist eine Verbrecherin!« Sie kicherte. »Er hat versprochen, nichts zu machen – wir würden nur reingehen und uns umsehen. Also haben wir uns hinters Haus geschlichen. Natürlich hab ich vor lauter Angst, daß die Polizei kommen könnte, sieben Herzinfarkte gekriegt. 192
Aber James probierte alle Fenster aus und fand eins, daß er mit seinem Werkzeug aufkriegte – so ’n Autowerkzeug. Er hat also das Fenster aufgemacht, und wir sind reingeklettert. Es war gruselig, aber auch aufregend. Wir sind durch das Haus spaziert und haben uns nur alles angeschaut. Als wir in das Schlafzimmer ihrer Eltern kamen, hat er mich genommen und auf das Bett gestoßen, und dann … ist es passiert.« »War es gut? War es toll?« »Erst hat’s weh getan, dann war es schön. Im Grunde hatte ich bloß Angst, Zoe. Ich wußte nicht, was ich da tat.« Ich hatte auf der High School nie mit James Stillman geschlafen. Ich hatte auf der High School mit überhaupt niemandem geschlafen. Warum belog ich meine beste Freundin? Etwas berührte meine Schulter. Der erwachsene James Stillman stand dicht hinter mir. »Komm. Ich muß dir etwas zeigen.« Ich wollte zwar nicht weggehen, aber ich folgte ihm. James eilte durch Schwärme von Kids und Getöse den Schulflur hinunter. Mitten zwischen fünfzehn- und sechzehnjährigen Menschenleben hindurch, die allem entgegenpurzelten, was interessant aussah, leuchtete oder hell blinkte, allem, was gewaltig oder verlockend oder sogar gefährlich war – bis zu einem gewissen Grad. Ihm zu folgen, das war, als schwämme ich durch ein Meer von Geistern aus einer Zeit meines Lebens, die plötzlich auf furiose Weise wieder da war. Keins der Kids bemerkte uns. Vielleicht, weil wir uns als Erwachsene durch ihre Welt bewegten – was uns unsichtbar sein ließ. Was wir taten, ging sie nichts an. »Wo gehen wir hin?« 193
»Nach draußen.« Wir gingen den Flur entlang zum Hintereingang und hinaus auf den Schulparkplatz. Es roch nach Staub und frischem Asphalt. Es war heiß und noch Tag. Später würde sich das Wetter wahrscheinlich ändern, denn alles fühlte sich zu dick und zu schwer an. Insekten zirpten ringsum. Die Nachmittagssonne blitzte auf einhundert Autofenstern. James blieb stehen, um sich zu orientieren, und lief dann weiter. Ich hatte Fragen, aber er hatte offenkundig ein Ziel im Sinn, und so hielt ich den Mund und folgte ihm schweigend. Wir schlängelten uns zwischen Autos und Motorrädern hindurch. Hier und da erkannte ich eins aus alten Zeiten wieder: Mel Parlers beigen VW. Al Kaplans Pinto mit den vielen Aufklebern; auf einem stand: TRAU KEINEM ÜBER DREISSIG. James ging hinüber auf die andere Seite des Parkplatzes, und erst jetzt sah ich, wohin er wollte. Der alte grüne Saab, den seine Eltern ihm geschenkt hatten, als er den Führerschein gemacht hatte, parkte an der Ausfahrt zur Straße. Wie hätte ich das vergessen können? Er parkte sein Auto immer so, damit wir nach der Schule rasch wegkamen. Ich sah, daß zwei Leute drinsaßen. Es war James. Der achtzehnjährige James saß in dem Wagen, und ein Polizist. Obwohl es sehr heiß war, waren die Wagenfenster halb hochgedreht, aber ich konnte hören, was sie sagten. Der Polizist redete. Er sprach langsam und ehrlich betrübt. »Ihr wart letzte Nacht zu zweit im Haus der Swids, James. Du und ein Mädchen. Also streite es nicht ab, denn damit beleidigst du meine Intelligenz. Leute haben euch gesehen und eure Autonummer aufgeschrieben. Wirst du mir sagen, wer sie war? Dann wird’s nicht so hart für dich.« 194
»Ich war alleine da, wirklich!« James klang respektvoll, erpicht darauf, die Wahrheit zu sagen. Der Cop seufzte. »Söhnchen, es wird diesmal sehr hart für dich. Wir haben dir im Laufe der Jahre eine Menge Bockmist durchgehen lassen, aber diesmal nicht. Du bist in das Haus eines reichen Mannes eingebrochen, und Leute haben dich gesehen. Dafür wirst du auf jeden Fall ’ne harte Strafe absitzen müssen. Wenn du mir sagst, wer das Mädchen war, könnte ich vielleicht mit dem Richter reden, und …« »Ich schwöre bei Gott, das war bloß ich. Ich weiß nicht, wieso die mich mit jemandem zusammen gesehen haben.« Der erwachsene James fragte mich: »Du erinnerst dich nicht daran, wie?« »Nein.« »Im letzten Collegejahr. Zwei Monate vor dem Examen. Wir waren abends ausgegangen, Eis essen. Ich habe dir erzählt, daß ich das vorhatte« – er deutete auf den Wagen – »mich ins Haus der Swids schleichen und ein bißchen herumstöbern. Du hättest ja sagen sollen, Miranda. Wir hätten da reingehen und am Ende miteinander schlafen sollen. Das hätte unser erstes Mal sein sollen. Die Nacht, die alles verändert hätte. Denn am nächsten Tag sollte ich verhaftet werden. Wegen Einbruchs verhaftet und eingebuchtet.« »Aber wir haben das nicht getan, James! Was willst du damit sagen? Was soll das alles?« Meine Stimme klang schrill und panisch. Sie wußte nichts und bestritt doch alles. Die Sonne schien mir in die Augen. Wie ich mich auch drehte, sie stach auf mich ein wie ein anklagender Finger. James schüttelte entnervt den Kopf. »Ich will damit sagen, daß alles geschrieben steht, Miranda. Das größte Geheimnis des Lebens: Das Schicksal ist vorherbestimmt, 195
sosehr du es auch leugnest oder versuchst, dich dagegen zu wehren. Aber du hast dein Schicksal dein Leben lang herausgefordert. Und bist damit durchgekommen! Du und Hugh, ihr hättet nicht zusammenbleiben sollen. Sein Schicksal war es, zu seiner Frau zurückzukehren und mit ihr diesen kleinen Jungen zu bekommen. Dazu war die Szene im Fernsehen da: um dir zu zeigen, wie das Leben verlaufen sein sollte. Ihr beide solltet eine schnelle, hitzige Affäre haben. Am Ende solltest du ihm Postkarten aus exotischen Gegenden schreiben und ihm erzählen, wie sehr du ihn vermißt. Aber nichts davon ist geschehen. Du hast alles ändern können. Du hast das Schicksal verändert. Wieder mal. Hugh blieb über die vorbestimmte Zeit hinaus bei dir, und dann ist er gestorben. Keine Versöhnung mit seiner Frau, kein kleiner Oakley, Mutter Charlotte, Vater Hugh. Nichts davon ist geschehen, Miranda.« Jäh brach er ab, und sogleich erfüllte das Getöse von einer Million Sommerinsekten die Luft. Dahinter redeten der junge James und der Polizist weiter miteinander im Auto. »Was ist mit der Geburtstagsparty, die ich an unserem ersten Tag im Haus gesehen habe? Was ist mit dem kleinen Jungen?« »Sie hat nie stattgefunden, weil er nie geboren wurde. Er sollte geboren werden, aber er wurde es nicht.« »Aber du bist auch nicht ins Gefängnis gekommen! Das war doch gut!« »Nein, war es nicht. Dort sollte mir der Kopf zurechtgerückt werden. Diese Erfahrung hätte mir Angst eingejagt und mich für alle Zeit verändert. Ich hatte immer um die Flammen getanzt, hatte Dummheiten gemacht, war Risiken eingegangen. Aber das Gefängnis hätte mich mitten ins Feuer geworfen. Es wäre die Hölle gewesen. Nach der 196
Haft sollte ich einen Job annehmen, der mir gefiel, und eine Frau finden, die zu mir paßte. Und dann sollte ich als alter Mann sterben.« Er lachte leise, aber es war ein schwarzer, bitterer Laut. Er deutete auf einen Nasenflügel. »Siehst du dieses Muttermal? Das kleine? Als ich alt war, wurde es bösartig, aber ich kümmerte mich nicht darum, und es brachte mich um.« Wieder lachte er, und es klang noch giftiger. »Kein Heldentod, aber schöner, als einem niederträchtigen Luder mit russischer Lyrik auf dem Handgelenk nachzulaufen und mit dem Wagen gegen einen Brückenpfeiler zu rasen, als ich gerade mal dreißig war.« In der Schule schepperte laut eine Glocke. Sekunden später flogen Türen auf, und Hunderte von Kids strömten heraus. Beinahe sofort füllte sich der Parkplatz mit ihnen. Autos sprangen an, Hupen plärrten zum Abschied, Kids schrien und plauderten durcheinander und liefen eilig hinaus auf die Straße und in die Freiheit. Der notwendige Teil des Tages war für sie vorbei, und nachdem sie stundenlang im Unterricht gesessen hatten, brannten sie alle darauf, zum guten Teil zu kommen. James und ich schauten ihnen nach, wie sie verschwanden. Es dauerte nicht lange. Das wußte ich noch von früher. Man war raus aus dem Schulgebäude und woanders, so schnell man konnte. Ein paar Minuten später standen noch ein paar Nachzügler am Hinterausgang herum und schwatzten mit meinem alten Chemielehrer, Mr. Rolfe. Eine Truppe spielte am anderen Ende des Platzes Basketball. Mehrere Autos standen noch da, unter anderem ein grüner Saab. Der Polizist und der junge James sprachen immer noch miteinander. Es sollte der erste Tag seines restlichen Lebens sein. Aber dazu war es nie gekommen. Meinetwegen. 197
fieberglas McCabe und ich schauten uns an und warteten, wer wohl als erster gehen würde. Die Krankenschwester am Empfang hatte uns gesagt, wie wir zu dem Zimmer kamen, aber als wir aus dem Aufzug getreten waren, blieben wir stehen, und jeder hoffte, der andere werde den nächsten Schritt tun. »Na, gehen Sie.« »Schon okay. Gehen Sie vor.« »Wie war noch die Zimmernummer?« »1063.« Dieses hier roch ganz anders als andere Krankenhäuser oder Altenheime, in denen ich gewesen war. Es war zermürbend. Hier war nichts von dem platten, leblosen Geruch, der sonst in solchen Häusern überwog – Desinfektionsmittel, Medizin und Krankheit, so vermischt, daß es nach nichts Gutem roch, nach nichts Tröstlichem. Unwillkürlich hob ich den Kopf und schnupperte wie ein Hund, der eine Witterung identifizieren möchte. McCabe sah es und sagte, ohne zu zögern: »Truthahn. Riecht nach Truthahn-Dinner hier. Hab ich sofort bemerkt, als wir reinkamen. Kommen Sie, wir suchen Frances.« Er ging den Korridor entlang und hielt nach links und rechts Ausschau nach Zimmer 1063. Ich war im Bett im Haus in Crane’s View aufgewacht, vollständig bekleidet, unter einer Steppdecke, den Kopf 198
auf dem Kissen, die Arme an der Seite. Normalerweise dauerte es eine Weile, bis ich einen klaren Kopf bekam, aber an diesem Morgen nicht. Sofort erinnerte ich mich, was am Abend zuvor mit Hugh und seiner Familie im Fernsehen passiert war und wie ich dann mit James unsere alte High School besucht hatte. Mein Leben lang haben die Leute scherzhaft gesagt, ich sähe aus wie eine Tote, wenn ich schliefe, und zwar wegen der Stellung, in der ich läge. Wenn ich einmal lag und schlief, rührte ich mich meistens nicht mehr. An diesem Morgen lag ich nun da und fragte mich, wie ich es überhaupt geschafft hatte, ins Bett zu kommen. Dann klingelte das Telefon. Ich nahm ab, aber ich erkannte McCabes Stimme erst, als er seinen Namen nannte und mir sagte, Frances Hatch sei im Krankenhaus. Sie habe ihn angerufen und darum gebeten, daß wir beide so schnell wie möglich zu ihr kämen. Seine Stimme klang nervös und gereizt. »Was ich nicht kapiere: Wieso ist sie nicht in Manhattan? Sie ist oben in der Gegend von Bronxville in einem Haus namens Fieberglas oder so ähnlich. So ein komischer Name, aber ich habe alles aufgeschrieben. Sie hat mir den Weg beschrieben. Können Sie in einer Stunde soweit sein? Ich würde gern bald los.« Das Gebäude war eine dieser teuren, absurden Kopien von Tudor-Villen, wie sie heutzutage nur noch von Rockstars und anderen zeitweiligen Millionären gekauft oder gebaut werden. Zuerst kamen wir durch eine hohe, penibel getrimmte Hecke, die das Anwesen von der Straße abschirmte. Am oberen Ende einer langen, gewundenen Zufahrt stand dann das Sanatorium Fieberglas auf einer kleinen Anhöhe inmitten eines mehrere Hektar großen, wunderbar gepflegten Grundstücks, dessen Unterhaltung ein Vermö199
gen kosten mußte. Wenn man sich umschaute, hatte man das Gefühl, auf einem Golfplatz zu sein, in einer kostspieligen Forschungseinrichtung oder auf einem Friedhof. McCabe steuerte in einen der vielen freien Parkplätze vor dem Hauptgebäude an und stellte den Motor ab. Er hatte eine CD von Kool & the Gang laufen lassen, und die jähe Stille war beunruhigend. Sie machte deutlich: Wir sind da, und jetzt haben wir etwas zu tun. Er schaute in den Rückspiegel und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »God save the Queen. Dieser Laden ist von vorn bis hinten möchtegernenglisch. Die wären zu gern Brideshead Revisited. Ich möchte hier nicht krank sein. Die sind bestimmt große Anhänger von Einlaufen.« Ich schaute aus dem Fenster. »Sind Sie sicher, daß sie hier ist? Sieht nicht gerade aus wie ein Haus für Frances.« »Stimmt, aber es ist hier.« Wir stiegen aus und gingen über makellosen weißen Kies zum Eingang. McCabe öffnete die Tür und winkte mich hinein. Drinnen erblickte ich zu meiner Überraschung eine große Zahl von Leuten, die in der Eingangshalle durcheinanderwimmelten. Manche trugen Bademäntel und Pantoffeln, andere waren voll bekleidet. Wir gingen zum Empfang und fragten nach Frances. Die Schwester wandte sich ihrem Computer zu und tippte apathisch auf ein paar Tasten. Ich warf einen Blick auf McCabe. Er war ein gutaussehender Mann, kein Zweifel. Ich war nicht gerade verrückt nach der Gel-Frisur, aber in seinem zweireihigen Anzug mit dem weißen Hemd und der schwarzen Seidenkrawatte sah er doch ziemlich flott aus. »Bedaure, aber sie darf zur Zeit keinen Besuch empfangen.« McCabe zog seine Polizeimarke hervor und hielt sie der Frau entgegen. Als er sprach, klang es leise und freund200
lich, aber die Autorität in seinem Tonfall war nicht zu überhören. »Sagen Sie uns nur die Zimmernummer. Und den Namen ihres Arztes.« Die Frau rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Aber sie konnte nicht viel tun. »Zehndreiundsechzig. Dr. Zabalino.« »Zabalino. Wunderbar. Vielen Dank.« Er nahm mich beim Arm, und wir sprachen erst wieder, als wir den Aufzug auf der anderen Seite der Halle erreicht hatten. Er drückte auf den orangegelben Knopf und starrte auf seine Füße. »Was ist, wenn sie für Besuch wirklich zu krank ist?« Die Tür glitt auf. Der Aufzug war leer. Wir traten ein, und die Tür ging rasch wieder zu. Ich drückte die Drei. »Miranda, wie lange kennen Sie Frances?« Er stand zu dicht vor mir, aber das störte mich nicht, denn es hatte in keiner Weise etwas mit Mann/Frau oder mit Sex zu tun. McCabe kam einem in jeder Hinsicht nahe; er berührte, er knuffte, er klopfte den Leuten auf die Schulter. Ich glaube, die meiste Zeit merkte er es nicht mal. Er sprach auch in einem Ton, der einem zu verstehen gab, daß man ihm sehr vertraut sei; man könne ihm alles erzählen, und es sei okay. Er stellte auf allen Ebenen Kontakt her, und selbst wenn man etwas Unrechtes getan hatte, hielt seine Stimme und seine Berührung einen fest. Es war angenehm. »Nicht so lange. Ein paar Monate. Warum?« »Ich kenne sie seit fünfundzwanzig Jahren. Sie ist der unabhängigste Mensch der Welt. Aber wenn sie um etwas bittet, tun Sie’s, und lassen Sie sich durch nichts davon abhalten. Sie ruft an und sagt, sie will uns hier sehen: Wir rennen, Miranda.« Mehrere Türen standen offen, als wir durch den Korridor gingen. In einem Zimmer lag ein sehr alter Mann mit geschlossenen Augen im Bett. Auf einem Holzstuhl neben 201
ihm saß ein kleines Mädchen. Sie trug eine große rote Armbanduhr, die sie mit hochgezogenen Brauen anstarrte. Sie sprach mit dem alten Mann, und ich begriff, daß sie ihm die Sekunden vorzählte. Seine Augen blieben geschlossen, aber er lächelte. Zwei Türen weiter sah ich zu meiner Verblüffung einen kleinen schwarzen Hund, der ganz allein mitten auf einem makellos glatten Bett saß. Anscheinend war sonst niemand im Zimmer. Ich konnte es mir nicht verkneifen, McCabe am Ärmel zu berühren und ihn darauf aufmerksam zu machen. Als er den Hund sah, blieb er verdutzt stehen. »Was zum Teufel …?« Der Hund sah uns und gähnte. McCabe trat an die Tür und spähte auf das kleine Schild mit dem Namen des Patienten. »Frederick Duffek. Ist Duffek eine Hunderasse?« Er machte einen Schritt nach rechts und stand mitten in der Tür. »Frederick? Wo ist dein Herrchen?« »Ja?« Ein riesiger Mann im mittleren Alter trat hinter der Tür hervor und baute sich zwei Handbreit vor McCabe auf. Seine Glatze glänzte wie eingeölt, und sein Pyjama hatte die Farbe von altem Elfenbein. McCabe ließ sich nicht einschüchtern. »Hey! Ich hab Ihren Hund da auf dem Bett gesehen, und da hab ich mich gefragt …« Der Mann legte McCabe eine Hand auf die Brust, schob ihn in den Korridor und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Frannie schaute mich entzückt an. »Was für ein gottverdammtes Irrenhaus, he? Der Typ sah aus wie Divine. Vielleicht gehört der Hund zu seiner Therapie.« »Vielleicht sollten wir Zimmer 1063 suchen.« Aber es gab noch einen Schnappschuß, bevor wir zu Frances’ Zimmer kamen, und es war einer, der sich einprägte. Alle anderen Türen an diesem Korridor waren geschlossen bis auf die neben 1063. Die stand weit offen. 202
Drinnen war eine junge Frau. Als wir sie sahen, hatte sie uns den Rücken zugewandt. Sie trug einen ausgebeulten schwarzen Trainingsanzug und stand breitbeinig da, so daß sie aussah wie ein umgekehrtes Y. Auf dem Boden vor ihr lag ein schwerer großer, blaugrauer Stein, ungefähr geformt wie ein Ei. Er hätte überall einen merkwürdigen Anblick geboten. In diesem stillen, ungastlichen Haus war er unerhört. Sie keuchte dreimal heftig – huff, huff, huff –, bückte sich und wuchtete den Stein wie ein erfahrener Gewichtheber bis zum Bauch. Dann stieß sie noch einmal diese drei kurzen Keucher aus und ließ ihn wieder auf den Boden sinken. Pause – dann dreimal keuchen und wieder hoch. »Jesus!« zischte McCabe. Der Stein war fast wieder auf dem Boden angelangt. Sie ließ ihn niederplumpsen und drehte sich um. Sie war bemerkenswert schön. »Dr. Zabalino?« Ihr Lächeln war wundervoll. Als sie uns sah, erlosch es. »Oh, hallo. Ich dachte, Sie wären meine Ärztin.« McCabe trat ins Zimmer und warf einen raschen Blick hinter die Tür, um zu sehen, ob noch jemand da war. »Wieso stemmen Sie einen Stein? In Ihrem Krankenhauszimmer? Ist das gut für Sie?« »Es gehört zu meiner Meditation.« »Meditation? Wer ist Ihr Guru? Arnold Schwarzenegger? Uuuh!« Er grinste wollüstig und griff in die Hosentasche. »Mein Telefon klingelt. Ich liebe diesen Vibrationsalarm. Von mir aus könnte es den ganzen Tag klingeln.« Er holte ein kleines graues Telefon hervor. Es klappte in seiner Hand auf. »Hallo? Oh, hallo, Frances. Wo wir sind? Nicht mehr weit. Wir könnten in … na ja, in acht Sekunden da sein. Ja, wir sind hier. Im Nachbarzimmer, bei der 203
Frau, die einen Stein stemmt. M-hm. Kein Problem.« Er klappte das Telefon zu und sah mich an. »Frances sagt, sie möchte gern zuerst mit Ihnen sprechen. Ich warte draußen.« Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und runzelte die Stirn. »Entschuldigung, aber wer sind Sie beide?« McCabe trat auf sie zu und sprach hastig, als wolle er sie nicht zu Wort kommen lassen. »Wir besuchen Ihre Nachbarin nebenan, Frances Hatch. Hätten Sie was dagegen, wenn ich das mal ausprobiere, bevor wir gehen?« Er bückte sich, schlang die Arme um den Stein und wollte ihn hochreißen. Seine Augen weiteten sich, und er prustete. »Wie schwer ist dieses Ding?« »Siebzig Kilo.« »Hundertvierzig Pfund? Und das bewegen Sie so einfach auf und ab.« Ich lenkte seinen Blick auf mich und bedeutete ihm mit einer Geste, daß ich gehen wollte. Die Frau bat mich, die Tür zu schließen. Ich ging die paar Schritte zu Frances’ Zimmer. Als ich die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, machte jemand in der Nähe: »Pssst!« Ich blickte auf. Hughs und Charlottes kleiner Junge stand in der Tür gegenüber. Er trug die gleich gestreifte Badehose wie im Fernsehen in meiner Küche, und er war barfuß. Und schlimmer noch, unter jedem Fuß glitzerte eine kleine Wasserpfütze. Als sei er gerade tropfnaß aus einem Swimmingpool gestiegen. Instinktiv schaute ich nach seinen Händen – ob er wieder einen Stein dabeihatte. »Ich werde nicht weggehen.« Er hatte eine Kinderstimme, und sie enthielt die schreckliche Note unendlicher Bedrohung, wie sie nur eine Kinderstimme enthalten kann. 204
Erinnerst du dich? Weißt du noch, wie beängstigend und allumfassend es sein konnte, von einem Klassenkameraden bedroht zu werden, den du haßtest, weil du ihn fürchtetest bis ins Mark deiner Knochen? Du wußtest, daß du ihn niemals besiegen konntest, weil er stärker war oder hübscher (oder stärker und hübscher) oder klüger oder größer oder von entsetzlicher, monströser Niedertracht. Und weil du noch klein warst und vom Leben nichts wußtest, wußtest du, daß dieser Gleichaltrige – Sieben-, Acht-, Neunjährige – immer in deiner Nähe sein würde, eine ständige Bedrohung bis zum Tag deines Todes. Das empfand ich jetzt, und es war keine kleine Empfindung. Eine lähmende Furcht packte mich, weil dieser Junge nicht existierte und trotzdem da war, drei Schritt von mir entfernt, und mich anschaute mit Haß in seinem Blick. Er fing an zu singen: »In Dublin’s fair city, where the girls are so pretty …« Seine Stimme klang lieblich und schelmenhaft. Ich tat einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß nicht, was du von mir willst! Was kann ich tun? Was soll ich tun? Ich verstehe das nicht.« Ohne Absicht hielt ich ihm die Hand entgegen. Den Arm gestreckt, die Handfläche aufwärtsgewandt: eine Bettlerhand. Bitte hilf mir. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er schaute mich eine ganze Weile an, trat dann aus der Tür und ging davon. Seine Füße hinterließen nasse Spuren auf dem Linoleum, den ganzen Gang hinunter. Er fing wieder an zu singen. »… I first laid eyes on sweet Molly Malone.« »Bitte hör auf.« Nichts. »Sag mir, was ich tun kann!« Er drehte sich nicht um. An der Tür angekommen, stieß er sie auf und war verschwunden. 205
Als ich das Zimmer betrat, stand eine imposante Frau bei Frances und maß ihr den Puls. Ihr mächtiger, glänzend schwarzer Haarschopf war aufwärts um den Kopf geschlungen wie das Softeis in einem Hörnchen. Dichte Brauen, große Augen, zierliche Züge, weiße Haut. Ihr schwarzes Chanel-Kostüm stand in lebhaftem Kontrast zu einer Vielzahl von goldenen Ringen an ihren Fingern und Armbändern an ihren Handgelenken. Auf der Straße hätte ich gedacht: Geld, Angeberin, Geschäftsfrau oder Ehegattin mit Attitüden. Sie war attraktiv, ohne etwas Besonderes zu sein, und ihre schwarzen Augen verkündeten, daß sie genau wußte, was sie tat. Als sie sprach, wurde dieser Eindruck durch Timbre und Autorität ihrer Stimme bestätigt. »Kann ich Ihnen helfen?« »Doktor, das ist meine Freundin Miranda Romanac. Miranda, das ist Doktor Zabalino.« Die Ärztin drehte einen ihrer Armreifen. »Der Junge sagt die Wahrheit. Er wird nicht weggehen. Sie müssen ihn dazu bringen.« Entsetzt darüber, daß sie wußte, was draußen passiert war, kläffte ich zurück: »Woher wissen Sie davon? Wer sind Sie?« Frances stemmte sich kraftlos auf den Ellenbogen hoch. »Hab keine Angst, Miranda. Ich habe dich kommen lassen, weil ich krank bin. Sehr krank. Die Ärzte sagen, ich werde vielleicht sterben, und deshalb muß ich dir einiges sagen. Es ist entscheidend wichtig, daß du es weißt. Das erste ist: Wenn mir etwas zustößt, kann Zabalino dir helfen. Wenn du Rat brauchst oder eine Bleibe, kannst du jederzeit herkommen, und du wirst in Sicherheit sein. Vor allem. Aber jetzt mußt du zurückgehen und in dem Haus wohnen. Bleib dort, bis du herausgefunden hast, wer du bist. 206
Danach kannst du selbst entscheiden, ob du bleibst oder fortgehst.« »Was soll ich denn dort tun? Hilf mir, Frances. Gib mir einen Hinweis!« »Das kann ich nicht, weil ich auch nichts weiß. Aber das Haus ist der Schlüssel, Miranda. Die Antworten sind alle dort.« »Hast du es uns deshalb geschenkt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber es ist das Haus, in dem Hugh gestorben ist, und darin liegt seine Bedeutung. Das gleiche ist mir vor fünfzig Jahren in Wien mit Shumda passiert. Ich mußte bleiben, bis ich herausgefunden hatte, wer ich war. Sag Frannie, ich kann ihn heute nicht empfangen. Aber sag ihm, seine Frau ist sehr krank und muß gründlich untersucht werden. Sie kann noch gerettet werden, aber man muß sich sofort darum kümmern.« Die Tür ging auf und McCabe kam hereinmarschiert wie ein Bürgermeister. »Hallo, Frances. Was ist denn hier los, Mädels? Soll ich ewig nebenan bei der Felsenfrau bleiben?« Ich hörte etwas. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber ich wußte instinktiv, daß es schlecht war. So, wie der Kopf vor einem ekelhaften Geruch zurückzuckt, ehe das Gehirn ihn registriert. Das Geräusch wurde lauter. »Was ist das?« Alle schauten mich an. Die Frauen wechselten einen Blick. McCabe zuckte die Achseln. »Was ist was?« »Hören Sie es nicht? Das Atemgeräusch? Dieses laute Atmen?« 207
Er rieb sich den Unterkiefer und lächelte: »Nein.« Frances und die Ärztin lächelten nicht. Sie sahen ebenso bestürzt aus, wie ich mich fühlte. »Miranda, du mußt gehen. Jetzt sofort – verschwinde von hier! Nimm Frannie mit. Fahr zurück nach Crane’s View. Geh ins Haus.« McCabe sah mich an; er hatte den beiden Frauen den Rücken zugewandt. »Was ist denn hier los?« Sein Gesicht zeigte fröhliche Ratlosigkeit, als ob man sich einen Spaß mit ihm machen wollte. Frances rief seinen Namen. Er drehte sich zu ihr um. Nichts ging zwischen ihnen hin und her – kein Blick, kein Wort, keine Berührung, keine Geste. Aber er fuhr jäh wieder zu mir herum, und seine Miene gab Feueralarm. »Wir müssen raus! Miranda, kommen Sie! Schnell!« Er nahm mich beim Arm und wollte mich zur Tür zerren. Jetzt zögerte ich; natürlich hatte ich Angst, aber ich war auch entschlossen, etwas herauszufinden. »Was ist das, Frances? Was ist das für ein Atmen?« Zabalino sprach in warnender Eile. »Das sind Sie. Ein Teil Ihrer selbst wartet draußen. Sie müssen jetzt gehen und Antworten finden. Es wird Ihnen oder uns nichts tun, wenn Sie jetzt gehen.« »Aber Frances hat gesagt, wenn ich in Schwierigkeiten bin, kann ich herkommen …« »Später. Nicht jetzt. Solange Sie bestimmte Dinge nicht herausgefunden und sich entschieden haben, was Sie tun wollen, ist keiner von uns in Sicherheit, wenn Sie hier sind. Es wartet. Es kann Ihnen nichts anhaben, solange Sie drinnen sind. Es ist so nah, wie es Ihnen kommen kann, und es will, daß Sie das wissen. Fieberglas ist ein Hafen, aber noch nicht für Sie. Frances hätte Sie nie herholen dürfen. Zuerst müssen Sie wissen, wer Sie sind. Bis dahin …« Zabalino deutete nach draußen, wo ein beängstigender, 208
unbekannter Teil meiner selbst ganz nah und laut an die Mauern dieses zweifelhaften Hauses atmete. Die Angst machte meine Füße zweihundert Pfund schwer. Seltsamerweise schob sich eine Zeile aus meiner Kindheit vor alle andern Gedanken und wiederholte sich brüllend immer wieder. Es war die Drohung des Großen Bösen Wolfs gegen die Drei Kleinen Schweinchen, als er hungrig und von mörderischer Selbstgewißheit erfüllt vor ihren Häusern stand und wußte, daß er die Bewohner fressen würde: »Ich huste und puste und blase euer Häuschen um!« »Miranda, kommen Sie schon!« McCabe nahm meinen Arm. Ich schüttelte ihn ab. »Frances, habe ich Hughs Tod verursacht?« »Nein, auf gar keinen Fall.« »Aber du mußt mir helfen! Ich weiß nicht, was hier vorgeht!« Das Geräusch draußen wurde immer lauter. Es atmete schneller, irgendwie dichter. »Fahr zurück nach Crane’s View, Miranda. Die Antworten sind dort. Wenn nicht, weiß ich überhaupt nichts. Es ist das einzige, was ich dir sagen kann, was vielleicht helfen könnte.« Sie wollte noch mehr sagen, aber Zabalino legte ihr eine Hand auf den Arm und ließ sie verstummen. Frances Hatch fuhr sich mit der Zunge über die schmalen Lippen und betrachtete mich voller Mitleid. Und Angst. Als Kind habe ich mir eine Meningitis zugezogen. Eines Tages im Sommer kam ich vom Spielen mit Zoe Holland nach Hause und sagte meiner Mutter, ich hätte Kopfschmerzen, und der Hals tue mir weh. Sie saß vor dem Fernseher, und ohne den Blick vom Gerät zu wenden, sag209
te sie, ich solle mich hinlegen. Wenn die Sendung aus wäre, werde sie kommen und meine Temperatur messen. Ich ging in mein Zimmer und schlief rasch ein. Als meine Mutter kam, konnte sie mich nicht mehr wach bekommen. Das Interessanteste an diesem Erlebnis war, daß ich zwar ins Koma verfallen war, aber trotzdem alles, was um mich herum vorging, mit vollem Bewußtsein wahrnahm. Ich konnte nur nicht darauf reagieren. Als meine Mutter in Panik geriet, weil sie mich nicht wecken konnte, hörte ich alles. Ich konnte nur nicht die Augen und den Mund öffnen und sagen: Ich bin hier, Mom, du brauchst nicht zu schreien. Ich wußte, daß die Sanitäter kamen und sich an mir zu schaffen machten, daß ich aus dem Haus getragen wurde. Und ich hörte die Geräusche, die wir beim Abfahren machten, hörte die Fahrt ins Krankenhaus, alles. Es war weniger wie ein Traum als vielmehr, als wäre ich hinter einer Glasscheibe oder einer Art dünnem Vorhang, einen Fingerbreit entfernt von den üblichen Vorgängen des Lebens. Zwei Tage später erwachte ich aus dem Koma, weil ich zur Toilette mußte. Als ich jetzt mit McCabe nach Crane’s View zurückfuhr, dachte ich an diese Zeit und daran, wie es gewesen war, bei Bewußtsein und gleichzeitig im Koma zu sein. Da und doch nicht da – erkennend und doch abgeschnitten. Was jetzt geschah, hatte große Ähnlichkeit damit. Seit ich Zeugin der Geburtstagsparty dieses Phantomjungen gewesen war, hatte ich mein Leben jenseits von irgend etwas verfolgt. Jenseits von etwas Undurchdringlichem und Geheimnisvollem. Mein Leben war da drüben, nicht da, wo ich war. Oder es war das Leben, wie ich es einmal gekannt hatte. Und ich konnte nichts tun, um zu ihm zurückzukommen. Was würde die Rückkehr in das Haus in Crane’s View da helfen? Aber hatte ich eine Alternative? 210
Der Unfall mußte wenige Augenblicke, bevor wir um die Kurve kamen, passiert sein. Noch immer quoll Rauch in einer schlangenförmigen Wolke unter der zerknautschten silbernen Motorhaube hervor. Der scharfe, dicke Geruch von heißem Öl und verbranntem Metall erfüllte die Luft. Aus dem Wageninneren plärrte der Song Sally Go Round the Roses. Es war niemand zu sehen. Der Song bohrte sich durch die seltsame Stille, die uns auf dieser schmalen Straße ein paar Meilen vor Crane’s View umgab. McCabe fluchte und schleuderte dreißig Meter hinter dem Wrack hart nach rechts. Wir holperten über das unbefestigte Bankett und kamen in einem prasselnden Wirbel von fliegenden Steinen und Erde zum Stehen. Ohne ein Wort sprang er aus dem Wagen und rannte über die Straße zu dem BMW, der so hart gegen den Telefonmast geprallt war, daß der Kühler sich einen halben Meter von der Straße gehoben hatte. Irgendeine finstere Flüssigkeit tropfte stetig unten aus dem Wagen. Ich nahm an, es sei Wasser, bis ich die dunkle Farbe sah. Ich schaute am Telefonmast hinauf nach oben. Seltsamerweise hockten Vögel oben auf den schwarzen Drähten; sie schauten geschäftig umher und zwitscherten miteinander. Die Drähte wippten ein bißchen unter ihrem Leichtgewicht. McCabe lief zur Beifahrerseite und bückte sich, um durch das Fenster hineinzuspähen. Ich war dicht hinter ihm, die Hände fest an die Rippen gepreßt. Er sprach ruhig mit jemandem im Wagen. Es war beinahe schön, wie liebevoll und warm seine Stimme klang. »Wir sind hier. Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen. Ist jemand verletzt? Jemand …« Er brach ab und trat jäh zurück. »Böse Sache. Böse Sache.« Bevor er sich zu mir umdrehte, schaute ich zum ersten Mal ins Auto. Hugh Oakley war von der freiliegenden Lenksäule aufgespießt worden. Sein Kopf war in die andere Richtung 211
gedreht, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte, Gott sei Dank. Charlotte Oakley war nicht angeschnallt gewesen und mit voller Kraft gegen die Frontscheibe geschleudert worden. Das Sicherheitsglas hatte sie aufgefangen, aber ihr Kopf war mit solcher Wucht aufgeschlagen, daß in der Scheibe in riesiges kristallenes Spinnennetz zu sehen war. Was von ihrem schönen Gesicht übrig war, sah aus wie ein Stück heruntergefallenes Obst. Ein Bruchstück des Lenkrads lag bösartig verrenkt in ihrem Schoß und sah aus wie ein seltsames Werkzeug. Das Kind, der Sohn der beiden, war auf dem Rücksitz, ebenfalls tot. Er lag auf dem Rücken, beide Arme über den Kopf gestreckt, ein Auge offen, eins geschlossen. Auf seinem T-Shirt war ein Bild von Wile E. Coyote mit einer Dynamitstange in der Pfote. Der Kopf des Jungen war in einem tödlichen Winkel zur Seite gedreht. Aber das Wichtigste war: Er war älter, als ich ihn nur eine Stunde zuvor im Korridor von Fieberglas gesehen hatte. Er war gealtert. Ich starrte in das Auto voller Leichen und wußte, was das war. Was wäre geschehen, wenn Hugh am Leben geblieben wäre, mich irgendwann verlassen hätte und zu Charlotte zurückgekehrt wäre? Das hier. Sie hätten den Jungen bekommen und wären ein paar Jahre glücklich gewesen. Vielleicht elf oder zwölf, vielleicht dreizehn. Dann wären sie eines Tages mit ihrem eleganten neuen, silbernen Auto aufs Land gefahren. Und so wäre es geendet: ein Gesicht wie eine zerplatzte Pflaume, Wile E. Coyote, die falsche Schönheit eines Spinnennetzes im zersprungenen Glas. Als McCabe zu seinem Wagen zurückging, um sein Handy zu holen und den Unfall zu melden, umgab mein schützendes »Koma« mich noch immer. In jeder anderen Situation wäre ich wahnsinnig geworden, wenn ich Hugh 212
Oakley so gesehen hätte. Jetzt blieb ich einfach bei ihm und lauschte dem gespenstischen, schönen Song aus dem Radio. Mir war nicht elend zumute, weil ich wußte, daß es nicht stimmte; so war es nicht gekommen. Er war mit einer Hand auf meinem Kopf gestorben, ruhig, und nur wir beide waren dagewesen, am Ende eines Sommergewitters am Abend. So war es besser, nicht wahr? Ruhig, verliebt, mit der zweiten Hälfte des Lebens vor sich, zusammen mit einer Frau, die ihn mehr liebte, als sie es selbst je für möglich gehalten hätte. Ich hätte ihm alles gegeben. Ich hätte Planeten vom Himmel gezogen, damit unser Leben funktionierte. Ich schaute ihn an. Ich hatte ihm eine Frage zu stellen, die er mir nicht beantworten konnte, weil er tot war. Überall tot. Tot hier, tot in meinem Leben. »Welches Leben wäre das bessere für dich gewesen? In welchem wärest du heil geblieben?« Unbesorgt hüpften die Vögel über uns auf den Drähten herum, schwatzhaft beschäftigt mit dem Rest des Tages.
