Stephen Coonts
Fluchtpunkt Havanna
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Die Lage im krisengeschüttelten Havanna spitzt sich ...
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Stephen Coonts
Fluchtpunkt Havanna
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Die Lage im krisengeschüttelten Havanna spitzt sich zu, als Fidel Castro im Sterben liegt. Zwei wagemutige CIA-Agenten entdecken, dass Alejo Vargas, Leiter der Geheimpolizei und einer der Bewerber um die Nachfolge von Castro, die USA mit biologischen Gefechtsköpfen erpressen will. Da wird auch noch ein Frachtschiff entführt, das heimlich mit biologischen und chemischen Waffen aus US-Beständen unterwegs ist. Im westlichen Lager schrillen die Alarmglocken, und Konteradmiral Jack Grafton wird mit der Suchaktion beauftragt. Unversehens steht er im Brennpunkt einer neuen, eskalierenden Kuba-Krise… ISBN 3-442-35570-2 Originalausgabe »Cuba« Ins Deutsche übertragen von Winfried Czech 2002 Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagfoto: Photonica Satz: DTP-Service Apel, Hannover Druck: Eisnerdruck, Berlin
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Für Tyler
Cultivo una rosa blanca, En julio como en enero, Para el amigo sincero Que me da su mano franca. Y para es cruel que me arranca El corazón con que vivo, Cardo ni oruga cultivo; Cultivo la rosa blanca. José Martí Ich züchte eine weiße Rose, im Juli wie im Januar, für den wahren Freund, der mir offen die Hand reicht. Und für den Grausamen, der mir das Herz entreißt, das mich leben lässt. Ich züchte weder Unkraut noch Disteln, ich züchte die weiße Rose.
Prolog Sein Haar war weiß und kurz geschoren, seine Haut dunkel gebräunt. Er trug lediglich Sandalen, Shorts und den hauchdünnen Fetzen eines weißen Hemdes mit drei fehlenden Knöpfen, das lose um seinen dürren, knochigen Brustkorb fiel, die Shorts, die ebenfalls ein paar Nummern zu groß waren, wurden von einer um seine Hüften geknoteten Schnur gehalten. Dunkle, ruhelose Augen leuchteten klar hinter einer Brille mit Stahlrahmen, die auf seiner großen, fleischigen Nase ruhte. Da ihn der Fußmarsch vom Haus zur Scheune erschöpfte, setzte er sich auf einen großen Stein im Schatten unter einer Ansammlung von Palmen und ließ den Blick zu den im Dunst verschwimmenden blauen Bergen am Horizont wandern, zu den bauschigen, im Passatwind treibenden Wolken. Kein Mann könnte einen schöneren Flecken Erde finden, um seinen Lebensabend zu verbringen, dachte er. Er liebte diesen Ausblick, diese Ruhe, diesen Frieden. Schon als junger Mann in den Zwanzigern, als er hierher gekommen war, hatte er gewusst, dass dies das Paradies war. Nichts in den ersten sechsundzwanzig Jahren seines Lebens hatte ihn auf die pastellartigen Farben, die Wärme und die Helligkeit des Sonnenlichts vorbereitet, auf die sanfte Berührung der ewigen Brise, den Duft der tropischen Blumen, der ihn durchströmte und seine Seele liebkoste. Kuba hatte alles, was Russland fehlte. Als er nach einem in Sibirien verbrachten Leben zum ersten Mal in dieses Land gekommen war, hatte er auf die Knie fallen und den Boden küssen wollen. Und tatsächlich hatte er das später auch getan, sogar mehrfach - wenn er völlig betrunken gewesen war. Damals hatte er eine Menge getrunken, vor vielen Jahren, als ein -4-
noch sehr junger Mann. Als sich eine Chance ergeben hatte, hier zu bleiben, hatte er sofort Zugriffen, geradezu darum gebettelt. »Nach einer Weile werden Sie Ihre Entscheidung bereuen«, sagte der Oberst. »Sie werden Mütterchen Russland vermissen, den Klang russische r Stimmen, Ihre junge Frau, die Sie zurücklassen…« »Sie ist jung, intelligent, ehrgeizig…«, erwiderte er und erinnerte sich an Olgas eisige Wut, als sie erfahren hatte, dass sie ihn nicht nach Kuba begleiten durfte. Sie war wütend auf ihn gewesen, weil er das Glück gehabt hatte, nach Kuba zu reisen, nicht auf den Staat, auf dessen Befehl er fuhr. Ihr ganzes Leben lang war sie nicht ein einziges Mal wütend auf den Staat gewesen, wie trostlos und öde ihre Zukunft auch sein mochte das entsprach einfach nicht ihrer Natur. Olga war eine gute Kommunistin, eine Kommunistin mit Leib und Seele. »Man wird Ihre Frau benachrichtigen, dass Sie bei einem Unfall gestorben sind, und Sie zu einem Helden des Sozialismus ernennen. Selbstverständlich werden Sie ihr nie schreiben dürfen, ebenso wenig wie Ihren Eltern, Ihrem Bruder oder sonst irgendjemandem in der Sowjetunion. Alle werden Sie für tot halten. Für Ihre Verwandten und Freunde sind Sie dann tot.« »Ich werde hier ein anderes Leben haben.« »Die Menschen hier sind nicht Ihre Leute«, gab der Oberst etwas später während ihres Gesprächs nachdrücklich zu bedenken, doch der junge Mann ignorierte den Hinweis. »Olga ist eine Patriotin«, erinnerte er sich, dem Oberst gesagt zu haben. »Sie liebt den Staat von ganzem Herzen. Sie wird es genießen, die Witwe eines Helden des Sozialismus zu sein. Auch wird sie einen anderen Mann finden, und das Leben wird weitergehen.« Also war er geblieben, und man teilte Olga mit, dass er tot sei. Er wusste nicht, ob sie wieder geheiratet hatte oder ledig -5-
