Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter
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Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter
Centauri 12
Finale am Sonnent...
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Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter
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Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter
Centauri 12
Finale am Sonnentransmitter von Uwe Anton
Was bisher geschah: Wir schreiben den Februar des Jahres 1225 NGZ. Auf Einladung der Historikerin Li da Zoltral besucht Atlan das auf einer Museumsinsel gelegene Epetran-Archiv, in dem Schätze und geheimes Wissen der Lemurer lagern. Diese Erste Menschheit besiedelte schon vor weit über fünfzig Jahrtausenden die Milchstraße; von ihr stammen alle gegenwärtig in der Galaxis existierenden humanoiden Völker ab. Als Unbekannte unter den Augen der Besucher einen Krish’un stehlen, einen Umhang lemurischer Tamräte, führt die Spur nach Omega Centauri, einem wegen seiner hyperenergetischen Bedingungen bisher unerforschten Kugelsternhaufen. Mit dem Schweren Jagdkreuzer TOSOMA sammelt Atlan Informationen. Er schlägt für das Lemurer-Reich Shahan einen Angriff des Reiches Baylamor zurück und befreit seine Freundin Li da Zoltral aus einem Biolabor auf der Wasserwelt Tarik. Als er auf dem Planeten Theka, einem Urlaubsparadies, den Drahtzieher der Entführung – Crest-Tharo da Zoltral – stellen will, findet er den entscheidenden Hinweis auf die lemurische Heimatwelt. Atlan fliegt ins Zentrum des Sternhaufens und muss sich auf einem Methanriesen namens Kharba zu einer stark befestigten Transmitterstation durchkämpfen. In der Gegenstation, die der Rechner als »Stahlwelt« bezeichnet, weist Atlan sich als HochrangBevollmächtigten aus. Im Verlauf der Anerkennungsprozedur erfährt er die Geschichte des vor 50.000 Jahren lebenden Lemurers Nevus Mercova-Ban. Dann erklingt der hasserfüllte Aufschrei Crest-Tharo da Zoltrals. Ehe Atlan sich seinem Gegner stellt, lässt er den Transmitter erneut aktivieren, um den »Begleitern des Tamrats« den Zugang zu ermöglichen – seinen Leuten und Li da Zoltral ...
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Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Prolog: Vor über einem Monat Die Gedanken des kleinen Humanoiden Es beginnt! Als der Vermittler den Hort wieder verlassen hatte, die schlicht eingerichtete Kabine seines Herrn, und noch über diese beiden Worte nachdachte, spürte er ein sanftes Vibrieren. Sie verließen ihren Standort. Das Raumschiff nahm Fahrt auf. Nach wie vielen Jahren oder Jahrzehnten geschah dies wieder einmal? Er konnte es nicht sagen. Die Zeit hatte für ihn noch nie große Bedeutung gehabt. Für seinen Herrn auch nicht. Der kleine Humanoide, der sich auch als Wanderer zwischen den Welten sah, konnte sich an nichts erinnern, was für seinen Herrn von Bedeutung gewesen wäre. Er wusste nicht einmal, was sein Herr tat. Er bekam nur Anweisungen und führte sie aus. Sein Herr schuf neue Welten, so viel stand fest. Sphären an Bord des Schiffes, sich ständig verändernde Umgebungen. Aber schuf er auch außerhalb Welten? Planeten, auf denen vielleicht Wesen lebten? Einige Besatzungsmitglieder munkelten davon. Aber wenn diese Gerüchte zutrafen – war sein Herr dann nicht in gewisser Weise eine Gottheit? Zumindest ein übergeordnetes Wesen? Was konnte also geschehen sein, dass eine Gottheit sich persönlich bemühte? Es beginnt! Dieser Satz war alles, was sein Herr gesagt hatte. Es beginnt. Alles begann irgendwann, irgendwo, auf seine Weise. Das Universum, mit seinen unzähligen Milliarden von Welten. Das Leben in seiner unendlichen Vielfalt. Aber wo ein Anfang war, da war auch ein Ende. Sollte es beginnen? Oder war dieser Anfang unerwünscht? Waren sie gestartet, um den Beginn erst richtig in die Wege zu leiten oder um zu unterbinden, zu beenden, was begann? Der Vermittler seufzte und blickte auf die vulkanische Hochebene, die sich zur Zeit an den Hort des Herrn anschloss, eine der vielen Welten, die sich hier manifestierten. Sein Unbehagen war einem Gefühl der Anspannung gewichen. Er wusste, dass sein Herr auf etwas gewartet hatte. Nun war es geschehen, und sie griffen ein. Mit ihren Machtmitteln waren sie jeder Situation gewachsen. Nichts konnte geschehen, was der Herr nicht zulassen wollte. Während der Wanderer zwischen den Welten über die Ebene schritt, überlegte er, wann das Raumschiff zu seinen Lebzeiten schon einmal gestartet war. Es fiel ihm nicht ein. Die wechselnden Landschaften interessierten ihn nicht, er war ihren Anblick gewohnt. Andere hätten sich wahrscheinlich der Verzückung hingegeben, wenn sie vier verschiedene Horizonte gleichzeitig sahen, in vier verschiedenen Farben, in ihm lösten sie höchstens Unbehagen aus. Wohin auch immer die Reise ging, er hatte seine Anweisungen. Er würde sie befolgen, wie er immer alles tat, was sein Herr ihm auftrug. Er war der Vermittler, er war dazu bestimmt worden. Obwohl er manchmal den Tag verfluchte, an dem man ihn auserwählt hatte. Es beginnt, dachte er. Wir sind auf dem Weg. ausgestoßen hatte, noch bei Sinnen war. Ich bezweifelte es. Crest-Tharo da Zoltral. Das Oberhaupt der Familie da Zoltral und ihres Konzerns. Der Mann, dessen Machenschaften wir nach und nach aufgedeckt und den wir bis hierher
1. Der Schrei hallte in meinen Ohren. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. In ihm lag ein solcher Hass, dass ich mich fragte, ob der Mann, der dieses Geräusch 3
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter verarbeitet. Das würde noch eine ganze Weile dauern oder erst später erfolgen können, wenn das hier alles vorbei war. Wenn es mir nicht gelang, diese künstlichen Erinnerungen schnell zu verdrängen, um sie später wieder hervorzurufen, würden sie mich in meiner Reaktionsfähigkeit und jeder anderen Hinsicht stark behindern. Ein ganzes Leben, miterlebt in wenigen Minuten. Wir schrieben noch immer den 14. März 1225 NGZ. Trotz meines fotografischen Gedächtnisses dauerte es eine Weile, bis ich die manuellen Schaltungen vorgenommen hatte. Die Zeit schien zu rasen, Minuten schienen zu Sekunden zu werden. Die Schale setzte sich geräuschlos in Bewegung. Der Hinflug hatte zwei Minuten gedauert, für den Rückflug zur Transmitterstation benötigte ich fünf. Wir müssen Crest-Tharo da Zoltral unbedingt aufhalten, dachte ich. Dafür gab es mehrere Gründe. Wir mussten seine verbrecherischen Umtriebe in der Milchstraße stoppen, und er durfte nicht die Kontrolle über den lemurischen Sonnentransmitter in Omega Centauri bekommen. Das hatte ich bislang für die beiden wichtigsten gehalten. Aber während meines zweiten Lebens hatte ich noch einen viel bedeutenderen Grund in Erfahrung gebracht. Einen Grund, der unserer Mission äußerste Dringlichkeit verlieh. Nicht auszudenken, was Crest-Tharo anrichten könnte, wenn wir ihn nicht ausschalten! Li und Gorro schnellten herum, als der Gleiter aufsetzte, während die drei anderen sich weiterhin auf die Roboter konzentrierten. Die Arkonidin bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze. Ihre Bewegungen waren fließend und dabei sparsam und von vollendeter Anmut. Ich glaubte, das Spiel ihrer Muskeln unter dem Schutzanzug erkennen zu können, aber das war natürlich eine Täuschung. Ich konnte den Blick kaum von ihr lösen. Deutlicher denn je wurde mir bewusst, wie sehr ich sie liebte. Trotz allem, was geschehen war, trotz aller Zweifel, die ich aufgrund ihres manchmal unerklärlichen Verhaltens verspürte. Li schaute zu dem Gleiter, nahm
verfolgt hatten, in die Kharag-Hauptstation der lemurischen Anlagen, auf die wir in Omega Centauri gestoßen waren. Der von der internen Kommunikationsanlage übertragene Ton hing einen Moment lang gellend in der Luft. Dann kippte er, überschlug sich und klang noch verzerrter. Er schien nicht mehr von einem humanoiden Wesen zu stammen, von gar keinem Lebewesen mehr. Er kam mir vor wie personifizierter, Geräusch gewordener Wahnsinn. Ich fluchte leise und warf einen letzten Blick auf den Monitor, der die Transmitterstation zeigte. Meine Begleiter hatten das Transmitterfeld bereits verlassen. Karusan Gorro und Li gerade eben erst, sie orientierten sich noch. Der Luccianer Zanargun, der Dryhane Ulbagimuun und der Ishkhorer Phazagrilaath sicherten die Umgebung, richteten ihre Waffen auf die fünf uralten, an bizarre Skelette humanoider Wesen erinnernden Kampfroboter lemurischer Bauweise, die auch mich vor wenigen Minuten in Empfang genommen hatten. Vor wenigen Minuten ... und einem ganzen Leben! Die Mündungskraftfelder der gehobenen Waffenarme leuchteten noch immer – oder schon wieder – intensiv in heller Glut. Bei einer eventuellen Funktionsstörung haben deine Gefährten keine Chance gegen sie, stellte der Extrasinn lapidar fest. »Bei meiner Ankunft ist es auch zu keiner Störung gekommen«, zischte ich und lief los. Der Gleiter, der mich hierher gebracht hatte, eine oben offene, viersitzige Schale, die auf einem flirrenden Prallfeld schwebte, stand noch dort, wo er aufgesetzt hatte. »Transmitterstation!« Das Gefährt rührte sich nicht von der Stelle. Schaltungen sind fortan manuell durchzuführen!, rief mir der Extrasinn die Aussage des Stationsrechners Kharag wieder in Erinnerung. Ich schüttelte mich. Ich hatte gerade in wenigen Minuten die Lebensgeschichte des auf Zeut geborenen Lemurers Nevus Mercova-Ban in mich aufgenommen. Aufgenommen, aber bei weitem noch nicht 4
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter »Über den, den er im Epetran-Archiv stehlen ließ. Er benötigte ihn, um vollen Zugang zu der Lemurerstation zu bekommen. Er hat die Anerkennungsprozedur ebenfalls absolviert, ist uns in dieser Hinsicht einen Schritt voraus und verfügt überdies schon über die notwendige Ortskenntnis.« Li runzelte die Stirn. »Also stehen wir unter Zeitdruck.« »Unter ganz gewaltigem. Ich habe zwar ebenfalls die Hochrang-Bevollmächtigung erlangt, aber der Stationsrechner Kharag ist in seinem positronischen inneren Konflikt völlig überfordert. Crest-Tharo da Zoltral und ich verfügen über die gleiche Berechtigung und die gleiche Befehlsgewalt. Kharag will sich völlig neutral verhalten und auch dann nicht eingreifen, wenn wir uns auf Leben und Tod bekämpfen – obwohl andererseits seine Basisprogrammierung gebietet, Leib und Leben der Berechtigten zu schützen. Mir blieb nichts anderes übrig, als diese Entscheidung zu akzeptieren.« »Das Stationsgehirn ist also zur Untätigkeit verdammt.« Ich nickte. »Wir sind in der eindeutig schlechteren Position. Wir wissen nicht, wie viele Leute da Zoltral hier zusammengezogen hat, über welche Machtmittel er verfügt, welche Manipulationen er eventuell schon vorgenommen hat ...« Von Nevus Mercova-Bans Lebensgeschichte, die ich soeben erfahren hatte, als hätte ich sie erlebt, sagte ich nichts. Die anderen hätten nur Fragen gestellt, auf die ich mich im Augenblick nicht konzentrieren und die ich nicht beantworten konnte. »Wir müssen die Umgebung erkunden«, sagte Zanargun. Der knapp einen Meter und siebzig große Luccianer stellte sich am schnellsten auf die neue Situation ein. Deutlich schneller als ich. Ich stöhnte leise auf. Tief im Inneren meines Schädels pochte es, ein leiser, dumpfer Schmerz. Als sei dort etwas verkapselt, was seine Fesseln abstreifen und größer werden wollte. Nevus Mercova-Bans Erinnerungen! Sie drängten mit Gewalt an die Oberfläche. Ich bezweifelte nicht, dass der Schmerz schnell greller und lauter werden würde. »Das dürfte ohne Hilfe des Stationsrechners
Kampfhaltung an, stand mit leicht gespreizten Beinen da, die Arme ausgestreckt, den Kombistrahler mit beiden Händen haltend. Die Waffe zitterte nicht, zeigte genau auf meine Brustmitte. Dann erkannte sie mich, senkte die Waffe aber nicht, sondern richtete sie wieder auf die lemurischen Roboter. Das kalte Glitzern in deren Augenlinsen ließ noch immer nicht die geringsten Rückschlüsse zu. Die Metallgeschöpfe schienen sich seit meiner Ankunft nicht bewegt zu haben, standen wie zuvor in stummer, bewegungsloser Drohung vor mir. Ich sprang aus der Schale. »Ihr könnt die Waffen senken«, rief ich meinen Gefährten zu. »Der Stationsrechner hat mich als Hohen Tamrat anerkannt und euch den Status als meine Begleiter gewährt. Von den Robotern droht keine Gefahr.« Zanargun warf den Metallskeletten einen misstrauischen Blick zu. Sein Arm senkte sich um drei Zentimeter. Der Leiter der Abteilung Außenoperationen und Chef der Landungstruppen der ATLANTIS, der eigens für diesen Flug zur TOSOMA gewechselt war, blieb auch in kritischen Situationen stets besonnen. Ich ging zu Li und umarmte sie. Sie drückte sich an mich. Ich hatte den Eindruck, dass sie leicht zitterte. Nicht vor Angst, eher vor Anspannung oder unterdrückter Erregung. Fast schien es, als könne sie es nicht erwarten, dass die Ereignisse endlich ihren Höhepunkt erreichten. Genau wie ich. Ich spürte, dass die Entscheidung nicht mehr fern war. Ich hatte mich in der Transmitterstation der »Prüfungswelt« Kharba per Krish’un ausgewiesen. Die Station hatte daraufhin unsere Gegner blockiert und den Transmitter zur Hauptstation freigegeben. Hier war ich als Hochrang-Bevollmächtigter über die gesamte Anlage anerkannt worden – ein wichtiger Schritt in meinem Bemühen, den Machenschaften Crest-Tharo da Zoltrals entgegenzuwirken. »Was ist passiert?«, fragte Li leise. »Da Zoltral verfügt genau wie ich über einen Krish’un«, sagte ich laut, um auch die anderen auf den neuesten Stand zu bringen. 5
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Aber was Kharag betraf, mussten wir einfach abwarten. Wir hatten derzeit keine Möglichkeit, das Stationsgehirn zu beeinflussen oder gar abzuschalten. Nachdenklich musterte ich den ArmbandBefehlsgeber, der mit dem dauergültigen Hochrangberechtigungskode ausgestattet war. Li pfiff leise auf. Ich wirbelte zu ihr herum. Es war ihr und Phazagrilaath gelungen, die Außensensoren anzuzapfen. Mit Hilfe der Minisyntronik, die der Chefwissenschaftler mit sich führte, hatten sie ein holografisches Bild der Umgebung aufgerufen. Ich musste heftig schlucken – und gegen die ungewollten Erinnerungen aus einem anderen Leben ankämpfen, die ungebeten an die Oberfläche drangen. »Was ist das?«, fragte Zanargun. Ich konnte seine Verwunderung verstehen. Ich selbst wäre ebenfalls verwundert gewesen, hätte ich nicht gewusst, worum es sich handelte. Das Holo zeigte ein rötliches Wabern und Wallen in optisch unbestimmbarer Distanz, scheinbar zum Greifen nah. Tatsächlich jedoch von der Oberfläche der Station aus etwa fünfzigtausend Kilometer entfernt, korrigierte mich der Extrasinn. »Der Halbraum«, sagte ich. »KharagStahlwelt ist eine ausgehöhlte Welt von fünfhundertvierundzwanzig Kilometern Durchmesser, die in eine stationäre Halbraumblase von etwa einhunderttausend Kilometern Durchmesser eingebettet ist.« Li und die anderen sahen mich entgeistert an. »Woher weißt du das?«, fragte die rothaarige Arkonidin aus der Familie der da Zoltral schließlich. »Du warst nur ein paar Minuten allein hier. Was verschweigst du uns?« Ich schloss kurz die Augen, konzentrierte mich, um besser gegen die Erinnerungen ankämpfen zu können, und zuckte dann mit den Achseln. »Das spielt keine Rolle.« »O doch!« Lis Stimme war plötzlich ein Fauchen. Ich öffnete die Augen wieder. Jedes Gleichmaß, jede Anmut war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihre Mundwinkel hatten sich verzogen und zuckten, die Haut schien sich über den Wangen zu spannen, die
kein leichtes Unterfangen sein«, sagte ich. »Wir müssen sämtliche Schaltungen manuell vornehmen. Phazagrilaath?« Der derzeitige Stellvertretende Chefwissenschaftler, normalerweise der wissenschaftliche Leiter der TOSOMA, ging zum nächsten Terminal und machte sich an die Arbeit. Lemurische Technik war in Grundzügen in der gesamten Milchstraße zwar allgemein bekannt, aber nicht unbedingt Unterrichtsfach an Universitäten oder Akademien. In der Hauptsache beschäftigten sich Historiker damit. Noch vor zwei Monaten hatte niemand ernsthaft damit rechnen können, nicht nur eine altlemurische Station, sondern gleich ein ganzes Sternenreich zu finden, in dem zahlreiche Hinterlassenschaften des ausgestorbenen Ursprungsvolks der Menschheit und so ziemlich aller humanoiden Völker der Milchstraße auf ihre Entdeckung warteten. Wenngleich sich spätestens nach Epetrans Bericht über die Leuchtfeuerkonstellation zumindest bei mir derartige Vermutungen eingestellt hatten ... Li trat unaufgefordert zu Phazagrilaath. Als Historikerin des Epetran-Archivs mit dem Spezialgebiet Lemuria war sie prädestiniert, den von Beuteltieren abstammenden, ansonsten äußerlich arkonoiden Ishkhorer bei seinen Bemühungen zu unterstützen. Der Marsupioide öffnete einige Taschen seines Kampfanzugs und holte die benötigten Utensilien hervor. Ich warf einen Blick zu den Robotern. Das kalte Leuchen in ihren Augenlinsen war nicht erloschen. Damit war klar: Das Stationsgehirn würde zwar nicht eingreifen, hatte sich aber keineswegs abgeschaltet. Und auch sämtliche technischen Einrichtungen, auf die es zurückgreifen konnte, von den Robotern bis zu den Peripherie-Rechnern, waren noch funktionsfähig. Das ist ein Risikofaktor, stellte der Extrasinn fest. Immerhin ist das Stationsgehirn über fünfzigtausend Jahre alt. In diesem Zeitraum kann viel passiert sein. Ich empfehle dir, Störungen nicht von vornherein auszuschließen. Unwillig gestand ich mir ein, dass die Warnung des Logiksektors berechtigt war. 6
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Standardbauweise.« Ich sprach schnarrend und ohne Pause. Wie ein Roboter, dachte ich erneut. »Die zentrale Hohlkugel durchmisst hundertvierundzwanzig Kilometer. In ihr schwebt die Zentralkugel von vierzig Kilometern Durchmesser. Die künstliche Atmosphäre ist durch ein Gravofeld bis in etwa drei Kilometer Höhe wie Normalatmosphäre strukturiert, dünnt dann bis zur Innenwand der Außenschale von selbst fast bis auf null aus.« Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Li mich musterte. Nun lag eine ähnliche Sorge in ihrem Blick, wie sie vor wenigen Minuten noch in meinem gelegen hatte. »Atlan«, sagte sie, »was ist in den paar Minuten geschehen, die du allein hier warst?« Ich stöhnte gequält auf. »Die Kernzone ist eine Kugel von vier Komma acht Kilometern Durchmesser. Im Gegensatz zur übrigen Zentralkugel gibt es hier eine horizontale Anordnung der Decks mit einer lichten Höhe von bis zu etwa einhundert Metern. Hier sind Steuerzentralen und Unterkünfte des Zentrumsbereichs untergebracht. Gewaltige Kraftwerke, Notfalltriebwerke, Schutzfelder und so weiter sorgen für die autarke Struktur der Kugel. Und hier finden wir auch die ... die ...« Ich spürte einen starken Schmerz auf der Wange. Entgeistert riss ich die Augen auf. Li hatte mir eine Ohrfeige versetzt. »Atlan!«, sagte sie eindringlich. »Was ist los mit dir?« Mein Lachen geriet schief und verzerrt. Genau das hatte ich mich gerade auch gefragt. Was war los mit uns allen? Was geschah hier in dieser lemurischen Kontrollstation mit uns? Ich rief weitere Daten und Bilder auf. »Hier haben wir eine Bio-Arcology ... ein gewaltiges Areal mit unzähligen Gehegen, in denen Biozuchtprojekte leben. Und hier ...« »Schluss jetzt!« Ich zuckte zusammen, so energisch und bestimmend klang Zanarguns Stimme. Der Luccianer funkelte uns wütend an. »Was ist los mit euch? Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller, und ihr führt endlose Debatten!« »Wir verschaffen uns einen Überblick über die Lage«, hielt Phazagrilaath dagegen.