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jäh das jetzt Ich fuhr mit einem Mann von der freiwilligen Feuerwehr nach Crane’s View zurück. McCabe blieb am Unfallort. Als Feuerwehr und Krankenwagen gekommen waren und die Rettungshelfer getan hatten, was sie konnten, hatte er dafür gesorgt, daß ein Freund von ihm mich nach Hause brachte. Unterwegs schwiegen wir, bis der Mann mich fragte, ob ich die Opfer gekannt hätte. Ich zögerte, bevor ich verneinte. Er zupfte sich am Ohrläppchen und sagte, es sei eine schreckliche Sache, ganz schrecklich. Nicht bloß wegen des Unfalls, sondern auch, weil die Salvatos prächtige Leute gewesen seien. Er habe Al seit Jahren gekannt und auch für ihn gestimmt, als er vor ein paar Jahren für das Bürgermeisteramt kandidiert habe. Verblüfft fragte ich ihn, wovon er da rede. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Von den Salvatos: Al, Christine, der kleine Bob. Eine verdammt nette Familie. Sterben sie allesamt bei so ’nem Crash. Bricht einem das Herz. Wir von der Feuerwehr, wir müssen ja meistens kommen, wenn’s knallt. Vor allem, wenn es so schlimm ist. Aber so was ist das Härteste. Da kommt man zum Unfallort, was schon übel genug ist, aber dann guckt man das erstemal in den Wagen, und da kennt man die Leute! Du lieber Gott, da sind sie, und sie sind tot. Ich sage Ihnen, manchmal überlege ich mir da schon, ob ich nicht aussteigen soll.« 214
Ich drehte mich auf meinem Sitz um hundertachtzig Grad und glotzte aus dem Heckfenster. »Aber haben Sie denn in den Wagen geguckt? Haben Sie Ihre Freunde tatsächlich drinnen gesehen?« Es war eine Forderung, keine Frage, denn ich hatte es ja auch gesehen, sie – Hugh, Charlotte, das ganze Grauen. »Na klar hab ich’s gesehen! Lady, was glauben Sie, wovon ich hier rede? Ich hab Al von einer Lenksäule runtergezogen, die ungefähr zwei Fuß tief in seiner Brust steckte! Verdammt, da kann man wohl sagen, daß ich es gesehen habe! Ich war zwei Handbreit von seinem Gesicht entfernt.« Ich beobachtete ihn stumm, bis klar war, daß er nichts weiter sagen würde. Wieder drehte ich mich auf dem Sitz, um aus dem Rückfenster zu schauen, wir waren fast in Crane’s View. Als wir durch die Stadtmitte fuhren, dachte ich daran, wie aufgeregt Hugh und ich am Tag unseres Einzugs gewesen waren. Wir hatten alles gleichzeitig tun wollen – den Laster entladen, in die Stadt fahren und sehen, was für Geschäfte es gab, einen langen Spaziergang machen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, wie Crane’s View wirklich war. Weil es ein schöner Tag war, entschieden wir uns für den Spaziergang, und dann waren wir am Fluß rausgekommen und hatten den vorbeifahrenden Booten zugeschaut. »Nichts könnte besser sein«, sagte Hugh. Er nahm meine Hand und drückte sie. Dann ging er davon. Ich fragte, wo er hinging, aber er gab keine Antwort. Ich sah zu, wie er umherspazierte, den Blick zu Boden gerichtet. Schließlich bückte er sich und hob ein kleines braunes Stück Holz auf, ungefähr so groß und so dick wie eine Zigarre. Er hielt es in die Höhe und schwenkte es hin und her, damit ich es sah. »Ich habe auf den richtigen Augenblick gewartet, um danach zu suchen. Das ist hier. Hier mit dir, das Wasser, 215
der Tag … Der perfekte Augenblick, um mein erstes Miranda-Holz zu suchen.« Er kam zu mir und gab mir das Holz. Ich rieb mit dem Daumen über die Oberfläche und küßte es dann impulsiv. »Ich hoffe, es gibt noch eine Menge mehr.« Er nahm es zurück und steckte es in die Tasche seiner Jeans. »Das ist eins der großen für mich. Ich muß gut darauf aufpassen.« Ich stieg aus dem Wagen und fragte mich, wo Hughs Stück Holz sein mochte. Ich wartete, bis der Wagen um die Ecke gefahren war, ehe ich mich umdrehte und unser Haus anschaute. Ich fühlte nichts – keine Angst und keine Unruhe, nicht das kleinste Fünkchen Neugier. Nach den Ereignissen der letzten beiden Tage zu urteilen, blieb mir nichts anderes übrig, als wieder hineinzugehen und mich dem zu stellen, was dort auf mich wartete, was immer es war. Ich starrte das Haus an, von dem ich noch so kürzlich, so glücklich geglaubt hatte, es werde für den Rest unseres Lebens unser Haus, unser Heim sein, und da fiel mir etwas ein, das Hugh getan und das mich beunruhigt hatte. Eines Abends, in meinem New Yorker Apartment, hatte er aus dem Schlafzimmer nach mir gerufen. Als ich kam, legte er den Arm quer durch die Tür und versperrte mir den Weg. »Tu genau, was ich sage, ja? Schau schnell hin und sag mir, was du auf dem Nachttisch siehst! Denk nicht nach. Schau hin und sag’s.« Verwirrt gehorchte ich. Etwas Dunkles, seltsam Geformtes lag genau da, wo sonst meine Nachttischlampe stand. Ich blinzelte einmal, um es besser zu sehen, aber das half nicht. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Ich überlegte, 216
bis er den Arm sinken ließ, zum Bett ging, sich hinüberbeugte und die Lampe anknipste. Es war meine Nachttischlampe, aber er hatte sie auf die Seite gelegt, und zwar so, daß es unmöglich war, sie von weitem zu erkennen. »Ist das nicht merkwürdig? Nur eine winzige Drehung des Rädchens weg vom Normalen – nur einen Klick weiter –, und alles, was wir mit Sicherheit kennen, verschwindet. Das gleiche verdammte Erlebnis hatte ich heute morgen. Im Büro gibt es eine Vase, die wir seit Jahren haben, ein hübsches Stück von Lalique. Aber jemand hat sie umgestoßen oder so etwas. Als ich sie heute so sah, auf der Seite liegend, war sie nicht zu erkennen. Ich konnte nicht sagen, was ich da sah. Ich stand wie angewurzelt im Flur und fragte mich: Was-zum-Teufel-ist-das? Da kam Courtney vorbei, stellte sie hin, und da war sie wieder – die Vase.« Ich war nicht sehr beeindruckt, und das muß er mir angesehen haben. Er legte beide Hände an mein Gesicht und kniff in meine Wangen. »Siehst du es nicht? Nichts ist jemals fertig. Alles entwickelt sich; alles hat hundert neue Blickwinkel, aus denen wir es noch nie gesehen haben. Wir empfinden Überdruß, aber dann passiert etwas, das uns aufrüttelt, und wir sind darüber ratlos, manchmal sogar sauer oder entzückt. Das ist es, worum ich mich immer bemühe: entzückt zu sein von dem, was ich noch nicht kenne.« Das war eine liebenswerte und sehr zu Hugh passende Einsicht, aber mir brachte sie nicht viel. Ich gab ihm einen Kuß, stellte die Lampe hin und ging wieder in die Küche, um unser Abendessen zu machen. In jener Nacht wurde ich durch eine Berührung aus tiefem Schlaf geweckt – im Gesicht, zwischen den Beinen, an der Seite auf und ab. Mein kribbelnder Körper und mein benebelter Geist kamen in glücklicher Eintracht zu sich, und ich stöhnte. Als das geschah, ließ entweder das 217
Geräusch oder sein Anlaß mich erstarren, und dann schlug ich mit dem Arm seitwärts, so hart ich konnte. Mit einem mächtig hallenden Zap! traf er Hugh auf die Stirn. Mit einem überraschten Aufschrei fiel Hugh zurück und hielt sich den Kopf. Einen Augenblick später lachten wir, berührten einander und taten schließlich das, was er von vornherein hatte tun wollen. Danach schlief Hugh wieder ein, aber ich war im Wachzustand gestrandet. In der stillen Langeweile von drei Uhr morgens ließ ich die Ereignisse des Tages an mir vorüberziehen und dachte auch an das, was mit der schiefgelegten Lampe passiert war und was er dazu gesagt hatte. Von seiner Berührung aufzuwachen, war das gleiche gewesen. Anders als er war ich nicht entzückt gewesen von dem, was ich nicht kannte. Im Gegenteil: Mitten in der Nacht unverhofft von meinem Liebsten liebkost, war ich mit einem Schwinger aufgewacht. Außerstande, die Kette der Gedanken zu stoppen, ließ ich andere Erinnerungen abspulen, und ich erkannte, daß ich diese trübe Erkenntnis auf alles anwenden konnte, was ich im Leben getan hatte. Ich lag da und fühlte mich steif und unflexibel wie der Nacken einer alten Frau. Auf dem Gehweg vor unserem Haus mußte ich daran denken. Was hätte Hugh dazu gesagt? Was hätte er getan, wenn er in den letzten paar Tagen an meiner Stelle gewesen wäre? Ich wußte nicht mehr, was in meinem Leben vorging. Er war tot, und oben neben unserem Bett stand dieselbe schiefe Lampe. Und ein so hübsches Haus – viereckig und solide wie eine zuverlässige Tante. Mit einer Veranda, die sich tadellos für Hängematte und Small talk eignete, für Eistee im Sommer und um ein verbeultes Fahrrad an die Wand zu lehnen. Eine Veranda, auf der Kinder spielen konnten. Wenn ich die Augen schloß, 218
konnte ich hören, wie Kids einander über den Dielenboden jagten. Vorsichtig! Langsamer! Wie viele Kinder hätten wir bekommen? Wie viele Fahrräder, wie viele Schlitten hätten an der Wand gelehnt? Ich tat einen Schritt auf das Haus zu, zögerte, tat noch einen. Schließlich machte ich große, schnelle Schritte. Ein Auto hupte in der Nähe. Ich riß den Kopf herum, aber ich rannte die Treppe hinauf. Oben vermied ich es, in die Fenster zu schauen. Was, wenn da etwas drinnen wäre, etwas Neues, das mich davon abhielte, hineinzugehen? Ich bohrte die Hand in die Gesäßtasche und zog den Schlüsselring der New York Mets heraus, den Clayton Blanchard mir geschenkt hatte, als ich für ihn arbeitete. Der bloße Gedanke an seinen Namen beruhigte mich schon ein wenig. Wenn es Clayton noch gab, dann gab es auch New York und alte Bücher noch, irgendeine Art von Ordnung, heißen Kaffee und kaltes Soda, einen Ort, wo man einen Schritt tun konnte, ohne über die Kante der plötzlich scheibenförmigen Erde zu fallen. Liebe gab es dort, und Vernunft. Ich mußte wieder dorthin zurück, um unseres Kindes wie auch um meinetwillen. Erinnerungen und dieses Kind – das war Hughs Vermächtnis an mich. In der seltsamen Realität, in die ich gestoßen worden war, konnte beides nicht funktionieren. Ich schob den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Besser gesagt, ich versuchte es. Denn der Schlüssel wollte sich nicht drehen. Konnte sich nicht drehen. Ich versuchte es noch einmal, ohne Erfolg. Ich umfaßte den Türknauf. Auch er drehte sich nicht, aber er war warm. Als habe ihn etwas festgehalten, kurz bevor ich ihn berührte. Ich rüttelte daran, drückte und zog, versuchte es noch einmal mit dem Schlüssel, noch einmal mit dem Knauf. Nichts. Ich ließ den Schlüssel im Schloß stecken, ging hinüber zu einem Fenster und spähte hinein. Nichts. Das Haus war 219
dunkel. Ich erkannte gerade noch die schattenhaften Umrisse unserer Möbel im Wohnzimmer: Hughs neuen Sessel, die Couch. Unvermittelt verspürte ich das intensive Bedürfnis, im Haus zu sein, was immer dort drinnen warten mochte. Ich kehrte zur Tür zurück und probierte alles noch einmal, diesmal mit der Wut und der Kraft der Ungeduld – Schloß, Knauf, drücken, rütteln. Nichts. »Immer mit der Ruhe! Was haben Sie vor? Wollen Sie die Tür umbringen?« Mit beiden Händen am Türknauf schaute ich mich um. McCabe stand mit verschränkten Armen auf dem Gehweg. Jetzt schob er eine Hand in die Tasche und holte eine Pakkung Zigaretten hervor. »Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie müßten … da hinten bleiben.« »Ich habe getan, was nötig war. Man berichtet, was man gesehen hat; sie füllen ihre Formulare aus … Mehr kann man nicht tun. Ich hab mir Sorgen um Sie gemacht; deshalb dachte ich, ich schaue mal vorbei und sehe nach, ob alles in Ordnung ist, bevor ich zum Revier fahre.« »Danke für Ihre Besorgnis. Sagen Sie, kannten Sie die Leute, die da verunglückt sind?« »Die Salvatos? Na klar. Sie und der Kleine waren reizend, aber Al ist kein Verlust für die Menschheit.« »Salvato? So hießen sie? Aus Crane’s View?« »Yeah. Al hatte zwei Läden in der Stadt. ›Green Light‹ Al Salvato. Wir sind zusammen aufgewachsen. Wieso?« »Ich … ich weiß nicht. Als ich in das Wrack schaute, dachte ich, ich kenne die Leute.« McCabe holte tief Luft und blies sie rasch wieder aus; seine Wangen blähten sich. »Das ist immer ein ekliger Moment, für jeden. Vor allem, wenn’s das erste Mal ist. 220
Ich gewöhne mich nie daran. Ich schätze, Sie waren durcheinander.« Ich wußte ganz genau, daß Hugh und seine Familie in dem silbernen Auto gewesen waren. Es gab keinen Zweifel. »Ich hab Sie da mit dem Schlüssel herumfummeln sehen. Gibt’s ein Problem?« Ich deutete auf die Tür und lachte resigniert. »Ich komme nicht in mein Haus. Mit dem Schloß stimmt etwas nicht. Der Schlüssel läßt sich nicht drehen, und der Türknopf auch nicht.« »Kann ich’s mal versuchen?« Er schnippte seine halb aufgerauchte Zigarette weg, kam die Verandatreppe herauf, nahm den Schlüssel und versuchte es selbst. Einmal. Nichts. Es war eine kleine Geste, aber sie machte ihn sympathisch. Er versuchte nicht, den Mann herauszukehren, indem er fünf Minuten lang mit dem Schlüssel herumkasperte, bis das Schloß kapitulierte und er mich vorgeführt hätte. Er versuchte es einmal, scheiterte und gab mir den Schlüssel zurück. »Da haben Sie zwei Möglichkeiten. Wir können einen Schlosser rufen, der, sagen wir, fünfzig Dollar kostet, obwohl ich einen kenne, der Ihnen einen Rabatt geben würde. Oder Sie können so tun, als ob Sie das hier nicht sehen …« Er holte etwas aus der Tasche und zeigte es mir. Einen Dietrich – ich kannte so etwas aus hundert Fernsehsendungen. »Wollen Sie’s drauf ankommen lassen?« »Ich spare mit Vergnügen fünfzig Dollar.« »Na, mal sehen.« Er schob das pfriemartige Ding ins Schloß und wackelte ein-, zweimal damit herum. Dann hörte er auf, machte noch eine kleine Handbewegung, und man hörte ein Klikken. Er drehte den Türknopf, und die Tür ging auf. 221
»Cha-cha-cha.« Er trat zurück und wies mit einer schwungvollen Gebärde zur Tür. »Sesam öffne dich.« Ich wollte hineingehen, hielt dann aber inne. »Hören Sie, Sie haben bestimmt noch eine Million andere Dinge zu tun. Aber hätten Sie etwas dagegen, für ein paar Minuten mit hineinzukommen? Mir wäre sehr viel wohler, wenn ich da drin ein Weilchen Gesellschaft hätte.« Er warf einen Blick auf seine wunderschöne Uhr. »Na klar, ich hab Zeit. Wir sehen uns mal um.« Ohne abzuwarten, ging er hinein. Nach kurzem Zögern folgte ich ihm. »Oh-oh. Haben Sie etwas auf dem Herd stehenlassen?« »Nein.« »Aber wir schauen doch besser zuerst mal in Ihre Küche.« Er ging schnurstracks darauf zu. Eine Sekunde lang war ich verblüfft, aber dann fiel mir ein, daß McCabe ja oft hier im Haus gewesen war, als Frances noch hier wohnte. Als habe er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Dieses Haus war immer voll von komischen Gerüchen. Man wußte nie, was einem entgegenwehte, wenn man hier reinkam. Manchmal Ambrosia, manchmal Raffineriedämpfe. Hat Frances Ihnen schon mal ihre Pecan-Torte gemacht? Manchmal hervorragend, und dann wieder absolutes Hundefutter. Da hat man sich dann drei Tage die Zähne geputzt. Sie war eine verdammte Köchin! Erstklassig die Suppen, grauenvoll das Fleisch. Lassen Sie sich von ihr niemals Fleisch vorsetzen! Einmal, als ich Geburtstag hatte …« Er wollte die Küchentür aufdrücken, doch nichts rührte sich. »Haben Sie hier abgeschlossen?« »Nein.« 222
Wir starrten einander an. »Interessant.« Er drückte noch einmal gegen die Tür, aber nichts geschah. Er fing an, tonlos den Beach-Boys-Song Help Me Rhonda zu pfeifen. Er schob die Hände in die Taschen und zog sie gleich wieder heraus. Dann versetzte er dem unteren Rand der Tür einen kleinen Tritt, der viel zu laut durch das stille Haus hallte. Er pfiff wieder ein bißchen. »Das ist interessant. Vielleicht erklärt es, warum Sie von draußen nicht reinkommen konnten.« Er nahm eine magentarote Kreditkarte aus der Tasche, schob sie in den Spalt zwischen Tür und Rahmen und zog sie aufwärts. Auf der anderen Seite hörte man ein leises metallisches Tink. »Bitte sehr. Ich erinnere mich, daß auf der anderen Seite ein Haken mit Öse ist; den hab ich vor Jahren für Frances angebracht.« Er stieß die Tür auf. Erst kam der Geruch, dann der Rauch. Nicht viel, aber genug, um einen steifen Hals und Angst zu bekommen. Der tapfere McCabe marschierte geradewegs durch die Tür. Augenblicke später hörte man ein metallisches Kratzen, ein Krachen, und dann fiel er mir vor die Füße. »Scheiße, was …« Metallstücke und Glas bedeckten den Boden in der Küche; manches war ganz, aber es waren auch Splitter und scharfkantige Bruchstücke. Vieles war geschwärzt, und anderes rauchte sogar. Das größte Stück war auf den ersten Blick erkennbar: ein silberner Kofferraumdeckel mit einem BMW-Schild darauf. Auch unter allen anderen fanden sich silberne Teile – das Silber von Hughs zertrümmertem Auto. McCabe stand auf. Seine Hände bluteten. Benommen schaute er mich an. »Was ist das für eine Scheiße?« Ich wußte, was es war. Ich wußte es nur zu gut. Ich hätte ihn nie in das Haus bringen sollen. Wer immer hier war, wer immer hier das Kommando führte, wollte mich allein 223
im Haus haben. Ohne es zu wissen, hatte ich gegen die Regeln verstoßen. Jetzt würden der arme McCabe und ich für meinen Fehler bezahlen müssen. Ich wandte mich ab und ging schnell aus der Küche zur Haustür. Natürlich war sie verschlossen. Ich packte den Türknauf und wollte ihn drehen, aber er rührte sich nicht, keinen Zoll. Es war, als sei die Tür zugeschweißt. Ich wußte, es hatte keinen Sinn, einen anderen Weg aus dem Haus zu suchen. Ich ging wieder in die Küche. McCabe stand am Spülbecken und wusch sich die Hände. Er tat es langsam und präzise. Trotz allem, was geschah, schien er es nicht eilig zu haben. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, denn was immer aus meinem Mund käme, würde absurd klingen. Ohne sich zu mir umzudrehen, murmelte er: »Es ist wieder hier, nicht wahr? Darum geht’s die ganze Zeit.« Er nahm ein rotes Geschirrtuch vom Haken am Fenster, trocknete sich die Hände ab und wartete auf meine Antwort. »Ich weiß nicht einmal, was es ist. Seltsame Dinge sind im Gange, seit Hugh und ich hier eingezogen sind.« »Wollte Frances deshalb, daß wir zu ihr kommen? Sagen Sie mir die Wahrheit, Miranda.« »Ja. Aber woher wissen Sie davon? Was ist es denn?« »Frances nannte es die Wabenkröte. Das stammt aus irgendeinem Vers von Coleridge – dem Dichter? Sie wollte, daß ich es auswendig lerne: ›Geschäftig hasten meine Gedanken dahin wie eine Wabenkröte, der kleine Kröten aus dem Rücken sprießen, aus den Flanken, aus dem Bauch, und dort vegetieren, während sie kriecht.‹ Als ich jung war, hat es versucht, mich umzubringen, aber Frances hat mir das Leben gerettet. Es ist hier im 224
Hause passiert.« Er setzte sich an den Tisch. Sein Blick wanderte langsam über die Trümmer, und er schürzte die Lippen. »Jetzt geht’s wieder los. Ich dachte, das alles wäre längst vorbei. Die Scheißkröte ist wieder da.« Ich ging zu einer Schublade und nahm eine Schachtel Pflaster heraus. Ich reichte sie ihm und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. »Können Sie mir davon erzählen?« »Jetzt muß ich Ihnen davon erzählen. Wissen Sie noch, wie Sie mich gefragt haben, ob ich jemanden kenne, der besondere Fähigkeiten hat? Frances hat besondere Fähigkeiten. Sie …« Ein lautes Scharren setzte ein. Ich zuckte auf meinem Stuhl zusammen und schaute durch die Küche. Der Kofferraumdeckel bewegte sich. Er schleifte langsam über den Boden auf uns zu. Die anderen Trümmer setzten sich ebenfalls in Bewegung. Der Raum war erfüllt vom Lärm dieses schrecklichen, langsamen Schürfens, des langgezogenen, schrillen Kreischens von metallenen Kanten, die sich einen Weg bahnten. Ein tiefer weißer Strich erschien hinter dem Kofferraumdeckel, der seine geschlängelte Bahn in den Holzfußboden der Küche fräste. Ich langte über den Tisch und strich mit der Hand über McCabes Schnittwunden. Noch immer quoll Blut heraus und verteilte sich auf meinen Fingern. Ich stand auf, ging zum nächstbesten Stück Metall und bestrich es mit dem Blut. Die Bewegung, der Lärm, alles hörte augenblicklich auf. Die Stille war ungeheuer. McCabe schob die Hände unter die Achseln, wie um sie zu verstecken. »Was haben Sie gemacht? Wieso hat es aufgehört?« Ich konnte nicht antworten. Ich war nicht sicher. Instinktiv hatte ich gewußt, wie ich die Teile dazu bringen konn225