geblieben war, ob sie die Versetzung nach Moskau, von der sie geträumt, oder die Kinder, die sie nicht wollte, bekommen hatte. Während er die blauen Berge betrachtete und den Wind roch, versuchte er, das Bild von ihr, das er all die Jahre in sich getragen hatte, vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören. Damals war sie jung gewesen, und so würde er sich immer an sie erinnern. Natürlich war sie längst nicht mehr jung, sofern sie überhaupt noch lebte, heute würde sie dick sein und das stahlgraue Haar zu einem Knoten im Nacken gebunden tragen. Sein Kopf war leer. Wie sehr er sich auch bemühte, er wusste nicht mehr, wie Olga ausgesehen hatte. Vielleicht war das auch gut so. Er hatte hier eine andere Frau gefunden, eine schokoladenbraune Frau, die für ihn kochte und wusch, mit ihm lebte und schlief und ihm zwei Kinder geboren hatte. Ihr Sohn war schon vor Jahren gestorben, bevor er ein Mann hatte werden können, ihre Tochter war mittlerweile verheiratet und hatte selbst Kinder. Jetzt kochte sie für ihn und kümmerte sich darum, dass es ihm an nichts fehlte. An das Gesicht seiner zweiten Frau konnte er sich gut erinnern. An ihr Lächeln, ihre Berührungen, die Wärme ihrer Haut, ihre geflüsterten Worte in der Nacht… Im nächsten Monat jährte sich ihr Todestag zum zweiten Mal. Er würde ihr schon bald folgen, das wusste er. Während der letzten zwölf Monate hatte er mehr als sechzig Pfund verloren. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung mit ihm, er wusste nur nicht, was genau ihm fehlte. Der Dorfarzt hatte ihn untersucht und den Kopf geschüttelt. »Ihr Körper ist am Ende, mein Freund. Es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.« Der alte Mann hatte ein wunderbares Leben gehabt, hier, an diesem Ort, im Paradies unter der Sonne. -6-
Er hustete, spuckte auf den Boden und wartete, bis die Krämpfe aufhörten. Nach einer Weile stand er langsam auf und setzte seine gemächliche Wanderung zur Scheune fort. Er öffnete die Brettertür und trat in die kühle Dunkelheit. Bei jedem Schritt wirbelten kleine Staubwolken unter seinen Füßen auf; der Lehm des Fußbodens hatte sich schon vor langer Zeit in feines Pulver verwandelt. Das einzige Licht stammte von den Sonnenstrahlen, die durch Lücken in den Scheunenwänden fielen. Die Wände bestanden lediglich aus Planken, die an ein Holzgerüst genagelt worden waren, um Wind und Wetter fernzuhalten… und neugierige Blicke. In Wirklichkeit war das Gebäude gar keine Scheune, obwohl es immer wieder benutzt wurde, um landwirtschaftliches Gerät und Viehfutter einzulagern, und gelegentlich auch, um ein empfindliches Tier vor der Sonne zu schützen. Hauptsächlich aber diente es dazu, den großen, runden Betonblock in seiner Mitte zu verbergen. Das Gerüst war so konstruiert, dass keinerlei Verstrebungen oder Holzbalken über den Block verliefen. Das Dach direkt über dem Betonklotz bestand lediglich aus freitragenden Brettern, deren obere Enden einen Giebel bildeten. Der weißhaarige alte Mann verharrte kurz und blickte zu den dünnen Lichtbahnen auf, die die staubige Luft wie Laserstrahlen durchschnitten. Allerdings wusste er nichts über Laser, er hatte nie welche gesehen. Die Lasertechnik war erst nach seiner Ausbildung und seinem Training entwickelt worden. Eine Ecke des Gebäudes enthielt einen abgeschlossenen Raum, dessen Tür verriegelt war. Der alte Mann kramte in seiner Hosentasche herum, zog einen Schlüssel hervor, schloss die Tür auf und trat hindurch. Auf der anderen Seite verriegelte er sie wieder und steckte den Schlüssel gewissenhaft in seine -7-
Tasche zurück. Er war der einzige Mensch, der einen Schlüssel für dieses Schloss besaß. Sollte er hier drinnen zusammenbrechen, würde niemand zu ihm hereinkommen können. Die Tür und die Wände des Raumes bestanden aus äußerst hartem Stahl, der mit unbearbeiteten grauen Holzbrettern verkleidet war. Nun, das war ein Risiko, das er all die Jahre einzugehen bereit gewesen war. Seit fünfunddreißig… nein, seit achtunddreißig Jahren. Eine lange Zeit. Neben der Tür war ein Lichtschalter angebracht. Automatisch streckte der alte Mann die Hand danach aus und legte ihn um. Vor ihm führte eine Treppe in die Tiefe. Eine Hand am Treppengeländer, stieg er die Stufen hinab, die von seinen Füßen ausgetreten worden waren. Diese Tür, diese Stufen… sein ganzes Leben. Jeden Tag das Prüfen, Schmieren, Testen, Reparieren… Einmal waren Ratten hierhergelangt. Trotz ausführlicher Suche hatte er nie ein Loch gefunden, durch das Ratten hätten schlüpfen können. Und doch waren sie irgendwie hierher gekommen, hatten Löcher in die Holzbretter genagt, Kabelisolierungen, Schläuche und Verbindungsstutzen angefressen. Drei hatte er vergiften können und ihre Kadaver fortgeschafft, mehrere andere waren an ihm unzugänglichen Stellen krepiert. Ihr Verwesungsgestank hatte lange die Luft verpestet. Gott, wie lange war das jetzt her? Jahre, viele Jahre… Der alte Mann überprüfte die Fallen und vergewisserte sich, dass sie Gift enthielten. Er inspizierte Konsolen und elektrische Kabel, schaltete den Strom an, überprüfte die Warnlämpchen und Schaltkreise. Jede Woche führte er einen vollständigen Test der -8-
Schaltkreise durch, jedes Kabels, aller Verbindungselemente, Röhren, Widerstände und Kondensatoren. Gelegentlich brannte eine Röhre durch, und er musste sie ersetzen. Die Ironie, dass schwer zu beschaffende elektrische Ersatzteile bei einem Testvorgang hin und wieder durchbrannten, hatte schon vor Jahren aufgehört, ihn zu belustigen. Jetzt machte er sich nur noch Sorgen darum, die Teile könnten nicht irgendwo erhältlich sein, wenn er sie brauchte. Er fragte sich, was seine Auftraggeber machen würden, wenn er seine Arbeit nicht länger erledigen konnte. Wenn er starb. Irgendjemand musste sich um diese Einrichtung kümmern, oder sie würde verfallen. Das hatte er dem kubanischen Major bei dessen letztem Besuch vor einem Monat gesagt, als die Techniker erschienen waren, um den neuen Gefechtskopf zu installieren. Gott, was für eine Arbeit das gewesen war! Er wusste als Einziger, wie man den nuklearen Gefechtskopf entfernte, und er hatte selbst herausfinden müssen, wie man an seiner Stelle den neuen einsetzen konnte. »Sie müssen mir erlauben, irgendjemand anderen auszubilden«, erklärte er dem Major, »irgendjemandem zu zeigen, wie man sich um dieses Ding zu kümmern hat. Wenn Sie es in diesem Klima auch nur ein paar Monate lang nicht warten, wird es zu einem wertlosen Stück Schrott.« Ja, ja. Das war dem Major klar. Wie auch den Leuten in Havanna. »Ich bin ein kranker Mann. Krebs, sagt der Doktor.« Der Major verstand. Man hatte ihn darüber informiert. Er bedauerte, das zu hören. »Dieses Ding sollte eigentlich mittlerweile in einem Museum stehen«, sagte der alte Mann dem Major, der sich wie gewöhnlich sehr militärisch gab, hier etwas betrachtete, dort etwas antippte, ihn aufforderte, eine Glühbirne auszuwechseln, -9-
