MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 114
Fluchtpunkt El'ay von Bernd Frenz
Röhrend kämpfte sich der Radpanzer die...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 114
Fluchtpunkt El'ay von Bernd Frenz
Röhrend kämpfte sich der Radpanzer die Anhöhe empor. Tagelanger Dauerregen hatte den von Baumnadeln und Laub bedeckten Untergrund völlig durchweicht und in eine Schlammwüste verwandelt. Die Plastiflexreifen sanken fast bis zur Radnabe ein und schleuderten breite Fontänen schwarzen Erdreichs in die Luft. Zwei breite Furchen, die sich Richtung Osten am Horizont verloren, zeugten von dem weiten Weg, den der Koloss schon zurückgelegt hatte. Dröhnend, machtvoll und furchteinflößend. Und einfach nicht aufzuhalten.
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, damals mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Inzwischen versuchen die Gefährten, die Sippen und Bunker Europas zu einen. Auf den Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Aikos Gehirn wurde geschädigt, und er wird in Amarillo operiert.
Auch der Neo-Barbar Rulfan, Sohn des Prime der Community Salisbury, ist für die Allianz unterwegs. In der Nähe von Köln stößt er dabei auf eine Gruppe Amazonen, nicht ahnend, dass Daa'muren deren Gestalt angenommen haben und ihn mit einem Virus infizieren, der ihn zu ihrem Sklaven macht. Da lässt die Atom-Explosion einer japanischen Rakete, die damals »Christopher-Floyd« treffen sollte, den Kratersee erbeben! Die Detonation auf der Meeresoberfläche kann den Daa'muren zwar kaum schaden, offenbart aber einen überraschenden Effekt: Der Antrieb der Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Davon ahnen Matt & Co nichts. Als sie Gerüchten um einen »König im Westen« nachgehen, der eine Armee um sich scharen soll, richtet es Rulfan so ein, dass die Daa'murin Aunaara in Gestalt einer Barbarin an der Expedition teilnimmt. Doch bevor sie zuschlagen kann, werden sie alle durch eine von Wissenschaftlern installierte Apparatur ihrer Erinnerungen beraubt. Als sie ihr Gedächtnis zurück erlangen, wird die Daa'murin enttarnt und flieht.
Erst kurz vor Erreichen der Kuppe geriet die Fahrt ins Stocken. Sekundenlang drehten die Reifen durch. Der ARET der Russischen Bunkerliga wühlte sich tief in den aufgeweichten Boden und begann dann rückwärts aus der Spur zu rutschen. Die Räder stoppten, doch die Talfahrt ging weiter. Wie in einer Zeitlupenaufnahme driftete das Heck nach links. Um den Widerstand zu erhöhen, schlug der Fahrer alle zehn Räder ein – die beiden vorderen und die vier Doppelreifen auf den hinteren zwei Achsen, die für schwierige Manöver ebenfalls der Lenkung zugeschaltet werden konnten. Schmatzend wühlte sich das grobe Stollenprofil in den Boden, bis die Rutschpartie an Geschwindigkeit verlor und auf halber Höhe endete. Mit einem leichten Zittern kam das Gefährt zum Stehen. Sekundenlang klebte es bewegungslos am Hang, dann rollten die Räder wieder an. Diesmal fanden sie genug Halt, um die Steigung zu bewältigen. Die Leichtmetall-Verbundpanzerung, die für ein geringes Eigengewicht sorgte, förderte die legendäre Geländegängigkeit des russischen Expeditions-Panzers. Auf dem Plateau angekommen, fuhr das Fahrzeug noch zwanzig Meter weiter und blieb dann mitten auf einer von Nadel- und Laubholz umgebenen Lichtung stehen. Das Triebwerk erstarb. Ruhe breitete sich aus, bis die Turmluke über dem Beifahrersitz entriegelt wurde und quietschend in die Höhe klappte. Ein mit streichholzkurzen blonden Haaren bedeckter Kopf lugte ins Freie. Er gehörte Sershant Arne Hansen, dem Nachfahren eines schwedischen Physikers , den es während der Wirren nach dem Kometeneinschlag in die wissenschaftliche Führung von Ramenki verschlagen hatte. Im Gegensatz zu seinem Ur-Ur-Urgroßvater reizte Arne weder Labor- noch Führungsarbeit in den Gremien. Er war ein praktischer Typ, der gerne mit beiden Hände zupackte und die zu verrichtende Arbeit am eigenen Leibe spürte. Einen Erkundungstrupp zu kommandieren, das lag ihm, obwohl er mehr Wert auf
kollektiven Geist und Mitarbeit legte denn auf Befehl und Gehorsam. Schnaufend zwängte er sich durch die enge Luke und verschränkte seine Armen auf der Führerkabine, bevor er die von Baumharz und feuchtem Laub geschwängerte Luft durch die Nase sog. Für den Techno aus Moskaus Bunkerstadt, der in völliger Sterilität aufgewachsen war, glich es immer noch einem Wunder, dass er im Freien keinen Schutzanzug mehr brauchte. Doch obwohl er jede Sekunde dieses neuen Lebens genoss, vergaß er nicht die Aufgabe, die ihn an diesen Ort geführt hatte. »Bist du sicher, das wir hier richtig sind?«, fragte er nach unten, in den Fahrerraum gewandt. »Ja, natürlich«, kam es gereizt zurück. Grigorij konnte es nicht ertragen, wenn seine Qualitäten als Fahrer in Frage gestellt wurden. »Wir befinden uns exakt auf den Koordinaten der Funkpeilung. Mit einer Fehlertoleranz von dreißig bis vierzig Metern. Und die dürften ja wohl von da oben zu überblicken sein.« »Tja, schon richtig.« Arne musste angesichts des pedantischen Hinweises grinsen. »Viel zu sehen gibt es hier allerdings nicht. Völliger Totentanz.« Die Unterlippe vorgestülpt, blickte er in die Runde, aber außer der eigenen Fahrzeugspur war weit und breit nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Nur ein paar neugierige Insekten, die zuerst das aufgeschnallte Dingi und dann den abgeklappten Hochfrequenz-Mast umkreisten. »Verstehe ich nicht. Ist der Kerl taub, oder was? Der muss uns doch gehört haben.« »Radar und Wärmebildkamera zeigen keine nennenswerten Lebensformen an«, erwiderte Grigorij ungefragt. »Nicht mal einen Gerul, der durchs Unterholz hoppelt. Hat sich alles beizeiten aus dem Staub gemacht.« »Vielleicht ist er auf die Jagd gegangen oder hockt gerade
mit heruntergelassener Hose im Wald.« Arne sah ein letztes Mal in die Runde und fasste einen Entschluss. »Lass die Mannschaft absitzen. Standardbewaffnung. Wir erkunden das Gelände. Du bleibst mit Roxana an Bord. Sie soll den Energiewerfer besetzen, du klebst weiter hinterm Steuer. Ich schau mich draußen um.« Während Grigorij seine Befehle durch den engen Kriechgang ins Laborsegment brüllte, statt den Bordfunk zu benutzen, öffnete Arne das Seitenschott und sprang in die Tiefe. Mit den schweren Stiefeln versank er schmatzend bis zu den Knöcheln im weichen Boden. Die Rückschleuse des ARET öffnete sich und entließ zwei weitere Truppmitglieder ins Freie: Radobar Tscheknik und Lena Ojenka. Biologen, keine ISR (Interne Sicherheit von Ramenki). Aber es wurden ja auch keine Kampfhandlungen erwartet. Die barbarische Bevölkerung hielt sich für gewöhnlich fern, wenn ein ARET auf der Bildfläche erschien. Trotzdem trugen die Wissenschaftler Lasergewehre in Händen. Sicher war sicher. Arne vertraute auf die Strogoff in seinem Gürtelholster. Wie die anderen des Trupps trug auch er den neuen dunkelblauen Allzweckanzug für Außenmissionen, der durch einen roten Streifen über Brust und Rücken aufgelockert wurde, auf dem, gelb abgesetzt, Hammer und Sichel als Zeichen der Russischen Liga prangten. Arnes Augenbrauen zogen sich missbilligend über der Nasenwurzel zusammen, als er die dicke Schlammkruste sah, die sich bis zum Dach des Fahrzeugs hinauf zog. Das bedeutete einen halben Tag Reinigungsarbeit, nach ihrer Rückkehr. »Sieh nur, Bärlauch!«, tönte es von weitem. »Hier, auf freier Fläche. Hast du so was schon gesehen?« Die Frage galt nicht ihm, trotzdem umrundete er die Frontseite, um nach den Biologen zu sehen. Als er Radobar und Lena fünfzig Meter entfernt entdeckte, nahe der
Baumgrenze, hätte er am liebsten die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. Statt die Umgebung zu sichern und nach Feinden Ausschau zu halten, standen die beiden tief über irgendein Gewächs gebeugt und diskutierten miteinander. Missmutig stapfte er auf sie zu. »Was soll denn das?«, fuhr er sie an. »Müsst ihr euch an jedem Unkraut hochziehen, das am Wegesrand wuchert?« Die ungewohnte Schärfe in seinem Tonfall schreckte die Biologen auf. Ratlos sahen sie erst ihn und dann einander an, als ob sie sich seinen Unmut nicht erklären könnten. »Das ist kein Unkraut«, erklärte Lena schließlich. »Bärlauch ist ein Knollengewächs aus der Familie der Knoblauchpflanzen.« »Ja, und? Ist der Kräutergarten in Moskau nicht groß genug, oder was?« Angesichts seiner schroffen Abfuhr sah Lena betreten auf ihre Stiefelspitzen. »Bärlauch ist ein Halbschattengewächs«, sprang ihr Radobar bei, ohne die knappe Information weiter auszuführen. Arne spürte Wellen des Ärgers in sich aufsteigen. Wenn die beiden Schlaumeier schon jede Vorsicht vermissen ließen, konnten sie dann nicht wenigstens klar und deutlich aussprechen, was hier so dermaßen spannend war? »Und?«, drängte er, um den beiden eine Lektion zu erteilen. »Das bedeutet was?« Über Lenas Nasenwurzel bildete sich eine Zornfalte. »Das bedeutet, das Bärlauch normalerweise im Schutz des Waldes wächst«, schnappte sie patzig und sah ihm herausfordernd in die Augen. »Hier, auf der Lichtung, ist er fehl am Platze.« Reagiert unter Stress mit aggressivem Verhalten. Arne entschloss sich, diesen Wesenszug in der Führungsakte zu vermerken. »Dann haben wir es eben mit einer weiteren Mutation zu tun«, entgegnete er kühl. »Darum könnt ihr euch auch noch kümmern, wenn das Gelände gesichert ist.«
»Das hier ist keine Mutation«, widersprach Radobar, dem die gerade erteilte Anweisung völlig zu entgehen schien. »Diese Pflanze, und noch einige andere mehr, sind von Menschenhand umgesetzt worden. Sieh nur, wie leicht ich sie mitsamt Wurzeln aus der Erde ziehen kann.« Zum Beweis trat der Biologe einen Schritt vor und griff nach dem langstieligen Blattgewächs, das sich in der Tat mühelos aus dem Untergrund löste. Im gleichen Moment brach der Boden zu seinen Füßen auf und etwas Großes, Dunkles schoss aus den Tiefen des Erdreichs in die Höhe. Eine explodierende Tretmine konnte es nicht sein. Dafür ging alles zu leise vor sich. Trotzdem riss es ihm die Füße unter dem Leib weg. Lena schlug ebenfalls lang hin. Bei dem dunklen Wirbel, der sie zu Fall brachte, handelte es sich um einem dunkelblonden Hünen, der aus einer getarnten Grube gesprungen war und nun mit unglaublich schnellen, kräftigen Bewegungen über sie herfiel. Arnes Hand zuckte zu dem Pistolenholster an seiner Hüfte, doch ehe er den Verschluss öffnen konnte, sah er schon in die Mündung von Lenas Lasergewehr. Seine Gegenwehr erstarrte mitten in der Bewegung. Es war nicht nur der eigene Überlebensinstinkt, der ihn zur Aufgabe zwang, sondern auch die Sorge um Lena und Radobar. Beide Biologen lagen mit dem Rücken im feuchten Grün und wagten sich nicht mehr zu bewegen. Die linke Pranke des Fremden umschloss Lenas Kehle, sein rechtes Knie ruhte auf Radobars Adamsapfel. Zweifellos würde es ihn nur einen Sekundenbruchteil kosten, die beiden zu töten. Wahrscheinlich konnte er auch noch gleichzeitig das Gewehr abfeuern. Fremde, aggressive Laute drangen aus dem Mund des Mannes. Die Übersetzung drang Sekunden später aus einem kleinen Lautsprecher in seiner Gürtelschnalle.
»Identifizieren Sie sich!«, verlangte er. »Und befehlen Sie der übrigen Besatzung, die Finger vom Energiewerfer zu lassen.« Arnes Herz hämmerte wild gegen seine Rippen. Selbst als er die Situation überblickte, vermochte er sich nicht zu beruhigen. Fassungslos starrte er auf die zerrissene Jacke des Hünen, zwischen deren blutigen Fetzen eine notdürftig vernähte Wunde schimmerte. Ein wirklich eisenharter Bursche, das musste er zugeben. Trotz der Operation – vermutlich sogar selbst durchgeführt – hatte er noch die Grube ausgehoben, sie mit Ästen und Grassoden perfekt getarnt und dann still darin ausgeharrt, während der Radpanzer über die Lichtung rollte. Es gehörte schon eine Menge Erfahrung dazu, diesen Hinterhalt so anzulegen, dass er nicht versehentlich als Schlagloch für den ARET endete. Oder einfach Wagemut und Gottvertrauen. Das Gewehr, das in der Pranke des Hünen eher wie eine Handfeuerwaffe wirkte, ruckte zwei Zentimeter in die Höhe, sodass die Mündung nun auf Arnes Gesicht zielte. »Identifizieren Sie sich!« Angesichts des perfekten Hinterhalts erinnerte sich Arne unwillkürlich an einen Klassiker des 20. Jahrhunderts aus der Filmdatenbank von Ramenki. Es ging dabei um einen Kriegsheimkehrer, der in den Wäldern der Vereinigten Staaten gegen die Polizei kämpfte. Der Name des Hauptdarsteller war ihm leider entfallen, Arne wusste nur noch, dass er genauso hieß, wie dieser Trickfilmkater, der dem Kanarienvogel nachjagte. Sylvester, richtig... Der Hüne verstärkte den Druck auf Radobars Kehlkopf. »Zum letzten Mal«, warnte er. »Identifizieren Sie sich!« Das Röcheln des Biologen riss den Feldwebel endlich aus der Erstarrung. »Ganz ruhig, Mr. Black«, bat er hastig. »Es gibt keinen Grund Rambo zu spielen. Wir sind die Abordnung aus
Ramenki, die zu Ihrem Schutz ausgesandt wurde. Wir haben Befehl, sie sicher nach Moskau zu eskortieren. Das Codewort für unser Zusammentreffen lautet Alpha Centauri.« Im gleichen Moment, da er die Parole nannte, entspannte sich der Hüne. Radobar und Lena konnten endlich wieder frei atmen, außerdem schwenkte die Mündung des Lasergewehrs zur Seite. Arne wollte mit seiner Rede fortfahren, aber sein Gegenüber kam ihm zuvor. Eine Hand auf die schmerzende Seite gepresst, stemmte sich Mr. Black in die Höhe, hielt sich schwankend auf den Beinen und fragte: »Wer zum Teufel ist Rambo?« * San Fernando Valley, zwei Wochen zuvor Im gleichen Moment, da sie Takeos Büro betraten, fiel Aiko die Unstimmigkeit auf dem Schreibtisch ins Auge. Kaum verwunderlich. Das kybernetische Gehirn seines Vaters neigte für gewöhnlich zur pedantischen Ordnungsliebe. In den von ihm genutzten Räumen war sonst alles bis auf den letzten Millimeter symmetrisch ausgerichtet. Etwa die Bilder an der Wand, die Landmaschinen des 20. Jahrhunderts zeigten. Sie wiesen alle exakt den gleichen Abstand zueinander auf. Und die Bücher im Regal lagen selbstverständlich alle genau auf einer Flucht. Oder die Stifte auf dem Tisch. Sie waren nicht nur der Größe nach, sondern auch nach Farben sortiert. Ja, selbst der Standfuß des Monitors verlief parallel zu den Schreibtischkanten. Und zwischen all dieser Akribie lag plötzlich achtlos hingeworfen ein Brief, zusammengefaltet und mit einem Wachssiegel versehen. Eine Ecke ragte weit über den Tisch hinaus, und die anderen drei entzogen sich ebenfalls jeder erkennbaren Ordnung. In jedem anderen Büro dieser Welt wäre das vielleicht nichts Besonderes gewesen. Hier, im Reich Miki
Takeos, kam es jedoch einer Revolution gleich. Der über zwei Meter große Androide ließ sich auf einen breiten Spezialstuhl nieder, dessen Sitzfläche gerade breit genug war, seine wuchtige Gestalt aufzunehmen, legte beide Hände parallel zueinander auf den Tisch und sah über die Platte hinweg. Ohne, wie erwartet, das in Griffweite liegende Chaos zu richten. Er beachtete den Brief nicht einmal. »Genug der Begrüßungsfloskeln«, sagte er stattdessen. »Es ist dir deutlich anzusehen, dass du mir keinen Höflichkeitsbesuch abstattest. Ich nehme an, du verfolgst eine offizielle Mission?« Obwohl die Buchstaben über Kopf standen, konnte Aiko erkennen, dass der Brief seinen Namen trug. Er wollte sich jedoch nicht die Blöße geben, nach dem Absender zu fragen. Nicht bevor der unangenehme Teil hinter ihm lag. »Du hast Recht«, gestand er seinem Vater. »Ich komme im Auftrag der britischen Communities, denen die Lage hier in Meeraka Sorgen bereitet. Genau genommen soll ich versuchen, zwischen dir und dem Weltrat zu vermitteln.« »Was gibt es da zu vermitteln?« Takeos Stimme klang emotionslos wie immer. »Die Fronten sind geklärt.« »Das kann man wohl sagen.« Aiko schnaubte verächtlich. »Du hast versucht, Präsident Hymes zu töten. Schlauerweise haben sich deine Killer-Androiden dabei auch noch filmen lassen. Die entsprechende Aufnahme zirkuliert mittlerweile in sämtlichen europäischen Bunkergemeinschaften und zeichnet dort nicht gerade das beste Bild von dir und deiner Enklave. Ist dir eigentlich klar, dass du damit Crow und Konsorten die ideale Legitimation für einen Vergeltungsschlag geliefert hast?« »Hymes wurde nicht getötet«, antwortete Takeo. »Was nicht dein Verdienst ist.« »Er starb später durch die Hand eines seiner Senatoren«, beharrte der Androide, in dem zwar die Gehirnwellenmuster
seines biologischen Vaters weiter lebten, der Aiko jedoch stets fremd und irgendwie unheimlich bleiben würde. Obwohl er selbst ein Cyborg war. »Man könnte mir höchstens vorwerfen, dass sich die Angelegenheit mit etwas mehr Geduld von alleine erledigt hätte.« Der dumpfe Druck unter Aikos Schädeldecke, der ihm seit der letzten Operation zur Selbstverständlichkeit geworden war, griff unversehens in anliegende Bereiche über. Glühende Schmerzbahnen zogen bis zur Kinnlade hinab. Er spürte den Drang, das Gesicht zu verziehen, unterdrückte ihn jedoch. Er verzichtete auch darauf, sich etwas von dem Schmerzmittel zu spritzen, das er dabei hatte. Dies wäre ebenfalls ein Zeichen der Schwäche gewesen, das er sich in dieser prekären Lage nicht leisten konnte. Mühsam ordnete er seine Gedanken und setzte zu einer Antwort an, doch Takeo nutzte bereits sein Zögern und fuhr fort: »Mach dir nichts vor, mein Sohn. Du weißt so gut wie ich, dass die WCA seit Jahren jede aufstrebende Zivilisation niedermacht, die ihr gefährlich werden könnte. Denk an die Nordmann-Angriffe auf Europa. Oder an die Japaner, die von den Ostmännern vertrieben wurden. Oder an den Virus, den sie in Amarillo eingeschleust haben. Und dann die Spionagetrupps, die immer wieder versuchen, hier und in Amarillo einzudringen. Nein, glaub mir, ich hatte jedes Recht der Welt, ein Zeichen zu setzten, das besagte: bis hierher und nicht weiter. Frag deine Freundin, die sieht die Dinge ähnlich wie ich.« Aiko gab den Versuch auf, die Schmerzen zu unterdrücken. Wortlos presste er Zeige- und Mittelfinger beider Hände gegen seine Schläfen und begann sie mit sanften Druck zu massieren. Das verschaffte ihm tatsächlich Linderung. »Honeybutt stand noch unter dem Schock der Rückreise, als sie das Spionagetrio liquidierte«, sagte er aufatmend. »Das ist ein mildernder Umstand, den du nicht für dich in Anspruch
nehmen kannst. Deinem Mordauftrag liegen keine Emotionen zugrunde, du...« »Ich handelte aus rein humanitären Gründen«, unterbrach ihn Takeo. »Was? Soll das ein Witz sein?« Innerhalb einer einzigen Sekunde kehrte der Schmerz zurück. Schlimmer als je zuvor. »Nein.« Die Modulation der Maschinenstimme gewann erstmals an Schärfe. »Vergiss einfach mal einen Moment die lächerlichen Ideale deiner Mutter und sieh die Realität, wie sie sich wirklich darstellt. Die WCA lauert doch schon seit Jahren auf eine günstige Gelegenheit. Auf ein Zeichen der Schwäche, das wir uns leisten. Crows Truppen sind bereit zum Krieg, das haben sie oft genug bewiesen. Der einzige Weg, einen sinnlosen, für beide Seiten verlustreichen Schlagabtausch zu verhindern, besteht nun mal darin, rechtzeitig ein Zeichen der Stärke, der Verteidigungsbereitschaft zu setzen. Honeybutt wusste das und hat entsprechend gehandelt. Statt sie unter Arrest zu stellen, hätte Naoki ihr lieber einen Orden verleihen sollen.« Aikos Lippen verhärteten sich zu einem harten dünnen Strich. Es gefiel ihm nicht, dass seine Freundin gegen ihn instrumentalisiert werden sollte, aber wenn er jetzt aufbrauste, spielte er dem Androiden nur in die Arme. Es war viel besser, mit logischen Argumenten zu punkten, doch der rasende Schmerz, der durch seine Gehirnwindungen wühlte, machte es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die erweiterten Speicherimplantate, die ihm in einer Notoperation eingesetzt worden waren, stießen immer noch auf den Widerstand des körpereigenen Immunsystems. Um Zeit zu gewinnen, fragte er: »Glaubst du wirklich, dass es keinen anderen Weg gab als diesen Überfall?« »Nur den des Erstschlages«, antwortete Takeo. »Und glaub mir, Sohn, wenn wir nicht wegen der Daa'muren alle enger zusammenrücken müssten, wäre ich längst mit meinen RoCops
nach Waashton einmarschiert und hätte die WCA in ihren Bunkern ausgeräuchert.« Eisiges Entsetzen verdrängte den Gedanken an die Schmerzen. Aiko fragte nicht, ob sein Vater diese Worte ernst meinte. Er wusste es. Takeo machte keine Scherze. Dafür fehlte ihm der nötige Humor. Die Kälte, die seinen Körper durchflutete, verschaffte Aiko einen Moment der Klarheit, den er dazu nutzte, die Taktik zu ändern. »Darf ich das so verstehen, dass du also die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit anerkennst?«, fragte er. »Ich sehe die Notwendigkeit eines Waffenstillstandes«, korrigierte der Androide. »Wenn Waashton meine Enklave von nun in Ruhe lässt, bin ich bereit, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.« Na, das ist ja schon mal ein vorzeigbares Ergebnis. Aiko hielt die Zeit für gekommen, nach dem Medikament in seiner grauen Weste zu suchen. Zuvor langte er nach dem Brief und richtete ihn mit einer schnellen Bewegung so aus, dass die längere Seite parallel zur Schreibtischkante verlief. Irgendwie passte das besser in das Gesamtbild des Büros. Takeos flach aufliegende Finger wölbten sich einige Zentimeter weit. Seine erste Körperregung, seit er sich gesetzt hatte. »Dein organisches Gehirn musste durch kybernetische Implantate ersetzt werden?«, fragte er unvermittelt. Aiko hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wie hatte er nur annehmen können, das dieser Anflug von Unordnung ein Versehen gewesen sein könnte. Im Gegenteil. Der Brief war extra so für ihn drapiert worden. »Nur vierzig Prozent wurden ersetzt«, stellte Aiko richtig. »Vor allem Bereiche, die sowieso brach liegen.« Er zog eine kleine Ampulle mit einem Sedativ hervor, setzte es hinter dem linken Ohr an und löste die Injektion durch leichten Druck auf
das Sensorfeld aus. Der Schmerz unter seiner Schädeldecke ließ augenblicklich nach. Takeo kommentierte den Vorgang nicht. Doch er begriff sicher die Bedeutung. Ein komplett kybernetisches Gehirn verursachte keine Komplikationen. »Wäre es denn ein Problem für dich, wenn die Implantate überhand nehmen würden?«, fragte er. Natürlich, du Blechkopf. Glaubst du, ich will so werden wie du? Aiko widerstand der Versuchung, diesen Gedanken auszusprechen. Stattdessen fragte er, um vom Thema abzulenken: »Von wem stammt der Brief?« »Von einer Angehörigen des Gildenrates in El'ay. Ich nehme an, sie will dich zu Gesprächen einladen. Du kennst sie. Es ist Brina.« »Aha.« Aiko nahm den Brief an sich, ohne das Wachssiegel zu brechen. Danach stockte das Gespräch und es entstand ein Moment des unangenehmen Schweigens. Zu seiner Überraschung durchbrach ihn Takeo als Erster. »Jetzt, wo Brina dich sehen will, ist es ja vielleicht ganz gut, dass deine Freundin nicht mitkommen durfte.« »Bestimmt. Am Ende würde Brina sie mir noch ausspannen.« »Oh.« Nun war es Takeo, der einsilbig wurde. Kybernetisches Gehirn oder nicht, seine Überraschung war nicht zu übersehen. »Die Verhältnisse in El'ay haben sich also beruhigt?«, fragte Aiko, um einer weiteren Schweigeminute vorzubeugen. »Es hat einige Aufregung gegeben, aber inzwischen werden die Japaner von den meisten Einwohnern der Stadt akzeptiert. Fudoh und ich treffen uns regelmäßig zu Gesprächen. Er war übrigens mit dem Attentat auf Präsident Hymes einverstanden.« »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.« Aiko hatte keine Lust, erneut das moralische Für und Wider dieser Tat zu