te, sich nicht mehr zu bewegen, aber woher ich es gewußt hatte, war mir nicht klar. Meine Gedanken bemühten sich wie rasend, es deutlich zu erfassen. Ein Haus! Es war wie ein Haus, in dem ich mein Leben lang gewohnt hatte. Es hatte eine gewisse Anzahl von Zimmern, die ich auswendig kannte: Ich kannte jeden Winkel, kannte den Blick aus allen Fenstern. Aber plötzlich hatte dieses Haus zweimal so viele Zimmer, allesamt voller Dinge, die mir nicht vertraut waren. Aber es war mein Haus. Es war immer mein Haus gewesen – ich hatte nur nichts gewußt von diesen zusätzlichen Zimmern und dem, was sie enthielten, McCabe funkelte mich an und hielt die Hände immer noch versteckt. »He? Sie wissen auch so manches, nicht wahr, Miranda? Woher wußten Sie, was Sie tun müssen?« »Blut bringt es zum Stehen. Ich … ich weiß nur, daß Blut die Dinge zum Stehen bringt.« »Yeah, großartig. Aber was jetzt? Wie zum Teufel geht es jetzt weiter?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er aus der Küche. Ich stand da und lauschte, wie er genau das tat, was ich auch getan hatte – wie er zur Haustür ging und sie zu öffnen versuchte. Ich hörte seine Schritte, hörte ihn an der Tür rütteln, sein Fluchen, als sie sich nicht öffnen ließ. Wieder durchquerten seine Schritte den Flur, aber statt in die Küche zurückzukommen, stieg er die Treppe hinauf. Er redete, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Ich betrachtete die Trümmer in der Küche, und ein Teil meiner selbst fand das Ganze komisch. Mirandas Schrottplatz. Kommen Sie in meine Küche und finden Sie die passende Stoßstange für Ihren BMW. Danach mache ich Ihnen Lunch. Ein Teil von dir hört auf, Angst zu haben, wenn die vernünftige Welt, die es noch einen Augenblick zuvor gegeben hat, verrückt wird. 226
Wenn Hugh neulich im Garten gewesen war, dann könnte er jetzt vielleicht auch noch dasein. Ich hatte nichts zu verlieren »Hugh? Bist du hier?« Nichts. »Hugh? Kannst du mich hören?« Die Küchentür schwang auf. Aber es war McCabe. »Kommen Sie mit. Beeilen Sie sich.« Ich folgte ihm und trabte hinter ihm her, als er wieder die Treppe hinauflief. »Haben Sie gern Puppen?« Seine Frage klang so absurd und deplaziert, daß ich auf der Treppe stehenblieb. »Was?« »Haben Sie gern Puppen? Ich habe gefragt, ob Sie sie gern haben.« Seine Stimme klang drängend, als hänge von meiner Antwort alles ab. »Puppen? Nein. Warum?« Er machte schmale Augen und starrte mich an, als könne er es nicht glauben. »Wirklich nicht? Tja, dann ist das eine schlechte Neuigkeit. Denn sie sind im selben Zimmer wie damals. Also passiert dieselbe gottverdammte Sache wieder, schätze ich! Bloß daß Frances diesmal nicht da ist, um uns rauszuholen.« »Wovon reden Sie, McCabe?« »Das werden Sie schon sehen.« Dann ging mir ein Licht auf. »Ja, früher. Als Kind habe ich Puppen geliebt. Ich habe sie gesammelt.« Im ersten Stock angekommen, ging er den Flur entlang zu Hughs und meinem Schlafzimmer und stieß dort die Tür auf. »Jemand hier liebt Puppen.« Vor dem Umzug nach Crane’s View hatten wir ein neues Bett gekauft. In dem Zimmer hätten nur zwei Dinge sein 227
dürfen – das neue Bett und ein kleines Ledersofa, das ich schon seit Jahren hatte. Sonst nichts. Statt dessen aber war unser Schlafzimmer voller Puppen. Auf dem neuen Bett, auf dem Sofa, fast überall auf dem Boden. Sie klebten an den Wänden, an der Decke, auf dem Fensterbrett. Sie verdunkelten fast das ganze Licht, das durch das Fenster hereinfiel. Hunderte, vielleicht sogar tausend Puppen. Große, kleine, mit flachen Gesichtern, fetten Gesichtern, runden, mit Brüsten und ohne, in Jeans, Dirndls, Abendkleidern, Clownskostümen … Alle hatten das gleiche Gesicht: meins. »Lassen Sie mich allein, Frannie.« »Was? Sind Sie verrückt geworden?« »Das ist es, was sie wollen. Sie wollen mich hier allein haben.« Er funkelte mich an, sagte aber nichts. »Das gleiche ist hier drin mit Frances passiert, stimmt’s? In diesem Zimmer. Genau das gleiche. Waren es Puppen?« Er schaute zu Boden. »Nein. Leute. Leute, die sie vor langer Zeit kannte, sagte sie.« Ich wollte antworten, als die erste Stimme sprach. Eine Kinderstimme. Gleich kam eine zweite dazu und dann eine dritte, und dann waren wir umgeben von einer ohrenbetäubenden Kakophonie von Stimmen, die gleichzeitig redeten. Wir standen in der Tür und lauschten, bis ich allmählich verstehen konnte, was einige sagten. »Warum müssen wir immer zu Tante Mimi gehen? Sie riecht.« »Aber ihr habt versprochen, daß ich einen Hund kriege.« »Dad, sind Sterne kalt oder heiß?« Und so weiter. Manche Stimmen waren klar und verständlich. Andere verloren sich im Gewirr von Tönen, 228
Wimmern, Wispern. Aber ich verstand genug. Sie alle, all diese Wörter und Sätze, waren von mir, gesprochen mit den verschiedenen Stimmen, die ich gehabt hatte, während ich aufwuchs. Das erste, was ich verstand, war die Frage nach den Sternen. Ich erkannte sie sofort, denn mein Vater, ein Astronom, war davon entzückt gewesen und hatte sie während meiner ganzen Kindheit überall zum Besten gegeben. Meine Tante Mimi hatte wirklich gerochen. Die Besuche bei ihr waren mir ein Greuel gewesen. Meine Eltern hatten schließlich nachgegeben und mir einen Hund geschenkt, der drei Wochen später gestohlen wurde. Da war ich neun. Wäre ich lange genug in diesem Schlafzimmer geblieben, wären dort vermutlich alle Worte meines Lebens wiederholt worden. Statt daß mein Leben vor meinen Augen vorüberzog, drangen meine Worte in meine Ohren ein. Bei einigen von ihnen regten sich Erinnerungen, die meisten aber waren nichts als der verbale Auswurf von zwölftausend Tagen auf Erden. Ich habe einmal gelesen, daß ein Mensch im Laufe seines Lebens ungefähr eine Milliarde Wörter spricht. Hier waren nun meine, alle auf einmal. »Gehen Sie raus. Warten Sie unten.« »Miranda …« »Tun Sie’s, Frannie. Gehen Sie einfach.« Er zögerte, aber dann legte er die Hand auf den Türknopf. »Ich bin draußen im Korridor. Gleich hier draußen, falls Sie mich brauchen.« »Ja. Gut.« Kaum schloß er die Tür hinter sich, wurde es still im Zimmer. »Miranda, würdest du mir einen großen Gefallen tun?« 229
Es war ein solcher Lärm gewesen, so viele laute und widerstreitende Stimmen noch vor wenigen Augenblicken, daß diese eine, die sich mit ihrer neuen Frage so plötzlich aus der neuen Stille erhob, besonders verstörend wirkte. Weil es eine Männerstimme war, und zwar eine sehr vertraute. »Natürlich. Soll ich dir den Rücken massieren?« »Nein. Ich möchte, daß du mit mir in den Drugstore gehst.« »Jetzt? Dog, ich muß in ein paar Stunden am Flughafen sein, und du weißt, wieviel ich noch zu tun habe.« »Es ist wichtig, Miranda. Es ist wirklich wichtig für mich.« Ich stand mit dem Rücken zur Tür. Als ich mich umdrehte, sah ich ein völlig anderes Zimmer hinter mir: ein Hotelzimmer in Santa Monica, Kalifornien. Doug Auerbach saß darin auf dem Bett. Im Fernsehen plapperte eine Gameshow. Doug beobachtete, wie ich in ein weißes Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer kam. Es war der Tag, an dem wir zusammen in den Drugstore gegangen waren, weil er davon geträumt hatte, das mit mir zusammen zu tun. Der Tag, an dem ich nach New York zurückgeflogen war und neben der Autobahn die Frau im Rollstuhl gesehen hatte. Ich stand in der Ecke und sah zu, wie ein Teil meines Lebens sich abspulte. Noch einmal. Nur, daß diesmal zwei Ichs im Zimmer waren – das eine, das in dem Augenblick lebte, und das andere, das ihm zuschaute. »Was stimmt nicht an diesem Bild?« fragte James Stillman, als er aus dem Bad kam. Dog Auerbach und Miranda sprachen weiter miteinander. Sie reagierten nicht auf ihn. »Wo ist Waldo?« James grinste zwinkernd, und dieser Blick, dieser eine Gesichtsausdruck, den ich nach all den 230
Jahren so gut in Erinnerung hatte, war in diesem Augenblick ebenso erschreckend wie alles andere. »Warum bin ich hier, James? Was soll ich hier tun?« »Hör auf zu wimmern und Fragen zu stellen. Du bist hier, weil jemand dich hier haben will, Miranda. Denk nach! Hör auf, das arme kleine Hundebaby zu spielen. Du verschwendest so viel Zeit mit deinem ›Wieso ich?‹Gejammer.« Sein Ton war kalt und niederträchtig. Ich starrte ihn an, und er starrte zurück. Ich fing an, in dem Hotelzimmer umherzugehen, und schaute mir alles aufmerksam an, hoffte auf einen Hinweis, hörte dem Gespräch der beiden zu. Das Licht vom Fenster beleuchtete das halbgefüllte Wasserglas auf dem Nachttisch. Das orangegelbe Einwikkelpapier eines Schokoriegels lag zerknüllt auf dem Boden. Ein Buch. Eine grüne Socke auf dem Bett. »Kann ich etwas anfassen?« James grinste wieder spöttisch. »Tu, was du willst. Sie wissen nicht, daß wir hier sind.« Ich streckte die Hand aus und berührte Dougs Arm. Er reagierte nicht. Ich schüttelte ihn – das heißt, ich schüttelte, aber er rührte sich nicht. Er redete weiter. Ich hob einen Aschenbecher auf und warf ihn quer durch das Zimmer. Er knallte laut gegen die Wand, aber keiner von beiden nahm das Geräusch zur Kenntnis. Ich ging zum Fenster und schaute hinaus. Die Nachmittagssonne leuchtete in einem verbrauchten Gelb-Orange. Ein Penner mit einer bunten mexikanischen Decke und einer schwarzen Baskenmütze schob einen müllbeladenen Einkaufswagen aus dem Supermarkt über den Gehweg. Zwei Kids mit Skateboards sausten vorbei. Er schrie ihnen nach. Die erste Überraschung bestand darin, daß ich jedes seiner Wort hören konnte, obwohl das Fenster geschlossen 231
war. Und die zweite war die Erkenntnis, die mich wie ein harter, unerwarteter Schlag ins Gesicht traf: Ich wußte plötzlich alles über diesen Mann. Er hieß Piotr »der Pudel« Voukis und war siebenundsechzig Jahre alt, ein bulgarischer Emigrant aus Babyak, der zwanzig Jahre lang als Hausmeister an der University of California gearbeitet hatte, bis er wegen seiner Trinkerei entlassen worden war. Er hatte zwei Söhne gehabt. Der eine war in Vietnam gefallen. So ging es immer weiter; sämtliche Einzelheiten aus dem Leben dieses Mannes durchfluteten mein Gehirn. Ich kannte seine intimsten Geheimnisse und Ängste, die Namen seiner Geliebten und Feinde, die Farbe des Schiffsmodells, das er gebaut und mit seinen Söhnen in Echo Park hatte schwimmen lassen, als die beiden noch klein waren und das Leben so gut, wie es besser für ihn nicht werden sollte. Dann sah ich das Zimmer in der Universitätsklinik in L. A., wo er trostlose Monate am Bett seiner Frau saß, während der Unterleibskrebs ihr Inneres auflöste, bis nicht mehr übrig war als ein dunkler, stinkender Pudding. Ich wußte alles über ihn, alles, was in seinem inzwischen trüben, verwirrten Hirn enthalten war. Entsetzt wandte ich mich ab. Im selben Augenblick leerte sich mein Kopf, und ich war wieder ich selbst. Nur ich selbst. Für einen Moment. James sagte etwas, und ohne nachzudenken schaute ich ihn an. Sofort sah ich das rasende Bild vor dem Fenster seines Wagens, als er von Philadelphia seinem Tod entgegenjagte. Ich sah die tätowierten Worte auf dem Handgelenk seiner letzten Geliebten, Kiera. Ich erlebte seine Gefühle für Miranda Romanac – Nostalgie, Ressentiment, 232
alte Liebe … alles fest umeinandergewickelt wie die Blätter eines Kohlkopfs. Es war genau wie bei dem Penner auf der Straße: Als ich James Stillman anschaute, wurde ich zu ihm. Diesmal schrie und wankte ich. Wegen einer Angst, die nicht meine war: James fürchtete sich entsetzlich vor mir. Nachdem ich zu ihm geworden war, wußte ich, warum und was getan werden mußte. Ich bin nicht tapfer und habe auch nie behauptet, es zu sein. Deshalb war meine nächste Handlung die tapferste Tat meines ganzen Lebens. Und ich bereue sie bis jetzt. Ich schaute mich um und sah, was ich brauchte, aber ich war so sehr aus dem Gleichgewicht, daß ich das Zimmer zweimal absuchen mußte, ehe ich es erfaßt hatte. Einen Spiegel. Einen kleinen, ovalen Spiegel über dem Schreibtisch. Ich schaute hinein. Ein Mann in einem schwarzen Anzug und einem bodenlangen Seidencape stand mitten auf der Bühne eines riesigen Theaters. Er war groß und gutaussehend, auf eine beängstigende Weise ungeheuer verlockend. Alles an ihm war schwarz – seine Kleider, die Lackschuhe, das Haar, das glänzte wie Lakritz. Das intensive Weiß seiner Haut akzentuierte diese Dunkelheit. Ich brauchte ihn nur anzuschauen und wußte, daß dieser Mann zu echter Magie fähig war. Er starrte mich an und sprach mit Donnerstimme meinen Namen. Wie konnte er meinen Namen kennen, wenn ich ihn doch bis zu diesem Abend noch nie gesehen hatte? Mit einer langsam-lässigen Handbewegung winkte er mich zu sich auf die Bühne. Ich schaute meine Mutter und meinen Vater an, die rechts und links neben mir saßen. Beide lä233
chelten zustimmend und begeistert. Vater legte mir sogar eine Hand in den Rücken, damit ich mich schneller bewegte. Das Publikum fing an zu applaudieren. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, machte mich schrecklich verlegen, aber gleichzeitig gefiel es mir auch. Ich schob mich seitwärts aus unserer Reihe und ging den breiten Gang hinunter zu einer kurzen Treppe an der Bühnenseite. Oben an der Treppe stand eine Staffelei mit einem großen Plakat, auf dem der Name des Künstlers stand: SHUMDA, DER GEWALTIGE THE ENORMOUS SHUMDA BAUCHREDNER EXTRAORDINAIRE Als ich die Stufen hinaufstieg, klatschte das Publikum lauter. Voller Angst, zu stolpern und vor allen Leuten hinzufallen, ging ich vorsichtig zur Bühnenmitte, wo der Mann in Schwarz stand. Er hob eine Hand, um dem Applaus Einhalt zu gebieten, und es wurde sofort still. Eine Pause trat ein; alle warteten wir, was er als nächstes tun würde. Nichts. Er stand einfach da, die Hände auf dem Rücken. Es dauerte zu lange. Regungslos starrte er ins Publikum. Unruhig warteten wir, aber es dauerte und dauerte. Gerade als die Leute anfingen, verstört zu raunen und ungeduldig auf ihren Sitzen hin und her zu rutschen, kam ein Dalmatiner auf die Bühne. Er rannte hin und her, beschnüffelte aufgeregt den Boden und kam erst zu uns, nachdem er eine Weile so umhergewieselt war. Ein paar Leute im Publikum lachten oder spotteten laut. Shumda tat nichts, um das Gekicher zu beenden. Er fuhr fort, schweigend ins Publikum zu starren. Wir standen vor 234
Hunderten von Leuten, aber das einzige, was passiert war, seit ich auf der Bühne stand, war der Auftritt des Hundes. Als man schließlich das Gefühl hatte, gleich werde das ganze Theater vor Spannung und Überdruß explodieren, tat der Hund einen Satz in die Luft und machte einen perfekten Salto rückwärts. Bei der Landung brüllte er mit einer wunderschön tiefen Männerstimme: »Seid ruhig! Habt ihr keine Manieren? Was ist los mit euch Leuten?« Mit ausdrucksloser Miene schaute Shumda erst den Hund, dann mich an. Er zwinkerte mir kaum merklich zu. Dann schaute er ebenso ausdruckslos wieder ins Publikum und schob die Hände in die Hosentaschen. Als der Hund gesprochen hatte, brach das Publikum in jauchzendes, erschrocken japsendes Gelächter aus. Der Hund setzte sich und rückte hin und her, bis ihm bequem war. In derselben angenehm männlichen Stimme, die überhaupt nicht klang wie die des Bauchredners, fuhr er fort: »Da Ihnen Shumda anscheinend mißfällt, werde ich die Vorstellung jetzt übernehmen. Mein Herr, wenn Sie gestatten?« Shumda verbeugte sich tief, erst vor dem Publikum, dann vor dem Hund. Der Hund neigte den Kopf, als bedanke er sich für diese Verbeugung. Dann wandte der Mann in Schwarz sich ab und verließ die Bühne. Als der Bauchredner sich entfernt hatte und es ganz ausgeschlossen war, daß er sich irgendwo im Umkreis von fünfzehn Metern um das Tier aufhielt, sprach der Hund wieder. »Und nun zu meinem nächsten Kunststück. Ich würde die junge Dame gern bitten …« Pandämonium. Wie konnte der Hund sprechen, wenn der Bauchredner gar nicht mehr auf der Bühne war? Das Tier wartete geduldig, bis das Publikum sich beruhigt hatte. »Ich würde die junge Dame gern bitten, nach 235
vorn an den Bühnenrand zu treten und die Arme auszubreiten.« Ich gehorchte. Einen Meter vor dem Bühnenrand blieb ich stehen und hob langsam die Arme. Weil ich so weit vorn stand, konnte ich den Hund nicht mehr sehen, als er wieder sprach. Ich sah hinaus über das Meer der aufmerksamen Gesichter und wußte, sie schauten mich an, mich, mich, mich. Ich war im ganzen Leben noch nicht so glücklich gewesen. »Was ist Ihr Lieblingsvogel?« »Der Pinguin!« schrie jemand. Das Publikum johlte und klatschte. Das Gelächter endete erst, als der Hund wieder sprach. »Ein eindrucksvoller Vogel, kein Zweifel, und von ausgeprägtem Charakter außerdem. Aber was wir jetzt brauchen, ist ein meisterlicher Flieger. Einer mit Flügeln wie ein Engel, der Kontinente überqueren kann, ohne haltzumachen.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und dachte nach. »Eine Ente?« Neuerliche Lachstürme. »Die Ente ist eine brillante Wahl. Also, meine Liebe, schließen Sie jetzt die Augen und denken Sie ans Fliegen. Es ist Tagesanbruch; der Himmel hat die Farbe von Pfirsichen und Pflaumen. Schauen Sie, wie sie sich von der Erde erheben und sich Ihren Freunden, den Spießenten anschließen, um für den Winter die Reise in den Süden anzutreten.« Ich schloß die Augen, und ehe ich mich versah, fühlte ich nichts mehr unter meinen Füßen. Als ich nach unten schaute, sah ich, daß unter meinen Füßen nichts mehr war. Ich schwebte einen halben, einen ganzen, zwei, drei Meter 236
hoch über der Bühne und stieg immer höher. Ich war ein Kind, und ich flog. Ich stieg empor und schwebte dabei über das Publikum hinaus. Wenn ich hinunterschaute, sah ich, wie die Leute den Kopf in den Nacken legten und staunend zu mir heraufstarrten. Offene Münder, Hände vor Mündern, Hände an Wangen, aufwärtsgestreckte Arme, Kinder, die auf ihren Sitzen hüpften, eine Frau, die den Hut verlor … alles meinetwegen. Wo waren meine Eltern? Ich konnte sie nicht finden in der dunklen Masse der Köpfe unter mir. Ich schwebte weiter, bis ich in der Mitte des Theaters angekommen war. Dort stieg ich noch höher. Wie machten die Vögel das? Wie schwer Menschen waren! Sanft stieg ich wieder ein Stück. Ich hatte die Hände vor mir ausgestreckt, aber nicht weit – eher wie zum Klavierspielen. Ich wackelte mit den Fingern. Mein Körper verharrte, als ich zwanzig Meter hoch über der Menge in der Mitte des Theaters schwebte. Keine Drähte, die an meinem Rücken befestigt waren, keine Tricks, nichts als die echte Magie des sprechenden Hundes. Die Zeit blieb stehen, und im Theater herrschte vollkommene Stille. »Was machst du da? Bist du verrückt geworden?« Unten kam Shumda eilig auf die Bühne; er schaute zu mir herauf und wandte sich dann dem Dalmatiner zu, der sich jetzt duckte. »Aber Herr …« »Wie oft habe ich es dir gesagt? Hunde können so etwas nicht! Du weißt nicht, was du da tust!« Zögerndes Gelächter im Publikum. 237
»Hol sie herunter! Auf der Stelle!« Aber ich wollte nicht herunterkommen. Ich wollte schwerelos bleiben, während die Menschen dort unten heraufschauten und sich wünschten, sie könnten an meiner Stelle sein. Hingerissen für alle Zeit heraufstarrten zu mir, dem Engel, der Fee – ich konnte fliegen. »Hol sie herunter!« Ich sank herab. Im Fallen sah ich nur Gesichter. Vor Entsetzen, Überraschung, Staunen erstarrte Gesichter, die mich geradewegs auf sich herabstürzen sahen. Die Gesichter wurden größer. Wie schnell fällt ein Kind? Wie lange dauert es bis zum Aufschlag? Alles, was ich in Erinnerung habe, ist schnell und langsam. Und bevor ich Angst hatte, bevor ich auch nur daran denken konnte, zu schreien, schlug ich auf. Und starb.