die gerade durchgebrannt war - der alte Mann wechselte defekte Glühbirnen immer sofort aus, wenn er neue zur Hand hatte -, und dann mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck wieder ging. Der Major sah stets nachdenklich aus. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie das Ding funktionierte, wie viel Mühe und Geschick erforderlich war, um es funktionstüchtig zu halten, und er stellte nie Fragen. Er schnüffelte nur herum und tat so, als wüsste er, was er sich ansah, brachte manchmal Ersatzteile mit, hörte sich an, was der alte Mann zu sagen hatte, und verschwand dann wieder für weitere drei Monate. Vor dem Major hatte ein Oberst die Inspektionen durchgeführt, und vor dem Oberst ein anderer Major… Der alte Mann lernte diese gelegentlichen Besucher nie besonders gut kennen und vergaß sie bald wieder. Hin und wieder kam ein Besucher, den er nicht vergessen konnte. Fidel Castro war dreimal hier gewesen. Bei seinem ersten Besuch hatte es noch russisches Militär auf Kuba gegeben, während der Konstruktionsphase. Er hatte sich alles angesehen, viele Fragen gestellt und nicht so getan, als würde er etwas davon verstehen. Als die Basis funktionstüchtig war, kehrte Castro in Begleitung mehrerer Generäle zurück. Der alte Mann konnte sich noch gut an Castros grüne Uniform erinnern, an den Bart und die omnipräsente Zigarre. Zum letzten Mal war Castro vor acht oder zehn Jahren erschienen, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als sich die Beschaffung von Ersatzteilen so schwierig zu gestalten begann. Damals hatte er Fragen gestellt, sich die Antworten aufmerksam angehört, und irgendwie waren die benötigten Ersatzteile und Ausrüstungsgegenstände geliefert worden. Aber offizielle Besuche waren seltene Ereignisse, selbst die des nachdenklichen Majors. Die meiste Zeit ließ man den alten -10-
Mann seine Aufgabe in Ruhe und Frieden so erledigen, wie er es für richtig hielt. Und es war wirklich eine angenehme Arbeit gewesen. Er hatte ein gutes Leben gehabt, sehr viel besser als alles, was er als Techniker bei den Sowjetischen Raketenstreitkräften hätte erwarten können, dazu verdammt, in irgendeinem einsamen, gottverlassenen, windgepeitschten und eisigen Flecken Zentralasiens stationiert zu werden. Der alte Mann schaltete die Stromversorgung der Kontrolltafel nicht ab - er würde die Testreihe gleich beginnen, aber zuvor öffnete er eine feuerfeste Stahltür, hinter der eine Treppe weiter in die Tiefe führte. Zweiunddreißig Stufen hinab in die Grube des Silos. Der Anblick der Rakete auf ihrer Startrampe raubte ihm wie stets einen Moment lang den Atem. Dort stand sie, abschussbereit. Er stieg die Leiter hinab zu der Plattform in Höhe der Steuerungseinheit, löste die sechs Schrauben der Wartungsklappe, entfernte sie und leuchtete mit einer Taschenlampe in die Öffnung. Die Kabelbäume im Inneren der Steuerungseinheit wurden allmählich alt, daran bestand kein Zweifel. Sie würden demnächst ersetzt werden müssen. Sollte er selbst die Kabel austauschen - was zwei Wochen angestrengter Arbeit voller Konzentration erfordern würde -, oder sollte er diese Aufgabe besser seinem Nachfolger überlassen? Er beschloss, sich während der nächsten Wochen Gedanken über die nötigen Arbeitsschritte zu machen. Wenn er sich der Belastung bis dahin nicht gewachsen fühlte, würde die Arbeit eben warten müssen. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich mehr oder minder stetig, seine Leistungsfähigkeit war also begrenzt. Wenn man ihm nicht bald einen Nachfolger schickte, würde ihm nicht mehr genug Zeit bleiben, dem neuen Mann das -11-
beizubringen, was er wissen musste. Die Vorstellung, man könnte jemanden finden, der sich bereits mit allen Tücken und Kniffen einer Scud I-Rakete auskannte, war lächerlich. Diese Raketen, die seit dreißig Jahren nicht mehr gebaut wurden, waren fehlerhafte und veraltete Artefakte einer vergangenen Epoche. Genauso lächerlich war die Vorstellung, irgendjemand könnte diese Rakete aus dem Silo entfernen und durch ein neueres, moderneres Modell ersetzen. Kuba war ein armes Land, sogar noch ärmer als Russland während der Zeit, als er dort aufgewachsen war. Kuba verfügte nicht über die finanziellen Mittel, moderne Raketen zu bezahlen, und das neue, postkommunistische Russland konnte es sich bestimmt nicht leisten, sie zu verschenken. Nicht einmal, um damit auf Atlanta zu zielen. Das waren die Zielkoordinaten der Scud I. Natürlich sollte der alte Mann das Ziel der Rakete eigentlich gar nicht kennen, aber diese Regel war nur ein weiteres Beispiel militärischer Ignoranz. Er kümmerte sich um die Scud, wartete und testete sie und würde sie notfalls irgendwann auf den Feind abschießen. Und doch wollten diejenigen, die gerade an den Schalthebeln der Macht saßen, nicht, dass er das Ziel kannte. Also hatte er während seiner Arbeiten am Zielleitmodul die einprogrammierten Koordinaten überprüft und mit einer Landkarte in der Dorfschule verglichen. Atlanta! Die Kreiselkompasse des Zielleitmoduls entstammten der Technik der 50er-Jahre und darüber hinaus sowjetischer Fertigung mit den üblichen, großzügig gehaltenen militärischen Toleranzen. Niemand hatte jemals behauptet, das Zielleitsystem einer Scud I sei ein Präzisionsinstrument, aber es erfüllte seinen Zweck. Es würde die Rakete mehr oder weniger in die gewünschte Gegend bringen, wo der Gefechtskopf dann den -12-