diskutieren. Er vertrat in diesem Punkt eine andere Meinung als Takeo und Fudoh, und das würde sich auch nicht ändern. »Hauptsache, der alte Samurai hält weiter still. Wir können einfach keinen Krieg in Meeraka brauchen, während die Daa'muren ihre Fänge nach der ganzen Welt ausstrecken.« Nachdem Takeo die Bereitschaft der japanischen Enklave bekräftigt hatte, den Waffenstillstand einzuhalten, brachte Aiko das Gespräch auf die RoCops, die Amarillo zur Verfügung gestellt werden sollten. »Haank lässt bereits eine Hundertschaft in den Großraumgleiter verladen«, erklärte Takeo daraufhin. »Wirst du ihn begleiten, oder bleibst du noch einige Tage, um die Lage in El'ay zu sondieren?« »Ich fliege erst mal einige Tage in den Norden«, antwortete Aiko, bevor er vage hinzufügte: »Dort gibt es einige Stämme, die ich über unsere Erlebnisse am Kratersee informieren möchte.« Dass er damit die Hydriten von Sub'Sisco meinte, behielt er vorläufig für sich. Sie sollten selbst entscheiden, ob sie eine engere Zusammenarbeit mit den Menschen wollten, so wie die Meeresbewohner des Atlantik. Aiko warf einen letzten Blick auf Brinas Schreiben, bevor er es in eine seiner Westentaschen steckte und sagte: »Danach kümmere ich mich um El'ay.« * Gleichzeitig, knapp 200 Kilometer entfernt Von weitem wirkte der RoCop wie ein Ritter in glänzendem Harnisch. Ein Krieger, der das ihm zugeteilte Lehen in eigener Verantwortung überwachte, und dabei, wenn möglich, Frieden stiftete, aber auch, falls nötig, das Übel bekämpfte. Und bei aufziehender Gefahr seine Gefährten zur Hilfe rief. Je näher der RoCop kam, desto deutlicher wurde jedoch, das seine Plastiflexpanzerung keinen Menschen bedeckte, sondern
eine Maschine. Die Bewegungen des Roboters waren viel zu geschmeidig, als dass sie ein Mensch in voller Rüstung hätte vollführen können. Jeder Schritt, jede Kopfdrehung, ja jeder Fingerzeig bewiesen, dass die Panzerung ein Teil des Körpers war. Unter dem stumpfen Einheitsblau der stählern wirkenden Oberfläche zeichneten sich Muskelpartien ab, künstliche Bizeps, die einen ganz normalen humanoiden Bewegungsablauf ermöglichten. Sein leistungsfähiges Tak 03 in der Rückenkralle eingerastet, patrouillierte der RoCop unermüdlich in dem ihm zugewiesenen Sektor. Er überprüfte alte Dörfer, Wälder oder überwucherte Ruinen und spähte von strategisch günstigen Erhöhungen aus in das grün bewachsene Deathvalley, um nach anrückenden Truppen Ausschau zu halten. Falls nötig, konnte er stunden- oder gar tagelang reglos verharren. Nur die rote Diodenleisten, die im Sichtschlitz des helmförmigen Kopfes beständig von links nach rechts und wieder zurück blinkte, zeigte dann seine Funktionsfähigkeit an. Ja, Miki Takeos RoCops stellten eine beeindruckende Streitmacht dar, die sich jeder vernunftbegabte Mensch lieber zum Freund als zum Feinde wünschte. RoCop Five-O-Five gehörte zu dieser Streitmacht. Er patrouillierte auf einem sensiblen Terrain östlich von Bakersfield. Im Bereich der Landenge, die den Küstenstreifen rund um El'ay zu einer gut zu verteidigenden Landzunge machte. Die beiden tiefen Buchten, die wie Keile von Norden und Süden her einschnitten, waren erst nach dem Kometeneinschlag entstanden. So wie der große See, der den Zugang zwischen den Bergen weiter erschwerte. Zerfallene, von Gras und Gestrüpp überwucherte Erdbunker prägten hier das Bild. In Beton gegossene Überreste des 21. Jahrhundert, die an die Zeit erinnerten, als sich hier einige der größten Manövergebiete der US-Army befunden hatten. Mit dem unermüdlichen Einsatzwillen einer kybernetischen Intelligenz überprüfte RoCop 505 alle verbliebenen Ruinen auf
ungebetene Bewohner. Taratzen, Grizzos oder Barbaren störten ihn nicht weiter, solange sie genügend Abstand hielten. Seine Suche galt den technisch hoch gerüsteten Männern und Frauen, die das Zeichen des Weltrats auf ihren Uniformen trugen. Seit zwei Jahren sickerten Kommandotruppen in dieses Gebiet ein, um Spionageaufträge auszuführen. Wenn die RoCops auf sie trafen, gingen sie mit der notwendigen Härte gegen diese Einheiten vor. Meistens fanden sie jedoch nur Überbleibsel alter Lagerplätze. Die Technos aus Waashton zogen es vor, rechtzeitig vor den Patrouillen zurückzuweichen. Five-O-Five war trotzdem programmiert, stets mit Feindkontakt zu rechnen. Nach der Überprüfung eines kleinen Waldhains hielt er auf einen verlassenen Bunker zu, der knapp einen Meter über das Bodenniveau hinaus ragte. Eine dicke grüne Moosdecke überzog die graue Betonstruktur. Die Sichtluken klafften wie schwarze Wunden in den Wänden. Niedergefallenes Laub hatte die Decke um einen halben Meter anwachsen lassen. Aus dem Humus sprossen Büsche und Rankengeflecht. Nahe des Eingangs fanden sich verschiedene Tierspuren und frische Taratzenlosung. Der RoCop zog das Lasergewehr aus der Arretierung und nahm es in Vorhaltestellung. Seine künstlichen Augen brauchten sich nicht an die veränderten Licht Verhältnisse gewöhnen, als er die rostzerfressenen Türreste zur Seite schob und eintrat. Im Bruchteil einer Sekunde wechselte Five-O-Five in den Wärmebildmodus. Ein von schwarzen Flecken durchsetztes Blau, mehr nahm er nicht auf. In diesem feuchten Loch kroch nicht mal eine Ratze umher. Five-O-Five schaltete zurück auf Normalsicht, fuhr eine bleistiftdünne Lampe an der rechten Schläfe aus und schaltete sie ein. Der Lichtspot, den er auf die gegenüberliegende Wand warf, besaß einen Durchmesser von fünfzehn Zentimetern. Obwohl kein Angriff zu erwarten stand, behielt der RoCop
den Finger am Abzug und führte eine Standardkontrolle durch. Schon nach wenigen Schritten blinkte etwas in dem umherwandernden Lichtkegel auf. Five-O-Five konzentrierte das Licht auf diese Stelle und zoomte das gefundene Objekt heran. Es handelte sich um eine silberne Aluschale, wie sie die WCA als Verpackung für warme Mahlzeiten benutzte. Die darin verbliebenen Speisereste – Chili con Carne – wiesen keinerlei Anzeichen von Verwesung auf. Von wem auch immer die Portion stammte, er hatte sich noch vor weniger als 48 Stunden hier aufgehalten. Angesichts der kühlen Witterung mochte die Zeitspanne auch schon sechzig Stunden betragen, aber die Programmierung schrieb stets den niedrigsten möglichen Wert vor. RoCop Five-O-Five hielt auf die Tagesration zu, um sie als Beweismittel zu sichern. Er kam noch exakt drei Schritte weit, dann trat er auf eine zwei Quadratmeter große Stahlplatte, die unter einer Moos- und Dreckschicht am Boden verborgen lag. Ein dunkles Summen erklang. Gefolgt von einem gleißenden, vierzigtausend Volt starken Spannungsbogen, der seinen Plastiflexkörper empor strich und schlagartig alle Systeme überlastete. Sekundenlang hielt ihn die Kraft der Entladung noch aufrecht, dann verlor Five-O-Five die Balance und kippte zur Seite. Regenwasser spritzte in die Höhe, als er der Länge nach in einer Pfütze landete. Das rote Leuchten in seinem Sichtschlitz erstarb, bis auf eine einzige Diode, die den Standby-Modus verkündete. In dem feuchten Raum breitete sich Stille aus. Etwa eine halbe Minute lang. Dann wagten sich fünf Weltrat-Soldaten aus den angrenzenden Räumlichkeiten hervor. Drei Männer, zwei Frauen. Alle mit Spezialanzügen bekleidet, die ihre Körperwärme abschirmten. So blieben sie für den
Thermomodus eines aktiven RoCops unsichtbar. Five-O-Five stellte jedoch keine Gefahr mehr dar. Für niemanden. Sergeant Patric Grant, der den Trupp anführte, näherte sich trotzdem in einem Halbbogen, um nicht die Schusslinie seiner Kameraden zu kreuzen. Ein angeschlagener RoCop wäre durchaus imstande, ihre Gruppe aufzureiben. Schweiß perlte zwischen seinen kurz geschorenen Haaren, während er neben dem reglosen Roboter in die Knie ging und mit einem Spezialschlüssel in eine kaum wahrnehmbare Öffnung des Plysterox-Nackens fuhr. Sekundenlang stocherte er darin herum, bis mit einem leisen Klacken die Wartungsklappe am Hinterkopf aufsprang. Grant atmete leise auf, als er die Elektronik sah, die unter der Klappe zum Vorschein kam. Halbleiter, Chips, Speicherkristalle – nichts schien geschmolzen zu sein. Die zahlreichen Versuche mit den Überresten der AttentatsAndroiden hatten sich ausgezahlt. Die Energiemenge, die die Notabschaltung erzwungen hatte, war genau richtig bemessen gewesen. Zufrieden winkte er Phoebe Corft näher, die Elektronikspezialistin. »Jetzt sind Sie an der Reihe.« Mit diesen Worten übergab er an die Wissenschaftlerin, die ihm für dieses Kommandounternehmen zugeteilt war. Corft, die sich in Gegenwart der gezogenen Waffen sichtlich unwohl fühlte, nickte stumm. »Licht«, befahl Grant, während sie ihren kleinen Metallkoffer absetzte, den sie wie den eigenen Augapfel hütete. Die anderen drei schalteten kleine Handlampen an und bemühten sich, das elektronische Innenleben des RoCops schattenlos auszuleuchten. Corft nahm ihren Helm ab. Langes blondes, zu einem Zopf geflochtenes Haar fiel ihr über die Schultern. Laut Akte besaß
sie einen IQ von 130, trotzdem wirkte sie keineswegs so, als ob sie ihr Leben hinter irgendwelchen Labortischen verbringen würde. Ein wenig bleich im Gesicht vielleicht, aber das waren die meisten, die nur selten an Oberflächeneinsätze teilnahmen. Von kybernetischen Intelligenzen verstand sie jedenfalls etwas. Grant verfolgte auf dem Chronometer seines Helmdisplays, wie Corft innerhalb von drei Minuten zwei Programmchips und einen Speicherkristall zielsicher ausbaute und durch entsprechende WCA-Bauteile ersetzte. »Fertig«, erklärte sie, nachdem sie wieder alles sicher in ihrem Koffer verstaut hatte. »Mit Ihrer Erlaubnis, reaktiviere ich den RoCop.« »In Ordnung«, bestätigte der Sergeant. »Danach ziehen Sie sich in den Nebenraum zurück, bis ich die Situation als ›sicher‹ erkläre.« Die Ingenieurin nickte zur Bestätigung, bevor sie die Wartungsklappe schloss und das System des Roboters neu startete. Während die Dioden wieder zu leuchten begannen, nahm sie den Koffer auf und zog sich wie befohlen zurück. Nicht hastig oder ängstlich, einfach weil es der Vernunft entsprach, sie in dieser Situation aus dem Schussfeld zu nehmen. Grant gefiel, wie sich die Ingenieurin in die Gruppe einpasste und dabei nie versuchte, sich in den Vordergrund zu spielen. Um lange über ihre Teamfähigkeit nachzudenken, fehlte jedoch die Zeit. Ein Zittern durchlief den Körper des Roboters. Schwerfällig, als würde ihn jeder Muskel schmerzen, drückte er den Oberkörper in die Höhe und erhob sich. Obwohl ihm drei feindliche, mit Drillern bewaffnete Soldaten gegenüber standen, ließ er das Lasergewehr am langen Arm hängen. »Identifizierung«, verlangte Grant. »RoCop Five-O-Five«, antwortete der Roboter, der ihn gut einen halben Kopf überragte. Und Grant war wirklich nicht
klein. »Status?« »Grenzpatrouille in Sektor VII/G12, keine besonderen Vorkommnisse.« Die Stimme klang nicht unangenehm, doch sie besaß weder Höhen noch Tiefen in der Betonung, deshalb entlarvte sie sich schnell als maschinell. »Keine besonderen Vorkommnisse?«, hakte Grant noch einmal nach. »Korrekt.« Phoebe Corft trat neben ihn, obwohl er noch keine »Sicherheit« erklärt hatte. Er ließ es durchgehen. Sie hatte gute Arbeit geleistet, darum bedeutete er ihr, dass sie übernehmen könne. »Wem dienst du, Five-O-Five!«, fragte sie sofort. »Miki Takeo«, antwortete die Maschine. Zufrieden über diese Antwort, gestattete sie sich ein Lächeln, das ihre Wangen einkerbte. »Five-O-Five, ich legitimiere mich als Angehörige des Weltrats.« Sie zog ein handliches, an den Kanten abgerundetes Sendegerät aus ihrer Hosentasche, nicht größer als ein Schlüsselanhänger. Die Oberfläche bestand aus schwarzem Teflon, in der Mitte prangte ein Sensor. Sie drückte darauf. Unhörbar für das menschliche Ohr, wurde der Funkcode übertragen. »Five-O-Five, wem dienst du?«, fragte sie erneut. »Dem Weltrat«, antwortete der RoCop ohne zu zögern. Die Leuchtdioden liefen unbeirrt von Links nach rechts und wieder zurück. Grant befahl seinen Leuten, die Waffen zu senken. Selbst jetzt, da er nicht mehr bedroht wurde, beließ Five-OFive das Lasergewehr am langen Arm. Nun wussten sie endgültig, dass alles nach Plan gelaufen war. Und so schickten sie ihn aus, die Patrouille planmäßig zu beenden und ins San Fernando Valley zurückzukehren.
In Takeos Hauptquartier, sollte er dann gemäß seinem neuen Programm handeln. So wie all die anderen, die sie mit WCA-Chips bestücken würden. * In der Kanalisation von Waashton Der Akku der Handlampe hatte schon bessere Tage gesehen. Mehr als eine trübe Lichtinsel inmitten der geballten Schwärze brachte er nicht mehr zustande, aber angesichts der unerfreulichen Umgebung war das vielleicht auch gut so. Feuchter, von Moos und Schimmel überzogener Beton schälte sich aus dem Dunkel hervor, doch die Abwässer, die neben ihnen dahin flossen, gaben nicht preis, was sie unter ihrer öligen Oberfläche mit sich führten. Dem Gestank nach zu urteilen musste es mehr als nur Regenwasser sein. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit, die Leitungen anzuzapfen?«, fragte Daan Keach angeekelt. »Doch, natürlich.« Mr. Hacker blieb abrupt stehen und hielt dem Kameraden die Lampe ins Gesicht. »Wir könnten irgendwo in der Stadt ein Loch in den Boden schlagen und jedem, der danach fragt, einfach sagen, dass wir einen Brunnen graben.« Keach kniff kaum merklich die Augen zusammen, was eine ganze Menge über die mangelnde Leuchtkraft der Lampe aussagte. »Reg dich doch nicht gleich auf«, forderte er. »Man wird ja wohl noch fragen dürfen.« Hacker strich nervös über sein kahl geschorenes Haupt, das selbst in diesem trüben Licht wie eine blank polierte Billardkugel glänzte. Er wusste, dass er als Dienstältester eigentlich ein Vorbild sein sollte, aber die Gefahr, in die sie sich begaben, machte ihn genauso nervös wie die beiden anderen. Verdammt, er war Computerspezialist, kein
Außendienstagent! Angesichts des rapiden Mitgliederschwunds gab es aber nicht mehr viele Running Men, an die er noch Aufgaben delegieren konnte. Wenn doch bloß Mr. Black zurückkehren würde! Hacker seufzte still in sich hinein. Er hatte sich nie darum gerissen, die Führung der Widerstandszelle Waashton zu übernehmen. Widerstandszelle Waashton. Wie sich das schon anhörte! Als ob es da noch weitere gäbe. Dabei waren die Running Men längst Geschichte. Befürchtet hatte er das schon lange, aber seit dem Besuch von Honeybutt Hardy war es für ihn Gewissheit geworden. Die meisten Kameraden hatte es bereits auf dem Weg zum Kratersee erwischt. Nur Honeybutt und Mr. Black lebten noch. Ihr Anführer zog es allerdings vor, seinen Kampf in Euree fortzusetzen. Und Honeybutt war nach Amarillo weitergezogen, wo es irgendeine Enklave mit Unsterblichen gab. Was auch immer das für Typen sein mochten, Sie standen auf jeden Fall im Zwist mit dem Weltrat, und das machte sie zu Verbündeten. Sie waren überhaupt der einzige Grund, noch aktiv zu werden. Endlich gab es wieder jemanden, der die Informationen, die sie der WCA stahlen, überhaupt brauchen konnte. Honeybutt hatte ihnen eine Nachricht zukommen lassen, dass die Spione in Amarillo, vor denen er sie gewarnt hatte, keine Bedrohung mehr darstellten. Der Kampf besaß endlich wieder einen Sinn. Deshalb war er auch bereit, das heutige Risiko einzugehen. »Emmiem, du bleibst hier und überwachst die Hauptröhre«, wandte er sich an den dritten im Bunde. Der junge Blondschopf mit der Stupsnase und den langen Wimpern, die Mr. Hackers Herz jedes Mal zum Schmelzen brachten, nickte aufgeregt. »Alles klar, ihr könnt auf mich zählen.« Zu zweit krochen sie in eine enge Röhre und ließen
Emmiem im Dunkel zurück. Mr. Hacker hängte sich die Lampe um den Hals, denn es ging von nun an auf Händen und Knien weiter. Bis zu den Unterarmen in einem Gemisch aus Wasser, Algen und Schlick versunken, arbeiteten sie sich voran. Zeitweise wurde der Geruch so penetrant, dass er einen Würgereiz unterdrücken musste. Zum Glück war der Weg nicht so lang. Nach knapp hundert Metern erreichten sie die präparierte Stelle. Einen Durchbruch in der Decke, durch den ein armdickes Stahlrohr lief, das ein ganzes Bündel von Leitungen ummantelte. An der Unterseite fehlte ein zehn mal drei Zentimeter großes, sauber ausgeflextes Stück Metall. Die Datenkabel, die darunter zum Vorschein kamen, waren gegen Funksignale abgeschirmt, aber vor den beiden Klemmen, die an einer abisolierten Stelle saßen, konnten das nicht schützten. Mr. Hacker zog beide Knie an und quälte sich, trotz der Enge, in eine sitzende Stellung, indem er die Beine über Kreuz unter den Körper schob. Seine Hose war danach bis auf den letzten Faden durchnässt, aber wenigstens saß er so nicht tief im Wasser. Nachdem er es sich unter dem offenen Rohr halbwegs bequem gemacht hatte, gab er die Lampe an Keach weiter und zog seinen Laptop aus der Wasser abweisenden Hülle. Mit geübten Griffen stöpselte er die Enden der angeklemmten Kabel ein und etablierte eine Verbindung. »Und wenn uns die Spezialisten der WCA diesmal auf die Schliche kommen?«, begann Keach erneut zu greinen. »Wir machen uns schon beizeiten aus dem Staub«, beruhigte ihn Hacker, der nun endlich in seinem Element war. »Du weißt doch, wie unübersichtlich die Kanalisation verläuft. Selbst wenn sie bemerken, wie ich mich einlogge, und das Signal zurück verfolgen, kann es Stunden dauern, bis sie die richtige Stelle finden. Die müssten schon alle Kanaldeckel der Stadt überwachen, um uns hier unten zu überraschen. Das ist
doch schon das bisschen Gestank wert, oder?« Seine Worte zeigten Wirkung. Keach gelang es endlich, die Lampe ruhig zu halten. Hacker nutzte die Gelegenheit, um seine Finger über die Tastatur huschen zu lassen. Er startete einige selbst erstellte Hilfsprogramme und beobachtete im bläulichen Schein des aufgeklappten Plasmabildschirms, wie sich verschiedene Seiten des bunkereigenen Intranets aufbauten. Es handelte sich um frei einsehbare Foren und Info-Dienste, wie den täglichen Kantinenplan. Mr. Hacker wusste, dass Präsident Crow sich jeden Tag persönlich über die aktuellen Menüs informierte. Er spürte die Signatur ihres Erzfeindes auf, modifizierte sie für seine Zwecke und nahm so die virtuelle Identität des mächtigsten Mannes der Community an. Keach rutschte ungeduldig auf den Knien hin und her, doch davon ließ sich Hacker nicht irritieren. Die Augen fest auf den Bildschirm geheftet, hämmerte er mit schnellen Bewegungen auf die Tastatur ein, bis die ersten Sicherheitsabfragen hinter ihm lagen. »Geschafft!« Triumph war in seiner Stimme. Endlich konnte er auf die Jagd nach neuen Geheimnissen gehen. »Schneller«, quengelte Keach. »Die wissen noch nichts, sonst wäre ich schon rausgeflogen.« »Und wenn Sie dich nur hinhalten wollen?« »Ach Quatsch!« Hacker galt bei allen, die ihn kannten, als die Sanftmut in Person. Doch nun riss ihm der Geduldsfaden. »Halt endlich den Mund und lass mich in Ruhe arbeiten!« Rasch wechselnde Dokumentenseiten spiegelten sich auf seinen Netzhäuten wider, während er nach Informationen über Amarillo und dem San Fernando Valley suchte. Als er fündig wurde, wich ihm das Blut aus dem Gesicht, bis er glaubte, seine Wangen würden vereisen. »Bei Lincoln!«, stieß er hervor. »Crow plant einen Krieg
gegen Takeos Enklave! Er will sich die gesamte Technik des Androiden einverleiben, um die WCA zur mächtigsten Kraft in ganz Meeraka zumachen.« »So ein mieser Skunk«, pflichtete Keach bei und drängte mit dem Kopf näher, um einen Blick auf die Strategiepapiere zu erhaschen. Viel mehr, als dass es dabei um die RoCops ging, ließ sich jedoch nicht ausmachen. Hacker speicherte hastig alles ab, was er zu diesem Thema finden konnte, und machte sich auf die Suche nach weiterem brisanten Material. Als er dabei auf einen Untersuchungsbericht zum Tode des alten Präsidenten, Victor Hymes, stieß, rief er ihn sofort auf. Seine Augen weiteten sich, während er über die enthaltenen Gutachten scrollte, doch ehe er sagen konnte, was ihn da so erschütterte, drang ein steinernes Knirschen durch die Röhre. Keach schreckte sofort auf. »Das war ein Kanaldeckel«, behauptete er. »Und gar nicht weit entfernt.« Zuerst wollte Hacker diesen Verdacht verneinen, dann hörte er schwere Sohlen, die über eine Eisenstiege schabten. Verdammt! Er speicherte ein letztes Mal ab, riss die Klemmen von der Leitung und schob den Laptop in die Schutzhülle. »Licht aus, und dann weg«, forderte er, doch es war schon zu spät. Hinter ihnen flammte ein greller Spot auf, dessen Schein alle schützende Dunkelheit vernichtete. »Da sind zwei! Ich kann sie sehen!« Neben Hacker ertönte eine kurzes Knattern. Nicht sonderlich laut, eher wie ein unterdrücktes Husten. Es handelte sich um das Abschussgeräusch eines Drillers. In seiner Panik feuerte Keach gleich eine ganze Salve ab. Vier Minisprengköpfe zogen deutlich sichtbar ihre Bahn. Zwei kollidierten unterwegs mit der Röhre und lösten gleißende Explosionen aus. Die anderen beiden verloren sich im Licht des grellen Scheinwerfers, der daraufhin scheppernd
zu Boden fiel. Wieder eine Explosion, nur deutlich dumpfer. Dann ein Schrei höchsten Schmerzes, in den sich weitere Stimmen mischten, die den Tod jedes noch lebenden Running Man forderten. Im Schutz der rückwärtigen Explosionen krabbelten Keach und Hacker davon. Umherwirbelnder Steinstaub deckte ihren Rückzug für einige Sekunden, dann pfiffen die ersten Drillergeschosse von hinten heran. Hastig pressten sie sich auf den Boden, bis das Schmutzwasser über ihren Nasen zusammenlief. Sie hatten Glück. Die Geschosse jagten tatsächlich über sie hinweg und explodierten erst, als sie in der Hauptröhre zerschellten. Statt sich auf ein Gefecht einzulassen, krochen sie im Eiltempo weiter. Die Schreie der Verfolger spornten sie zu Höchstleistungen an. Zum Glück mussten sich die Weltratagenten ebenso auf alle Viere begeben wie sie. Das rettende Ende der Röhre rückte immer näher. Ab da würden sie schneller voran kommen und ihre Gegner sicher im Labyrinth der Kanalisation abhängen können. Keach wuchtete seinen Oberkörper als Erster nach draußen und ließ sich einfach in die Tiefe fallen. Hacker wollte es ihm nachmachen, doch im gleichen Moment, da er mit den Händen ins Leere griff, fühlte er sich auch schon an den Armen gepackt und nach vorne gezogen. Vor ihm blitzte ein Driller auf. Nur eine Zehntelsekunde später folgte eine rot umrandete Explosion, in der sich abzeichnete, wie Keach der Kopf zerplatzte. Ohne einen einzigen Laut des Schmerzes kippte der Rebell in den träge vorüber fließenden Kanal und wurde mitgeschwemmt. Mr. Hacker erstarrte vor Schreck, aber an Gegenwehr war ohnehin nicht zu denken. Mit brutaler Kraft wurden ihm die Hände auf den Rücken gerissen und dort mit stählernen Fesseln
fixiert. Neben ihm lag Emmiem in seinem Blut. »Haben wir euch endlich, ihr Dreckskerle«, war so ziemlich das Freundlichste, was er zu hören bekam. Und kurz darauf: »Hat es sich also doch gelohnt, alle alten Kanaldeckel mit Posten zu besetzen.« * Amarillo Anfangs zeichneten sich die beiden schweren Lastengleiter, die von Westen nahten, nur als langsam wachsende Punkte am Horizont ab. Die ersten Autarken Protektoren bemerkten sie in einer Entfernung von 62,8 Kilometern. Sie zoomten sie mit ihren Hochleistungsobjektiven näher und übertrugen die Aufnahmen ins Kontrollcenter. Zwei Minuten später stiegen zwei Gleiterstaffeln auf. Eine, um die Anfliegenden bereits weit draußen in der Prärie zu empfangen, die andere, um sich, über Amarillo kreisend, für Notfälle in Reserve zu halten. Ihre offenen Zweisitzer waren zwar wesentlich kleiner als die entgegenkommenden Modelle, dafür wendiger und zahlreicher. Mit den Buggeschützen – einer Kombination aus Maschinenkanonen und Energiestrahlern – konnten sie jede Plysteroxpanzerung durchdringen. Allerdings war die Flotte aus dem San Fernando Valley mit den gleichen Waffen ausgerüstet. Die Ankunft der Lastengleiter war von Takeo angekündigt worden, trotzdem ließen die Cyborgs Vorsicht walten. Auf einem Flug über den halben Kontinent mochte in diesen unruhigen Zeiten viel passieren. Funkkontakt über das ISSRelais ließ sich derzeit leider nicht herstellen, denn die Raumstation befand sich gerade über der anderen Seite der Erdkugel. Kontakt war also nur über lokale Funkanlagen möglich, und die reichten, wegen der CF-Strahlung, nicht weiter als zehn Kilometer.