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den himmel malen »Darling, ist alles in Ordnung?« Die Worte rannen mir langsam wie eine dicke, klebrige Soße in den Kopf. Mit großer Mühe öffnete ich die Augen und richtete den Blick angestrengt blinzelnd auf das erste, was ich sah. Es war furchtbar. Die Farben, laut und zersplittert, waren eine schlechte, grellbunte, unverständliche Mischung, die zusammen nichts als Durcheinander ergab. Wären es Blechblasinstrumente gewesen, hätte ich mir bei ihrem Krächzen und Quieken die Ohren zugehalten und wäre weggelaufen. Aber als mein Kopf sich klärte, erkannte ich mit einem schrecklich mulmigen Gefühl in der Magengrube, daß das, was ich da vor mir sah, mir gehörte. Ich hatte es gemalt. Ich hatte daran gemalt, Monat um Monat, aber nichts, was ich tun konnte, verbesserte es. Nichts. Vielleicht hatte ich deshalb mit zunehmender Regelmäßigkeit diese Blackouts. Lag ich jeden Tag länger auf dem Rücken und malte das Fresko an die Decke der Kirche. Der Kirche, zu deren Kauf ich Tyndall überlistet hatte. Das Fresko, das die andern, wenn es erst fertig wäre, davon überzeugen sollte, daß ich eine richtige Malerin war. Nicht bloß jedermanns Geliebte. Nicht bloß das tolle Paar Titten, das die Berühmten duldeten, weil es immer zur Verfügung stand. »Arts Fucker« – so hatte de Kooning mal unverblümt zu mir gesagt. Aber wenn ich fertig wäre, 239
würden sie schon sehen. Sie würden sehen, daß ich viel, viel besser war, als irgendeiner von ihnen sich je vorgestellt hatte. Mein Fresko würde es beweisen. Am Anfang war es eine so wundervolle Idee gewesen. Und der einzige Grund, mich weiterhin mit Lionel Tyndall abzugeben. Ihn nach Herzenslust mit mir vögeln zu lassen. Ihn verrückt nach mir zu machen, für ihn zur Droge zu werden. Und ihn dann zu benutzen, wenn er an der Nadel hinge. Durch sein Geld und seine Beziehungen zu bekommen, was ich wollte – den Respekt von Leuten wie de Kooning, Eleanor Ward Lee Krasner und Pollock. Ja, sogar von diesem Scheißkerl. Einer der wenigen interessanten Sätze, die Tyndall je gesprochen hatte, betraf sie, die Großen: Sie hätten keinen freien Raum um sich herum. Er hatte recht. Mein Traum war es, sie herzubringen und ihnen zu zeigen, was ich vollbracht hatte. Wie gut der Himmel war, den ich an die Decke von Lionel Tyndalls Kirche gemalt hatte. Der Kirche, die er mir mit tiefer Lust und tiefen Taschen gekauft hatte. In ein Skizzenbuch hatte ich einen Satz von Matisse geschrieben, der mir zur Grundregel wurde. »Ich neige zu dem, was ich fühle: zu einer Art Ekstase. Und dann finde ich Ruhe und Frieden.« Seit ich das Kirchenprojekt begonnen hatte, hatte ich getan, was ich konnte, um meinen Instinkten zu folgen, »zu dem zu neigen«, was ich fühlte. Aber was ich fühlte, war betrüblicherweise nicht annähernd das, was ich gemalt hatte. Schlimmer noch, ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dem auch nur annähernd nahezukommen. Keinen freien Raum um sich herum? Es war nichts als freier Raum um das – und in dem –, was ich geschaffen hatte. Was ist schlimmer: wenn man durchs Leben geht und seine Leidenschaft sucht, ohne sie je zu finden, oder wenn 240
man weiß, was man will, es aber nie erreicht, so sehr man sich bemüht? Seit fünfzehn Jahren wollte ich Malerin sein, und ich hatte getan, was ich konnte, um das zu erreichen. Aber es war nichts daraus geworden, und schrecklicherweise sah es allmählich so aus, als würde das auch nicht mehr geschehen. »Darling? Ist alles in Ordnung?« Tyndalls greinende Stimme hallte von unten herauf, und mich schauderte. Es interessierte ihn überhaupt nicht, ob alles in Ordnung war; er wollte nur, daß ich herunterkam, damit wir hinausgehen und in seinem Auto oder unter einem Baum oder im Wasser oder sonstwo miteinander schlafen konnten. Das war unsere unausgesprochene Vereinbarung. Er kaufte die verlassene Kirche bei East Hampton und gab mir alles, was ich brauchte, um sie auszumalen. Dafür wurde von mir erwartet, daß ich hinunterkletterte und mit ihm spielte, wann immer er mich rief. Aber die Blackouts, die ich hatte? Diese gefährlichen Anfälle ein- oder zweimal im Monat, wenn alles einfach versank und ich mich an nichts erinnern konnte, wenn ich wieder zu mir kam? »Warum kommst du nicht herunter und wir essen eine Kleinigkeit zu Mittag? Du bist seit sieben Uhr früh da oben.« Ich starrte an die Decke und dachte an seine Hände, seinen Atem an meinem Hals, den dünnen Moschusgeruch seines Körpers, wenn er in Erregung geriet. Ich drehte mich auf die Seite, um zu ihm hinabzuschauen. Unten ertönte ein lautes, scharfes Krachen. Erschrocken wollte ich mich ganz umdrehen. Aber plötzlich gab es ein zweites Krachen, das schrille Heulen von abknickendem Gerüststahl, und alles brach zusammen. Ich fiel. 241
Das letzte, was ich sah, bevor eine Stahlstange vom Gerüst schnellte und mir durch die Kehle fuhr, war eins der Gesichter, die ich an die Decke gemalt hatte. Kreischen. Ringsum Kreischen, und nicht nur menschliches. Metall – das Mahlen und Kreischen von Metall an Metall, sekundenlang, und vorbei. Nichts brach oder schnappte diesmal, es traf nur aufeinander. Traf für ein paar ohrenbetäubende Sekunden aufeinander in schneller, heißer, funkensprühender Berührung und war wieder fort. Wir flogen. Der Wagen schoß wie eine Rakete voran. Ich öffnete die Augen in grellem Sonnenlicht nach der Schwärze des Tunnels. Wir kurvten, stiegen auf, wendeten. Ein frischer Schwall Geschrei von den Kindern in unserem Wagen. Wir fuhren hoch, hoch, hoch, kamen fast zum Stehen und fielen dann hinab in die verschlungenen Schleifen und Schwünge der Achterbahngleise. Ich schaute James an. Sein Haar lag flach am Kopf; er blickte starr geradeaus, und auf seinem Gesicht lag ein verrücktes Adrenalinlächeln. Während wir dahinjagten, beobachtete ich ihn und suchte in seinem Gesicht nach dem, was den ganzen Tag spürbar, aber bis jetzt nicht klar gewesen war. In dem Augenblick, als er sich umdrehte und mich anschaute, wußte ich es: Ich liebte ihn nicht mehr. Während die Achterbahn durch die Kurve und das Gleis hinunter zum jetzt sichtbaren Ende der Fahrt floh, entfuhr mir ein Schluchzen, so seltsam und wild, daß es klang wie ein Bellen. »Weißt du, was ich an dir liebe?« Wir saßen auf einer Bank, aßen Zuckerwatte und schauten den Leuten zu, die vorbeigingen. Ich tat, als sei ich 242
damit beschäftigt, ein Stück von dem süßen, rosaroten Klebzeug von meinen Fingern in den Mund zu befördern. Ich wollte nicht wissen, was James an mir liebte. Nicht jetzt, und überhaupt nicht mehr. »Ich fühle mich berühmt in deinen Armen.« »Was?« »Ich weiß nicht. Ich fühle mich einfach berühmt, wenn ich in deinen Armen bin. Wenn du mich festhältst. Als ob ich etwas bedeutete. Als ob ich wichtig wäre.« »Das hört sich wirklich nett an, James.« Ich konnte ihn nicht ansehen. Aber er nahm mir die Zuckerwatte weg und drehte mein Gesicht zu sich. »Es stimmt. Du weißt nicht, wie sehr ich dich nächstes Jahr vermissen werde.« »Ich dich auch.« Er nickte und nahm an, daß uns die gleichen traurigen Gedanken durch den Kopf gingen, und davon wurde mir noch elender. Es schnürte mir die Kehle zu, und ich wußte, ich würde anfangen zu weinen. Da kniff ich die Augen zu, so fest ich konnte. Plötzlich Stille. Sie wirkte riesig nach dem Tosen unserer Kirmesfahrt. Als ich hinschaute, saß der dreißigjährige James im Erkerfenster des Schlafzimmers in Crane’s View und beobachtete mich. Sämtliche Puppen waren fort. Es war wieder das Zimmer, das ich eine allzu kurze Zeit lang mit Hugh Oakley geteilt hatte. »Willkommen zu Hause. Was hast du auf deiner Tour erfahren?« »Alle diese Frauen waren ich. Das kleine Mädchen, das geflogen ist, die Malerin, ich mit dir in Playland … Jede hat ein anderes Leben gelebt, aber innerlich waren sie die243
selbe … Person. Und das einzige, woran sie dachten, waren sie selbst. Sie waren allesamt total ichbezogen. Gab es noch andere? Habe ich noch andere Leben gelebt, James?« »Hunderte. Sie hätten dir noch mehr gezeigt, aber du bist klug – du hast es schon nach den letzten drei begriffen.« »Und alle Leute darin hingen miteinander zusammen.« Ich legte meine zehn Fingerspitzen aneinander. »Shumda war Frances’ Freund. Das kleine Mädchen war in seiner Vorstellung. Und die Frau, die das Fresko malte, war Lolly Adcock, nicht wahr?« James nickte und sagte sarkastisch: »Die tragisch zu Tode stürzte, kurz bevor die Welt ihr Talent erkannte. Sie starb 1962. Miranda Romanac wurde 1962 geboren. Das kleine Mädchen starb 1924. Lolly Adcock wurde im selben Jahr geboren.« »Du warst in den Skandal mit den gefälschten AdcockGemälden verwickelt. Und Frances besaß ein echtes.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Hugh auch, aber er wußte es nicht. Die vier Bilder mit derselben Frau, die er hatte! Lolly hat sie gemalt, als sie an der Art Students League studierte.« »Das sind Bilder des kleinen Mädchens, das im Theater abgestürzt ist, nicht war? Wie sie ausgesehen hätte, wenn sie am Leben geblieben und groß geworden wäre. Lolly dachte, sie bildete sie sich ein. Deswegen hatte ich bei diesen Bildern ein so seltsames Gefühl. Als ob ich die Frau darauf kenne – obwohl ich sie noch nie gesehen hatte.« James zog den Kopf ein und holte kurz und zischend Luft. »Woher weißt du das?« »Woher? Mein Gott, James, was glaubst du, was ich gerade durchgemacht habe? Was glaubst du, was das alles 244
soll? Spiel keine Spielchen. Ich dachte, du bist hier, um mir zu helfen.« »Nein, du bist hier, um mir zu helfen, Miranda. Du bist hier, um mich rauszubringen, verdammt! Ich bin nicht deinetwegen hier – ich bin meinetwegen hier. Laß mich frei, bitte! Ich habe getan, was ich kann. Ich habe dir gezeigt, was ich weiß. Du kanntest diese Bilder, du wußtest, wen sie darstellten. Ich nicht. Kapierst du nicht? Ich bin fertig. Ich habe dir alles gegeben, was ich habe. Also laß mich jetzt gehen. Befreie mich!« »Wieso passiert mir das alles jetzt? Warum plötzlich jetzt?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Wo ist Hugh?« »Ich weiß es nicht.« »Wer bin ich?« Er sprang auf und kam wütend auf mich zu. »Ich weiß es nicht! Ich bin hier, weil ich dir sagen sollte, was ich wußte! Was ich weiß, ist, daß du reinkarniert bist. Alles in all den Leben, die du gelebt hast, hängt miteinander zusammen. Alles. Und jedesmal, wenn du gelebt hast, hast du dich nur um dich selbst gekümmert. Das Mädchen im Theater war eine selbstsüchtige Göre. Lolly Adcock hat Menschen benutzt wie Toilettenpapier. Du … sieh dir doch an, was du mit mir gemacht hast, selbst als du wußtest, daß dir nichts mehr an mir lag. Und Doug Auerbach. Der Typ mit der Videokamera, der in deinen Laden kam und dich schlug. Hughs Ehe hast du zerstört, weil du selbstsüchtig warst und ihn haben wolltest … Immer hieß es du zuerst, unter allen Umständen.« »Warum haben sie dich zu mir geschickt? Wer sind sie?« 245
»Miranda? Alles in Ordnung da drinnen?« McCabes Stimme drang durch die Tür, und wir drehten uns um. James deutete hinüber. »Dein Freund wartet.« »Wer sind sie, James? Sag mir nur das.« Er hob das Kinn und drehte den Kopf langsam zur Seite wie ein verwirrter Hund. »Miranda, machen Sie auf!« »Alles okay, Frannie, ich komme.« James’ Stimme nahm einen hohen, flehentlichen Ton an. »Bitte – laß mich gehen.« Ohne hinzuschauen, öffnete ich meine linke Faust. Auf der flachen Hand lag ein kleines, silbrig weißes Stück Holz. Darauf stand in makellosen braunen, kalligraphischen Lettern James Stillman. Es fing an zu qualmen. Es loderte in hellen Flammen auf. Obwohl es auf meiner flachen Hand lichterloh brannte, fühlte ich keine Hitze und keinen Schmerz. Es war hypnotisierend. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Die Flamme tanzte, wuchs und verbreitete sich über meinen Arm. Ich spürte nichts. Jemand rief meinen Namen, aber ich hörte die Männerstimme nur halb. James? McCabe? Ich blickte auf. Es war niemand da – James war fort. Der Schmerz kam wie eine donnernde Explosion. Höllenqualen erfüllten meinen Arm. Ich schrie und schüttelte ihn, aber die Flamme fraß nur den Wind, den ich damit machte, und blühte auf. Meine Haut war rot, orangegelb, geschmolzen, glänzend wie Öl. Aber irgendwoher aus meinem Innern, von jemandem, der ich war, ohne es je gewußt zu haben, wußte ich, was ich tun mußte, um es zu beenden. Streife das Feuer ab wie glühen246
de Zigarettenasche. Mit der freien Hand strich ich darüber hinweg, und die Flamme, die meinen Arm verschlang, glitt glatt herab und tropfte zu Boden wie eine Art Gelee. Hinter mir flog die Tür auf, und McCabe war da und zerrte mich am Kragen hinaus. Ich konnte mich kaum rühren. Mein Arm tat nicht mehr weh. Ich wollte zuschauen, wie die Flamme sich am Boden ausbreitete, den Teppich erfaßte und auf die Bettdecke sprang. »Kommen Sie! Kommen Sie!« McCabe riß mich zu sich, und ich stolperte rückwärts gegen ihn. Das Schlafzimmer qualmte und brannte, die Flammen loderten auf dem Bett, leckten an der Decke, schwärzten sie. Während Frannie an mir zerrte, wußte ich, was mir eben widerfahren war, aber ich konnte es nicht in klare Gedanken fassen. Als James mich bat, ihn freizulassen und ich unverhofft das Stück Holz in meiner Hand fühlte, da war ich die andere Person. Die, die Holz und Flamme aus dem Nichts heraufbeschworen hatte. Die, die all diese Leben gelebt hatte und wußte, warum. Die, die fähig war, in Frances Hatchs Haus unhörbare Geräusche zu hören. Die, die ich bald nur zu gut kennen und fürchten würde. Sie wußte, wie man James Stillman freiließ und wie man eine brennende Hand vor dem Schmerz bewahrte. Aber in dem Moment, als ich meinen Namen rufen hörte und aufblickte, war ich wieder Miranda Romanac, und sie war nur sterblich. Draußen auf dem Flur warf McCabe die Tür hinter uns zu und schaute sich besorgt um. »Sollen wir versuchen, es zu löschen, oder sollen wir machen, daß wir hier rauskommen?« »Wir können nicht hinaus, Frannie. Das Haus läßt uns nicht. Hier spukt’s. Und es sind jetzt meine Gespenster. Ich habe sie mitgebracht, als ich herkam.« 247
Er schwieg. Das Feuer knisterte einen Schritt weit neben uns. »Das gleiche ist Frances passiert, als ich klein war.« »Das gleiche?« »Nein, aber es ist genauso, glauben Sie mir. Sie haben recht. Wir können jetzt nicht mehr raus. Sie müssen einen Weg finden.« »Was hat Frances getan?« »Sie ist auf den Dachboden gegangen. Hat da oben irgendwas getan. Ich weiß bis heute nicht, was.« Ich schaute zur Decke. »Da ist kein Dachboden.« McCabe schaute hoch. »Doch, da ist einer, ich war schon hundertmal oben.« »Er ist weg. Es gibt keinen Dachboden mehr, Frannie. Das Haus verändert sich.« Er öffnete den Mund und wollte antworten, aber der gedämpfte, dumpfe Schlag einer Explosion schnitt ihm das Wort ab. »Scheiße, was machen wir jetzt, Miranda? Wir müssen irgendwo hin!« »Der Keller. Es ist im Keller.« »Was ist im Keller?« »Ich weiß es nicht, Frannie. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüßte. Aber es ist im Keller.« Ich sah meinen Arm an. Den, der vor wenigen Augenblicken in Flammen gestanden hatte. Es war nichts davon zu sehen. »Warten Sie mal. Nur eine Sekunde.« McCabe sprintete den Flur hinunter und um die Ecke. Alles stank nach Rauch. Er quoll unter der Tür hervor in den Flur und wälzte sich über den Boden. Ich war erst ein paarmal im Keller gewesen. Er bestand aus zwei großen Räumen. Hugh hätte gemeint, wenn wir 248
genug Geld hätten, würden wir daraus etwas Interessantes machen. Hugh. Hugh. Hugh … In jedem Raum dort unten gab es Licht, und eine Lampe war oben an der Treppe. Ich versuchte mir das alles vorzustellen und auch das, was da unten sein konnte, was so wichtig war. Frannie kam zurückgelaufen und machte ein verdattertes Gesicht. »Sie haben recht, da oben ist nichts mehr. Da war immer eine Tür in der Decke; sie hatte einen Riegel, an dem man ziehen konnte, und dann kam eine Klappleiter herunter. Aber das ist alles weg. Der beschissene Dachboden ist nicht da!« »Vergessen Sie den. Kommen Sie.« »Das Haus wird abbrennen, und dann stecken wir im gottverdammten Keller!« Ich lief voraus. Die Treppe hinunter, nach links, und kurz vor der Küche war die weiße Kellertür. McCabe streckte die Hand nach dem Türknopf aus. Ich hielt ihn fest. »Lassen Sie mich vorgehen.« Der klamme Geruch von feuchter Erde und Stein. Ein Ort, wo die Luft niemals ausgetauscht wurde, wo nie ein frischer Wind durchwehte. Die Lampe oben an der Treppe anzuknipsen, half wenig. Es war nur eine 60-WattBirne, und sie beleuchtete die ersten paar Stufen; die übrigen verschwanden in einer braunen Dunkelheit. Ich packte entschlossen das wacklige Geländer und begann den Abstieg. »Ich hoffe bei Gott, jemand hat inzwischen die Feuerwehr gerufen. Die werden alle Hände voll zu tun haben.« »Seien Sie still, Frannie.« Von jetzt an hörte man nur noch das gedämpfte Poltern unserer Schritte auf der Holztreppe. Der Kellerboden unten war holprig und fühlte sich an wie hartgestampfte Erde. Von der Treppe bis zum ersten Raum waren es ungefähr drei Schritte. Die Tür war 249
halb geschlossen, aber das Licht von drinnen fiel in mattem Strahl auf ein Stück des Bodens. Ich ging hin und stieß die Tür auf. Vor Tagen hatte ich Hugh geholfen, Sachen in diesen Raum zu tragen. Bis auf zwei kaputte Liegestühle und eine Zielscheibe mit nur einem Bein war er leer gewesen. Wir hatten die leeren Kartons und Koffer an den verschimmelten Wänden gestapelt und darüber diskutiert, ob wir nicht sogar versuchen sollten, den kleinen Raum ein bißchen sauberzumachen. Nach jahrelanger Vernachlässigung sah er aus wie ein typischer verschimmelter Kellerraum, in dem man unwichtiges Zeug lagerte, das man wahrscheinlich für immer vergaß. Aber der Raum, den ich jetzt betrat, war leuchtend hell und verwandelt. Die einstmals schäbigen Wände waren in einem fröhlichen Pink-Orange gestrichen und mit Bildern von Disney-Figuren bedeckt, von riesigen GeorgeBooth-Bullterriern, von Tim und Struppi und den Figuren aus dem Wizard of Oz. Auf dem makellosen Parkettboden türmte sich ein Haufen ausgestopfter Tiere und andere Cartoonfiguren: Olive Oyl, Minnie Maus und Daisy Duck. Mitten im Raum stand die außergewöhnlichste Wiege, die ich je gesehen hatte. Sie war aus dunklem Mahagoni und mußte Hunderte von Jahren alt sein; sie sah aus wie aus dem Mittelalter, besonders wegen der kunstvollen Schnitzereien, die jeden Quadratzentimeter verzierten. Engel und Tiere, Wolken und Sonnen, Planeten, Sterne, die Milchstraße, einfache deutsche Worte, geschnitzt mit frömmster Präzision: Liebe, Kind, Gott, Himmel, unsterblich … Wie lange hatte der Künstler gebraucht, um das zu schaffen? Ein Lebenswerk, das alles über die Liebe sagte, was eine Hand zum Ausdruck bringen konnte. Es war Liebe, aus Holz geschnitzt. 250
Überwältigt durchquerte ich den Raum und konnte an nichts anderes mehr denken als an dieses außergewöhnliche Objekt. »Miranda, seien Sie vorsichtig!« Seine Stimme und der Anblick dessen, was da in der Wiege lag, erreichten mich gleichzeitig. »O mein Gott!« Das Kind, das in meinem Leib lebte, Hughs Kind, lag in dieser Wiege. Ich erkannte sie in dem Augenblick, als ich sie sah. Ich berührte meinen Bauch und fing an, unkontrolliert zu zittern. Das alles war nicht möglich, aber ich wußte, daß dies unser Baby war, unsere Tochter. Sogar mein Unterkiefer zitterte, als ich leise hervorbrachte: »Hallo, Sweetheart.« Sie lag auf dem Rücken und trug einen Pyjama in der gleichen fröhlichen Farbe wie das Zimmer. Sie spielte mit den Fingern, lächelte, runzelte die Stirn, lächelte ganz konzentriert. Sie sah aus wie Hugh. Sie sah aus wie ich. Sie war das schönste Baby der Welt. Sie war unser. Aber sie wollte mich nicht anschauen, nicht einmal, als ich an die Wiege trat und hineinstarrte. Nachdem ich mein Zittern unter Kontrolle gebracht hatte, streckte ich die Hand aus und wollte sie berühren. Als ich mich ihr näherte, begann sie zu schwinden. Anders kann man es nicht nennen. Je näher ich kam, desto fahler wurde sie, wurde weiß, durchsichtig. Als es das erste Mal geschah, riß ich die Hand zurück. Unser Kind kehrte zurück. Alles an ihr wurde wieder sichtbar. Die Wiege, das Bettzeug, der Raum – alles blieb, wie es war, aber nicht unser Baby. Ich konnte sie nicht berühren. Es war nicht gestattet. Laut, aber gleichwohl nur zu mir selbst, sagte ich: »Aber ich muß sie berühren. Ich muß mein Baby berühren!« 251
»Sie können nicht.« Ich sah McCabe an. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Kapieren Sie nicht? Das ist ein Trick, Miranda! Überlegen Sie doch, was Sie tun sollen. Wir stehen hier unter einem brennenden Haus. Das ist das einzig Reale.« Ich konnte es nicht akzeptieren. Ich griff wieder nach meinem Baby, aber wieder geschah das gleiche. Sie schwand. Sie schaute mich niemals an. Meine Hand erstarrte. »Sie sieht mich nicht. Warum sieht sie mich nicht?« »Weil sie nicht hier ist, verdammt! Dieser Raum ist ein Trick. Das Baby ist ein Trick. Es ist alles eine Illusion. Wir verschwinden jetzt. Wir werfen noch einen Blick in den anderen Raum, und dann machen wir, daß wir rauskommen.« »Ich kann nicht. Ich muß hierbleiben.« »Ausgeschlossen.« Er lief um mich herum, packte die Wiege und warf sie gegen die hintere Wand. Sie prallte ab, fiel auf den Boden und rollte zurück, bis sie kopfüber liegenblieb. Ein Stück brach ab und rutschte fast bis zu meinem Fuß. Entsetzt stürzte ich mich auf die Wiege und drehte sie um. Sie war leer. Fassungslos schob ich die Hände hinein, aber da war kein Kind, keine Decke, kein Bettzeug, nichts als die Leere des glatten Holzes. Ich war so verwirrt, daß ich überhaupt nicht mehr an McCabe dachte – oder an das, was er getan hatte. »Können wir jetzt gehen? Sie warten.« Die Stimme hinter mir klang anders. Ich drehte mich um und sah … Shumda. Shumda, den Gewaltigen. Bauchredner extraordinaire. Frances Hatchs Lover, den Mann, der das kleine Mädchen umgebracht hatte, das ich einmal gewesen war. McCabe war nirgends zu sehen, und ich wußte, warum nicht. 252
»Das waren Sie die ganze Zeit, nicht wahr? Oben, das Feuer und die sprechenden Puppen? Das Ganze war wirklich ein Trick; McCabe ist gar nicht zum Haus zurückgekommen.« Er verbeugte sich. »Ganz recht. Ich verstehe mich auf Stimmen. Aber wir müssen jetzt wirklich gehen.« »Wohin? Wo ist mein Baby? Wo ist sie hin?« »Das mußt du selbst entscheiden. Gehen wir!« »Ich gehe nicht mit Ihnen.« »Oh, aber du mußt. Klarheit wartet, Miranda!« Er sagte es im übertriebenen Tonfall eines schlechten Schauspielers, der einen donnernden Abgang hinlegt. Ich rührte mich nicht. Seine Miene wechselte von einem breiten Grinsen zu »nicht glücklich«. »Es war mein Baby, nicht wahr?« »Ja. Komm jetzt mit, dann kannst du sie im nächsten Raum sehen. Sie ist dort.« »Ich glaube Ihnen nicht.« »Du kannst ihm glauben.« Hugh erschien in der Tür; er hielt das Baby in den Armen. Das Kind gluckste und schlug ihm mit dem winzigen flachen Händen an die Nase. »Miranda, du mußt es tun. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Ich streckte ihm beide Hände entgegen. Hugh. Mit unserem Baby. Er lächelte. »Es ist in Ordnung, Miranda. Shumda sagt die Wahrheit. Geh mit ihm – das wird dir helfen, alles zu verstehen.« Bevor er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf die Wiege und wanderte dann zu dem Stück Holz, das abgebrochen vor meinem Fuß lag. Er sah mich an, und ich wußte, er wollte mir etwas Wichtiges sagen. »Gut.« 253
Die drei gingen. Ich hob das Holz auf und steckte es in die Tasche. Dann ging ich hinaus und durch den Keller. Das einzige Geräusch waren meine schlurfenden Schritte. Die Luft roch schwer nach Erde und Feuchtigkeit. Mein Gesicht war sehr heiß. Ich konnte meinen eigenen Schweiß riechen. Die Tür zu dem anderen Kellerraum war geschlossen. Ich packte den Türknopf und versuchte sie aufzuziehen. Sie ließ sich nur schwer bewegen und schürfte laut über den unebenen Boden. Als sie halb offen war, hörte ich auf und atmete langsam und tief durch. Ich war nicht vorbereitet, aber es mußte geschehen. Mein Herz vollführte ein paar seltsame Fehltritte in meiner Brust. Ich zog wieder, fester jetzt, und die Tür öffnete sich vollends. Womit ich gerechnet hatte, war ein zweiter Raum, genauso groß wie der erste. Mehr nicht. Ich hatte kaum eine Vorstellung von dem, was drinnen sein würde. Aber was dann da war, hatte ich erst recht nicht erwartet. Eine Rampe – eine breite, graue Betonrampe, die zu Lichtern hinaufführte. Strahlende Lichter vor einem schwarzen Nachthimmel beleuchteten etwas, das ich nicht sehen konnte, anscheinend ein … Stadion? Einen Sportplatz? Riesige Flutlichtbatterien in regelmäßigen Abständen strahlten auf etwas herab, das ich nur ahnen konnte, auf ein Spielfeld vielleicht. Ich trat durch die Kellertür und auf die Rampe. Dort blieb ich stehen und schaute nach rechts und links. Es war ein Stadion. Laufgänge führten zu beiden Seiten davon und stießen auf weitere Rampen. Ich war auf dem College zu Footballspielen gegangen und später mit einem Freund, der ein Baseballnarr war, ins Yankee-Stadion. Das hier war ein sehr großes Stadion. Ich war durch eine Tür im Keller meines Hauses in Crane’s View in ein kolossales Sportstadion gekommen. 254
Es waren keine Leute da, was die Sache noch ominöser und beunruhigender machte. Zehn Schritt vor mir sah ich einen hell erleuchteten Verkaufsstand, aber niemand war da – keine Verkäufer, keine Kunden. »Hallo?« Nichts. Was sollte ich jetzt tun? Ich ging weiter die Rampe hinauf, wollte sehen, was das alles zu bedeuten hatte. Hugh hatte gesagt, ich sollte es tun. Shumda hatte gesagt, ich könnte unser Baby sehen, wenn ich hierherkäme. Mein Herz in der Brust hatte immer wieder Fehlzündungen. Ich legte die Hand darauf. Okay, es ist alles okay. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und schaute mich um, ob die Kellertür noch da war. Ja. Ich konnte umkehren. Ich zögerte. Aber da hinten war nichts. Alles war vor mir. Ich ging die Rampe hinauf ins Stadion. Meine Schritte hallten ringsum wider, bis ich fast oben angekommen war. Dann brandete der Lärm im Stadion auf wie eine Woge. Du kennst das, weil du es schon gehört hast: bei einem Baseballspiel oder in einem Rockkonzert, wenn du an deinen Platz zurückkommst, nachdem du einen Hot dog gekauft hast oder auf der Toilette warst. Dieser große Lärm ist wohl da, aber er tritt für eine Weile in den Hintergrund. Deine eigenen Schritte sind lauter, bis du oben an der Rampe angekommen bist und eintrittst. In der nächsten Sekunde umfangen dich zwanzigtausend Menschen mit ihren Lebensgeräuschen. Reden, Bewegungen, Lachen, Scharren, Pfeifen – alles zusammen in einem mächtigen Getöse. Das Stadion war voller Menschen. Ich blieb im Eingang stehen, um das Bild in mich aufzunehmen. Tausende von Menschen. Anscheinend war jeder Platz besetzt. Bei die255
sem ersten Blick schaute ich niemanden genauer an, denn ich nahm das ganze Bild wahr. Überrascht erkannte ich, daß auf dem Spielfeld nichts eingezeichnet war; keine Football-Torpfosten standen an den Enden eines markierten Spielbereichs, keine 10-Yard-Linie, keine Endzone. Kein Baseball-Karo mit Homeplate und den perfekten weißen Linien zu den Bases. Das Spielfeld war eine manikürte Rasenfläche – nichts als grünstes Gras, das unter den gleißenden Bogenlampen noch grüner leuchtete. Ich hörte Gesprächsfetzen und Gelächter, scharrende Schritte auf steinernem Boden, Händeklatschen. Irgend jemand johlte in der Ferne. Und mehr. So viel mehr. Das menschliche Rumoren von Zehntausenden in einem umschlossenen Raum. Hugh stand draußen auf dem Feld und hielt unser Baby im Arm. Außer den beiden war niemand dort. Sie sahen so klein aus auf dieser riesigen grünen Fläche. Er starrte mich an, forderte mich aber mit keiner Gebärde auf, zu ihm zu kommen. Ich winkte kurz. Er bewegte den Arm des Babys und ließ es zurückwinken. Was sollte ich jetzt tun? Warum waren wir alle hier? Wer waren diese Leute? Was war das für ein Stadion? Während diese Gedanken mir im Kopf herumpurzelten, verebbte der Lärm allmählich, nahm langsam ab, verstummte fast. Es war beinahe still. Ich schaute mich um, ob andere auf diese neue, gespenstische Stille reagierten. Und da war noch etwas. Rasierwasser. Der Duft eines exquisiten und sehr vertrauten Rasierwassers ließ mich nach seinem Ursprung suchen. Diptyque. Ich erinnerte mich sogar an den Namen. Ich schaute nach links und erschrak zweimal. Weil alle mich beobachteten. Und weil ich meinen alten Freund Clayton Blanchard sah, den Mann, der mich sowohl mit dem Buchhandel als auch mit Frances Hatch bekannt ge256
macht hatte. Es war sein Rasierwasser, das ich da gerochen hatte. Er saß nur einen Schritt von mir entfernt, wie immer wunderschön gekleidet: makellos gebügelter dunkler Anzug, buntseidene Ascot-Krawatte, weißes Hemd. Ich formte seinen Namen mit dem Mund, und dann die stumme Frage: Clayton? Hier? Er lächelte. Neben ihm saß ein Junge, den ich zuerst nicht erkannte – aber plötzlich doch. Wie ein Schwimmer, der sich aus tiefem Wasser nach oben kämpft, stieg meine Erinnerung an die Oberfläche, langsam nur, aber als sie hervorbrach, wußte ich, daß ich ihn kannte. Ludger Pooth. Das war sein lächerlicher Name. Seine Familie wohnte 1922 neben meiner in der Mariahilferstraße in Wien. Er und sein Freund Kuno Sandholzer hatten mich einmal auf den Dachboden unseres Hauses gelockt und mir befohlen, meinen Schlüpfer herunterzuziehen. Sie glaubten, sie zwängen mich dazu, etwas Schreckliches zu tun, aber ich hatte gar nichts dagegen, solange sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkten. Ludger trug eine Golfkappe aus braunem Tweed, an der er dauernd zupfte. Ich erinnerte mich gut an diese Geste. Neben ihm saß noch jemand, den ich nicht gleich erkannte, aber nur allzu rasch fiel mir sein Name wieder ein: Viktor Petluchen, der erste Mann, mit dem Lolly Adcock je geschlafen hatte. Mein Blick wanderte über die Hunderte, die Tausende Gesichter, die mich beobachteten, und bald erkannte ich jeden. Mehr und mehr Namen fielen mir ein, und mit ihnen die Geschichten, die zu diesen Namen gehörten. In meinen vergangenen Leben hatte ich jeden dieser Leute gekannt. Ich fing an, mich an diese Leben, diese Gesichter zu erinnern. Wie wir uns begegnet waren und wieder getrennt hatten, und was sie für mich bedeutet hatten. Sie alle waren hier im Stadion. 257
Wie vielen Menschen begegnen wir im Leben? Wie viele haben eine Wirkung auf uns und umgekehrt? Stell dir vor, im selben Moment von allen Menschen umgeben zu sein, die du je gekannt hast – manche einen Augenblick lang, andere dein ganzes Leben. Alle beobachten sie dich, denn das einzige, was sie miteinander verbindet, bist du. Du bist das Band zwischen ihnen. Und jetzt stell dir vor, es gibt Reinkarnation. Stell dir vor, alle Leute aus allen deinen Leben sind zusammen … Es wurde noch stiller. Hier war ein Geräusch, ein kurzes Husten, ein Schuhscharren auf dem Boden, hastiges Flüstern. Wir alle warteten ab, was als nächstes käme. Ich konnte nicht aufhören, mich umzuschauen, denn jedes neue Gesicht brachte neue Erinnerungen. Die Leute trugen die Kleider ihrer Zeit, und so gab es eine unglaubliche Vielfalt von Moden und Looks. Männer hatten Arbeitsoveralls an, rauhes Leinen, Lumpen und zweireihige Anzüge von Huntsman in der Savile Row. Dicke Schnurrbärte und rasierte Schädel, Pelzhauben, Persianerkappen, Baseballmützen, Sandalen, Clogs, Gamaschen, kniehohe Lederstiefel. Sie trugen Pistolen am Gürtel, Aktentaschen in den Händen. Frauen trugen hohe, gepuderte Perücken, Hauben, Dirndl, bodenlange Abendkleider, ein rosa Chanel-Kostüm, ein T-Shirt mit dem Logo der Rapgruppe Black Eyed Peas. Namen, die ich Hunderte von Malen ausgesprochen hatte, oftmals vor Hunderten von Jahren, kehrten zurück wie vergessene Fakten: Viktor Petluchen, Henry Allison, Jasna und Flenda Sukalo. Elzbieta Dudzinska. Meine Freundin Dessie Kimbrough, die Tochter des englischen Botschafters, die am Neujahrstag 1918 von der Reichsbrücke fiel und in der Donau ertrank. 1949, 1971, 1827, 1799 … Jedes meiner Leben, alle meine Jahre, all die Lebenden und Toten, die ich je gekannt hatte, zusammen in diesem Stadion. Die Tausende und Abertausende. 258
Als ich es ertragen konnte, wandte ich mich wieder dem Spielfeld zu; ich fühlte ihre Blicke auf mir, wie sie abwarteten, was ich als nächstes tun würde. Unten auf dem Rasen stand Hugh neben einer jungen Frau, die ich nicht kannte. Das Baby war nicht mehr auf seinem Arm. Ich betrachtete diese neue Frau und versuchte mich an ihr Gesicht zu erinnern, aber es wollte nicht gelingen. »Das ist deine Tochter, wenn sie erwachsen ist.« Hughs Sohn kam mit Charlotte, meiner Nemesis, den Gang herauf auf mich zu. Ich funkelte ihn an und glaubte ihm kein Wort. Er spürte es, und seine Miene verhärtete sich. »Es ist wahr. Mir ist es egal, ob du mir glaubst. Geh doch und sieh selbst.« Ich ging in weitem Bogen um ihn herum und die Treppe hinunter. Unten war ein kleines, offenes Tor. Ich ging hindurch und auf das Spielfeld hinaus. Hugh und die junge Frau beobachteten mich lächelnd. Sie schaute Hugh an, und er nickte eifrig. Sie berührte seinen Unterarm und kam dann auf mich zu. Ich blieb stehen und hielt den Atem an. Sie war hochgewachsen und unscheinbar, und sie hatte große Hände, meine Hände. Ihr Lächeln war schief und herzzerreißend. Sie hatte ihres Vaters braune Augen und seine Brauen, die sich außen nach oben krümmten. »Mama?« Ich wollte eben sagen: »Ja, ja, ja, ich bin’s, ich bin deine Mutter!«, da explodierte die Welt hinter uns. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, und ich bin sicher, daß wir beide den gleichen entsetzten Gesichtsausdruck zeigten. Es war die Menge. Die Zehntausende, die hier versammelt waren, schrien plötzlich ihre kollektive Wut, ihren Haß und ihren Groll gegen mich heraus. Weil ich irgendwann in ihrem Leben jeden von ihnen selbstsüchtig benutzt hatte. Sie benutzt hatte im Kleinen 259
oder im Großen, auf vergessene oder ganz undenkbare Art und Weise, um zu bekommen, was immer ich in jenem Augenblick gerade haben wollte. Ich hatte sie geliebt und betrogen oder sie gehaßt und vergessen, hatte sie ignoriert oder umworben, ihnen das Herz gestohlen oder nein gesagt, als sie es mir anboten. Ich war blind oder auch allwissend in ihr Leben getreten, ich hatte ihnen ihre Liebe genommen, ihre Hoffnung, ihre Zeit, und ich hatte sie nicht geachtet. Einige hatten etwas zurückgefordert, andere vieles. Immer hatte ich ihnen nur gegeben, was ich geben wollte oder was ich im Überfluß hatte und deshalb nicht entbehren würde. Sie hatten mir gegeben, was ihnen teuer war oder was sie am Leben hielt, was sie umtrieb oder was ihnen Zuversicht gab. Was sie dafür von mir bekommen hatten, war ein Nichts in einer hübschen leeren Schachtel mit Firlefanz und Flitter. Die meisten Leute stehlen, weil sie glauben, was sie da stehlen, sollte ihnen sowieso gehören. Für mich war es ein Handel: Ich gebe dir, was ich nicht brauche, für das, was ich an dir begehrenswert finde. Das ist doch fair. Sie schüttelten die Fäuste; manche Gesichter waren violett oder totenbleich. Eine Frau war so wütend, daß sie weinte. Ein Mann, der rasend geworden war, warf etwas nach mir. Nichts. Er hielt nichts in der Hand und versuchte dennoch, etwas nach mir zu werfen. Immer wieder tat er es. Ihr Haß war zermalmend, ihr Groll schwer wie ein Stein, heiß wie eine Flamme. Und das alles war meine Schuld. Inmitten dieser Raserei kam Hughs Sohn auf das Spielfeld und blieb ein paar Schritte vor mir stehen. Auch ein Opfer. Ein Kind, das durch meine Selbstsucht daran gehindert worden war, geboren zu werden. Er hob die beiden Fäuste rechts und links an seinen Mund. Dann kamen sei260
ne Zeigefinger langsam hervor und deuteten nach unten. Wie Zähne. Wie Fangzähne. »Du bist ein Vampir.« Und ich hörte das Wort durch das Tosen, weil ich bereits begriffen hatte, daß es das war, worum es hier ging. Ich fuhr herum, um zu sehen, ob Hugh und das Mädchen es auch gehört hatten, aber sie waren fort. Ich sah nur endlose Flächen von makellos grünem Gras und wünschte mir mit aller Macht, sie wollten wieder erscheinen, damit ich etwas sagen könnte, irgend etwas, um es ihnen zu erklären. Aber es gab keine Erklärung. Es gab nur dieses schwarze Wort, und das war die Wahrheit. Vampire nehmen einem Menschen das, was ihn am Leben hält. Manchmal ist es Blut, manchmal auch Hoffnung, Liebe, Ehrgeiz oder Vertrauen. Ich hatte alles genommen. Der Lärm hinter mir verebbte. Ich hörte nicht einmal das Geräusch des Windes. Als ich mich umdrehte, war nur der Junge noch da. Die Tribünen waren völlig leer. Er stand an derselben Stelle, die Hände an den Seiten. Ich tat einen Schritt auf ihn zu, aber diesmal wich er zurück und hatte Angst, ich könnte ihn berühren. Ich wollte etwas sagen, aber meine Kehle war zugeschnürt und trocken. »Wie heißt du?« »Declan.« Wie er es sagte, klang schön und melodisch, als wäre es das einfachste Wort der Welt. »Das ist der Name eines Heiligen.« Ich lächelte, als ich an Hugh und seine Heiligen dachte. »Ich werde jetzt gehen, Declan. Ich verstehe, weshalb sie wollten, daß ich herkomme, aber mehr brauche ich nicht zu sehen. Ich habe alles verstanden. Ist das in Ordnung? Kann ich gehen?« »Vermutlich. Ich weiß es nicht.« 261
Ich ging quer über das Spielfeld zurück, durch das Törchen, die Treppe hinauf, vorbei an den leeren Sitzen. Oben hätte ich mich beinahe umgedreht, um einen letzten Blick zurückzuwerfen, aber ich wußte, daß mich das vielleicht umbringen würde, und ich hatte noch einiges zu tun, bevor ich starb.