Augen sprühten Blitze. Ich hatte den Eindruck, dass sich ihre Muskeln unter dem Kampfanzug spannten, als wolle sie mich anspringen. »Solch eine stationäre Halbraumblase«, sagte Phazagrilaath, »versuchen arkonidische Wissenschaftler schon seit langem zu entwickeln, und es ist ihnen bislang nicht gelungen. Aber die Lemurer konnten ja schon vor fünfzigtausend Jahren Sonnentransmitter bauen.« Seine Bemerkung schien Li zur Besinnung zu bringen. Sie zitterte am ganzen Leib, erstarrte dann. Als sie den Kopf hob und zu mir drehte, kamen mir ihre Bewegungen ruckhaft vor, wie die der Roboter, so sie denn wieder zum Leben erwachen würden. Sie machte zwei, drei winzige Schritte und umarmte mich. »Tut mir Leid«, flüsterte sie. Ich nickte, zog sie kurz an mich, löste mich von ihr und trat zu Phazagrilaath. Er wandte den Kopf schnell von uns ab. Zumindest hatte ich den Eindruck, dass er uns verstohlen beobachtet hatte. Der Druck in meinem Kopf wurde wieder stärker. Ich wusste, was er zu bedeuten hatte. Die Erinnerungen warteten darauf, mit brachialer Gewalt an die Oberfläche zu drängen, und schienen zu spüren, dass ein Auslöser ihnen dies bald beträchtlich erleichtern würde. Ich warf einen Blick auf den Minisyntron des Chefwissenschaftlers. Wie unter Zwang nahm ich einige Schaltungen vor. In diesem Augenblick kam ich mir vor, als hätte eine andere Person meine Gedanken übernommen und würde nun meinen Körper wie an unsichtbaren Fäden tanzen lassen. Das Wabern im Holo wurde ersetzt von einem grob kugelförmigen Gebilde, das von roten Schlieren umspielt wurde. »Kharag-Stahlwelt«, hörte ich mich sagen, mit einer Stimme aus einem anderen Leben. »Ursprünglich war sie ein Eisen-NickelPlanetoid, der ausgehöhlt und komplett in eine technisierte Stahlwelt verwandelt wurde. Die Außenschale rings um den Kernhohlraum ist zweihundert Kilometer dick. Der Innenaufbau entspricht weitgehend dem von Temur-Station, der Steuerstation des TemurSonnenfünfecktransmitters. Lemurische 7
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter verspotten. Ich kam nicht umhin, Bewunderung für die lemurische Ästhetik und Baukunst zu empfinden. Gorro winkte uns näher. »Keine Feindberührung! Auch hier keine Arkonidensee...« Er verstummte mitten im Satz. Mit leicht dümmlichem Gesichtsausdruck verfolgte er, wie sein Schutzschirm erneut flackerte und dann vollends ausfiel. »Was ...?« Ich kniff die Augen zusammen. »Selbstdiagnose!« Gorro erteilte einen mündlichen Befehl und nahm dann zur Sicherheit eine manuelle Schaltung vor. »Keine Diagnose möglich! Der Schutzschirm funktioniert nicht mehr!« »Kharag!« Ich ließ den Blick durch das Labor streifen. »Das Stationsgehirn scheint über uns unbekannte Möglichkeiten zu verfügen und damit für ein paritätisches Gleichgewicht sorgen zu wollen. Ich bezweifle nicht, dass da Zoltrals Leute ähnliche Probleme haben oder bekommen werden. Wir können uns nicht mehr auf die Spitzentechnik unserer Kampfanzüge verlassen!« »Aber ...«, sagte Zanargun. »Wie schaltet das Stationsgehirn denn unsere Schutzschirme aus?« »Diese Frage«, antwortete ich, »wird zukünftige Erforscher dieser Station sicher zu Höchstleistungen anspornen.« Zanargun lachte gellend und so laut auf, das ich zusammenfuhr. Das Pochen in meinem Kopf war wieder stärker geworden. Es ließ sich zwar noch aushalten, aber bei äußerlichen Reizen steigerte es sich zu einem kurzen, stechenden Schmerz. Wir stießen zur Zentrale der Stahlwelt vor. Wenn wir Crest-Tharo da Zoltral finden wollten, dann am ehesten dort. Unser Ziel war, ihn auszuschalten. Und dieses Ziel mussten wir so schnell wie möglich verwirklichen. Allmählich wurde mir klar, wieso da Zoltrals Konzern einen solchen Aufschwung erlebt hatte. Wir hatten schon zahlreiche Räume wie diesen entdeckt: Labors, Entwicklungs- und Montagestätten für vielfältigste Prototypen, ganze Fabriken und multifunktionale Robotwerke, aber auch, wenn nicht sogar
Der Elitekämpfer schüttelte sich ungehalten. »Die Lage ist klar. Wir wollen da Zoltral erwischen. Und wir müssen davon ausgehen, dass er sich nicht ohne Widerstand festnehmen lassen wird. Die Fragen lauten also: Wo ist er? Was hat er vor? Und was ist das Geheimnis dieser Station, das ihn bewog, überhaupt einen Krish’un zu stehlen, um an dieses ›Etwas‹ heranzukommen?« Die Antwort auf die letzte Frage kannte ich bereits. Aber ich behielt sie vorerst für mich, um noch mehr Fragen zu vermeiden. 2. Zanargun betrachtete das gepanzerte Schott und drückte auf den Öffnungsknopf. Nichts tat sich. »Es ist verriegelt«, stellte der gedrungene, an eine Schwerkraft von 1,5 Gravos angepasste Luccianer mit dem kurzen grauen Haar fest. Ich hob die Hand, an dessen Gelenk der Armband-Befehlsgeber befestigt war. Kharag selbst war zwar nicht mehr anzusprechen, aber mit dem Gerät, das er mir gegeben hatte, ließ sich manuell einfach alles schalten und öffnen. Das Schott glitt mit einem leisen Zischen auf, und Zanargun trat zur Seite. Karusan Gorro, der Arkonide aus Zanarguns Abteilung, jagte vorwärts. Täuschte ich mich, oder flackerte sein Schutzschirm schwach auf, als er in den anderen Raum flog? Während Zanargun nach hinten sicherte, drangen Ulbagimuun und Phazagrilaath vor. Erst als sie bestätigten, dass keine unmittelbare Gefahr drohte, schlossen Li und ich zu ihnen auf. Zanargun bildete wie üblich die Nachhut. Der Raum, in den wir eingedrungen waren, wirkte seltsam hell und lichtdurchflutet. Er war riesengroß; sein hinteres Ende entzog sich meinen Blicken. Gewaltige Rohre und Leitungen verliefen kreuz und quer durch die Halle. Sie waren strahlend weiß, kein einziger Schmutzfleck war zu sehen. Trotz ihrer offensichtlichen Masse wirkten sie irgendwie filigran, fast schwerelos, als würden sie den Naturgesetzen trotzen oder sie sogar 8
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Methan-Welt abgeschirmt hatten, auf der wir noch vor kurzem gewesen waren. Etwas war definitiv anders als sonst. Li reagierte nicht auf meine Nähe, lag ganz starr da, während wir Zanargun, Ulbagimuun und Karusan Gorro beobachteten, wie sie ihre Waffen justierten. »Diese Kälte«, flüsterte sie plötzlich. »Diese schreckliche, messerscharfe, todbringende Kälte ...« Ich zuckte zusammen. Hatte sie wieder eine Vision, wie auf Acharr? »Was für eine Kälte?« »Die der riesigen kobaltblauen Walze ...« »Welcher Walze?« »Die des ...« Das Röhren der Kombistrahler übertönte den Rest des Satzes. Selten hatte ich eine gelungene Aktion so heftig verflucht wie diese. Der Energieschirm brach zusammen. Zanargun hatte die Stärke des Punktbeschusses in der Tat genau berechnet. Es kam darauf an, den Schirm mit der genau richtigen Energiemenge aus drei Kombistrahlern zu überlasten und zum Zusammenbruch zu bringen, ohne größere Schäden an den Gegenständen zu verursachen, die er schützen sollte. Diesen Schirm hatte ich mit meinem Armband-Befehlsgeber nicht öffnen können. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Es handelte sich um keine lemurische Vorrichtung. Crest-Tharo da Zoltral musste ihn installiert und mit einer unabhängigen Energieversorgung ausgestattet haben. Warum? Was wollte der Großindustrielle sogar zumindest vor einem Teil seiner eigenen Leute verbergen? Was durften nur Eingeweihte oder Befugte sehen? Zanargun und Gorro rückten vor. Aufgrund der besonderen Sicherung des Raums war damit zu rechnen, dass er noch die eine oder andere Überraschung bereithielt; daher wurde der Chef selbst aktiv. »Bereich gesichert!«, meldete er nach wenigen Sekunden. Li und ich erhoben uns aus unserer Deckung. Gemeinsam mit Phazagrilaath folgten wir den anderen. Nach dem ersten Blick in den Raum stieß ich einen leisen Pfiff aus. Wir hatten ein
hauptsächlich, Fertigungsstätten für BioExperimente. Kein Wunder, dass sein Konzern mit einem wahren Entwicklungssprung sogar kleine Klonelefanten und -dinosaurier herstellen konnte. Der Konzernchef hatte nicht nur die Technik der Cantaro und Aras, sondern auch bislang unbekannte lemurische Technologien genutzt und eventuell sogar weiterentwickelt. Aber sämtliche Anlagen, die wir bislang entdeckt hatten, waren arkonidenleer gewesen. Die Frage drängte sich geradezu auf: Wo waren all die Forscher und Hilfskräfte, die hier arbeiteten oder versuchten, das Geheimnis der lemurischen Anlagen zu enträtseln? Es mussten Hunderte, wenn nicht sogar Tausende sein! Männer und Frauen, die das Gleichgewicht der Kräfte eindeutig zu da Zoltrals Gunsten verschoben. Und die einfach verschwunden zu sein schienen. »Eine Ortung!«, rief Karusan Gorro. »Der Individualtaster schlägt an! In unmittelbarer Nähe befinden sich Lebewesen!« »Arkoniden?« »Negativ! Die Anzeigen entsprechen keinem gespeicherten Muster. Offenbar humanoid, aber das ist auch schon alles!« Zanargun übernahm. Der Leiter der Abteilung Außenoperationen schob sich vor uns und bedeutete Gorro, ihm Deckung zu geben. Dann folgte er der Anzeige des Individualtasters. Und wir anderen folgten ihm. * Dass es sich nicht um eine normale Halle handelte, verriet schon allein der Umstand, dass sie von einem Energieschirm gesichert wurde. Es war der erste derart geschützte Raum, auf den wir gestoßen waren. Zanargun hatte behauptet, den Punktbeschuss genau berechnet zu haben. Dennoch waren wir gern seiner Aufforderung gefolgt, vorsichtshalber in Deckung zu gehen. Ich spürte Lis Körper eng an meinem. Ich glaubte sogar, ihre Wärme zu spüren, aber das war nur eine Täuschung. Wir trugen Schutz- und Kampfanzüge, die uns vor den Umweltbedingungen der Wasserstoff9
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter weiteres Biolabor der Lemurer entdeckt. Aber ein ganz besonderes. * Die erste Gruft, in die wir vorstießen, enthielt lediglich misslungene Experimente. Ich kam mir wirklich vor wie in einer Gruft des Grauens. Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate, zitierte der Extrasinn aus Dantes Göttlicher Komödie. Die Überschrift der Höllenpforte: Lasset alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet. Ich sah zahllose Behälter, fast alle aus durchsichtigem Kunststoff. Ich sah Fesselfelder und Energieschirme, die transparente Substanzen zusammenballten, wie sie sich auch in den Gläsern befanden. Formaldehyd?, fragte der Extrasinn. Er wirkte ebenfalls leicht betroffen. In der Flüssigkeit unbekannten Ursprungs und Zwecks schwammen Föten. Eindeutig Embryos arkonidischer oder vielleicht auch lemurischer Herkunft. Föten mit drei oder mehr Armen oder Beinen. Mit winzigen oder riesigen Köpfen. Mit kaum vorhandenem oder sinnlos aufgeblähtem Torso. Mit Schwänzen, Rüsseln, Echsenschuppen, Hörnern, Hufen und Klauen. Andere mit schrecklichen Missbildungen. Mit Geschwüren, die aus den Körpern wucherten und größer waren als die Körper selbst. Mit klaffenden Wunden, die während der Zellteilung entstanden sein mussten. Kein Einziger davon kam mir lebensfähig vor, war wohl auch nicht lebensfähig. Trotz ihrer leblosen Starre fühlte ich mich von einigen beobachtet. Manche hatten besonders ausgeprägte Augen, und ihre klaren Blicke schienen jede meiner Bewegungen zu verfolgen, als erhofften sie sich von mir, dass ich sie von ihrer Nicht-Existenz erlöste, ihre verunstalteten Körper endlich dem Vergessen anheim gab. »Crest-Tharos fehlgeschlagene Versuche«, sagte Li und zeigte auf einen Fötus, der wie eine Mischung aus Mensch und Dinosaurier anmutete. »Vielleicht ist das ein entfernter Vorfahre des Tyrannosaurus Rex, den wir in da Zoltrals Palast auf Arkon gesehen haben.« Die Bemerkung kam mir kalt vor, 10
unglaublich kalt. Ich schluckte und wandte den Blick von einem Embryo ab, der wie eine Mischung aus Arkonide und Elefant aussah. »Weiter!«, sagte ich. * Der zweite Raum enthielt Experimente, die nicht so schrecklich missraten, aber auch nicht unbedingt gelungen waren. Zumindest lebten sie noch. Wenigstens die meisten von ihnen. Ihre Schöpfer hatten es nicht einmal für nötig befunden, sie mit modernen Energieschirmen einzukerkern. Primitive Metallgitter, mehr hielten sie offenbar nicht für angebracht. Ein Wesen wand sich vor solch einem Gitter. Das Gesicht und der Torso waren humanoid, aber die blassgraue Haut war von Schuppen bedeckt. Arme und Beine waren tentakelförmige Auswüchse, die sich schwach um die Gitterstäbe schlängelten. Am schrecklichsten waren die hellroten Augen. Sie erinnerten mich an die von Arkoniden, und zumindest eine Spur von Intelligenz funkelte in ihnen. Dem Geschöpf war bewusst, dass es litt. Einen anderen Käfig teilten sich ein Zwerg von einem halben Meter und ein Riese von drei Metern Körpergröße. Ihre Arme und Beine waren Stümpfe, ihre Haut war faltig wie die eines Elefanten. Zwischen den Augen wuchsen Rüsselansätze aus den humanoiden Gesichtern, die hektisch zuckten und sich suchten, als bereite die Berührung mit diesen Extremitäten ihnen Trost oder Erleichterung. Ich schloss die Augen. Und als ich sie wieder öffnete, sah ich Hybriden, Monster, Freaks, Mutationen, Verunstaltete, die alle irgendwie humanoide Grundform zu haben, aber durch tierische Gene ergänzt worden zu sein schienen. Ich sah fellbedeckte Geschöpfe, die eher an Bekkar als an Arkoniden erinnerten, und aus offenen, eitrigen Wunden bluteten. Ich sah Wesen, auf deren ursprüngliche Körperform ich keine Rückschlüsse ziehen konnte, weil sie über und über mit Geschwüren bewachsen waren. Mich entsetzte, was ich hier sah, aber ich betrachtete jeden einzelnen der
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter missgestalteten Fehlversuche. Und mit jedem wurde mein Zorn auf Crest-Tharo da Zoltral größer. Irgendwann wurde aus diesem Zorn Hass. »Weiter!«, sagte ich, als ich es nicht mehr ertragen konnte. * Auch an den Wänden des nächsten Raums waren Käfige zu sehen, primitive Gebilde aus Stahl und Kunststoff, die nichts von der architektonischen Eleganz ahnen ließen, die die anderen Räume ausgezeichnet hatte. Offenbar waren wir gewissermaßen in die Hinterhofbereiche der Stahlwelt vorgestoßen. In diesen Käfigen waren die unterschiedlichsten Wesen untergebracht. Gemeinsam war ihnen nur eins: Sie waren humanoid und lebten. Ansonsten unterschieden sie sich gewaltig. Narr!, meldete sich der Extrasinn. Fällt dir nichts auf? Es hat den Anschein, als sollte hier die Evolution – eine Evolution! – im Schnelldurchgang nachvollzogen werden. Der Logiksektor hatte natürlich Recht. Die Wesen in den ersten Käfigen waren klein und erinnerten eher an Tiere. Die in den folgenden schienen sich allmählich von niederen zu immer höheren Geschöpfen zu entwickeln, wobei die glatte humanoide Linie offensichtlich immer wieder von Abzweigungen ergänzt wurde. Langsam schritt ich die Reihe der Käfige ab. Identische Automatikeinrichtungen sicherten die Versorgung der eingekerkerten Geschöpfe. Wasser und Nahrung schienen sie in ausreichendem Umfang zu bekommen, aber an jedweder gefühlsmäßigen Hinwendung fehlte es völlig. »Haben Crest-Tharo und seine Leute diese Geschöpfe gezüchtet«, fragte Li hinter mir, »oder handelt es sich noch um Versuchsreihen der Lemurer?« Ich deutete auf einen der Kryo-Tanks, die in regelmäßigen Abständen vor den Käfigen angeordnet waren. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Die Tanks lassen immerhin die Möglichkeit offen, dass diese Geschöpfe noch von den Lemurern entwickelt und dann gefroren gelagert wurden ...« 11
Nur für einen Augenblick ließ ich mich auf die Erinnerungen Mercova-Bans ein. – Ja, auch die Lemurer hatten Bio-Experimente durchgeführt. Rasch blockte ich den Zustrom wieder ab, ignorierte die ziehenden Kopfschmerzen. Als letztes Bild stand mir das wuchernde Plasmawesen von Othmura vor Augen, gezüchtet von Nevus’ Freundin Naglyna Vunar. Naglyna Vunar, die ich 50.000 Jahre später als Große Mutter der Kiemenatmer auf der Wasserwelt Tarik gefunden hatte. Die mir Hinweise auf einen lemurischen Planeten namens Di’akir gegeben hatte, Hinweise, denen wir irgendwann einmal nachgehen mussten. Irgendwann einmal ... »Jedenfalls handelt es sich bei diesen Kreaturen um Bio-Experimente. Im Gegensatz zu den massengeklonten Androiden, die wir auf Tarik entdeckt haben.« Ich verzichtete gegenüber den anderen auf jede Spekulation, wieso da Zoltral geist- und seelenlose Humanoide Androidenkörper in so großer Stückzahl herstellen ließ. Die Antwort darauf würden sie noch früh genug erfahren. Ich blieb vor einem der Käfige stehen. Das Wesen faszinierte mich nicht nur, es sorgte für einen Aufruhr meines fotografischen Gedächtnisses, den ich nur mit Mühe niederkämpfen konnte. Eine zufällige Ähnlichkeit! Konzentriere dich auf die Gegenwart!, mahnte der Extrasinn. Er war weiterhin voll damit beschäftigt, die Erinnerungen des lemurischen Tamrats niederzuringen, die mich zu überwältigen drohten. Ich bemühte mich, den Rat zu befolgen, aber es gelang mir nicht. Es war wie auf Arkon, wie beim Besuch des Epetran-Archivs, als der Anblick der dort ausgestellten Relikte Bilder der Vergangenheit hochgespült hatte, die mich in ihren Bann gezwungen hatten. Und wie im Epetran-Museum verfluchte ich erneut Fartuloon, der mich zur ARK SUMMIA geführt hatte. Aber diesmal waren es keine Bilder aus der arkonidischen Geschichte, sondern aus der terranischen, die ich über Jahrtausende hinweg entscheidend mitgestaltet hatte.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Der 24. Februar 2406 alter Zeitrechnung ... Mirona Thetin, eine wunderschöne Frau, von der damals noch keiner weiß, dass sie Faktor I ist, Beherrscherin der Meister der Insel, gegen die das Solare Imperium seit über fünf Jahren einen erbitterten Verteidigungskrieg führt ... Tefroderin und Archäologin wie Li ... das Luum-System ... Sie drängt mich zu einem Besuch auf Tamanium, der Zentralwelt der MdI ... Dort führt sie mich zu einer Anlage in der Nähe des Fremdrassenmuseums ... Nachdem sie mit mir geschlafen hat, lähmt sie mich und gibt sich als Faktor I zu erkennen ... Sie will das Raumschiff, mit dem Crest und Thora auf dem Erdmond gelandet sind, während einer Zeitreise zerstören und damit 430 Jahre Geschichte ungeschehen machen und die Macht und Herrschaft der Meister der Insel erhalten ... Ich stöhnte auf. Atlan!, mahnte der Logiksektor eindringlich. Mirona ... Sie unterbricht ihr Vorhaben, um mich vor den Monstren des Fremdrassenmuseums zu retten ... Aber ich kann mich befreien, und es entwickelt sich eine einerseits vom Machthunger der Meisterin der Insel, andererseits auch von Momenten der Zuneigung geprägte, mörderische Auseinandersetzung ... Verwirrt nimmt Mirona zur Kenntnis, dass sich ein mächtiger Mann wie ich um den primitiven, affenähnlichen Krantar kümmert, den sie achtlos paralysiert hat ... Als ich schließlich von Trümmern begraben werde, befreit Krantar mich, und ich nehme die Verfolgung der Tefroderin auf ... Und als Mirona den Zeittransmitter betritt, töte ich sie mit Krantars Speer, den ich mit letzter Kraft schleudere ... Verzweifelt versuche ich, den sterbenden Körper der geliebten Frau in Sicherheit zu bringen, und will sogar einen Duplo anfertigen ... Tamanium explodiert ... Gemeinsam mit Rhodan übergebe ich Mironas Leichnam dem Weltall ... »Krantar«, flüsterte ich. Das Wesen in dem Käfig, vor dem ich stand, schien ebenjenem Krantar aus dem Gesicht geschnitten zu sein ... *
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Es war ein primitives, fellbedecktes, affenähnliches Geschöpf, das lethargisch in seinem Käfig hockte und aus Augen blickte, in denen sich der gesamte Schmerz der Welt konzentriert zu haben schien. »Krantar«, flüsterte ich erneut und streckte die Hand aus, schob sie zwischen den Gitterstäben hindurch, deren Kälte ich unnatürlich deutlich wahrnahm. Das Wesen erhob sich von seinem primitiven Lager und streckte ebenfalls die Hand aus. Unsere Fingerspitzen waren noch dreißig Zentimeter voneinander entfernt, noch zwanzig, noch zehn ... »Was soll das?«, erklang Lis Stimme neben wir. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie näher getreten war. Krantar riss den Kopf herum, die Augen und das Maul auf, starrte Li an. Dann stieß der Primat ein Brüllen aus, das mir durch Mark und Bein ging. Er zog die Hand zurück, sprang vor, rüttelte an den Gitterstäben. »Ganz ruhig«, sagte ich zu dem affenähnlichen Wesen, »ganz ruhig ...« Ich streckte die Hand tiefer in den Käfig, berührte das Fell des Oberarms, spürte stahlharte Muskeln darunter. Krantar wirbelte zu mir herum, riss die Augen noch weiter auf, verharrte mitten in der Bewegung – und brach wie vom Blitz gefällt zusammen. Ich drehte mich zu Li um. Sie hielt den Kombistrahler noch in der Hand. »Du hast ...« Ich verstummte, konnte sie nur noch anstarren. »Ich habe ihn paralysiert«, erwiderte sie achtlos. »Er wollte dich angreifen!« Ich schüttelte den Kopf. Der Primat hatte mich keinesfalls anfallen wollen. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass er erst so aufgebracht reagierte, als er Li zur Kenntnis nahm. Als ... als habe er gespürt ... Ich wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. Da war es wieder, dieses seltsame, ja sogar irrationale Verhalten, das Li in letzter Zeit immer häufiger an den Tag legte. Ich suchte verzweifelt nach einer Erklärung, fand aber keine. Aus Lis Blick sprach reinste Verwirrung, als ich den Kombistrahler hob, die Gitterstäbe
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter desintegrierte und neben dem primitiven, affenähnlichen Krantar niederkniete. Was mochte er empfinden? Die Paralyse lähmte nur seinen Körper, sein Geist war weiterhin aktiv. Er bekam alles mit, was ich tat. Ich holte eine Injektionsspritze hervor, deren Inhalt die Wirkung der Paralyse neutralisieren konnte, zögerte dann aber. Ich kannte die Konstitution des Geschöpfes nicht. Die Injektion würde ihm vielleicht mehr schaden als nutzen. Andererseits ... Das Wesen war wahrscheinlich von Arkoniden gezüchtet worden. Ich streichelte es an der Brust und verabreichte ihm die schmerzlose Injektion. Dann erhob ich mich und drehte mich zu Li um. »Was hast du dir nur gedacht? Wie kannst du nur ...?« Sie hob die Hand, und ich hielt inne. Ihr Gehör musste sehr gut sein. Ich nahm das Geräusch erst jetzt zur Kenntnis. In der Ferne erklangen dröhnende Schritte. 3. »Wir müssen weg!« Ich sah Li an. Sie war mir eben noch so fremd gewesen, aber nun erkannte ich die Angst in ihren Augen. Ich konnte nur hoffen, dass sie meine Unsicherheit nicht bemerkt hatte. Das Geräusch der Schritte wurde lauter. Die Zahl der Feinde war mir ebenso unbekannt wie ihre Bewaffnung. Ich wusste nur eins: »Es sind verdammt viele. Am besten, wir nehmen den Gang da vorn!« Ich zeigte auf eine schmale Öffnung in der Wand, die in einen spärlich ausgeleuchteten Korridor führte. Li packte mich am Arm. »Dann lass uns gehen!« »Wir sollten uns trennen!«, sagte Zanargun. »Das erhöht unsere Chancen!« »Natürlich, du hast Recht«, murmelte ich. Warum war ich nicht darauf gekommen, hatte ich diese Anweisung nicht gegeben? Ich kannte die Antwort auf diese Frage, auch wenn ich sie mir nicht eingestehen wollte. Nevus Mercova-Bans unterdrückte Erinnerungen versuchten stärker denn je, sich an die Oberfläche zu kämpfen. Sie 13
behinderten mich wesentlich stärker, als ich es erwartet hatte. Mein Logiksektor musste fast seine gesamte Kraft aufwenden, um sie im Zaum zu halten, und doch störte das zweite Leben, das ich in mich aufgenommen hatte, mich in meiner Konzentration, verhinderte, dass ich so klar und scharf dachte, wie ich es von mir gewohnt war. Hinzu kamen noch die Erinnerungen an Mirona Thetin, die mich in eine Welt zu zerren drohten, die seit über zweieinhalb Jahrtausenden Vergangenheit war. »Zanargun und Ulbagimuun bilden eine Gruppe, Karusan Gorro und Phazagrilaath die zweite, Li und ich die dritte. Wir nehmen verschiedene Gänge und bleiben über Funk in Verbindung! Los, worauf wartet ihr?« Meine vier männlichen Begleiter liefen los, waren Sekunden später im Labyrinth der Gänge verschwunden. Ich sah auf den verletzten »Krantar«, der vor mir lag. »Kannst du laufen?« Es hatte keinen Sinn, ihn zu tragen. Er war viel zu schwer für mich. Wenn er es nicht aus eigener Kraft schaffte, konnte ich ihm nicht helfen. »Atlan, sie sind gleich da!« Lis Hand ballte sich zur Faust. Ich musste mich entscheiden. Wie oft werde ich noch solche Schritte tun müssen? Manchmal ist alles so hart und sinnlos. »Tut mir Leid, mein Freund.« Ich drückte Krantar noch einmal die Hand und stand dann auf. Li war schon losgelaufen. »Da vorn sind sie!« Ich kannte die Stimme nicht, die den Ruf ausgestoßen hatte. Es musste sich um einen von da Zoltrals Schergen handeln. Wir kämpften gegen einen unbekannten Gegner; sogar über dessen genaue Stärke konnten wir nur Vermutungen anstellen, und das beunruhigte mich. Ein Paralysestrahl fuhr so knapp an meinem Oberkörper vorbei, dass er trotz des schützenden Krish’un ein prickelndes Gefühl auf der Schulter hinterließ. Es wurde Zeit, dass ich mich aus dem Staub machte. Im Laufen drehte ich mich um und wollte das Feuer erwidern. »Das kostet nur unnötig Zeit!« Trotz dieser Worte blieb Li stehen. Auf ihrem Gesicht lag wieder dieser seltsame Ausdruck, den ich
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter schon öfter bei ihr bemerkt hatte. Als würde eine andere Person in ihr stecken ... Sie ist mir immer wieder so fremd ... Sie hob den Kombistrahler, zielte gelassen und drückte ab. Ich erkannte an der Anzeige ihres Displays, dass er auf Thermostrahl eingestellt war. »Li, du tötest sie! Stell auf Paralyse um, wir können ...« Der Blick, den sie mir zuwarf, ließ mich verstummen. Reine Mordlust tanzte in ihren Augen. Es war der Blick eines Killers, nicht einer Frau, die vor Angst weglaufen wollte. »Wenn ich sie betäube, stehen sie wieder auf, und wir müssen erneut gegen sie kämpfen. Wenn sie tot sind, haben wir endgültig Ruhe vor ihnen.« Nicht erst dieser Ort hier hatte sie so verändert. Aber wie waren ihre Gemütswandlungen zu erklären? »Sie sind in der Überzahl! Viele Bekkar sind des Xarphen Tod!« Ich zerrte sie in den Gang. Wütend funkelte sie mich an. »Na schön! Aber beim nächsten Mal sage ich, wo es langgeht!« Wir liefen in das Halbdunkel des Tunnels, ohne zu wissen, wohin er uns führen würde. Hinter uns konnte ich die Verfolger rufen hören. Wir hatten zu lange gewartet. Sie waren uns dicht auf den Fersen. Ich fluchte leise. Dieser Gang war eine schlechte Wahl. Er hatte keine Nischen, keine Abzweigungen. Es ging nur geradeaus. Unsere Schritte hallten von den glatten Wänden wider. Oder waren es die Schritte unserer Gegner? Die Geräusche schienen aus allen Richtungen zu kommen und uns einzukreisen. Nach einer schieren Ewigkeit erschien vor uns im Zwielicht des Ganges ein schwacher Schein. »Dort wird es heller! Vielleicht können wir uns da verstecken! Oder wenigstens in Deckung gehen.« Auch wenn mir der Gedanke, dass wir nun wunderbare Zielscheiben abgaben, gar nicht gefiel ... Li stöhnte neben mir auf. »Langsam bin ich es leid! Hoffentlich hast du Recht mit dem Versteck!« Ich antwortete nicht. Kurz dachte ich an die anderen. Wie war es ihnen ergangen? Der Gang endete an einem Schott aus einem 14