Sobald sie in Reichweite lagen, meldete sich auch schon Haank, Miki Takeos engster Vertrauter, um einen reibungslosen Flug zu verkünden. Mike Danny, der Staffelführer aus Amarillo, dankte ihm dafür und befahl seinen Leuten trotzdem den Weiterflug, um sich mit eigenen Augen von der Situation zu überzeugen. Das Rendezvous der ungleichen Parteien, deren Gleiter alle nach demselben Antigravitationsprinzip arbeiteten – eine etwas großspurige Bezeichnung für die verwendete Magnetkissentechnologie –, verlief ohne Probleme. Dannys Staffel setzte sich vor, über und hinter die großen Lastengleiter, um sie, lautlos auf den Magnetfeldern der Erde schwebend, nach Amarillo zu eskortieren. Im Hauptquartier der Cyborgs, dem Medical Science Center, war längst alles auf den Beinen. Die meisten Männer und Frauen, von denen niemand älter als Mitte dreißig wirkte, lebten schon seit über fünfhundert Jahren auf dem Campus der ehemaligen Universitätsklinik. Im 21. Jahrhundert hatten sie hier geforscht, vor allem auf den Gebieten der Zellregeneration, der Unfallchirurgie und der Gehirnforschung. Zusammen mit ihren Kollegen aus den kybernetischen Fachbereichen hatten sie es geschafft, dem degenerierenden Einfluss der CF-Strahlung durch Einsatz von Gedächtnisimplantaten zu entgehen. Fortlaufende Forschungen ermöglichten ihnen ewige Jugend – oder zumindest den äußeren Anschein davon, denn bei den meisten hielt sich der Prozentsatz an Prothesen und regenerierten Organen längst die Waage. Die einzige Person auf dem ehemaligen Campus, die wirklich so jung war, wie sie aussah, heiß Honeybutt Hardy. Afro-meerakanerin, Mitte zwanzig, Angehörige der Rebellengruppe Running Men. Und eine dreifache Mörderin. Zumindest wenn es nach dem Rechtsverständnis einer zivilisierten Gesellschaft ging.
Darüber, ob die Verhältnisse in und um Amarillo als zivilisiert anzusehen waren, herrschte zur Zeit selbst im Wissenschaftsrat Uneinigkeit. Und solange die anhielt, gehörten zu ihren besonderen Kennzeichen nicht nur die zahlreichen gedrehten, fingerlang vom Kopf abstehenden Zöpfe, sondern auch ein AP (Autarker Protektor = selbstständig operierende Überwachungseinheit) der zweiten Generation. Eine chromglänzende Kugel von zehn Zentimetern Durchmesser, die zu jeder Tages- und Nachtzeit in ihrer Nähe schwebte, darauf programmiert, sie am Verlassen der Stadt zu hindern. Honeybutt hatte es bisher noch nicht darauf ankommen lassen, aber sie hegte keinen Zweifel daran, dass der AP sie paralysieren würde, sobald sie zu entkommen versuchte. Dabei stand ihr gar nicht der Sinn nach einer Flucht. Es gab nur eine Sache, nach der sie sich sehnte: Aikos Rückkehr. Sie wollte endlich wieder in seinen Armen liegen, so wie früher, vor seiner schrecklichen Verletzung. Während seiner Genesung waren sie beide auf Abstand bedacht gewesen, und dann, als es ihm endlich wieder besser ging, war die Meldung von dem Attentatsversuch auf General Hymes eingetroffen. Danach hatte sie nur noch die Frage beherrscht, was sie unternehmen konnten, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Angesichts der allgemeinen Aufregung verließ Honeybutt das ihr zugewiesene Quartier und suchte die große Rasenfläche vor dem Medical Science Center auf, auf der die erwarteten Lastengleiter landen sollten. Vor den Gebäuden drängte sich bereits ein Großteil der Enklavenbewohner. Die meisten als Schaulustige. Es wimmelte aber auch von bewaffneten Sicherheitskräften, die, zu Fuß oder in schwebenden Doppelsitzern, das Gelände schützten. Eine nervöse Unruhe beherrschte die Menge. Takeos großzügiges Geschenk schien mehr Ängste zu schüren als zu
lindern, und dafür gab es einen guten Grund. Die Schreckensherrschaft der eigenen Androidenfraktion war allen noch frisch in Erinnerung. Gut, für das Durchdrehen der Wissenschaftler, die den Schritt vom Cyborg zur kybernetischen Intelligenz vollzogen hatten, war damals ein Computervirus des Weltrats verantwortlich gewesen, trotzdem stand man Takeo, dem ersten und letzten der AmarilloAndroiden, skeptisch gegenüber. »Na, auch neugierig, was uns erwartet?« Naoki trat lächelnd auf sie zu. Der leise summende AP, der über Honeybutts rechter Schulter schwebte, fand sich plötzlich zwischen den Frauen wieder. Ohne dass es einer Aufforderung oder eines Handzeichens bedurfte, beschrieb er einen Halbkreis um Miss Hardys Hinterkopf und wechselte auf die andere Schulterseite, um dort leise summend zu verharren. »Natürlich bin ich neugierig.« Honeybutt ließ sich nicht anmerken, wie sehr die glänzende Kugel sie störte. »Ich habe ja sonst nicht viel zu tun.« Sie empfand den AP nicht nur als Makel, der ihren Status als Verbrecherin weithin sichtbar machte. Das leise Summen raubte ihr auch des Nachts den Schlaf. Außerdem nervte das penetrante Ding schlicht und einfach durch bloße Anwesenheit. Jeder Quadratmillimeter der Kugel hatte sich längst in Honeybutts Gedächtnis gebrannt. Selbst wenn sie die Augenlider schloss, sah sie die drei verchromten Elemente, aus denen der schwebende AP bestand. Die beiden Halbkugeln und der mittlere Ring, die zwar perfekt aneinander passten, sich aber durch beidseitig abfallende Fugen voneinander abgrenzten. Entlang des Mittelrings gab es weitere Nähte und eine runde, derzeit abgedichtete Mündung, aus der – bei Bedarf – der Schockstrahl abgefeuert wurde. Optische Rezeptoren ließen sich dagegen nicht ausmachen. Ebenso wenig Sende- oder Empfangsantennen. Die spiegelnde
Oberfläche selbst diente zur Übertragung des Standortes, während die Orientierung auf Basis eines Echolots zu funktionieren schien. Genaues hatte ihr Mike Danny, der Konstrukteur, nicht mitteilen wollen, um einer eventuellen Sabotage keinen Vorschub zu leisten. »Wenn du willst, weist dir der Rat eine Tätigkeit zu, die deinen Fähigkeiten entspricht«, riss Naoki sie aus den Gedanken. Aikos Mutter war stets darum bemüht, ihr den Aufenthalt in Amarillo so angenehm wie möglich zu gestalten. Honeybutt wusste das zu schätzen. »Warum nicht?«, fragte sie, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. »Wie wär's mit einem Posten in der Spionageabwehr? In diesem Bereich kann ich eine hohe Erfolgsquote aufweisen.« Naoki ließ nicht erkennen, ob sie die sarkastische Spitze bemerkte, aber von einer Frau mit über fünfhundert Jahren Lebenserfahrung war das wohl zu erwarten. »Später vielleicht«, sagte sie nur. »Für den Anfang dachte ich eher an eine Assistenz in der Wartung. Du könntest dich auf diese Weise besser mit unserer Technik vertraut machen.« »Klingt gut.« Honeybutt nickte gefällig. Und verschwieg dabei, dass ihr Mr. Black zwei linke Hände nachsagte. Aber was machte das schon? Sie fühlte sich bereit, Neues dazu zu lernen. Unwillkürlich sah sie an sich herab. Mit ihren wadenhohen Lederstiefeln, den kurzen blauen Shorts und der schwarzen Bluse, die keine Ärmel besaß, sondern zwei Lederringe, die mit Bändern oberhalb der Elle befestigt waren, machte sie keinen sonderlich aggressiven Eindruck. Dieser Anblick täuschte. Alles Wissen, das sie besaß, beruhte auf Mr. Blacks Ausbildung zur Widerstandskämpferin. Genau genommen hatte sie nie etwas anderes gelernt, als zu spionieren, zu sabotieren und zu kämpfen. Sie hatte früher auch
schon getötet, allerdings nie mit Vorsatz. Bis zu der Schießerei in Amarillo war die Gewalt stets an sie herangetragen worden, hatte sie ihr Leben immer nur verteidigt. Hier hatte sie zum ersten Mal die Initiative ergriffen, und sie wusste auch warum. Während der Zeit, in der sie den hilflosen Aiko versorgen musste, war etwas in ihr vorgegangen. Die Last der Verantwortung hatte Spuren hinterlassen. Sie war innerlich entschlossener und härter geworden, auf eine Weise, die sie manchmal selbst erschreckte. »Ich finde es toll, dass du so kooperativ bist.« Naoki berührte sie in einer fürsorglichen Geste am Oberarm. »Glaub mir, die Bewohner unserer Enklave wissen, dass du nicht aus niederen Motiven gehandelt hast, sondern aus Sorge um Aiko und uns alle. Du wirst sehen. Wenn mein Sohn erst wieder zurück ist, richtet sich alles andere wieder.« Und ob! Notfalls verschwinden wir nämlich zurück nach Euree. Das hatte Honeybutt längst mit Aiko besprochen. Dabei fühlte sie sich von den Cyborgs gar nicht schlecht behandelt. Im Gegenteil. Die Einschränkungen, denen sie unterlag, erleichterten ihr den Umgang mit der zurückliegenden Tat. Sie hatte getan, was ihrer Meinung nach getan werden musste, und war bereit gewesen, dafür die Konsequenzen zu tragen. Nun, da sie bestraft wurde, trug sie die aufgeladene Schuld wieder ab. Das half, das Röcheln der sterbenden Weltrat-Agenten zu verdrängen, das manchmal in ihren Ohren nachhallte. Um sie herum wurde die Menge laut. Den aufgeregten Rufen war zu entnehmen, dass die Lastengleiter die Stadt anflogen. Einmal mehr kam sich Honeybutt wie ein Mole unter lauter Kolks vor. Sie selbst sah noch nichts, aber die Cyborgs mit ihren erweiterten Rezeptoren waren ihr weit überlegen. Naoki verabschiedete sich hastig und eilte zu den anderen Offiziellen des Wissenschaftsrats, die bereits am Rand der Landefläche Aufstellung genommen hatten. Honeybutt blieb
zurück, aber nicht allein. Der AP summte weiter über ihrer Schulter. Zwei Minuten später machte sie die Lastengleiter über den eingestürzten Dächern einiger Ruinen aus. Die eckigen Antriebsturbinen waren ein wenig lauter als bei den kleineren Varianten, die sie begleiteten, doch längst nicht laut genug, um die anschwellenden Stimmen der Menge zu übertönen. Geradezu majestätisch schwebten die Transporter heran, verharrten einige Sekunden unbeweglich über dem Landeplatz und sanken dann langsam ab. Unter den Kanzeldächern wurden die Piloten sichtbar. Ein RoCop und ein Cyborg. Bei Letzterem handelte es sich um Haank, Miki Takeos engsten Vertrauten. Beide Gleiter setzten sanft auf. Die Triebwerke verstummten. Während der RoCop an seinemPlatz blieb, stieg Haank aus und ging dem Begrüßungskomitee entgegen. Sein Kameraauge, dessen Objektiv mehrmals nervös vor und zurück zoomte, verlieh ihm ein skurriles Aussehen. Aber vielleicht empfand das auch nur Honeybutt so, die als Einzige auf dem Platz, abgesehen von einigen Zahnplomben, zu einhundert Prozent organisch war. Die Begrüßung des Wissenschaftsrates fiel freundlich, aber nicht überschwänglich aus. Sobald die Lastengleiter ihre Laderäume öffneten, rückte die Menge allerdings näher, um einen Blick auf Takeos Geschenk zu werfen. Ein Raunen ging durch die dicht gedrängten Reihen, als der erste Schwebegreifer mit einem deaktivierten RoCop ins Freie glitt. Vorerst sollte die Streitmacht nur als Reserve eingelagert werden. Ein Roboter nach dem anderen wurde ausgeladen und in die Kellerräume des Medical Science Center verbracht. Das Staunen der Menge wuchs mit jedem weiteren Modell, das ans Tageslicht glitt. Nicht weil sie die dahinterstehende Technik bewunderten. Nein, die hätten sie zur Not selbst zustande
gebracht. Was jedoch alle hier in Erstaunen versetzte, war die schiere Menge an technischen Ressourcen, die in dieser Streitmacht steckte. Damit konnte Amarillo beim besten Willen nicht konkurrieren. »Werden wir die RoCops wirklich brauchen?«, fragte ein Cyborg, der unversehens neben Honeybutt stand. Die Rebellin brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass der jugendlich wirkende Glatzkopf in dem schwarzen Anzug tatsächlich sie angesprochen hatte. Ganz sicher war sie erst, als er hinzufügte: »Du musst das doch wissen. Du hast doch Kontakte zu diesen Rebellen in Waashton. Den Running Men.« Seine Augen besaßen etwas Hilfesuchendes, das Honeybutt tief berührte. Offensichtlich sah dieser Cyborg in ihr keine Mörderin, sondern eine Weise, die um die Gefahren wusste, die sich außerhalb dieser Enklave zusammen brauten. »Vorsicht ist immer geboten«, rang sich Honeybutt zu einem Allgemeinplatz durch, den sie Black abgeschaut hatte, beschwichtigte dann aber: »Falls sich die Lage verschärft, warnt uns Mr. Hacker garantiert vor. Keine Nachrichten bedeuten in diesem Fall gute Nachrichten.« In diesem Punkt irrte sie allerdings. So sehr wie selten in ihrem Leben. * Takeos Enklave, San Fernando Valley Dayna DeLano sah auf das Active Pad, ohne wirklich wahrzunehmen, was in der Werkstatt vor sich ging. Vor der rückwärtigen Wand verharrten zwei Dutzend RoCops völlig regungslos, während drei weitere von Reparatureinheiten gewartet wurden. Eines der defekten Modelle war an ein Diagnosegerät angeschlossen, das nur widersprüchliche Werte anzeigte.
Einem anderen wurde ein Arm abmontiert, um ihn mit einem neuen Kugelgelenk zu versehen. All diese Aktivitäten gingen völlig an Dayna vorbei. Gänzlich in Gedanken versunken, nahm sie nicht einmal den großen Schatten wahr, der über sie und das Active Pad fiel. Erst als sie angesprochen wurde, bemerkte sie, das Miki Takeo zwischen ihr und der nächstgelegenen Lichtquelle stand. »Alles in Ordnung, Major?«, fragte er. Der Androide sprach sie stets mit ihrem alten Dienstgrad an, obwohl sie längst nicht mehr die Uniform des Weltrats trug. Dayna zeigte den Anflug eines Lächelns, als sie zu Takeo aufsah. Sie sah in ihm nicht die grobschlächtige Maschine, die er für viele andere darstellte, sondern einen Freund. Ihm hatte sie die Regeneration ihrer Hirnzellen zu verdanken, die von General Crow ausgebrannt und auf Gehorsam reprogrammiert worden waren, nur weil die Running Men sie ohne ihr Wissen als Doppelagentin missbraucht hatten. Der Kampf zwischen den verfeindeten Gruppen hatte Dayna zu einer leeren Hülle ohne eigenen Willen gemacht. Und wenn sich Takeo ihrer nicht angenommen hätte, dann wäre sie das sicher auch geblieben. Inzwischen konnte sie wieder frei denken und fühlen und besaß zumindest den Hauch einer Ahnung von ihrem früheren Leben. Obwohl es natürlich nie wieder so sein würde, wie es mal gewesen war. Dazu war zu viel vorgefallen, das sich nicht mehr ungeschehen machen ließ. »Major?«, brachte sich Takeo in Erinnerung. Dayna schrak zusammen, als wäre sie überraschend aus dem Schlaf erwacht. »Die Ausfallquote ist ungewöhnlich hoch«, erklärte sie schnell, ohne auf das Pad zu sehen. »In den letzten achtundvierzig Stunden gab es achtzig Prozent mehr RoCops, die sich nach der Patrouille zu einer außerplanmäßigen Wartung meldeten, als gewöhnlich.« Ohne auch nur den kleinen gepanzerten Finger zu regen, sah Takeo auf sie herab.
»Das hat nichts zu bedeuten«, wischte er ihre Bedenken mit einem Satz beiseite. »Solche Quoten folgen keinen Gesetzmäßigkeiten. Manchmal sind sie höher, manchmal fallen sie geringer aus. Solange daraus kein langfristiger Trend wird, gibt es keinen Grund zur Besorgnis.« »Okay.« Dayna nickte eifrig, um ihm zu gefallen. Wem auch sonst? Takeo war ihr einziger Schutz in dieser brutalen Welt, in der jeder jeden bekämpfte. Ohne den Androiden lief sie Gefahr, erneut ihres Willens beraubt zu werden. Sie sah ihm fest in die nur rudimentär vorhandenen Gesichtszüge. »Ich werde beobachten, ob sich in den nächsten Tagen ein Trend abzeichnet, und Sie gegebenenfalls sofort informieren.« Der riesenhafte Androide regte sich keinen Millimeter. Diese völlige Gelassenheit ging ihr leider völlig ab. Ohne es zu wollen, begann sie mit dem linken Knie zu wackeln. Eine nervöse Reaktion, die sich nicht unterdrücken ließ. »Ich wollte eigentlich wissen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist, Major«, setzte Takeo nach. Diese Frage hatte Dayna schon seit Tagen befürchtet. Sie versuchte etwas zu sagen. Irgendetwas. Ein einfaches »Ja« hätte schon gereicht. Doch plötzlich fühlte sich ihre Kehle an wie zugeschnürt. Takeo sah nur auf sie herab, und wieder einmal entging ihm nichts. Nicht das nervös zuckende Knie, nicht die Erweiterung ihrer Pupillen, und sicher auch nicht der erhöhte Blutdurchfluss ihrer geröteten Wangen. Gar nichts. »Wenn es etwas gibt, über das Sie zu sprechen wünschen, können Sie mich jederzeit aufsuchen, Major«, bot Takeo an. »Zu jeder Tages- und Nachtzeit.« »Ich weiß.« Ihre Stimmbänder mussten eingerostet sein, so kratzig wie sie diese Antwort hervor würgte. Der Androide verharrte noch einen kurzen Moment, aber da sie nicht weiter sprach, wandte er sich grußlos ab, um die Halle zu verlassen.
In diesem Moment überkam es Dayna einfach. Ganz impulsiv, wie ein elektrischer Schlag. »Victor Hymes war mein Onkel, wussten Sie das?«, fragte sie, am ganzen Leibe zitternd. Takeo stoppte mitten in der Bewegung und drehte sich ungewöhnlich schnell zurück. Ein Anfall von Überraschung oder Panik? Vollelektronisch oder nicht, seine Gedankenmuster empfanden so etwas wie Gefühle, so viel hatte sie im Laufe der Zeit begriffen. »Nein, davon haben Sie nie etwas erzählt«, antwortete Takeo, im gleichen Tonfall wie immer. »Wenn mir das bewusst gewesen wäre, hätte ich angeordnet, Ihnen die Nachricht seines Todes etwas diskreter zu übermitteln.« Daynas Augen füllte sich mit Tränen. Ausrechnet jetzt, sie wusste selbst nicht warum. Beschämt wischte sie die salzige Flüssigkeit zur Seite, bevor sie ihr über die Wangen rinnen konnte. Als sie zum zweiten Mal dazu ansetzte, langte Takeo nach ihrer Hand und hielt sie zurück. »Standen Sie sich nahe?«, fragte er. »Ihr Onkel und Sie?« Dayna zuckte mitden Schultern. »Früher vielleicht, in meinem alten Leben. Onkel Victor hat nicht verhindert, was mir angetan wurde, aber vielleicht konnte er das auch nicht. Es gab viel, was er als Präsident beachten musste. Und nun hat ihn jemand aus dem Bunker ermordet. Ausgerechnet ein Vertreter der Gemeinschaft. Ein Senator.« Takeo nickte mit seinem unförmigen Kopf, und das war ungewöhnlich. Normalerweise vermied er solch menschliche Gesten. Da er nicht von sich aus auf das Naheliegendste zu sprechen kam, wagte Dayna den nächsten Schritt. »Seit dem Besuch von Aiko sind Gerüchte im Umlauf«, begann sie zögernd. »Es heißt, vor dem Attentat des Senators hätte es ein von Ihnen befohlenes Geheimkommando gegeben, das...« »Ich hatte angeordnet, Victor Hymes zu töten«, bestätigte
Takeo, als sie ins Stocken geriet. »Ich wollte ein Zeichen setzen, um Schlimmeres zu verhindern. Doch das Unternehmen scheiterte und er überlebte. Wird meine Anordnung unsere Beziehung zueinander belasten?« Ihre Tränenkanäle füllten sich erneut. So stark, dass sie doch wieder reiben musste, um ihre Sicht zu erhalten. »Nein, kein Problem«, sagte Dayna fest. »Mein Leben in Waashton liegt hinter mir. Für meine Familie bin ich tot, und in gewissem Sinne stimmt das sogar. Ich bin ein vollkommen anderer Mensch geworden.« Sie suchte nach einem Taschentuch und putzte sich die Nase. »Ich bin froh, dass Sie meine Beweggründe verstehen«, sagte Takeo. »Es wäre ein großer Verlust, wenn Sie sich abwenden würden. Für die Enklave, und für mich.« Dayna rang sich ein Lächeln ab, und er machte erneut Anstalten zu gehen. Diesmal wirkte er wie auf der Flucht. Ein seltener Anblick. Ein Androide mit Nerven. »Eine Frage noch«, hielt sie ihn zurück. »Wenn Sie gewusst hätten, dass Victor mein Onkel ist, hätten Sie dann trotzdem das Attentat befohlen?« Eine unangenehme Pause entstand. Vier oder fünf Sekunden lang. Eine Ewigkeit für einen Androiden mit kybernetischen Gehirn. »Ja, das hätte ich«, antwortete Takeo schließlich. Vielleicht eine Spur leiser als sonst. »Danke«, sagte Dayna. »Ich weiß Ihre Ehrlichkeit wirklich zu schätzen.« * Exakt um 03:00 Westküstenzeit aktivierte Five-O-Five all seine Funktionen. Die Werkstatt, die er mit zwei Dutzend anderen RoCops teilte, lag völlig im Dunkeln, doch mit Hilfe der Kopfscheinwerfer fand er sich mühelos zurecht.
Außer dem Tapsen seiner eigenen Schritte gab es nicht den geringsten Laut zu hören. Zu dieser frühen Stunde lag das Herzstück von Takeos Enklave, die unterirdischen Laboratorien und Werkstätten, in tiefem Schlaf. Die einzigen menschlichen Hilfskräfte, die noch wachten, konzentrierten sich auf den oberirdischen Bereich, der durch Kameras, Stacheldrahtzäune, Selbstschussanlagen und ein starkes RoCop-Aufgebot abgesichert wurde. Dass sich der Feind längst im Inneren befand, darauf kam niemand. Five-O-Five aktivierte den Terminal der Wartungscrew, der mit dem bunkereigenen Netzwerk verbunden war, so wie jeder andere Rechner unterhalb der hiesigen Grasnabe. Den Zugangscode der Mechaniker hatte er im Laufe des Tages ausgespäht. Damit ließ sich bereits eine große Menge relevanter Daten abrufen. An höhere Sicherheitsebenen kam er zwar nicht heran, doch das war nur eine Frage der Zeit. Vorerst galt es mehrere Programme im Wartungsbereich umzuschreiben und damit Schlupflöcher für die WCA zu schaffen. Five-O-Five wusste genau, was zu tun war. Die eingepflanzten Weltratchips stellten die entsprechenden Routinen zur Verfügung. Er war gerade dabei, einen Virus, der die Funkprotokolle abändern sollte, in das Bunkersystem zu schleusen, als er ein Geräusch hörte. Als er sich umwandte, bemerkte er, das ein weiterer RoCop den Betrieb aufgenommen hatte. Mit elastischen Schritten durchmaß er den Raum, wie um zu prüfen, was Five-O-Five da eigentlich trieb. Da sie ihre Gewehre alle in der Waffenkammer abgegeben hatten, kam der schwere Schraubenschlüssel auf der nahen Werkbank gerade recht. Five-O-Five griff danach und hielt das stählerne Gewicht prüfend in der Hand. Allzu viel nutzte es nicht gegen einen RoCop, aber einen kleinen Vorteil brachte es schon, bei zwei sonst einander völlig ebenbürtigen Gegnern.