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die geschichte der schatten Unser Haus brannte nicht, als ich oben an der Kellertreppe angekommen war. Das war keine Überraschung. Was mich allerdings verblüffte, war die Art und Weise, wie ich das Haus und die Gegenstände darin jetzt wahrnahm, als ich nach vorn zur Haustür ging. Bevor Hugh und ich intim geworden waren, als ich noch mit mir rang, ob ich mich mit ihm einlassen sollte oder nicht, hatte ich gesagt: »Ich will mich nicht in dich verlieben. Die Erinnerung wäre zu groß.« Als ich jetzt durch unser Haus ging, war alles eine zu große Erinnerung. Von dem antiken Messingbrieföffner auf dem Beistelltisch bis zu den vier Porträts von Lolly Adcock an der Wand im Wohnzimmer gab mir alles das Gefühl, durch ein Museum meiner selbst zu gehen. Fast alles barg strahlende, niederdrückende Erinnerungen an die Zeit, als ich die Wahrheit über mich selbst nicht kannte, als ich eine Frau war, die einen Mann liebte, und eine Vision vom Leben mit ihm hatte, die ich für vernünftig und möglich hielt. Ich blieb stehen und nahm Dinge in die Hand, denn der Impuls war unwiderstehlich. Eine Schere, die wir benutzt hatten, um die Kartons zu öffnen, eine Postkarte von der Stromfirma, die uns mitteilte, daß wir jetzt als Kunden registriert seien. Artefakte in meinem Museum, Objekte und Ephemera aus einer Steinzeit, in der ich arglos an einen gerechten Gott glaubte, in der ich glaubte, daß die 263
Menschen nur ein Leben zu leben hätten und daß das Böse ein Wort sei, das am besten in die Bibel passe, in Geschichtsbücher oder in alberne Filme. Bezaubernd und altmodisch wie eine handgeschnitzte Wiege war unser Haus und das, was es enthielt, ganz wie der schöne Traum, den du letzte Nacht hattest und den du beim Erwachen verzweifelt festhalten möchtest, was doch unweigerlich nur wenige Minuten gelingt. Als ich am Wohnzimmer vorbeikam, regte sich etwas in meiner Erinnerung, und ich ging hinein, um ein Buch zu suchen, das Hugh mir einmal gezeigt hatte. Beliebte irische Namen. Ich schlug den Namen des Jungen nach. Der Himmel gab dem heiligen Declan eine kleine schwarze Glocke, mit der er ein Schiff für sich und seine Anhänger suchen konnte. Später übernahm diese Glocke das Schiff und zeigte Declan, wo er an der Küste von Waterford ein Kloster gründen sollte. Declan Oakley. Ein schöner Name von der Art, die ein Kind haßt, wenn es klein ist, weil er seltsam und fremdartig klingt, vor allem in Amerika. Aber wenn er größer wäre, würde er ihn lieben. Declan. Ich sprach es laut aus. »Die eigentliche Form des Namens lautet Deaglan. Mit Betonung auf der zweiten Silbe.« Shumda stand draußen auf der Veranda. Das Fenster war zu, aber ich konnte ihn deutlich hören. Ich hatte nicht genau auf sein Aussehen geachtet, als ich ihn im Keller das erste Mal gesehen hatte. Er schien etwa fünfunddreißig Jahre alt zu sein und glich dem alten Plakat, das Hugh für Frances aufgetrieben hatte. Aber wenn er in den zwanziger Jahren fünfunddreißig gewesen war, müßte er heute weit über hundert sein. Der Mann auf der Veranda sah nicht aus wie ein Hundertjähriger. »Komm heraus. Es ist ein schöner Abend.« 264
»Warum sind Sie hier? Wo ist James?« »Du hast ihn freigelassen, Miranda. Erinnerst du dich? Jetzt ist er bloß ein Rauchwölkchen. Ein guter Abschluß! Außerdem ist er keiner von uns. Keiner der wenigen Auserwählten. Er ist bloß tot. Tote haben keine hohe Stellung in unserer Nahrungskette.« »Aber warum sind Sie gekommen?« »Weil sie mir aufgetragen haben, dich durch das nächste Stadium deiner … Pilgerschaft zu führen. Es ist komplizierter, aber soviel muß als Erklärung reichen. Du kennst diese Geschichten über Nachtod-Erfahrungen? Wie die lieben Toten einen in Empfang nehmen und zum Lichte führen? Wunderschön, und kein Wort davon ist wahr. Aber in deinem Fall doch, gewissermaßen. Obwohl du ja nicht tot bist. Und ich auch nicht.« Er hob rasch beide Hände abwehrend. »Das ist das Schöne daran. Oh, ich glaube, es wird dir gefallen. Es ist nur eine Frage der Gewohnheit. Kommst du jetzt heraus? Soll ich hereinkommen? Oder ich huste und puste und blase dein Häuschen um!« Er blies die Wangen auf und kniff die Augen zu. »Gehen Sie weg.« Er streckte die Arme zur Seite, die Fäuste geschlossen. Er öffnete sie langsam, und in jeder Hand war eine kleine Glocke. Sankt Declans Glocke. Mit ausgestreckten Fingern schüttelte er erst die eine, dann die andere. Ihr Klang war leicht und kristallen. »Ich kann gehen. Aber was ist, wenn du Fragen hast?« »Ich will nicht, daß Sie mir meine Fragen beantworten.« Er zog einen Schmollmund und klingelte wieder mit den Glöckchen. »Tapferes Mädchen. Dummes Mädchen.« Er stellte die Glocken auf das Fenstersims, ging über die Veranda und die Treppe hinunter zur Straße. Ich lief schnell 265
zum Fenster, um mich davon zu überzeugen, daß er auch wirklich weg war. Dann griff ich zum Telefon und erledigte zwei Telefonate. Ich brauchte ein Taxi, und ich mußte mich vergewissern, daß Frances Hatch immer noch im Sanatorium Fieberglas war. »Ich muß Ihnen sagen, Lady, diese Fahrt wird Sie was kosten. Das ist ’ne halbe bis dreiviertel Stunde von hier.« »Das ist mir klar. Können wir jetzt fahren?« »Aber sicher.« Wir waren ein paar Minuten unterwegs, bevor der Fahrer wieder sprach. »Haben Sie schon mal von Bettmilben gehört?« »Wie bitte?« »Bettmilben. Schon mal gehört?« Wir wechselten einen Blick im Rückspiegel. »Ich bis neulich auch nicht. Hab mir da im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Allergien angeguckt. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, daß die Leute sich für Intellektuelle halten, wenn sie mal Discovery Channel gucken? Ich nicht. Mir macht’s bloß Spaß, zu sehen, wie verrückt die Welt funktioniert. Jedenfalls gab’s da ’ne Sendung über Allergien bei Menschen. Die haben ’ne neue Theorie, daß diese Biester namens Bettmilben viele davon verursachen. Das sind so mikroskopisch kleine Viecher, die in unseren Betten und Kopfkissen wohnen, in der Wäsche … Sie sind nicht gefährlich oder so, aber sie lassen was fallen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und gegen diese Köttel sind die Menschen allergisch. Merkwürdig, was?« Ich war so verblüfft, daß ich unwillkürlich grob herausplatzte: »Haben Sie sich das ausgedacht?« 266
»Nein, wirklich, ich hab’s in dieser Sendung gesehen! Sie haben dann vorgeschlagen, wie man sich schützen kann, wenn man allergisch ist. Man soll Matratzen und Kissen in Plastik packen und sich ’n Luftreiniger kaufen, der alle Köttel einfängt, die vielleicht in der Luft rumschweben … Nein, es ist wirklich wahr.« Wieder sahen wir uns im Spiegel an, und er nickte begeistert. »Das ist ja entsetzlich.« »Nicht für die Bettmilben.« Ich lachte. Und dann konnte ich nicht mehr aufhören, an sie zu denken, trotz all dem Chaos, das mein Leben in diesem Augenblick umgab. Ich sah eine schöne Frau vor mir, die in ein frisch gemachtes Bett steigt und einschläft. Und wie in einer Szene in einem David-Lynch-Film fährt die Kamera immer näher an das Kissen heran. Näher und näher, bis wir Tausende und Abertausende von winzig kleinen weißen Insekten umherwieseln sehen, die dort ihr Leben leben, ungeachtet eines riesigen Menschenkopfes in ihrer Mitte. Ich wußte aus dem Biologieunterricht an der High School, daß die Welt verseucht ist von gräßlichen mikroskopischen Kreaturen, die fröhlich von und in und an den Menschen leben. Gottlob merken wir es nicht, aber früher oder später erreichen sie uns doch, mit ihren Kötteln oder ihren Mikroben oder mit ihrer schlichten Existenz. Wenn wir Glück haben, niesen wir nur. Wenn nicht, bringen sie uns um. Die Metapher, zumal in diesem Augenblick meines Lebens, war klar und bedrohlich. All die bewußten Lügen und vergessenen Versprechen, die wir hervorbringen, die grausamen Gesten, die kleinen und großen. Der Mangel an Dankbarkeit, an Bereitschaft zum Teilen, die Freundlichkeiten, die wir nicht erwidern, 267
die Kränkungen, die wir vergelten. Die Selbstsucht, die absichtliche Ignoranz, die sinnlosen Diebstähle, die Scheiß-auf-dich- und Ich-zuerst-Haltung, die einen so großen Teil unseres Lebens verunreinigt. Das alles sind Bettmilben, die wir erschaffen. Wenn wir aufwachsen, lehrt man uns, sie als gegeben hinzunehmen. Uralt. Immer dagewesen. Teil des Lebens. Aber das sind sie nicht, denn wenn wir einmal innehalten und nachdenken, ist uns in den meisten Fällen sofort klar, wie wir es vermeiden können, noch mehr von diesen ekelhaften Wanzen und ihrer Scheiße zu produzieren. Was das Benehmen anderer Menschen angeht, so lernen wir »unsere Matratzen in Plastik einzupacken«: Wir lernen uns zu schützen. Aber wichtiger ist es, unsere eigenen Worte und unser Verhalten zu filtern, damit das, was wir so »fallenlassen«, nicht die andern erreicht und sie krank macht. In einem einzigen schrecklichen Augenblick im Stadion hatte ich eines gelernt: Ein Leben wird zumeist nicht durch den einen krönenden Schlag ruiniert, durch K.O., durch einen einzelnen Akt der Grausamkeit. Es wird ruiniert durch Tausende von »Milben«, die wir mit unserer Grausamkeit, unserer Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit in die Betten derer setzen, die wir lieben oder kennen. »Haben Sie Musik?« Er schaute neben sich auf den Sitz. »Ja, aber ich glaub nicht, daß Sie drauf stehen. Ich hab Voodoo Glow Skulls und Rocket from the Crypt.« »Könnten Sie das Radio einschalten?« »Na klar.« Bedachtsam suchte er die Kanäle ab, bis er klassische Musik gefunden hatte; der Römische Karneval von Berlioz erklang und beruhigte mein Herz für eine Weile. Das tat auch die abendliche Landschaft, die draußen in abwech268
selnden Flecken von Gefunkel und Dunkelheit vorüberflog. Kleinstädte ruhten, Menschen gingen nach Hause. Ein Mann kam aus einem Spirituosenladen. Ein Junge auf einem Fahrrad strampelte wild vor uns die Straße entlang; immer wieder schaute er zurück, um zu sehen, wo wir waren, und bemühte sich, seinen Vorsprung zu halten. Rote Reflektoren blitzten an den Pedalen. In einem Haus gingen die Lichter an, als ob sich Augen öffneten. Ein Lieferwagen bog in eine Einfahrt; sein Auspuffqualm war grau vor dem nächtlichen Schwarz. »Das ist komisch.« »Was?« »Das Autokino da vorn. Normalerweise schließen sie zum Ende des Sommers. Wer will um diese Jahreszeit ins Autokino? Ist viel zu kalt.« Ich schaute in die Richtung, in die er zeigte, und was ich sah, sagte mir einen Moment lang nichts. Auf der Riesenleinwand wimmelten Leute in einem vollen Geschäft umher. Dann kam Hugh Oakley ins Bild. Er stand vor einem mannshohen Spiegel und probierte eine Baseballmütze auf. Es war der Tag, an dem wir beinahe zum ersten Mal miteinander geschlafen hätten und statt dessen in den GapLaden in New York gegangen waren und in der Umkleidekabine geknutscht hatten. Ich trete hinter ihn mit einer Hose in der Hand und sage etwas. Er nickt und folgt mir in den hinteren Teil des Geschäfts. In einem Autokino in Irgendwo, New York, lief eine Szene aus einem Tag meines Lebens auf einer zwölf Meter hohen Leinwand. »Gucken Sie sich das an! Kein einziges Auto da! Wem zeigen die diesen Film?« Der Parkplatz war leer. »Könnten Sie die Musik lauter machen, bitte?« 269
Der Parkplatz vor dem Sanatorium Fieberglas war nicht leer. Wir kamen gegen neun Uhr abends dort an, aber es parkten noch viele Autos dort. Wir fuhren bis vor die hell erleuchtete Eingangstür. Ich schaute das Gebäude an und war überrascht von der Stille in meinem Herzen. »Wollen Sie da jemanden besuchen?« »Ja, eine alte Freundin.« Der Fahrer duckte sich ein wenig, damit er das Gebäude durch die Windschutzscheibe besser sehen konnte. »Muß aber Geld haben, wenn sie in so ’nem Laden wohnt.« Ich schaute seinen Hinterkopf an. Das Haar war kürzlich geschnitten worden – lauter präzise Ecken vor makellos weißer Haut. Von hinten sah er aus wie ein Soldat oder ein kleiner Junge. »Wie heißen Sie?« »Ich? Erik. Erik Peterson. Wieso?« »Könnten Sie hier warten, während ich hineingehe, Erik? Ich bezahle Sie für Ihre Zeit.« »Wissen Sie, ich hatte sowieso vor, auf Sie zu warten. Dachte mir, daß Sie hier nicht lange bleiben wollen, schon gar nicht so spät am Abend. Wollen Sie zurück nach Crane’s View?« Er drehte sich um und lächelte mich an. Ein nachbarschaftliches Lächeln, hinter dem sich nichts anderes verbarg als ein freundlicher und rücksichtsvoller Mann. »Ja. Danke. Aber es könnte ein Weilchen dauern.« »Kein Problem.« Er hielt einen Minifernseher hoch. »In zehn Minuten kommt die letzte Folge von Neverwhere. Die muß ich sehen.« Ich stieg aus dem Taxi und ging auf den Eingang zu. Er rief mir nach. »Wie heißen Sie denn?« »Miranda.« 270
»Ich werde hier sein, Miranda. Lassen Sie sich Zeit.« Ich ging ein paar Schritte, und er rief: »Auf der Heimfahrt erzähle ich Ihnen von den Hyazinth-Aras.« »Sind die verwandt mit den Bettmilben?« »Nein, das sind Vögel. ’n anderer Dokumentarfilm, den ich nach den Bettmilben gesehen habe.« Er senkte den Blick. Sein Gesicht reflektierte das tanzende, blaugraue Flackerlicht des Fernsehbildschirms. Ich war so froh, daß er da war. Als ich diesmal die schwere Eingangstür öffnete, fiel mir gleich auf, wie still und leer das Haus war. Meine Lederabsätze machten einen Heidenlärm auf den Steinböden. Eine Schwester mittleren Alters saß am Empfang und las. Sonst war niemand zu sehen. Ich ging hin und wartete, daß sie mir ihre Aufmerksamkeit zuwandte, aber sie blickte nicht auf. Das Buch, in dem sie las, stand auf dem Kopf. Ich konnte sehen, daß es Verse waren. Die erste Zeile eines Gedichts lautete: »Macht Euch nur krumm, Sir, es wird schnei’n die Nacht.« Sie ignorierte mich weiter. »Hallo? Entschuldigung?« »Ja?« »Ich möchte zu Frances Hatch.« »In welchem Zimmer ist sie?« »Das weiß ich nicht mehr.« Die Frau tat einen mächtigen Seufzer und konsultierte ihren Computer. Sie nannte mir die Zimmernummer und wandte sich sofort wieder ihrem Buch zu. »Das ist eine hübsche Zeile.« Sie blickte auf. »Was?« 271
»›Macht Euch nur krumm, Sir, es wird schnei’n die Nacht.‹ Eine hübsche Zeile. Sie sagt schon mehr oder weniger alles.« Sie schaute mich an, ihr Buch, mich. Sie klappte es zu und bekam einen mißtrauischen Blick. Ich ging davon. Der Aufzug kam mit einem Ping, die Tür öffnete sich, und Frances’ Ärztin erschien. »Sie sind wieder da.« »Ja. Ich muß mit Frances sprechen. Aber vorher habe ich eine Frage. Könnten Sie mir sagen, was für ein Haus dies ist? Für wen ist es?« »Es ist ein Hospiz. Gewissermaßen.« »Die Leute kommen hierher zum Sterben? Frances wird sterben?« »Ja. Sie ist sehr schwach.« »Aber warum hier? Sie liebt ihre Wohnung doch so sehr. Warum sollte sie herkommen?« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen hinauffahre? Nur bis in ihr Stockwerk. Dann lasse ich Sie allein.« »Gut.« Ich trat in den Aufzug. Sie drückte den Knopf. Als die Tür sich schloß, wandte sie sich zu mir um und fragte mit leiser Stimme: »Wissen Sie von Ihren Leben?« »Ja.« »Würden Sie mir sagen, woher?« Ich berichtete kurz von meiner Rückkehr in das Haus in Crane’s View, von dem Brand, dem Stadion und dem Wort, das Declan benutzt hatte und das alles erklärte. Von Hughs und meinem Baby sagte ich nichts. Während ich redete, verschränkte sie die Arme und senkte den Kopf fast bis auf die Brust. Als ich fertig war, standen wir vor Frances’ Tür. 272
Die Ärztin schüttelte langsam den Kopf. »Außergewöhnlich. Es ist immer anders.« »So etwas ist verbreitet!« »Miranda, alle hier haben das gleiche erlebt wie Sie. Es manifestiert sich nur jedesmal anders. Alle ihre Leben haben Sie hierhergeführt. Jetzt haben Sie eine große Entscheidung zu treffen. Sie können hierbleiben, solange Sie wollen, und Sie werden in Sicherheit sein. Das ist eine unserer Aufgaben: Sie zu beschützen, während Sie sich entscheiden. Unsere andere Funktion besteht darin, für diejenigen zu sorgen, die ihre Entscheidung getroffen und sich dafür entschieden haben, ihr Leben hier zu beenden. Hospize für Menschen wie Sie gibt es seit Beginn der Geschichtsschreibung. Ein Hotel in den Pyrenäen, eine Jugendherberge in Mali, ein Krankenhaus in Montevideo. Über einem der Gräber im Tal der Könige in Ägypten steht eine Inschrift, die …« »Von was für einer Entscheidung reden Sie da?« »Frances wird es Ihnen sagen, aber ich glaube, Sie wissen es schon. Alle diese Leute im Stadion haben Sie gehaßt, weil Sie aus dem Leben jedes einzelnen etwas Wesentliches entwendet haben. Die Menschen benutzen das Wort Vampir, weil das etwas so Fremdartiges ist und weil seine reale Existenz so unvorstellbar ist, daß uns bei dem Gedanken schaudert und wir ihn dann als idiotische Phantasie verlachen. Dracula? Der Blut saugt und in einem Sarg schläft? Aber wenn Sie die Definition nachschlagen, dann heißt es: ›Einer, der sich von anderen nährt.‹ Das tut jeder, aber wir haben hübsche rationale Erklärungen dafür. Bis Sie genauer hinschauen. Ich glaube, Sie müssen jetzt mit Frances sprechen. Sie wird Ihnen Ihre Fragen beantworten.« Sie wandte sich zum Gehen. Ich berührte sie am Arm. 273
»Warten Sie! Aber wer sind Sie?« »Jemand wie Sie. Ich war in der gleichen Situation wie Sie, aber ich habe meine Entscheidung vor langer Zeit getroffen.« Sie berührte meine Hand. »Wenigstens werden Sie jetzt Klarheit haben. Ich habe erfahren, wie wichtig das ist, ganz gleich, wo man am Ende steht.« Lautlos ging sie den Gang hinunter und durch die Tür an seinem Ende. Dieselbe Tür, die Hughs Sohn benutzt hatte. Heute. Das alles war an einem einzigen Tag geschehen. Ich klopfte leise an Frances’ Tür und drückte sie auf. Das erste, was mir entgegenschlug, war der Duft. Ein Parfüm wie in einem ganz wunderbaren Blumenladen. Nur zögernd öffnete ich die Tür weiter. Die Augen ertranken in einer Flut von Farben und Formen. Einen Moment lang konnte ich nicht einmal das Bett finden. Als ich es dann doch fand, mußte ich lächeln, denn Frances saß aufrecht darin und las eine Illustrierte, und das Paradies, das sie umgab, schien ihr überhaupt nicht bewußt zu sein. Dann hörte ich Musik. Klassische Musik, heiter und sommerlich, etwas, das ich noch nie gehört hatte. Es erinnerte mich an Saint-Saëns’ Aquarium. Ehe ich etwas sagte, gab ich meinen Augen und Ohren Zeit, sich zu beruhigen. Frances blätterte weiter in ihrer Zeitschrift und schaute nicht auf, als sie sagte: »Mach die Tür zu, Kind. Ich möchte nicht, daß jemand mich in diesem Nachthemd sieht.« »Dieses Zimmer ist so schön, Frances. Du verstehst es immer, einen Raum aufzumöbeln.« »Danke. Komm her und setz dich. Hier ist irgendwo ein Stuhl. Du mußt nur ein paar Blumen beiseite schieben.« »Wer hat sie dir geschickt?« 274
»Die Scheißer. Aber wir haben anderes zu bereden. Ich nehme doch an, deshalb kommst du mitten in der Nacht, oder?« »Ja. Aber könntest du die Musik abschalten, während wir uns unterhalten?« Sie starrte mich verständnislos an, als hätte ich etwas Kompliziertes in einer fremden Sprache gesagt. »Die Musik Nein, das kann ich nicht. Die wird hier hereingespielt. Ich habe keinen Schalter.« »Und wenn du sie nicht hören willst?« Sie wollte etwas sagen, brach dann aber ab. »Man gewöhnt sich daran. Vergiß die Musik, Miranda. Erzähl mir, was dir passiert ist. Und laß keine Einzelheiten aus – sie sind sehr wichtig.« Ich erzählte ihr alles, auch daß ich Hugh und unser Kind gesehen hatte. Lange dauerte es nicht. Damit so schnell zum Ende zu kommen war beunruhigend. Am Ende hat jeder von uns nur eine einzige Geschichte zu erzählen. Es dauert ein ganzes Leben, diese Geschichte zu erleben, aber manchmal weniger als eine Stunde, sie zu erzählen. Nur einmal zeigte Frances echte Emotionen, nämlich, als ich ihr von Shumda erzählte. Sie fing an, mich zu verhören: Wie er ausgesehen habe, was er gesagt, wie er sich benommen habe. Ihr sonst sehr blasses Gesicht wurde immer röter, während ich redete. Schließlich drückte sie sich die flache Hand auf den Mund und ließ sie dort, bis ich berichtet hatte, was er zuletzt zu mir gesagt hatte, ehe er meine Veranda verlassen hatte. Dann starrte sie aus dem Fenster und schien ihre Gedanken und Empfindungen zu sammeln. »Dein Name in Wien war Elisabeth Lanz. Dein Tod war der berühmteste Skandal seiner Zeit, denn es waren so viele Leute im Theater, als du abgestürzt bist. Shumda war damals ein großer Star. Aus ganz Europa kamen die Leute, 275
um ihn zu sehen. Der Polizeipräsident saß an diesem Abend im Publikum und verhaftete ihn persönlich. Das Landesgericht. Shumda sagte dieses deutsche Wort so gern, wenn ich ihn in seiner Zelle besuchte. Er sprach natürlich perfektes Hochdeutsch. Er war ein vorzüglicher Bauchredner, weil er Sprachen liebte. Er sprach vier. Es konnte ihn glücklich machen, einfach nur Wörter in verschiedenen Sprachen auszusprechen, weil er sie so köstlich fand. Manche Leute lieben den Geschmack von Schokolade. Shumda liebte den Geschmack von Wörtern. Landesgericht, crépuscule, piombo, zvinka. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er neben mir im Bett liegt, nachdem wir miteinander geschlafen haben, und wie er schwierige Wörter von seiner Zunge rollen läßt und dabei lächelt. Er hat genauso gern geredet wie gevögelt. Er hatte ein verzaubertes Leben geführt, und deshalb hat er nie wirklich geglaubt, daß man ihn wegen deines Todes bestrafen würde. Aber es war ein politisches Jahr damals in Wien, und Politiker suchen sich gern einen Sündenbock. Und da war dieser Showmann, ein Bauchredner aus Rumänien, der vor Hunderten von Leuten eine der jungen Blumen der Stadt getötet hatte. Der Fall lag klar. Sie hätten Shumda ohne Frage hingerichtet, wenn ich ihn nicht gerettet hätte.« »Wie hast du das gemacht?« »Ich habe mein Leben gegen seins eingetauscht.« »Wie hast du … was soll das heißen?« »Sieh deine Hand an, Miranda.« Ich schaute hin, sah aber nichts. »Nein, dreh sie um. Deine Handfläche.« Sie hatte keine Handlinien. Sie waren alle verschwunden. Meine Handfläche war glatt wie Papier. So glatt wie 276
die Haut anderswo am Körper ist, nur nicht in der Hand. Nicht da, wo Schicksal und Wille Vergangenheit und Zukunft kartographiert haben sollen. Ich war ungläubig und konnte den Blick nicht heben, als Frances weitersprach. »Miranda!« »Was ist das? Warum …?« »Hör mir zu: Als du in dieses Stadion kamst, waren noch Linien in deiner Hand. Sie sind verschwunden, als du erkanntest, was du bist.« »Ein Vampir? Als mir klar wurde, daß ich alle diese Leben gelebt hatte? Da sind meine Handlinien verschwunden?« Ich mußte nachsprechen, was sie gesagt hatte, um ihre Worte in meinem taumelnden Verstand irgendwo zu befestigen. Trotz meiner Bemühungen, bei Vernunft zu bleiben, wankte meine Stimme am Rand einer schlimmen Katastrophe. Ich konnte mich kaum noch beherrschen. Mir war, als werde die Urknalltheorie noch einmal von vorn bis hinten durchgespielt – und zwar in meinem Gehirn. Alles, was ich wußte, raste auseinander und in die entlegensten Bezirke des Alls. In ein paar Milliarden Jahren würden die Trümmer vielleicht langsamer und kühler werden und wieder irgendeine Art Leben zulassen, aber einstweilen flogen sie nur auseinander. Frances hob die rechte Hand und wandte die Handfläche nach vorn. Sie war von Linien und Graten bedeckt, von Landstraßen, die sich kreuzten und trennten, eine Lebensspanne aus Linien auf der Haut, eine detaillierte, wenn auch chaotische Landkarte der vielen Tage im Leben von Frances Hatch. »Was willst du damit sagen, Frances?« 277
Langsam hob sie die linke Hand. Die Handfläche war glatt. Ich warf einen schnellen Blick auf meine linke Handfläche, aber sie war ebenso leer wie die rechte. Sie führte die Hände zusammen und legte sie gefaltet in den Schoß. »Handleser sind sich uneins in bezug auf das, was die individuellen Linien in einer Hand bedeuten, aber die meisten sagen doch übereinstimmend, daß die in der Linken das anzeigen, womit man geboren ist, und die in der Rechten das, was man damit gemacht hat. Linke Hand« – sie hob die glatte Hand – »rechte Hand.« »Und wieso sind meine beide leer?« »Weil du jetzt, nachdem du herausgefunden hast, wer du wirklich bist, kein Schicksal mehr hast. Von diesem Augenblick an liegt alles bei dir.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du bist jetzt anders.« »Nach dem, was ich heute erfahren habe, bin ich mein ganzes Leben lang anders gewesen. Meine sämtlichen Leben lang.« Ich zischte wie eine Schlange. »Aber jetzt kennst du die Wahrheit und weißt, wer du bist. Das ändert alles. Jetzt kannst du etwas tun, Miranda. Von jetzt an liegt alles bei dir.« Wieder betrachtete ich meine glatten Handflächen und wußte nicht recht, was ich sagen oder fragen sollte. »Erzähl mir von dir und Shumda.« »Ich habe ihn seit siebzig Jahren nicht gesehen. Nicht, seit ich ihn gerettet habe. Das ist ein Teil der Bedingungen: Wenn du dich für einen anderen Menschen opferst, wirst du ihn nie wiedersehen. In den meisten Fällen, weil sie dich nicht wiedersehen wollen. Sie erinnern sich nicht gern an das, was du für sie getan hast. Aber wenn sie jung sind, wissen sie gar nicht, daß es passiert ist, weil sie es noch nicht verstehen. 278