durchsichtigen Kunststoffmaterial. Zu meiner Erleichterung war es weder durch einen Kode noch durch eine Verriegelung gesichert. Ich stieß es auf und blieb wie erstarrt stehen. Eine riesige Halle. In ihren Boden waren Unmengen von großen Vertiefungen eingelassen, so viele, dass ich sie bei weitem nicht alle erfassen konnte. Jede dieser Einfriedungen stellte eine in sich geschlossene ökologische Nische dar, Lebensräume, die anscheinend speziell für ihre jeweiligen Bewohner geschaffen worden waren. Aufgrund des Plans, den wir zuvor von der Stahlwelt aufgerufen hatten, wusste ich, wo wir uns befanden. »Das ist eine Bio-Arcology«, flüsterte ich. Eine von mehreren Dutzend ... »Sieh dir diese seltsamen Zuchtobjekte an!« Li zeigte auf eine dieser Einlassungen. Vorsichtig näherte ich mich der etwa fünf Meter tiefen Grube. Das Gehege barg in der Tat ein Geschöpf, dem ich nicht im Dunkeln begegnen wollte. Es war etwa drei Meter hoch und erinnerte mich entfernt an den berüchtigten Tyrannosaurus Rex. Aber das Exemplar vor mir hatte erheblich größere Vorderarme und einen Schwanz, der mit Knochenstacheln bewehrt war. »Was geht hier vor? Da Zoltral ist viel weiter gegangen, als wir alle es vermutet haben. Er schreckt vor keiner Untat zurück. Wir müssen ihn so schnell wie möglich stoppen!« Wie weit konnte ein vernunftbegabtes Wesen gehen? Das alles ließ sich nur erklären, wenn man Crest-Tharo als Größenwahnsinnigen einstufte. Denn die alten Lemurer hatten diese Wesen ganz bestimmt nicht gezüchtet. »Die verweigerte Wiederaufnahme in den Adelsstand hat ihn den Verstand gekostet! Wie groß muss sein Hass auf die Arkoniden sein, die ihm das angetan haben! Dieses Gefühl hat ihn zerfressen, so lange, bis nur noch eine leere Hülle von ihm übrig war. Das entstandene Vakuum hat er dann mit allem Negativen ausgefüllt, das man sich vorstellen kann.« Ich schüttelte den Kopf. »Das allein reicht nicht als Erklärung. Als wir da Zoltral zum letzten Mal gesehen haben, in seinem Palast auf Arkon, war er durchaus bei Sinnen. Zweifellos hatte er keine Skrupel, aber auf
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter jeden Fall einen messerscharfen Verstand. Er war kein geifernder Größenwahnsinniger, der nur vor Wut schäumt, Untergebene liquidiert und zur miesen Karikatur verkommt. Etwas muss mit ihm geschehen sein ...« Auch er hat die Aufnahmeprüfung über sich ergehen lassen müssen!, sagte der Extrasinn. Lis kurzer Schrei rief mich wieder in die Gegenwart zurück. »Sie sind hier! Wir müssen uns verstecken!« Suchend sah ich mich um, entdeckte aber keine Stelle, an der wir uns verbergen konnten. Die Freigehege der Biozuchtwesen waren tief in den Boden eingelassen, der genau wie die Decke und die Wände von Quadern aus Kunststoff gebildet wurde. Den Stationsplänen zufolge, so viel verriet mir immerhin noch mein fotografisches Gedächtnis, erstreckte sich diese BioArcology über mehrere Etagen. Die Gehege selbst waren zwar von den unterschiedlichsten Pflanzen bewachsen, aber ich verspürte nicht die geringste Lust, mich in eins davon hinab- und damit in die Reichweite seines Bewohners zu begeben. »Die Klappen dort!« Li zeigte auf die Wand eines Geheges. »Wahrscheinlich führen sie zu Versorgungsräumen oder -schächten!« Das war die Chance, uns unsichtbar zu machen. »Wir müssten nur einen harmlosen Zimmergenossen finden, der es eine Weile mit uns aushält – und wir mit ihm! Wir trennen uns. Du siehst drüben in der Reihe nach, ich hier!« Die Zeit wurde knapp. Ich lief die Gehege entlang, aber ihre Insassen erweckten nicht den Eindruck, als würden sie in arkonidischen Mitbewohnern etwas anderes sehen als kleine Zwischenimbisse. Entweder waren es Krallen oder Giftzähne, die mich von einer näheren Bekanntschaft Abstand nehmen ließen, oder mein Extrasinn warnte mich vor Hautgift, klebrigem Speichel oder Drüsen, die wie geschaffen waren, Säure zu versprühen. Ein Tier in einer Grube bemerkte mich. Es sah aus wie eine geflügelte Schlange; ihr Leib war mannsdick und mindestens zehn Meter lang. Mit einer Geschwindigkeit, die ich dem Monstrum niemals zugetraut hätte, entrollte es sich wie eine Sprungfeder, und der rote Kopf auf dem blau geschuppten Körper raste 15
auf mich zu. Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich sprang zur Seite, aber der Kopf war schon heran, das Maul mit den dreißig Zentimeter langen Reißzähnen würde mich an der Schulter oder zumindest am Arm erwischen ... Die Luft vor mir schien bunt zu knistern und zu flackern, und die Schlange wurde zurückgeworfen und stürzte in die Grube zurück. Sie war mir so nahe gekommen, dass ich das zuerst gierige und dann enttäuschte Blitzen in ihren Augen deutlich wahrgenommen hatte. Ein Energieschirm!, dachte ich träge, von Kopfschmerzen geplagt. Die Gehege werden von Energieschirmen gesichert! »Crest-Tharo hat nicht gerade einen Streichelzoo gezüchtet«, murmelte ich. »Hier!« Li winkte mir zu. »Sieh dir dieses Vieh mal an!« Ich lief zu ihr. Dabei versuchte ich, Zanargun oder Phazagrilaath über Funk zu erreichen, bekam aber keine Antwort. Wahrscheinlich waren sie ebenfalls damit beschäftigt, sich da Zoltrals Schergen zu entziehen. Ein Sirren erklang vor mir. Achtung! Mein Extrasinn wollte mich noch warnen, da schoss auch schon Kälte durch meine Schulter. Ein Paralysestrahl! Verdammt! Ich kippte zur Seite, meinen Körper spürte ich nicht mehr. Ich sah leere Luft vor mir, wappnete mich gegen die Berührung mit dem Energieschirm, der mich zurückstoßen würde – aber sie blieb aus! Nur einseitig wirksame Energieschirme!, dachte ich. Vielleicht, damit da Zoltral seinen Lieblingen Leckerbissen hinabwerfen kann, wenn er seinen Privatzoo mal besucht! Ich stürzte drei Meter tief, fünf, sechs, spürte zunächst gar nicht, wie ich auf dem Boden aufschlug. Es musste jedoch ein harter Aufprall sein, trotz der Paralyse jagte anschließend Schmerz durch mein rechtes Bein. Meine Augen waren noch geöffnet. Leider?, fragte ich mich, als ich im nächsten Moment ein geiferndes Maul über mir aufragen sah. Was ist schlimmer? CrestTharos Gefangener zu sein oder einem seiner Geschöpfe den Speiseplan zu ergänzen? Verzweifelt dachte ich an den Kombistrahler.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Körper zurück. Ich wollte Lis Hand nehmen, sie an mich drücken, war aber noch zu schwach dazu. Du schreckst davor zurück. Etwas Fremdes steht zwischen euch! Bevor ich dem Logiksektor antworten konnte, ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Hier Zanargun. Wir sind jetzt in einem Röhrensystem, anders konnten wir die Verfolger nicht abschütteln. An den Wänden stehen Kennungen. Sie geben uns Hinweise, wo wir uns befinden.« Der Luccianer klang ziemlich gelassen. Es beruhigte mich, meine Gefährten in Sicherheit zu wissen, wenn auch nur in vorläufiger und relativer. Am ganzen Körper zitternd, richtete ich mich behutsam auf. Der Leiche des geklonten Raubsauriers widmete ich nur einen ganz kurzen Blick. »Verstanden«, antwortete ich mit rauer Stimme. »Wir haben hier ein kleines Problem, ist aber gleich erledigt. Gebt mir die Kennung durch. Sobald ich die unserer Position habe, melde ich mich sofort.«
Ich konnte mich nicht bewegen; er würde mir nicht helfen, dem Tod durch etliche fingerlange Reißzähne zu entgehen. Ätzende Tropfen fielen auf mein Gesicht, meine Augen tränten. Ich versuchte, die Hände zu bewegen, aber es war sinnlos. Eine Wolke übel riechenden Atems hüllte mich ein. Das Tier, in dessen Gehege ich gestürzt war, war zweifellos ein Fleischfresser. Das Geschöpf zuckte zurück, als wollte es gleich wieder zum tödlichen Stoß vorschnellen, und ich konnte einen Saurierkopf mit einem riesigen Kiefer ausmachen. Dickflüssiger, dunkelgrüner Speichel tropfte auf meine Kombination. Das Ungetüm riss das Maul auf, und der Gestank wurde so überwältigend, dass ich mich hätte übergeben müssen, wäre ich nicht völlig gelähmt gewesen. Abrupt fiel mir der Kopf mit dem riesigen Kiefer entgegen. Ich schloss die Augen in Erwartung des tödlichen Bisses. »Bei Arkon, wie geht es dir?« Es war Lis Stimme, die ich wie aus weiter Ferne hörte. Was sollte ich antworten? Mir geht es gut, bis auf den Umstand, dass ein Monstrum den Kopf in meinen Schoß gelegt hat? »Warte, ich komme!« Nein, bleib, wo du bist. Da oben ist es sicherer als hier unten. Ich wollte es ihr zurufen, brachte aber nicht einmal ein Krächzen zustande. Der Schädel des Untiers lag schwer auf meinem Magen, ich bekam kaum Luft. Sie muss die Klonechse erschossen haben! Li, ich liebe dich. Manchmal ist es richtig nützlich, dass du so kaltblütig bist. Ich hörte sie am Rand des Geheges, dann stand sie neben mir. Ihr Atem ging etwas schneller als sonst. »Mach dir keine Sorgen wegen der Verfolger. Ich habe sie ausgeschaltet.« Erneut machte sich Übelkeit in meinem Magen breit. Ich wusste nicht, ob Lis Worte oder der Geruch des Fleischfressers schuld daran waren. Sie holte eine Injektionsspritze aus einer Kampfanzugtasche. Ich spürte die Berührung an meinem Hals nicht. Danach kehrte brennend Leben in meinen
* Li reichte mir die Hand, zog mich hoch und sah mich an. »Danke«, sagte ich schwach. »Dein Armband!« Ihre Stimme klang ungehalten, ungeduldig. »Oder sollen wir den Schutzschirm mit Thermostrahlen überlasten?« Ich nahm die Schaltung vor, und wir flogen aus dem Loch, in dem die saurierähnliche Kreatur gehaust hatte. Vielleicht hatten wir das Geschöpf sogar erlöst. Niemand konnte ahnen, was Crest-Tharo mit diesen Tieren vorhatte. Meine Knie zitterten, mir war schwindlig, aber der Aktivatorchip und Lis Medikament halfen. Ich schüttelte die Lähmung überraschend schnell ab. »Dahinten ist eine Kennung!« Li lief los. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Die Tiere in den Gehegen schienen unruhig zu werden. Witterten sie den Tod ihres Artgenossen? Allein in dieser Bio-Arcology warteten Hunderte von Geschöpfen in ihren 16
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Bodengruben auf die Erfüllung ihres Schicksals. Sie alle waren Zuchtobjekte der Arkoniden um Crest-Tharo! Ich gab Zanargun die Kennung durch. Mein fotografisches Gedächtnis half mir, das System zu erkennen, nach dem die Gänge beziffert worden waren. Wir machten einen Treffpunkt aus, an dem wir wieder zusammentreffen wollten. »Wir sollten hier wirklich so schnell wie möglich aufräumen und zusehen, dass wir wieder an Bord der TOSOMA kommen«, sagte Zanargun. »Ich brauche dringend einen starken Kaffee.« Ich musste lächeln. Natürlich wusste ich, wie gern der Luccianer sich dieses braune Gebräu einverleibte. »Das wäre auch in meinem Sinne.« Ich unterbrach die Verbindung. Li stand vor mir, hatte mir den Rücken zugedreht. »Warum haben wir es eigentlich so eilig? Hier sind wir doch ungestört, abgesehen von Hunderten von Augenpaaren, die jede unserer Bewegung beobachten.« Sie drehte sich um, lachte leise, legte die Arme um mich und küsste mich auf den Hals. Ich stand wie erstarrt da. Das war wieder die Li, die sich mir völlig entzog. »Du bist unmöglich«, sagte ich leise, »aber vielleicht liebe ich dich deshalb so sehr.« In ihren Augen lag wieder diese Leidenschaft, die mich schon bei unserer ersten Begegnung verzaubert hatte. Ich gestand es mir freimütig ein: Ich begehre sie, sie macht mich verrückt. Ihre Anwesenheit allein reicht aus, ein Blick von ihr, eine Geste. Wie sie über ihr kurzes rotes Haar streicht ... Wie oft habe ich das schon gesehen, und weiterhin knistert die Erotik in jeder ihrer Strähnen. Im künstlichen, kalten Licht der BioArcology küssten wir uns. Lange und leidenschaftlich. Wir drückten uns aneinander, versuchten, dem anderen trotz der Kampfanzüge so nah wie möglich zu sein. Ich ließ die Hände über Lis Körper gleiten, stellte sie mir so vor, wie sie oft genug in meiner Kabine gelegen hatte. Nackt, in ihrer ganzen Schönheit. Mit den wunderbaren Kurven, den kleinen Grübchen an gewissen Stellen, die ich so gern liebkoste. Narr!, kreischte der Logiksektor aufgebracht. 17
Abrupt wand sie sich aus meiner Umarmung. »Wir sollten weitergehen.« Jetzt war sie wieder die kühle, die sachliche Li. »Aber wir setzen das an einem anderen Ort, zu einem anderen Zeitpunkt fort.« »Ich werde dich daran erinnern.« * Ohne die Kennzeichnung der Gänge hätten wir uns hoffnungslos verlaufen. Hier sah alles gleich aus: kalter Stahl, nackter Kunststoff und funktionelles Design. Sofern man überhaupt von Design sprechen konnte. Ein Knacken riss mich aus meinen Betrachtungen. »Hier Zanargun. Wir nähern uns dem Treffpunkt. Phazagrilaath und Gorro erreichen ihn ebenfalls in wenigen Minuten. Bei euch alles klar?« Ich lächelte Li zu, und sie schnitt eine Grimasse. »Ja, wir scheinen die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Aber wir sollten wachsam bleiben. Es kommt mir seltsam vor, dass da Zoltrals Leute noch nicht wieder aufgetaucht sind. Da braut sich etwas zusammen.« Die Erfahrung von dreizehntausend Jahren rief mir unablässig Warnungen zu. Mir kam es überaus merkwürdig vor, dass wir so unbehelligt durch die Gänge streifen konnten. »Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Nach meiner Schätzung werden wir den Treffpunkt in fünf Minuten erreichen.« Ich überlegte kurz. »Sichert die Umgebung, sucht ein Versteck. Wir überlegen gemeinsam, wie wir dann vorgehen werden.« »Verstanden!« Ich beendete das Gespräch. Dieses seltsame Gefühl in mir wurde immer stärker. Über unseren Köpfen braute sich etwas zusammen ... Li spürte meine Nervosität. »Was beunruhigt dich so? Glaubst du, Crest-Tharo hat uns eine Falle gestellt?« Sie sah mich an. Ihr konnte ich nichts vormachen, sie erkannte meine Sorgen sogleich. »Ich weiß nicht ... Irgendetwas geht hier vor. Mir wäre wohler, wüsste ich mehr.« Ich schüttelte langsam den Kopf. Die pochenden Schmerzen darin wurden von Minute zu Minute stärker. Das Denken fiel mir schwer,
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter und manchmal hatte ich den Eindruck, die Orientierung völlig verloren zu haben. Sie strich mir übers Haar, lächelte sanft. Wieso wollte ich ihr meine vorübergehende Verwirrung nicht eingestehen? Ihr nicht von dem zweiten Leben erzählen? Von der Maschine, die die Antwort auf die meisten unserer Fragen war? »Nevus«, flüsterte ich und versuchte, mich wieder zu konzentrieren. Fest stand, dass wir momentan in der schlechteren Position waren. Wir wurden gejagt, und da Zoltrals Leute waren in der Überzahl. »Wir werden es schon schaffen«, sagte Li. »Deine Leute sind nicht das erste Mal auf solch einer Exkursion.« Das war meine Li! Sie war nicht so schnell zu erschüttern, vertraute auf mich. Ich war ihr Fels in der Brandung. Ihr Vertrauen, ihre Liebe, das alles gibt mir Kraft. Wer weiß, wie viel davon ich noch brauche, bis wir wieder in Sicherheit sind. Ich hoffe, ich gebe ihr dasselbe Gefühl. »Hier Phazagrilaath. Wir haben den Treffpunkt erreicht. Wir sichern die Stellung und ...« Der Rest des Satzes ging in einem furchtbaren Schrei unter. All meine Befürchtungen schienen sich in diesem Moment zu bewahrheiten. Ich versuchte, die Verbindung wiederherzustellen, aber weder Zanargun und Ulbagimuun noch Phazagrilaath oder Karusan Gorro meldeten sich. Und wieder müssen wir uns Unfassbarem stellen. Was erwartet uns noch in diesen Gängen und Hallen? Li sah mich an und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deine Schuld. Lass uns nachsehen, was passiert ist. Wenigstens wissen wir, wo sie zuletzt waren!« Ich zog den Kombistrahler. »Wir müssen auf alles vorbereitet sein!« »Ich weiß, was ich zu tun habe.« Das weiß sie wirklich, dachte ich. Sie hat mir schon oft das Leben gerettet. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät. 4.
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Du hast doch nicht vor, mit offenen Augen in eine Falle zu laufen!, meldete sich der Extrasinn. Ich vernahm ihn nur schwach und undeutlich, wie aus weiter Ferne. Warum tust du es dann? Ich schloss die Finger fester um den Griff des Kombistrahlers. Der Logiksektor hatte natürlich Recht. Ich hatte keine Ahnung, was uns am Treffpunkt erwarten würde. Waren Phazagrilaath und die anderen nur verletzt, in der Gewalt von Crest-Tharos Leuten oder schon tot? Nach dem Grauen, das mir bislang hier begegnet war, wollte ich darüber nicht nachdenken. Es gab zwei Arten von Feinden. Zum einen die kalkulierbaren, die knallhart aufs Ganze gingen. Sie konnte man einschätzen, ihre Brutalität war Mittel zum Zweck. Zum anderen gab es solche wie da Zoltral. Sie waren absolut unberechenbar, handelten intuitiv, von Emotionen getrieben. Einen derartigen Feind konnte man nur mit viel Glück besiegen. Ich konnte nur hoffen, dass meine Männer noch lebten und es ihnen einigermaßen gut ging. »Wenn ich ihn in die Finger kriege, kann ihn niemand mehr retten.« Li flüsterte zwar nur, aber beim Klang ihrer Stimme lief mir eine Gänsehaut über den Rücken. Manchmal erscheint sie mir so unkalkulierbar, so emotional, raunte der Extrasinn. Als sei sie gar nicht für ihr Handeln verantwortlich. Als würde jemand anders durch sie agieren. Bevor ich antworten konnte, glitt eine Gestalt aus der Dunkelheit. Li explodierte förmlich. Sie sprang sie an, warf sie zu Boden und drückte ihr die Mündung ihrer Waffe gegen die Schläfe. »I-ich bin’s ...!« Obwohl die Stimme aufgrund von Lis Würgegriff stark entstellt wurde, erkannte ich sie. »Karusan? Was ist passiert?« Li lockerte den Dagor-Griff. Der Angehörige der Sicherheitsabteilung schüttelte sich und richtete sich langsam auf. »Es ging ganz schnell. Ich hatte Glück, ich stand etwas abseits. Sie haben mich nicht gesehen.« Er lachte. Es war ein seltsames Lachen, kam
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Mich hätte der Tritt außer Gefecht gesetzt, aber Karusan schien ihn einfach abschütteln zu können. Ungläubig sah ich, wie er herumwirbelte und mit großen Schritten davonlief. Ich war zu verblüfft, um zu reagieren, und Li stand einfach nur reglos da. Karusans Worte, die für mich keinen Sinn ergaben, hallten durch das Halbdunkel, bis sie schließlich im Gängegewirr der Station leiser wurden. Ich sah Li an. Sie steckte ihren Strahler ins Halfter zurück. Ihr Blick war leer; sie wirkte völlig entrückt auf mich. Werden wir hier noch alle verrückt? Wir liefen los. Nun spielte es keine Rolle mehr, wie laut wir waren, Karusan übertönte mit seinem Singsang unsere Schritte. Er hatte offensichtlich völlig den Verstand verloren. Warum? Das wollte ich in Erfahrung bringen. Wir mussten so viel wie möglich über den Feind wissen. »Wir nähern uns dem Kern der Station!« Mein fotografisches Gedächtnis ließ mich nicht im Stich. Ganz in der Nähe befand sich die Halle mit der BewusstseinsTransfermaschine. »Wo sind Crest-Tharos Leute?« Lis Stimme erklang stoßweise. »Ich habe nicht alle kaltgemacht. Warum taucht hier keiner auf?« Vielleicht wollen sie, dass du Karusan folgst!, stellte der Logiksektor lapidar fest. Dann ist das eine verdammte Falle ...! Ich war fast erleichtert, ihn zu hören. Ich hatte seine Ratschläge schon vermisst. Der Logiksektor beurteilte, wie sein Name schon verriet, streng logisch. Seine Existenz diente nur einem Zweck: mich zu schützen, mich zu unterstützen. Abrupt wurde mir klar, warum er so lange geschwiegen oder nur Allgemeinplätze von sich gegeben hatte. Er war vollauf damit beschäftigt, mich handlungsfähig zu halten. Er kämpfte gegen die Erinnerungen von Nevus Mercova-Bans Leben an, die mich geradezu gelähmt hätten, wären sie an die Oberfläche gedrungen. Und mir wurde noch etwas klar: Auch ich war alledem nicht vollständig gewachsen. Allein das Unterdrücken dieser Erinnerungen beeinträchtigte mich viel stärker, als ich bislang vermutet hatte, kostete unglaubliche
mir irgendwie unheimlich vor. Karusan taumelte, wirkte völlig verwirrt. »Könnt ihr euch das vorstellen? Sie haben mich einfach übersehen! Ich war unsichtbar.« Der Arkonide lachte erneut. Er steht unter Schock. Crest-Tharo da Zoltral ist in vieler Hinsicht eine ganz neue Erfahrung für uns. Ich schüttelte Karusan. »Wo sind die anderen? Komm zu dir!« Er sah mich nur aus weit aufgerissenen Augen an. Li verzog den Mund. Übergangslos schlug sie Karusan mit der flachen Hand ins Gesicht. »Antworte! Wo sind die anderen?« Ihr Schlag zeigte Wirkung. Karusan hörte auf zu lachen, sah sich gehetzt um. »Wir müssen uns beeilen. Kommt, ich führe euch!« Er wollte sich umdrehen, stolperte dabei gegen Li, murmelte dann etwas, das ich nicht verstand. Er kam mir noch immer überaus verwirrt vor. Ich zögerte, war mir nicht sicher, ob es ratsam war, ihm einfach so zu folgen. »Du Tölpel, pass doch auf!« Wütend stieß Li den Mann zur Seite. Ich sah, wie Karusan sich bückte. Er lachte wieder gellend auf. Als er sich aufrichtete, hielt er seinen Kombistrahler in der Hand. Die Mündung zeigte auf Li. Sein Gesicht war völlig verzerrt. Wieso erkannte ich den Wahnsinn darauf erst jetzt? »Was soll das, Karusan? Erkennst du uns nicht? Wir sind deine Freunde! Du wolltest uns zu den anderen bringen.« Ich habe es befürchtet. Karusan ist alledem nicht gewachsen! Li sah mich an. Ich wusste, was sie vorhatte. Sie hatte sich immer wieder als gute Kämpferin bewiesen, war schnell und präzise. Ich musste Karusan nur von ihr ablenken. Ein paar Sekunden würden genügen. »Karusan, gib mir die Waffe!« Sein irrer Blick wechselte zwischen Li und mir. »Ich weiß nichts, ich bin nichts ...« Er konnte den Satz nicht vollenden. Lis Knie hinderte ihn daran. Es traf ihn genau dort, wo es richtig wehtat. Er riss die Augen noch weiter auf, schnappte nach Luft und ließ den Kombistrahler fallen. »Wer bin ich?«, stammelte er. »Was soll ich denn tun?« 19
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Kraft. Ich musste dieses vollständige Leben, das meinen Verstand zu überfluten drohte, unbedingt verarbeiten, bevor ich wieder ich selbst war. Wahrscheinlich hatte ich in den letzten drei Stunden mehr Fehlentscheidungen getroffen als in den letzten dreitausend Jahren. Am liebsten hätte ich laut geschrien, so heftig war mittlerweile der Schmerz, der meinen Kopf fast zerbersten ließ. Einen Augenblick lang wusste ich tatsächlich nicht mehr, wo ich war. Aber bevor ich mich wieder zusammenreißen, dem Extrasinn antworten konnte, flammte ein Scheinwerfer auf. Gleißende Helligkeit blendete mich, wenn auch nur kurz. In ihrem Zentrum stand Crest-Tharo da Zoltral. »Willkommen in meinem bescheidenen Reich«, sagte er gelassen. * An Gegenwehr war nicht zu denken. Ich sah in die Mündungen von drei Kombistrahlern, die auf uns gerichtet waren. Die beiden Schergen des Großindustriellen verstanden ihr Geschäft, hielten sich seitlich von da Zoltral. Bis wir unsere Waffen gehoben hätten, wären wir schon paralysiert worden. Oder getötet. Jetzt stand ich meinem Gegenspieler endlich wieder gegenüber, auch wenn ich mir dieses Zusammentreffen anders vorgestellt hatte. Wie bei unserer ersten Begegnung trug er über einer schlichten weißen Kombination im Uniformschnitt einen knielangen dunkelgrünen Schulterumhang zu wadenhohen Stiefeln und handbreitem Gürtel. Er hatte sogar den bronzefarbenen, feinst ziselierten Brustharnisch angelegt, ohne den er sich kaum einmal zeigte, und trug auch sein Dagor-Schwert auf dem Rücken. Das hagere Gesicht mit den buschigen weißen Brauen und der hohen Stirn war von weißblonden, schulterlangen und leicht gewellten Haaren umgeben. Mit seinem großen und sehr schlanken, fast sehnigen Körper hätte er eine imposante Gestalt abgegeben, würde in den blassen hellroten Augen nicht etwas flackern, was ich nur allzu oft gesehen hatte. Ich bezweifelte nicht, dass 20
es sich um Wahnsinn handelte. Bei unserer ersten Begegnung auf Arkon war er noch völlig normal gewesen. Er hatte sich mir gegenüber als jovialer Plauderer und freundlicher Gastgeber ausgegeben, wenn auch mit einem Hang zum blasiert erscheinenden Snob. Aber ich hatte ihn sofort als ebenso knallharten wie arroganten, hochintelligenten Neu-Arkoniden eingeschätzt, der für Theta und das Imperium nichts übrig hatte. Von Wahnsinn hatte ich bei ihm nichts bemerkt. Allerdings hatte er damals gerade erst den Krish’un aus dem Epetran-Archiv stehlen lassen, sich noch nicht Kharags Überprüfung unterziehen müssen, noch nicht Nevus Mercova-Bans Lebensgeschichte in sich aufgenommen. Mich beeinträchtigten die Erinnerungen des auf Zeut geborenen Tamrats phasenweise fast bis zur Handlungsunfähigkeit; ihn schienen sie um den Verstand gebracht zu haben. Offensichtlich hatte Kharag sich getäuscht, als er ihn lediglich aufgrund des Krish’un als berechtigt eingestuft hatte. »Ich bitte, meine Sicherheitsvorkehrungen zu entschuldigen, aber hier handelt es sich um eine Experimentreihe, deren Ausmaße ihr nicht einmal ahnen könnt. Da das Zentralgehirn mir seit neuestem nur noch fünf Männer zugesteht, muss ich doppelt aufmerksam vorgehen.« Das war eine interessante Information. Das Zentralgehirn erkennt uns beide als Tamräte an. Und hat für uns gleiche Bedingungen herbeigeführt. Wahrscheinlich sind CrestTharos restliche Leute irgendwo schachmatt gesetzt worden. Das erklärt, wieso wir in den Biolabors niemanden fanden. Wenigstens eine gute Nachricht. Und Zanargun ist noch irgendwo da draußen. Hoffentlich lebt er noch. Was bleibt uns sonst außer Hoffnung? »Was hast du nun vor? Irgendwie scheint es mir, dass du am Ende deines Weges angelangt bist.« Crest-Tharo lachte laut, zu laut. Er war wütend. »Du solltest die Tatsachen nicht verdrehen. Du bist in meiner Gewalt. Deine Leute, die hier herumirren, werden wir auch noch aufgreifen. Also plage dich nicht mit
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Möglichkeit zur Rache! Ich werde mich an all jenen rächen, die mich und meine Familie erniedrigt haben.« Fast zärtlich strich da Zoltral über die Armaturen, über denen zahlreiche Datenholos leuchteten. In den Händen des Wahnsinnigen barg diese Maschine ein unglaubliches Gefahrenpotenzial. Für sie hatte Crest-Tharo verraten, gestohlen und gemordet. »Sie ist meine Erleuchtung, die Gabe der Lemurer an mich, ihren Erben. Es ist eine Bewusstseins-Transfermaschine, sie wird mich unsterblich machen. Natürlich weißt du das längst. Aber es sei mir gegönnt, dir diese Ausführung vorzutragen. Du als Unsterblicher wirst mein Verlangen nach ewigem Leben verstehen.« Welche Anmaßung dieses verwirrten Geistes! Ihn konnten nur Gleichgesinnte verstehen, und das waren wir keinesfalls. Ich fragte mich, wie gefährlich diese Apparatur war. Wenn sie außer Kontrolle geriet ... Die Maschine ist einsatzbereit!, stellte der Logiksektor fest. Der Wahnsinnige hat mit ihr Karusan Gorro übernommen! Das erklärt dessen Verhalten. Er hat euch in die Falle gelockt. Der Schrei war nur eine Ablenkung! Ich kämpfte gegen die Erinnerungen an ... die Erinnerungen eines anderen Lebens. Und damit auch gegen das Wissen. Sollten Nevus Mercova-Bans Kenntnisse mich überwältigen, wäre ich völlig handlungsunfähig. Ich wusste, worum es sich bei dieser Maschine handelte. Nevus hatte sie entwickelt, und sein Leben war mein Leben. Zeit schinden!, meldete sich der Extrasinn. Wo sind Zanargun und Ulbagimuun? »Was ist das für eine Maschine?«, fragte Li. Das Licht in da Zoltrals Augen flackerte heller denn je zuvor. Er wusste, dass ich die Antwort auf diese Frage bereits kannte, denn er hatte Kharags Unterweisung genauso erdulden müssen wie ich. Aber er verfügte über keinen Extrasinn. Vielleicht hatte das zweite Leben, das in ihn geflossen war, ihn tatsächlich endgültig um den Verstand gebracht. Und er war aufgebracht. Er hatte sich in Rage geredet und wollte seinen Triumph auskosten. »Ihr galt der gesamte Aufwand«, sagte er.