Gemäß seiner Programmierung war Five-O-Five bereit, alles zu tun, um die Pläne des Weltrats geheim zu halten. Der andere RoCop, ein älteres Modell, von dem er wusste, dass es die Nummer Thirty-Four trug, baute sich drei Schritte entfernt auf, ohne auf den Schraubenschlüssel zu achten. »Ich diene dem Weltrat«, sagte Thirty-Four mit der sonoren Stimme, die sie alle miteinander teilten. »So wie du, wie mir scheint.« Neue Lageeinschätzung! Es liegt keine Bedrohung vor! Five- O-Five legte den Schraubenschlüssel zurück auf die Werkbank. Danach deutete er auf den bläulich schimmernden Monitor des Terminals und erklärte: »Ich sabotiere bereits die Kommunikation für den Tag X. Kümmere du dich um die Zugänge und Aufzüge.« Alle manipulierten RoCops verfügten über die gleichen Angriffspläne, deshalb war es nicht nötig, sich abzusprechen. Während Thirty-Four ging, aktivierten sich zwei weitere Roboter. Sie besaßen ebenfalls Weltratchips mit detaillierten Anweisungen. Ohne überhaupt Kontakt mit Five-O-Five aufzunehmen, verließen sie die Werkstatt, um die Waffenkammer und andere neuralgische Punkte zu präparieren. Angst vor einer Entdeckung kannten sie nicht, denn sie besaßen keine Gefühle. Außerdem gab es um diese Zeit nichts Unverdächtigeres in den leeren Gängen als RoCops, die ihren vorgeschriebenen Aufgaben nachgingen. Five-O-Five stellte sich wieder an den Terminal und arbeitete weiter. Die Vorbereitungen für den Tag X hatten begonnen. T-Day, der Tag, an dem Takeos Enklave in Schutt und Asche fallen sollte. *
Portal B, Oberflächenschleuse von Ramenki, Moskau Das ehemalige Bolschoi-Theater hatte sich seit Blacks letztem Besuch stark verändert. Die ehemalige Ruine erstrahlte in neuem Glanz, denn sie diente längst nicht mehr nur als getarnte Ausfahrt für ARETs, AMOTs und Dingis, sondern wurde unter Hochdruck zur Oberflächenresidenz der Technos ausgebaut. Die ehemalige Fassade blieb erhalten, doch im Inneren zog man unzählige neue Decken und Wände ein, um Platz für Büros, Werkstätten, Konferenzräume, Sicherheitszentrale und eine Kantine zu schaffen. Der Platz reichte natürlich bei weitem nicht aus, um den vierzig Prozent der Bunkerbesatzung, die schon zu den Serumsträgern gehörten, Unterkunft zu gewähren. Deshalb wurden auch zunehmend die umliegenden Häuserzeilen in Beschlag genommen. Allein das Maly-Theater – vor »Christopher-Floyd« eine der ältesten Bühnen Moskaus –, das nur einen Steinwurf entfernt lag, beherbergte gut fünfhundert Personen aus allen Fachbereichen. Der nördlich davon anschließende Wohnhauskomplex stand als nächstes auf der Renovierungsliste, um Platz für all jene zu schaffen, die der Enge des Bunkers entfliehen wollten. »Sämtliche unterirdischen Forschungsstätten bleiben selbstverständlich erhalten«, erklärte Juri Dolgoruki, der die Fortschritte seiner Gemeinschaft mit sichtlichem Stolz präsentierte. »So sicher und abgeschirmt wie im Bunker sind wir sonst nirgendwo, aber die Einwohner von Ramenki sehnen sich natürlich nach einem normalen Leben an der Oberfläche, und spätestens jetzt, nach dem großen Durchbruch, wird die Zahl der Serumsträger weiter rapide ansteigen.« Mr. Black hielt sich mit dem befreundeten Ingenieur unter der Säulenarkade des Bolschoi auf, um das rege Treiben des weitläufigen Theaterplatzes zu genießen. Dort unten wimmelte es nur so von voll beladenen Wakuda-Karren, die
Nahrungsmittel, Steine, Holz, Kalk oder andere Baustoffe transportierten. Serumsträger und barbarische Hilfskräfte arbeiteten überall Hand in Hand. Ohne die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung wären die Renovierungen niemals so rasch voran geschritten. Sie lieferten die notwendigen Ressourcen, die eine Expansion ermöglichten, die Technos dagegen die Organisation und das notwendige Wissen, um die Arbeit zu beschleunigen. Einfache Baukräne und Flaschenzüge, den unterschiedlichsten Epochen der Menschheitsgeschichte nachempfunden, erleichterten überall die Arbeit. Die Fassaden der angrenzenden Ruinen wurden von wackligen Baugerüsten umgeben, die nur aus aneinander gebundenen Stangen und Brettern bestanden, trotzdem wurde auf ihnen emsig gearbeitet. Mr. Black spürte ein Gefühl der Erhabenheit, das ihn bis zur letzten Nervenspitze durchdrang. Konnte es in diesen Tagen überhaupt einen besseren Ort geben, sich für das Wohl der Menschen einzusetzen, als in Moska? Hierher zurückzukehren war das einzig Richtige gewesen. Hier wurde er gebraucht, hier lohnte es sich, dabei zu sein. Hier wurde wahrhaftig etwas Neues, Besseres geschaffen. Der Schritt auf die nächste tiefer gelegene Stufe der Treppe brachte ihm schmerzlich die Wunde in Erinnerung, die ihm ein räuberischer Barbar vor einigen Tagen mit dem Schwert zugefügt hatte. Nun, dieser räudige Lupa und seine drei Kumpane mussten sich längst vor Wudan oder einem anderen ihrer zahlreichen Götter verantworten, doch das Andenken an diesem Zusammenstoß würde dem Running Man noch einige Tage erhalten bleiben. Wehmütig dachte er an das Regenerationsgel aus dem Besitz von Aiko Tsuyoshi. Er musste dringend ein Austauschprogramm mit der Enklave in Amarillo anregen. Deren technische Weiterentwicklungen konnten auch den Moskawitern von großem Nutzen sein.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, erkundigte sich Dolgoruki besorgt. »Sie muten sich doch hoffentlich nicht zu viel zu?« Black hatte unbewusst nach der schmerzenden Stelle getastet, das rächte sich nun. »Es geht schon«, versicherte er schnell. »Ihre Mediziner haben ganze Arbeit geleistet, außerdem ist es nur ein Kratzer.« Rasch senkte er den Arm und rang sich ein Lächeln ab, um auch die letzten Zweifel zu zerstreuen. Dolgoruki gab sich damit zufrieden, drosselte aber merklich das Tempo. Von mehreren Sicherheitskräften unauffällig abgeschirmt, schlenderten sie über den belebten Vorplatz. Die geschäftigen Kutscher, Reiter und Händler beachteten sie kaum, doch wenn Mr. Black einmal erkannt wurde, unterbrachen die Menschen – ob Techno oder Barbar – sofort ihre Arbeit und grüßten ihn freundlich. Sein selbstloser Einsatz bei der Abwehrschlacht gegen die Mutanten vom Kratersee war noch überall in guter Erinnerung. Viele sahen in ihm einen Helden, ein wahres Vorbild für das neue Moska, von dem sie alle träumten. Dieser Zuspruch tat dem Rebellen gut, schwächte aber nicht seinen Blick fürs Wesentliche. Und Blacks geschultes Auge sah so manches, das den oberflächlichen Schein trübte. Das begann mit den Scharfschützen auf den umliegenden Hausdächern, deren Schatten sich gegen die Sonne abhoben, führte über zahlreiche Blessuren, die er in den Gesichtern der Barbaren bemerkte, und endete damit, dass der Platz bei weitem nicht so belebt war, wie er angesichts der enormen Nachfrage eigentlich sein musste. »Es gibt also einige Probleme«, unterbrach er den Redefluss von Dolgoruki, der gerade die großen Fortschritte pries. Der Wissenschaftler verstummte, einen Ausdruck ungläubiger Verwunderung in den grünblauen Augen. Seine spiegelglatte Kopfhaut, die nur von einem frisch sprießenden
Haarkranz gesäumt wurde, färbte sich plötzlich rot. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er, doch sein Tonfall kam bereits einem Geständnis gleich. Mr. Black verhielt im Schritt und stellte mit einer schnellen Kopfdrehung sicher, dass es keine unerwünschten Lauscher gab. Dann zählte er seine Beobachtungen auf. Dolgoruki gab sich beeindruckt. »Sie haben ein gutes Gespür für die Situation«, lobte er. »Meine Arie über den laufenden Fortschritt konnte sie nicht einmal zehn Minuten lang täuschen.« Black sparte sich einen überflüssigen Kommentar. Er schwieg, um den Ingenieur zum Weitersprechen zu animieren. »Wir können nicht so schnell wachsen, wie wir gerne möchten, weil wir sonst dem Zaritsch ins Gehege kommen«, gestand Dolgoruki schließlich unter einem leichten Seufzen. »Unsere Expansion rüttelt natürlich an dem Gefüge dieser Stadt, und er befürchtet, sicher nicht ganz zu Unrecht, dass wir zu einem Staat im Staate werden könnten, der ihn irgendwann überflüssig macht. Sergiuz legte uns deshalb immer wieder Steine in den Weg, zum Teil offen, zum Teil insgeheim.« »Wie ist das zu verstehen?« Nun war es an Dolgoruki, sich nach geheimen Lauschern umzusehen, doch die vier ISR-Kräfte in den blauen Allzweckanzügen sorgten längst für einen geräumigen Sicherheitsabstand. »Als Zaritsch der Stadt besitzt er die Macht, uns an einer weiteren Ausbreitung zu hindern«, erklärte er dann. »Die umliegenden Häuser standen zwar größtenteils leer, und dort, wo einzelne Stockwerke belegt waren, haben wir die Bewohner großzügig entschädigt, doch Sergiuz hat uns per öffentlichem Erlass jede weitere Landnahme untersagt. Gleichzeitig schürt er in der Bevölkerung Ängste vor einer Herrschaft aus der Unterwelt. Es gibt sowieso unzählige Moskawiter, denen unsere plötzlichen Aktivitäten suspekt sind. Die scharen sich jetzt natürlich um ihn.«
»Und wie will sich das Oberste Gremium zukünftig verhalten?« Dolgoruki hob die Schultern in einer Geste völliger Hilflosigkeit. »Wir wissen es nicht, ehrlich gesagt. Einerseits können wir die Unruhe verstehen, die wir hier oben verursachen. Andererseits wächst der Druck im Bunker. Nachdem wir vor drei Tagen endlich zu einem Durchbruch gekommen sind, was die Nachwirkungen des Serums betrifft, gibt es keinen vernünftigen Grund mehr für eine Zweiklassengesellschaft. Die, die noch in völliger Sterilität leben, wollen endlich die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie die Serumsträger, und es wird immer schwerer, sie weiter hinzuhalten.« So sehr Mr. Black auch erleichtert war, dass das aus seinem Blut gewonnene Serum nun auf Dauer nicht mehr zur Unfruchtbarkeit führte, so zornig machten ihn die daraus resultierenden Konsequenzen. Der Zaritsch musste über gute Kontakte zu den Bunker-Wissenschaftlern verfügen, sonst hätte er diese Information nicht so schnell bekommen können. Vielleicht sogar schneller als die restliche Allianz. Auf jeden Fall aber schneller als der Weltrat in Meeraka, der aufgrund der momentanen Lage nach dem Mord an Präsident Hymes noch nicht benachrichtigt worden war. Was durchaus Blacks Zustimmung fand. Unter Crow würde sich bei der WCA nichts ändern – im Gegenteil. »Wozu hinhalten?«, brauste Mr. Black auf. »Moskaus Ruinen sind nicht mal zu fünf Prozent bewohnt. Hier oben gibt es genügend Platz für alle, und noch für ein paar Bunkerbesatzungen mehr!« Dolgoruki sagte er damit nichts Neues. »Natürlich, trotzdem wird der Raum knapper und die Lebensumstände ändern sich. Vielen Barbaren ist das nur recht, ihnen geht es in der Symbiose mit uns besser als früher. Andere, die sich bisher gut arrangiert haben, sehen dagegen ihre Felle davon schwimmen.
Sie versuchen uns deshalb zu schaden, um das Rad der Entwicklung zurück zu drehen.« »Mittels Einschüchterung und Sabotage?«, fragte Black. Er dachte dabei an die Scharfschützen und die Blessuren der Hilfskräfte. »Mittels Diebstählen, Zerstörungen und Übergriffen jeglicher Art«, präzisierte Dolgoruki. »Zum Teil spontan und unorganisiert, aber damit lässt sich leben. Es verdichten sich jedoch die Informationen, dass Sergiuz alle Barbaren unter Druck setzt, die mit uns kooperieren. Bis vor zwei Wochen gab es noch gut zwei Dutzend Andronen auf den Baustellen. Diese Tiere bewegen beinahe genauso viel wie eine Planierraupe. Seit ihre Reiter eingeschüchtert wurden, geht es wesentlich langsamer voran. Was die Riesenameisen geleistet haben, muss inzwischen mit bloßer Hand geschafft werden. Sämtliche Dingis, ARETs und AMOTs sind im Dauereinsatz. Wir können nicht auch noch Fahrzeuge für die Bauaktivitäten abstellen.« Black unterdrückte die Verwünschung, die ihm auf den Lippen lag. Beide Hände in die Hüften gestemmt, starrte er Richtung Südwesten, wo der Stadtteil lag, der den Kreml beherbergte. »Wir müssen etwas unternehmen, bevor die Situation eskaliert«, sagte er und registrierte erfreut, wie sich Dolgorukis Gestalt bei der Formulierung »wir« straffte. Die hiesige Technogemeinde zählte auf Blacks Hilfe, das signalisierte sie immer wieder, und er war entschlossen, sie nicht zu enttäuschen. »Je länger wir die Störmanöver des Zaritsch dulden, desto schwieriger wird es, ihm Widerstand zu leisten«, überlegte er weiter. »Mag sein«, gestand der Techno. »Aber wir dürfen Sergiuz auch nicht schlechter darstellen, als er ist. Ohne ihn würden die Bluttempler noch über Moska herrschen, und gegen die ist er sicher das kleinere Übel.« »Das mag früher so gewesen sein«, widersprach Mr. Black.
»Inzwischen entwickelt er sich zu einem riskanten Hemmschuh, der nicht nur das Leben der hiesigen Bevölkerung gefährdet. Wir dürfen nicht die Bedrohung durch die Daa'muren vergessen. Technos und Barbaren müssen hier perfekt zusammenarbeiten. Nur gemeinsam finden wir die Kraft zum Widerstand. Jeder einzelne von uns ist zum Wandel verdammt, ob es uns nun gefällt oder nicht. Da gibt es keinen Platz für persönliche Eitelkeiten.« Dolgoruki stimmte dem zu, gab aber zu bedenken, dass sich auch gerechte Ziele nicht gegen den Willen der Mehrheit erzwingen ließen. »Die Moskawiter lehnen den Fortschritt nur ab, weil sie nicht wissen, was ihnen sonst droht«, belehrte ihn Black daraufhin. Und fügte hinzu: »Wenn die alten Wege nicht zum Ziel führen, müssen eben neue beschritten werden.« »Und das berechtigt dazu, seine alten Verbündeten anzugreifen?« Blacks Bauchmuskeln spannten sich unwillkürlich an. »Spielen Sie auf die beiden Biologen an, die ich niedergeworfen habe?«, fragte er, um einen neutralen Tonfall bemüht. »Ich habe schon erklärt, dass ich sicher gehen musste, nicht einem Kommando der Petersburger Allianz in die Hände zu fallen. Aber wenn es nötig ist, entschuldige ich mich gerne noch einmal ganz offiziell bei...« »Nein, nein, darum geht es nicht«, beeilte sich der Ingenieur zu erklären. » Niemand von uns hat vergessen, dass die Allianz Sie beim letzten Mal entführen wollte. Mir geht es eher um einige Funksprüche, die wir in den letzten Tagen aufgefangen haben. Wie es scheint, verfügen die Bluttempler mittlerweile über einen ISS-Sender. Ganz offiziell, wie ich hinzufügen möchte.« Der Running Man ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken. »Das ist mir bekannt«, antwortete er stattdessen. »Und ich
stimme mit Commander Drax darüber ein, dass im Kampf gegen die Daa'muren jeder Verbündete wertvoll ist. Sein Wort scheint bei diesen Mutanten großes Gewicht zu haben, deshalb wäre es dumm, sie nicht bei uns einzureihen. Im Gegensatz zu Sergiuz erscheinen mir die Bluttempler kooperativ zu sein. Sie haben damals geholfen, meine Entführung zu verhindern, und sich auch im Kampf gegen die Armeen vom Kratersee bewährt.« Dolgoruki stieß ein verächtliches Zischen aus. »Die Bluttempler und kooperativ? Soll das ein Witz sein? Erzvater hat doch nur das Wohl seines eigenen Ordens im Sinn. Sie haben ja keine Ahnung, was das für ein Haufen ist! Früher hat die ganze Stadt vor ihnen gezittert, und auch jetzt ist Erzvaters Einfluss nicht zu unterschätzen. Die Bluttempler sind gefürchtet, und das zu Recht.« »Tatsächlich?« Black sah wieder Richtung Südwesten, und diesmal glaubte er sogar eine der Kremlturmspitzen über den Häusern auszumachen. »Warum erzählen Sie mir nicht mehr darüber, Towarisch?« * T-Day, kurz nach Mitternacht Um 00:28 Uhr verließen die ersten WCA-Tauchpanzer das kalte Wasser des Vega-Sees und rollten das Westufer empor. Es handelte sich um eine Vorausabteilung der 101., die von Arthur Crow – General und Präsident in Personalunion – persönlich angeführt wurde. Kommandotruppen, die bereits seit Wochen in dieser Landenge operierten, erwarteten sie. Die nachfolgende, siebenhundert Mann starke Streitmacht benötigte knapp dreißig Minuten, um in dem Verfügungsraum aufzumarschieren. Zwei Wochen lang waren sie nur des Nachts gefahren und hatten sich am Tage verborgen, um Takeos Spähern zu
entgehen. Nun walzten Ketten und Räder das Gras nieder, nur hundertfünfzig Kilometer Luftlinie entfernt des San Fernando Valleys. Die Tarnbeleuchtung der zu einem Halbkreis aufgefahrenen Fahrzeuge schuf einen trüben Lichthof, in dessen Fokus sich ein einzelner RoCop abzeichnete. Unbeweglich, das Tak 03 in der Rückenkralle. General Crow zeigte sich hochzufrieden, als ihm Sergeant Grant meldete: »Ein unbewachter Korridor in gerade Linie zu Takeos Castle liegt vor uns, Sir. Unsere InfiltrationsMaßnahmen verliefen erfolgreich. Alles steht bereit für einen Angriff um 05:05, exakt eine Stunde vor Sonnenaufgang.« Crow, in vollem Grünzeug, aber ohne Jacke und mit aufgekrempelten Ärmeln, bedankte sich in dem gleichen schnarrenden Tonfall, den der Soldat angeschlagen hatte. Danach wandte er sich dem RoCop zu, der weiterhin wie eine leblose Statue wirkte. Nur die Diodenleiste im Sichtschlitz, die im Dunklen wie ein blutender Schnitt schimmerte, belehrte ihn eines Besseren. »So, dieser Kamerad steht jetzt also auf unserer Seite, ja?« Er klopfte mit der Faust auf den gewölbten Brustpanzer, der ein hohles Geräusch von sich gab. »Wem dienst du denn jetzt, Freundchen?« »Miki Takeo«, antwortete der RoCop wie aus der Pistole geschossen. Crow erstarrte. Lieutenant Ramon Jesus Garcia, sein Adjutant, sprang einen Schritt zurück und langte zu der Automatik an seiner Hüfte. »Nur keine Sorge«, mischte sich Grant ein. »Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, die eine vorzeitige Aufdeckung verhindern soll. Nach einer zweifelsfreien Identifikation sieht die Sache ganz anders aus.« Er holte einen kleinen Minisender aus der Hosentasche, aktivierte den Erkennungscode auf Ultrahochfrequenz und
wiederholte Crows Frage. Diesmal wurde sie zur Zufriedenheit des Generals beantwortet. »Diese Kennung dient dazu, uns während der Kampfhandlungen vor Friendly Fire zu schützen«, führte der Sergeant weiter aus. »Jeder Truppenangehörige erhält solch einen Sender, der am Körper zu tragen ist, um das Risiko einer Verwechslung auszuschließen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Takeo auch über menschliche Bedienstete verfügt. Die umgepolten RoCops senden dieses Signal übrigens automatisch aus, um sich gegenseitig zu erkennen.« »Gute Arbeit«, lobte Crow, bevor er sich mit einer forschen Bewegung den angetretenen Männern und Frauen zuwandte. Marines, Panzertruppen und Weltrat-Agenten standen Schulter an Schulter bei diesem groß angelegten Unternehmen. Dem größten seit mehreren hundert Jahren, wenn man von den geheimen Feldzügen der Nord- und Ostmänner absah; unwürdigen Stellvertretern, wie sie nur der Geheimdienst hatte ersinnen können. Angesichts ihrer geringen Mannstärke hatte der Weltrat in der Vergangenheit auf solche Lösungen zurückgreifen müssen, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Damit sollte Schluss sein. Schon in wenigen Stunden würden diese Männer und Frauen technische Ressourcen erschließen, die eine Defensive überflüssig machten. Mit der richtigen Ausrüstung standen neue, bessere Zeiten bevor. Für Washington, aber auch für die ganze Welt. Dessen war sich Crow vollkommen sicher. Sollten diese Aliens aus dem Kratersee nur kommen. Hier gab es bald einen Stiefel Größe Sechsundvierzig, den er ihnen tief in den außerirdischen Hintern rammen konnte. Arthur Crows Blick wanderte die Reihen entlang. Überall nur entschlossene Gesichter. Stolz erfüllte seine Brust. Schmissig zog er eine Zigarre aus bunkereigener Tabakzüchtung hervor. Lieutenant Garcia zückte ein
brennendes Feuerzeug, lange bevor Crow die Spitze abgebissen und ins Präriegras gespuckt hatte. Zufrieden zog der General an dem offenen Ende, bis dichter, aromatischer Rauch seine Geschmacksknospen umschmeichelte. »Männer und Frauen aller Waffengattungen«, hob er mit einer Stimme an, die ohne künstliche Verstärkung weit durch die Nacht trug. »Seht euch den Blechfreund hier genau an. Noch stehen er und die Seinen für den beispiellosen Terror, den Takeo in diesem Landstrich verbreitet. Doch schon in Kürze wird er uns dabei unterstützen, dieses Land aus der Lethargie zu reißen und in eine neue, bessere Zukunft zu führen, die man nie mehr die dunkle nennen wird.« Seine Worte gingen den Soldaten unter die Haut, das war nicht zu übersehen. Doch das genügte Crow nicht. Er verlangte mehr als nur Furchtlosigkeit und absoluten Kampfeswillen. Er wollte, dass seine Truppen genauso stark an den bevorstehenden Sieg glaubten wie er selbst. »Garcia!«, beorderte er seinen Adjutanten herbei. »Ihre Waffe.« Ohne den Sinn seines Befehls zu hinterfragen, knöpfte der Lieutenant die Pistolentasche auf und übergab die schwere Automatik. Crow dachte gar nicht daran, Garcia oder die anderen vorab aufzuklären. Er zog einfach den Schlitten zurück, entsicherte und feuerte auf den RoCop. Die Kugel grub sich tief in die Brustschale aus Plysterox, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Eine kurze Erschütterung, mehr nicht. Danach stand der RoCop wieder völlig regungslos, als ob nichts geschehen wäre. Trotz der eindeutigen Attacke langte er nicht nach seinem Tak 03. »Seht ihr das?«, fragte Crow die versammelte Truppe. »Lammfromm und auf unserer Seite. Damit das so bleibt, erhält jeder von euch einen Sender, der eine Freund-Feind-
Kennung verbreitet. Das bedeutet, dass viele unserer Gegner in Takeos Castle nicht auf uns schießen werden. Was haltet ihr davon?« Unbeschreiblicher Jubel brandete auf. Natürlich. Welcher andere Feldherr konnte vor einem Kampf schon Ähnliches verkünden? Kurz darauf eilten Weltrat-Agenten herbei, um die Verteilung vorzunehmen. Nachdem jeder mit einem Pieper ausgestattet war, bat Crow erneut um Ruhe. Erst nachdem sich die Aufmerksamkeit wieder auf ihn gerichtet hatte, trat er auf den RoCop zu und befahl ihm, auf einen der umstehenden Transporter aufzusitzen. Der Roboter leistete dem Befehl augenblicklich Folge. Zufrieden zog Crow ein letztes Mal an seiner Zigarre. »Na, wie ist es?«, fragte er in die Runde. »Lasst ihr den Blechknaben alleine losziehen oder schließt ihr euch dem Feldzug an?« Nach dieser Aufforderung überschlugen sich die Männer und Frauen geradezu, ihre Plätze einzunehmen. Bereits drei Minuten später kam das Signal zum Abmarsch. Unter dumpfen Grollen formierten sich Panzer, Jeeps und Transportfahrzeuge zu einer dreifach gestaffelten Kolonne, die querfeldein Richtung Westen verschwand. Allmählich verhallten die Motorengeräusche in der Ferne und das abgeschiedene Seeufer versank wieder in Ruhe und Frieden. Crow Streitmacht zog weiter. Einem blutigen Morgen entgegen. * T-Day, 05:02 Uhr Für die Frühschicht in Takeos Zentrale begann der Angriff mit einem Zusammenbruch der Kommunikation. Die Monitore
der Außenkameras erwischte es zuerst. Auf einem Schlag lösten sich die Bilder auf und verformten sich zu verzerrten Querbalken. Der sofort ausgelöste Alarmruf ging ins Leere, denn der Äther wurde plötzlich von knackenden und pfeifenden Störungen überlagert. Das menschliche Personal, das aus jungen, lernfähigen Barbaren bestand, reagierte hektisch. Solch eine Häufung von Problemen hatte bisher noch keiner von ihnen erlebt. Einzig der Schichtführer, RoCop Two-Seventeen, reagierte mit der notwendigen Übersicht. Er versuchte Großalarm auszulösen, doch es gelang nicht. Da Sirenen und automatischen Durchsagen versagten, bestimmte er einen Meldeläufer, der Takeo informieren sollte. Der Mann, ein junger Mechico von dreiundzwanzig Jahren, kam nicht weit, denn plötzlich öffnete sich das Sicherheitsschott vor ihm und ließ sechs bewaffnete RoCops ein. Die beiden vorderen begannen sofort zu feuern, die nachrückenden folgten dem Beispiel, sobald sie freies Schussfeld hatten. Alle Sechs waren mit der Tak 03 bewaffnet, einer Mischung aus Sturmgewehr und Maschinenpistole. Zielgenau bis zu einer Entfernung von achthundert Metern, konnte sie ihr dreihundert Schuss fassendes Magazin in weniger als einer Minute verfeuern. Nebeneinander aufgereiht, brachten die Eindringlinge ihre Waffen an den Rand der Belastbarkeit. Innerhalb von Sekunden füllte sich der Raum mit Blei. Krachend durchschlugen die Geschosse Mensch und Material. Zertrümmerten Tische, Monitore, Leitungen und die komplette Elektronik, die zur Koordinierung der Truppen diente. Gegen diesen brüllenden Hagel gab es keine Chance. Nicht für die Mechicos, deren Leichen durch den Raum segelten, nicht für Two-Seventeen, der länger aushielt, aber ebenso in Stücke flog.