Aber ist es erträglich. Du wirst einfach ein normaler Mensch und lebst ein normales Leben. Du kriegst Grippe, zahlst Steuern, bekommst Kinder, wenn du willst … Und früher oder später stirbst du. Willkommen in der ›Schleife der Sterblichkeit‹. Keine VIP-Lounge mehr für dich. Achte auf dein Cholesterin. Ich hatte ganz außergewöhnliches Glück, Miranda. Ich habe meine Unsterblichkeit Shumda geschenkt und dann noch ein prachtvolles Leben geführt. Jetzt ist es vorbei. Ich kann mich nicht beklagen.« Aber ihre Augen verrieten sie. Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, wanderten sie zu den Blumen, als wären die wunderschönen Sträuße in ein Geheimnis eingeweiht, das sie nicht verraten haben wollte. »Aber Frances, ich bin gestorben! Ich bin im Theater abgestürzt. Ich bin in der Kirche vom Gerüst gefallen …« »Und du bist zurückgekommen. Immer wieder. Normale Menschen nicht. Sie leben einmal und sterben dann. Wir leben und sterben und kommen zurück. Das tut niemand sonst, nur wir. Aber deshalb glauben die Menschen an Reinkarnation – weil einige von uns eben doch zurückkehren, nicht nur die, von denen sie es glauben. Unsterblich.« Das letzte Wort hatte ich nicht verstanden. »Was?« »Unsterblich. Das deutsche Wort für immortal. Shumda liebte dieses Wort. Er sagte, man muß es mit der Zunge umschlingen wie einen Kuß.« »Das Wort stand auch auf der Wiege. Es war in die Wiege unseres Babys eingeschnitzt.« »Das überrascht mich nicht. Alles, was wir erleben, schließt sich früher oder später zusammen. Unsere jeweiligen Leben, die kleinsten Details … Nichts wird ausgelassen. Du hast Hugh wegen einer Diskussion kennengelernt, in der es um deinen James und Lolly Adcocks Bilder ging. Auch mich hast du wegen ihrer Arbeit kennenge279
lernt. Erinnerst du dich an die Bücher aus deiner Kindheit, in denen man Punkte miteinander verbinden mußte? So sind wir. Alles ist verbunden.« »Warum jetzt, Frances? Warum erfahre ich das alles jetzt?« »Wegen der Liebe, Darling. Weil du endlich liebst und Gelegenheit hast, selbstlos zu sein. Das geschieht nur einmal im Leben – in irgendeinem Leben. Es gibt große Lieben und kleine, aber nur eine selbstlose. In deinem Fall, nehme ich an, ist es die zu deinem Kind. Ich hätte erwartet, es wäre die zu Hugh, aber du hattest diese Offenbarung erst nach seinem Tod.« Ohne Vorwarnung packte mich plötzlich heftige Übelkeit. Ich mußte mich übergeben. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um es aufzuhalten. Es gelang, aber nur mit knapper Not. So viel war mir zugestoßen, seit ich erfahren hatte, daß ich schwanger war – ich hatte gar keine Zeit gehabt, mir zu überlegen, was es bedeutete. Aber ich wußte, daß Frances die Wahrheit gesagt hatte. Das Kind in mir bedeutete mir alles. Die Tochter des Mannes, mit dem ich den Rest meines Lebens hätte verbringen wollen. Das Baby, das ich mir mein Leben lang gewünscht hatte, während ich zugleich jeden Gedanken daran vermieden hatte, weil eine lange Liebe und Kinder immer weniger möglich erschienen waren, je älter ich wurde. Es war ein Glück, an das ich nach Möglichkeit nicht dachte. Älter zu werden bedeutet, weniger Anfänge zu erleben. Mit Kindern fängt alles wieder an, ganz gleich, wie alt man ist, wie festgelegt in seinen Gewohnheiten. An dem Tag, als ich erfuhr, daß ich schwanger war, hatte ich noch eine andere, ganz andersartige Offenbarung. Auf der Heimfahrt mit dem Zug nach Crane’s View überlegte 280
ich, wie ich es Hugh am besten sagen könnte. Irgendwo, mitten in meinen Plänen, umfing mich der Gedanke: Ich werde nie wieder allein sein. Mit diesem Kind in meinem Leben würde ich nie wieder allein sein. Es war ein Gefühl, wie ich es so erwärmend, intim, beruhigend nie gekannt hatte. Während Frances sprach, legte ich mir, ohne es zu merken, beide Hände auf den Bauch. Ob trostsuchend oder beschützend, wußte ich nicht. Flüsternd fragte ich: »Was ist so schlecht daran, normal zu sein?« »Nichts. Aber es ist ganz anders als das, was du gekannt hast.« »Inwiefern anders?« Sie überlegte. Einmal flog ihre rechte Hand vom Bett auf, als wolle sie etwas aus der Luft greifen. Erst als die Hand wieder in ihren Schoß zurückgesunken war und sie noch ein bißchen länger nachgedacht hatte, sprach sie wieder. »Ein Mensch zu sein, ist ein tieferes, reicheres, viel traurigeres Erlebnis, als du weißt. Irgendwo tief in all ihren Seelen, ihren Genen, in ihren Zellen begreifen die Menschen, daß dies alles ist, was es gibt. Aber die meiste Zeit bekommen sie einfach nicht heraus, was dies ist. Dein Geist fühlt sich wohl, weil er weiß, wenn dieser Tanz beendet ist, gibt es einen neuen für dich. Und danach wieder einen.« »Und was ist es genau, was ich aufgeben würde?« »Deine Unsterblichkeit. Du würdest sie deinem Kind geben. Du gibst sie dem Menschen, den du genauso sehr liebst wie dich selbst. Ich habe sie Shumda gegeben. Sie wollten ihn hinrichten. Das konnte ich nicht zulassen, weil mir klar war, daß ich ihn mehr liebte als mein eigenes Leben.« »Und wie gibt man sie auf? Gibt es eine besondere Methode?« 281
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist immer anders, aber wenn der Augenblick da ist, wirst du instinktiv wissen, was zu tun ist. Es ist nichts, worüber du nachdenken müßtest.« »Was hast du getan, Frances?« Sie schloß die Augen. »Ich habe einen Hund angezündet.« »Warum?« »Das kann ich dir nicht sagen. Aber es war notwendig. Als mir klar wurde, daß es das war, was ich tun mußte, wußte ich auch, daß es die Veränderung herbeiführen würde. Und es funktionierte. Kaum hatte ich es getan, da erschien ein Anwalt und behauptete, er könne Shumda retten. Herr Doktor Pongratz. Diesen Namen werde ich nie vergessen. Er sagte, er habe in den Wiener Zeitungen von dem Fall gelesen, und er habe ein in der österreichischen Justiz wenig bekanntes Gesetz gefunden, das Shumda entlasten werde. Und das hat es auch getan.« »Aber hätte jemand anders dieses Gesetz nicht auch finden können?« Frances richtete sich auf und strich die Decke um sich herum glatt. »Nein, denn ein solches Gesetz existierte erst, als Pongratz es fand.« »Kann man seine Unsterblichkeit jedem schenken, oder muß es jemand sein, den man liebt?« »Es kann jeder sein. Sowie du begriffen hast, wer du bist und was du hast, kannst du selbst entscheiden, was du damit anfängst. Du kannst sie geben, wem du willst.« Wir saßen schweigend zwischen ihren Blumen und der Lautsprechermusik. Ich hatte so viele Fragen. »Kann ich das Baby auch bekommen, wenn ich bin, was ich bin? Ohne meine Unsterblichkeit aufzugeben?« 282
»Ja! Natürlich kannst du das. Aber dann wirst du es vernichten. Du wirst es lieben und umsorgen und alles tun, was in deiner Macht steht, um ihm ein wunderbares Leben zu geben. Aber am Ende wirst du es vernichten, weil du bist, was du bist. Dein Ego hat Vorrang vor allem andern. Und wie du bereits bemerkt hast, ist das nicht immer offenkundig. Du kannst deinen Instinkt nicht bekämpfen, so sehr du dich auch bemühst. Ebensogut könntest du dich gegen den Ozean stemmen. Was immer du deiner Tochter gibst, wirst du am Ende zurücknehmen, und zwar doppelt. Oft wirst du es nicht einmal merken, aber sie merkt es. Wie bei allen andern in deinem Leben wirst du Dinge zerstören, die für ihr Wohlergehen von fundamentaler Bedeutung sind. Du wirst ihre Träume zerstören, ihr Selbstwertgefühl sabotieren. Du wirst sie aussaugen. Wenn sie in deinem Alter ist, erzählt sie dann zynische Geschichten über ihre Mutter, das Biest. Am Ende wird sie immer sagen, daß sie dich natürlich liebt, aber je weniger sie von dir sieht, desto besser. Als Erwachsene wird sie glauben, was in den Frauenzeitschriften steht, und sie wird denken, daß sie alles versäumt. Sie wird zuviel Schmuck tragen, und ihre Stimme wird im Laufe der Jahre lauter werden, wenn sie merkt, daß ihr immer weniger Leute zuhören. Sieh dich um. Schau dir an, wie die Menschen funktionieren und miteinander interagieren. Du wirst sehen, daß es überall so geht, die ganze Zeit. Die Menschen verschlingen sich gegenseitig im Namen der Liebe, der Familie, des Vaterlandes. Lauter Vorwände – sie sind bloß hungrig und wollen Nahrung. Lies in ihren Gesichtern, ihren Zeitungen, lies, was auf ihren T-Shirts steht! ›Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem, den das einen Scheißdreck interessiert.‹ – ›Meine Eltern waren in London, und alles, was ich kriege, ist dieses lausige T283
Shirt.‹ – ›So viele Frauen, so wenig Zeit.‹ – ›Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, hat gewonnen.‹ Das soll komisch sein, witzig, postmodern, Miranda. Aber in Wahrheit sagen sie nur eines: Ich. Ich zuerst. Geh mir aus dem Weg.« »Vampire sind also überall?« »Überall. Sie haben nur keine Fangzähne, und sie schlafen nicht in Särgen.« »Was wird geschehen, wenn ich meiner Tochter Unsterblichkeit gebe? Wird sie ein glückliches Leben führen?« »Dafür gibt es keine Garantie. Sie wird ein Vampir werden. Aber du gibst ihr eine enorme Chance, denn sie hat zumindest alle diese Leben. In gewisser Weise ist das Glück. Nur wenige von unserer Art sind bereit gewesen, dieses Opfer zu bringen. Selbst wenn wir die Liebe unseres Lebens finden, weigern wir uns, dem andern unsere Unsterblichkeit zu geben.« Ich erzählte ihr von der Taxifahrt von Crane’s View herüber, und wie ich mein Leben auf der Leinwand im Drivein-Kino gesehen hatte. »Das machst du selbst mit dir. Es ist der unsterbliche Teil deiner selbst mit seinen unglaublichen Kräften. Der Teil, der James Stillman freilassen konnte. Der Teil, der letztes Mal, als du hier warst, draußen stand und hereinstarrte. Er weiß, daß du dich jetzt entscheiden mußt, und er befürchtet, du könntest die falsche Entscheidung treffen.« »Aber warum zeigt er mir diese Szene? Hugh ist tot. Daran kann ich nichts ändern.« »Ich weiß es nicht. Aber solche bizarren Dinge werden immer wieder geschehen, bis du dich entschieden hast. Deine magische Seite kann sehr überzeugend sein, glaube mir.« 284
»Frances, diese Musik macht mich wahnsinnig. Kannst du nicht unten anrufen und sie bitten, die abzuschalten?« Sie hob einen Finger, damit ich still war. Die pastellfarbene, ätherische Musik erfüllte das Zimmer. Saint-Saëns, Berlioz, Delius – jeder von ihnen hätte der Komponist sein können. Es war das perfekte Gegenstück zu den strahlenden, wirbelnden Massen der Blumen. Ich beobachtete ihr Gesicht. Es blieb die meiste Zeit ausdruckslos, aber manchmal zuckte es ein bißchen oder lächelte leise. »Sie erinnert mich an Dinge, die ich vergessen habe, und an das, was ich verlieren werde, wenn ich sterbe. ›Nur in der Hölle gibt es eine genaue Erinnerung.‹ Und so beginnt meine Fahrt in die Hölle, nehme ich an. Wir vergessen so viel im Laufe eines Lebens. So viele funkelnde Augenblicke und Geschichten. Wie können wir sie vergessen, Miranda? Warum lassen wir sie kampflos gehen? Sie erschaffen uns doch, sie vertiefen uns; sie definieren, wer wir sind. Aber wir erleben diese Augenblicke und vergessen sie dann. Wir verlegen sie wie einen Schlüsselbund. Wie ist es möglich, daß man mit seinem eigenen Leben so schlampig umgeht? Ehe du vorhin hereinkamst, habe ich mich zum ersten Mal seit fünfzig Jahren an einen Oktobernachmittag erinnert, den ich mit Shumda in Wien verbracht habe. Es war gleich nach unserer Ankunft dort; er hatte noch nicht angefangen aufzutreten. Wir fuhren mit der Straßenbahn bis zur letzten Haltestelle in Grinzing, und dann gingen wir durch die Weinberge zum Wienerwald und zum Cobenzl hinauf. Von dort oben hat man einen prachtvollen Blick über die ganze Stadt. Auf dem Heimweg gingen wir in ein Heurigenlokal und aßen Brathuhn und tranken jungen Weißwein. Shumda liebte das Reden. Fast nichts konnte ihn aufhalten, wenn er 285
einmal in Fahrt war. Aber mitten im Essen, er hatte gerade einen Bissen Huhn genommen, sah er etwas hinter mir und erstarrte regelrecht. Ich fuhr herum, um zu sehen, was los war, aber da saßen nur zwei unauffällige Männer an einem Tisch und tranken Wein. Shumda wischte sich die Hände sorgfältig mit einem Taschentuch ab, griff dann in seinen Rucksack und holte das Buch hervor, das er den ganzen Sommer über gelesen hatte. Es war Freuds Jenseits des Lustprinzips, das kürzlich erschienen war. Er fragte mich, wie er aussehe. Ich sagte: ›Prima, was ist denn los?‹ Er biß sich auf die Lippe und war offensichtlich wegen irgend etwas nervös. Dabei war Shumda nie nervös. Er war der selbstsicherste Mensch, den ich je gekannt habe. Er nahm das Buch, stand auf und ging quer durch den Heurigengarten zu den beiden Männern. Als er sich ihnen näherte, kam ein Chow-Chow unter ihrem Tisch hervor und starrte ihn an. Ofensichtlich wollte er die Männer beschützen, und einen Augenblick lang dachte ich, er würde Shumda beißen. Aber er war angeleint, und der eine der beiden Männer hielt ihn zurück. Shumda schaute erst den Hund und dann die Männer an. Er hielt das Buch hoch, aber statt zu sprechen, ließ er den Hund für sich reden. Und der sagte: ›Dr. Freud, Sie haben ein Meisterwerk geschrieben. Ich stehe in Ihrer Schuld.‹ Freud war nicht berühmt für seinen Humor, und er war verblüfft. Er räusperte sich umständlich, bedankte sich, betrachtete mißtrauisch seinen Hund und fragte Shumda schließlich, ob er Künstler sei. Shumda bejahte sehr bescheiden und lud ihn ein, in die Vorstellung zu kommen, wenn sie im Ronacher-Theater Premiere hätte. Freud bemühte sich, zu lächeln und freundlich zu sein, aber in Wirklichkeit wußte er nicht, was er tun sollte. Wir verließen den Heurigen vor den beiden. Als wir hinausgingen, hatten Freud und ich Blickkontakt. Wir ka286
men an ihrem Tisch vorbei, ich beugte mich über den großen Arzt, den ich nicht vom Mann im Mond hätte unterscheiden können, und sagte: ›Sie sollten wirklich in seine Show kommen. Er ist ein Genie.‹ Ich habe mich oft gefragt, ob er an dem Abend da war, als du abgestürzt bist.« »Du sagst, du vergißt alles, Frances. Aber es klingt, als ob du dich sehr gut erinnerst.« »Jetzt erinnere ich mich an das alles. Das hat die Musik bewirkt. Sie bringt mir sogar Freuds Geruch zurück, den ich wahrnahm, als ich mich über ihn beugte, um mit ihm zu sprechen. Das Gelb der Kastanien auf dem Boden im Garten dieses Heurigen. Sie fielen in stachligen Schalen von den Bäumen. Man schälte sie ab, und drinnen war eine glänzende braune Kastanie. Die Leute sammelten sie und verfütterten sie an die Tiere im Zoo von Schönbrunn.« »Erinnerst du dich gern an diese Dinge? Du klingst so traurig.« »Nun, es ist traurig, zu sehen, wie dein Haus niederbrennt. Wenn du nichts tun kannst, wenn du dastehen und zusehen mußt. Du erinnerst dich an die Dinge, die drinnen sind und die du verlierst. Es ist hart, aber es erinnert mich daran, wie reich mein Leben war. Gott, ich hatte ein gutes.« »Aber ich sehe doch dein Gesicht, Frances. Du erinnerst dich nicht nur an gute Dinge, nicht wahr?« Sie wollte nicht antworten. Ist es besser, sich an alles zu erinnern, was wir verloren haben? Zumal wenn wir wissen, daß es für immer dahin ist? Und was ist mit schlechten Erinnerungen? Mit schlechten Zeiten, schlechten Menschen, schlechten Entscheidungen, schlechten Plänen – sollten wir auch daran erinnert werden? 287
Das fand ich nicht, besonders nicht in Frances’ Fall. Im Erzählen selbst ihrer guten Erinnerungen, der FreudGeschichte und dergleichen, wehte ein Hauch von Melancholie und Verlust, der stank. Sogar in einem Zimmer, das voll war von den exotischsten Blumen. »Ich gehe jetzt. Ich fahre zurück nach Crane’s View.« Sie schloß die Augen und nickte. Sie wußte, daß ich keine andere Wahl hatte. »Wenn du heute abend von hier fortgehst, kannst du erst zurückkommen, wenn du dich entschieden hast. Du wirst keinen Schutz haben.« »Ich will nicht beschützt werden.« Ich beugte mich über die alte Frau und küßte sie hoch auf die Stirn. Sie roch nach Talkumpuder. »Ich danke dir für alles, Frances. Trotz allem, was passiert ist, liebe ich dich immer noch sehr.« »Ich dich auch. Ich habe nur eins wirklich bereut, nämlich daß ich kein Kind hatte. Keine Tochter. Seit ich dich kenne, weiß ich, wie es gewesen wäre, und jetzt bereue ich es noch mehr.« Ich berührte ihre Wange und ging. Ich trat in den Flur hinaus und schloß die Tür hinter mir. Nach zwei Schritten fing ich so heftig an zu zittern, daß ich nicht weiterkonnte. Ich war noch nicht bereit. Ich hatte geglaubt, ich sei es, aber ich hatte mich geirrt. Noch fünf Minuten mit Frances. Noch ein paar Fragen. Ich brauchte nur noch fünf Minuten mit meiner Freundin. Dann wäre alles gut, und ich könnte weitergehen zu dem, was als nächstes käme. Das würde sie verstehen. Sie würde wissen, wie man mein Zittern beheben und die Dämonen zurücktreiben könnte. Ich kehrte zu ihrer Tür zurück und öffnete. Die Musik spielte. Frances saß da, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte so sehr, daß sie am ganzen Körper bebte. 288
»O Gott, Frances!« Sie blickte auf. Ihr Gesicht war rot, und ihre Wangen glänzten von Tränen. Sie winkte mir, zu gehen. Ich wußte nicht, wie ich ihr helfen sollte, wie ich meine Freundin vor einem so hoffnungslosen und entschiedenen Schicksal retten konnte. Aber ich konnte die Ärztin holen. Vielleicht hatte die Ärztin etwas, womit man sie besänftigen und ihr endlich Ruhe schenken konnte. Dr. Zabalino war unten in der Halle und sprach mit der Schwester am Empfang. Mein Anblick, wie ich ihr entgegenrannte, mußte ihr alles gesagt haben. Ich wollte erklären, was passiert war, aber ich hatte noch keine drei Sätze gesprochen, als sie schon zum Aufzug eilte. Ich wollte ihr nachlaufen, aber sie blieb stehen und schlug mir mit der flachen Hand vor die Brust. »Nein! Wenn Sie hierbleiben und beschützt werden wollen, rühren Sie sich nicht, bis ich zurückkomme. Aber Sie können nicht mitgehen! Denken Sie an Frances. Etwas von dem, was Sie gesagt haben, hat sie offensichtlich aufgeregt. Sie ist sehr schwach, und das ist schlecht für sie. Sie darf Sie jetzt nicht wiedersehen.« Sie nahm ihre Hand weg, hielt aber beide Hände gespreizt neben sich, als sei sie bereit, mir noch einen Stoß zu geben, wenn ich versuchen sollte, sie zu begleiten. Sie ging zum Aufzug, trat ein, drehte sich um und sah mich an. Als die Tür sich gleitend schloß, sagte sie: »Gehen Sie nirgendwohin. Bleiben Sie hier, und Sie sind in Sicherheit.« Über der Tür leuchteten die Nummern der Stockwerke auf. Als das Licht bei Frances stoppte, wandte ich mich ab und ging zu der Empfangsschwester. Diesmal ignorierte sie mich nicht und las auch keine Gedichte. Ihre Augen waren hell und wachsam wie die eines kleinen Tieres, das 289
soeben bemerkt hat, daß ein sehr viel größeres ganz in der Nähe ist. »Was geschieht jetzt?« »Was meinen Sie?« Ich schlug mit beiden Händen so laut auf ihre Theke, daß sie zusammenzuckte. »Verarschen Sie mich nicht! Was geschieht jetzt?« »Normalerweise können die Ärzte die Sache in Ordnung bringen. Dr. Zabalino ist sehr gut. Sie wird wissen, wie man Ihrer Freundin helfen kann. Aber es wird schwerer sein, Ihnen zu helfen, weil Sie sich noch nicht entschieden haben. Das ist das Schlimmste. Sich zu entscheiden, weil so viele Gründe dafür und dagegen sprechen. Deshalb sollten Sie hierbleiben, bis Sie sich entschieden haben. Fieberglas ist der sicherste Ort für Sie. Draußen ist es sehr, sehr gefährlich. Da draußen sind Dinge …« »Sagen Sie der Ärztin, daß ich gegangen bin.« »Das können Sie nicht!« »Ich will hier nicht mehr sein. Ich muß jetzt … Sagen Sie ihr einfach, daß ich gegangen bin.« »Aber …« Wieder hallte das Klappern meiner Absätze auf dem Steinboden durch das stille Haus, als ich zur Tür ging. Durch ein Fenster sah ich Erik Peterson in seinem Taxi. Das Licht von seinem tragbaren Fernseher flackerte auf seinem Gesicht. Ich stieß die schwere Tür auf. Die Luft draußen war kalt und roch nach Kiefern und Stein. Ich hatte nicht das Verlangen, in die »Sicherheit« des Gebäudes zurückzukehren. »Erik? Fahren wir nach Hause.« Er blickte auf. »Sind Sie fertig?« »Ja. Was dagegen, wenn ich mich neben Sie setze?« 290
»Überhaupt nicht. Hopsen Sie rein.« Er langte über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf. Die Deckenbeleuchtung glomm mattgelb auf. Ich ging vorn um den Wagen herum und stieg ein, ließ aber die Tür offen. Ich mußte einen Augenblick lang nur dasitzen, bevor mein Leben weitergehen könnte. »Wie war’s denn da drinnen, Miranda? Wie geht’s Ihrer Freundin?« »Sie ist krank. Ist das Ihre Familie?« Auf dem Armaturenbrett klemmte ein kleiner Metallrahmen mit drei ovalen Fotos. Ein Junge, ein Mädchen, eine Frau. Das Mädchen trug einen Cheerleader-Pulli und flirtete mit der Kamera. Die hübsche Frau starrte in die Linse, ausdruckslos. Der Junge … »Ja. Das ist meine Frau, Nina, unsere Tochter Nelly, und Isaac.« »Er sieht aus wie Sie.« »Isaac ist vor zwei Jahren an Meningitis gestorben. Eines Abends fühlte er sich nicht wohl und ging ins Bett. Am nächsten Morgen war er hin.« Er winkte mir, ich solle die Tür schließen. Ich zögerte, denn ich wollte in dem trüben Licht einen zweiten, genaueren Blick auf Isaac werfen. Erik ließ den Motor an. Der strenge Geruch von Auspuffgasen erfüllte die Luft. »Das tut mir leid. Wie war er denn?« »Interessant, daß Sie danach fragen. Die meisten Leute sagen einfach, es tut ihnen leid, wenn sie davon hören. Es ist ihnen peinlich, Fragen zu stellen. Oder unbehaglich. Wie er war? Er war eine Pistole. Man konnte den Kleinen nicht bändigen. Er wachte jeden Morgen um fünf Uhr auf und lief mit Vollgas, bis man ihn abends ins Bett stopfte und ihm die Augen zudrückte. Ich schätze, er war hyperaktiv, aber meine Frau meinte, er wäre bloß zu interessiert an allem, um sich hinzusetzen. Er fehlt uns.« 291
Ich zog die Tür zu, und wir fuhren weg von Fieberglas. Das Knirschen des Kieses unter den Autoreifen klang sehr laut. Als wir auf die Straße hinausfuhren, schaute ich auf meine Hände in meinem Schoß und sah, daß sie beide zu Fäusten geballt waren. Ich hatte Angst, etwas könnte uns stoppen oder zurückhalten, aber das war Egozentrik oder Paranoia. Nichts hielt uns auf, nichts erwartete uns außer der Nacht vor den Scheinwerfern. »Einmal, als Isaac noch klein war, ich meine, richtig klein, da kam ich ins Bad, und er stand barfuß vor der Toilette. Die Brille war hochgeklappt, und ein Fuß baumelte über der Schüssel. Ich fragte ihn, was er da machte, denn bei dem Bengel war alles möglich. Er sagte, er hätte mit sich selber gewettet, daß er den Fuß nicht in die Toilette stecken könnte. Aus irgendeinem Grund hatte er Angst davor. Da stand er also jetzt und forderte sich selbst heraus, das zu tun, wovor er die größte Angst hatte.« »Warum hatte er Angst davor? War sie denn sauber gespült?« »Natürlich.« Peterson nahm eine Hand vom Lenkrad und machte eine wegwerfende Geste. »Aber Sie wissen ja, wie das ist, wenn Sie klein sind: Da haben Sie andere Monster als die Erwachsenen.« Ich rutschte nach vorn, um dem Foto so nah wie möglich zu kommen. Der Junge sah wirklich aus wie sein Vater, aber selbst auf dem Foto war eine Wildheit in seinem Blick, die verriet, daß er wirklich eine Pistole gewesen war. Wir fuhren auf demselben Weg nach Crane’s View zurück, auf dem wir gekommen waren. Als wir an dem Autokino vorbeikamen, fürchtete ich, daß sich auf der Riesenleinwand wieder etwas abspielen würde, aber sie war leer. Erik erzählte weiter von seinem Sohn. Ich stellte Fra292
gen, um das Gespräch in Gang zu halten. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was ich tun sollte, denn ich wußte, daß mein ganzes Leben von dieser Entscheidung abhinge, wenn wir zu Hause wären. »Stört’s Sie, wenn ich rauche?« fragte er. »Nein. Gott, Zigaretten! Ich hätte auch gern eine.« Er zog eine Packung Marlboro hinter der Sonnenblende hervor und gab sie mir. »Ich glaube, da sind noch zwei Stück drin. Gucken Sie mal nach.« Ich ließ sie herausrutschen. Er drückte den Zigarettenanzünder am Armaturenbrett ein. »All die Sachen, die wir nicht mehr tun sollen, hm? Wissen Sie, was ich sage? Zigaretten sind guuut!« Der Anzünder sprang heraus, und er reichte ihn mir herüber. Zum ersten Mal seit Jahren zündete ich mir eine an und tat einen tiefen Zug. Der Rauch war hart und rauh in meiner Kehle, aber köstlich. Wir saßen in angenehmem Schweigen da, rauchten und schauten zu, wie die Dinge vorüberzogen. »Ein Stück weiter gibt’s einen Supermarkt. Hätten Sie was dagegen, wenn ich da kurz anhalte, um neue Zigaretten und ein paar andere Sachen zu kaufen? Ich hab meiner Frau gesagt, ich bringe was mit, und sie wird ziemlich sauer sein, wenn ich es nicht tue.« »Aber bitte, natürlich können Sie anhalten.« Er seufzte. »Das ist eine der schlechten Sachen, die passiert sind, seit Isaac tot ist. Nina kann sich über Lappalien furchtbar aufregen. Früher war sie ruhig wie ein Sommertag, aber jetzt hat sie Schwierigkeiten, wenn die kleinste Kleinigkeit schiefgeht. Ich kann es ihr nicht vorwerfen. Ich schätze, jeder vermißt einen Menschen auf seine Art. Ich selber, ich denke an all das, was ich mit dem Jungen nie werde tun können. Mit ihm zum Baseball gehen. Se293