überflüssigen Gedanken um deine Zukunft, die ist bei mir in den besten Händen.« Ich gab ihm keine Antwort. Crest-Tharo machte eine Handbewegung, und einer seiner Schergen trat hinter uns und entwaffnete uns. Dann spürte ich den harten Druck der Mündung seines Kombistrahlers zwischen den Schulterblättern. »Wenn ihr mich nun begleiten würdet«, sagte der Großindustrielle, »euer Freund Phazagrilaath wartet im Labor. Er wird sich bestimmt freuen, euch wiederzusehen.« * Phazagrilaath schwebte in einer Art Energieschirm, neben ihm unter einem zweiten einer von Crests Leuten. Der Schirm wurde von einer seltsamen Maschine produziert. Ein dumpfes Brummen ging von ihr aus. Sie benötigte offensichtlich gewaltige Energiemengen. Blauweiße Blitzentladungen umzuckten einen nachtschwarzen, würfelförmigen Maschinenblock in Hausgröße. Seine Kantenlänge betrug etwa zwölf Meter; er war völlig fugenlos, wirkte massig und war anscheinend aus einem Stück gefertigt. Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Das ist die Transfermaschine, um sie ging es die ganze Zeit. Hier kam modifiziertes Drokarnam zur Verwendung. Und das ist nichts anderes als PEW-Metall. Eine weitere Erinnerung aus Nevus’ Leben. Einige kleinere, fremdartig aussehende, an knorrige Wirbelsäulenknochen erinnernde Aggregate umgaben den Würfelblock. Eine fünf Meter breite transparente Rampe führte bis zur halben Höhe des Würfels hinauf, endete allerdings drei Meter vor dessen Wandung. In der Lücke, fünf Meter über dem Boden, schwebten nebeneinander drei jeweils zweieinhalb Meter durchmessende, gelbliche Energiesphären. In zwei davon hingen schwerelos der Ishkhorer und der Arkonide. Ihre Körper wirkten durchscheinend; feinste Lichtverästelungen verteilten sich in dem Schirm. »Ja, seht sie euch an. Die Allmacht, die von ihr ausgeht, ist ihrem bescheidenen Äußeren nicht anzusehen. Sie gibt mir Macht! Und die 21
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter »Ihr seht nur einen kleinen Teil der Bewusstseins-Transferanlage. Aber sie ist mächtig. Ihre Energieerzeuger sind in angrenzenden Hallen untergebracht, und die Maschine greift auf die der Stahlwelt zurück. Sie benötigt unglaublich viel Energie, diese Maschine ...« Genug Energie, um bei einer Fehlfunktion die gesamte Stahlwelt vernichten zu können!, mahnte der Extrasinn. »Der eigentliche Bewusstseinstausch ist optisch überhaupt nicht wahrzunehmen«, trug der Wahnsinnige Eulen nach Athen. »Normalerweise ist die Anlage auf Fernwirkung eingestellt. Wenn ich eine andere Person übernehmen will, lasse ich mich von einer der Energiesphären umhüllen, greife quasi telepathisch nach dem Opfer und erzwinge mental den Austausch.« In der Art eines Zerotraums, ergänzte der Extrasinn. Crest-Tharo sah mich an und grinste breit. »Während der Übernahme verharrt das Opfer dann bewusstlos im Körper des Übernehmenden. Aber das weißt du ja.« Ich wusste noch mehr. Schon Nevus hatte Probleme damit gehabt, das Opfer exakt anzupeilen. Es war auch möglich, dass es sich durch sonstige Störeffekte dem Austausch entzog. Distanzen schienen allerdings keine Rolle zu spielen. Bei der Einstellung auf Nahwirkung hingegen waren Übernehmender wie Opfer von den Energiesphären umschlossen. Allerdings konnte auch ein Klon- oder Androidenkörper zur reinen Aufnahme des Bewusstseins dienen. Sofern der Gastkörper kein Eigenbewusstsein hatte, kam es natürlich nicht zu einem Austausch. Ich dachte an die Klon- und Androidenfabriken auf Tarik. Für mich stand außer Zweifel, wieso da Zoltral die Produktion dort auf Hochtouren betrieb. Ich konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart, ließ den Blick durch den Raum gleiten, sah aber nichts, was uns eine Flucht ermöglichen könnte. Wir sitzen in der Falle, sind am Ende unserer Suche angelangt. Aber wir sind auch am Ziel. Ein seltsamer Behälter schwebte in einiger Höhe vor mir. Er schien aus Glas zu bestehen. 22
Ich musterte ihn, wandte den Blick dann wieder ab. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt sehen wollte, was in ihm war. »Ah, du hast ihn entdeckt. Komm, begrüße deinen Erinnerungsbringer.« Crest-Tharos Stimme zerrte an meinen Nerven. Wie gern hätte ich ihm den Hals zugeschnürt, damit kein Laut mehr über seine Lippen kam. Seine offensichtliche Freude an den Qualen seiner Mitgeschöpfe ekelte mich an. Auf eine Handbewegung da Zoltrals hin näherte sich uns der gläserne Behälter. »Bei Arkons Göttern, es ist ein Sarg!« Lis Worte schreckten mich auf. Ich sah ein eingefallenes, wächsernes Gesicht, das viel älter war, als ich es in Erinnerung hatte, mit pergamentener Haut, die sich unnatürlich straff spannte. Einen ausgemergelten Körper, der schon zu Lebzeiten unglaublich grazil gewesen war, jetzt, im Tod, aber nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Sicher, er war bei seinem Tod schon über 90 Jahre alt gewesen. Geboren im ersten Jahr des Krieges, gestorben im 92sten. Aber auch die Lemurer hatten damals eine Lebenserwartung von etwa 200 Jahren gehabt. Wieso sah er jetzt aus wie ein lebender Toter? Wie ein Dreihundertjähriger? Vielleicht ein Sekundäreffekt der Konservierung? Oder die Mumifizierung war nicht perfekt?, flüsterte der Extrasinn und ließ das Bild des Lemur-Metall-Sarkophags von Acharr aufblitzen. »Nevus Mercova-Ban ...«, flüsterte ich. Ich sah den Tamrat, dessen Erinnerungen ich bei der Anerkennungsprozedur übermittelt bekommen hatte. Bereits Epetran hatte diesen Sarkophag gefunden, wie wir wussten, und jetzt befand der Leichnam sich also wirklich, wie schon vermutet, in da Zoltrals Händen! »Dein Freund ist mentalstabilisiert!«, riss mich die Stimme des Industriellen in die Gegenwart zurück, bevor die Erinnerungen eines anderen Lebens mich überwältigen konnten. »Für meine Testreihe ungeeignet! So funktioniert es nicht ...« Crest-Tharo da Zoltral war zornesbleich, wahrscheinlich, weil er bei Phazagrilaath nichts erreichte. Er sah zu uns herüber. Sein Blick gefiel mir
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter ganz und gar nicht. Er hob den rechten Arm und zeigte auf Li. »Da haben wir eine Freiwillige! Bitte, meine Liebe, mach keinen Ärger. Es ist sowieso sinnlos, und du wirst unserer Familie Ehre erweisen.«
angesichts ihres vermeintlichen Triumphs gern von ihren Motiven und Absichten. Diese Unart hat schon Tausenden von Geheimagenten das Leben gerettet. Erkundige dich bei Ronald Tekener! Zeit schinden, bis vielleicht Zanargun kam – das war unsere einzige Chance. »Du bist also nach Omega Centauri geflogen und hast das Sonnendodekaeder entdeckt?«, begann ich. Aufgrund des Datenspeichers, den wir auf Tarik erbeutet hatten, wusste ich, dass Crest-Tharos Ahnherr Baylamor da Zoltral vor 700 Jahren in den Kugelsternhaufen vorgestoßen war. Seine Expedition war gescheitert, aber Jahrhunderte später war Crest-Tharo ihm gefolgt, hatte die Überlebenden entdeckt und das Reich Baylamor gegründet. Crest-Tharo sah von den Kontrollen auf. »Hältst du mich für debil? Glaubst du, du könntest mich ablenken und Zeit schinden, indem du mich verleitest, dir zu erklären, wie mein glanzvoller Sieg zustande kam?« Er grinste. »Natürlich haben wir das Sonnendodekaeder sofort bemerkt, es ist schließlich auffällig genug. Aber seine Untersuchung brachte zunächst keine greifbaren Ergebnisse. Wir haben zwar mehrere Welten gefunden, aber eine Landung und der Zugriff auf die Anlagen scheiterten zunächst an den lemurischen Abwehranlagen und meiner fehlenden Zugangsberechtigung. Nur mit knapper Not entkamen wir der Vernichtung!« »Und dann kamst du auf die Idee, ein Imperium Baylamor zu schaffen?« »Natürlich! Dank unserer Technik waren wir ja nicht länger auf den Sublichtbereich beschränkt! Diese Idee nahm mehr und mehr Gestalt an und wurde in den folgenden Jahren angegangen. Gleichzeitig liefen an anderer Stelle die Nachforschungen hinsichtlich der lemurischen Hinterlassenschaften.« »Mit Erfolg?« »Und ob! Zum Beispiel landete ein Einsatzkommando auf Shamakh, der Welt, die auch als Acharr bekannt ist, und drang in die subplanetarische Station ein. Dort entdeckten wir einen Transmitter, und als wir ihn aktivierten, eröffneten sich faszinierende Zusammenhänge. Die Gegenstation befand
5. Einer der Wächter stieß Li zu der Maschine. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. Obwohl Kombistrahler auf mich gerichtet waren, stürmte ich los. Aber ich kam nur drei Schritte weit, dann schoss ein brennender Schmerz durch meine Beine, und ich brach zusammen. Hilflos musste ich mit ansehen, wie da Zoltral meine Gefährtin von einer Energiesphäre umschließen ließ. In Lis Gesicht erkannte ich Angst und Entsetzen. »Nein!« Ich war wie von Sinnen. Ächzend versuchte ich, mich aufzurichten, das taube Gefühl in den Beinen zu ignorieren. »Fesselt ihn!«, schnarrte Crest-Tharo. »Der Transfer darf nicht gestört werden!« Zwei seiner Leute rissen mich hoch, legten mir Metallmanschetten an und banden mich an einem Aggregatblock fest. Die Karten waren ungünstiger verteilt als je zuvor. Meine Augen tränten. Er wollte Lis Bewusstsein austauschen, in einen anderen Körper versetzen, während das von da Zoltrals Helfershelfer den ihren übernahm. Sie konnte dabei sterben, ihr Bewusstsein konnte verloren gehen ... Er hat die Maschine nicht im Griff. Er wird ihr Leid zufügen, und ich muss hilflos zusehen! Crest-Tharo da Zoltral hantierte hektisch an den Displays. »Ein sehr interessanter Versuch«, sagte er. »Ich habe schon einmal versucht, dich zu übernehmen, meine entfernte Verwandte, aber es hat nicht geklappt! Wieso nicht? Bist du ebenfalls mentalstabilisiert? Aber nein, das wüsste ich. Was willst du vor mir verbergen?« Plötzlich schien die Unruhe von ihm abzufallen. »Dieser Test ist zu wichtig. Ich muss alles genau überprüfen.« Halte ihn hin, empfahl mein Extrasinn. Größenwahnsinnige Verbrecher faseln 23
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter »Aber ich habe die ersten Erfolge erzielt ...« »Natürlich. Du hast versucht, in der Orbanaschol-Werft auf Arkon II einen Techniker zu übernehmen, der bei unserer Besichtigung der ATLANTIS den HypertropZapfer aktivierte ...« »Um eure Mission zu beenden, bevor sie überhaupt begann!« »Und auf dem Flug zum Tamanium Shahan wolltest du mich übernehmen.« Er tat die Bemerkung mit einer lässigen Handbewegung ab. »Ein spontaner Einfall, eine Spielerei. Du bist mentalstabilisiert, deshalb konnte es nicht funktionieren!« »Auf Shahana hast du dann Li übernommen?« Crest-Tharo verzog das Gesicht. »Ich habe es versucht. Aber es gelang mir nicht. Sie hat den Einfluss einfach so abgeschüttelt. Wie ist das möglich? Sie ist nicht einmal mentalstabilisiert!« »Und um das herauszufinden, hast du sie entführen lassen.« »Nicht nur deshalb. Ich habe ihr Genmaterial entnehmen lassen. Eine sehr interessante Grundlage. Wer weiß, wozu das noch gut sein wird ... « »Zuerst hast du deine Humanoiden auf sie gehetzt und dann Kiemenatmer von Tarik.« »Humanoiden? Was meinst du damit?« Sein Blick war nichts ahnend. Ich glaubte ihm. Er wusste nicht, wovon ich sprach. Also doch! Also sind die Humanoiden Vertreter einer weiteren Gruppe, die an Li interessiert ist. Und ich ahnte nur zu genau, um was für eine Gruppe es sich dabei handelte. Crest-Tharo lächelte wieder. »Aber du greifst vor. Während die Forschungen um die Transfermaschine vor dem Diebstahl des Krish’un eher mühsam voranschritten, wuchs und gedieh das Baylamor’Tussan und gewann innerhalb weniger Jahrzehnte in Braangon an Macht und Einfluss!« »Und du hast schon damals davon geträumt, die Anlage zum gesteuerten Bewusstseinstransfer zu verwenden?« »Oh ja! Diese lemurische Entwicklung aus den letzten Jahren des Haluterkriegs bedeutet wirkliche Macht! Nicht nur, dass ich damit andere Wesen übernehmen und manipulieren
sich nämlich in Form der TarvianUnterseestation auf der Urlaubswelt Theka! Hier wie dort haben wir die lemurischen Hinterlassenschaften untersucht, zum Teil auch ausgeschlachtet und als Vorlage für Weiterentwicklungen des Zoltral-Konzerns verwendet. Die Transmitterverbindung gestattete ja einen von den Mograk unbeeinflussten und ungestörten Transport!« »Und aus dem Mausoleum hast du die konservierte Leiche des Tamrats mitgenommen?« »Unter anderem.« Crest-Tharo hob den rechten Arm und legte das Handgelenk frei. »Dieses Armband erwies sich als Alphabefehl-Kodegeber, dessen Nutzung den Zugang zu den lemurischen Anlagen gestattete! Und die Entschlüsselung des Kharag-Ornaments führte mich dann zur Wasserstoffwelt Kharba und der dortigen Tarvian-Nebenstation.« »Und die gewonnenen Erkenntnisse reichten schließlich aus, um zur Stahlwelt vorzudringen? Immerhin ist sie in eine Halbraumblase eingebettet!« Ich schreckte auch vor rein rhetorischen Fragen nicht zurück. Ich wusste es, denn ich war schließlich auf dem gleichen Weg zur Stahlwelt gelangt! »Der Stationsrechner hat mich nur bedingt als erbberechtigten Lemurnachkommen akzeptiert!« In Crest-Tharos Stimme schwangen Entrüstung und Empörung mit. »Mich, einen Arkoniden aus dem Hochadel! Viele Daten blieben mir daher verschlossen. Das galt auch für den uneingeschränkten Zugang zu allen Bereichen oder die totale Kontrolle über sämtliche Einrichtungen und Anlagen. Mir blieb die Verwendung der Sonnentransmitterfunktion versagt, Situationstransmitter konnte ich nur sehr eingeschränkt schalten, und auch die lemurische Bewusstseins-Transferanlage durfte ich nicht in Betrieb nehmen.« Er sprach leiser. »Ganz abgesehen davon, dass sie beschädigt war ...« Beschädigt? Das erklärte einige fehlgeschlagene Übernahmeversuche ... und auch, wieso da Zoltral die Maschine nicht schon längst in großem Maßstab eingesetzt hatte! 24
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter kann, was ja an sich schon ein immenses Potenzial darstellt, der Hauptaspekt des gezielten Bewusstseinstransfers ist, dass er mir Unsterblichkeit bescheren kann! Wenn mein ursprünglicher Körper verbraucht ist, kann ich meinen Geist einfach in einen Androiden- oder Klonkörper versetzen! Und« – er beugte sich vor – »und dann liegt es auch in meiner Hand, diese Unsterblichkeit anderen zu verleihen.« Ich schluckte. Er hatte Recht. Es gab genügend Wesen, die für deutlich weniger als die Unsterblichkeit die eigene Mutter verhökern würden. Durch ein Machtmittel wie die Transfermaschine ließen sich nicht nur die betreffenden Kandidaten hörig machen, man konnte damit auch noch sehr, sehr viel Geld scheffeln – was weitere Macht, weiteren Einfluss nach sich ziehen würde! »Obwohl noch nicht klar war, ob ich die Anlage jemals in Betrieb nehmen konnte, leitete ich bereits die übrigen Schritte ein. Ich trieb einerseits die technische wie auch historische Forschung voran, andererseits den Bau der Androiden- und Klonanlage auf Baylamor sowie die dortige Forschung und Entwicklung. Und die dort gewonnenen Ergebnisse fanden auch Anwendungen in meinem Konzern! Ein Teilbereich meines Unternehmens hatte zum Beispiel Techniken zur genetischen Manipulation entwickelt, die auf verlorenem Wissen der Cantaro und Aras beruhten. Und nun kam noch das Wissen der alten Lemurer hinzu ...« Das erklärte einiges. Die Familie da Zoltral beziehungsweise ihr Konzern war für Außenstehende auf unbekannte Art und Weise zu neuem Reichtum und damit auch neuer Macht gekommen und kämpfte darum, wieder eine große Rolle im Konzert des Adels zu spielen. Nun wusste ich, woher dieser Reichtum kam. Genau wie ich wusste, was anschließend geschehen war. Je größer die Bemühungen der Familie ausfielen, desto kälter wurde die Schulter, die der Hochadel den da Zoltrals zeigte. Neben der Schmach der Absetzung und ihren Folgen hatten Crest-Tharo und seine Verwandten nun auch noch gegen den demütigenden Ruch der Neureichen anzukämpfen. 25
Kein Wunder, dass sein Hass auf Arkon ständig wuchs! »Inzwischen schrieben wir das Jahr 1216 NGZ, Theta da Ariga war die Präsidentin des Neuen Imperiums Arkon – und die Anerkennung als Hochadliger blieb mir weiterhin versagt!« Crest-Tharos Stimme drohte kurz zu einem Kreischen zu werden. »Ich habe die Raumschiffe meiner Flotte verstärkt mit scheinbar längst überholter Transitionstechnik ausgerüstet, angeblich aus Redundanzgründen, in Wirklichkeit natürlich, um mich hier frei bewegen, weitere Schätze der Lemurer heben zu können ...« Ich seufzte. Die uralte Geschichte. Mir wurde übel. »Und dein wachsender Hass auf Arkon trieb dich dazu, Theta da Arigas Bewusstsein austauschen zu wollen, um so das Imperium zu destabilisieren und, langfristig gesehen, selbst zu übernehmen?« Irgendwann musste sich Crest-Tharos gesamtes Denken darum gedreht haben, die Schmach der Absetzung zu überwinden – mit allen Mitteln, ohne jede Skrupel ... Er überging die Frage. Vielleicht schreckte er auch selbst davor zurück, mir einzugestehen, dass es sein ganzes Streben war, Imperator anstelle des Imperators zu werden. »Wir haben die lemurischen Stationen auf Theka und Shamakh im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlachtet«, fuhr er fort. »Es gelang uns sogar, die BewusstseinsTransferanlage zu reparieren. Nur die letzte Hürde, die Berechtigung, sie auch benutzen zu dürfen, schien weiter denn je entfernt zu sein. Der Rechner verlangte unbeirrbar den Status eines lemurischen Tamrats, und der konnte nur durch einen Krish’un nachgewiesen werden. Du weißt ja: kein Tamrat ohne Krish’un!« »Du hast also mit der Suche nach einem lebenden Umhang begonnen ...« »Aus den Epetran-Daten war mir zwar bekannt, dass Epetran seinerzeit offensichtlich einen Krish’un von Shamakh mitgebracht hatte, aber niemand schien zu wissen, wo sich dieses verdammte Ding befand ...« Ich lachte innerlich auf. Crest-Tharo da Zoltral hatte zunächst den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen! Andererseits war
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter nichts unauffälliger als das Offensichtliche. Unter zehntausend Stecknadeln fiel eine ganz bestimmte nicht auf und im Epetran-Archiv eben auch nicht der Krish’un-Umhang unter den vielen tausend übrigen Ausstellungsstücken aus dem umfangreichen Fundus des genialen Wissenschaftlers ... »Meine Recherchen ergaben, dass sich ein Krish’un auf Terra befinden musste ...« »Und du hast versucht, ihn zu stehlen!« Mein fotografisches Gedächtnis wiederholte das Gespräch, das ich vor wenigen Wochen auf dem Erdmond mit der Großsyntronik NATHAN geführt hatte: »Mir ist bekannt, dass die Kosmische Hanse im Besitz eines Krish’un ist. Es handelt sich um den des MdIZeitagenten Frasbur. Perry Rhodan hat ihn während des Andromeda-Kriegs erbeutet. Im HQ Hanse sind jedoch sämtliche Dateien über den Krish’un gelöscht worden.« »Vor zwölf Tagen haben Unbekannte versucht, diesen Krish’un zu stehlen. Der Überfall auf HQ Hanse wurde nach einer Minute und sieben Sekunden abgewehrt. Danach hat Patricia Likeon die Daten löschen lassen, und ich habe das Artefakt zur Sicherheit hierher nach Luna geholt.« Schon damals war mir klar gewesen, dass das kein Zufall sein konnte! Zwölf Tage zuvor ein Überfall auf Terra, dann der im EpetranArchiv! Jemand hatte es gezielt auf einen Krish’un abgesehen. »Der Diebstahl misslang«, sagte Crest-Tharo verdrossen wie ein kleines Kind. »Aber dann fiel es mir bei einem weiteren Besuch des Epetran-Museums plötzlich wie Schuppen von den Augen, als ich endlich einen von Epetrans Umhängen als das erkannte, was er wirklich war – nämlich der fieberhaft gesuchte Krish’un des Tamrats!« »Du hast den Einbruch vorbereitet und auch durchgezogen – aber unglücklicherweise wurde ich dadurch in die Sache hineingezogen ...« »Zwar konnte ich mit Hilfe des Krish’un meine volle Erbberechtigung nachweisen und auch die Bewusstseins-Transfermaschine endlich in Betrieb nehmen ... doch scheint sie noch immer nicht richtig zu funktionieren!« Die Stimme des Wahnsinnigen überschlug sich. »Meine unbedeutende Verwandte Li ist 26