Zuerst dellte seine Panzerung nur ein. Doch als sich die sechs Geschossgarben allein auf ihn konzentrierten, warf ihn die pure Wucht der Einschläge zu Boden und nagelte ihn dort fest, bis das Plysterox in faustgroßen Stücken abplatzte und seine darunter verborgene Elektronik der Vernichtung preisgab. Nach achtundfünfzig Sekunden war alles vorüber. Die sechs manipulierten RoCops wechselten die Magazine ihrer Waffen, überzeugten sich von der völligen Zerstörung aller Kommunikationswege und machten sich dann auf, den Samen der Vernichtung tief in das Herz der unterirdischen Anlage zu tragen. Für Präsident Crow startete der Angriff mit der ersten Salve, die Panzer und Haubitzen um 05:05 auf das Gelände mit dem Decknamen Takeos Castle abfeuerten. Die Gummi ummantelten Linsen seines elektronisch verstärkten Feldstechers fest gegen Brauen und Wangenknochen gepresst, verfolgte er die Flugbahn der Sprenggeschosse bis zu ihrem Einschlag. »Perfekt«, sagte er, den kalten Zigarrenstummel im linken Mundwinkel. Im anvisierten Gebiet stiegen Erdfontänen auf. Als sich der umher fliegende Dreck senkte, lag die Sicherheitsmauer an dieser Stelle in Trümmern. Tiefe Krater säumten den Bereich. Einige Ziegel türmten sich zwar noch aufeinander, doch es waren viel zu wenige, um noch ein ernsthaftes Hindernis zu bilden. Die Geschütze bestrichen die gleichen Koordinaten mit einer zweiten Salve, dann nahmen sie die ersten Gebäude unter Feuer. Jeeps, Trikes und Schützenpanzer schwärmten längst aus, um im Schutz des Granatenhagels die Distanz zu verkürzen. Crow brauchte keine Anweisungen zu erteilen, die
militärische Maschinerie arbeitete ganz von alleine. Alles lief nach Plan. Solange das so blieb, beobachtete und bewertete er seelenruhig die Leistungen seiner Offiziere und Soldaten. Für die Faama, Mechaniker und Diener, die in den oberirdischen Unterkünften lebten, verwandelte sich die Pagoden, Bäche und Brücken des Freizeitparadieses schlagartig in eine brüllende Hölle. Von den ersten Explosionen des Bombardements aus dem Schlaf gerissen, wankten sie schlaftrunken an ihre Türen und Fenster, meist gerade noch rechtzeitig, um die ersten Einschläge in den Nachbarhäusern zu erleben. Viele der im japanischen Stil erbauten Hütten stürzten wie unter dem Fausthieb eines Riesen zusammen. Wolken splitternden Holzes stoben durch die Gassen. Brände brachen aus und griffen schnell um sich. Innerhalb weniger Minuten loderte eine Feuersbrunst, angefacht durch einen nicht enden wollenden Kanon neuer Explosionen. Nur die Fetzen am Leib, die sie im Schlaf getragen hatten, liefen die Menschen um ihr Leben. Zuerst blindlings in alle Richtungen, dann, als sie die Flugbahnen der Geschosse ausgemacht hatten, nach Westen, wo es ruhiger zu sein schien. Patrouillierende RoCops, die mit ihren Sturmgewehren wenig ausrichten konnten, lenkten die Flüchtlingsströme so gut es ging. »Wir werden von einer unbekannten Macht angegriffen!«, verkündeten sie in maximaler Lautstärke, um die Explosionen zu übertönen. »Zivilpersonen räumen bitte umgehend das Gelände! Begeben Sie sich auf schnellstem Wege in sicheres Gebiet! Harren Sie dort bis zum Ende der Kampfhandlungen aus! Sie werden informiert, sobald die Bedrohung vorüber ist!« Obwohl die Menschen nichts erfuhren, was sie nicht schon selbst wussten, dämpften die Durchsagen vorübergehend die Panik.
Spätestens seit den Kämpfen mit Fudohs untoten Kriegern galten die RoCops im Valley als Garant für Sicherheit und Frieden. Ihr stoisches Verhalten angesichts des Bombardements gab Hoffnung, obwohl rundum das Chaos tobte. Als noch die Positionslichter eines doppelsitzigen Gleiters Richtung Osten abdrehten, regte sich gar Hoffnung auf einen Gegenangriff, der den Spuk rasch beenden würde. Umso größer fiel das Entsetzen aus, als die unterirdischen Fahrstühle RoCops ausspien, die rücksichtslos und ohne Vorwarnung auf Ihresgleichen losgingen. In den folgenden Minuten kam es zu rasanten Schusswechseln, in denen sich die widerstandfähigen Roboter gegenseitig beharkten, ohne dass einer den entscheidenden Vorteil über den anderen erlangte. Männer, Frauen und Kinder, die zwischen die Fronten gerieten, zahlten mit ihrem Leben, obwohl Takeos RoCops alles daran setzten, Unschuldige zu schonen. Von Flammen bedrängt, von Querschlägern und Granaten verletzt, wälzten sich Getroffene überall in ihrem Blut. In späteren Berichten würde man sie als Kolateralschaden eines begrenzten Konfliktes führen, doch hier und jetzt starben sie unter Schmerzen, die vielen den Verstand raubten, bevor das Herz für immer verstummte. Die wenigen Glücklichen, die ihr nacktes Leben retten konnten, rannten durch die Nacht davon. Verbrannt, verletzt, verängstigt. Und mit der quälenden Gewissheit behaftet, dass nach diesem Morgen nichts mehr so wie früher sein würde. Für die abtrünnigen RoCops bildeten die Patrouillen auf der Oberfläche nur ein zweitrangiges Ziel. Ihr primäres Interesse galt den Piloten, die kurz nach Beginn des Bombardements zum unterirdischen Hangar rannten, der die Großraumgleiter beherbergte. Five-O-Five und weitere Abtrünnige, die dem Weltrat dienten, warteten bereits an strategisch günstigen Positionen, drangen hinter den Piloten in den Hangar ein und
töteten sie an Ort und Stelle. Takeotreue RoCops rückten unmittelbar nach, trotzdem gelang es dem Feind, die Schaltzentrale zu besetzen und das meterdicke Deckenschott, das dem Bombardement mühelos widerstand, zu öffnen. Five-O-Five gehörte zu den Ersten, die einen der fünf Großraumgleiter enterten. Mit sicherer Hand fuhr er das System hoch und entsicherte die Bordgeschütze. Takeos RoCops kämpften gerade die Nachhut nieder, die den Weg versperrte, doch Five-O-Fives Glasfaserbahnen übertrugen keine Emotionen wie Trauer oder Angst. Thirty-Four und einige andere Nachzügler erbebten unter der Einschlägen der Tak 03, bis sie, völlig zersiebt, zu Boden sanken. Five-O-Five registrierte diesen Vorfall nur am Rande, während er die Maschinenkanonen des Großraumgleiters auf das Hallentor richtete, auf den Feuerknopf drückte und damit ein Inferno aus Feuer und Stahl entfachte. Die Wucht der großkalibrigen Sprenggeschosse erwies sich als verheerend. Die gegnerischen RoCops wurden förmlich aus der Halle gewischt, wie Laubblätter in einem Sturm. Sobald das zweiteilige Deckenschott weit genug auseinander klaffte, ließ Five-O-Five den Gleiter steigen. Er wartete nicht, bis das Podest, auf dem er parkte, in die Höhe fuhr, er verstärkte einfach das Magnetkissen und schlüpfte zwischen den Gras bewachsenen Platten hindurch. Draußen angekommen, drehte er nach Süden ab, um einem Schauer niedergehender Granaten zu entgehen. Sobald er die Situation überblicke, machte Five-O-Five Jagd auf Takeos Getreue. Auf RoCops, die von der Patrouille zurück eilten, oder auf Doppelsitzer, die sich den angreifenden Truppen entgegen stürzten. Dass Five-O-Five unter normalen Umständen genauso gehandelt hätte wie die, die er nun vernichtete, störte ihn nicht.
Er war bloß eine Maschine, die dem neuen Programm folgte. Miki Takeo realisierte das Ausmaß des Angriffs, als er aus seiner Unterkunft trat und sofort von abtrünnigen RoCops angegriffen wurde. Die hochbeschleunigten Geschosse, die seinen Kopf, die Arme und den Torso trafen, schleuderten ihn zwar mehrere Schritte zurück, fügten ihm jedoch keinen nennenswerten Schaden zu. Keine Panzerung in der Enklave war so stark wie die seine. Nicht nur aus Kostengründen. Sein kybernetisches Gehirn verbrachte zu viel Zeit damit, unterschiedliche Szenarien zu simulieren, als dass er nicht einkalkuliert hätte, einmal seinen eigenen Schöpfungen im Kampf gegenüber zu stehen. Für Takeo gab es deshalb keine Schrecksekunde. Keine Frage nach dem Warum oder Wieso. Nur pure Reaktion. Noch während er hinter der Stahlbetonwand seines Quartiers Schutz suchte, öffnete sich eine verborgene Oberschenkelklappe und warf eine klobige Automatik aus der Arretierung. Eine Tak 01. Es gab nur dieses eine Exemplar der monströsen Handfeuerwaffe, so wie es nur eine Hand gab, die groß genug war, sie zu halten. Die seine. Die Patronen für die Waffe wurden ebenfalls in Handarbeit hergestellt. Takeo besaß nur zweihundert Stück, denn ihre Produktion verschlang enorme Ressourcen. Doch sie rettete auch Existenzen. Hier und jetzt, zum Beispiel. Die seine. In einer flüssigen Bewegung riss er die Waffe empor und feuerte dreimal hintereinander auf die Attentäter. Immer abwechselnd auf den linken und den rechten. Die Sprengköpfe, die die dreifache Wirkung einer Drillerspitze besaßen, rissen tiefe Krater in die RoCop-Panzerung. Dem Rechten trennte es glatt den Arm ab, trotzdem feuerte er weiter, ohne ein einziges Mal inne zu halten. Gemahlener Betonstaub und Querschläger erfüllten die Luft,
während Takeo weiter schoss. Überlegt und zielsicher. Genau auf die Schwachstellen, die er besser kannte als jeder andere. Die Attentäter versuchten noch, sich zurückzuziehen, doch ihre Beschädigungen waren zu stark. Takeo schoss ein letztes Mal auf die Schädel, bis die Hauptprozessoren aus den Sichtschlitzen quollen. Danach musste er das Magazin wechseln. Takeo besaß nur noch einhundertfünfundachtzig Schuss Tak 01-Munition, trotzdem verzichtete er darauf, eines der Gewehre aufzunehmen. Ohne mit seiner misslichen Lage zu hadern, machte er sich auf den Weg, den Widerstand zu organisieren. Unterwegs traf er Techniker, Piloten und Sicherheitskräfte, die aus dem Schlaf gerissen wurden. Zusammen mit aktivierten RoCops versuchten sie Herr der Lage zu werden. Allerdings mischten sich in ihre Reihen immer wieder feindlich gesinnte Roboter, die das Feuer ohne Vorwarnung eröffneten, sodass es schwer wurde, Freund und Feind zu unterscheiden. Ein Teil der zur Reserve eingelagerten RoCops ließ sich außerdem nicht aktivieren, da die betreffenden Sicherheitsschotts sabotiert waren. Natürlich konnte man den Stahl aufschweißen, aber das kostete Zeit. Zeit, die immer knapper wurde. Selbst ein Mensch, der nicht über Takeos Fähigkeit verfügte, alle eingehenden Meldungen in komplexen Szenarien durchzuspielen, wäre zu dem gleichen Schluss wie der mächtige Androide gekommen. Er stand auf verlorenem Posten. Lange bevor ein Weltrat-Soldat die Enklave erreichte. Dayna DeLano erkannte den Anfang vom Ende, als sie mit knapper Not einem Kugelhagel entfloh, den zwei grimmig aufeinander feuernde RoCops entfachten. Nur ein Hechtsprung rettete ihr das Leben. Und die Fähigkeit, aus der Gefahrenzone zu robben, ohne sich neugierig umzuschauen. Betonstücke
regneten auf sie nieder, als nur eine Handbreite über ihr eine Salve in die Wand schlug. Das Jaulen der Querschläger ging durch Mark und Bein, doch statt zu erstarren, robbte Dayna einfach weiter. Schicksalsergeben und darauf gefasst, jeden Augenblick perforiert zu werden. Erst im Schutz eines abzweigenden Gangs setzte sie sich auf und lehnte schwer atmend den Rücken an die Wand. Die Schießerei war längst beendet. Ein schneller Blick um die Ecke zeigte, dass nur noch einer der beiden Kontrahenten aufrecht stand. Ob es der Manipulierte war oder einer, der Takeo die Treue hielt, ließ sich nicht erkennen. Dayna war keineswegs so lebensmüde, dass sie es herauszufinden versuchte. Stolpernd lief sie davon, eine Automatik in der Hand, die überhaupt nichts nutzte. Kaliber .45 gegen einen RoCop einzusetzen, das war wie David gegen Goliath, nur mit einer morschen Schleuder. Dayna versuchte Kontakt zu anderen Verteidigungskräften aufzunehmen, doch es gab nirgends eine Front, der sie sich anschließen konnte. Nur ein Chaos aus schreienden und fluchenden Menschen, die angesichts jeder hastigen Drehung eines RoCops zur Seite sprangen, weil sie einen Überläufer befürchteten. Als ihr das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst wurde, änderte Dayna ihre Pläne. Statt weiter ziellos umher zu stolpern, rannte sie zurück ins Quartier, versiegelte die Tür und riss sich die blaue Montur vom Leib, die sie als Technikerin in Takeos Stab identifizierte. Hastig verstaute sie die Sachen hinter einer losen Kunststoffabdeckung, die den Lüftungsschacht einfasste. Nachdem sie das Segment wieder an die alte Stelle gedrückt hatte und alles wie zuvor aussah, ging sie zu ihrem Schrank und holte die alte WCA-Uniform aus dem Regal. Schweiß rann ihr in Strömen über den Leib. Sie hätte gerne
geduscht, aber dafür fehlte die Zeit. Niemand wusste, wann Crows Einheiten in den unterirdischen Komplex eindrangen. Hastig zog sie Hose, Hemd und Drillichjacke an. Dann setzte sie sich aufs Bett und wartete. Wartete, bis die alten Kameraden kamen und sie fanden. * T-Day, 07:00 Uhr Arco Plaza, El'ay Hauptquartier der japanischen Invasionstruppen »Ich freue mich, dass Sie zu den Wurzeln unserer gemeinsamen Kultur zurückkehren.« Aiko langte im Reflex an das weiße Stirnband mit der stilisierten roten Sonne, auf das General Fudoh bei seiner Begrüßung anspielte. Er trug es eigentlich nur, um die rundum laufende Narbe seiner Hirnoperation zu verdecken, die sich trotz des Regenerationsgels noch immer deutlich von der Haut abhob. »Ach, das ist bloß eine Spielerei«, wiegelte er ab, doch Fudoh schien das nur für einen Ausdruck von Verlegenheit zu halten. Ungewohnt freundlich bat er zum Tee, sofern sich die Stimme unter der brünierten Eisenmaske überhaupt richtig deuten ließ. Dass er Gesicht und Körper unter einer Samurairüstung verbarg, war keine Unfreundlichkeit gegenüber seinem Gast, sondern ein längst in Fleisch und Blut übergegangenes Ritual. Aiko kannte den Grund dafür. Fudoh war als Jugendlicher gefoltert und am ganzen Körper schwer verstümmelt worden. Seither verbarg er seine Deformationen unter der Kleidung, doch das durfte nicht zu der Annahme verleiten, er wäre ein defensiver Mensch. Im Gegenteil. Sein Hass auf den Weltrat, der damals hinter der brutalen Attacke der Ostmänner gesteckt hatte, machte ihn zu einem äußerst gefährlichen und unberechenbaren Gegner.
Suno, eine Ninja aus seiner persönlichen Leibgarde, trat mit einem Tablett ein, auf dem zwei volle Teetassen standen. Aiko folgte der Einladung, sich an einen niedrigen Holztisch zu setzen und von dem aromatischem Getränk zu probieren. Das Verhältnis zu Fudoh und seinen Schergen war nicht immer so ausgesucht höflich gewesen, deshalb nahm er gerne Platz. Barfuss, beide Beine untergeschlagen, wartete er ab, bis Suno serviert hatte. Ihre anmutigen Bewegungen und die zur Schau gestellte Demut täuschten Aiko nicht darüber hinweg, dass sie eine trainierte Kriegerin war, die Fudohs Befehlen bedingungslos Folge leistete. Selbst wenn sie dafür töten musste. Lautlos zog sich die Ninja zurück. Erst nachdem sie den Raum verlassen hatte, setzte Fudoh die Maske ab, die nur beim Trinken störte. Aiko verzog keine Miene, als er in das nasen- und ohrlose Antlitz sah. Er hatte es schon einmal zwei Jahre zuvor gesehen. Außerdem hatte er kurz vor seinem Besuch eine Dosis des Kopfschmerzmittels gespritzt und fühlte sich entsprechend leicht und unbeschwert. Nachdem beide an ihrer henkellose Tasse genippt hatten, kam Fudoh endlich zur Sache. »Ich danke für die Dateien, die du uns vor zwei Wochen überlassen hast«, erklärte er höflich. Da ihm die Ostmänner auch die Lippen abgeschnitten hatten, sah es so aus, als würde Fudoh permanent grinsen, dabei war er einer der humorlosesten Menschen, die Aiko kannte. »Diese ganze Angelegenheit mit den Daa'muren klingt... nun, sagen wir mal, sehr phantastisch. Aber ich sehe keinen Grund, deinen Worten zu misstrauen. Die Angaben über die Ostmänner, die Sireenen und den Weltrat stimmen jedenfalls mit dem überein, was uns bekannt ist.« »Ich hoffe, du siehst ein, dass unter diesen Umständen alle fortschrittlichen Gemeinschaften rund um den Globus zusammen arbeiten müssen. Uns alle verbindet ein
gemeinsames Interesse.« Fudohs Mundwinkel ruckten in die Höhe. Wie es schien, versuchte er freundlich zu lächeln. Vermutlich ein alter Reflex, der sich nicht abstellen ließ. »Ich sehe vor allem die gemeinsamen Interessen von El'ay, San Fernando und Amarillo«, antwortete Fudoh in seinem kratzigen Englisch. »Wie es scheint, haben wir alle unter dem Terror des Weltrats zu leiden. Wenn es nach mir ginge, würden unsere und Takeos Truppen schon längst gemeinsam gegen Waashton marschieren. Leider scheut dein Vater den Krieg. Vielleicht kannst du auf ihn einwirken, jetzt da Amarillo ebenfalls ins Visier der WCA geraten ist.« »Eigentlich bereise ich die Westküste, um die Unstimmigkeiten mit Crow aus der Welt zu schaffen.« Die Mundwinkel sanken, der Blick auf die entblößten Zähne blieb. »Du erwartest ernsthaft, dass wir vergessen, was uns die Ostmänner im Namen des Weltrats angetan haben?« Mieses Englisch oder nicht, der protestierende Unterton klang deutlich heraus. »Japan soll weder vergessen noch verzeihen«, beruhigte ihn Aiko. »Wir müssen nur alle die Waffen ruhen lassen und dürfen uns nicht in gegenseitige Grabenkämpfe verwickeln. Mehr erbitte ich nicht. Nur noch, dass deine Truppen die Augen offen halten und uns alles Verdächtige mitteilen, das in Zusammenhang mit den Außerirdischen stehen könnte. In eurem eigenen Interesse.« Aiko zog einen der ISS-Sender hervor und schob ihn über die Tischplatte. Es war der Letzte, den er noch vorrätig hatte. Die Hydriten in Sub'Sisco besaßen einen weiteren, ebenso Miki Takeo und Brina, die er am Abend zuvor gesehen hatte. Es war ein überraschend angenehmes Wiedersehen gewesen, das in einem Gelage mit Brabeelenwein geendet hatte. Nicht mal die rothaarige Kriegerin, die Brina neuerdings keinen Schritt von der Seite wich, hatte ihm Herzschmerz bereitet. Wie hieß es
doch so schön? Die Zeit heilt alle Wunden. In seinem Fall traf das zu. Seine Gefühle für Brina waren erloschen. Schließlich gab es jetzt Honeybutt, die sein Herz ausfüllte. Honeybutt, die ihn durch die schwerste Zeit seines Lebens begleitet und sogar aus Sorge um sein Leben getötet hatte. Honeybutt, die er vermisste. Wenn auch längst nicht so stark wie er eigentlich sollte. Oder? Plötzlich war es wieder da. Das sanfte Pochen unter seinem Stirnband, das ihn immer wieder an die Operation erinnerte, die einen Teil seines Gehirns gekostet hatte. Was, wenn dabei auch Teile des Emotionszentrums geschädigt worden waren? Was, wenn er nie wieder so wie früher fühlen konnte? Oder lag die nüchterne Klarheit, die er an manchen Tagen spürte, nur an den Medikamenten? War das nur eine vorübergehende Auswirkung, die schon bald... »Was genau kann ich mit diesem Sender anfangen?«, riss ihn Fudoh aus den abschweifenden Gedanken. Aiko schüttelte sich kurz, als würde er aus einem Tagtraum erwachen, hatte sich dann aber rasch im Griff. In knappen, geschliffenen Sätzen, die zeigten, dass er den Sachverhalt nicht zum ersten Mal erklärte, breitete er vor Fudoh den Ursprung des ISS-Relais aus und beschrieb die damit verbundenen Möglichkeiten zu einer globalen Kommunikation. »Soll das heißen, alle Welt nutzt ein Relais, das die WCA für sich alleine installiert hat?« Die Mundwinkel des Generals hoben sich bis auf Augenhöhe. Aiko nutzte den Anflug der guten Laune, um für eine gemeinsame Allianz zu werben. Fudoh gab zwar zu bedenken, dass seine Wissenschaftler und Militärs vollauf damit beschäftigt waren, El'ay zu sichern, doch er ließ auch die Bereitschaft durchblicken, jeden zu unterstützten, der in seinem Machtbereich gegen die Daa'muren operierte. Jeden, außer die Angehörigen der WCA. Natürlich.