Rest erledigte. Der alte Gefechtskopf entfaltete eine Explosionskraft, die der von 100000 Tonnen TNT entsprach. Sie würde nicht ganz Atlanta einebnen - Atlanta war eine riesige Stadt, die immer noch wuchs -, aber einen mächtig tiefen Krater in Georgia hinterlassen. Irgendwo in Georgia. Mit etwas Glück standen die Chancen nicht schlecht, dass die Rakete wenigstens Georgia treffen würde. Der neue Gefechtskopf… nun, er wusste nichts darüber. Es war ein gänzlich anderes Modell, auch wenn es exakt das gleiche Gewicht wie das alte hatte und für eine Detonation in der Luft konstruiert zu sein schien; aber natürlich konnte er die Zündhöhe nicht bestimmen. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Die Rakete war nie abgefeuert worden, und wahrscheinlich würde es auch nie dazu kommen. Ihre Kapazität blieb im Bereich reiner Spekulation. Der alte Mann warf einen letzten Blick in das Innere des Kontrollmoduls, schloss die Inspektionsluke, setzte die Schrauben wieder ein und zog jede einzelne sorgfältig fest. Dann inspizierte er die Kabel, die zur Rakete und ihren Verbindungssteckern führten. Von der Plattform aus konnte er auch die hydraulischen Kolben und die Hebel sehen, die die Abdeckung des Silos im Fall der Fälle aufklappen würden. Keine Lecks - heute. Beide Hände um die Sprossen gelegt, kletterte er vorsichtig die Leiter hinab zum Boden des Silos, der aus einem einfachen Gitter über einem großen Loch bestand, der Feuergrube, die so beschaffen war, dass die Rakete nicht in ihrem eigenen Flammenschweif verglühte, bevor sie sich aus dem Silo erhob. Möglicherweise waren die Ratten hier hereingelangt, als er die Abdeckung geöffnet hatte, überlegte er. Ja, wahrscheinlich war das die Erklärung. Sie waren hereingekommen, hatten nichts zu fressen gefunden und in ihrer Not begonnen, die -13-
Isolierungen anzunagen, um nicht zu verhungern. Aber die Ratten waren tot. Seine Frau war tot, und er würde es auch bald sein. Die Rakete… Er tätschelte ihre Rundung und machte sich auf den Rückweg zum Kontrollraum, um den Test der elektrischen Komponenten durchzuführen. Niemand kümmerte sich einen Dreck um die Rakete, außer ihm und vielleicht dem Major. Doch der Major machte sich deswegen wahrscheinlich keine allzu großen Sorgen, für ihn war es lediglich ein Job. Für den alten Mann aber war die Rakete sein Lebensinhalt gewesen. Er hatte eine Existenz in Russland als Sklave in den Strategischen Raketenstreitkräften für ein Leben im Paradies als Sklave einer Rakete eingetauscht, die niemals abgeschossen werden würde. Während er die Stufen hinaufkletterte, dachte er an Russland. Man trifft selbst seine Wahl, wie man durchs Leben geht, dachte er, oder der Staat tut es für dich. Oder Gott. Wie auch immer, ein Mann muss das Leben so akzeptieren, wie es kommt. Er nahm vor der Steuerkonsole im Kontrollraum Platz und ließ seine Finger über die Tasten und Schalter wandern. Wenigstens hatte er die Rakete nie abfeuern müssen. Nach all den Jahren, die er sie gewartet hatte, wäre das irgendwie so gewesen wie - Selbstmord zu begehen. Konnte er es überhaupt tun? Würde er die Rakete abschießen können, wenn er den Befehl dazu erhielt? Als er damals nach Kuba gekommen war, hatte er gründlich über diese Frage nachgedacht. Natürlich hatte er einen Eid geleistet, seine Befehle zu befolgen und seine Pflicht zu erfüllen, aber er hatte nie gewusst, ob er es würde tun können. Er wusste es immer noch nicht. -14-
Und er würde sterben, ohne es jemals herauszufinden. Der alte Mann lachte laut auf. Das Geräusch gefiel ihm so gut, dass er noch mal lachte - und lauter. Letztendlich ging der Witz auf Kosten der Kommunisten, auf deren Befehl er hierher gekommen war. Erstaunlich, denn obwohl sie zig Millionen von Menschen überall auf der Welt Schmerz und Leid zugefügt hatten, hatten sie ihm ein gutes Leben beschert. Er lachte erneut, denn es war ein guter Witz.
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1 Guantánamo Bay, an der Südostküste Kubas gelegen, ist der hübscheste Fleck des Planeten, dachte Konteradmiral Jake Grafton, USN. Er lehnte an der Reling auf dem Oberdeck des Flugzeugträgers United States, eine eigene Insel, die die Matrosen Steel Beach nannten. Hier trafen sich die Leute, die dienstfrei hatten, um ein bisschen Sonne zu tanken und etwas Gymnastik zu machen. Jake Grafton war normalerweise kein Sonnenanbeter, auf See besuchte er Steel Beach deshalb nur selten; er zog es vor, sich den Tag so einzuteilen, dass er mindestens eine halbe Stunde über das Flugdeck laufen konnte. Heute trug er eine Sporthose, T-Shirt und Tennisschuhe, aber er war noch nicht auf dem Flugdeck gewesen. Grafton war ein durchtrainierter, dreiundfünfzig Jahre alter Mann, knapp 1,90 Meter groß, mit kurzem Haar, das langsam grau wurde, grauen Augen und einer für sein Gesicht etwas zu groß geratenen Nase. Eine seiner Schläfen wies eine Narbe auf, eine alte, verblasste weiße Furche - die Erinnerung an eine Kugel, die ihn vor vielen Jahren gestreift hatte. Diejenigen, die ihn kannten, betrachteten ihn als den Inbegriff des kompetenten Marineoffiziers. Grafton ließ sich nie zu unbedachten Äußerungen hinreißen, verlor nie die Beherrschung oder das Ziel aus den Augen. Kurz gesagt, er war der perfekte Marineoffizier, und das wussten seine Vorgesetzten. Aus diesem Grund hatte man ihm auch den Oberbefehl über diesen Flugzeugträger-Verband übertragen, der vor Guantánamo Bay ankerte. Der Flugzeugträger und seine Geleitschiffe hatten während der letzten Wochen Übungsmanöver in der Karibik -16-