nicht zu knacken! Wieso nicht?« Ich wandte den Kopf von da Zoltral ab, sah zu Li, wollte ihr die Kraft geben, das alles zu überstehen, aber sie schien mich nicht mehr wahrzunehmen. Die blauweißen Lichtbogen, die eben erloschen waren, zuckten wieder auf. Sie umtosten Li und den anderen Körper in den Sphären. Beide wurden durchscheinend, als wollten ihre festen Hüllen fliehen und nur die Seelen zurücklassen. Unter der unsichtbaren Kraft krümmte Li sich zusammen. Ich schrie auf, so deutlich konnte ich ihre Qual spüren. »Du bist ganz wild darauf, auch unter die Maschine zu kommen?« Seine Stimme war jetzt nur noch ein Kreischen. »Den Wunsch kann ich dir erfüllen. Das wird meine Rache sein. Als meine Flotte Shahan angriff, um dich zu töten, die TOSOMA endgültig als Bedrohung auszuschalten, hast du ihr eine vernichtende Niederlage zugefügt. Das darf nicht ungestraft bleiben! Und ich muss dir diesen Wunsch sogar erfüllen, denn ich will, ich brauche deinen Körper! Deine Unsterblichkeit und mein Genius werden die Vereinigung der absoluten Macht sein. Ich werde so groß und gefürchtet sein wie kein Imperator vor mir. Was ist ...?« Er sah auf eine Anzeige und fluchte. »Ich habe schon einmal gefragt! Warum funktioniert es bei ihr nicht? Dann eben mehr Energie ...!« Er betätigte einen Sensorschalter. Das Licht leuchtete heller auf, und Li schrie. Ich schloss die Augen. Li, ich liebe dich. Aber ich kann nichts für dich tun! Nur wenn du stärker als die Maschine bist, gibt es Hoffnung für uns! Hoffnung – war das alles, was uns noch blieb? 6. Der nachtschwarze, würfelförmige Maschinenblock kam mir vor wie ein Artefakt aus einer anderen Welt. Fugenlos und massiv, aus einem Stück gefertigt, wirkte er völlig fremdartig. Die kleinen, knorrigen Aggregate erinnerten mich an Skelettfragmente längst ausgestorbener
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Urzeittiere. Allein schon ihr Anblick löste in mir Zorn aus, Zorn, den ich kaum beherrschen konnte. Weil ich so hilflos war, so verdammt hilflos. Aber was hätte ich tun sollen? Was konnte ich tun? Nichts. Crest-Tharo da Zoltral stand an der Anlage und erhöhte unablässig ihre Leistung. Jede Sekunde, die Li ihr standhielt, bescherte der jungen Frau qualvolle Schmerzen. Das schöne Gesicht, das ich so oft geküsst, der schlanke Körper, den ich dabei in den Armen gehalten hatte, schienen jetzt Lichtjahre entfernt zu sein. Trotz meiner über dreizehntausend Lebensjahre konnte ich kaum ermessen, was Li ertragen musste. Für mich war es genauso eine Qual, die Frau leiden sehen zu müssen, die ich so sehr liebte. Uns verband mehr als nur körperliche Leidenschaft. Sie war mir so nahe gekommen wie kaum eine andere in meinem Leben ... Lis Körper zuckte in Krämpfen, ihr kurzes rotes Haar klebte strähnig am Kopf. Sie sah mir in die Augen; ich war mir dessen trotz der Distanz sicher. Der stumme Schrei, der in ihrem Blick lag, erschütterte mich bis ins Mark. »Hör auf, du Narr! Du tötest sie nur!« »Warum kann sie so lange widerstehen? Erkläre es mir! Aber du weißt es auch nicht. Sie ist anders ...« Crest-Tharos Stimme gellte durch die Halle. Ehrgeiz und Hass hatten ihn zu einem gefühllosen Monstrum werden lassen. Alles, was er mir gerade offenbart hatte, wies ihn als Psychopathen aus. »Wenn sie tot ist, wirst du es nie erfahren! Sie wird es dir sagen, ihr Wille ist gebrochen.« Ich hasste mich für diese Worte, aber wenn ich Li dafür von ihrer Folter erlösen konnte, war es mir nur recht und billig. In da Zoltrals Gesicht arbeitete es. Er kniff die Augen zusammen. »Du könntest Recht haben. Sie ist am Ende.« Die tausend Todesarten, die mir gerade durch den Kopf gingen und die ich ihm wünschte, wären ihm nicht im Traum eingefallen. Seine Lebenserfahrung ließ sich mit meiner nicht vergleichen. Die Barbaren von Larsaf III waren in dieser Hinsicht stets sehr 27
erfindungsreich gewesen. Ich hatte es erlebt, mit eigenen Augen gesehen und ... Voller Hoffnung sah ich, wie er die Hand von der Armatur nahm. Hatte ich es geschafft? Würde Li eine Galgenfrist bekommen ...? Und dann muss dir ganz schnell etwas einfallen ... »Aber wir sind noch nicht am Limit!« Wie ein Messer schnitten da Zoltrals Worte durch meine Gedanken. Er schob den Regler höher. In Lis Gesicht spiegelte sich meine Verzweiflung. Der Wahnsinnige war nicht mehr zugänglich für logische Argumente! Sein Versuch, Lis Bewusstsein zu transferieren, war für ihn zum Fixpunkt seines Lebens geworden. »Er ist so groß, so perfekt ...« Lis Stimme klang verzerrt, seltsam entrückt, als würde ihr diese Flucht in ihre Gedanken oder Erinnerungen etwas Linderung verschaffen. Aber was erzählte sie da? Wovon sprach sie? Sie war mehr als zehn Meter von mir entfernt und schwebte fünf Meter höher, und doch glaubte ich zu sehen, dass Tränen über ihr Gesicht liefen, sie die Augen weit aufgerissen hatte, ohne mich allerdings noch wahrzunehmen. Sie nahm überhaupt nichts mehr wahr, ihr Blick war leer. Einbildung, es konnte nur Einbildung sein, ein Trugbild meines gequälten, von fremden Erinnerungen in Mitleidenschaft gezogenen Geistes, und doch und doch ... »Aus einem Metall unbekannter Art und dabei so ... menschlich. Seine Ästhetik ...« Ihre Worte waren ein einziges Rätsel. Was war ihr dermaßen wichtig, dass sie es angesichts ihrer Pein beschrieb? Ein lautes Fauchen drang an mein Ohr. Mein Extrasinn ordnete es sofort als die Thermostrahl-Funktion eines Kombistrahlers arkonidischer Bauweise ein. Und der Logiksektor verriet mir, dass es nur eine Ursache für dieses Geräusch geben konnte. Zanargun und Ulbagimuun haben uns gefunden! Sie greifen an. Das könnte die Rettung sein! Endlich! * Ich zerrte an meinen Fesseln, aber sie gaben nicht nach. Diese Hoffnung brauchte ich mir
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter mein Extrasinn. »... ich glaube, er ist mechanisch, wenn auch humanoid ...« Lis Worte wurden immer unverständlicher. Speichel rann aus ihrem Mund. Ihr erbarmungswürdiger Zustand entsetzte mich. Wie lange konnte sie der Bewusstseinsmaschine noch widerstehen? Die Zeitlupe ... Den Kombistrahler im Anschlag, sprang der Luccianer in die nächste Deckung. Schüsse fauchten durch die Luft, die rauchgeschwängert war und rapide heißer wurde. Alles in mir schrie danach, Li endlich aus der Gewalt des Verrückten befreit zu sehen, aber ich war völlig hilflos. Hinter meinen Schläfen hämmerte es, der Zellaktivator sandte Gluthitze aus, vom Krish’un kamen beruhigende Vibrationen. Zanargun kauerte sich hinter eine Konsole. Seine Widersacher hatten sich ebenfalls in die Deckung von Aggregaten zurückgezogen. Der Luccianer hatte die Transfermaschine fast erreicht, sah sich aber konzentriertem Sperrfeuer ausgesetzt. Crest-Tharo rief seinen Männern Anweisungen zu, gestikulierte heftig, postierte sie ständig um. Er war abgelenkt. Aber nicht lange genug. Er entdeckte Zanargun, als dieser zu einem Spurt ansetzte, um zu dem Kontrollgerät zu gelangen und die Schaltungen vornehmen zu können, mit denen er Li aus der Energieblase in fünf Metern Höhe am Ende der Rampe befreien konnte. »Das ist noch zu früh! Wir sind noch nicht fertig!« Mit einem schrillen Gelächter schob da Zoltral den Regler für die Leistungseinstellung bis zum Anschlag hoch. Die Endstufe! Er hat den roten Knopf gedrückt. Ich zerrte an meinen Fesseln. »Nein! Li!« Ich wollte noch mehr sagen, aber da traf mich ein greller Blitz aus ihren Augen – unvorbereitet und mit voller Wucht. Sie hat mich geblendet!, dachte ich, und der Extrasinn fügte hinzu: Hat sie das vielleicht von Anfang an getan? Waren es elektrostatische Aufladungen, die Li umflirrten? Sie schwebte in der Energieblase wie eine überirdische Erscheinung, ein Wesen aus einer anderen
gar nicht erst zu machen. Ich war Realist. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einer von da Zoltrals Leuten zurückwich, dann ein zweiter, ein dritter. Zumindest Zanargun wusste, was er tat. »Holt Crest-Tharo von der Maschine! Er tötet Li!« Zanargun hörte mich. Mit einer Schnelligkeit, die er seinem harten Dagortraining zu verdanken hatte, stürmte er vor und trieb einen weiteren Gegner zurück, bevor er sich wieder in Deckung warf. Meine Gedanken rasten. Er ist keine zwanzig Meter von da Zoltral entfernt! Er kann es schaffen, er muss es schaffen. Der Kommentar des Extrasinns war eindeutig. Narr! Als hätte der Logiksektor Einfluss auf die Außenwelt genommen, kamen mir die Bewegungen des gedrungenen Mannes mit dem kurzen Haar plötzlich verlangsamt vor, wie in Zeitlupe. Eine zähe Masse schien ihn zu umgeben. Warum ist er nicht schneller? Verzweifelt zerrte ich an den Stahlfesseln, die mich zur Untätigkeit verdammten. Ich sah, wie Karusan Gorro die Waffe fallen ließ und die Arme hob. Der Bewusstseinstransfer war wohl doch nicht so perfekt, wie Crest-Tharo es sich vorgestellt hatte. Oder da Zoltrals Lakai, der unseren Mann übernommen hatte, verfügte über gesunden Arkonidenverstand. Verdammt! Was macht Crest-Tharo? Wie steht es um Li? Ich sah mich um. Zanargun hatte die Hälfte der Strecke vom Schott bis zur Transfermaschine überwunden. Ständig musste er neue Deckung suchen; CrestTharos Schergen hatten ihren ersten Schrecken überwunden und verwickelten meine Leute in ein heftiges Gefecht. Ich werde Li verlieren ... Das dauert viel zu lange! Die Wut auf meine Hilflosigkeit wuchs ins Unermessliche. Die Stahlfesseln waren nicht zu überwinden. Ich hatte mir an den Handgelenken bereits die Haut aufgeschnitten und stellte die sinnlosen Befreiungsversuche ein. Es ist zwecklos! Wenn Li überhaupt eine Chance hat, heißt sie Zanargun!, mahnte 28
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Welt. Das wallende Licht, das sie ausstrahlte, nahm stetig an Intensität zu. Hinzu kam das gleichförmige Summen der BewusstseinsTransfermaschine. Es schwoll zu einem Donnern an; allmählich wurde der Druck in meinem Kopf unerträglich. Was geschieht hier? Sind wir jetzt alle Teil der Maschine? Will sie mir mein Bewusstsein rauben? Oder zerstören? Das Gleißen um Li wurde immer blendender. Ich konnte sie nicht mehr erkennen, ihre Konturen verschwammen in der grellen Helligkeit. »Ein gar überirdisch’ Licht schuf ich, und siehe, es ward Leben.« Ulbagimuun zitierte einen seiner weisen Sprüche. Dann sackte er zusammen – bewusstlos oder tot. Zanargun konnte ich nicht ausmachen, aber auch da Zoltrals Leute hatten unter dem mentalen Druck zu leiden. Einer oder zwei kämpften noch darum, auf den Beinen zu bleiben, die anderen lagen schon reglos ausgestreckt da. Das ist die Nebenwirkung der Schockfront, die der Kern der BewusstseinsTransferanlage ausschickt. Sie arbeitet mit Psi-Materie, auf jeden Fall aber im UHFBereich des hyperenergetischen Spektrums! Auch ich hatte darunter zu leiden, wenngleich wegen meiner Mentalstabilisierung oder auch wegen des Zellaktivators am geringsten von allen. Der Krish’un bewegte sich auf meinen Schultern, schien zu verkrampfen. Ich fühlte mich ganz seltsam, als sei mein Körper meilenweit entfernt, während mein Bewusstsein hier in diesem grellen Universum festsaß. Ohne den Zellaktivator hätte ich diese phasenweise auftretenden Bewusstseinsstörungen sicher kaum überstanden. Es ist vorbei!, riss mich der Extrasinn eine Ewigkeit später in die Wirklichkeit zurück. Ich schüttelte mich. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es noch eine Überraschung geben würde. Wütend zerrte ich an meinen Fesseln – und sie gaben nach! Der Schwung der Bewegung trug mich drei, vier Schritte vorwärts. Fast wäre ich gestolpert und gefallen. Hatten die Schallwellen die Fesseln mürbe gemacht und dann gesprengt?
Denk doch nach! Dann hätten sie wohl lange zuvor deine inneren Organe zu Staub zermahlen! Ich hatte die Kommentare des Extrasinns schon richtig vermisst. Oder das unheimliche Licht, das von Li ausging? Oder von der Transfermaschine? Ein weiterer Kommentar: wohl eher das. Hier sind Psi-Kräfte am Werk ... Oder ähnliche Energien eines höheren Bewusstseins, und dieses Bewusstsein muss sich in Li befinden! Eine andere Erklärung gibt es nicht! Die wund geriebenen Gelenke brannten, aber ich ignorierte den Schmerz. Meine Sorge galt ausschließlich Li, und sie hing noch immer in diesem Licht! Nun konnte ich sie aus der Energieblase befreien, die sie an die Maschine fesselte. Dachte ich zumindest. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Das ist unmöglich, sie sind alle bewusstlos! Ich drehte mich um, und meine Nervenbahnen schienen zu Eis zu gefrieren. Nevus Mercova-Bans gläserner Sarg hatte sich geöffnet, und der angeblich Tote erhob sich langsam daraus. Da hast du deine Überraschung!, stellte der Extrasinn lapidar fest. * Nevus Mercova-Ban ... der Zeut-Lemurer, dessen Leben zu dem meinen geworden war. Der vor über 50.000 Jahren gestorben war. Den man konserviert oder mumifiziert und in einen Sarkophag gebettet hatte. Er erinnerte mich an einen Zombie, an einen der »lebenden Toten«, denen ich im 19. Jahrhundert alter Zeitrechnung auf der Insel Haiti begegnet war. Seine hochgewachsene, schlanke, fast dürre Gestalt wirkte zusätzlich ausgemergelt. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, ihr Blick ging ins Leere, und die Bewegungen des Wissenschaftlers hatten nichts Menschliches mehr an sich. Ruckartig und irgendwie ziellos arbeitete sich der Tamrat aus dem Sarg. Völlig entgeistert starrte ich ihn an. »Nevus ...« Er war tot, gestorben vor 50.000 Jahren, und jetzt lebte er wieder? Er hörte mich nicht, nahm mich zumindest 29
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter nicht zur Kenntnis. Ich wartete auf einen erläuternden Kommentar des Extrasinns, aber auch der schien sich noch keinen Reim auf das machen zu können, was hier vor sich ging. Fragen ... Rätsel ... Phänomene. Die zu gegebener Zeit zu klären waren. Jetzt galt mein Interesse nicht den Toten, sondern den Lebenden. Ich torkelte weiter, wollte zu Li. Ihr galt mein ganzes Denken und Handeln. Welche Auswirkungen hatten diese Ereignisse auf sie gehabt? Diese ... unerklärliche Kraft, die alle anderen außer mir ausgeschaltet hatte? Li wurde von keinem Zellaktivator geschützt, hatte die ganze Wucht der Entladung über sich ergehen lassen müssen. Falls sie diese Lichtexplosion nicht selbst herbeigeführt hat, gab der Logiksektor zu bedenken. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass diese Maschine zerstört werden muss. Ceterum censeo Catharginem esse delendam – Catos des Älteren stehender Schlusssatz der Senatsreden über die Zerstörung Karthagos. Der Extrasinn hatte mit seiner Abwandlung natürlich Recht. Die Transfermaschine, Mercova-Ban ... beides war im großen Rahmen wohl wesentlich wichtiger als ein Einzelschicksal. Aber ich liebte Li. Aus ganzem Herzen. Ich taumelte eher zu ihr, als dass ich ging. Der Weg kam mir so weit vor, fast endlos. Sie hing noch immer schlaff in dem Energiefeld, schwebte aber langsam heran, bis ihre Füße schließlich die Rampe berührten. Wie eine Marionette hing sie an unsichtbaren Fäden da. Wenigstens war das unnatürliche, unerklärliche Licht erloschen. Ich hob die Arme, um sie an mich zu ziehen, flüsterte mehr oder weniger sinnlose Worte. »Es ist vorbei, wir haben es überstanden ...« Mein Logiksektor hatte mich nicht gewarnt, meine Instinkte hatten mich nicht misstrauisch gemacht. Nicht umsonst hieß es, dass Liebe blind macht. Offensichtlich war das Fesselfeld, das Li hielt, ausgeschaltet worden. Ihr Hieb traf mich völlig überraschend und unvorbereitet. Ich konnte gerade noch den Arm hochreißen, um dem Schlag die größte Wucht zu nehmen. Der zweite traf mich an der linken Schläfe, 30
dann ein Tritt zwischen den Beinen. Ich fiel auf die transparente Rampe, drohte hinabzurollen. Li stand wie eine Furie über mir. Ihre Augen blitzten wieder, diesmal aber anders. Der Ausdruck in ihrem völlig verzerrten Gesicht machte mir Angst. Das war nicht mehr die Frau, die ich kannte. Und liebte. Ich schnellte zurück, rappelte mich auf. Weiterhin trafen mich gnadenlos ihre Schläge. Ich zögerte, nur kurz, aber doch viel zu lange. Dann schlug ich zurück. Das alles hat dich mehr Kraft gekostet, als du gedacht hast, stellte der Extrasinn nüchtern fest. Oder hörte ich eine Spur Ironie aus den Worten heraus? Verzweifelt versuchte ich, ihre Schläge abzuwehren. Sie arbeitete mit perfekter Kälte und Technik. Wie ein ausgebildeter Killer ... Ihr Gesicht war noch immer eine grausame Fratze. Jetzt war nichts mehr von all der Liebe und Anmut, die ich von ihr kannte, in ihren Zügen. Sie weiß nicht, was sie tut! Die Transfermaschine hat sie völlig verwirrt! Irgendwie kam mir die Erklärung des Logiksektors hilflos und unschlüssig vor. »Li, erkennst du mich nicht? Wir müssen hier raus! Da Zoltral ist völlig verrückt geworden. Ich befürchte, er hat die Transfermaschine überlastet! Sie kann jeden Augenblick hochgehen! Keine Ahnung, wie viel Zeit uns noch ...« Ein besonders gemeiner Haken traf mich am Kinn. Ich versuchte es mit einer sanften Dagorattacke, die den Gegner so schonend wie möglich bewusstlos machen sollte. Aber sie schien über Berserkerkräfte zu verfügen; ohne Mühe parierte sie meine Schlagabfolge. Das infernalische Tosen der Bewusstseinsmaschine schwoll in Intervallen auf und ab. Der Lärm brachte mich fast um den Verstand. Dann brach Li, ohne dass ich sie berührt hatte, zusammen. Das war für mich der endgültige Beweis, dass sie nicht Herrin ihrer Sinne war. »Warum tust du mir das an ... Herr ... Samkar ...?« Sie flüsterte nur, aber ich konnte sie gut verstehen. Samkar? War das des Rätsels Lösung? Die