Aiko wollte sich gerade selbst zu seinem Verhandlungsgeschick beglückwünschen, als Suno zurückkehrte. Unter einer tiefen Verbeugung näherte sie sich dem General, kniete nieder und flüsterte ihm leise auf Japanisch ins Ohr. Aiko hatte die Sprache seiner Großeltern nie gelernt. Dank seiner erweiterten Speicherkapazität stand sie ihm aber zur Verfügung. Mit seinen künstlich aufgewerteten Rezeptoren hätte er vielleicht sogar erlauschen können, was dort gesprochen wurde, aber das wäre natürlich ein Vertrauensbruch gewesen. Sich dessen schuldig zu machen war auch gar nicht nötig. Denn kaum hatte Suno geendet, erklärte Fudoh auch schon, was vor sich ging. »Wie es scheint, verbreitest du deine Friedensbotschaft in den falschen Kreisen, Aiko-san.« Auf dem verstümmelten Gesicht waren keine Emotionen zu erkennen, doch Fudohs Pupillen glänzten so hart wie polierte Glaskugeln, als er fortfuhr: »Seit einigen Minuten gehen in unserer Zentrale Berichte verschiedener Spähtrupps ein. Die Meldungen stimmen alle haargenau überein, es gibt also keinen Zweifel. Starke WCA-Panzerverbände greifen die Enklave deines Vaters an.« * T-Day, 07:20 Uhr »Takeo, geben Sie auf, oder wir fluten den Bau mit Napalm und räuchern Sie aus!« Crows Stimme wurde durch einen Lautsprecher verstärkt und klang entsprechend verzerrt. Die Ernsthaftigkeit seiner Botschaft klang trotzdem mit jedem Wort durch. Miki Takeo zweifelte keine Nanosekunde daran, dass die Weltrat-Truppen ihre Drohung wahr machen würden. Die Rücksichtslosigkeit, mit der sie bisher vorgegangen waren, sprach eindeutig dafür. Der Erholungs- und Freizeitpark an der
Oberfläche, der zu gleichen Teilen als Tarnung, Einnahmequelle und Reservoir für Gedankenmuster diente, lag längst in Schutt und Asche. Das Rasseln von Panzerketten dröhnte durch das auseinander klaffende Hangarschott in die Tiefe. Ab und zu gab es noch Explosionen, doch der Widerstand war längst gebrochen. Sie waren die Letzten, und hier unten saßen sie wirklich in der Falle. Crow hatte gute Arbeit geleistet, das musste Takeo ihm zugestehen. Die umprogrammierten RoCops hatten gnadenlos jede Schwachstelle im Verteidigungssystem aufgespürt und bloßgelegt. Zwei extra lange Fluchttunnel waren gleich zu Beginn des Angriffs durch Haftladungen gesprengt worden. Ein Entkommen war nicht mehr möglich, sie saßen wie Ratzen in der Falle. Weitere Sprengungen sorgten dafür, dass sie sich nicht einigeln konnten. Allein der offene Hangar bot ein Einfalltor, das sich nicht blockieren ließ. Crow brauchte nur einen der Großraumgleiter herabzuschicken. Dessen Bugkanonen reichten aus, um jede Barrikade fortzufegen, die sich innerhalb so kurzer Zeit aufbauen ließ. Und für umfangreiche Maßnahmen fehlte die Zeit. Crow setzte sie nicht umsonst unter Druck. »Takeo! Ich geben Ihnen fünf Minuten, um in den Hangar zu kommen und bedingungslos die Waffen zu strecken. Danach greife ich zum äußersten Mittel.« Der Lautsprecher, den vorrückende Soldaten direkt vor dem zerfetzten Hallentor positioniert hatten, machte seinem Namen alle Ehre. Er beschallte nicht nur den Hauptgang, sondern den gesamten unterirdischen Komplex. »Die Zeit läuft! Jetzt sind es nur noch vier Minuten und fünfundvierzig Sekunden!« RoCop Seventeen, einer der letzten voll funktionstüchtigen Getreuen, trat von hinten heran und blickte über die provisorische Barrikade aus verbogenen Stahltüren. »Die
Reservekammer ist offen«, berichtete er, »doch die eingelagerte Hundertschaft ist nicht einsatzfähig.« Takeo hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem wandte er neugierig den Kopf. »Die Hauptprozessoren wurden entfernt«, berichtete Seventeen weiter. »Entsprechende Ersatzteile sind nirgendwo aufzutreiben. Wir könnten welche aus beschädigten Einheiten entnehmen und umbauen, aber das kann Stunden dauern.« »Die haben wir nicht«, entgegnete Takeo, obwohl er dem Roboter keine Rechenschaft schuldig war, »In Werkstatt IV gibt es noch zwei intakte Kleingleiter«, zählte Seventeen ungerührt auf. »Einer ist repariert, bei dem anderen nur der Windschutz defekt.« Takeo dachte kurz an den Ausbruchversuch einiger Doppelsitzer, der vor wenigen Minuten gescheitert war. Da die Frequenzen nicht mehr gestört wurden, hatte er mit anhören können, wie sie von Panzern und Großraumgleitern zusammengeschossen wurden. »Nutzt alles nichts«, sagte er nur. »Unsere Strukturen sind zerschlagen. Alles was ich noch entscheiden kann, ist, ob ich mich ergeben soll oder alles dem Untergang weihe.« Seventeen blieb die Antwort darauf schuldig. Er und die übrigen RoCops, die noch in Takeos Diensten standen, würden jede Entscheidung so nehmen, wie sie kam. Sie besaßen keinen eigenen Willen. Sie waren Maschinen, keine Menschen. Wäre es nur um sie gegangen, hätte Takeo sofort den Freitod gewählt. Über die Löschung seiner eigenen Gehirnwellenmuster durfte er verfügen, wie es ihm beliebte, das war seine feste Überzeugung. Und ehe er all das, was hier aufgebaut war, einer Macht wie dem Weltrat in die Hände legte, wollte er lieber in einem Inferno untergehen. Doch es gab hier unten nicht nur die RoCops und ihn, sondern auch noch Menschen. Techniker und Bedienstete, die
ihm seit Jahren treu dienten und nun verletzt am Boden lagen. Oder aber, irgendwo mit einer Waffe verschanzt, verzweifelt um ihr Leben bangten. So wie Ricoo, ein gut ausgebildeter Mechico, der sein Barbarendasein längst abgestreift hatte. So sehr, dass er nun, am ganzen Körper bebend, hinter der Barrikade hockte, eine Tak 02 auf die offene Halle gerichtet, dazu bereit, auf jeden Weltrat-Soldaten zu schießen, der sich aus der Deckung wagte. Angesichts der Zerbrechlichkeit des menschlichen Körper war Ricoos Angst nur zu verständlich. Eine einzige Kugel mochte schon reichen, ihn zu töten. Von den Schmerzen einer Verletzung ganz abgesehen. Takeo zählte über dreißig Einschläge in seiner eigenen Panzerung, und er fühlte nichts dabei. Nur eine alte Ahnung menschlichen Zorns über die bevorstehende Niederlage. »Noch zwei Minuten und dreißig Sekunden, Takeo. Jetzt wird es langsam eng für Sie.« »Seventeen«, wandte er sich an den RoCop neben ihn. »Nimm jeden mit, der laufen kann, und zerstöre die kybernetische Hardware der Reserveeinheiten. Danach kümmert ihr euch um die U-Man Produktion. Dem Weltrat darf nur so wenig wie möglich in die Hände fallen.« »Zu Befehl.« Der RoCop drehte herum und wollte los marschieren. »Und, Seventeen«, hielt ihn Takeo zurück. »Wenn Crows Soldaten kommen, zerstörst du deine eigene Hardware. Verstanden?« »Befehl verstanden«, wiederholte der Roboter, bevor er sich, begleitete von den übrigen Einheiten, auf den Weg machte. »Sobald ich im Hangar verschwinde, werfen sie die Waffen weg und leisten keinen Widerstand mehr«, wandte sich Takeo danach an Ricoo und die anderen Menschen. Zwei, drei erleichterte Stoßseufzer, mehr Antworten erhielt
er darauf nicht. »Noch zwei Minuten!« Die Zeit wurde knapp, deshalb räumte er eine im Wege liegende Stahltür einfach zur Seite und ging auf die Halle zu. Selbst mit seinen künstlichen Augen konnte er anfangs keinen Gegner ausmachen, erst als er den Hangar betrat, lugten grün gespritzte Helme hinter ihren Deckungen hervor. »Kommen Sie näher!«, forderte Crow, inzwischen ohne Mikrofon. Er selbst war nicht zu sehen, dafür gut zwei Dutzend mit Granatwerfern ausgerüstete Soldaten, die das Schott rundum säumten. »Weiter gehen!«, dirigierte nun ein Soldat mit den Rangabzeichen eines Sergeanten. »Stellen Sie sich genau in die Mitte, damit wir Sie von allen Seiten sehen können. Ja, ruhig direkt auf die Plane, die da herumliegt. Das passt perfekt.« Miki Takeo rechnete mit allem, als er der Aufforderung nachkam. Er rechnete sogar damit, dass Crow ihn auf der Stelle eliminieren ließ. Womit er jedoch überhaupt nicht rechnete, war die Stahlplatte unter der grünen Plane, die unter Strom gesetzt wurde. Die plötzliche Entladung, die seinen Körper durchzuckte, ließ ihn umgehend in die Knie brechen. Die Wucht des Aufpralls riss die verschmorende Plane auseinander. Seine Geruchsrezeptoren analysierten einen übelriechenden Gestank, der gesundheitsschädigende Substanzen enthielt. Weitere Spannungsbögen liefen an ihm empor und gleißten über seinen Kopf hinaus. Wieder und wieder setzten sie die hohen Spannungsmengen ein, doch seine ausgeklügelte Abschirmung verhinderte eine Überlastung der Systeme. Die Energieströme lähmten ihn zwar, vermochten Takeo jedoch nicht außer Gefecht zu setzen. Das war auch nicht nötig. Denn noch während ihn die Entladungen schüttelten, liefen Infanteristen mit Lasergewehren heran, die aus nächster Nähe in seine Oberarme
schossen. Erbarmungslos hielten sie drauf. Brannten ihm dicke Löcher in die Panzerung, bis sie auf die Gelenke stießen und sie zerschmolzen. Erst nachdem beide Arme funktionsunfähig an seinem Körper herunter hingen, ebbten die Stromstöße ab. In einer stinkenden Qualmwolke kniend, konnte Takeo nur noch hilflos verfolgen, wie Crows Elitetruppen in den Bunker vorrückten. Falls noch jemand Schüsse erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Die letzten Überlebenden streckten, wie befohlen, kampflos die Waffen, Sobald für die umliegenden Bereiche Sicherheit erklärt wurde, wagte sich auch Crow aus seiner Deckung. Einen kalte Zigarrenstummel im Mundwinkel, sah er von oben auf Takeo herab. Die aufsteigende Sonne umgab seine Konturen mit unheiligem Glanz. »Freut mich, dass Sie noch zur Vernunft gekommen sind, Takeo«, verkündete er ohne eine Spur von Humor in der Stimme. »Hätte mir wirklich Leid getan, Sie völlig zerstören zu müssen. Schließlich haben Sie mal meiner Tochter das Leben gerettet.« * T-Day, 07:30 Uhr »Bist du sicher, dass Crow dahinter steckt?« Atmosphärische Störungen überlagerten Naokis Stimme, trotzdem war zu hören, dass ihre Frage eher aus Entsetzen denn aus Unglauben geboren wurde. »Um sicher zu gehen, muss ich mich erst vor Ort umsehen«, erklärte Aiko geduldig. »Aber ich zweifle nicht am Wahrheitsgehalt der Meldungen. Deshalb hielt ich es für richtig, euch vorzuwarnen, solange die ISS günstig steht. Möglicherweise hat Amarillo ebenfalls einen Angriff zu
erwarten.« Bedrückt sah er nach Westen, zu den Beverly Hills, hinter denen das Valley mit der Enklave lag. Doch obwohl er auf einem der höchsten Gebäude von El'ay, dem einstigen Arco Plaza stand, konnte er keinen Rauch am Horizont ausmachen. Kanonendonner war ebenfalls nicht zu hören. Aber auf diese Entfernung wäre das auch sehr unwahrscheinlich gewesen. Suno, die neben ihm stand, zog ein mitfühlendes Gesicht. Eine Geste, die er ihr abnahm. Sie hatte selbst Familienmitglieder im Kampf gegen den Weltrat verloren. Fudoh, wieder mit seiner Eisenmaske versehen, ließ keine Gefühle erkennen. Dass er mit aufs Dach gekommen war, um das Gespräch zu verfolgen, sagte jedoch einiges über seine Anteilnahme aus. »Ich glaube nicht, dass Crow genügend Truppen für einen Kampf an zwei Fronten besitzt«, antwortete Naoki mit einigen Sekunden Verzögerung, die durch den Umweg über das Relais zustande kamen. »Aber wir werden uns selbstverständlich auf alles vorbereiten. Nicht auszudenken, wenn die WCA in den Besitz von Mikis Depots gelangt! Spätestens dann hätten sie die Möglichkeit, uns im offenen Kampf zu schlagen.« Bei diesen Worten lief ein Zittern durch Fudohs Körper. Mit schwerfälligen Bewegungen stapfte er auf den Gleiter zu, an dem Aiko lehnte. »Dies ist die Zeit, um zusammen gegen den Weltrat zu stehen«, drang es unter seiner Maske hervor. »Ich bin bereit, meine Schattenkrieger auszusenden. Denn der Angriff auf die Enklave bedroht nicht nur Takeo, sondern alle freien Gemeinschaften von Meeraka.« Aiko bedankte sich für das Angebot und übermittelte es an seine Mutter. Danach schärfte er ihr noch ein, Verbindung mit den eureeschen Communities aufzunehmen, um auf diplomatischem Wege zu intervenieren. Zum Schluss überlegte er, Honeybutt einen Gruß zu bestellen, empfand das angesichts
der Situation aber als unpassend und unterließ es deshalb. Als er das ISS-Funkgerät wieder in der Beintasche verstaute, gab sich Fudoh verwundert, weil er nicht selbst mit den britischen und russischen Technos Kontakt aufnahm. »Direkte Gespräche mit Euree sind nur von der Ostküste aus möglich«, klärte Aiko ihn auf. »El'ay, ja selbst Amarillo liegen zu weit von Euree entfernt, als dass die Raumstation an irgendeinem Punkt der Umkreisung beide Seiten direkt verbinden könnte. Wir können deshalb nur eine Nachricht auf ihrem Server hinterlassen, die von unseren Verbündeten abgehört wird. Sie werden dann das Gleiche tun, und wir können die Botschaft abrufen, sobald die ISS bei der nächsten Runde wieder in unsere Reichweite kommt.« »Nun, solange können wir auf keinen Fall warten«, sagte Fudoh bestimmt. »Wir sind also auf uns allein gestellt.« Aiko nickte. »Bevor wir einen Plan erdenken, müssen wir erst mal die Lage sondieren.« Er warf einen begehrlichen Blick auf den Vordersitz seines Gleiters. »Und zwar ohne Zeit zu verlieren.« Fudoh las in ihm wie in einem offenen Buch. »Du willst versuchen, deinen Vater zu retten?« Aiko bejahte. »Gut. Suno wird dich begleiten. Meine Schattenkrieger, die in den Beverly Hills wachen, sind bereits auf dem Weg ins Valley. Sie werden euch bei dem Unternehmen so gut wie möglich unterstützen.« Die Ninja reagierte sofort, ohne dass Fudoh ein weiteres Wort verlieren musste. Aus einer verborgenen Seitentasche ihres schwarzen Gewandes zog sie ein langes Tuch hervor, das sie um ihre langen Haare schlang, die vollständig darunter verschwanden. Die beiden Enden führte sie zweimal um die untere Gesichtshälfte, sodass nur noch Augen und Nase frei blieben, und verknotete sie dann im Nacken miteinander. Danach machte sie Anstalten, auf den Rücksitz des Gleiters zu steigen, doch Aiko hielt sie zurück.
»Das könnte ein sehr gefährliches Unternehmen werden«, warnte er. »Ich weiß nicht, ob ich diese Hilfe annehmen kann.« »Du musst«, bekräftigte Fudoh in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Dein Vater und ich haben unsere Kooperation in den vergangenen Monaten intensiviert. Er befindet sich im Besitz sensibler Daten, die nur in unseren Köpfen abgespeichert sind.« Er tippte auf Schläfenhöhe gegen seinen Helm. »Wenn es Crow gelingt, Takeos GedächtnisEngramme zu lesen, wäre das eine Katastrophe für uns alle. Der General darf ihn auf keinen Fall in seiner Gewalt behalten, versteht du?« Sein Blick galt dabei eher Suno als Aiko, und die Ninja nickte unmerklich. Der Cyborg gab schließlich nach. »Gut, ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst. Außerdem kann ich jede Hilfe gebrauchen.« Mit einer auffordernden Geste bedeutete er Suno hinten Platz zu nehmen. Er selbst schwang sich auf den Vordersitz, aktivierte das Antigravitationssystem und flog auf direktem Wege in die Berge. Dem Valley entgegen. * T-Day, 07:58 Uhr Dem furchtbaren Kampflärm folgte eine Zeit der Stille, die noch viel stärker an den Nerven zerrte als das Hämmern der Sturmgewehre. Beiden Hände ineinander gefaltet, durchlebte Dayna DeLano wahre Höllenqualen. Obwohl sie eine recht klare Vorstellung davon hatte, wie die Schlacht ausgegangen war – oder besser, wie sie nach Lage der Dinge ausgegangen sein musste –, blieb doch ein letzter Rest von Unsicherheit, der sich nicht vertreiben ließ. Das Gesicht über und über mit Schweiß bedeckt, saß sie verkrampft auf dem Bett und wartete darauf, dass die Gewinner
von sich hören ließen. Für den Fall, dass Takeo anklopfte, würde sie einfach die WCA-Uniform wieder ausziehen, den Bademantel überstreifen und behaupten, dass sie das Blut ihrer Feinde abduschen musste. Doch so weit kam es nicht. Die Stimmen, die schließlich hörbar wurden, stammten eindeutig aus militärisch gedrillten Kehlen. Dayna kannte den Jargon, sie hatte lange genug mit ihm gelebt. Ab und zu fielen Schüsse, ohne dass anschließend Schreie laut wurden. Ein Zeichen dafür, dass die Truppe reichlich übermotiviert war. »Rauskommen!«, erklang es zwei Quartiere weiter, obwohl dort garantiert niemand saß. »Mit erhobenen Händen! Widerstand ist zwecklos! Letzte Aufforderung! Rauskommen, oder wir kommen rein!« Um nicht aus Versehen über den Haufen geschossen zu werden, nur weil einer am Abzug spielte, ergriff Dayna die Initiative. Mit zwei langen Sätzen sprang sie an das Schott, das sie selbst versiegelt hatte, und hämmerte mit der flachen Hand dagegen. »Hierher, Kameraden!«, brüllte sie aus Leibeskräften. »Hier bin ich gefangen!« Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Hastige Schritte wurden laut und stoppten direkt vor ihrer Tür. »Wer spricht da? Identifizieren Sie sich!« »Major Dayna DeLano!«, rief sie zurück. »Angehörige der WCA und seit zwei Jahren Takeos Gefangene. Endlich kommt jemand, um mich zu befreien.« Die Überraschung, die sie damit auslöste, drang selbst durch die geschlossene Tür. Mehr als einzelne Gesprächsfetzen konnte sie jedoch nicht verstehen. »Macht doch die Tür auf!«, drängte sie, um die Kameraden unter Druck zu setzen. Je weniger die nachdachten, umso besser. »Ich will endlich hier raus.«
»In Ordnung, Major. Treten Sie zurück.« Dayna tat, wie ihr geheißen. Mit schnellen Schritten eilte sie in die hinterste Ecke des Quartiers und beobachtete von dort aus, wie das Schott in Höhe der Verriegelung zu glühen begann. Die Soldaten setzten ihre Lasergewehre ein, um die Tür aufzuschweißen. Unter der Hitzeentwicklung platzte zuerst die Farbe ab, dann lief das Metall weiß an. Dayna spürte den Temperaturanstieg durchs ganze Zimmer. Als die Verriegelung endlich schmolz, stemmten sich von außen mehrere Hände gegen die Gleittür und schoben sie von Hand auf. Das Erste, was durch den rasch breiter werdenden Spalt herein lugte, war die Mündung eines Gewehrs. Das nächste ein kantiger Schädel, der von kurzen blonden Haaren bedeckt wurde. Das Schicksal hatte Dayna schon oft übel mitgespielt. Nicht nur wegen des posthypnotischen Befehls der Running Men und der anschließenden Gehirnwäsche. Auch vorher war vieles schief gegangen. Meist fiel sie auf die falschen Männer herein, und lief ihr doch mal der Richtige über den Weg, ließ der sie garantiert abblitzen. Matthew Drax zum Beispiel. Doch dieses eine Mal hatte Dayna einfach Glück. Sie kannte das Gesicht, das sich oberhalb der Gewehrmündung abzeichnete. Es gehörte Dawson Lancaster, einem Lieutenant, dessen Weg sie schon mehrmals dienstlich und privat gekreuzt hatte und von dem sie wusste, dass er ihr zugetan war. Sie wartete, bis ein freudiges Erkennen in seinem Gesicht aufleuchtete, dann stürmte sie los und sprang ihm an den Hals. »Dawson, ausgerechnet du!«, freute sie sich. »Ich dachte schon, ich sehe keinen von euch mehr wieder.« Sie bedeckte sein Gesicht mit feuchten Küssen und presste sich so eng an ihn, das ihr die Brüste schmerzten. Sie gab alles, was sie hatte, und das zeigte Wirkung. »Wow, Dayna, mach mal halblang.« Sein Gesicht rötete
sich vor Stolz. »Ich habe dich ja nicht alleine gefunden.« Ein wenig aus dem Konzept gebracht, wedelte er mit der freien Hand, um auf drei Soldaten aufmerksam zu machen, die die ganze Szene mit breitem Grinsen verfolgten. »Hey, Chief. Sie haben uns gar nicht erzählt, dass Sie eine Freundin bei den Androiden haben!«, witzelte einer. »Was? Quatsch!«, brauste Lancaster auf und zog sie schützend an sich. »Das ist Major DeLano. Sie hat schon für die Sicherheit in Waashton gesorgt, als ihr alle noch in den Windeln lagt.« »Hey, mach mich nicht älter als ichbin«, protestierte sie, was für weiteres Gelächter sorgte. Die Stimmung gelöst, das Misstrauen eingeschläfert. Alles lief nach Plan. Niemand stellte in Frage, dass sie eine Gefangene war. So sollte es auch bleiben. Sichtlich zufrieden mit sich und seinem Fund löste sich Lancaster aus ihrer Umarmung und sah sie von oben bis unten an. Was er sah, gefiel ihm offensichtlich. Vielleicht war er auch nur schon zu lange im Feld oder vergaß ganz einfach, dass sie die Beknackte mit dem ausgebrannten Gehirn war. Seine Freude schien auf jeden Fall echt. »Das müssen wir sofort dem General melden«, erklärte er und zog sie mit sich. Als sich seine Untergebenen anschließen wollten, scheuchte er sie zurück und befahl, weiter den Trakt zu durchsuchen. Schmollend kamen sie dem Befehl nach, während Lancaster alleine mit Dayna davon zog. * Der Weg durch die unterirdischen Anlage war der reinste Albtraum. Der Kampf hatte überall Spuren hinterlassen. Tausende leerer Hülsen, aber auch Betonbrocken und abgeprallte Kugeln säumten den Weg. Die Überreste
zerschossener RoCops häuften sich mancherorts derart, dass sie den Weg versperrten. Und dann gab es da auch noch Blut. An den Wänden und auf dem Boden. Sowie die Leichen, die es vergossen hatten. Während der ganzen Zeit redete Lancaster unentwegt auf sie ein. Dayna, die sich vollkommen unwissendhinsichtlich der strategischen Lage gab, bestärkte ihn in seinem Redefluss, indem sie an den richtigen Stellen nickte oder kurze Fragen stellte. »Es ist euch gelungen, die RoCops zu manipulieren?«, staunte sie zwischendurch. »Das ist ja phantastisch!« »Dank der Killer-Androiden, die uns Takeo auf den Hals geschickt hat«, bestätigte der Lieutenant. »So ein Idiot. Wir haben die Dinger zwar in Stücke geschossen, aber das, was von ihnen übrig blieb, hat unseren Wissenschaftlern trotzdem auf die Sprünge geholfen.« »Aber woher wissen denn die manipulierten RoCops, wer auf welcher Seite steht. Die bei Takeo verblieben sind, wussten es ja auch nicht.« Lancaster grinste mit der Zufriedenheit eines Mannes, der die passende Antwort parat hatte. »Die Roboter, die von uns umgedreht wurden, senden alle einen bestimmten Code aus, der sie untereinander kenntlich macht. Wir wurden auch damit ausgerüstet, damit es im Eifer des Gefechtes zu keinen Verwechslungen kommt.« Lancaster zeigte den Minisender und versprach sogleich, ihr auch einen zu besorgen. Nahe des Hangars, wo Crows Mannen die einzigen nennenswerten Verluste hinnehmen mussten, fischte er tatsächlich einen Sender aus der Tasche eines Toten, der ihn nicht mehr brauchte. »Hier.« Er zwinkerte verschwörerisch. »Bis dir ein offizieller zugeteilt wird.« Die Soldaten, die ihnen unterwegs begegneten, beachteten sie kaum. Nur wenn sie nach dem General fragten, ruckten die Köpfe herum. Nach einiger Fragerei an den falschen Stellen
erhielten sie endlich den Hinweis, das Crow einige Laboratorien in einem tiefer liegenden Stockwerk besichtigte. Dayna erfasste schnell, das es sich um die Brutstätten der UMen handeln musste, überließ Lancaster aber weiterhin die Führung. Als sie wieder aus dem Fahrstuhl stiegen, drang scharfer Brandgeruch in ihre Nasen. Der Gestank verstärkte sich, je näher sie dem betreffenden Trakt kamen. An den Türen wurden sie zum ersten Mal aufgehalten. Soldaten der 101. überprüften Lancasters Papiere. Nachdem er die Geschichte von Daynas Befreiung erzählt hatte, ließ man sie jedoch, in Begleitung zweier Corporals, passieren. Im Inneren der weitläufigen Halle fiel zuerst ein halbes Dutzend RoCops mit ausgeglühten Schädeln auf. Danach die Brandschäden an einigen Becken, in denen käfergroße Miniaturroboter organisches Gewebe auf Titaniumskelette auftrugen. Einige der Prototypen waren durch die Sabotage in Mitleidenschaft gezogen worden oder gänzlich zu Asche verbrannt. Andere sahen weiter ihrer Vollendung entgegen, und für fachlich versierte Wissenschaftler sollte es kein Problem sein, aus den vorhandenen Puzzlestücken ein zusammenhängendes Bild zu schaffen. Das Gesicht in höchster Konzentration angespannt, stand Arthur Crow inmitten des Chaos und verfolgte, wie eine der humanoiden Formen immer mehr Gestalt annahm. Als er die Neuankömmlinge bemerkte und aufsah, gestattete er sich einen der seltenen Momente offener Überraschung, hatte seine Miene aber Sekunden später schon wieder fest im Griff. »Major DeLano«, grüßte er förmlich. »Das ist aber eine Überraschung. Wir dachten alle, Sie wären tot.« Ein Hauch von Enttäuschung schwang in seinen Worten mit. Dayna beschloss dieses Affront zu ignorieren. »Nein, ich bin dem Massaker an Dinter und den anderen Wissenschaftlern entgangen«, erklärte sie beflissen. »Mich hat
Takeo dagegen in Einzelhaft gesteckt. Seit zwei Jahren versauere ich hier nun schon. Sie können sich vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue, endlich wieder meine Freiheit genießen zu können.« Arthur Crow musterte sie schweigend, wie ein Pokerspieler den anderen, in der Hoffnung auf eine winzige Regung, die Aufschluss über das Blatt gab. Dayna hielt dem durchdringenden Blick stand, bis in ihrem Nacken dicke Schweißperlen aufquollen und ihr den Rücken herunter liefen. Sie wusste, dass Crow immer noch die Doppelagentin in ihr sah und ihr deshalb misstraute. Andererseits hatte sie eine von ihm angeordnete Konditionierung hinter sich. Als er nichts fand, das auf den ersten Blick gegen sie sprach, begnadigte er sie mit einem Kopfnicken. »In Ordnung, Lancaster«, brummte er mürrisch. »Kümmern Sie sich um das verlorene Kind. Bringen Sie ihr behutsam bei, was in den letzten Jahren alles geschehen ist. Und sorgen Sie vor allem für einen Gesundheitscheck. Zu ihrer Vorsorge, und um sicher zu gehen, das uns Takeo keinen Killer-Androiden unterjubelt.« Dass ihr Crow gerade einen Aufpasser und keinen Betreuer verpasst hatte, schien dem Lieutenant nicht richtig aufzugehen. Unbewusst sah er auf Daynas Brüste, die sich knapp zwanzig Minuten vorher an ihn gepresst hatten, und schüttelte den Kopf, sichtlich überzeugt, keinem Androiden aufgesessen zu sein. »Sicher gehen?«, fragte er erstaunt. »Wie stellen Sie sich das vor, Sir?« »Was weiß ich«, gab der General zurück, der längst wieder auf die Bassins starrte. »Pieksen sie ihr eine Nadel in den Finger, oder sonst irgendwas.« *