durchgeführt. Jetzt lag er mit zwei der größeren Begleiter vor der Bucht vor Anker. Seewärts fuhren drei Zerstörer, deren Radarschüsseln den Himmel absuchten, Patrouille. Eine Reihe von streng geheimen Befehlen hatte den Konvoi um die United States hierher beordert. Jake Grafton rief sich die Befehle ins Gedächtnis zurück, während er die beiden Frachter, die am Pier lagen, durch ein Marinefernglas beobachtete. Es waren kleine Schiffe mit jeweils nicht einmal 8000 Tonnen, die Nuestra Señora de Colón und die Astarte; größere Einheiten konnten wegen ihrer Wasserverdrängung in diesem Hafen nicht am Pier festmachen. Die Befehle waren nicht aus irgendeinem fensterlosen Hinterzimmer des Pentagon gekommen, sie stammten auch nicht von einem anonymen Zivilangestellten oder einer gesichtslosen unbedeutenden Stabscharge, o nein. Diese Schiffe lagen genau an diesem Pier an der Südostküste Kubas, weil die Befehle von ganz oben gekommen waren, direkt aus dem Weißen Haus. Jake Graftons Blick wanderte an den Frachtern vorbei weiter zu den Lagerhallen, Baracken und Verwaltungsgebäuden, die unter der kubanischen Sonne schmorten. Ein Paradies, das war das richtige Wort, um Kuba zu beschreiben. Ein von Kommunisten bevölkertes Paradies. Und Guantánamo Bay war ein einsamer, kleiner amerikanischer Außenposten an der unteren Seite dieser kommunistischen Insel, das Arschloch Kubas, wie einige es bezeichneten. Konteradmiral Grafton konnte die Ladekräne bei der Arbeit sehen, wie sie weiße Container von der Astarte, die vor mehreren Stunden eingetroffen war, auf den Pier luden. Gabelstapler transportierten die stählernen Kästen in eine hurrikansichere Lagerhalle, wo sie vom Hafenmeister zweifellos drei oder vier Schichten hoch in militärisch ordentlichen Reihen gestapelt wurden. -17-
Es waren speziell konstruierte Transportbehälter für chemische und biologische Waffen, Artilleriegranaten und Bomben. Eine ausgebildete Mannschaft stand bereit, die Waffen aus den hurrikansicheren Lagerhallen in die Container umzuladen, die anschließend wieder an Bord des Schiffes gehievt wurden, um in die USA gebracht zu werden, wo die Gefechtsköpfe zerstört werden sollten. Die Waffen in den Containern zu verstauen und anschließend auf das zweite Schiff zu laden, würde mindestens eine Woche in Anspruch nehmen, vermutlich sogar länger. Das erste Schiff, die Nuestra Señora de Colón, war eine Woche lang beladen worden und würde an diesem Abend in See stechen. Jake Graftons Aufgabe bestand darin, während dieser Operation mit seinem Flugzeugträger-Verband militärischen Schutz zu gewährleisten. Seine Befehle warfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Die Waffen hatten seit Jahren in diesen Lagerhallen gelegen warum wurden sie jetzt fortgeschafft? Warum erforderte die Aktion militärische Deckung? Welcher Art war die Bedrohung? Admiral Grafton ließ das Fernglas sinken, machte fünfzig Liegestütze auf dem Stahldeck und dachte dabei über biologische und chemische Waffen nach. Billiger und sogar noch tödlicher als atomare Waffen, waren sie die erste Wahl für Dritte-Welt-Länder, die sich bemühten, eine glaubwürdige militärische Präsenz aufzubauen. Die chemische Variante war leichter zu kontrollieren als die biologische, aber teurer in der Anwendung. Sah man den Tatsachen ins Auge, waren biologische Waffen die billigsten und zugleich tödlichsten Vernichtungswerkzeuge, die die Menschheit kannte. Fast jede Nation, im Prinzip fast jede Person, die im Besitz einer Kreditkarte war und über einige hundert Quadratmeter Laborfläche verfügte, konnte innerhalb weniger Wochen mit preiswerten und einfachen technischen Möglichkeiten eine biologische Waffe konstruieren. Vor Jahren war Saddam Hussein auf den Zug der biologischen Kriegsführung -18-
aufgesprungen, indem er sich Anthrax-Kulturen über einen amerikanischen Mail-Versand bestellt und per Expresslieferung erhalten hatte. Zehn Gramm Anthrax richtig verteilt können genauso viele Leute töten wie eine Tonne des Nervengases Sarin. Wie war noch die Hochrechnung, die Jake kürzlich gesehen hatte? Hundert Kilo Anthrax - mit einem leistungsfähigen Aerosolzerstäuber über einem großen städtischen Ziel versprüht - konnten zwei- bis sechsmal so viele Menschenleben wie ein nuklearer Sprengkopf im EinMegatonnen-Bereich auslöschen. Natürlich ist Anthrax nur einer von mehr als 160 bekannten biologischen Kampfstoffen, dachte Jake Grafton. Es gab andere weitaus tödlichere, aber genauso billig herstellbare Substanzen. Andererseits war der Erwerb einer Biokultur nur der erste Schritt. Der Weg von den Kulturen in einer Petrischale bis hin zu einer verlässlichen Waffe, die sicher gelagert und zielgerichtet eingesetzt werden konnte alles andere als eine einfache Sprühflasche -, war lang und aufwändig und stellte immense technische Herausforderungen dar. Jake Grafton hatte ein paar geheime Unterweisungen über die Kriegsführung mit biologischen und chemischen Waffen erhalten, für die das Kürzel CBW stand (chemical and biological warfare), aber er wusste kaum mehr als das, was man auch durch die öffentliche Presse erfahren konnte. Diese Dinge gehörten nicht zu den Geheimnissen, die ein hochrangiger Offizier der US-Navy kennen musste. Nachdem die KennedyAdministration darauf bestanden hatte, neben Nuklearwaffen auch andere militärische Mittel für einen Gegenschlag zu entwickeln, hatten die Vereinigten Staaten entsprechende Forschungen betrieben und große Mengen an Nervengas, Senfgas, Betäubungs- und Entlaubungsmittel entwickelt und hergestellt. Hand in Hand damit einhergegangen war die Forschung an biologischen Kampfstoffen in Fort Detrick, Maryland, die schließlich zur Herstellung entsprechender -19-