hen, wie er sein Examen macht. Manchmal, wenn ich allein zu Hause bin, gehe ich rauf in sein Zimmer und setze mich aufs Bett. Ich rede auch mit ihm, wissen Sie. Erzähle ihm, was in der Familie so los ist, und wie sehr ich ihn vermisse. Ich weiß, daß das Blödsinn ist, aber ich denke immer, in diesem Zimmer ist er mir nah. Nina hat es nach seinem Tod komplett ausgeräumt, und so ist es jetzt nur ’ne kleine, leere Kammer, aber ich kann mir nicht helfen: Ich denke mir, er ist manchmal da, und dann kann er mich vielleicht hören.« »Was vermissen Sie am meisten, Erik? Was vermissen Sie an ihm am meisten?« Eine Frage, die ich mir seit Hughs Tod immer wieder stellte. »Die Umarmungen. Der Kleine war ein Umarmer. Er packte dich wie eine Schraubzwinge und drückte zu. Nicht viele Menschen umarmen dich richtig.« Er lächelte traurig. Es sah aus, als liege sein ganzes Leben in diesem einen Lächeln. »Es gibt auch nicht viele Menschen im Leben, die dich wirklich lieben.« Ich spürte, wie mir ein Kloß in die Kehle stieg, und ich mußte wegschauen. »Entschuldigung, Miranda. Ich rede einfach so. Da ist der Supermarkt. Ich bin in einer Minute wieder da.« Wir fuhren langsamer und bogen dann auf einen großen Parkplatz ein. Das Geschäft war hell erleuchtet; es glühte, und die lebhaften Farben der Waren in den Regalen strahlten heraus in die Nacht. Ich sah Erik nach, als er hineinging. Er blieb an der Kassentheke stehen und sprach mit dem Mann dahinter, und einen Augenblick später lachten sie beide. Ich schaute mich auf dem Parkplatz um. Nur ein weiteres Auto parkte dort, ein alter Pickup, der aussah, als sei er in den Dritten Weltkrieg und zurück gefahren. Ich drehte den Rückspiegel so, daß ich mich selbst sehen 294
konnte, und stellte überrascht fest, daß mein Kopf noch auf den Schultern saß und ich keine X-förmigen Augen hatte wie eine Cartoonfigur, die K.O. geschlagen worden war. Ich sah etwas aus dem Augenwinkel. Von der anderen Seite des Parkplatzes kam ein Junge auf einem Fahrrad langsam schlenkernd auf mich zugefahren. Mein erster Gedanke war: Was tut der so spät hier draußen? Aber als er näher kam, gefroren meine Gedanken. Es war Erik Petersons Sohn Isaac. Er trug eine orange-blaue Windjacke und ausgebleichte Jeans. Er radelte in schrägen Kreisen auf dem Platz herum und kam immer näher. Ich wußte, wer er war, aber weil ich es nicht glauben konnte, schaute ich mir noch einmal das Foto am Armaturenbrett an. Er war es. Erik war im Supermarkt hinter den Regalen verschwunden. Draußen, keine zehn Schritte von mir entfernt, fuhr sein toter Sohn auf einem Fahrrad herum. Ich machte die Tür auf und drehte mich zur Seite, um auszusteigen. Der Junge hielt abrupt an und stellte die Füße auf den Boden, um nicht umzukippen. Er sah mich an und schüttelte den Kopf. Nicht bewegen. Ich blieb also, wo ich war, und der Junge kam langsam herangerollt. »Das ist mein Dad da drin.« Seine Stimme klang hoch und angenehm. Er lispelte. »Ja.« »Er ist nett, nicht?« »Er ist … Er hat dich sehr lieb.« »Ich weiß. Er redet dauernd mit mir. Aber ich kann nicht antworten. Es ist nicht erlaubt.« »Darf ich ihm sagen, daß du hier bist?« »Nein. Er könnte mich auch gar nicht sehen. Nur Sie. Erinnern Sie sich, daß Sie mich schon mal gesehen haben? 295
Als Sie in die andere Richtung gefahren sind, habe ich Ihnen ein Wettrennen geliefert. Ich hab ziemlich lange mitgehalten. Ich meine, ich bin schnell für mein Alter.« Er war so überzeugt von sich, dieser Zehnjährige mit der großen Klappe, der nachts mit seinem Rad spazierenfuhr und guckte, ob jemand ihm zusah. Es drückte mir das Herz ab. »Kennst du Declan?« fragte ich. »Ja.« Ein grüner Porsche kam grollend von der Straße auf den Parkplatz und hielt ein paar Schritte weit neben uns. Eine Frau mit einem breitkrempigen Männerhut stieg aus. Sie blickte starr geradeaus und ging in den Laden. »Frauen sind die Steine, mit denen man ein Haus baut. Männer sind die Holzstücke, mit denen man ein Feuer anzündet und das Haus warm hält.« Der durchdringende Lärm des Wagens hatte mich abgelenkt, und ich war nicht sicher, daß ich ihn verstanden hatte. »Wie bitte?« »Hat Declans Vater gesagt.« Ich erstarrte. »Den hast du gesehen?« »Na klar. Er und Declan sind dauernd zusammen. Das hat er heute gesagt, als Declan ihn gefragt hat, was der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist. Sie haben sich darüber unterhalten, weshalb Declan nie zur Welt gekommen ist.« »Bis dann!« Erik kam mit einer braunen Tüte aus dem Supermarkt und schaute sich um. Der Junge schob sein Fahrrad rückwärts und kam bis auf einen halben Meter an seinen Vater heran. Er schaute den Mann an, streckte die Hand aus und tat, als gebe er ihm einen Klaps auf den Arm. 296
Erik blieb stehen. Einen Augenblick lang war ich sicher, daß er wußte, wer da war. Isaac beobachtete ihn mit ruhigen Augen. Erik tat einen Schritt nach links, blieb stehen, tat einen Schritt nach rechts. Er tanzte! Er drehte sich um sich selbst. »Hören Sie das, Miranda? Aus dem Supermarkt? Martha and the Vandellas. Dancing in the Streets.« Er wiegte sich weiter hin und her, als er auf das Taxi zukam. »Einer meiner Lieblingssongs. Isaac hat ihn auch immer gern gehört. Ich hör’ ihn jetzt dauernd. Komisch. Öfter als früher, glaube ich.« Er öffnete die hintere Wagentür und legte die Einkaufstüte auf den Sitz. »Können wir weiterfahren?« Der Junge nickte mir zu, also sagte ich ja. Sein Vater stieg ein und ließ den Motor an. »Ich hab alles. Auch noch ein paar Zigaretten, wenn Sie noch eine möchten.« »Erik, wenn Sie könnten, was würden Sie zu Isaac sagen, wenn er jetzt hier wäre?« Ohne Zögern sagte er: »Ich würde sagen, ich lebe, aber ich bin nicht lebendig ohne dich.« Eins von Hughs Lieblingszitaten stammte von Augustinus: »Flüstere in meinem Herzen, sag mir, daß Du da bist.« Ich nehme an, es hat etwas mit Gott zu tun, und mit seinem Widerstreben, dem Menschen sein Gesicht zu zeigen. Aber im Licht dessen, was geschehen war, deutete ich es jetzt völlig anders. Ich war sicher, daß der Satz »Frauen sind die Steine, mit denen man ein Haus baut. Männer sind die Holzstücke …« für mich gedacht war, nicht für Declan. Ich war sicher, daß Hugh in meinem Herzen flüsterte und mir sagte, was ich tun sollte. Ich war inzwischen schon zum selben Ergebnis gekommen, aber seine Worte bestärkten mich noch in meiner Entschlossenheit. 297
Wir kamen in Crane’s View an, und Erik setzte mich ab. Als ich ins Haus ging, tat ich es ohne Angst oder Aufregung. Es gibt eine Ruhe, die mit der Kapitulation eintritt. Einen Frieden, der einen tatsächlich wiederbelebt, wenn man weiß, daß es keinen anderen Weg gibt. Ich wußte jetzt, was zu tun war, und was immer danach mit mir passieren mochte, das Kind würde in Sicherheit sein. Nur darauf kam es an – das Kind würde in Sicherheit sein. Ich würde ihm geben, was ich hatte, willig! Das Haus war makellos; man sah keine Spur von dem, was am Tag dort geschehen war. Ich ging in die Küche und dachte daran, daß alles angefangen hatte, als ich mir etwas zu essen gemacht hatte – wie viele Stunden, Tage, Leben war das her? Daß ich den Fernseher eingeschaltet und Charlotte, Declan und Hugh am Swimmingpool gesehen hatte? Na und? Irgendwo mußte es ja anfangen, und da war es eben geschehen. Also weiter. Jetzt gab es anderes zu bedenken. Der Hunger drohte mir tadelnd mit dem Finger, und ich wußte, ich würde etwas essen müssen, bevor ich anfing. Als ich die Kühlschranktür öffnete, begrüßte mich ein unglaubliches Sortiment der außergewöhnlichsten und exotischsten Lebensmittel: iranischer Kaviar, eine Dose Gebäck aus einem Café namens Demel in Wien, Kiebitzeier, tunesische Kapern, Oliven vom Berg Athos, frischer schottischer Lachs, Lemon Pickle aus Bombay und vieles mehr. Nichts davon hatte ich gekauft, und das meiste von dem, was hier auf den Regalen lag, hatte ich noch nicht einmal gekostet, aber es überraschte mich nicht. Die Zeit der Überraschungen war vorbei. Ich beschnupperte und probierte eine Menge, bevor ich ein frisches Baguette aussuchte, dazu papierdünn geschnittenen Prosciutto und den delikatesten Mozzarella, den ich je gegessen hatte. Das Sandwich war köstlich, und ich aß es schnell auf. 298
Eine Flasche Lambrusco, einer von Hughs Lieblingsweinen, war auch da. Ich öffnete sie und goß ein wenig in ein kleines Glas, in dem einmal Chipped Beef gewesen war. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich wollte einen Toast ausbringen. Das tut man schließlich am Ende des Banketts, nicht wahr? Man trinkt auf den Gastgeber, das glückliche Paar, das Geburtstagskind oder das glorreiche Vaterland. Aber worauf konnte ich trinken, jetzt, in der letzten Nacht irgendeines grotesken Abschnitts in meinem Dasein? Auf meine früheren Leben? Also, auf all die guten und schlechten Zeiten, die ich fast vergessen und aus denen ich nichts gelernt hatte. Auf all die Menschen, die ich gekannt und verletzt hatte – sorry, Leute, ich kann mich an keinen von euch erinnern. Oder wie wär’s damit: Auf mich – wie viele wir auch immer gewesen sein mögen. Hugh hatte mir einen irischen Trinkspruch beigebracht: Die uns lieben, mögen uns lieben, Und die uns nicht lieben, Deren Herz möge Gott biegen. Und biegt er ihnen nicht das Herz, So möge er ihnen den Knöchel biegen, Damit wir sie am Hinken erkennen. Dann fiel mir ein Toast ein, der angemessen war. Ich hob mein Glas und sagte ins leere Zimmer: »Auf dich und die Leben, die du führst. Ich hoffe, du findest den Heimweg schneller als ich.« Langsam trank ich das Glas leer. Auf dem Boden in Hughs Arbeitszimmer stand ein Karton mit Werkzeugen und Chemikalien, die er zum Restaurieren benutzte. Ich durchsuchte ihn, nahm die vielen verschiedenen Flaschen heraus, las die Etiketten und wählte 299
diejenigen aus, die Alkohol oder andere entflammbare Substanzen enthielten. Unser Haus war aus Holz. Es würde rasch brennen. Ich ging im Erdgeschoß umher und schüttete die stark riechenden Chemikalien über alles. Über Hughs neuen Sessel, eine Couch, Bücherkisten, Holzfußböden. Ich goß und goß und sah zu, wie die Flüssigkeiten neuen Stoff befleckten, Pfützen auf den Dielen bildeten und sich in einen Sky-King-Aschenbecher aus türkisblauem Plastik fraßen, den ich Hugh geschenkt hatte. Als sämtliche Flaschen und Dosen leer waren, blieb ich im Flur stehen und roch den Gestank der tödlichen Chemikalien, die in der Welt, die mir wichtig gewesen war, alles bespritzt hatten. Ich ging zu einem Fenster und schaute hinaus auf die Veranda. Draußen fuhr ein Auto vorbei. Ein weißes Auto. Es erinnerte mich an einen Schimmel. Helden ritten auf Schimmeln, heldenhafte Ritter. Das wiederum erinnerte mich an Hughs Geschichte von dem unauffällig aussehenden Ritter der sich so sehr in die Prinzessin verliebte, daß er bereit war, alles für sie zu opfern. Ich dachte an den letzten Satz seiner unvollendeten Geschichte: »Das Leben ist voller Überraschungen, aber wenn du davon überzeugt bist, daß sie alle böse sein werden, was hat es dann noch für einen Sinn, weiterzumachen?« Ich wollte keine Überraschungen mehr. Ich traute ihnen nicht, und ich glaubte auch nicht, daß ich in der Lage sein würde, etwas zum Besseren zu ändern, wenn ich weiter lebte. Ich würde meine Unsterblichkeit dem Kind überlassen, und dann würde ich es beenden. Ich schaute immer noch aus dem Fenster und empfand Überschwang und Erleichterung. Die Welt war mein, weil ich nicht mehr in ihr sein wollte. Ich konnte es heute abend tun, morgen oder nächste Woche. Es kam nicht darauf an, wann, denn die Entscheidung war getroffen, und 300
sie war endgültig. Nein, es mußte heute nacht geschehen. Ich wollte kein Morgen. Ich machte mich auf die Suche nach Streichhölzern. Wie hieß noch dieses berühmte Kinderbuch? Gute Nacht, Mond. Gute Nacht, Hugh. Gute Nacht, Frances Hatch, gute Nacht, Crane’s View, gute Nacht, Leben. In Gedanken sang ich diese Zeilen, während ich die Streichhölzer suchte. Gute Nacht, Erik Peterson und Isaac. Gute Nacht, schöne Bücher und lange Abendessen mit einem Geliebten. Gute Nacht, dies und das und dies und das, während ich durch das Haus wanderte. Die Liste wurde immer länger, derweil ich Schubladen und Schränke öffnete und etwas suchte, womit ich die Welt verbrennen könnte, in der es diese Dinge gab. Ich war allmählich frustriert, als mir einfiel, daß ich in Hughs Chemikalienkarton ein Streichholzheftchen gesehen hatte. Ein halbleeres Heftchen mit der grünen Aufschrift Charlie’s Pizza. Das war das Lokal, wo wir an unserem ersten Tag mit Frances in Crane’s View zu Mittag gegessen hatten. Als ich Declan das erste Mal gesehen hatte. Als wir Frannie McCabe das erste Mal begegnet waren. Das erste Mal. Das erste Mal und jetzt das letzte Mal. Ich würde Declan oder Frannie nie wiedersehen. Nie mehr dies und das sehen. Einen gefleckten Hund oder eine marmeladengelbe Katze. Gute Nacht, Leben. Ich fand die Streichhölzer, richtete mich auf und fragte mich nur, wo ich es tun sollte. Im Wohnzimmer. Setz dich auf das Sofa, zünde das Feuer dort an, und Schluß. Der Weg von Hughs Zimmer zum Wohnzimmer schien fünf Meilen weit zu sein. Mir war, als ginge ich unter Wasser. Es war nicht schlecht oder beunruhigend, aber alles geschah in Zeitlupe und unglaublich detailliert. Ich sah alles um mich herum mit extremer Klarheit. Lag es daran, daß ich all diese Dinge jetzt zum letzten Mal sehen würde? 301
Gute Nacht, Diele mit deinem wunderschönen Holzboden. Hugh war genau hier auf die Knie gefallen, hatte mit der Hand hin und her über diesen Boden gestrichen und mit dem glücklichsten Lächeln zu mir aufgeschaut. »Das gehört jetzt alles uns«, sagte er, und seine Stimme war von Staunen erfüllt. Gute Nacht, Treppe. Ich blieb stehen, schaute hinauf und dachte an den Tag, an dem wir uns dort oben auf dem Absatz geliebt hatten. Ich wünschte, ich könnte Hugh in dieser letzten Luft noch riechen. Würde ich ihn sehen, da, wo ich jetzt hinging? Wie wundervoll, ihn ein letztes Mal zu riechen. Ich schaute die Treppe hinauf und erinnerte mich, wie er auf mir gelegen hatte, an sein Gewicht, das weiche Gefühl seiner Lippen an meinem Hals, seine Daumen, die meine Hände niedergehalten hatten. Er hatte an diesem Tag einen Schlüsselbund in der Jeanstasche gehabt. Wenn er sich bewegte, bohrten sie sich in meine Hüfte. Ich bat ihn, sie herauszunehmen. Er warf sie beiseite. Sie klirrten, als sie auf den Boden trafen und weiterrutschten. Gute Nacht, Schlüssel. Im Wohnzimmer starrte ich einen Moment lang in den leeren Kamin und schob dann die Hand in die Tasche. Es war da. Die Zeit war gekommen, also zog ich es hervor. Weil so viel Verrücktes geschehen war, als ich es auf Hughs stummes Drängen hin im Keller aufgehoben hatte, hatte ich das Stück Holz, das ich jetzt in der Hand hielt, noch nicht aufmerksam angeschaut. Ich hatte es dann mehr oder weniger vergessen, bis ich im Foyer von Fieberglas gestanden und mit der Schwester über Frances gesprochen hatte. Was da geschah, kann ich nur damit beschreiben, daß das Holz mich ankam, wie einen eine gute Idee oder wirkliche Angst ankommen kann. Auf einmal, wie durch jede Pore meines Körpers. Ja, es war die ganze Zeit in meiner Tasche gewesen, aber plötzlich wurde mir seine Anwesenheit wieder bewußt. Vielleicht fiel es mir 302
aber auch nur ein, und dabei begriff ich seine wahre Bedeutung und wußte, was ich damit tun sollte. Ein kleines Stück Holz, vielleicht zwanzig Zentimeter lang. Auf drei Seiten dunkel, hell auf der vierten. Das war die Seite, an der es von der Wiege abgebrochen war, als McCabe/ Shumda sie gegen die Wand geschleudert hatte. Das Fragment einer geschnitzten Figur war darauf zu sehen, aber das Holz war so abgesplittert, daß man unmöglich erkennen konnte, was es darstellte. Die hintere Hälfte eines rennenden Tiers. Ein Reh vielleicht, oder ein sagenhaftes Geschöpf, das zum Rest der extravaganten, phantastischen Welt paßte, die in diese wunderbare alte Wiege geschnitzt gewesen war. Die Wiege unseres Kindes, unseres kleinen Mädchens. Ich dachte an sie, wie ich sie gesehen hatte, einmal und nie wieder. Dann dachte ich an Declan und an das, was sein Vater gesagt hatte. Und ich wußte, was ich zu tun hatte, und es war richtig, aber wenn ich auf irgendeine Weise überleben sollte, was jetzt geschehen würde, dann würde ich es in Ewigkeit bereuen. Ich schaute auf das Holz in meiner Hand, und weil ich das Gefühl hatte, keine andere Wahl zu haben, sagte ich: »Es tut mir leid.« Ich hatte zwei Holzstücke zum Verbrennen. Zwei Stücke für meine Ehe der Hölzer: das in meiner Hand, das von der Wiege stammte, und das aus dem Central Park, das ich an dem Tag aufgehoben hatte, als wir wußten, daß es geschehen würde. Zwei Hölzer waren genug für eine Ehe. Mehr wären besser gewesen. Wie gern hätte ich ein riesiges Bündel davon gehabt, um ein Freudenfeuer anzuzünden, so groß wie die Welt, wenn ich achtzig wäre, am zufriedenen Ende eines wunderbaren Lebens. Aber ich hatte nur diese beiden, und sie mußten genügen. Sie waren wichtig – so wichtig wie nur irgend etwas. Eins symbolisierte Hugh, und dieses hier unser Kind. Wo im Haus lag das Hugh-Holz? fragte ich mich, aber dann wurde mir 303
klar, daß es egal war, denn bald würde es auch dahin sein. Ich wußte, ohne zu wissen, woher: Wenn ich dieses Stück Holz anzündete, würde es in Flammen aufgehen, als wäre es aus reinem Benzin. Ich brach ein Streichholz aus dem Heftchen, hielt es an die Reibfläche und drehte knapp die Hand. Eine Flamme schnappte auf, loderte und fauchte eine Sekunde lang, bevor sie zahm auf die Größe eines Fingernagels schrumpfte. Das brennende Streichholz in einer Hand, das Stück Holz in der anderen. Gute Nacht, Leben. Ich blickte ein letztes Mal auf. Am Fenster waren Gesichter. Viele, viele, viele Gesichter. Einige waren an die Scheibe gepreßt, was ihnen verzerrte Züge verlieh – krumme Nasen, komische Lippen. Andere verharrten im Hintergrund und warteten, bis sie an der Reihe waren, so nah wie möglich heranzukommen, an das Fenster, an dieses Zimmer, an mich. Und ich wußte, alle diese Gesichter waren ich – all die Ichs aus den vergangenen Leben, die gekommen waren, um dies geschehen zu sehen. Um das Ende ihrer Linie zu erleben, Endstation, alles aussteigen. »Lebt wohl.« Ruhig hielt ich die Flamme an das Stück Holz, und die Welt explodierte. Ich hörte den Knall und sah einen blendenden Lichtblitz. Dann äußerste Stille. Ich weiß nicht, wie lange sie dauerte. Ich war woanders, bis ich wieder im Wohnzimmer war; ich saß allein auf der Couch und hielt die leeren Hände in die Höhe, grenzenlos überrascht. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, wo ich war, und natürlich glaubte ich es nicht. Alles war so still. Meine Augen gewöhnten sich wieder an das normale Licht im Zimmer, an die Farben und die Dinge ringsum, und alles war genauso wie vorher. Ich ließ die Hände auf die Couch sinken und fühlte den rauhen Wollstoff unter meinen Handflächen. Ich drehte 304
den Kopf langsam hin und her und betrachtete das Bild, das sich mir bot. Nichts hatte sich verändert. Frances’ Haus, unsere Besitztümer, wieder daheim. Sogar der Geruch war der gleiche. Nein, da war noch etwas. Hugh. Hughs Rasierwasser hing in der Luft. Dann fühlte ich Hände auf meinen Schultern und wußte sofort, daß es seine waren. Hugh war hier. Die Hände hoben sich. Hugh kam von hinten um die Couch herum und blieb vor mir stehen. »Es ist alles in Ordnung, Miranda. Alles in Ordnung mit dir.« Ich starrte ihn an und konnte nur wiederholen, was er gesagt hatte, denn es stimmte. »Es ist alles in Ordnung mit mir.« Wir schauten uns an, und ich hatte nichts zu sagen. Ich begriff nichts, aber es war alles in Ordnung mit mir. »Du darfst dich nicht umbringen. Als du das Holz verbrannt hast, konntest du ihnen nur zurückgeben, was ihnen gehört. Jetzt hast du den Rest deines Lebens. Der gehört dir.« Ich sah ihn an. Ich nickte. In Ordnung. Alles war in Ordnung. »Danke, Miranda. Du hast etwas Unglaubliches getan.« Ich schaute ihn an, und ich war leer wie der Tod, leer wie ein altes Herz, das nur noch wartet. Irgendwie, aus irgendeinem Quell, von dem ich nicht wußte, daß ich ihn in mir hatte, brachte ich hervor: »Was jetzt?« »Jetzt lebst du, Sweetheart.« Er lächelte, und es war das traurigste Lächeln, das ich je gesehen hatte. »Gut.« Er griff in die Jackentasche und holte etwas heraus. Er reichte es mir. Noch ein Stück Holz. Ein kleines, längliches, silbriges Stück, das aussah wie Treibholz. Holz, das 305
eintausend Jahre lang in irgendeiner unvorstellbaren See geschwommen war. Ich wendete es in der Hand hin und her und untersuchte es sorgfältig. Formlos, silbrig, weich, alt. Ja, es mußte Treibholz sein. Als ich wieder aufblickte, war Hugh fort. Es gab vor Jahren einen hübschen Song im Radio. Sie spielten ihn zu oft, aber das störte mich nicht, denn er leistete mir Gesellschaft, und dafür bin ich immer dankbar. Oft summte ich ihn unversehens, ohne es zu merken. Der Titel war: How Do I Live Without You? Ich habe inzwischen begriffen, daß hier eine wesentliche Lektion zu lernen ist: Um zu überleben, mußt du lernen, ohne alles zu leben. Der Optimismus stirbt zuerst, dann die Liebe, und schließlich die Hoffnung. Trotzdem mußt du weitermachen. Solltest du mich fragen, warum, würde ich sagen, selbst ohne diese fundamentalen Dinge, die großen Dinge, die Dinge, die das Blut heiß durch die Adern strömen lassen, gibt es immer noch genug an einem Tag, in einem Leben, um es kostbar, wichtig, manchmal sogar erfüllend werden zu lassen. How Do I Live Without You? Wie lebe ich ohne dich? Ich habe dich ins Museum meines Herzens gestellt, und ich gehe oft hin und nehme, ehe es schließt, so viel in mich auf, wie ich ertragen kann. Was kann ich dir noch erzählen, was du wissen mußt? Über das hinaus, was ich schon erzählt habe? Ich hatte mein Leben. Ich habe nie geheiratet, habe keine Kinder bekommen, bin zwei guten Männern begegnet, die ich vielleicht hätte lieben können; nach dem, was ich erlebt hatte, war es jedoch unmöglich. Aber ich war doch stolz auf mich, denn ich habe ehrlich, mit echter Hoffnung und offenem Herzen, versucht, mich noch einmal zu verlieben. Ohne Erfolg. 306
Ich habe wieder Bücher verkauft, und es ging gut. Mitunter konnte ich mich sogar in dem, was ich tat, verlieren, und zu diesen Zeiten war ich am glücklichsten. Die ganze Zeit dachte ich an Frances Hatch und daran, wie sie es gemacht hatte – sie hatte ein ausgefülltes und interessantes Leben geführt, nachdem sie den Faden durchschnitten hatte. So oft habe ich mir gewünscht, noch einmal mit ihr zu sprechen, aber sie starb drei Tage nach unserer letzten Begegnung. Zoe hat Doug Auerbach geheiratet, und sie waren lange glücklich. Als er vor zehn Jahren starb, bin ich nach Kalifornien gegangen und mit ihr zusammengezogen. Wir wurden zum Inbegriff alter Ladys in L. A.: Wir aßen nur Freilandhühner und nahmen zu viele Vitamine. Wir verbrachten zuviel Zeit in Shopping Mails, gingen in Aerobic-Kurse für Senioren, trugen immer dickere Brillengläser, je nebelhafter die sichtbare Welt mit ihren zunehmend aufweichenden Konturen wurde. Wir schufen uns ein Leben und schauten zu, wie die Sonne darüber unterging. Ich wurde immer früher wach als sie und machte dann Kaffee. Aber sie war pünktlich, und jeden Morgen um neun kam sie zu mir in den Garten, um die Zeitung zu lesen und zu besprechen, was im Laufe des Tages zu tun wäre. Wir hatten den Garten, es gab ein paar Freunde, und wir ergingen uns in endlosen Erinnerungen. Natürlich habe ich ihr nie etwas von meiner wahren Geschichte erzählt. In einem Jahr schenkte sie mir ein Handy zum Geburtstag. Auf dem Päckchen klemmte eine Karte, die sie geschrieben hatte: »Jetzt bist Du ein echtes California Girl!« Als ich die Schachtel aufmachte und sah, was es war, fragte ich, wer um alles in der Welt mich denn jemals anrufen würde? Und Zoe sagte sexy: »Das kann man nie wissen!« Und ich liebte sie für ihren Optimismus, und ich liebte sie 307
für diese Lüge. Ich wußte, daß sie mir das Telefon geschenkt hatte, weil sie sich Sorgen machte. Ich hatte Ohnmachtsanfälle – »Schwächeln« nannte sie es gern –, und die wurden schlimmer. Mein Arzt, ein Ire namens Keane, meinte scherzhaft, ich hätte einen Blutdruck wie ein Leguan. Manchmal tat ich nur so, als ob ich mich nicht wohl fühlte, damit ich ihn besuchen konnte. Aber der Tod zieht die Uhr auf, und eines Morgens erschien Zoe nicht zum Kaffee. Sie war eine robuste Frau, und ich glaube, sie war in der ganzen Zeit unseres Zusammenlebens kein einziges Mal krank. Als ich an diesem Morgen um halb elf in ihr Zimmer ging und sie friedlich auf der Seite im Bett liegen sah, wußte ich Bescheid. Ihre Kinder, die beide nicht die geringste Spur von ihrer Freundlichkeit und Energie aufwiesen, kamen wohl zur Beerdigung, verschwanden aber mit dem ersten Flugzeug wieder.