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter »Denk nach!«, sagte ich eindringlich. »Wer erteilt dir Befehle? Du bestimmst über dich selbst, niemand gebietet über dich!« Ich sah ihren Sprung nur ansatzweise. Der unmittelbar anschließende Hieb hätte mir das Genick brechen können. So langsam musst du dich wohl mit dem Gedanken abfinden, dass sie dich wirklich töten will. »Du hast ja keine Ahnung!« Lis Stimme war die reinste Hysterie. Sie hallte kreischend durch den Gang. »Mein Herr steht auch über dir. Ihn gibt es schon seit Beginn des Universums.« Samkar, dachte ich. Wo waren wir überhaupt? Mein fotografisches Gedächtnis blieb die Antwort nicht lange schuldig. Genau hier hatte unsere Gruppe sich geteilt, um ihr Heil in der Flucht zu suchen. Der Fluch des perfekten Erinnerungsvermögens brach unvermittelt über mich herein. In meiner Vorstellung wurden Schreie und Kampfgeräusche lauter. Hier hatte Li mir das Leben gerettet. Meine Li. »Ich kann nicht glauben, dass du so skrupellos bist! Du hast mir oft genug bewiesen, dass du mich liebst!« Meine Worte schienen sie nur wütend zu machen. »Liebe! Eine leere Phrase! So nichtig und klein im Vergleich zu seiner Macht. Soll ich alles aufgeben für so ein unwichtiges Gefühl? Es macht nur verletzlich. Sieh dich an! Du wagst es nicht einmal, gegen mich zu kämpfen! Ist dein Dasein so klein im Gegensatz zu meinem, oder was hindert dich daran?« Sie hatte Recht. Es war mir nicht möglich, sie ernsthaft zu verletzen oder gar zu töten. Im Moment begnügte ich mich damit, sie abzuwehren, was mich schon Kraft genug kostete. Mehr, als dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Ein Ende? Wie sollte es aussehen? Ich wollte mit Li diese Stahlwelt verlassen, mein Leben mit ihr verbringen. Meine Pläne für die Zukunft ergaben nur mit ihr Sinn. Ich konnte doch nicht eigenhändig meine Träume zerstören! Meine Träume von einem Leben mit Li ... »Erinnere dich an Krantar!«, zischte sie. »Er
Erklärung für ihr seltsames Verhalten in einigen Situationen? Es passt! Denke doch an Lis rätselhafte Worte auf Acharr! Unendliche Schwärze um mich herum ... Eine riesige Walze, kobaltblau ... Kälte, die nicht von dieser Welt sein kann ... kein Leben im üblichen Sinn ... Alles passt zusammen, ehemaliger Ritter der Tiefe und Beauftragter der Kosmokraten! Bevor ich weitere Schlussfolgerungen ziehen oder der Logiksektor weitere Hinweise geben konnte, war Li wieder auf den Beinen. Angriffslustig blitzte sie mich an. »Gib auf! Gegen mich hast du keine Chance! Ich muss einen Befehl ausführen!« Ich wich ihren wahrhaft mörderischen Hieben aus, wirbelte herum, lief, was das Zeug hielt, floh die Rampe hinab. Ich könnte sie töten. Vielleicht. Aber das wollte ich nicht. Ich hatte schon einmal eine Frau töten müssen, die ich von ganzem Herzen liebte. Nicht noch einmal!, schwor ich mir. * Wir hatten uns aus dem Zentralbereich der Station entfernt, das weit verzweigte Gangsystem der Anlage erreicht. Es schien nur uns beide zu geben, Li und mich. Kharag hielt sich weiterhin heraus, und meine sowie da Zoltrals Leute hatten reglos auf dem Boden gelegen, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Offensichtlich hatten nur Li und ich die unerklärliche Aktion der Bewusstseins-Transfermaschine überstanden. Lis Schritte hallten dicht hinter mir. Mehrmals hatte ich geglaubt, sie abgeschüttelt zu haben, aber sie hatte immer wieder zu mir aufgeschlossen. Ich blieb stehen. Mir war schon seit geraumer Zeit klar, dass ich mit dieser sinnlosen Flucht nur das Unvermeidliche hinausschob – ich scheute jedoch die endgültige Konfrontation. Du fürchtest dich davor!, stellte der Extrasinn zutreffend fest. Ich nickte, drehte mich um und wartete, bis ich Li hinter mir ausmachen konnte. Sie blieb abrupt stehen, als sie mich sah, baute sich dann mit leicht gespreizten Beinen auf und winkelte die Arme an. 31
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter hat gefühlt, dass ich anderes vorhabe. Dieser lästige Primat ... ihn werde ich auch noch erledigen!« Meine Muskeln schmerzten schier unerträglich, während sie der Kampf nicht die geringste Kraft zu kosten schien. Wie lange wich ich ihr schon aus? Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. In einem anderen Leben hatte ich sie geliebt, aber die Frau, die mir nun gegenüberstand, hatte nichts mehr mit der Li gemeinsam, die ich gekannt hatte. Eine unbegreifliche Macht hatte von ihr Besitz ergriffen. Ich spürte ein sanftes Vibrieren unter den Füßen. Die Erschütterungen, die von der Bewusstseins-Transfermaschine ausgingen, übertrugen sich mittlerweile auf die gesamte Anlage. »Hier fliegt gleich alles in die Luft! Wir müssen verschwinden! Du willst mich unbedingt töten ... aber willst du auch sterben?« Irgendwie brachte ich sie damit aus dem Konzept. Meine Sorge um sie schien ihr unheimlich zu sein. »Der Humor wird dir noch vergehen! Meine Befehle sind ein ...« Ein markerschütternder, lang anhaltender Schrei übertönte den Rest des Satzes. * Ich fuhr herum. Das Gebrüll kam aus den weitläufigen Gehegen der Bio-Arcologys. »Schluss jetzt!«, rief ich. Ich hatte genug von Angst und Schreien. Und ich hatte Li genug Gelegenheit gegeben, ihr Verhalten zu überdenken. Ich vollendete die Bewegung, aber anders, als Li gedacht hatte. Unvermittelt stand ich vor ihr. Bevor sie reagieren konnte, traf mein Fuß ihre Kniekehle. Wie aus weiter Ferne vernahm ich ein hässliches Knacken. Li knickte ein, fiel jedoch nicht. Der nächste Tritt traf sie an der Schläfe. Einen Moment lang schienen ihre Augen aus den Höhlen zu quellen, dann schloss sie die Lider. Ich wollte sie nicht töten, aber ich musste sie ausschalten, bevor sie mich tötete. Was geht in ihr vor?, fragte ich mich. Ich wollte dieses Geheimnis unbedingt ergründen; gleichzeitig hatte ich abgrundtiefe 32
Angst davor. Ich hatte den Dagor-Tritt so genau berechnet, wie es mir möglich war. Ich hoffte, sie damit nicht getötet zu haben, auch wenn ich diese Möglichkeit nicht endgültig ausschließen konnte, aber sie würde auf jeden Fall bewusstlos zusammenbrechen. Aber ... sie schüttelte sich nur, drehte sich um und floh! Ich zögerte einen Augenblick lang, dann setzte ich ihr nach. * Vor mir breiteten sich die unzähligen Gehege der Bio-Arcologys aus. Die Wesen darin wirkten unruhig; sie spürten die Gefahr, die von der Anlage ausging. Mich überkam tiefes Mitleid. Die Geschöpfe waren in ihren Einfriedungen hilflos dem Untergang geweiht. Sollte die Station tatsächlich zerstört werden, würden sie alle sterben. Ihrer kreatürlichen Angst verliehen sie mit animalischem Geschrei Ausdruck. Es wurde immer lauter. Die Geräuschkulisse kam mir unerträglich vor. Wo war Li? In diesem Chaos würde ich sie niemals finden ... Wenn sie es nicht wollte. »Du kannst dem allen ein Ende machen, Arkonide«, erklang die vertraute Stimme hinter mir. »Das sind verängstigte Tiere, die um das bisschen Existenz betteln, dass sie hier fristen. Lass es uns beenden. Lass uns alles beenden und ...« Sie hielt einen Kombistrahler in der Hand; offensichtlich hatte sie ihn irgendwo gefunden und mitgenommen. Langsam, fast lässig, hob sie die Waffe und richtete sie auf mich. Ihre Stimme klang fast bedauernd. »Leb wohl, Atlan!« Aber bevor sie schießen konnte, erfüllte ein donnerndes Dröhnen die Luft. Es schien von überall zugleich zu kommen. Die Welt um mich herum erbebte. Schwere Deckenverstrebungen stürzten herab, verfehlten Li und mich nur knapp. Ich wollte nicht mehr kämpfen. Ich war zu bestürzt über die Waffe, die auf mich gerichtet wurde. Ich war nur noch müde und erschöpft.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Eine graue Mauer türmte sich um mich auf, Staub quoll in meine Lungen. Unerträglicher Hustenreiz quälte mich. Durch mein rechtes Bein schoss ein brennender Schmerz. Ich verlor in den undurchdringlichen Wolken jede Orientierung. Die Vibrationen haben alles zum Einsturz gebracht! Ein Wunder, dass wir noch leben. Das vielstimmige Geschrei war leiser geworden. Nur noch wenige Geschöpfe hatten die Kraft, um Hilfe zu rufen, oder was auch immer ihre Schreie bedeuteten. Mein Bein schmerzte fürchterlich, allerdings hatte ich genug Erfahrung mit solchen Verletzungen, um zu wissen, dass es nicht gebrochen war. Nur eine Prellung. Lästig, aber ich kann noch gehen. Zerbrochene Kunststoffquader und Stahlträger schichteten sich drohend um mich auf. Ich versuchte, sie zu bewegen, aber es war aussichtslos. Ich war verschüttet. »Zanargun!«, rief ich. »Hallo! Hört mich jemand?« Meine Stimme verhallte an den Quadern. Sie isolierten mich von der Außenwelt. Wo war Li? Sie musste mich für tot halten, oder sie hätte nachgeholfen. Es hatte keinen Sinn, über das Warum und Wieso nachzudenken. Ich konnte es nicht ändern, sie musste dem Bewusstseinstransfer zum Opfer gefallen sein. Ihr Geist hatte den Körper verlassen. Wohin war er gegangen? War Li für mich für immer verloren, oder gab es noch den Hauch einer Chance, ihr wirkliches Ich zu finden? Wer oder was beherrschte sie jetzt? Ein Kratzen und Scheuern drang durch die Menge der Blöcke zu mir. Jemand hatte mich gefunden und versuchte, sich zu mir durchzukämpfen. Ich muss meinem potenziellen Retter helfen, allein schafft er es nicht! Mit letzter Kraft drückte ich gegen den rauen Kunststoff. Ich fühlte, dass der Quader langsam nachgab. Ein frischer Luftzug wehte mir ins Gesicht. Ein weiterer Brocken hatte meinem Druck nachgegeben; polternd fiel er auf der anderen Seite hinab. Staub wallte auf, Partikel tanzen im Licht einen unwirklichen Reigen. »Vorsicht, da kommen noch mehr!« Ich hatte meine Warnung gerade noch 33
rechtzeitig ausgesprochen. Eine ganze Mauer wurde instabil und brach mit lautem Getöse und in einer gewaltigen Staubwolke nach vorn weg. Erstaunt starrte ich dem Affenmenschen, den ich Krantar genannt hatte, ins pelzige Gesicht. Die Lethargie in seinen Augen war einem kämpferischen Ausdruck gewichen. Er hatte verstanden, was hier passierte. Der Tod seiner Leidensgenossen hatte ihn tief getroffen. Die Wut auf seinen Gesichtszügen konnte die Trauer, die er empfand, nicht überdecken. Wieso hilft er mir?, dachte ich. Nur, weil ich ihn gestreichelt, ihm seine Paralyse genommen, ihm ein wenig Zuwendung gegeben habe? Vielleicht war ich das erste Wesen überhaupt, das ihn wie ein denkendes, fühlendes, leidendes Geschöpf behandelt hat! Einen Moment lang drohten mich Erinnerungen zu überwältigen. Krantar ... Plötzlich verspürte ich Angst vor einer Duplizität der Ereignisse, die ich auf jeden Fall verhindern wollte. Dann ergriff ich die dargebotene Hand, und er zog mich kraftvoll aus den Trümmern. Ich schrie leise auf. Ein stechender Schmerz fuhr durch mein Bein. Es war wohl doch schlimmer, als ich vermutet hatte. Mein Kampfanzug war von den scharfen Kanten der Trümmer kaum beschädigt worden. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich nur Prellungen, aber keine Schnitte erlitten hatte. Dennoch brannte der Schmerz in meinem Bein wie Feuer. Aber ich lebte! Viele andere hatten hier den Tod gefunden. Klagende Laute schwebten in der Luft. Die Versuchstiere trauerten um ihre Gefährten. Krantar sah mich an. »Ich danke dir, mein Freund. Ich weiß nicht ...« Das affenähnliche Geschöpf gestikulierte wild und wies dabei in eine bestimmte Richtung. Ich verstand. »Sie ist zurückgegangen. Li will wieder zu dieser Höllenmaschine. Jetzt habe ich eine Aufgabe, einen Befehl. Ich werde sie aufhalten.« *
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Dienste leisten. Wenn ich ihn übernehme, kann ich vielleicht deine Macht und Unsterblichkeit erlangen. Und die Macht über die Station. Das alles hier gibt mir unendlich viel Macht. Ich kann vielleicht sogar so werden wie er.« »Wie wer?«, fragte ich. Etwa der Roboter? Mir wurde wieder voller Entsetzen bewusst, dass diese Gestalt nicht mehr meine Li war. Ich hatte mit meiner Vermutung Recht gehabt. Ihr Geist war an einem anderen Ort. Verzweifelt wurde mir klar, dass ich nicht einmal wusste, wo ich die wahre Li suchen sollte. Oder wie ich diese Suche überhaupt in die Wege leiten konnte. Auch ihre Bewegungen waren völlig anders als die der Li, die ich gekannt hatte. Nicht mehr elegant und fließend, sondern ruckhaft und ungelenk, fast, als befände sich ein fremdes Bewusstsein in ihrem Körper, das sich erst an ihn gewöhnen musste. »Bei dir fange ich mit der höchsten Einstellung an. Du wirst sehen, es tut fast gar nicht weh. Und dann wird dein Geist verwehen, vielleicht in diesen behaarten Idioten. Deinen Affenfreund.« Ihr hämisches Lachen schnitt aus mir den letzten Rest von Zuneigung heraus, die ich für diese Frau empfunden hatte. Ich spürte, wie eine unverständliche Kraft ganz in der Nähe meines Geistes entstand und dann an mir sog. Erinnerungen von dreizehntausend Jahren wurden an die Oberfläche meines Denkens gezerrt und lösten sich schneller wieder auf, als ich sie erfassen konnte. Übrig blieben flüchtige Bilder, die meisten von Gesichtern. Gesichter von Frauen ... Farnathia ... Karmina ... Amoustrella ... Iruna ... Theta ... Dann verschmolzen sie zu einem einzigen Antlitz, dem Inbegriff der Liebe, Perfektion, Schönheit und Sehnsucht ... zumindest für mich. »Mirona«, flüsterte ich. Mirona Thetin, Faktor I der Meister der Insel, die im Jahr 2406 durch meine Hand gestorben war. Die ich hatte töten müssen, um die Menschheit und den Geschichtsverlauf, wie ich ihn kannte, zu retten. Narr!, peitschte die Stimme des Extrasinns. Mir fiel auf, dass sein Vokabular wieder
Ich ignorierte die Schmerzen im Bein. Der Gang, der mich zu Li führen würde, war noch passierbar. Nur einige Kunststoffquader hatten sich aus der Decke gelöst. Staub rieselte aus Rissen, die sich in viele Richtungen verästelten. Sie wurden immer länger, und es wurden auch immer mehr. Die Zeit lief uns davon. Das Vibrationen der Maschine nagten weiterhin an der gesamten Stahlwelt. »Wie lange noch?« Ich wusste nicht, ob Krantar mich verstand, aber ich sprach auch mehr zu mir selbst. Die Gestalt des Primaten war im dunklen Labyrinth der Gänge verschwunden. Kleine Fragmente lösten sich von der Decke und fielen vor mir auf den Boden. Wie lange noch? Ein Schatten huschte an mir vorbei. Der Schlag traf mich unvermittelt am Kopf. Noch während ich zusammenbrach, wurde mir klar, was geschehen war und geschehen würde. Meine Gedanken waren seltsam unbeteiligt. Noch eine Sekunde, und es ist vorbei. Dann wird es dunkel werden ... 7. Nur langsam kehrten die Gedanken zurück in die nachtschwarze, sternenlose Einöde, die mein Geist war. Wie lange war ich ohnmächtig? Warum kann ich meine Arme und Beine nicht bewegen? Noch langsamer wurde mein Blick wieder klar. Hatte ich zuvor verschwommene Helligkeit gesehen, nahm ich nun kristalline wahr. Ich war von Licht umgeben, schwamm darin. Meine Halsschlagader pulsierte fast schmerzhaft; der Aktivatorchip leistete ganze Arbeit. Dann vernahm ich auch Geräusche: Ein leises Flirren, das mir sehr bekannt vorkam, umgab mich. Die Bewusstseins-Transfermaschine. Sie funktioniert noch. Vielleicht ... Verschwommen machte ich eine Gestalt am Schaltpult aus. Als hätte sie meinen Blick registriert, sah sie zu mir hoch. »Eigentlich trifft es sich ganz gut, dass du noch lebst. Dein Körper kann mir gute 34
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter einmal sehr beschränkt zu sein schien. Wenn du dich jetzt in Erinnerungen flüchtest, bist du verloren! Konzentriere dich auf die Gegenwart! Ein Wirbel entstand in meinem Kopf. Ich war mentalstabilisiert, verfügte über einen aktivierten Extrasinn. Die Transfermaschine konnte mein Bewusstsein nicht erreichen, ich konnte von ihr nicht manipuliert werden. Aber ich konnte unter dem Druck zusammenbrechen. Sie konnte mich irrsinnig machen, in den Wahnsinn treiben. »Das wird dir nicht helfen. Meinen Körper bekommst du nicht. Du müsstest es wissen, ich habe es Li gesagt. Sie weiß es!« Die Frau in Lis Körper starrte mich mit leeren Augen an. Li war nicht mehr sie selbst, irgendetwas in ihr war zerbrochen. »Li hat es mir leider nicht verraten, bevor sie ... ging«, antwortete sie dann. »Aber ich stehe noch ganz am Anfang. Diese wunderbare Maschine verfügt noch über ein paar Reserven.« Der Wirbel in mir schwoll zu einem Orkan an. Ich behielt zwar das Bewusstsein, aber früher oder später würde irgendetwas geschehen. Lange würde ich dieser gewaltigen Kraft nicht widerstehen können. Sie würde zuerst meinen Geist zerreißen und dann meinen Körper. Ich würde sterben. Und wenn ich Glück hatte, würde ich zu diesem Zeitpunkt schon dermaßen irrsinnig sein, dass der Gedanke an den Tod mir nichts mehr ausmachte. Meditiere. Dagor. Zen. Du kennst die Techniken. Schütze deinen Geist, verstärke deinen Monoschirm, flüchte auf eine andere Bewusstseinsebene. Mein Extrasinn hatte gut reden. Das Chaos in meinem Kopf machte es mir so gut wie unmöglich, in irgendeine Meditationsphase einzutreten. Erinnerungen eines anderen Lebens zerfetzten jede Konzentration, die ich aufgebaut hatte. Ich schloss die Augen, verbannte die Gegenwart und kehrte zu Erinnerungen von Momenten des Glücks zurück. Zu den innigen Umarmungen, zu der Leidenschaft, die ich mit Li erlebt hatte. Sie war in mir, so, wie ich in ihr war, in jeder Faser meines Seins. Die Trauer um sie war so, gewaltig, so furchtbar, 35
dass ich aufschrie. »Nein, du lebst! Du bist hier irgendwo! Und ich werde dich finden!« Ich konnte nicht mehr zwischen dem Schmerz der Trauer und dem beginnenden Wahnsinn unterscheiden. Mein Körper bäumte sich auf. Gewaltige Energieentladungen schienen durch ihn zu zucken; es konnte nicht mehr lange dauern. Durch einen Tränenschleier sah ich die Gestalt, die einmal Li gewesen war. Sie stand mit erhobenem Arm an der Armatur. Wie vor ein paar Stunden Crest-Tharo da Zoltral. Oder waren es Tage gewesen? Zu viel war passiert, ich war nicht mehr imstande, den Fluss der Zeit einzuschätzen. Und hinter ihr sah ich ... Ich kniff die Augen zusammen. Täuschte ich mich, spielte das Licht, das mich einhüllte, mir einen Streich? Bunte Schlieren durchwebten meine Erinnerungen, Sterne und Galaxien zogen an mir vorbei. Ich war ein passiver Zuschauer, betrachtete mich aus der Ferne. Mein Körper fühlte sich an wie ein sich aufblähender Stern. Sterben in einer Supernova. Und diesen Ort des Grauens nehme ich in meinem Feuerball mit. In einem Moment absoluter Klarheit über meine Situation öffnete ich die Augen. Ein letztes Mal wollte ich ihr noch ins Gesicht sehen. Aber ich sah ... eine Bewegung hinter ihr, einen pelzigen Schemen, der sich im nächsten Moment schon wieder hinter eine Konsole kauerte. Li – oder das Geschöpf, das jetzt in ihrem Körper hauste – stand noch immer an der Steuerarmatur, bemerkte meinen Blick. »Sieh genau hin, Arkonide, ich werde dich gleich übernehmen. Geh weg, Alter!« Mit einem festen Stoß fegte sie Nevus MercovaBan von der Maschine. Der Greis musste sich mühsam bis dorthin gearbeitet haben. Nun wankte er, mehr tot als lebendig, wieder von ihr zurück. Dann wieder eine Bewegung. Etwas blitzte auf, jemand stieß einen lauten Schrei aus, nein, einen Ruf. Ich vernahm gutturale Laute, die eindeutig Wörter bildeten. Ihre Bedeutung blieb mir unklar, aber ich erkannte die Stimme. Krantar!