Waffen im Pine-Bluff-Arsenal in Arkansas geführt hatte. Diese streng geheimen Projekte waren ohne große Debatten und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit betrieben worden. Natürlich unterhielten die Sowjets ihre eigenen Geheimprojekte. Nur wenn es einmal zu einem Unfall kam - wie zum Beispiel zu der versehentlichen Massentötung von 6000 Schafen Ende der 60er, dreißig Meilen vom Dugway Proving Ground in Utah entfernt, oder dem Tod von 66 Menschen in Swerdlowsk 1979 erhaschte die Öffentlichkeit einen flüchtigen Blick in diese geheime Welt. Nervengas fand in den Gefechtsköpfen von Marschflugkörpern und Raketen, in Bomben, Landminen und Artilleriegranaten Verwendung, biologische Kampfstoffe in Marschflugkörpern, Streubomben, Sprühvorrichtungen und Zerstäubern, die an Flugzeugen montiert wurden. Die Geschichte hatte gelehrt, dass Nationen chemische oder biologische Waffen nur dann gegen einen Feind einsetzten, wenn dieser nicht mit den gleichen Mitteln Vergeltung üben konnte. Die Drohung einer massiven amerikanischen Vergeltung hatte Saddam Hussein während des Golfkriegs 1991 vom Einsatz biologischer und chemischer Waffen abgehalten. Trotzdem galt diese Form der Abschreckung heutzutage als politisch unkorrekt. 1993 hatten die Vereinigten Staaten die CWC, die Chemiewaffen-Konvention, unterzeichnet und sich damit bereit erklärt, chemische und biologische Waffen aus ihren Arsenalen zu entfernen und zu vernichten. Natürlich hatte das Militär es nicht eilig damit gehabt, dem Abkommen Taten folgen zu lassen, denn ohne die Drohung einer Abschreckung war es unmöglich, den Einsatz solcher Waffen gegen amerikanische Truppen oder Zivilisten zu verhindern. Doch offenbar war die Schonfrist nun vorbei. Die Politiker in Washington bekamen ihren Willen: Die Vereinigten Staaten würden nicht mit biologischen oder chemischen Waffen -20-
gegen einen Feind zurückschlagen, selbst wenn dieser zu derartigen Mitteln griff, um Amerikaner zu töten. Als Jake Grafton seine Liegestützen beendet hatte und sich aufrichtete, stand Commander Toad Tarkington, der Stabsplanungsoffizier, mit einem Handtuch vor ihm. Toad war kaum mehr als mittelgroß, tief gebräunt und hatte eine Reihe perfekter weißer Zähne, die er entblößte, wenn er lächelte oder lachte, was er häufig tat. Der Admiral wischte sich das Gesicht mit dem Handtuch ab, hob das Fernglas vo m Boden auf und richtete es erneut auf die Frachtschiffe. »Glücklicherweise war die Entscheidung, diese Dinger zu zerstören, keine, die ich treffen musste«, sagte Toad Tarkington. »Es gibt eine Menge Dinge auf der Welt, für die ich glücklicherweise nicht verantwortlich bin«, erwiderte Jake. »Warum jetzt, Admiral? Und warum braucht die Feldzeugtruppe eine Kampfeinheit, um den Kram zu bewachen?« »Was ich gerne wüsste«, überlegte Jake Grafton laut, »ist, warum diese verdammten Dinger überhaupt hier gelagert worden sind. Wenn wir das wüssten, wüssten wir vielleicht auch, warum die hohen Tiere uns hierher geschickt haben, um Wache zu halten.« »Glauben Sie, dass Castro chemische oder biologische Waffen besitzt, Sir?« »Ich vermute, er hat welche, zumindest hat das irgendwer mit einer Menge Sterne auf den Schultern früher einmal für möglich gehalten. Wenn ja, wurden unsere Waffen wahrscheinlich hier stationiert, um Freund Castro davor abzuschrecken, mit seinen eigenen vor unserer Nase rumzufuchteln. Aber was ist der Grund, sie jetzt abzuziehen?« »Müssen Terroristen sein, Sir«, sagte Toad. »Castro wäre froh, sie verschwinden zu sehen. Ein Angriff der kubanischen Armee ist das Letzte auf Erden, was ich erwarte. Aber -21-
Terroristen… Vielleicht planen sie, den Laden zu überfallen und ein paar von den verfluchten Dingern zu stehlen.« »Vielleicht«, seufzte Jake. »Ich schätze, ich begreife nicht, warum wir sie nach Hause schaffen, um sie zu zerstören«, fügte Toad hinzu. »Die Administration hat die politische Anerkennung dafür geerntet, das Chemiewaffen-Abkommen unterzeichnet zu haben. Wenn wir unsere Waffen behalten, können wir immer noch glaubwürdig mit massiver Vergeltung drohen, falls irgendwer uns bedroht.« »Ziemlich schwierig, sich einverstanden zu erklären, die Dinger zu vernichten, es dann nicht zu tun und gegen andere Länder zu wettern, die es auch nicht getan haben.« »Heuchelei hat noch nie einen Politiker in seinem Tun behindert«, bemerkte Toad grimmig. »Ich schätze, mir hat einfach noch nie die Vorstellung gefallen, nackt auf einer Party zu sein, auf der alle anderen angezogen sind.« »Wer in Washington würde denn jemals den Einsatz von CBW-Waffen autorisieren?«, murmelte Jake. »Können Sie sich einen geschniegelten, frisch geföhnten, politisch korrekten amerikanischen Politiker vorstellen, der einen solchen Befehl unterschreiben würde?« Beide Männer stützten die Ellbogen auf die Reling und betrachteten die Frachtschiffe. Nach einer Weile reichte der Admiral Toad das Fernglas. »Ich frage mich, ob die National Security Agenc y diese Gegend mit Satelliten überwacht«, sinnierte Toad. »Niemand in Washington wird uns das verraten«, stellte der Admiral nüchtern fest. Er deutete auf einen der beiden AegisKreuzer, die in der Nähe ankerten. »Lassen Sie diesen Kreuzer in den nächsten Tagen hier liegen. Er kann die Peripherie des Stützpunkts mit seinen Geschützen abdecken, wenn es hart auf hart kommt. Sorgen Sie dafür, dass die Geschützbesatzung im -22-