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geschichten, in den schnee geschrieben Die Türglocke läutete. Die alte Frau blickte schnell von ihrem Notizbuch auf und runzelte die Stirn. Sie wollte nicht gestört werden, besonders jetzt nicht, wo sie so kurz vor dem Ende stand. Was für eine erstaunliche Vorstellung – bald würde sie fertig sein. Es läutete ohnedies nie jemand bei ihr; das stand fest. Manchmal, in großen Abständen, brachte jemand in einer braunen UPS-Uniform ein Paket von Land’s End oder einer anderen Versandfirma, die sie mit handfester, praktischer Kleidung aus warmen Materialien wie Polartec oder Gänsedaunen belieferten. Sie brauchte alle Wärme, die sie bekommen konnte, denn ihr Körper war jetzt fast immer kalt, obwohl sie in der Wüstenhitze von Los Angeles lebte. Abends beim Fernsehen trug sie manchmal sogar ein Paar blitzblaue Polartec-Handschuhe. Wenn jemand sie hätte sehen können, hätte er sie wohl für verrückt gehalten, aber sie fror nur. Statt Weisheit, Ironie, Würde oder Frieden hatte das Alter ihr vor allem Kälte gebracht, und der konnte sie nie wirklich entrinnen. Sie hielt einen Moment inne und entsann sich, daß sie nichts bestellt hatte; wer immer da vor der Tür stand, konnte eigentlich nur irrtümlich dasein – oder um ihr lästig zu fallen. Möchten Sie nicht diese Zeitschrift abonnieren? Möchten Sie nicht an meinen Gott glauben? Möchten Sie für einen Mann, der Pech gehabt hat, nicht einen Dollar springen lassen? 309
Es läutete wieder – so laut und ärgerlich – ding, dong, ding, dong! Es half alles nichts. Mit einer Grimasse legte sie Hughs Füllfederhalter aus der Hand und griff nach dem Stock, der an ihrem Schreibtisch lehnte. Sie war jetzt dick. Seit kurzem bezeichnete sie sich sogar selbst so, obwohl sie schon lange wußte, daß sie es war. Sie war eine alte Frau, die viel zu dick geworden war. Sie saß gern. Nach Zoes Tod war sie nicht mehr im Gymnastikkurs gewesen. Sie aß gern Kekse. Hugh hatte einmal gesagt: »Essen ist Sex für alte Leute.« In ihrem Fall stimmte das jetzt. Ihre Knie waren schwach. Ihre Hüften auch, und der Himmel mochte wissen, was sonst noch. Es war anstrengend, aufzustehen oder sich hinzusetzen. In ihrem Alter war alles anstrengend, und wenn man fünfundzwanzig Pfund Übergewicht hatte, tat man sehr viel mehr als früher mit einem Ächzen. In dem Jahr, bevor Zoe gestorben war, hatte sie Miranda den Stock zu Weihnachten geschenkt. Es war ein sehr hübscher Stock – aus Eichenholz und ein bißchen krumm, so daß er einen irgendwie munteren Charakter hatte. Er kam ihr vor wie etwas, das ein Ire benutzen würde. Irland. Hugh hatte immer gesagt, er würde mit ihr nach Irland fahren … Die Türglocke läutete wieder. Verdammt! Sie war sicher, daß sie ihre Geschichte fast zu Ende geschrieben hatte, aber diese Störung würde ihren Gedankengang jetzt unterbrechen. Sie wußte nicht, ob sie später wieder hineinfinden würde. Das Schreiben verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit. Immer öfter spielte die Erinnerung Blindekuh mit ihr. Sie verspürte das zwingende Bedürfnis, alles zu Papier zu bringen, so schnell sie konnte, ehe etwas Unausweichliches und Furchtbares wie ein Schlaganfall oder die Alzheimersche Krankheit dröhnend in ihr Hirn stürmte und es aussaugte wie ein Staubsauger. 310
Sie stützte sich mit einer Hand auf den Stock und stemmte die andere auf den Tisch, und so erhob sie sich von ihrem Stuhl. Nach ein paar kurzen, unsicheren, gefährlichen Schritten bewegte sie sich langsam quer durch das halbdunkle Zimmer. Dieses Zimmer bekam niemals volles Sonnenlicht. So hatte sie es gern. Fast immer ließ sie zwei Lampen brennen. Nachts, wenn sie erschöpft zu Bett ging, ließ sie sie absichtlich eingeschaltet. Der Gedanke, daß ihr Arbeitszimmer immer erleuchtet war, gefiel ihr. Als wäre dann irgendein heller Geist dort, der wichtige Dinge wie ihr Tagebuch und ihre Gedanken bewachte. Ja, sie hatte das Gefühl, daß sie die meisten wichtigen Gedanken in diesem Zimmer ließ, weil sie dort immer in ihr Tagebuch schrieb. Wie albern. Die albernen Gedanken einer albernen alten Frau. Das dachte sie bei sich, während sie Schritt für Schritt durch das Haus zur Vordertür ging. Wer konnte das sein? Wieso mußten sie ausgerechnet jetzt kommen? Wie spät war es überhaupt? Sie blieb stehen und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war ein gewaltiges Ding, die Uhr mit dem größten Zifferblatt im Laden – sie hatte sie gekauft, damit sie die Zeit ablesen könnte, ohne die Brille aufzusetzen. »Wow!« Es war fünf Uhr nachmittags. Sie hatte stundenlang geschrieben. Das war eine gute Neuigkeit, denn es bedeutete, daß sie inspiriert war und darauf brannte, zu erfahren, wie sie ihren Bericht beschließen würde. Das Ende war jetzt so nah. Sie hatte das Gefühl, sie könnte die Hand ausstrecken und es berühren. Wenn sie fertig wäre, könnte der Alzheimer oder der Herzinfarkt oder eine andere Schrecklichkeit das Kommando übernehmen – ihr wäre es egal. Ihr wäre es wirklich egal. Sie spähte durch das Fenster in der Haustür, sah aber niemanden. Wenn das ein Streich von einem Nachbarschaftskind wäre – klingeln und wegrennen –, dann wäre 311
sie verärgert. Aber besser wäre es trotzdem, denn dann könnte sie gleich wieder zurück an die Arbeit gehen. Vielleicht würde sie auch einen kurzen Umweg durch die Küche machen und sehen, ob … es läutete wieder? Wie konnte das sein? Sie hatte gerade nachgeschaut, und niemand war da. Ein Kurzschluß? Hatte man je von einem Kurzschluß in der Türglocke gehört? Vielleicht wollte sie jemand überlisten, damit sie die Tür öffnete. Es waren gefährliche Zeiten. Alten, alleinlebenden Frauen stießen schreckliche Dinge zu. Sie waren eine so leichte Beute. Man mußte nur einmal abends die Nachrichten ansehen, und bekam es mit der Angst. Sie hatte viele Schlösser an der Tür, aber was machte das schon? Das Leben hatte ihr nun wirklich gezeigt, daß das Unheil durch jede Tür kommt, durch die es kommen will, und keinen Schlüssel braucht. Ja, sie war zusehends beunruhigt, aber wiederum nur, weil sie ihr Tagebuch noch nicht vollendet hatte. Wäre sie fromm gewesen, hätte sie gebetet. »Bitte laß es mich zu Ende bringen. Gib mir die Kraft und die Zeit, es zu Ende zu bringen. Der Rest sei Dein.« Voller Unbehagen spähte sie noch einmal durch das Türfenster und sah etwas Sonderbares. Beim ersten Mal hatte sie nur geradeaus geschaut. Jetzt bewegte sie sich hin und her und sah, daß die Stufen, die zur Haustür heraufführten, mit Keksen bedeckt waren. »Wa…« Verblüfft drückte sie die Nase dichter an die Tür, um besser sehen zu können. Kekse. Tatsächlich. Vom Gehweg durch den kleinen, aber makellos gepflegten Vorgarten zur Haustür führten sechzehn achteckige Trittsteine. Diese Steinplatten hatten ihr auf den ersten Blick gefallen. Sie erinnerten sie an ein englisches Country Cottage oder an einen verzauberten Weg in einem Märchen. Zoe hatten sie auch gut gefallen, und als es vor Jahren 312
notwendig geworden war, den ganzen Garten aufzugraben, um den Sickertank zu reparieren, hatten die beiden Frauen darauf bestanden, daß die Arbeiter die Platten wieder genau da hinlegten, wo sie gelegen hatten. Jetzt war jede von Keksen bedeckt. Na ja, nicht gerade bedeckt. Mit ihren schlechten Augen konnte sie fünf der Platten, die zum Haus führten, erkennen. Auf jeder Platte lagen vier? Ja, vier Kekse, große Kekse, wie man sie bei Mrs. Fields und Dave’s im Laden kaufen konnte. Miranda liebte sie. Schoko-Chips. Mit dunklen oder hellen Schokoladenstückchen, Macadamianüssen … ganz egal. Sie liebte die großen Schoko-Chip-Kekse, und hier lagen sie vor ihrer Haustür. Ein ihr unbekannter Dalmatiner schnürte auf ihren Rasen; er hatte es eilig, irgendwo hinzukommen. Aber er mußte die Kekse gewittert haben, denn er bremste jäh und fing an zu schlingen. Hunde fressen nicht, wenn sie aufgeregt sind, sie inhalieren, und dieser hier war keine Ausnahme. Er sprang von Stein zu Stein und fraß so schnell, daß Miranda anfing zu kichern. Sie wußte nicht, wer die Kekse dort hingelegt hatte, aber sie bezweifelte, daß sie für diesen Burschen gedacht gewesen waren. »Folge den gelben Ziegelsteinkeksen. Das sind deine Lieblingskekse, stimmt’s?« Sie erstarrte. Die Stimme kam von unmittelbar hinter ihr. Sie kannte diese Stimme nicht, aber es war eine Männerstimme, und sie war ohne Zweifel unmittelbar hinter ihr, dicht hinter ihr. »Erkennst du ihn nicht? Es ist Bob, der Dalmatiner. Hughs und Charlottes Hund. Sag Bob hallo.« Er sprach ruhig; seine Stimme klang leise, aber amüsiert. Sie mußte sich umdrehen, denn es gab sonst nichts, was sie hätte tun können. 313
Shumda stand zwei Schritte hinter ihr; er trug ein graues Sweatshirt mit dem Aufdruck Skidmore quer über die Brust, Jeans und aufwendige blaue Laufschuhe. Er war kein bißchen gealtert, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, vor Jahrzehnten. »Ich hatte eine komplette kleine Szene mit dem Folgeder-gelben-Ziegelsteinstraße-Motiv geplant, aber der alte Bob war dabei nicht einbegriffen. Ich weiß ja, daß du diese Kekse liebst.« Was konnte sie sagen? Es war alles vorbei. Diesmal war er gekommen, weil sie sterben mußte. Weshalb sollte Shumda sonst kommen? Wie viele Jahre war es her? Wie viele Tausende von Tagen waren vergangen, seit sie diesen gutaussehenden Schurken auf der Veranda des Hauses in Crane’s View, New York, gesehen hatte? »Was wollen Sie?« Er legte beide Hände an die Brust und machte ein gekränktes Gesicht. »Ich? Ich will gar nichts. Ich bin im Auftrag hier. Ich habe Befehle bekommen.« »Sie wollen mich holen?« »Voilà«, sagte er und dann auf deutsch: »Es muß sein.« »Wo … was werden Sie tun?« »Ich will dich zu einer Fahrt mit meinem neuen Auto abholen. Es ist ein Dodge! Ich habe um einen Mercedes gebeten, aber sie haben mir einen Dodge gegeben.« Seine Stimme war ihr zuwider. Es war eine schöne Stimme, dunkel und tief, aber sein Tonfall war spöttisch und arrogant. Er redete mit ihr, als wäre sie ein dummes Kind, das keine Ahnung hat. »Sie brauchen nicht so mit mir zu sprechen. Ich werde tun, was Sie sagen.« Hart kam es aus ihrem Mund, stählern. 314
Das gefiel ihm nicht. Seine Augen weiteten, seine Lippen strafften sich. Etwas zwischen ihnen hatte sich verschoben, und darauf war er nicht vorbereitet. Wahrscheinlich hatte er erwartet, daß sie wimmerte oder bettelte, aber das war nicht ihre Art. Sein verunsicherter Gesichtsausdruck wechselte zu einem anzüglichen Grinsen, und unvermittelt hatte er wieder die Oberhand. »Ich habe dir gesagt, daß ich komme. Schon vor langer Zeit. Erinnerst du dich nicht an den Hund, den du gern hattest und der angezündet wurde?« »Das waren Sie?« »Ja. Ich war sicher, du würdest wissen, daß ich es in diesem Fall war. Brauchtest du einen größeren Zaunpfahl? Weißt du nicht mehr, daß Frances mich gerettet hat, indem sie einen Hund verbrannte?« »Sie haben einen Hund umgebracht, nur um mir zu sagen, daß Sie kommen?« »Es war dramatisch, aber offensichtlich nicht besonders wirkungsvoll. Wie dem auch sei, wir müssen jetzt gehen. Du brauchst nichts mitzunehmen. Wir fahren nicht weit.« Die Angst kam. Sie rauschte in ihr herauf wie Wasser, und sie begann sofort zu zittern. Sie haßte sich deshalb. Trotz der atemberaubenden Angst haßte sie sich dafür, daß sie diesem abscheulichen Mann erlaubte, sie zittern zu sehen. Sie wollte tief einatmen, aber die Luft blieb ihr auf halbem Wege in der Kehle stecken, weil sie solche Angst hatte. Trotzdem brachte sie hervor: »Darf ich etwas mitnehmen?« »Du willst packen?« »Nein, ich möchte nur etwas mitnehmen. Es liegt nebenan im Zimmer.« Er schaute sie einen langen, quälenden Augenblick lang an und verzog dann spöttisch den Mund. »Darf ich dreimal 315
raten? Ist es größer als ein Brotkasten? Na los, aber beeil dich.« Irgendwie raffte sie ihre spärliche Energie zusammen und schlurfte in den hinteren Teil des Hauses. Gottlob hatte sie den Stock, denn ihr Körper fühlte sich jetzt an wie aus Stein. Er wollte sich nicht bewegen; er wußte nicht mehr, wie man ging. Aber sie bewegte sich. Sie ging unsicher und langsam durch den Korridor zu ihrem Arbeitszimmer. Sie ging hinein und starrte ein paar Sekunden lang den Schreibtisch mit dem offenen Tagebuch an. Sie würde es niemals zu Ende bringen. Niemals würde sie es vollenden und an einem sicheren Ort verstauen können, wo man es eines Tages finden und die ganze Geschichte erfahren würde. Niemals. Vorbei. Aus. »Gut. Alles okay. Geh einfach fort.« Sie sagte es laut, während sie auf eine Kommode zuging, die an der Wand stand. Sie zog die oberste Schublade auf und griff nach dem Stück Holz. Nach dem silbernen Stück Holz, das Hugh ihr gegeben hatte, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seitdem hatte sie im Laufe der langen Jahre noch andere Stücke gesammelt, aber die würden alle hierbleiben müssen. Sie wußte nicht, was sie mit dem Holz anfangen würde, wo sie jetzt hinging, aber sie mußte es bei sich haben. Sie umschloß es mit den Fingern und verließ das Zimmer. Shumda erwartete sie an der Haustür. Als er sie sah, öffnete er die Tür. Er verbeugte sich aus der Hüfte und bedeutete ihr mit einem übertriebenen Armschwung, sie möge vorausgehen. Sie schlurfte weiter, schwer auf ihren Stock gestützt. Sie hatte solche Angst. Die Knie taten ihr weh. Wo gingen sie hin? Sie hörte, wie er die Tür zumachte. Sanft nahm er sie beim Arm und half ihr die eine Stufe in den Vorgarten hinunter. Der Hund war fort, die Kekse 316
auch. Noch vor wenigen Minuten war das alles seltsam und komisch gewesen – Schoko-Chip-Kekse auf ihrem Plattenweg –, aber jetzt war die Komik fort. Bald würde alles fort sein. Sie gingen zur Straße, und dort befahl er ihr, zu warten. Er marschierte davon und verschwand um die Ecke. Sie schaute zum Himmel. Ein Flugzeug hatte einen dünnen weißen Kondensstreifen im Blau hinterlassen. Irgendwo scherte ein Auto aus; das langgezogene Reifenkreischen erfüllte ihre Ohren. Dann war es still, und bald fingen ein paar Vögel an zu singen. Ein glänzend grüner Van kam herangefahren und hielt vor ihr an. Shumda saß am Steuer; er trug eine San Diego Padres-Baseballmütze. Er stieg aus, öffnete die Beifahrertür und half ihr beim Einsteigen. Es fiel ihr schwer, in Autos zu klettern, aber sie fuhr jetzt so selten damit, daß es darauf nicht mehr ankam. »Wo fahren wir hin?« »Das ist eine Überraschung.« »Ich will keine Überraschung. Sagen Sie’s mir einfach. Das zumindest können Sie mir zugestehen.« »Sei still, Miranda. Lehn dich zurück und genieße die Fahrt. Du warst lange nicht mehr draußen.« Sie faltete die Hände im Schoß und schaute aus dem Fenster. Als Shumda wieder sprach, ignorierte sie ihn, wandte sich ihm nicht einmal zu. Als er begriffen hatte, daß sie nicht antworten würde, schwatzte er ohne Unterlaß. Erzählte ihr, was er die ganzen Jahre getrieben hatte, erzählte ihr, was sie die ganzen Jahre getrieben hatte (»sie haben gesagt, ich soll dich im Auge behalten«), erzählte ihr alles, was sie nicht hören wollte. Sie schaute aus dem Fenster und versuchte mit aller Kraft, ihn zu ignorieren. Wenn das ihre letzte Fahrt sein sollte, dann wollte sie sei317
ne Plapperstimme nicht in ihrem Ohr. Ein Hamburgerstand. Eine Tankstelle. Warum kam es so abrupt? Konnten sie ihr nicht eine Vorwarnung zukommen lassen? Einen Tag. Wenn sie ihr noch einen Tag Zeit gelassen hätten, dann hätte sie alles zu Ende bringen können, und dann hätte sie ihn sogar an der Haustür erwartet. Ein gelbes Cabrio mit einer schönen Brünetten am Steuer überholte sie. Dann ein Volkswagen, der aussah, als sei er sechsmal um die Welt gefahren. Der Fahrer war ein Mann mit rasiertem Schädel. Seine Finger tanzten oben auf dem Lenkrad hin und her. Ein Secondhand-Buchladen. Ein Tag hätte genügt. Heute bei der Arbeit hatte sich ihr Magen ein paarmal zusammengekrampft, weil sie im geheimsten Innern wußte, daß sie bald fertig sein würde – und was würde sie dann mit den Tagen anfangen? Warum hatte Shumda sie jahrelang beobachtet? Sie war doch keine Gefahr. Sie war nie eine Gefahr gewesen. Außerdem war all das so lange her. Kurz nachdem es vorbei gewesen war, hatte sie angefangen, dies und jenes zu vergessen, und obwohl sie dieses Tagebuch geschrieben hatte, waren so viele Erinnerungen an diese Zeit inzwischen wie griechische Ruinen. Sie hatte nicht vorgehabt, ihren Bericht noch einmal zu lesen, aber als sie jetzt so dahinfuhren, machte es sie wütend, daß sie niemals auch nur die Wahl haben würde. So viel Arbeit, aber jetzt könnte sie nie mehr zurückkehren, um bestimmte Erlebnisse, die sie vielleicht schon vergessen hatte, noch einmal zu erleben. Wieviel kann ein altes Gehirn behalten, bevor es unter der Last so vieler Jahre anfängt zu lecken? Honigschinken, Discount-Sonnenbrillen, Mansfield Avenue, Straßenschilder, alles flog am Autofenster vorbei. Er fuhr jetzt schneller. Wo fuhren sie hin? Sie dachte an Frances Hatch in ihrem Krankenzimmer, umgeben von Blumen. 318
Vielleicht würde Shumda sie irgendwohin und dann wieder nach Hause fahren. Ein Flattern, der Kolibriherzschlag der Hoffnung durchzuckte sie, war aber auch schnell wieder verschwunden. Es war vorbei. Was immer er für sie in petto hatte, würde angemessen und schrecklich sein; dessen war sie sicher. Sie erinnerte sich, wie sie noch einmal in Frances’ Zimmer zurückgegangen war und sie weinen gesehen hatte. Er bog nach links in die La Brea und gab wieder Gas. Es wurde Abend. Der Himmel war noch hell, aber als sie vom Haus zum Auto gegangen waren, war die Luft kühl und still gewesen und hatte bereits begonnen, sich zur Nacht zu legen. Die La Brea hinunter, vorbei an den billigen Möbelkaufhäusern, billigen Drugstores, billigen Fast-food-Lokalen. Hier standen mehr Leute auf dem Gehweg und warteten auf Busse, warteten auf Freunde, warteten auf irgendein Glück, irgendeinen Umschwung, der niemals kommen würde. Miranda hatte Glück gehabt, und das wußte sie. Sie war gereist, sie hatte einen interessanten Beruf gehabt, und sie war ihr eigener Chef gewesen. Sie hatte Geld verdient. Eine kurze Zeit lang hatte sie einen bemerkenswerten Mann gekannt und war von ihm geliebt worden. Hugh. Wenn dies das Ende war, wollte sie es im Gedanken an Hugh Oakley verbringen. Und als wisse er, was sie versuchte, unterbrach Shumda sie. »Warum hast du es getan?« »Warum habe ich was getan?« Ihre Stimme hatte einen verschrobenen Klang – sie war nicht daran interessiert, seine Fragen zu beantworten, schon gar nicht jetzt, wo sie nur noch so wenig Zeit übrig hatte. Er hob eine Hand vom Steuer und ließ sie wieder fallen. »Du bist nicht die einzige, weißt du. Es gab andere, die getan haben, was du getan hast. Es interessiert mich nur, 319
weißt du? Was kann in jemanden gefahren sein, der bereitwillig das Leben, das du hattest, gegen dieses hier eintauscht?« Wieder hob sich die Hand vom Steuer und schlug in die Luft, wie um eine Fliege beiseite zu wedeln. »Und du wußtest nicht mal, wem du es gibst! Das ist unglaublich! Du hast deine Unsterblichkeit einem fremden Menschen überlassen. Jemandem, dem du noch nie begegnet warst!« Sie hielten vor einer roten Ampel an. Er warf ihr einen Blick zu und zog ein Gesicht. Sie ignorierte ihn und blickte starr geradeaus. Die Ampel wurde grün, aber statt anzufahren, schaute Shumda sie weiter an. Schließlich sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm: »Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Der Augenblick kam, und es mußte sein. Das ist alles. Ist das nicht interessant? Ich habe immer mit mir selbst gekämpft – mein Kopf gegen mein Herz. Manchmal hat die eine Seite gewonnen, manchmal die andere. Aber in dieser Frage gab es keinen Kampf. Es gab nicht mal eine Frage.« Die alte Frau strahlte. Ihre ganze Haltung änderte sich, als seien die Stürme, die in ihrem Innern getobt hatten, nun abgezogen, und sie habe Frieden gefunden. Shumda hatte noch nie jemanden in ihrer Lage gesehen, der von Frieden erfüllt war, und er hatte einiges gesehen. O ja, er hatte etliche gesehen. »Das Leben steht im Begriff, dir ins Gesicht zu spucken, Miranda. Da würde ich nicht grinsen.« Sie schwiegen für den Rest der Fahrt. Zu ihrer großen Genugtuung bemerkte sie aus dem Augenwinkel, daß er sie immer wieder anschaute, um zu sehen, ob ihr Gesichtsausdruck sich veränderte – ob ihr die Ungeheuerlichkeit dessen, was bald mit ihr geschehen würde, endlich dämmerte. Warum hatte die große, letzte Angst sie noch 320
nicht in die Arme genommen, wie sie es immer mit den Leuten tat, die er zu ihrem Untergang begleitet hatte? Es dauerte noch einmal zehn Minuten. Immer wieder schaute er zu ihr herüber, aber ihr zufriedener Ausdruck änderte sich nicht. Also schön, dann änderte er sich eben nicht. Abwarten, bis sie erst dort wäre. Abwarten, bis sie sähe, was sie erwartete! Die Straße wurde plötzlich hügelig, und überall auf diesen Hügeln waren Ölpumpen, die ihre langsame Arbeit taten. Das Land war khakifarben, sonnenverdorrt. Es war ein seltsamer Teil von Los Angeles, nicht Fisch noch Fleisch, eine Art sonderbar leeres Niemandsland zwischen der Stadtmitte und dem Flughafen. Shumda blinkte, wechselte langsam auf die rechte Spur und von der Straße hinunter auf den Randstreifen. Er stellte den Motor ab und blieb sitzen. Was als nächstes kommen würde, erfüllte ihn mit Genuß. Er grinste sie an. »Erinnerst du dich an diese Stelle?« Miranda sah sich um. »Nein.« »Kommt noch.« Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Miranda mußte sich beherrschen, um ihn nicht zu beobachten. Er ging zum Heck und öffnete die beiden Türflügel. Sie hörte, wie er etwas Metallenes schob und zog. »Bin gleich bei dir. Bleib nur sitzen.« Langsam hob sie die Hand und drehte den Rückspiegel so, daß sie hinten hinausschauen konnte. Er hantierte dort mit etwas herum, und sie brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, was es war. Er tat irgend etwas, und das Ding machte Plopp und entfaltete sich unversehens zu einem Rollstuhl. Autos sausten vorbei, manche dicht, manche in einigem Abstand, alle laut und schnell, rauschend und gefährlich. Jetzt ging ihr natürlich ein Licht auf. 321
Vor vielen Jahren hatte sie in einem dieser rasenden Autos gesessen und war zum Flughafen Los Angeles gefahren. Sie war an diesem Tag mit Doug Auerbach im Bett gewesen, und danach waren sie zusammen in einen großen Drugstore gegangen. Später war sie mit dem Taxi zum Flughafen gefahren, und der Fahrer hatte wie Shumda eine San Diego Padres-Baseballmütze getragen. Sie war damals so jung gewesen, so jung und so beschäftigt, und sie hatte Hugh Oakley noch nicht kennengelernt. Sie hatte Hugh Oakley noch nicht kennengelernt, und sie hatte den toten James Stillman noch nicht lebendig wiedergesehen. Sie war an jenem Abend nach New York zurückgeflogen, und nur wenige Tage später hatte sich ihr ganzes Leben für immer verändert. Vor so langer Zeit. Das alles war so lange her, aber jetzt wollte jener ganze Tag und das, was darauf gefolgt war, sie zermalmen, und sie konnte den Erinnerungen und den Resultaten, allesamt kristallklar, nicht Einhalt gebieten. Shumda schob den Rollstuhl auf ihre Seite des Wagens und blieb abwartend stehen. Als sie an jenem Abend vor so langer Zeit zum Flughafen gefahren waren, war es etwa genauso spät gewesen wie jetzt. Sie erinnerte sich an die Frau im Rollstuhl am Straßenrand. »Komm, Miranda. Zeit, den Verkehr zu beobachten.« Aber da war kein Verkehr. Es war unglaublich, aber alle Autos waren von der Straße verschwunden, restlos alle. Eine seltsame Stille umgab sie, als seien alle Geräusche der Welt einfach verschwunden. »Ich kann die Tür aufmachen und dich herausziehen, oder du kannst aussteigen und uns beiden die Sache erleichtern.« »Was hast du vor?« 322
»Nichts. Ich werde dich in diesen Rollstuhl setzen, und dann werde ich wegfahren. Und du bist allein. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe absolut keine Ahnung, was als nächstes passieren wird. Aber ich bin sicher, es wird nicht angenehm sein. Das ist es nie.« »Shumda, war ich das? War ich das an jenem Abend, hier, im Rollstuhl?« »Ich weiß es nicht. Ich tue nur, was man mir sagt. Na los, steig aus.« Zu ihrer großen Überraschung hatte sie nur einen Gedanken: Tu, was immer du vor dir hast, und tu es ganz. Überlasse dich dem Augenblick, und wenn du Glück hast … Ihre Tür wurde aufgerissen. Er packte sie grob am Arm. »Fassen Sie mich nicht an!« Sie riß sich los und stemmte sich langsam aus dem Van. Die Straße war leer. Oben auf einem Hügel arbeitete eine Ölpumpe, und jetzt hörte sie auch das Rollen und Stampfen der Maschine. Ein Schwarm Spatzen flog lauthals zwitschernd durch den Himmel. Das waren die einzigen Geräusche – die Maschine und die Spatzen. Sie erreichte den Rollstuhl, packte die beiden Armlehnen und ließ sich hineinsinken. Der Sitz war viel zu schmal für ihren breiten Hintern. Sie versuchte sich in eine bequemere Position zu schieben, aber es gab keine. Sie gab den Versuch auf und schaute wieder in den Abendhimmel hinauf. Was wäre geschehen, wenn sie an jenem Abend vor vielen Jahren angehalten und der Frau geholfen hätten? Hätte das etwas geändert? War sie das gewesen an jenem Abend? Und wenn sie angehalten hätten und sie die andere Frau gesehen hätte – hätte sie sie erkannt? Shumda schob den Rollstuhl dichter an die Straße. »Ich würde zu gern bleiben und sehen, was als nächstes mit dir passiert, aber ich habe noch zu tun.« Er schaute auf 323
die Uhr. »Genieße die Stille. Die Autos werden in zwei Minuten wieder dasein.« Er schaute sie an, und sein Gesicht verriet nichts. Er wandte sich zum Gehen. »Shumda!« »Was?« »Haben Sie sie geliebt? Haben Sie Frances je geliebt?« Einen Augenblick lang schien es, als wolle er antworten. Statt dessen wandte er sich ab und ging zum Van zurück. Er langte durch die offene Tür hinein und holte etwas heraus. Ein rotes Buch, ihr rotes Buch, ihr Tagebuch. Wann hatte er es geholt? Wann hatte er es genommen? Er tat, als blättere er darin. Seine Miene wurde ernst, und er rieb sich das Kinn. In einer perfekten Imitation von Daffy Ducks albernem Lispeln sagte er: »Faß-ßi-nierend!« und fragte dann in mitleidsvollem Ton: »Hast du wirklich geglaubt, das würde etwas ändern?« Er warf das Buch wieder in den Wagen und stieg ein. Der Motor sprang an, und er war fort. Sie schaute dem Van nach, wie er den Hügel hinauffuhr und verschwand. Alles schien den Atem anzuhalten. Sie schaute hoch, aber die Vögel waren nicht mehr da. Als sie zu der Ölpumpe hinüberschaute, bewegte auch die sich nicht mehr. Stille. Sie umklammerte die Armlehnen des Rollstuhls und schloß die Augen. Ihr fiel ein, daß Hughs Stück Holz in ihrer Tasche war, und sie holte es hervor. Alles, was ihr je etwas bedeutet hatte, lebte in diesem Holz. Sie umfaßte es fest mit beiden Händen. Wie glatt es war. Glatt und warm, das letzte, was sie je festhalten würde. Wie würden sie es machen? Würden sie von hinten kommen oder über den Hügel oder von der anderen Straßenseite? Was würde es sein? Sie hätte versuchen können, aufzustehen und fortzugehen – aber was sollte das nützen? Wenn die wollten, daß 324
es heute abend geschah, dann würde es heute abend geschehen, ganz gleich, wo sie war. Und wie weit würde sie mit ihren alten Beinen kommen? Sie dachte an ihr Tagebuch und daran, was sie zum Schluß hätte schreiben können. Eine faszinierende Frage, die sie hätte trösten oder von dem ablenken können, was bevorstand. Aber da hörte sie es: Das tiefe Rumoren vieler Autos, die auf sie zukamen, wurde mit jeder Sekunde lauter. Die Autos würden es sein. Irgend etwas im Zusammenhang mit diesen Autos würde ihr Ende sein. Sie wollte die Augen schließen, aber sie wußte, daß sie es nicht durfte. Noch einen Augenblick, und alles würde vorbei sein. Das Rauschen schwoll an, und dann sah sie sie. Sie sah sie kommen, und etwas Ähnliches hatte sie noch nie gehört. Eine Explosion von Lärm, so unglaublich laut, daß sie die Welt erfüllte. Wamm, bumm, wamm, wamm, bumm! Sie peitschten mit erstaunlichem Tempo an ihr vorbei: Lastwagen, Autos, Motorräder. Sie alle drückten sie in ihren Rollstuhl mit ihrer Kraft und ihrer Bedrohlichkeit, bis sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Nah. Sie kamen mit jedem Augenblick näher. War es das? War dies der Moment? Oder der nächste? Der nächste? Bumm! Wamm! Bumm! Bumm! Der Luftzug ihres Tempos schlug ihr ins Gesicht, presste ihren Körper in den Stuhl. Sie fing an zu hyperventilieren. Sie wollte sich die Finger in die Ohren stecken und machen, daß die Geräusche weggingen. Aber wie konnte sie das? Wie konnte irgend jemand das Ende der Welt von sich fernhalten? Sie wollte schlucken, aber in ihrem Mund war kein Speichel. Weil es so viele waren, bemerkte sie das blaue Auto erst, als es von seiner Fahrbahn schwenkte und auf sie zukam. Die Scheinwerfer leuchteten ihr geradewegs ins Gesicht, aber sie bemerkte es trotzdem erst, als es bis auf wenige 325
Schritte herangerast war – und stoppte. Ein wildes Schürfen und Knirschen von Sand, Kies und Erdbrocken, die ringsum durch die Luft flogen. Die Autos auf der Straße hämmerten vorbei. Aber jetzt war dieses hier gekommen, so nah. War es das? Zeit verging – Sekunden? Und dann ging die Tür auf, und das erste, was sie hörte, was das schrille Ting-ting-ting einer Warnglocke im Wagen, die dem Fahrer sagte, daß etwas nicht stimmte. Die Innenbeleuchtung ging an, und sie sah den Fahrer. Ein Mann. Er starrte sie an und rührte sich nicht. Aber dann stieg er aus, und aufmerksam schaute er dabei nach hinten, um sicherzugehen, daß er nicht von der Wucht des herankommenden Verkehrs erfaßt wurde. Er drückte die Tür zu, aber nicht so weit, daß das Ting drinnen aufhörte. Langsam kam er auf sie zu. Ein Mann im mittleren Alter. Sein Gesicht hatte etwas Vertrautes, aber es war doch so fern und entlegen, daß ihr pochendes Herz es nicht erkennen konnte. Etwas … »Ich wußte nicht, ob ich rechtzeitig hier sein kann.« Sie sagte nichts, starrte ihn nur an, und der Lärm war brutal und überall, aber etwas, das sie kannte, etwas am Rande ihres Verstandes, forderte sie auf: Schau genauer hin, finde es. Und sie fand es. Sie erkannte ihn. »Declan?« Erst als er lächelte, war sie sicher, daß es Hughs Sohn war, denn es war das Lächeln seines Vaters. Sie hätte es noch erkannt, wenn sie eine Million Jahre alt gewesen wäre. »Wir müssen uns beeilen, Miranda. Sie kommen, und ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben. Ich habe gegen jede Vorschrift verstoßen …« »Woher wußtest du, daß ich hier bin?« 326
»Man weiß alles, wenn man einer von uns ist. Unsterblich zu sein hat seine Vorteile.« Besorgt schaute er sich um. »Wie kannst du denn schon wissen, daß du unsterblich bist? Du hast erst ein Leben gelebt! Darum habe ich ja das Tagebuch geschrieben. Damit du es findest und Bescheid weißt, und dann könntest du vermeiden …« »Wir müssen weg, Miranda! Wir haben keine Zeit. Erzähl’s mir im Wagen. Wir müssen sofort weg von hier. Sie kommen.« »Warum, Declan? Warum tust du das?« Er spuckte die Worte aus. »Weil du mir mein Leben geschenkt hast! Weil du deine eigene Tochter geopfert hast, damit ich leben konnte. Wie könnte ich da nicht zumindest versuchen, dir zu helfen?« Eine Pause. Erkennen. Erstaunen. Sie konnte nur eines tun, und sie tat es, ohne nachzudenken: Sie hielt ihm das Stück Holz entgegen, das sein Vater ihr gegeben hatte. Declan würde verstehen, was es war.
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