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter »Du Bastard, ich hätte dich besser ...« Lis Stimme verhallte, und sie stürzte zu Boden. * Ich bäumte mich in dem Licht auf, zerrte an den unsichtbaren Fesseln, die mich fünf Meter über dem Boden hielten, während mein Geist von Erinnerungen überschwemmt wurde. Ein Primat. Ein Speer. Eine wunderschöne Frau. »Nein«, flüsterte ich, »nein ...« Ein Speer, der sich in ihre Brust bohrt. Hände umklammern den Schaft. »Nein ...« Ein Speer, geworfen von meiner eigenen Hand ... »Nein! Nicht schon wieder ...!« Eine Frau, die zusammenbrach. Blut, das aus ihrem Mund quoll. Ihr mühsames Murmeln: »Ich hätte dich töten können ...« Und sie drückt den roten Knopf. Der Abwehrschirm des Transmitters entsteht genau dort, von wo aus ich den Speer warf. Sie hat ihre Gelegenheit nicht genutzt ... Mirona ...! »Nein«, flüsterte ich. »Nicht Mirona ...« »Li!« Der Schrei hallte nachtschwarz durch die Halle mit der BewusstseinsTransfermaschine. In ihm lag eine solche Verzweiflung, vielleicht auch ein solcher Hass, dass ich mich fragte, ob der Mann, der den Aufschrei ausgestoßen hatte, noch bei Sinnen war. Ich bezweifelte es. Der Ton hing einen Moment lang gellend in der Luft. Dann kippte er, überschlug sich und klang noch verzerrter. Er schien nicht mehr von einem humanoiden Wesen zu stammen, von gar keinem Lebewesen mehr. Er kam mir vor wie personifizierter, Geräusch gewordener Wahnsinn. »Li ...!« Sie war zusammengebrochen, und ein Speer ragte aus ihrem Oberkörper. Krantars Speer. Der Affenmensch hatte getan, was er nach allem, was seine Intelligenz und sein Instinkt ihm sagten, hatte tun müssen. Er hatte den Feind, der ihn gepeinigt hatte, getötet. 36
Seltsame Laute drangen aus seiner Kehle, ein auf- und abschwellendes Jaulen. Ein ritueller Totengesang, zu Ehren des Besiegten. Li rührte sich nicht. Fassungslos wurde mir klar, dass ihr Körper endgültig verloren war. Der Geist verweht, der Körper zerstört ... Und du wirst auch bald verloren sein, wenn du nicht endlich in die Gegenwart zurückfindest!, versuchte der Extrasinn zu retten, was noch zu retten war. Die Transfermaschine läuft auf Hochtouren, und ihre letzte Einstellung raubt dir deine gesamte Lebenskraft. Ohne Aktivatorchip wärst du schon längst tot! Ich weigerte mich, die Worte des Logiksektors zur Kenntnis zu nehmen. Meine Gedanken galten einzig Li. Nicht mehr lange, und vielleicht sehe ich dich dann wieder ... Plötzlich gaben die unsichtbaren Fesseln nach, die mich gehalten hatten, und ich stürzte aus dem Energiefeld auf die Rampe. Ich schrie gellend auf, als ich ausgerechnet auf das verletzte Bein prallte und mehr als fünfzehn Meter weit die geneigte Fläche hinunterrollte. Am Rampenfuß rappelte ich mich mühsam auf. Vor mir stand ein von Haut überzogenes Skelett, ein lebender Toter. Glühende, tief in den Höhlen liegende Augen musterten mich mit einem Blick, den ich nicht einschätzen konnte. Flackerte Wahnsinn darin, oder erkannte ich tatsächlich Mitgefühl? Nevus Mercova-Ban! Dessen Leben ich gelebt hatte ... Endlich, raunzte der Extrasinn. Endlich beschäftigst du dich auch mit einigen nebensächlichen Fragen. Zum Beispiel, warum der alte Lemurer sozusagen von den Toten auferstanden ist. Warum deine große Liebe einen Roboter beschreibt, bei dem es sich wohl um den Kosmokratenbeauftragten Samkar handelt. Ich verstehe ja, dass es dich nicht interessiert, wann die Stahlwelt endgültig in die Luft fliegt, aber ... Solch einen Disput hatten wir schon mehr als einmal geführt. Hast du schon einmal geliebt?, dachte ich, obwohl ich wusste, welche Antwort ich darauf erhalten würde. Schallendes Gelächter. Der nach fünfzigtausend Jahren ins Leben zurückgekehrte Lemurer konnte sich kaum
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter auf den Beinen halten, aber offensichtlich war es ihm gelungen, das Fesselfeld auszuschalten und mich aus der Anlage zu holen. »Danke!« Meine Stimme war ein undeutliches Krächzen, aber Nevus schien mich verstanden zu haben. Er verzog das Gesicht. Die Geste kam mir wie ein Lächeln vor. Irgendwie wirkte sie vertraut. Ich drehte mich zu der Transfermaschine um, stöhnte laut auf, als ich das verletzte Bein belastete und ein heißer Schmerz bis in meine Schulter zuckte. Der nachtschwarze, würfelförmige Maschinenblock war noch immer völlig fugenlos und massiv, aus einem Stück gefertigt. Das Schaltpult an dem knorrig anmutenden Aggregat war jetzt durch einen Energieschirm geschützt. Ich konnte das Displayfeld darunter nicht berühren, geschweige denn bedienen. Die Anlage vibrierte mittlerweile so heftig, dass ich befürchtete, sie könne jederzeit aus ihrer Verankerung gerissen werden, obwohl ich überhaupt keine ausmachen konnte. Die tödliche Einstellung, die mich bezwingen sollte, würde früher oder später in die Selbstzerstörung übergehen. Rote Warndioden blinkten, auf Holodisplays rollten Zahlenkolonnen einen rasenden Countdown. Mein fotografisches Gedächtnis erkannte die lemurischen Symbole und machte mir den Ernst der Lage begreiflich. Uns blieben knapp zehn Minuten, dann würde das eintreten, was die Ziffern ankündigten. Der Logiksektor machte sich nicht einmal die Mühe, mich auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Maschine könne sich dann selbsttätig ausschalten, so lächerlich gering war sie. »Wir müssen hier weg!« Gehetzt schaute ich mich um. Von Krantar war keine Spur mehr zu sehen. Er hatte die Gefahr viel früher als ich gespürt. Er hatte auch vor mir die Veränderung wahrgenommen, die sich in Li vollzogen hatte. Das erklärte die Aggressivität, mit der er ihr begegnet war. Mein Blick glitt über den ausgemergelten Lemurer. Nevus war auf keinen Fall in der Lage, von hier zu fliehen. Und ich konnte ihm nicht helfen. Ich bezweifelte, dass meine Kraft ausreichte, mich selbst in Sicherheit zu bringen. 37
Ein Zeitzeuge, dachte ich unwillkürlich. Ein Relikt aus tiefer Vergangenheit, das tausend Fragen beantworten, Licht in tausend dunkle Höhlen bringen kann. Hatten sich wenigstens meine Leute in Sicherheit bringen können? Und Crest-Tharo da Zoltral und seine Schergen? Von ihnen war nichts zu sehen, es hielt sich niemand mehr hier auf. Wo waren sie geblieben? So hilflos wie an diesem Tag war ich selten gewesen. Verzweifelt streckte ich die Hände nach dem Energieschirm aus, aber es war sinnlos, ich konnte ihn nicht durchdringen. Ich hob die rechte Hand, aktivierte den ArmbandBefehlsgeber. Trotz meines fotografischen Gedächtnisses dauerte es eine Weile, bis ich die Zugriffsmöglichkeit auf die Transfermaschine fand. Aber sie war vorhanden! Kharag hatte mir in der Tat die Kontrolle über alle Stationseinrichtungen zugestanden. Ich nahm die nötigen Schaltungen vor – aber die Maschine reagierte nicht! Ihre Vibrationen wurden nicht schwächer, ihr Dröhnen wurde nicht leiser. »Kharag«, zischte ich, »deine eigene Existenz ist bedroht!« Ich hantierte wie von Sinnen an dem Armband, aber an dem Ergebnis änderte sich nichts. Der »point of no return« ist überschritten! Du kannst die durchgehende Maschine nicht mehr herunterfahren! Sie würde sich in neun Minuten überladen, explodieren und den gesamten Kernbereich der Stahlwelt zerstören. Kharag wird in einer Supernova vergehen. Neben mir erklang ein Stöhnen. Nevus! Er kennt die Anlage! Vielleicht weiß er Rat! Ich wirbelte zu ihm herum – und ignorierte geflissentlich den Schmerz in meinem Bein. Gerade noch rechtzeitig hatte ich an ihn gedacht. Er taumelte, und ich streckte die Arme aus und konnte ihn im letzten Moment vor einem Sturz bewahren. Kraftlos lag er in meinen Armen. Sein Körper schien gewichtslos zu sein; trotz meiner Schwäche bereitete es mir nicht die geringste Mühe, ihn zu halten. »Du hast mich aus dieser Maschine gerettet«, flüsterte ich, »und ich kann nichts für dich
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter ihren Geist in diesen alten, eigentlich toten Körper verbannt haben? War der Lemurer deshalb erwacht? Weil Li in ihn hineingeglitten war? Aber wann sollte das geschehen sein? Wann? Als Crest-Tharo da Zoltral versucht hatte, sie zu brechen? Und wie? Hatte die Transfermaschine doch funktioniert? Fragen über Fragen. Aber ich musste die Antworten nicht kennen, um eins zu wissen: Ich wollte mich nicht damit abfinden, sie erneut zu verlieren, diesmal endgültig und ohne Wiederkehr. Ein schwaches Nicken gab mir Recht. »Nein«, flüsterte ich erneut. Aber es war so. Lis Geist steckte in dem Körper des Lemurers, den ich in den Armen hielt, der mich befreit hatte. Eines Todgeweihten, der ganz offensichtlich 50.000 Jahre in Stasiskonservierung verbracht hatte. Und der nicht überleben konnte, der jeden Augenblick sterben würde ... Ich rang um Fassung, wollte Li nicht meine Verzweiflung zeigen. »Ich hole dich da raus!«, flüsterte ich und schaute zu ihrem richtigen Körper, der, von dem Speer durchbohrt, auf dem Boden lag. »Dein anderes Bewusstsein braucht deinen Leib nicht mehr!« Narr!, versuchte der Logiksektor, mich zur Vernunft zu bringen. Woher kommt dieses andere Bewusstsein? Kannst du dir das erklären? Es war mir gleichgültig. Wie weit war es mit mir gekommen? Mich interessierte nur Li; für sie wollte ich alles versuchen. Sie war noch hier, bei mir! Ich hob den unglaublich leichten, schlaffen Körper hoch, trug ihn zum Ende der Rampe, über dem sich in fünf Metern Höhe die Energieblase gebildet hatte, im Spalt zwischen Rampenende und eigentlicher Würfelmaschine, die weitere sieben Meter aufragte. Dort legte ich ihn sanft auf den Boden und lief dann zu Lis leblosem Körper. Ich musste mich beeilen, Nevus’ Körper würde nicht mehr lange durchhalten. Und ich wollte nicht darüber nachdenken, was mit Lis Geist geschehen würde, wenn der Körper des Lemurers starb. Ein heftiger, lauter Vibrationsstoß erinnerte
tun! Weißt du, wie ich dieses Höllengerät ausschalten kann?« Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Seine gesprungenen Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam über sie. Ich ließ ihn sanft zu Boden gleiten, kniete nieder und beugte mich über ihn. Zögernd senkte ich den Kopf, bis mein linkes Ohr fast seinen Mund berührte. Nun verstand ich wenigstens einen Teil dessen, was er mir sagen wollte. »Ich ...« War das vielleicht die Rettung? War ihm bekannt, wie man die Bewusstseins-Transfermaschine desaktivieren konnte? »Ich weiß ...« Dann verstand ich genau, was er sagte, und ich schrie. Und in diesem Schrei lag nicht weniger personifizierter, Geräusch gewordener Wahnsinn als in dem da Zoltrals, den ich gehört hatte, als meine Begleiter gerade das Transmitterfeld verließen. »Ich weiß«, sagte Nevus Mercova-Ban, »ich weiß noch immer nicht ... welcher NettorunaJahrgang der bessere ist ... der 1156er oder der 1161er ...« 8. Ich schrie, bis ich keine Luft mehr bekam. Was hatte der Greis gerade gesagt? Das war doch völlig unmöglich! Ist es nicht, widersprach der Logiksektor. Das dürfte sogar die Erklärung dafür sein, wieso er zu neuem Leben erwacht ist! »Das könnte die Erklärung sein«, flüsterte ich und schaute dem alten Lemurer in die Augen. Ich sah eine jugendliche Frische, die sein Alter Lügen strafte. Der Blick dieser Augen war klar und liebevoll. Ich erinnerte mich ... erinnerte mich genau. An einen anderen liebevollen Augenblick ... als wir nackt auf dem Bett gelegen und darüber gesprochen hatten, welcher ... welcher ... Nettoruna-Jahrgang der bessere war ... der 1156er oder der 1161er ... Wir. Li und ich. Nur Li konnte von diesem Gespräch wissen. Nur sie. Ich hauchte das Wort eher, als dass ich es sprach. »Li ...?« Konnte das Schicksal so grausam sein und 38
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter mich daran, dass die Transfermaschine beschädigt war und sich unentwegt mit Energie auflud, die sie nicht weiterleiten konnte. Ich suchte an Lis Handgelenk, am Gelenk der schlanken, groß gewachsenen, rothaarigen Frau, deren Leib von einem primitiven Speer durchbohrt war, nach einem Puls, fand keinen. Ich wirbelte herum zu dem Display an dem kleinen, knorrigen Nebenaggregat, an dem schon da Zoltral und danach das andere Bewusstsein in Lis Körper hantiert hatten. Plötzlich erlosch die Anzeige und zeigte nur noch den Countdown der Überladung, der Selbstzerstörung an. Noch fünf Minuten. Ganz weit entfernt vernahm ich die Stimme des Logiksektors, der versuchte, mir zu raten, der mich zur Flucht drängte, aber ich achtete nicht auf sie. Die Tatsache, dass wir alle in wenigen Minuten tot sein würden, war mir gleichgültig. Ich sah zu Nevus Mercova-Ban hinauf. Wie lange würde sein Körper noch funktionieren? Ein lautes Zischen erklang, ein Blitz blendete mich. Funken sprühten. So etwas wie ein Kurzschluss ließ weitere Funktionen der Maschine ausfallen. Was ich auch versuchen würde, jetzt würde nichts mehr davon angenommen werden. Die Erfahrung von dreizehntausend Lebensjahren konnte mich nicht davor bewahren, meine Verzweiflung und Enttäuschung laut hinauszuschreien. Meine ganze Wut ... Verzweifelt stolperte ich zu dem Körper, in dem meine Geliebte eingesperrt war. Ich nahm sie behutsam in den Arm. Das immer schrillere Vibrieren der beschädigten Maschine nahm ich nicht mehr wahr. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass wir es nicht mehr schaffen würden, die Station vor ihrer Zerstörung zu verlassen. »Atlan!« Ich fuhr herum. Zanargun und Ulbagimuun standen am Fuß der Rampe, liefen zu mir. Sie waren durch einen weniger in Mitleidenschaft gezogenen Gang zurückgekehrt. Beide wirkten erschöpft, schienen aber unverletzt zu sein. Zuerst verstand ich gar nicht, was der 39
Dryhane sagte. »Crest-Tharo und seine Leute sind geflohen. Wir haben sie verfolgt. Da Zoltral scheint nicht mehr bei Sinnen zu sein, aber ihre Ortskenntnisse haben sie vorerst gerettet. Sie haben sich in einem von ihnen gesicherten Raum ganz in der Nähe verschanzt und schießen auf alles, was sich nähert.« Ulbagimuun zuckte mit den Achseln; in seinem von Runzeln und Falten übersäten Gesicht arbeitete es. »Wir könnten stürmen, aber dann würde es Tote geben. Andererseits ist das wohl nicht mehr so wichtig. Sie werden mit uns sterben.« Er setzte sich auf den Boden und sah zu mir hoch. Seine schlichte philosophische Art hatte mich schon immer fasziniert. Er übte fast eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Ich atmete tief durch. Wenn es hier schon zu Ende gehen sollte, dann wenigstens in Würde. Noch eine Minute, bis die Transfermaschine explodieren würde. »Atlan!«, sagte in diesem Augenblick hinter mir eine andere, mir unbekannte Stimme. Ich fuhr herum. Es musste eine Halluzination sein, oder ich war tatsächlich in eine so tiefe Meditationsphase geglitten, dass ich sie seitdem nicht mehr verlassen hatte. * Ein kleiner Humanoide, gerade einmal einen Meter groß, stand dort. Ich kannte ihn nicht, hatte ihn hier in der Station noch nie gesehen. Aber ich wusste, was es mit diesen Geschöpfen auf sich hatte. Die Erinnerungen waren so stark, dass ich sie nicht unterdrücken konnte. Hominide ... Humanoide ... Statt weitere Ritter der Tiefe zu weihen, wurden vermehrt andere als Beauftragte der Hohen Mächte bestimmt: kleine Hominide und ihre Androiden – Pragmatiker und Techniker, pure Technokraten. In den Augen anderer Helfer der Kosmokraten galten sie als reine Befehlsempfänger, bar jeden Verständnisses für kosmomythologische Zusammenhänge. Sie scherte dieser Vorwurf wenig, auch nicht, dass ihre Art – abwechselnd herablassend, jovial oder von solch gönnerhafter Weise, als seien sie die eigentlichen Vertrauten der
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Kosmokraten – vor allem die Ritter der Tiefe häufig zur Weißglut gebracht hatte. Sie und die menschengroßen Androiden waren Beauftragte der Kosmokraten, technokratische Hilfskräfte jener Mächte jenseits der Materiequellen, die immer wieder andere Helfer aus diesen unseren Gefilden des Multiversums für die Erfüllung ihrer verschwommenen Ziele heranzogen. Unter anderem auch mich und Perry Rhodan. Bis wir beide ihnen den Dienst und die Gefolgschaft aufgekündigt hatten. Und diese Humanoiden und Androiden waren auch schon in Omega Centauri aktiv geworden. Unter anderem waren sie auf dem Planeten Shahana in Erscheinung getreten. Schon damals hatte ich mir Gedanken gemacht und Schlüsse gezogen, aber keine Zusammenhänge zwischen da Zoltrals Machenschaften und den Hohen Mächten der Ordnung ziehen können. Ich konnte noch immer keine ziehen. Geflissentlich ignorierte ich das Toben des Extrasinns. »Mein Herr hat dir etwas zu sagen!«, wandte sich das Geschöpf, von dem nicht einmal bekannt war, ob es natürlichen oder künstlichen Ursprungs war, und dessen violette Iris wie lackiert wirkte, an mich. Zumindest hegte ich aufgrund von Lis wirren Schilderungen und vermeintlichen Phantastereien nicht den geringsten Zweifel daran, wer dieser Herr war. * Sein Charisma war überwältigend – und das, obwohl er wahrscheinlich gar kein Lebewesen war. Oder vielleicht doch? Seine Gestalt war königlich. Er war groß, in jeder Hinsicht, wesentlich größer als ich, und schlank, fast schon hager. Dabei wirkte er überaus ästhetisch, wohlgeformt, auch wenn er eindeutig künstlichen Ursprungs war. Seine Hülle bestand aus einem stumpf in einem dunklen Braun schimmernden, weichen Metall. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Unter der Substanz, die ihn bedeckte – aus der er bestand –, konnte ich weder Arm- noch Beingelenke ausmachen. An diesen Stellen 40
gab der Stahl des Hüllenmaterials elastisch nach und ermöglichte ihm die volle körperliche Beweglichkeit. Er war einfach perfekt – bis auf eine winzige Kleinigkeit: Auf dem linken Auge schielte er. Dieser Defekt beseitigte jeden Zweifel, bewirkte, dass ich ihn sofort erkannte. »Samkar«, flüsterte ich. Samkar, Roboter, Diener und Beauftragter der Kosmokraten, ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und einer Macht, von der ich mir nicht einmal ansatzweise Vorstellungen machen konnte. Ursprünglich ein Lebewesen, der wahre Igsorian von Veylt. Mit ungeheurem Aufwand war er in der Kosmokratischen Fabrik in Erranternohre in einen Roboter umgewandelt worden. Er »ging« damals, am 10. November 3587, vor mir »hinter die Materiequelle«; ich wurde mit Laire entmaterialisiert und ... Ulbagimuun und Zanargun starrten das Geschöpf stumm an. Auch wenn sie Samkar noch nie gesehen hatten, wussten sie aufgrund ihrer Ausbildung, um wen es sich handelte. Der Roboter ging, ohne mich zu beachten, zu dem Aggregat. Ich starrte auf das Display. Uns blieben noch 35 Sekunden. Samkar streckte beide Hände aus, und ein rotes Licht floss aus den Fingerspitzen, fächerte auf und zuckte zu dem schwarzen Würfel. Die Oberfläche saugte das Licht förmlich auf. Das Summen der Transfermaschine verstummte, die Vibrationen hörten auf. Es wurde unnatürlich still im Raum. Gemächlich, mit einer anmutigen, fließenden Bewegung drehte Samkar sich zu mir um. Ich brauchte nicht die Hilfe und Hinweise des Extrasinns, um die richtigen Fragen zu stellen. Plötzlich fielen die Teile des Puzzles an Ort und Stelle. »Warum?« Samkar betrachtete mich. Der Blick seiner Augen kam mir ein wenig erheitert vor. »Warum was?« Ich schnaubte wütend. Dem Roboter war eine Arroganz zu Eigen, die ich überhaupt nicht mochte. »Warum bist du hier? Und warum erst jetzt? Wir müssen dich ja sehr amüsiert haben. Die Arkoniden, die hier gestorben sind. Und Li, die ich verloren habe ...« »Das alles ist kein Zufall.«
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter immer der Speer ragte. Dann kniete er neben ihr nieder und zog die Waffe fast achtlos aus der Wunde. »Ich habe schlecht gearbeitet. Ich habe versucht, Li von Shanana zu holen, um sie in Ordnung zu bringen, aber das misslang. Danach musste ich mich zurückhalten. Du solltest nichts von meiner Anwesenheit erfahren. Aber aufgrund meiner Manipulation geriet dann hier in der Stahlwelt dein Leben in akute Gefahr. Der Tod war dir sicher. Das durfte nicht geschehen. Ich habe lediglich meinen Fehler korrigiert.« »Warum?«, fragte ich noch einmal. Der Roboter drehte sich wieder zu mir um. »Du wirst noch gebraucht. So wurde es mir mitgeteilt.« Er wandte sich wieder ab, hob Li hoch und trug sie wie ein kleines Kind auf den Armen. Ich konnte nichts dagegen tun. »Wozu? Wann?« »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur ... bald.« »Samkar ...« Er drehte sich nicht noch einmal zu mir um. »Samkar, lass sie hier!«, flüsterte ich. Der Roboter der Kosmokraten reagierte nicht. So abrupt, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. Der kleine Humanoide, der stumm zugehört hatte, tat es ihm gleich. Dann war alles wieder still. Totenstill.
»Damit habe ich auch nicht mehr gerechnet, seit ich den ersten deiner kleinen Helfer sah. Und Li von einem Roboter deiner Bauart sprechen hörte. Du hast Li ein zweites Bewusstsein eingepflanzt, nicht wahr? Schon, als ich sie kennen lernte, war sie nicht mehr sie selbst, oder?« »Das ist richtig«, gestand der Roboter fast desinteressiert ein. »Aber dann kam es zu dem Attentat im Epetran-Museum, bei dem sie verletzt wurde ...« »Ich hatte den Auftrag, Li ein zweites Bewusstsein einzupflanzen. Sie hat es nie gewusst. Ihr normales Wachbewusstsein blieb von alledem unberührt.« »Warum?«, wiederholte ich. »Um dich zu beobachten. Das war ihr Auftrag.« Er sagte es, als sei das Erklärung genug. Das machte mich wütend. Es erklärte gar nichts. Die ganze Zeit hatte er mit uns gespielt. Mit mir! Natürlich erhielt auch er seine Aufträge, aber das besänftigte mich nicht. »Wir sind nur Randfiguren im großen Spiel der Mächtigen, nicht wahr?« Der Roboter antwortete nicht, zuckte nicht einmal mit den Achseln. »Aber du hast sie unterschätzt«, fuhr ich fort. »Sie kam ihrem zweiten Bewusstsein auf die Spur ...« »Eine Fehlfunktion aufgrund ihrer Verletzung. Sie erinnerte sich an gewisse Dinge und bekam ein paar Fähigkeiten, die sie zuvor nicht hatte. Aber solche Kleinigkeiten haben dich nicht davon abgehalten, Li mitzunehmen. Sie genoss dein Vertrauen, gewann deine Liebe.« »Und was ist so wichtig an dieser ... Mission? Wieso interessieren die Kosmokraten sich für Omega Centauri?« Ein Hauch von Nachsicht trat in seinen Blick. »Du verstehst noch immer nicht, Ritter der Tiefe.« »Du hast versucht, Li zu schützen. Du beendest den Countdown der Transfermaschine, um mich zu retten.« Narr!, meldete sich der Extrasinn. Genau darum geht es. Nicht um Omega Centauri, sondern um dich! Samkar sah zu Lis Körper, aus dem noch
9. Hätte ich mir jemals die Macht gewünscht, die Zeit manipulieren zu können, dann jetzt. Die letzten Stunden würde ich einfach annullieren, aus meiner Biografie löschen. Ich rieb mir mit der Hand über die Augen. Erst jetzt merkte ich, wie viel Kraft mich die Begegnung mit Samkar gekostet hatte. Der Aktivatorchip arbeitete auf Hochtouren, aber meine seelische Verfassung konnte er nicht beeinflussen. Was konnte ich noch tun? Welche Möglichkeiten blieben mir? Ich lachte leise auf. Es war die reinste Ironie. Zuerst hatten die Manipulationen des Roboters der Kosmokraten Li gerettet, dann hatten sie sie mir genommen. 41
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Als Li unter der Transfermaschine lag und von Crest-Tharo gefoltert wurde, musste die von Samkar aufgepfropfte Persönlichkeit Li endgültig übernommen haben. Li war von einem paramentalen Prozess gerettet worden, den die von Samkar eingegebene Bewusstseinsstruktur erzeugt hatte. Eine andere Erklärung gab es nicht ... Und dann hatte Samkar Li einfach mitgenommen, vermutlich an Bord seines Walzenraumschiffs, vielleicht in die Gefilde jenseits der Materiequellen, um seinen Auftraggebern Bericht zu erstatten ... Nein, widersprach der Logiksektor. Er hat Lis Körper und das Bewusstsein mitgenommen, das er Li aufgepfropft hat. Der Geist der echten Li ist nach wie vor in Nevus’ Körper! In dem Körper, den ich noch immer in den Armen hielt. In den Augen des uralten Lemurers erkannte ich Li. Aber sie entfernte sich von mir. Der Körper des Greises verfiel zusehends. Ich hasste Samkar für seine Überheblichkeit. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, den Prozess umzukehren. Es lag schlichtweg nicht in seinem Interesse, mir zu helfen. Normalsterbliche wie Li waren ihm völlig gleichgültig, sogar ehemalige Ritter der Tiefe kümmerten ihn nur, wenn sie ihm nützlich waren. So wie ich. Was hatte er mit seiner Ankündigung gemeint, ich werde noch gebraucht – und zwar bald? Und was bedeutete bald in den Begriffen der Kosmokraten und ihrer robotischen Diener? Aber das war jetzt unwichtig. Li ... Verzweifelt suchte ich nach einem Weg, einem Weg, der ihren Geist aus diesem sterbenden Körper führte. Die Androiden!, dachte ich. Die Androidenkörper, die da Zoltral gezüchtet hat! Waren sie eine Lösung, zumindest für den Augenblick? Wenn es mir gelingt, Lis Geist mit der BewusstseinsTransfermaschine in einen Androidenkörper zu versetzen ... Vorsichtig hob ich den Greis hoch. »Atlan ...!« Zanargun stand plötzlich neben mir, legte eine Hand auf meinen Arm. »Es hat keinen Sinn, hier ist alles zerstört. Die Maschine funktioniert nicht mehr. Du musst dich der Wahrheit stellen.« 42