Fünf-Minuten-Feuerbereitschafts-Modus bleibt, Munition griffbereit, kein Freigang. Nach drei Tagen kann der Kahn den Anker lichten und uns folgen, und ein anderer Kreuzer übernimmt die Stellung.« »Ja, Sir.« »An Bord der Kearsarge, die morgen zu uns stoßen soll, befindet sich ein Bataillon Landetruppen der Marines. Ich möchte, dass die Kearsarge bei der United States bleibt. Wir werden beide Schiffe fünfzig Meilen südlich von hier außerhalb der kubanischen Hoheitsgewässer kreuzen lassen und mit unserer Übung fortfahren. Aber wir werden auch weiter ein waches Auge auf diesen Stützpunkt haben.« »Was ist mit dem Stützpunkt-Kommandanten, Sir? Er könnte mehr als wir über diese Sache wissen.« »Laden Sie ihn über den abhörsicheren Kanal zum Abendessen zu mir an Bord ein. Lassen Sie ihn mit einem Kopter einfliegen.« »Sir, Ihre Anweisungen legen besonderen Wert darauf, dass Sie einen Dienst- nach-Vorschrift-Sicherheitsmodus beibehalten.« »Ich erinnere mich«, sagte Jake trocken. »Natürlich ist ›Dienst nach Vorschrift ein recht schwammiger Begriff‹«, murmelte Toad. »Sollte irgendwas schief gehen, könnte man Ihnen vorwerfen, nicht genug oder zu viel getan zu haben. Woher auch immer gerade der Wind weht.« Jake Grafton schnaubte. »Wenn ein Haufen durchgedrehter Terroristen diese Gefechtsköpfe in die Hände bekommt, Tarkington, wird man Ihnen und mir den Arsch aufreißen und uns teeren und federn, ganz egal, was wir getan oder nicht getan haben. Dann können wir unsere sterblichen Überreste der Wissenschaft vermachen.« »Was ist mit dem Kommandeur des Flugzeugträgers, -23-
Admiral? Was erzählen wir ihm?« »Verfassen Sie eine streng geheime Mitteilung mit der Anweisung, dass er seine Leute feuerbereit halten soll.« »Aye, aye, Sir.« »Die Nuestra Señora de Colón bricht heute Abend nach Norfolk auf. Sorgen Sie dafür, dass sie von einem Zerstörer eskortiert wird, bis sie die kubanischen Gewässer verlassen hat.« »Yo.« Toad notierte die Anordnungen in einem kleinen Schreibblock, den er in seiner Gesäßtasche aufbewahrte. »Und weisen Sie die Wetterfrösche an, mir eine Bewölkungsvorhersage für die nächsten fünf Tage oder so weit zu erstellen, wie es ihnen möglich ist. Ich möchte in Erfahrung bringen, was die Satelliten beobachten können, oder ob sie überhaupt irgendwas aufzeichnen.« »Sie meinen, ob sie das kubanische Militär im Auge behalten?« »Oder die Terroristen. Wen auch immer.« »Ich kümmere mich darum, Sir.« »Und jetzt werde ich ein paar Runden um das Deck laufen«, fügte Jake Grafton hinzu. »Dürfte ich vorschlagen, eine Kompanie Marines an Land zu schicken, um eine Sicherheitsüberwachung an den Grenzen des Stützpunkts durchzuführen? Ganz routinemäßig.« »Klingt passabel«, sagte Jake Grafton. »Fragen wir den Stützpunkt-Kommandanten heute Abend, was er von der Sache hält.« »Yessir.« »Terroristen oder die kubanische Armee - wollen Sie zehn Scheine setzen? Ich wäre dabei.« »Ich wette nur auf sichere Dinge, Sir, wie auf Preiskämpfe oder Superbowls, gelegentlich auf ein Kakerlakenrennen.« -24-
»Sie sind weiser, als es einem Mann Ihres Alters entspricht, Toad«, kommentierte der Admiral, während er in Richtung des Unterdecks ging. »Genau das sage ic h auch Rita immer«, gab Toad zurück. Rita Moravia war seine Frau. Den Rest von Toads Antwort hörte Jake Grafton schon nicht mehr. »Und Weisheit ist eine schwere Bürde, glauben Sie mir. Eine wirklich schwere Bürde. So in der Art wie biologische Gefechtsköpfe.« Tarkington hob das Fernglas an die Augen und beobachtete aufmerksam die Marinebasis.
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2 Der Abend war heiß und schwül, am Horizont flackerte Wetterleuchten auf. Von seinem Platz in der oberen nicht überdachten Sitzreihe des Stadions aus behielt Hector Juan de Dios Sedano die fernen Blitze im Auge, aber das Gewitter schien weiter nach Norden zu ziehen. Alle anderen Zuschauer verfolgten das Spiel. Hectors jüngerer Bruder Juan Manuel »Ocho« Sedano war der Star-Pitcher der Heimmannschaft. Da er das achte Kind seiner Eltern war, hatten die Kubaner ihn schon vor langem El Ocho getauft. Die Familie verkürzte den Namen auf Ocho. Heute Abend schien sein Fast-Ball geradezu phänomenal zu sein, die Flugkurve ganz außerordentlich. Die Menge bejubelte jeden Pitch. Der Schiedsrichter verlangte zweimal, den Ball zu überprüfen, und händigte ihn danach jedesmal wieder dem Catcher aus, der ihn unter dem entzückten Geschrei der Fans zum Pitcher-Hügel zurückwarf. Zur Hälfte des siebten Innings hatte Ocho gerade zweiundzwanzig Batter hinter sich gebracht. Nur ein Mann hatte die erste Base erreicht, und auch das nur nach einem schwachen Flugball ins äußere Spielfeld, der knapp über die Fingerspitzen des zweiten Baseman hinweggesegelt war. Die Heimmannschaft hatte vier Runs gescha fft. Hector Sedano lehnte mit dem Rücken an dem Bretterzaun hinter ihm und applaudierte seinem Bruder, als dieser den Pitcher-Hügel verließ. Ocho wirkte glücklich und entspannt. Er strahlte das geradlinige Selbstvertrauen eines Spitzensportlers aus, der weiß, wozu er fähig ist. Während Hector klatschte, entdeckte er eine Frau, die durch die Zuschauermenge auf ihn zukam. Sie lächelte, als sich ihre -26-