T-Day, 08:34 Uhr »Jetzt zufrieden?« Dayna lächelte belustigt, während sie den Ärmel vorsichtig über das Pflaster in der Armbeuge hinweg schob. Der Sanitäter, der ihr die Blutprobe abgenommen hatte, wusste nichts Rechtes mit der Bemerkung anzufangen. Dawson Lancaster errötete jedoch. »Präsident Crows Misstrauen ist leider verständlich«, setzte er zu einer Erklärung an. »Während deiner Gefangenschaft hat es einen Infiltrationsversuch gegeben.« Der Sanitäter, der auch ihr Herz abgehört und die Mandeln inspiziert hatte, kehrte mit einem elektronischen Pad zurück. »So, nur noch eine kleine Unterschrift, dann sind wir mit allem durch«, versprach er. »Die Blutuntersuchung nimmt einer der Ärzte vor, aber es kann noch Stunden dauern, bis die Zeit haben.« Angesichts der Verwundeten, die im benachbarten Feldlazarett versorgt wurden, hielt Dayna das für eine sehr optimistische Prognose, doch sie enthielt sich eines Kommentars. »So weit ich das beurteilen kann, befinden Sie sich in guter körperlicher und seelischer Verfassung«, fuhr der Corporal fort. »Es gibt keinen Grund, Sie stationär aufzunehmen. Es sei denn, Sie fühlen sich nicht wohl, Major.« »Nein danke, mir geht es gut«, lehnte Dayna freundlich ab. »Geben Sie die Betten lieber den Kameraden, die sie wirklich brauchen.« Der Sanitäter hatte keine andere Antwort erwartet. Nach einem letzten kurzen Gruß eilte er aus dem Behandlungszelt, um wichtigeren Aufgaben nachzugehen. Dayna und Dawson traten ebenfalls nach draußen. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine Trage mit einem Verwundeten in das mobile OP gleich nebenan geschafft wurde. Der halbwegs antiseptische Bereich bestand aus zwei nebeneinander geparkten Sanitätsfahrzeugen, die mit einer großen, speziell
zugeschnittenen Plane abgedeckt waren. Das Stöhnen und Wimmern der Verletzten wurde nur unzureichend durch die Eingangsplane gedämpft. Bei der Erstürmung des Hangars und einigen weiteren Scharmützeln war es zu Verlusten gekommen. Nicht weit vom Verbandsplatz entfernt stapelten sich die Toten in schwarzen Leichensäcken. Dayna zählte achtzehn Stück. Achtzehn. Aus Sicht der Angehörigen in Waashton mochten das viele sein, doch wenn man die Zivilisten bedachte, deren Blut überall zwischen den Granattrichtern versickerte, waren es geradezu lächerlich wenig. Niemand machte sich die Mühe, Takeos tote Anhänger beiseite zu räumen. Über dem Schlachtfeld sammelten sich bereits erste Fleggen in Erwartung eines opulenten Mahles. Obwohl aus der Sicht des Weltrats alles glatt verlaufen war, gab es viele Opfer zu beklagen. Zu viele Opfer. Dayna wollte kein Opfer mehr sein. »Takeo hatte einen unserer Kommandotrupps komplett gegen Androiden ausgetauscht, die ihren Vorbildern bis aufs Haar glichen«, nahm Lancaster den Gesprächsfaden wieder auf. »Ihr Auftrag lautete, Präsident Hymes zu töten. Wusstest du das?« Sie gab sich gebührend erschrocken, um zu unterstreichen, wie wenig sie von den Aktivitäten der Enklave wusste. Das gab ihr die Chance, sich in Schweigen zu hüllen, und hielt Lancasters Redefluss am Leben. Während er noch wegen des Attentats auf Onkel Victor herumdruckste, prägte Dayna sich die Umgebung ein. Der Hangar und einige Aufzugsschächte bildeten den Mittelpunkt der Stellung. Rings um die niedergebrannten Gebäuden reihte sich ein Kreis aus Panzern, deren Kanonen aufs freie Feld zeigten. Im Inneren des Verteidigungsringes lagen Sanitätsbereich und Leitstelle. Außerdem ein von RoCops bewachtes Zelt, das eindeutig dem Geheimdienst
zuzuordnen war. Die Organisation entsprach den üblichen Standards, nur eine dampfende Feldküche fehlte. Die Heeresführung richtete sich nicht auf einen langen Aufenthalt ein. Dafür sprach auch die Eile, mit der Computer, Laboreinrichtungen und defekte RoCops verladen wurden. Sämtliche Soldaten und Agenten, die nicht das Gelände absicherten, schlachteten unter Hochdruck Takeos Bunker aus. Die erbeuteten Großraumgleiter dienten dabei als zusätzliche Transporter. Der Anblick der schwitzenden Männer und Frauen, die ein Beutestück nach dem anderen verluden, zeigte deutlich, dass dieser Feldzug vor allem der Plünderung von Ressourcen diente. »Senator Gerner wurde wegen Mordes in Tateinheit mit Landesverrat zu dreimal Lebenslänglich verurteilt«, erzählte Lancaster gerade. »Das Gericht befand eine besonders schwere Schuld, weil er die Tat trotz der drückenden Indizien standhaft weiter leugnet.« »Takeos feiger Attentatsversuch schuf erst das Machtvakuum für Gerners Tat«, analysierte Dayna. »Dieser verdammt Androide ist an allem Schuld.« »Da ist was dran.« Der Sergeant nickte beflissen. »Aber nun sind wir ja hier, um seine Macht zu brechen.« Dayna ließ ein dankbares Lächeln aufblitzen, bevor sie fragte: »Wo steckt Takeo eigentlich?« Wie erwartet, deutete Lancaster auf das Zelt mit den RoCop-Wächtern. »In der Obhut der WCA«, sagte er. »Aber ich glaube nicht, dass ihm mit normalen Verhörmethoden beizukommen ist. Der ist ein Fall für die Elektriker.« Statt zu antworten, legte Dayna eine Hand auf den Bauch. Sobald ihr Begleiter auf die Geste aufmerksam wurde, zog sie ein entschuldigendes Gesicht und sagte: »Sorry, mein Magen knurrt. Normalerweise habe ich um diese Uhrzeit schon gefrühstückt. Gibt es irgendwo etwas zu essen?«
Lancaster reckte umständlich den Hals und sah sich nach allen Seiten um, bis ihm ebenfalls aufging, dass die Feldküche geschlossen war. »Ich könnte eine Notration an dich abtreten«, bot er an. »In dem Schützenpanzer unserer Einheit gibt es eine Mikrowelle.« Dayna zeigte sich gebührend begeistert, und so führte er sie auf dem schnellsten Wege zu der Fahrzeuggruppe der 212. An dem betreffenden Fahrzeug angekommen, tippte Lancaster den Tagescode in ein Zahlenschloss und öffnete die Heckklappe. Schon beim Einsteigen schlug Dayna eine Mischung aus Schweiß und anderen menschlichen Ausdünstungen entgegen. Gelbstichiges Licht überzog die komplette Inneneinrichtung mit künstlichem Glanz. Der Anblick der aneinander gedrängten Schalensessel weckte alte Erinnerungen. Sie hatte schon oft in solchen Panzern gesessen. Früher, in einem anderen Leben. Zwischen einigen leeren Gewehrhalterungen hing tatsächlich eine Mikrowelle. Rechts daneben, an der Rückwand zur Fahrerkabine, stand die Funkanlage. »Chilli, Baked Beans oder Spinatravioli?«, fragte Lancaster, über eine offene Transportbox gebeugt. Die gepanzerte Hecktür stand offen. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel herein, im Gegenzug gab es die Aussicht auf einen großen, mit Schlamm behafteten Plastiflexreifen. »Alles keine großen Leckereien, ich weiß«, entschuldigte er sich. »Aber das Chilli ist ganz anständig.« Fragend hielt er eine Aluschale in die Höhe. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Wieso?« Seine Mundwinkel sanken. »Hast du keinen Hunger mehr?« Dayna zog den Daumen der rechten Hand an und stieß sie in einer schnellen, ansatzlosen Bewegung vor. Vier ausgestreckte Finger bohrten sich direkt unter den Rippenbogen des Gegners, so wie sie es in der Ausbildung gelernt hatte. Dawson Lancaster gab einen gequälten Laut von sich. Die
Chilipackung entglitt seinen Händen. Röchelnd stolperte er zurück und fiel hin. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich mit den Händen abzustützen. Die Schmerzwellen, die seinen Körper schüttelten, mussten mörderisch sein. Trotzdem richtete er sich auf, um den Rücken gegen einen der Drehsessel zu lehnen. Er versuchte zu sprechen, brachte aber nur unartikulierte Laute hervor. Sein Ausdruck völligen Unverständnisses zeigte ohnehin mehr, als sich in Worte fassen ließ. Obwohl es so aussah, als ob er sich gleich übergeben würde, trat Dayna auf ihn zu. »Tut mir wirklich Leid, dass ich dich niederschlagen muss«, präzisierte sie. Ehe Lancaster richtig begriff, hieb sie ihm auch schon die Handkante zwischen Schulter und Hals, genau auf den zentralen Nervenpunkt. Die Wirkung erfolgte sofort. Alle Muskeln erschlafft, kippte der Sergeant bewusstlos hinten über. Lange genug, um ihn in Ruhe zu fesseln und zu knebeln. * T-Day, 09:04 Uhr Auch mit seinen künstlich aufgewerteten Sehnerven konnte Aiko kaum die Fahrzeuge ausmachen, die sich um die rauchenden Trümmer der Enklave gruppierten. Ein einsam kreisender Großraumgleiter sicherte die Stellung der WeltratTruppen ab. Noch deutlicher ließ sich Takeos Niederlage nicht demonstrieren. Vorsichtig drehte er sich auf den Stiefelspitzen und sah zu Suno hinab, die einen Ast tiefer hockte. »Wird schwierig sein, ungesehen heran zu kommen«, sagte er halblaut, obwohl die gegnerische Front noch fünfzehn Kilometer entfernt lag. »Es gibt Lücken, durch die ein geschickter Krieger
schlüpfen kann«, entgegnete sie, gleichfalls in gedämpftem Tonfall. »Unsere Schatten ziehen den Ring bereits enger. Sie werden herausfinden, wo Takeo gefangen gehalten wird.« »Die sollen sich schön von ihm fernhalten«, warnte der Cyborg knurrend. Sunos Augenbrauen schoben sich aufeinander zu. Ob überrascht oder verärgert, ließ sich wegen der Maske nicht sagen. »Ich bin nicht so blöd wie ihr vielleicht glaubt«, erklärte er seinen Ausbruch. »Ich habe vorhin ganz genau verstanden, was Fudoh meinte. Er gab dir nicht den Befehl, meinen Vater zu retten, nein. Er sagte nur: ›Crow darf ihn nicht in seiner Gewalt behalten‹. Falls es also keine Chance zur Befreiung gibt, sollt ihr ihn eliminieren. Nur deshalb bist du dabei, richtig?« Der harte Glanz in Sunos Augen wich einem sanften Schimmer. »Nicht nur deshalb«, wehrte sie ab. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, ihn zu befreien, unterstütze ich dich so gut ich kann. Falls nicht, ist es aber für alle besser...« »Nein«, unterbrach er schroff. »Diese Option steht nicht zur Debatte. Wir finden einen Weg, koste es, was es wolle.« Mit dem aufwallenden Ärger kamen die Kopfschmerzen. Er versuchte sie zu ignorieren, um nicht aggressiver als nötig aufzutreten. »In das Lager der Feinde einzudringen wird nicht schwer sein«, antwortete die Ninja vollkommen ruhig. »Mit einem Gefangenen zu fliehen ist etwas ganz anderes.« »Bei Nacht wird es schon klappen.« »So viel Zeit haben wir nicht«, korrigierte sie. »Außerdem besitzt die WCA Nachtsichtgeräte und Wärmekameras.« Ein leises Piepsen unterbrach den Streit. Es stammte von der Funkanlage im Gleiter und meldete einen Funkruf auf einer von Fudoh genutzten Frequenz an. Aiko packte den Ast, auf dem er saß, und schwang sich in die Tiefe. Er wollte als Erster am Sender sein, um zu verhindern, dass Suno irgendwelche
geheimen Absprachen traf. Mit schnellen Sätzen überbrückte er die Distanz zu dem Doppelsitzer, den er im Schatten einiger Weiden geparkt hatte, um sie vor einer zufälligen Entdeckung aus der Luft zu schützen. »Ich rufe die Schatten«, klang es aus dem Äther, als er den Lautsprecher aktivierte. »Wenn mich Schattenkrieger empfangen können, dann meldet euch bitte.« Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sie sprach Englisch ohne jeden Akzent. »Hier Aiko Tsuyoshi«, antwortete er. »Dayna, sind Sie das?« Sekundenlang nur Knistern und Rauschen. Dann eine Stimme, die nach Miki Takeos Geburtsdatum fragte. Aiko nannte es. Ein Aufatmen erklang. »Aiko, so ein Glück. Ich habe nicht mal zu hoffen gewagt, dass Sie schon wieder in der Gegend sind. Hören Sie mir gut zu und unterbrechen Sie mich nicht. Ich glaube zwar nicht, dass die Frequenzen abgehört werden, aber wir dürfen nicht zu lange sprechen. Ich übermittle gleich eine Tonfolge im ultrafrequenten Bereich, die sie mitschneiden müssen. Es ist eine Freund-Feind-Kennung für die RoCops, die von Crow manipuliert wurden. Wenn sie diese Tonfolge dauerhaft aussenden, können sie unbemerkt anfliegen, denn der Gleiter, der über uns kreist, wird von RoCops geflogen.« Der Cyborg verstand nur die Hälfte von dem, was er da hörte, doch Dayna ließ ihm keine Zeit, um eine Frage zu stellen. Hastig beschrieb sie eine Fahrzeuggruppe, die er anfliegen sollte. Dann nannte sie eine Frequenz zur Übermittlung der Tonfolge. Als das Gespräch gleich darauf abbrach, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Sender zu wechseln und den Code über Bordcomputer aufzuzeichnen. Erst als alles reibungslos erledigt war, nahm er sich die Zeit, zu Suno aufzuschauen. Die Ninja sah ihn aus schmalen Augen an. »Das stinkt nach
einer Falle«, sagte sie. »Glaub ich nicht.« Aikos Finger flogen über die Tasten des Bordcomputers. Einige Programmschritte später formte er aus der empfangenen Aufnahme eine Dauerschleife, die sich aussenden ließ. »Dayna hat meinem Vater viel zu verdanken. » »Ich weiß, wer sie ist!« Obwohl das Mundtuch die Worte dämpfte, klang es wie das Zischen einer Schlange. »Diese DeLano gehörte dem WCA an.« Aiko zuckte mit den Schultern. »Du brauchst nicht mitzukommen, wenn dir das Risiko zu groß ist. Ich lasse mir diese Gelegenheit jedenfalls nicht entgehen.« Auf Seitenteil und Rückenlehne gestützt, schwang er sich in einer geschmeidigen Bewegung auf den Vordersitz. Den Gurt anzulegen und das Magnetkissen zu aktivieren dauerte nur Sekunden. Als er danach einen Blick über die Schulter warf, saß Suno bereits hinter ihm. Ganz so, als ob sie den Gleiter nie verlassen hätte. Aiko reizte die maximale Flughöhe bis zum Äußersten aus. In fünfzehn Metern Höhe, so tief wie möglich in die Sitze gerutscht, waren sie vom Boden aus kaum zu erkennen. Dort hielt man sie für patrouillierende RoCops und verließ sich ansonsten auf die Übersicht des Großraumgleiters, der über allem schwebte. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto größer wurde Aikos Nervosität. Was, wenn Dayna sich getäuscht hatte oder etwas bei der Übertragung verloren gegangen war? Obwohl er sich nach außen hin kühl gab, brodelte es in seinem Inneren. Als der Großraumgleiter nur noch drei Kilometer entfernt war, zoomte er das Cockpit näher heran. Der RoCop unter der transparenten Kunststoffkuppel hatte beide Hände am Lenkkranz und agierte mit bedächtigen Bewegungen. Nichts deutete darauf hin, dass er eine verdächtige Annäherung registrierte.
Die ausgestrahlte Freund-Feind-Kennung tat ihren Dienst. Seine Erleichterung verwandelte sich jedoch in eisigen Schrecken, als der Großraumgleiter plötzlich zur Landung ansetzte und dafür ein anderer aufstieg, der seinen Platz einnahm. »Was ist, wenn der jetzt von Menschen geflogen wird?«, brachte Suno laut zum Ausdruck, was auch ihm durch den Kopf ging. Aikos Nervosität verschwand von einer Sekunde auf die andere, als wäre in seinem Kopf ein Schalter umgelegt worden. Mit einer selten gespürten Klarheit wartete er die kommenden Entwicklungen ab. Bereit zu reagieren. Egal was auch passierte. Keine fünfzig Meter entfernt zog der Gleiter vorbei. Selbst Suno konnte mit bloßem Auge erkennen, das sich ein Metallkopf unter der Kanzelhaube abzeichnete. »Glück gehabt«, sagte sie aufatmend. Und ließ zum ersten Mal so etwas wie Nerven erkennen. »Das hat nichts mit Glück zu tun«, wiedersprach Aiko. »Die Soldaten besitzen keine Flugerfahrung. Nicht mal mit altertümlichen Flugzeugen, geschweige denn mit Magnetschwebegleitern.« Ein Blick in Richtung Hangar zeigte ihm, dass der gelandete Gleiter zurückbeordert wurde, weil er mit Material aus Takeos Bunkern beladen werden sollte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Aiko noch ein weiteres Modell, an dem sich zwei Weltrat-Agenten zu schaffen machten. Die Triebwerke heulten gerade auf, doch ohne stabiles Magnetkissen unterbrach die Schubübertragung automatisch. Noch spielten sie lediglich an den Kontrollen, doch es war nur eine der Frage der Zeit, bis sie ihren ersten Probeflug antraten. Die Zeit wurde langsam knapp. »Da vorne, halb links«, sagte Suno von hinten. »Zwei Geschützpanzer, die einen Radpanzer flankieren. Davor, die
Frau, das muss Dayna sein.« Aiko blickte Richtung elf Uhr und entdeckte die beschriebene Stelle. »Ja, das ist sie«, bestätigte er und setzte zur Landung an. Er sank in Sekundenschnelle ab, um den Blicken zufälliger Beobachter zu entgehen, und fing die Maschine erst kurz über dem Boden ab. Suno und er wurde kräftig durchgeschüttelt. Der Bauchgurt schnitt tief ein, die Ninja ramponierte sich obendrein einen Ellenbogen an der Seitenverkleidung. Solche Blessuren waren jedoch ein geringfügiges Übel angesichts der Konsequenzen, die ihnenbei einer Entdeckung drohten. Zwischen den Panzern und Radfahrzeugen der 212. setzte er auf. Am helllichten Tage, mitten im Feindesland. Manchmal war der direkte Weg auch der unauffälligste. Vor allem, wenn andere sich zu sehr auf die Perfektion der Technik verließen. Aiko deaktivierte das Antigravsystem. Der Gleiter sank ein weiteres Stück ab und setzte auf. Dayna schlüpfte zwischen zwei Fahrzeugen hindurch und schloss zu ihnen auf. Falls sie Sunos Anwesenheit überraschte, so verstand sie es geschickt, diesen Umstand zu verbergen. »General Fudoh reagiert schneller als ich dachte«, begrüßte sie die Ninja als erste. »Crow scheint ebenfalls mit Truppen aus El'ay zu rechnen. Er lässt in großer Eile alle technischen Gerätschaften aus dem Bunker schaffen. Uns bleibt wenig Zeit.« »Wie streng wird mein Vater bewacht?«, wollte Aiko wissen. »Zwei RoCops als Doppelposten vor dem Zelt. Drinnen zwei Verhörspezialisten. Die betreiben aber nur Geplänkel. Crow ordnet derzeit alles der Plünderung unter.« »Woher weißt du, wie viele Personen im Zelt sind?«, fragte Suno misstrauisch. »Weil ich nachgesehen habe«, konterte Dayna in leicht spitzem Ton, grinste dann aber verschwörerisch. »Die
ängstlichen WCA-Wissenschaftler haben es schlicht zu gut gemeint. Jeder, der die Kennung aussendet, ist für die RoCops tabu. Ich bin mitten zwischen ihnen durch und sie haben nicht mal einen Ton gesagt.« Während sie das erklärte, zog sie aus der Hemdtasche einen Minisender hervor, mit dem sie die permanente Freund-FeindKennung aussandte. »Sehr gut«, lobte Aiko. »Damit wissen wir schon mal, wo mein Vater ist. Aber wie holen wir ihn da raus, bevor man sich an seinen Gedächtnisinhalten zu schaffen macht?« Auch darüber hatte sich Dayna schon Gedanken gemacht. In raschen Worten erläuterte sie ihren Plan. Ein geradezu wahnwitziges Unternehmen, aber vielleicht gerade deshalb erfolgversprechend. Aiko nickte. Sie hatten ohnehin keine Zeit, sich etwas Besseres auszudenken. Jede Sekunde, die sie hier herumstanden, barg die Gefahr einer Entdeckung in sich. »Ich bin dafür«, sagte er, an Suno gewandt. »Was meinst du?« Er nahm das vermummte Gesicht der Ninja genau in Augenschein, denn schon das kleinste Zwinkern mochte einen Hinweis darauf geben, ob sie ihn unterstützen wollte oder nur auf eine Gelegenheit lauerte, Takeo zu zerstören. Suno hielt dem durchdringenden Blick mühelos stand. »Ich mache mit«, sagte sie und klang dabei ehrlich. »Die Chancen stehen nicht schlechter als bei anderen Aktionen. Mit der Unterstützung unserer Schattenkrieger könnte es klappen.« Daynas Miene verdüsterte sich. »Wir haben keine Zeit, um auf Verstärkung zu warten. Wir müssen sofort handeln.« »Das können wir auch.« Sunos Grinsen fiel so breit aus, dass es sich sogar unter dem schwarzen Stoff abzeichnete. »Die Schatten sind längst da.« Ehe Aiko und Dayna darauf antworten konnten, sagte die Ninja schon etwas auf japanisch und deutete auf einen nur fünf
Meter entfernten Punkt am Boden, gleich neben der Panzerkette. Auf das Zeichen hin erhob sich ein von Kopf bis Fuß in Tüchern gehüllter Asiate, der jedoch grün gefleckte Tarnfarben trug statt nachtschwarzen Stoff wie Suno. Ein Schwert auf dem Rücken, eine leichte Tak 02 in der Hand, verbeugte er sich und gelobte seine Bereitschaft zum Kampf. * T-Day, 09:42 Uhr Aiko räumte den eingesickerten Ninjas drei Minuten ein, um sich gegenseitig über die veränderte Lage zu verständigen, dann aktivierte er das Magnetfeld des Gleiters. Noch länger auszuharren wäre sträflicher Leichtsinn gewesen. Sergeant Lancaster, der inzwischen gefesselt und geknebelt in einem Transporter lag, wurde vielleicht bereits vermisst. Falls jemand auftauchte, um nach dem Rechten zu sehen, konnte es schnell knifflig werden. Das Überraschungsmoment war ihr größter Trumpf, den sie nicht leichtfertig aus der Hand geben durften. »Fertig?«, fragte er über die Schulter, während sich das Magnetkissen aufbaute. »Bin bereit«, antwortete Suno. »Und du kommst mit dem Armbruster klar?« »Natürlich.« Die Ninja ließ ein Lachen hören. »Waffen sind meine zweite Natur.« Zum Beweis ließ sie einen Phosphorpfeil in den Abschusskanal rollen und hielt den Armbruster, eine Mischung aus Druckluft-Armbrust und Blaster, in die Höhe. Aiko wusste die Waffe bei ihr in guten Händen. Außerdem war es wichtig, dass sie ihm den Rücken frei hielt. Mit einem entschlossenen Ruck zog er den Lenkkranz an den Körper und beschleunigte. Der schnittige Gleiter stieg zwischen den Fahrzeugen der 212. empor. Alle Sinne
angespannt, ging er auf zehn Meter Flughöhe und beschrieb einen Halbkreis, auf dessen Bahn nach vierhundert Metern zwangsläufig das Verhörzelt der WCA lag. Die beiden RoCops auf Doppelwache zeigten keinerlei Abwehrverhalten, während Aiko die Bugspitze neigte und direkt auf sie zu hielt. Von weitem hörte er einen Schützenpanzer anspringen. Dayna setzte sich in Marsch. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er fing den Gleiter einen Meter über dem Boden ab und fuhr die Buggeschütze aus. Die Tonschleife, die permanent über Ultrahochfrequenz ausgestrahlt wurde, zeigte weiter Wirkung. Selbst als er die ins Visier genommenen RoCops unter Feuer nahm. Die 20 mm-Geschosse schleuderten beide nach hinten, gegen die Zeltwand, die unter dem Aufprall eingerissen wurde. Aiko stoppte ab, zielte erneut. Weitere Salven hämmerten auf die Roboter ein und rissen sie förmlich in Stücke. Einer der Köpfe flog im hohen Bogen davon. Bei dem anderen klappte der Torso knapp unter der Brustlinie einfach vorn über. Im Zelt gellten Schreie. Die Weltrat-Agenten fürchteten um ihr Leben. Aiko lenkte über das Zelt hinweg. Das Magnetkissen drückte einige Querstangen ein, sodass die gesamte Konstruktion noch mehr in sich zusammenfiel. Erneut drosselte er die Geschwindigkeit, und Suno sandte den Phosphorpfeil in die Tiefe. Der chemische Zünder setzte die grünen Stoffwände in Brand. Das Geschrei der Verhörspezialisten schraubte sich weiter in die Höhe. Aiko wagte den ersten Blick in die Höhe, hinauf zu dem Großraumgleiter, der tatsächlich in der Luft verharrte und ihnen zugewandt war. Nach einigen endlos erscheinen Sekunden drehte der Pilot jedoch ab und begann wieder über der Stellung zu kreisen. Die Freundkennung stand höher als jeder andere Einfluss. Dem RoCop war es schlicht verboten,
gegen sie Front zu machen. Also setzte er die ursprüngliche Aufgabe einfach fort. Mit der kühlen Logik einer Maschine. Der Schützenpanzer war schon fast heran. Aiko schoss erneut. Zwei Garben wühlten sich links und rechts des Zeltes durch den Boden. Die beiden Verhörspezialisten stolperten ins Freie. Dayna wich gerade noch rechtzeitig aus. Sie brachte die Ketten auf einen Schlag zum Stehen. Ein harter Ruck ging durch das Fahrzeug, das den Fluchtweg für die WCA-Männer blockierte. Dayna zwängte sich durch ein rundes Deckenluk und feuerte mit dem aufgepflanzten MG in Richtung des Gleiter. Die Kugeln gingen gut zehn Meter daneben, trotzdem drehte Aiko ab. Gerade weit genug, um zu verfolgen, wie der Plan aufging. Irgendwo hinter ihm explodierte ein Fahrzeug. Kurze Salven im typischen Sound der Tak 02 erklangen. Fudohs Schattenkrieger starteten ihre Ablenkungsmanöver. »Sie wollen Takeo befreien!«, brüllte Dayna und feuerte weiter wild in die Luft. »Schnell, schafft ihn hier rein, da seid ihr in Sicherheit.« Über dieses Angebot dachten die Agenten nicht lange nach. Rasch zerrten sie Takeo aus dem Zelt und drängten ihn, mit in den Schützenpanzer zu steigen. Vielleicht hätten sie stutzig werden sollen, weil er bereitwillig mitkam, statt sich zu sträuben, aber die Furcht vor den Bugwaffen des Gleiters war stärker als jede Vernunft. Aiko sorgte noch für etwas Lärm, um sie zur Eile zu treiben, dann drehte er ab, um den Ninjas zu helfen, die Stellung aufzumischen. Und ihnen so den Rückzug zu ermöglichen. Mit hämmernden Kanonen fiel der Cyborg über herrenlose Fahrzeuggruppen her. Die Scheiben zersprangen unter den Einschlägen, Reservekanister und Motoren wurden durchlöchert.