»Ich muss es versuchen«, knurrte ich. »Wenn ich jetzt aufgebe, werde ich mich immer fragen, ob es ein Fehler, ob es nicht zu früh war!« Der Luccianer nickte. Aber ein Blick auf die Schalttafel genügte, um mir die letzte Hoffnung zu rauben. Die Schaltkreise waren durchgeschmort, es roch nach verbranntem Kunststoff und anderen, undefinierbaren Substanzen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf die Display-Oberfläche ein. »Er hat es gewusst! Es war ihm egal, ob meine Li lebt oder nicht! Ihn interessiert nur seine!« »Das steht nicht fest. Er kann auch den Überblick verloren haben ...« »Nein!« Wütend schnitt ich Zanargun das Wort ab. »Ein Roboter der Kosmokraten verliert nicht den Überblick! Verstehst du? Nie!« Ich nahm den erstaunten Blick des Luccianers wahr. Er war es nicht gewohnt, dass ich die Beherrschung verlor. In meiner Wut hatte ich ihn gepackt und geschüttelt. »Es tut mir Leid, ich wollte nicht ...« Was wollte ich nicht? Alles, was hier geschah, war gewollt! »Schon gut. Wir wissen, was sie dir bedeutet hat. Aber du musst dich damit abfinden, dass sie tot ist.« Er verstand nicht! Sie alle verstanden nicht, dass sie in den Körper des lemurischen Tamrats versetzt worden war. Wie sollten sie auch, sie hatten nicht ihre Worte gehört, nicht in diese Augen gesehen! Die Maschine war durch Lis gnadenlosen Einsatz beschädigt und dadurch unbrauchbar geworden. Ich war dazu verdammt, sie sterben zu lassen. Im Körper des alten Zeut-Ellwen blieben ihr noch ein paar Minuten. Ich nahm die faltigen, kleinen Hände des Greises und hielt sie an mein Gesicht. Mit klaren Augen sah Li mich an. Sie wusste es, sie las es in meinem Blick. Leise sprach sie, formte mühsam mit den runzligen Lippen die Worte, die ich von ihr so gern gehört hatte. »Atlan ... ich liebe dich. Unser Zusammensein war ... war etwas ganz Besonderes. Ich wünschte, wir hätten ... hätten ... mehr Zeit für uns gehabt ...« Ich beugte mich über den Kopf des Sterbenden, damit mir kein Wort entging.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Aber es waren die letzten Worte, die sie zu mir sprach. Ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper, der klare Blick brach, dann war es vorbei. Ich bewahrte mühsam meine Fassung. Zanarguns und Ulbagimuuns Augen waren auf mich gerichtet. Die beiden warteten auf meine Anweisungen. Ich trug die Verantwortung für die Lebenden. Den Toten konnte nicht mehr geholfen werden. Wie gern hätte ich mich hier neben Li gelegt und die Augen geschlossen, um mich zu ihr zu gesellen. Wir hätten uns gefunden, wo immer sie auch war. Den ganzen Ballast, die schwere Verantwortung, alles hinter mir lassen und federleicht davongleiten ... Du weißt, sie warten auf dich. Sie brauchen dich! Der Extrasinn. Ja, sie brauchten mich. Li hatte mich auch gebraucht, und ich hatte versagt. Noch immer die Leiche in den Armen haltend, blickte ich auf. »Wir holen uns CrestTharo und seine Leute. Ich werde dafür sorgen, dass er auf Arkon für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird.« Aber niemals konnte ihn jemand so bestrafen, dass ich ihm seine Untaten verzeihen würde, dass meine Gedanken nach Rache verstummen würden. Er war der Mörder meiner Geliebten. In mir brodelte plötzlich so grenzenloser Hass gegen ihn, dass ich vor mir selbst Angst bekam. Wie würde ich auf seinen Anblick reagieren? Es wäre das Einfachste, ihn sofort zu töten. Kein Arkonide würde ihn vermissen. »Wir werden nicht zögern, von der Waffe Gebrauch zu machen.« »Nein, so weit darfst du nicht gehen«, sagte Zanargun. »Du wärst dann nicht besser als dieser Schurke.« Warum sollte mich das stören? Ohne Li war alles egal. Sanft legte ich Nevus MercovaBan zu Boden. Wir würden ihn später an Bord der TOSOMA bringen. »Außerdem hast du das nicht nötig«, fügte Ulbagimuun hinzu. Ich sah den Dryhanen kalt an. »Du hast Recht«, sagte ich. »Das habe ich nicht nötig. Ich war Imperator von Arkon, Lordadmiral der USO und wurde von der Imperatrice mit 43
umfassenden Vollmachten ausgestattet. Kein Hahn wird nach Crest-Tharo da Zoltral krähen!« Ich bückte mich und hob den Kombistrahler auf. »Bringt mich zu da Zoltral!« * Nur widerwillig, so schien es mir, führten Zanargun und Ulbagimuun mich zu den Räumlichkeiten, in denen sich Crest-Tharo da Zoltral und seine Schergen verschanzt hatten. In denen sie auf das letzte Gefecht warteten. Phazagrilaath nickte knapp, als er mich sah. Karusan Gorro, der mit ihm die Stellung gehalten und die Verbrecher an der Flucht gehindert hatte, warf mir einen nervösen Blick zu und wandte den Kopf dann ab. Wahrscheinlich spürte er, dass etwas anders war als sonst. Wahrscheinlich spürte er meine Entschlossenheit. Nachdenklich betrachtete ich das von innen gesicherte Schott, das von dieser Seite aus nicht geöffnet werden konnte. »Ich war Imperator von Arkon, Lordadmiral der USO und wurde von der Imperatrice mit umfassenden Vollmachten ausgestattet«, flüsterte ich. Dann benimm dich auch entsprechend, mahnte der Extrasinn. Ich lachte rau und hob den Kombistrahler. Crest-Tharo da Zoltral wartete hinter dieser Wand. Crest-Tharo, der Li auf dem Gewissen hatte. »Wir stürmen«, entschied ich. * Das Gleißen des glutheißen Thermostrahls, der das Material der Wand schmelzen ließ, als sei es Butter, mutete fast dunkel an, als der Sprengkörper detonierte, den Rest der Wand zerfetzte und den halben Raum dahinter in Schutt und Asche legte. Ich schrie gellend auf und sprang durch die Öffnung. Die Hitze versengte meine Haare und färbte den ungeschützten Teil meiner Haut wahrscheinlich krebsrot, aber ich empfand keinen Schmerz. Crest-Tharo! – das war alles, was ich dachte. Einen Moment lang war ich geblendet. Ich
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter spürte den harten Boden mehr, als dass ich ihn sah, rollte ab, hechtete weiter, drehte mich im Flug, landete auf dem Rücken, den Kombistrahler schussbereit im Anschlag. Mit meiner Sehfähigkeit kehrte auch ein Anflug von Mitleid zurück. Aber wirklich nur ein Anflug. Crest-Tharo da Zoltral und seine Leute waren von den Aktivitäten der Transfermaschine stärker in Mitleidenschaft gezogen worden, als ich vermutet hatte. Der ehrgeizige Arkonide, dessen Pläne nun endgültig gescheitert waren, kauerte mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand. Seine Augen waren weit aufgerissen und kamen mir unnatürlich groß vor. Es flackerte hell in ihnen. Beginnender Irrsinn oder eher einer im Endstadium? So weit fortgeschritten, dass niemand ihm mehr helfen kann? Da Zoltrals Beine waren gespreizt. Der Stoff seiner Kombination schimmerte am Schritt feucht. Die langen, hellen Haare klebten verfilzt an seinem Kopf. Der Wirtschaftsmagnat schien innerhalb der letzten Stunden mehrere Kilo abgenommen zu haben und wirkte noch hagerer, ausgezehrter. Neben ihm lag ein Kombistrahler, nur Zentimeter von seiner rechten Hand entfernt. Von seinen Schergen wagte sich keiner zu rühren. Sie schienen zu spüren, dass dies eine Sache zwischen Crest-Tharo und mir war. Dass sie sterben würden, falls sie sich einmischten. Ich richtete den Kombistrahler auf da Zoltral. Zuckten die Finger seiner rechten Hand, oder täuschte ich mich? Tu’s nicht, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Eine glockenhelle Stimme, deren fröhliches Gelächter mir in den letzten Tagen mehr wert gewesen war als mein Leben. Er ist es nicht wert. Er ist wehrlos. Eine andere Stimme, die des Logiksektors. Und wohl rettungslos wahnsinnig. Er ist es nicht wert. Tu’s nicht! »Nur, wenn er nach der Waffe greift«, gab ich nach. »Nur in Selbstverteidigung.« Greife endlich nach der Waffe!, schrie alles in mir. Crest-Tharo da Zoltral starrte mich an, aber 44
ich bezweifelte, dass er mich erkannte. Ich streckte den Arm mit dem Kombistrahler aus. Da Zoltral schaute an der Waffe vorbei, direkt in meine Augen. Vielleicht war das, was er darin sah, genauso furchtbar wie das, was ich in den seinen sah, aber er tat mir den Gefallen. Er schrie auf und griff nach der Waffe. »Li«, sagte ich. Gedankenschnell legte ich mit dem kleinen Finger den Schalter um und betätigte mit dem Zeigefinger den Abzug. Noch bevor da Zoltral getroffen wurde, drehte ich voller Schmerz und Verzweiflung den Kopf zur Seite. Wie aus dem Nichts erklang eine kalte Stimme. Kharag! »Sie sind jetzt allein befehlsberechtigter Tamrat mit HochrangAnerkennung, Tamaron. Ich stehe Ihnen uneingeschränkt zur Verfügung.« Ich nickte knapp. Endlich, dachte ich. Sonst nichts. 10. Wie betäubt starrte ich auf Crest-Tharo da Zoltrals reglosen Körper. Die Augen des Großindustriellen waren weit aufgerissen. Ich ignorierte, was ich darin sah. Vor meinem inneren Auge machte ich eine andere Gestalt aus, eine viel kleinere. Die des Humanoiden mit der violett lackierten Iris, des Dieners der Kosmokraten. Wer trug tatsächlich die Schuld an Lis Tod? Der Arkonide da Zoltral oder der Roboter Samkar? Oder die Kosmokraten oder jene vielleicht noch höhere Macht, die man allgemein Schicksal nannte, auch wenn ich bevorzugt vom Zufall dachte? Von einer Verkettung unglücklicher Umstände? »Ich hätte es merken müssen«, flüsterte ich. Sie hatten die ganze Zeit über die Finger im Spiel gehabt, aus dem Hintergrund die Fäden gezogen. Wie Marionetten hatten wir, hatte ich ihnen zugespielt. Funktioniert. Wir haben funktioniert. Für sie waren wir ein gutes Team. Aber wir haben alle Risiken getragen und hatten keine Chance auf den Jackpot. Kristallklar standen diese Gedanken in meinem Kopf. Ich empfand nichts mehr.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Keine Wut, keinen Hass. Mich hatte das seltsame Gefühl einer absoluten Gleichgültigkeit überkommen. Ich konnte mich selbst sehen, wie ich über da Zoltral stand, den Kopf hinabgebeugt wie in tiefer Trauer, die ich jedoch nicht verspürte. Noch nicht. Ich stand auf der Bühne meines Lebens, hatte die Hauptrolle, aber nicht die Regie. Du wirst noch gebraucht. So wurde es mir mitgeteilt. Welche Verachtung sprach in letzter Konsequenz aus diesen Worten! Dann drangen wie aus weiter Ferne andere Wörter in mein Bewusstsein. »Atlan, du musst dem Kharag-Rechner Befehle erteilen! Er gehorcht nur dir.« Zanargun war neben mich getreten, riss mich in die Realität zurück. Er warf einen Blick auf da Zoltral, zeigte aber keine Reaktion. »Natürlich.« Ich reagierte völlig mechanisch. »Ich werde sofort alles Notwendige veranlassen.« Da Kharag seinen inneren Zwiespalt überwunden hatte, würde er meine Anweisungen als einzig handlungsfähiger Tamrat nun akzeptieren. Ich verfügte jetzt über die uneingeschränkte Befehlsgewalt. Mein Körper hob den Arm mit dem Befehlsgeber. »Kharag«, sagte ich, »ist dir der Aufenthaltsort von da Zoltrals restlichen Leuten bekannt?« »Jawohl. Um ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, habe ich sie in einen Lagerraum gesperrt.« »Lass sie von Robotereinheiten der Station paralysieren und in Gewahrsam nehmen.« »Verstanden.« Zanargun zerrte Crest-Tharo hoch, als sei der Wahnsinnige leicht wie ein Kind. »Du hast richtig gehandelt.« Bevor ich den Abzug betätigt hatte, hatte ich den Kombistrahler auf Paralysefunktion umgestellt. Ich zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich noch nicht.« »Ich würde ihn nur allzu gern in die Maschine stecken und sein Bewusstsein in eine seiner Kreaturen transferieren. Er wäre die Hauptattraktion jeder arkonidischen Tierschau!« Ich beneidete den Chef der Landungstruppen um seinen Zorn. Ich war noch immer nicht in 45
der Lage, irgendetwas zu empfinden. Du musst den Zugang zur Station sperren, meldete sich der Logiksektor. Ein weiterer Missbrauch der Anlage könnte verheerend sein. »Kharag, der Zugang für die Stahlwelt bleibt gesperrt. Nur ich oder ein anderer Tamrat darf sie wieder betreten.« »Verstanden.« Damit war gewährleistet, dass auf absehbare Zeit nur Personen in meiner Begleitung versuchen konnten, der Station weitere Geheimnisse zu entreißen. Ich deutete auf Crest-Tharo da Zoltral. »Ein Roboter soll ihn zu seinen Leuten bringen.« »Atlan!«, rief Ulbagimuun. »Ich habe Verbindung zu Kharba. Und wie es aussieht, haben wir noch einige Probleme.« Der Dryhane rief ein Holo auf. Leise zischend stieß ich den Atem aus. Im Orbit über Kharba flog nicht nur die TOSOMA, mittlerweile waren auch fünf von da Zoltrals Raumschiffen dort in Stellung gegangen. * »Warte!«, sagte ich zu dem Roboter, der gerade da Zoltral hinausschaffen wollte. Und an Ulbagimuun gewandt: »Holoverbindung!« Es dauerte eine Weile, dann bildete sich ein Hologramm. Es zeigte allerdings keinen Kopf, sondern lediglich das Wappen von da Zoltrals Konzern. Wer auch immer diese Raumschiffe befehligte, er wollte nicht, dass ich sein Gesicht sah und mir einprägte. »Kennst du mich?« »Natürlich«, antwortete eine positronisch verzerrte und unkenntlich gemachte Stimme. Ich winkte den Roboter heran, der da Zoltral trug. »Ich wurde von der Imperatrice mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Mit Vollmachten, die mir gestatten, deinen Auftraggeber auf der Stelle hinzurichten. Ich habe vor, ihn nach Arkon zu bringen, aber ...« Ich beendete den Satz nicht. »Was erwartest du von uns?«, meldete sich die Stimme nach geraumer Zeit. »Ihr zieht sofort ab. – TOSOMA?« »Ich höre«, meldete sich January KhemoMassai.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter »Informiere die ATLANTIS über dieses Gespräch. Du hast dafür zwei Minuten. Danach werden die Abwehrstellungen des Dodekaeders aktiviert!« »Verstanden«, antwortete der Afroterraner und unterbrach die Verbindung. »Ihr habt mich gehört«, sagte ich zu dem Konzernwappen. »Wenn ihr in zwei Minuten noch hier seid, sterbt ihr ebenso wie CrestTharo. Atlan – Ende.« * Der Befehlshaber von da Zoltrals kleiner Flotte schöpfte die ihm zugestandene Zeitspanne nicht bis zum Äußersten aus. Bereits nach fünfzig Sekunden drehten die fünf Schiffe ab. Ich atmete auf. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Endgültig! Weiteres Blutvergießen bleibt uns erspart.« Der stellvertretende Leiter der Abteilung Hauptrechner lächelte schwach. »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Ich ertrage diesen Ort nicht mehr.« Ich kehrte in die Halle mit der Transfermaschine zurück, langsam, mit mechanischen Bewegungen. Wie ein Roboter. Ein anderer Roboter hüllte gerade den toten Tamrat in ein Schutzfeld und hob ihn hoch. Mir wurde klar, dass es noch nicht vorbei war. Noch nicht ganz. »Wir werden ihm auf der TOSOMA die letzte Ehre erweisen«, flüsterte ich. »Mehr können wir nicht tun.« Ich schaute zu der Stelle, an der Samkar verschwunden war, einfach verschwunden. Mit Li. Plötzlich stellte sich das Gefühl ein, er sei noch dort, würde uns beobachten. »Ich werde nicht aufgeben«, sagte ich ins Leere. »Ich hole sie mir zurück. Du weißt, dass ich dazu imstande bin, nicht wahr?« Ich hatte nur geflüstert; trotzdem glaubte ich, ein Echo zu hören. Es trug meine Worte in die Gänge der Station, in ihre Hallen und Anlagen. Ließ sie in alles eindringen, was wir gesehen hatten. Ich weiß, dass du mich hörst, Li. Ich gebe nicht auf, solange ich hoffen kann, dich wiederzufinden. Ich habe alle Zeit der Welt. Was soll ich ohne dich anfangen? »Atlan ...« 46
Ich drehte mich um. »Ja, Zanargun?« »Wir haben noch einiges zu tun ...« »Ich weiß. Sorge dafür, dass die Gefangenen auf die TOSOMA überführt und die Verwundeten versorgt werden. Ich werde als vorläufig letzte Maßnahme auch die Prüfungsstation auf Kharba verriegeln lassen. Dann starten wir mit der TOSOMA und erweisen ihnen die letzte Ehre.« »Ihnen?« Der Luccianer sah mich an. »Nevus Mercova-Ban«, sagte ich. »Und Li.« Auch wenn wir keinen Körper haben, den wir dem All übergeben können. »Und noch etwas.« »Ja?« »Irgendwo in der Nähe treibt sich ein Primat herum. Ich habe ihn Krantar genannt, aber er wird nicht auf diesen Namen hören. Sucht ihn mit Hilfe der Individualtaster. Behandelt ihn freundlich, tut ihm nichts an, aber bringt ihn auf die TOSOMA und lasst ihn von den Medikern behandeln. Wir nehmen ihn mit und kümmern uns um ihn.« Wie um Akanara?, warf der Extrasinn ein. Ich ignorierte ihn. * »Atlan?« Ich hatte meinen Namen fast vergessen. Die Sorge, die in dieser Frage mitschwang, ließ mich aufblicken. Ich sah in die Gesichter meiner Gefährten. Sie waren ernst, traurig und bekümmert. Wer hatte mich angesprochen? Einer von ihnen, nun, es spielte keine Rolle ... Dann drehte ich den Kopf, ließ den Blick über Krantar gleiten, der neben mir stand. Der Primat wusste nicht, was hier geschah, schien aber die Bedeutung der Zeremonie zu erkennen. Er öffnete den Mund und stimmte einen Trauergesang an. Wie vor kurzem, als er Li getötet und mich gerettet hatte. Die Untersuchungen waren noch nicht abgeschlossen. Wir wussten nicht, wie intelligent das Wesen war. Aber mein Entschluss stand fest. Ich würde es keinesfalls in der Stahlwelt zurücklassen. Ich räusperte mich. Wir standen in einer Schleuse der TOSOMA. Nur ein Schott
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter trennte uns vom eisigen All. Wie lange wir hier schon waren, konnte ich nicht sagen. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, es spielte für mich keine Rolle mehr. Was wir hier tun mussten, fiel mir unendlich schwer. Sie warteten auf mich. Keiner von ihnen würde das Schott öffnen. Ich musste es tun. »Einen Moment noch.« Hatte ich das nicht schon einmal gesagt? Vor Stunden? Oder Tagen? Ich musste über meine Grenzen hinaus nach Kraft schöpfen. Kraft, die ich nicht mehr hatte. Irgendetwas in mir war zerbrochen, die Splitter waren in meinem ganzen Körper zu spüren. Sie stachen und schmerzten. Aber es war wieder ein Gefühl in mir, nach einer Zeit der absoluten Taubheit. Ich strich mit meiner Hand über das kalte Metall. Li war schon lange fort, hier war nur noch der Leichnam des Tamrats. Nach altem Brauchtum wollten wir ihn dem Weltall übergeben. Der sargähnliche Behälter mit dem Toten stand vor uns. Er bohrte sich in mein Bewusstsein, in seiner ganzen Schlichtheit war er mir unerträglich. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und hob dann den Arm. »Hiermit übergeben wir dich, Nevus Mercova-Ban, an diesem 16. März des Jahres 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung der Ewigkeit des Alls. Das Schicksal hat gewollt, dass du noch einmal lebtest, wenn auch nur für Stunden. In dieser Zeit hast du für uns Dinge getan, die unser aller Leben betrafen. Ohne dich gäbe es für viele von uns kein Hier und Jetzt mehr. Unsere Segenswünsche begleiten dich auf deiner letzten großen Reise. Meinen Dank und Segen im Namen Arkons.« So murmelten sie alle ihre letzten Grüße, jeder im Namen seines Gottes oder Glaubens. Ich drückte den Hebel nach unten. Mit lautem Zischen schloss sich ein zweites Schott zwischen uns und dem Sarg. Die Positronik öffnete nun das Außenschott. Ich sah das Funkeln der Sterne Omega Centauris; irgendwie wirkten sie heller und klarer als bei unserer Ankunft. Unser Geist hat sich geöffnet für alles, was
wir nicht erfassen können. Vieles erkennen wir erst beim zweiten Hinsehen. Dann wird deutlich, was gemeint ist. Die großen kosmischen Kräfte lassen sich nicht in die Karten sehen, und wir können nichts daran ändern. Ich sah, wie das Vakuum den Sarg in die Leere hinauszog. Wie eine unsichtbare Hand nahm es den Leichnam in seine Obhut. Der Gegenstand wurde schnell von der Sternenfülle des Kugelsternhaufens überdeckt. Es ist vorbei. Wir müssen nach vorn sehen, für die Menschen da sein, die uns brauchen! Meine Augen tränten heftig. Ich starrte noch immer in die funkelnde Pracht der Schöpfung. Mir wurde klar, dass die anderen auf mich warteten. Sie würden mich nicht allein zurücklassen, nicht in dieser Verfassung. Es wäre so einfach. Ein einziger Schritt, und ich wäre erlöst von dieser Qual. Die Last der hundert Leben in einer Sekunde abschütteln und sich dann auflösen in diesen Kosmos. Wäre es nicht an der Zeit, sind dreizehntausend Jahre gelebtes Dasein nicht genug? Ich drehte mich um und sah meine Leidensgenossen an. Ihre Entschlossenheit war greifbar, sie wussten, wofür wir gekämpft hatten. »Es ist immer grausam, jemanden zu verlieren. Aber sie lebt in uns allen weiter, wir werden sie nie vergessen. Es wäre nicht in ihrem Sinne, wenn du jetzt alles aufgibst. Sie ist dafür gestorben, dass wir weitermachen.« Altra war neben mich getreten, legte eine Hand auf meinen Arm. In seinen Augen sah ich den gleichen Schmerz, der auch an mir nagte. Es hatte ihn sehr getroffen, dass Li nicht mit uns zurückgekommen war. Und das keineswegs, weil er unter dem Einfluss des Plasmawesens auf dem Planeten Othmura mit ihr geschlafen hatte. »Du hast Recht, aber ich kann mich nicht damit abfinden. Noch nicht. Wir werden wieder in die Station zurückkehren. CrestTharo da Zoltral hat noch nicht alle Geheimnisse der Lemurer enthüllt. Das wird die Aufgabe derer sein, die uns hierher nachfolgen.« 47
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Ich spürte förmlich das Aufatmen, das bei meinen Worten durch die Reihe meiner Leute ging. Sie gierten nach einer Ablenkung. Das Chaos, das da Zoltral angerichtet hatte, musste entwirrt und nutzbar gemacht werden. Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich Naglyna Vunar gegeben hatte. Das Bild der Greisin überlappte sich mit den Erinnerungen Nevus’. Sie war damals nicht gestorben, hatte sich nach Tarik retten können und im Tiefschlaf überlebt. Nevus hatte sich geirrt – und vielleicht vergeblich auf seine Geliebte gewartet? Seine vom fotografischen Gedächtnis heraufbeschworenen letzten Gedanken verblassten. Er war überzeugt gewesen, seine Lyna wiederzusehen, sobald er tot war ... Ich schaute zum Zentrum des Kugelsternhaufens, glaubte das flammende Fanal der zwanzig blauen Riesensonnen auszumachen, die die Eckpunkte eines regelmäßigen Polyeders mit einem Durchmesser von rund 42 Lichtstunden oder etwa 45 Milliarden Kilometern bildeten. Verband man diese Eckpunkte miteinander, erhielt man einen Pentagon-Dodekaeder, einen der fünf platonischen Körper, bei dem zwölf regelmäßige Fünfecke die Außenfläche bildeten. Zwanzig Sonnen, von den Lemurern hier im Zentrum Omega Centauris positioniert ... zwanzig Sonnen, die einen gigantischen Transmitter bildeten, der von der Stahlwelt aus zu steuern war ... Eine bemerkenswerte Leuchtfeuerkonstellation, wie Epetran sich mit perfekter Untertreibung ausgedrückt hatte, deren Geheimnisse nur darauf zu warten schienen, von uns oder denen, die nach uns kommen würden, entrissen zu werden. Nach allem, was ich in den letzten Wochen durchgemacht hatte, kam der Giganttransmitter mir vor wie eine Verheißung. Wie die Aussicht auf eine Zukunft, die nicht nur von Trauer, sondern auch von Hoffnung auf einen Neubeginn beherrscht wurde, auch wenn sie noch unendlich weit entfernt zu sein schien. Aber irgendwann würde sie anbrechen. Vielleicht. 48
Ich sah ein letztes Mal hinaus in die kosmische Ewigkeit und drehte mich dann um. Wir werden uns wiedersehen, Li, ich glaube fest daran. Ich brauche diesen Glauben. Wie soll ich sonst wieder leben können? Omnia vincit amor, flüsterte eine Stimme aus weiter Ferne uralter Erinnerungen. Vergil – Alles bezwingt der Gott der Liebe. »Wir werden eine gute Einsatztruppe brauchen. Freiwillige können sich bei Zanargun melden. Wir müssen so schnell wie möglich alle Daten, die wir in der Station finden, sammeln und auswerten. Hier haben wir die Möglichkeit, ein großes Rätsel der Lemurer zu lösen.« Ich nickte January zu; diesmal sollte er auch dabei sein. Die Stahlwelt mit all ihren Schrecken würde für einige meiner Leute absolutes Neuland sein. Ich wollte sie ihnen nicht vorenthalten, diese Reise ins Reich der Lemurer. Epilog: Jetzt Atlans Gedanken Erstarrt. Alles ist erstarrt. Die Welt um mich herum hat keine Bedeutung mehr. Ich fühle nichts mehr. Die gnadenlose Leere schmerzt mich nicht mehr. Ich bin erstarrt. Kein Wort kann diesen Verlust beschreiben. Li. Du warst alles für mich. Du hast mein dreizehntausendjähriges Dasein mit Leben erfüllt wie zuvor nur wenige andere Frauen. Die Dinge bekamen plötzlich einen Sinn. Ich wusste, warum ich tat, was ich tat. Ich tat es für uns beide. Wir waren eins. Ich kann nicht schreien, nicht weinen. Alles in mir ist erstarrt. Ich nehme nichts mehr wahr. Ich habe dich verloren. Der Duft deiner Haut, dein Körper, selbst dein Lachen, alles ist verloren. Verloren im Spiel der kosmischen Kräfte. Du hast für meine Überheblichkeit bezahlt. Ich glaubte immer, alles im Griff zu haben. Aber nicht einmal dich konnte ich halten.
Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Ich will davontreiben, in einem Traum, der nie enden soll. Mit dir. Es hat alles keinen Sinn mehr. Die Leere in mir ist endlos. Meine Gefühle hast du mitgenommen. Ich kann es nicht ertragen, ohne dich weiterleben zu müssen. Wer bin ich? Was tue ich hier? Diese erstarrte Welt lässt mich frieren. Warum bin ich noch hier und du nicht? Ich liebe dich, Li. Ich brauche dich.
Verloren. Was ist mir geblieben? Die Gewissheit, dass ich noch gebraucht werde. Ich brauche dich, Li. Zum Atmen, um leben zu können. Die Bilder unseres gemeinsamen Lebens ziehen an mir vorbei. Ich kann sie nur mit Hilfe meines fotografischen Gedächtnisses festhalten. Aber in Wirklichkeit verliere ich sie, genau wie dich. In meinem Kopf formen sich Worte, aber sie verklingen, bevor ich sie ausgesprochen habe. Ich bleibe stumm.
ENDE
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Centauri 12 – Finale am Sonnentransmitter Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2004, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
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