Viele der rundum postierten Panzer drehten ihre Kanonen, doch auf so kurze Entfernung konnten sie nichts ausrichten, ohne die eigenen Leuten zu gefährden. Außerdem war der Gleiter viel zu wendig. Sie bekamen ihn gar nicht richtig ins Visier. Als dann auch noch eine panzerbrechende Rakete aus dem Umland heran raste und in einen der Tauchpanzer schlug, rotierten die Rohre erst mal allesamt zurück. »Es klappt!«, rief Suno. »Auf drei Uhr!« Sie hatte inzwischen die aeronautische Angewohnheit übernommen, Richtungen als Uhrzeiten anzugeben. Aiko sah über die rechte Seitenverkleidung hinweg. Tatsächlich: Dayna rauschte zwischen zwei Geschützpanzern hindurch und jagte auf die Ausläufer der Beverly Hills zu, die ihr möglichst bald Deckung bieten sollten. Suno schoss einen Phosphorpfeil in das auslaufende Benzin, das mit einem lauten Fauchen entflammte. Schüsse klangen unter ihnen auf. Aiko stieg auf fünfzehn Meter, denn das Magnetkissen lenkte die Kugeln automatisch ab. Mit raschen, gezielten Salven trieb er mehrere Soldaten, die sich zum Widerstand formierten, zurück in ihre Deckung. Zur Überraschung der WCA-Kämpfer hielten sich die RoCops in den Großgleitern weiterhin zurück. Sogar als sie direkten Befehl erhielten, Aiko und Suno zu bekämpfen. So viel Chaos der Cyborg auch verbreitete, im Augenblick konnte ihm niemand gefährlich werden. Niemand... außer dem von den beiden WCA-Agenten besetzte Großraumgleiter. Unversehens hob das monströse Gerät mit den eckigen Turbinen ab und stieg auf gleiche Höhe wie der Doppelsitzer. Noch während es Fahrt aufnahm, schob sich die Zwillingskanone aus der Bugverkleidung. Blassrote Feuerlanzen schlugen aus den Mündungen. Für einen ersten Deutschuss lagen die Einschläge ganz gut. Die Sprenggeschosse explodierten nur fünfzehn Meter entfernt,
und diese Abweichung wurde umgehend korrigiert. Aiko kippte über den linken Flügel ab und vollführte eine enge Kehre, ehe der nächste Feuerstoß erklang. Im Zickzackkurs jagte er Dayna hinterher und stellte dabei zu seinem Schrecken fest, dass zwei Geschützpanzern sie verfolgten. »Phosphor!«, brüllte er über die Schulter hinweg und beschleunigte. Suno sandte mehrere Pfeile in die Tiefe, um das feuchte Gras zu entzünden. Aufsteigende Rauchsäulen markierten die Einschlagspunkte, doch der nachfolgende Großraumgleiter ließ sich von solchen Störmanövern nicht abhalten. Nicht mal von den Geschossen, die einer der Panzer herüber sandte und die in gelb-orangenen Glutbällen zwischen Doppelsitzer und Verfolger explodierten. »Der Copilot funkt«, berichtete Suno, die auf eine Gelegenheit mit dem Armbruster lauerten. »Wahrscheinlich um sich das Sperrfeuer vom Hals zu schaffen.« »Umso besser!«, rief Aiko zurück, der nun die Laserkanone zum Einsatz brachte. Immer wieder zielte er mit den hochkonzentrierten Lichtstrahlen auf die linke Radkette eines von Daynas Verfolgern. Der hoch verdichtete Stahl hielt dem Beschuss mehrmals stand, doch dann schmolz ein einzelnes Kettenglied, gerade weit genug, um unter der hohen Belastung zu zerbrechen. Der andere Verfolger war allerdings schon zu weit entfernt, um bei ihm ähnlich zu verfahren. Außerdem mussten sie jetzt erst einmal ihre eigene Haut retten. Der Großraumgleiter rückte nämlich mittlerweile bedrohlich nahe. Und noch viel schlimmer: Pilot und Bordschütze spielten sich immer besser ein. Ein und ums andere Mal pfiffen die Geschosse links und rechts vorbei. Aiko musste sein ganzes fliegerisches Können aufbieten, um dem Fadenkreuz immer wieder in letzter
Sekunde zu entkommen. Die Landschaft raste unter ihnen weg, die Berge rückten näher. Wenn der Cyborg sie erreichte, konnte er die Wendigkeit des Doppelsitzers besser ausspielen. Um von Dayna abzulenken, wechselte er den Kurs. Ihr Abstand zu dem zweiten Geschützpanzer vergrößerte sich ohnehin laufend. Im Stillen hoffte Aiko, dass der Großraumgleiter von ihm ablassen würde, um Dayna abzufangen. Dann könnte er sich den Kerlen in den Nacken setzen, und ihnen das Leben schwer machen. Diesen Gefallen taten sie ihm aber nicht. Vielleicht, weil sie längst das Jagdfieber gepackt hatte. Immer verbissener versuchten sie Aiko zur Strecke zu bringen. Schließlich gelang es. Ein Sprenggeschoss schlug in den rechten Heckflügel ein. Der Gleiter erzitterte unter der Detonation, die die Turbine bersten ließ. Sie gerieten ins Trudeln und drohten abzukippen. Aiko hatte alle Mühe, gegenzusteuern, doch das Magnetkissen blieb stabil. Mit der Beschleunigung war es allerdings vorbei. Aiko besaß nur noch halbe Schubkraft. Instinktiv machte er aus der Not eine Tugend. Auf einen Schlag bremste er ab und reduzierte das Magnetfeld auf ein Minimum. Schneller als seine Verfolger reagieren konnten. Der monströse Rumpf glitt über sie hinweg. »Armbruster festhalten!«, warnte er, das Magnetfeld maximierend. Gleichzeitig beschleunigte er mit der verbliebenen Turbine, worauf sie blitzartig empor schnellten. So hoch, dass sie mit der Unterseite des Gegners zu kollidieren drohten. Suno schrie entsetzt auf. Aiko blieb die Ruhe in Person. Je weiter er der Katastrophe entgegen steuerte, desto langsamer schien die Zeit zu vergehen.
Wie in Zeitlupe sah er den Rumpf näher kommen. Beobachtete, berechnete, korrigierte. Um dann, im letzten nur möglichen Augenblick, den Lenkradkranz zur Seite zu reißen. Die empfindliche Mechanik reagierte sofort. Innerhalb einer einzigen Sekunde rollte der Gleiter herum. Plötzlich standen sie Kopf. Die Beckengurte schnitten so tief ein, dass die inneren Organe gequetscht wurden. Aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend war, dass sich das Magnetfeldkissen nicht mehr von der Erde abstieß, sondern von dem Kissen des übermächtigen Gegners. Und so geschah, was immer geschieht, sobald zwei gleich gepolte Magnetfelder aufeinander treffen – sie stoßen einander ab. Die unerfahrenen WCA-Piloten traf es dabei am härtesten. Wie von einer Riesenfaust getroffen, sprang das Heck in die Luft, und so ging es mit heulenden Turbinen diagonal in die Tiefe. Nur das Magnetkissen verhinderte, dass sich der Bug tief in die Erde bohrte, doch für die Insassen war der Kontakt genauso hart, als ob der Gleiter zerschellen würde. Riesige Erdmassen wölkten unter dem Druck des Magnetfeldes auf, das den Rumpf erst wenige Sekunden vor dem Bodenkontakt abfangen konnte. Aiko bekam von der Kollision nicht viel mit. Er hatte genug damit zu tun, seinen Gleiter durch eine weitere Halbrolle vor dem Absturz zu bewahren. Oben und Unten lösten sich zu einem gewaltigen, alles umfassenden Wirbel auf. Seltsamerweise verlor er keine Sekunde lang den Überblick. Nicht mal der Hauch eines Schwindelgefühls erfasste ihn, als der Doppelsitzer mitten in der Staubwolke erstarrte. Der elektronische Teil seines Hirns leistete ganze Arbeit. Suno hingegen gab würgende Laute von sich, besaß aber immerhin so viel Geistesgegenwart, sich über das Seitenteil hinaus zu beugen.
Gut eine Minute lang mussten sie mit geschlossenen Augen warten. Dann lichtete sich der Staub so weit, dass sie weiterfliegen konnten. Schon nach zwanzig Metern entdeckten sie den Großraumgleiter, knapp über dem Boden schwebend. Die Turbinen schnurrten leise vor sich hin. Technisch alles in Ordnung, doch die beiden Weltrat-Agenten waren definitiv nicht mehr in der Lage, die Jagd fortzusetzen. Der Pilot lag mit blutig geschlagenem Kopf über seinen Armaturen. Er war nicht angeschnallt gewesen und entsprechend in die Kanzel geknallt. Den Bordschütze hatte es nicht ganz so schlimm erwischt, aber auch er war durch die Erschütterung angeschlagen. Aiko landete auf dem Rumpf des Großgleiters, direkt hinter der Kanzel. Behände sprang er hinaus, ließ die Kanzeln aufschnappen und beförderte die Verletzten unsanft in die Tiefe. Dank der riesigen Staubwolke, die sie noch immer umgab, konnten sie völlig ungestört umsteigen und den Weg schon zwei Minuten später auf wesentlich bequemere Weise fortsetzen. Im Schutz der ersten Bergausläufer suchten sie nach Dayna. Fudohs Schattenkrieger leisteten erneut gut Dienste. Sie meldeten nicht nur über Funk, dass Crow den Abbruch aller weiteren Verfolgungen befohlen hatte, um die Räumung des Bunkers unter noch größerem Hochdruck voran zu treiben, sondern gaben auch Hinweise auf den Standort des Schützenpanzers. Als Aiko die betreffenden Koordinaten anflog, wurden sie bereits erwartet. Beide Arme verschränkt, lehnte Dayna mit dem Rücken an dem verschlossenen Heckschott. Hinter ihr stiegen gedämpfte Klopfgeräusche auf. »Blake und Mortimer kommen nicht mehr heraus«, erklärte sie lächelnd. »Ich habe den Code verändert.« »Sofort aufmachen!«, klang es hinter ihr. »Oder wir löschen jedes einzelne Bit von Takeos Gedächtnis!«
»Nur keine Sorge«, beruhigte sie. »Dazu fehlen da drinnen die Mittel.« Aiko ließ sich trotzdem den Armbruster aushändigen und forderte Dayna auf, den Türcode einzugeben. Sobald die gepanzerte Tür nach vorne schwang, schoss er durch den breiter werdenden Spalt. Die beiden WCA-Knechte kamen nicht einmal mehr dazu, die Finger zu krümmen. Die weißbläulichen Blaster-Blitze, die ihre Körper umtanzten, lähmten jeden Nerv im Bruchteil einer Sekunde. Polternd fielen ihre Driller zu Boden. Sie selbst gaben nicht mal ein Keuchen von sich. Aiko hob sie heraus und bettete sie in einiger Entfernung ins Gras. Dann brachte er seinen Vater ins Freie, der ohne funktionierende Arme auf Hilfe angewiesen war. Als er endlich draußen stand, sah Takeo bedächtig von einem zum anderen und bedankte sich bei jedem Einzelnen für die Rettung. An Suno gewandt, sogar ausdrücklich in Richtung General Fudoh, der eigentlich mehr Rivale denn Verbündeter war. Für lange Sentimentalitäten fehlte jedoch die Zeit. Sie mussten möglichst viel Raum zwischen sich und Crows Truppen bringen, bevor diese ihre Plünderungen beendeten. Aiko beschloss mit Dayna und seinem Vater auf dem schnellsten Wege Amarillo anzufliegen. Sobald die ISS erneut in Funkreichweite war, wollte er das auch der World Council Agency mitteilen, um diese nicht unnötig auf die Japaner in El'ay zu hetzen. »Nur keine Sorge«, beschwichtigte Suno in diesem Punkt. »Wir sind nicht wehrlos. Falls Crow den Talkessel zu stürmen versucht, muss er an unseren Bergbefestigungen vorbei. Dort wird er sich eine blutige Nase holen.« Das Angebot, sie noch zum Arco Plaza zu fliegen, lehnte sie ab. Sie bestand darauf, den Schützenpanzer als Beute nach El'ay zu fahren. Aiko sah keinen Grund, ihr das zu verwehren.
So blieb ihm nur, die Umarmung zu erwidern, mit der sie sich von ihm verabschiedete und ihr hinterher zu blicken, bis die Einstiegsluke des Panzers zufiel. Dann besetzte der Cyborg die Kanzel des Großraumgleiters und floh aus El'ay. Richtung: Nach Amarillo. * T-Day, die Tage danach Abgesehen von den Funkkontakten via ISS verlief der Flug über die offene Prärie eher eintönig. Die Botschaften, die über das Relais ausgetauscht wurden, hatten es dagegen in sich. Die Prime von London funkte Crow an und forderte in scharfer Form Auskunft betreffs die Vorwürfe eines kriegerischen Aktes. Der General und Präsident in Personalunion bestätigte diese Berichte, reklamierte aber für sich das Recht, eine Gefahr für die Menschheit beseitigt zu haben. Gleichzeitig beschuldigte er Aiko der Entführung einer WCA-Offizierin, des mehrfachen Mordes und der Befreiung eines Kriegsgefangenen. Aiko bedachte ihn dafür mit einer Reihe von Flüchen und stellte in Funkbotschaften an Euree seine Sicht der Dinge dar. Außerdem teilte er offiziell sein Reiseziel mit. Seine Mutter, die in Amarillo mithörte, kündigte daraufhin eine Eskorte an, mit der sie tatsächlich auf halbem Wege zusammentrafen. Honeybutt war mit an Bord der Amarillo-Gleiter. Ganz alleine kam sie auf ihn zu, ohne schwebendem AP über der Schulter. Angesichts von Crows Aggressionen begegnete man ihr nun anders. Und im gleichen Moment, da Aiko ihren weichen Körper in die Arme schloss, wurde ihm endlich bewusst, wie sehr er sie die ganze Zeit vermisst hatte. Während der nächsten ISS-Umkreisung gewann der Tonfall der Funkbotschaften an Schärfe. Neben der Prime von London
meldete sich auch der regierende Kommissar von Ramenki, Konstantin Fedjajewski, sowie Gemeinschaften aus Doyzland, Fraace und Ittalya. Crow stellte daraufhin den Funkkontakt ein, doch Fudohs Späher, die nun ebenfalls Zugriff auf die ISS besaßen, meldeten, dass die WCA keineswegs auf direktem Wege nach Waashton abzog, sondern sich Richtung Amarillo bewegte. Protestnoten wanderten daraufhin über den Äther und Crow verkündete die Forderung, dass ihm Major DeLano und Miki Takeo zu überstellen seien. Der Wissenschaftsrat von Amarillo lehnte ab und rief zur Mobilmachung auf. Als die ersten WCA-Großraumgleiter zu Aufklärungsflügen vor Amarillo auftauchten, zeichnete sich tatsächlich ein neuer Konflikt ab. Die Botschaften, die daraufhin aus Euree eingingen, waren allerdings eindeutig. Crow wurde mit massiven Vergeltungsschlägen gedroht. Britische, französische, deutsche und vor allem russische Verbände unter der Führung von Mr. Black standen bereit, sich zu einer Interventionsarmee zusammenzuschließen. Crow legt Protest ein, beugte sich dann aber doch dem Druck, indem er großmütig auf die Erfüllung der Auslieferungsbegehren verzichtete. Nur drei Tagesetappen von Amarillo entfernt, drehte die Landstreitmacht nach Waashton ab, jeder freie Platz der Fahrzeuge bis unter die Decke angefüllt mit Hardware und Daten aus Takeos Castle. »Wahrscheinlich hat er die ganze Zeit nur geblufft, um mit seiner Beute ungeschoren nach Hause zu kommen«, vermutete Honeybutt missmutig, als sie am folgenden Abend mit Aiko das Bett teilte. »Die Technik, die er sich unter den Nagel gerissen hat, bedeutet für den Weltrat einen Quantensprung, und der wird sicher vor allem den Militärs zugute kommen.« »Mag sein«, antwortete Aiko. »Aber es ging nicht anders.
Wir mussten Crow ziehen lassen, um endlich den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Auch wenn es uns nicht gefällt: Wir brauchen die WCA im Kampf gegen die Daa'muren.« Seine Freundin schwieg eine Weile. Dann fragte sie: »Und du glaubst, ab jetzt bleibt es in Meeraka friedlich?« Aiko schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Doch so eine Niederlage wie im Valley wird es nie wieder geben. Das nächste Mal werden wir besser vorbereitet sein.«
Epilog Zwei Dutzend Feuerschalen, die sich wie Perlen an einer Schnur reihten, um den langen Weg zu erleuchten – mehr Licht stand Mr. Black nicht zur Verfügung, als er in die alte Kathedrale trat. Zur Linken nahm er eine schattenhafte Bewegung wahr. Der Kapuzenumhang des Nosfera, der dort Wache stand, verschmolz perfekt mit der ihn umgebenden Dunkelheit. »Spute dich«, beschied ihm die gestaltlose Stimme, »Erzvater wartet bereits.« Black ließ sich das nicht zweimal sagen. Ohne das geringste Anzeichen von Furcht ging er weiter, das Rascheln der Kutten, links und rechts des ausgeleuchteten Pfades, bewusst ignorierend. Für die nachtsichtigen Bluttempler bewegte er sich vermutlich wie auf dem Präsentierteller, aber das störte den Rebellen nicht. Das, was er Erzvater anzubieten hatte, schützte besser vor einer Klinge aus dem Hinterhalt als jedes Kettenhemd. Nachdem die Hälfte der Strecke hinter ihm lag, bemerkte Black erstmals eine in rotem Ornat gekleideten Gestalt auf einem abgesetzten Tragestuhl, die am Ende des erleuchteten Pfades wartete. Erzvater, kein Zweifel. Genau so hatte ihn Matthew Drax beschrieben.
Blacks Rücken überlief ein kaltes Rieseln. Das mochte an den alten Klostermauern liegen, die den Bluttemplern als Ordensburg dienten. Vielleicht lag es aber auch an der geheimnisvollen Aura Seiner Heiligkeit, die selbst ein aufgeklärter Mensch, der an die Macht der Wissenschaft glaubte, nicht leugnen konnte. Ein Lufthauch strich über Mr. Black hinweg und ließ sein kurzes strohblondes Haar erzittern. Instinktiv hielt er im Schritt inne – und verfluchte sich sofort dafür, weil er damit auf das kleine Psychospielchen reagierte. Der lautlos über ihn hinweg gesegelte Batera verabschiedete sich mit einigen ledernen Schwingenschlägen, mit denen er sich rasch in die Höhe schraubte, um sich dann irgendwo im Gewölbe festzukrallen. »Nur keine Furcht, junger Freund, tritt näher.« Die Stimme des Alten klang brüchig wie Pergament, trotzdem glaubte Black zu hören, dass sich der Kerl diebisch über sein kurzes Erschrecken freute. »Ich habe keine Angst.« Der Running Man warf einen abschätzenden Blick in die Runde, obwohl er die verborgenen Wachen nur schemenhaft wahrnahm. »Ich bin ein Freund von Maddrax, den ihr den Sohn der Finsternis nennt. Und ich komme mit einem interessanten Angebot, das ich euch unterbreiten möchte.« Schweigen war die Antwort, die er darauf erhielt. Black unterdrückte den Wunsch, sich am Kinn zu kratzen, und ging einfach weiter. Als er die letzten Schalen erreichte, die Erzvater mit trübem Schein übergossen, trat ein Nosfera aus der Dunkelheit und bedeutete ihm stehen zu bleiben. Obwohl es kein Tageslicht gab, das der empfindlichen Haut gefährlich werden konnte, trug auch dieser eine tief herabgezogene Kapuze, die einen Blick auf sein Gesicht verhinderte. Mr. Black baute sich in ausreichend Abstand zu der Sänfte auf und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Erzvater
hob den Kopf, und obwohl Black wusste, das der Alte blind war, spürte er einen Blick, der ihm durch und durch ging. Nur die Ruhe, mahnte er sich. Das half. Die Spannung zwischen seinen Schulterblättern baute sich ab und sein Atem blieb ruhig und flach. »Der Sohn der Finsternis«, begann Erzvater endlich. »Sein Freund zu sein, ist längst ein Makel geworden. Ich bin unzufrieden mit ihm, denn er befahl einigen Getreuen, mir den Gehorsam zu verweigern. Mir, der ich Murrnaus Willen auf Erden verkörpere. Wie ist das nur möglich?« »Der Commander hat einen Mordauftrag aufgehoben«, korrigierte Black, der halbwegs informiert war. »Das liegt nun mal in seiner Natur. Er ist eine ehrliche Haut, auch dann, wenn es aller Vernunft zuwiderläuft.« Erzvater schüttelte den Kopf. So heftig, das die rote Kapuze verrutschte und für Sekunden milchig angelaufene Augäpfel und vernarbtes Hautgewebe freilegte. Black, der schon viele Laserverbrennungen gesehen hatte, fragte sich unwillkürlich, woher die Verletzung stammen mochten. »Meinem Willen zu widersprechen heißt Murrnau zu lästern!«, riss ihn Erzvater aus der Überlegung. »Dieses Verhalten ist eines Propheten unwürdig! Dies kann nur bedeuten, dass Maddrax ein Scharlatan ist, der unser Vertrauen missbraucht!« Black spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. Mit diesem Verlauf des Gesprächs hatte er nicht gerechnet, doch statt Furcht überkam ihn nur eine unnatürliche Ruhe. Sein Verstand arbeitete messerscharf, als er antwortete: »Vielleicht bedeutet sein Verhalten auch nur, dass Murrnau dir eine Lehre erteilen will.« Blacks Worte klangen lauter als beabsichtigt, und sie hallten noch von dem hohen Gewölbe wider, während rundherum empörte Ausrufe laut wurden. Irgendwo in seinem Rücken
schabte geschliffener Stahl, und der Leibwächter an der Sänfte legte seine Rechte drohend auf den Degenknauf. Erzvater beendete alle Unmutsbekundungen durch eine knappe, sichtlich verärgerte Geste. Die Geräusche erstarben wie mit dem Messer abgeschnitten. Doch die folgende Stille verstärkte das Gefühl der Bedrohung, statt es zu mildern. »Du sprichst kühn, Freund von Maddrax«, ergriff Erzvater neuerlich das Wort. »Kühner als es einem Gast geziemt. Ich hoffe, dein Verstand ist ebenso ausgeprägt wie dein Wagemut.« »Es geht hier nicht um Wagemut«, antwortete Black ohne das kleinste Zittern in der Stimme, »sondern um Verluste und persönlichen Schmerz, für jeden von uns. Ich habe von Navoks Verrat gehört und dem damit verbundenen Niedergang der Bluttempler. Aber auch davon, dass euch diese Verluste noch härter gemacht haben.« Seine Worte weckten Interesse. Black konnte förmlich spüren, wie die Spannung in der Kathedrale in sich zusammenfiel. Auch an dem Tonfall, mit dem ihn Erzvaters zum Weitersprechen aufforderte. »Auch ich habe große Verluste erlitten!«, rief Mr. Black mit all dem Feuer das ihm innewohnte. »In einem euch fernen Land habe ich einst eine Widerstandsgruppe angeführt. Wir waren viele, wir waren uns einig, und wir kämpften erfolgreich gegen einen Tyrannen. Heute stehe ich alleine. Doch ich bin deshalb nicht verbittert. Warum auch? Der Tod meiner Kameraden hatte einen Sinn. Denn seit meinem Besuch am Kratersee weiß ich, dass wir alle eine Zeit der Prüfungen durchleben, um für das gewappnet zu sein, was uns allen gemeinsam bevorsteht.« Blacks Augen leuchteten, während er langsam in die Runde sah, und er wusste, dass die im Dunkel verborgenen Nosfera davon beeindruckt waren.
»Glaubt ihr denn, die Schlacht gegen die Mutantenarmee wäre schon alles gewesen? Das war nur ein Vorgeschmack auf Dinge, die kommen werden! Und nur jene, die bereit sind, die Prüfungen zu ertragen, die fähig sind, ihr eigenes Schicksal hinten anzustellen und sich für ihre Sache aufzuopfern, nur die werden in der Lage sein, den Wesen, die sich unserer Welt bemächtigen wollen, zu widerstehen.« So wie er redete, wäre sein genetischer Vater stolz auf ihn gewesen. Black besaß nicht nur die Physiognomie Schwarzeneggers, sondern auch die Erbanlagen des ehrgeizigen Schauspielers und Politikers. »Nennt es von mir aus die Zeit«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »in der die Sonne wieder wächst, oder auch die Nacht des Jüngsten Gerichts. Es ist egal wie, denn all das sind nur Metaphern unsere Götter, die uns den rechten Weg weisen sollen. Den Weg des Überlebens.« Der hagere Körper unter dem roten Ornat erbebte. Anders ließ sich das Zittern der Kutte nicht erklären. »Du glaubst, Murrnau hat nur unseren Niedergang beschworen, um uns auf größere Dinge vorzubereiten?«, drang es unter der Kapuze hervor. »Um euch bereit für neue Wege zu machen«, präzisierte Black. »So wie auch ich neue Wege gehen muss, weil die alten Zeiten unwiederbringlich vorüber sind.« »Oh, du Schmeichler.« Erzvater lachte trocken. »Radek hat mich gewarnt, dass du gefährlich bist. Und wahrhaftig, deine flammende Rede droht sogar mich zu entzünden. Darum will ich rasch prüfen, wie ehrlich du es meinst.« Ehe der Rebell darauf antworten konnte, spürte er ein lähmendes Prickeln unter der Schädeldecke. Keuchend wollte er zurücktreten und sich abwenden, doch sämtliche Muskeln verweigerten ihm den Dienst. Ein Gefühl der Taubheit überfiel seine Glieder, nur in seinem Kopf schien es zu brodeln. Die Ursache dafür konnte Black nur ahnen. Vermutlich war er
gerade das Opfer einer Psi-Attacke. Die CF-Strahlung hatte nicht nur Erzvater, sondern auch viele andere Mutanten zu Telepathen gemacht. Nur nicht so stark wie ihn. Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit, in der Black den Eindruck hatte, sein Innerstes würde nach außen gekehrt. Doch dann, von einem Herzschlag auf den andern, fühlte er sich wieder völlig normal. Seine verkrampften Muskelpartien lösten sich. Erleichterung flutete die strapazierten Nervenstränge. Selbst Erzvater wirkte entspannt. Beinahe lässig lehnte er sich in seinem Tragestuhl zurück, rückte die gelähmten Beine zurecht und kicherte vergnügt. »Wahrhaftig, der Sohn der Finsternis sandte uns mit Navoks Rettung nur eine Prüfung«, verkündete er den Grund seiner guten Laune. »Und er sandte uns noch mehr. Nämlich diesen Boten, der dem Orden zu altem Glanz verhelfen will.« Erstaunte Rufe füllten die Kathedrale aus. Erst jetzt wurde Black klar, das Erzvater zu seinen Getreuen sprach, um eine Kehrtwende einzuleiten. Der hinterlistige Kerl hatte wirklich in seinen Gedanken gelesen, aber gut, das vereinfachte die Verhandlungen sogar. »Ich strebe eine Partnerschaft an«, stellte Black laut fest, damit auch die anderen wussten, worum es ihm ging. »Und zwar zum Nutzen von ganz Moska.« »Aber natürlich, das liegt auch uns am Herzen.« Die mageren Klauenhände ineinander verschränkt, beugte sich Erzvater in verschwörerischer Haltung vor. »Du bist ein Mann nach meinem Geschmack, Mr. Black. Du glaubst an das, was du predigst, und ich gebe zu, ich habe mich auch schon oft gefragt, warum mir die Bürde der Blindheit auferlegt wurde. Vielleicht hast du mir heute tatsächlich die Antwort darauf gegeben. Vielleicht spricht Murrnau wirklich durch Menschen wie dich zu uns. Ich werde mich deshalb mit meinen Vertrauten beraten.« Black nickte zufrieden. »Wir bleiben also in Kontakt?«
»Nicht nur das.« Erzvater lächelte so breit, dass seine Zähne unter der Kapuze hervorblitzten. »Wir stehen von nun an Seite an Seite. Ein Bündnis zu beiderseitigem Nutzen, in dem jeder die Vorteile des anderen berechnen kann, nun, dem kann ich wirklich nicht widerstehen.« »Es geht um Sergiuz...«, beharrte Black überflüssigerweise. »... dessen Macht gebrochen werden muss«, vollendete Seine Heiligkeit leichthin. »Zu unserem und zu Moskas Besten.« »So sehe ich das auch.« Black legte Wert darauf, dass alles ausgesprochen wurde. »Im Gegenzug unternehme ich alles in meiner Macht Stehende, um euch einen vollwertigen Platz an der Seite der Technos und der Barbaren zu verschaffen. Und ich bin sicher, ihr würdet auch gerne wieder in eure alte Festung am Rande des Kremls ziehen. In die BasiliusKathedrale.« Die Freudenbekundungen aus dem umliegenden Dunkel schwollen weiter an. Einige der Wachen konnten nicht mehr an sich halten. »Genug«, unterbrach Erzvater, des Spieles müde. »Es soll geschehen wie von dir gewünscht, Mr. Black. Wenn du uns hier und heute die Rückkehr nach Moska zusicherst, so ist dir die volle Unterstützung des Ordens gewiss. Dann sollst du bekommen, was dir und uns zweckdienlich ist. Dann sollst du der neue Zaritsch von Moska werden!« ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Wiener Blut von Michael M. Thurner Hinweise auf rätselhafte Vorgänge locken Matt und seine Mannschaft nach Wien, die Stadt, durch die früher einmal die Donau floss. Jetzt beherrscht ein aktiver Vulkan das Bild – und genauso brandgefährlich wie der brodelnde Krater ist das, was mitten in der Stadt lauert und die Einwohner in seinem Sinne manipuliert... In Band 115 schildert Michael Thurner seine Heimatstadt in den dunkelsten Farben – mit viel Lokalkolorit und dem typischen Wiener Sinn für schwarzen Humor!