Blicke trafen, und setzte sich neben ihn. Hier auf der hinteren Bank war Hector gut drei Meter von den nächsten Fans entfernt. Der Bretterzaun in fünf Metern Höhe bildete die Außenwand des Stadions. »Haben deine Freunde dich begleitet?«, erkundigte sich Hector und durchforschte die Menge mit den Augen. »O ja, die üblichen zwei«, erwiderte die Frau, ohne sich die Mühe zu machen, auf sie zu zeigen. Sedano erspähte einen der Männer, der fünf Reihen unter ihm und mehr als zehn Meter entfernt Platz nahm. Einige Sekunden später sah er den zweiten Mann in der Nähe des Eingangs, durch den die Frau das Stadion betreten hatte. Die beiden waren ihre Leibwächter. Die Frau hieß Mercedes. Sie war die Witwe eines Bruders von Hector und Fidel Castros derzeitige Geliebte. »Wie geht es Mima?« Morgen stand der Geburtstag von Hectors Mutter an, und die Familie strömte zur Feier zusammen. »Gut. Sie freut sich schon, alle zu sehen.« »Ich habe den Geburtstag als Ausrede benutzt. Fidels Leute wollen nicht, dass ich die Residenz in diesen Tagen verlasse.« »Wie schlimm steht es um ihm?« »Está to jodío. Er ist am Ende. Ein Arzt gab ihm zwei Wochen, ein anderer noch drei. Der Krebs breitet sich sehr schnell aus.« »Und was glaubst du?« »Ich denke, er wird noch etwas länger leben, aber jede Nacht wird es schlimmer. Ich halte neben ihm Wache. Wenn er schläft, setzt sein Atem oft bis zu einer halben Minute lang aus. Dann sehe ich auf die Uhr, zähle die Sekunden und frage mich, ob er wieder atmen wird.« Der Center-Fielder der Heimmannschaft betrat das Schlagmal. -27-
Ocho war der zweite Batter. Er stand mit einem Schläger in der Hand im Kreis der Spieler, die sich auf ihren Einsatz vorbereiteten, und ließ den Blick über die Zuschauer wandern. Schließlich entdeckte er Hector, nickte ihm kaum merklich zu und konzentrierte sich wieder auf seine Aufwärmschwünge. »Wer weiß darüber Bescheid?«, fragte Hector. »Nur wenige. Alejo hält die Sache unter Verschluss. Die Ärzte sind rund um die Uhr bei ihm.« Alejo Vargas war der Innenminister. Die ihm unterstellte Abteilung für Staatssicherheit - die Geheimpolizei - verfolgte und unterdrückte die Opposition und Dissidenten. »Wir haben lange gewartet«, murmelte Hector nachdenklich. »Ese cabrón, wir hätten ihn schon vor Jahren töten sollen«, sagte Mercedes und lächelte einer Frau zu, die sich zu ihr umgedreht hatte. »Mit Blut an den Händen können wir nicht gewinnen.« »Alejo verdächtigt dich, glaube ich.« »Ich bin nur ein Jesuitenpriester, ein Lehrer.« Mercedes schnaubte. »Er verdächtigt jeden«, fügte Hector hinzu. »Sei kein Narr.« El Ocho trat unter dem Gebrüll der Menge in die Batter-Box. Er wackelte mit dem Schläger, winkelte ihn an und wartete. Seine Haltung war perfekt, das Gewicht ausbalanciert, die Muskeln angespannt. Als er zuschlug, konnte Hector Ochos herrliches Talent sehen. Sein Bruder wirkte so… perfekt. Ocho ließ den ersten Ball vorbeifliegen… aus. Der zweite Ball kam tief herein. Der Pitcher der gegnerischen Mannschaft ging um den Werferhügel herum, überprüfte den Ball, stellte die Zehenspitzen auf die Gummiunterlage. -28-
Tatsächlich war Ocho ein besserer Batter als ein Pitcher. Oh, er war schon ein großartiger Pitcher, aber wenn er einen Schläger in der Hand hielt, kam seine ganze Gabe zum Vorschein: die Reflexe, das Auge, seine Physis, die Fähigkeit, den richtigen Moment abzuwarten… Der dritte Pitch war ein Strike, hüfthoch. Ocho schwang den Schläger und traf punktgena u. Der Ball stieg hoch in die Luft und flog, als hätte er Flügel, bis er den Center-Field-Zaun um eine beachtliche Strecke überquert hatte. »Er hat ihn perfekt erwischt«, sagte Mercedes mit unüberhörbarer Bewunderung. Ocho trabte gemächlich über die Bases, während alle Zuschauer auf den einfachen Sitzplätzen applaudierten. Der gegnerische Pitcher auf dem Werferhügel schüttelte entnervt den Kopf. El Ochos Manager war der Erste, der seinen Schützling in Empfang nahm, als der auf das Dugout zutrottete. Er klopfte seinem Star auf die Schulter, schüttelte ihm die Hand und strahlte vor Stolz, fast wie ein Vater. »Was tut sich sonst?«, fragte Hector. »Die Regierung hat die Casino-Vereinbarung unterzeichnet. Miramar, Havanna, Varadero und Santiago. Das Konsortium wird fünfzig Prozent der Kosten für den Bau eines Flughafens in Santiago übernehmen.« »Sie haben… wie lange verhandelt? Drei Jahre?« »Beinahe.« »Kam es dir so vor, als hätten es die Verhandlungspartner auf kubanischer Seite eilig gehabt?« »Davon habe ich nic hts gespürt. Die Amerikaner waren mit der Abmachung zufrieden, also haben sie unterschrieben.« »Wer sind diese Amerikaner?« »Ich habe sie bisher für Casinoleute aus Nevada gehalten, -29-
aber ich glaube, im Hintergrund ziehen andere die Fäden, Kriminelle. Sie wollten Zusagen für Prostitution und Drogenhandel…« Die kubanische Regierung verhandelte seit Jahren mit ausländischen Investoren, hauptsächlich mit Kanadiern und Europäern. Mittlerweile war der Tourismus zur wichtigsten Einnahmequelle des Landes geworden. Eineinhalb Millionen Touristen pro Jahr hielten die Wirtschaft der Insel mit harter Währung am Laufen. Jetzt verhandelte Havanna ganz offen mit amerikanischen Gesellschaften, wobei alle Vereinbarungen auf das Ende des amerikanischen Wirtschaftsembargos abzielten. Fidel Castro glaubte, politischen Druck auf die amerikanische Regierung ausüben zu können, indem er mit den Erschließungsrechten vor den Nasen amerikanischer Kapitalisten herumwedelte. So weit es Hector Sedano betraf, verstand Fidel die Mentalität der Amerikaner. »Der Verhandlungspartner für das Tabakgeschäft, Chance wie kommt er voran?« »Er spricht mit deinem Bruder Maximo. Danach will er sich mit Vargas treffen. Der Tabak wird das Zuckerrohr als Kubas Hauptanbauprodukt ablösen, meint er. Die Zigaretten sollen hier hergestellt und dann unter einem amerikanischen Markennamen in der ganzen Welt vertrieben werden. Amerika wird die gesamte Finanzierung übernehmen, Kuba bekommt die Hälfte der Einnahmen.« »Meint dieser Chance es ernst?« »Es scheint so. Die Tabakfirmen glauben, dass ihre Tage in den Vereinigten Staaten gezählt sind. Sie wollen ihre Geschäfte außer Landes verlagern und so den Bestimmungen entgehen, die ihnen demnächst das Genick brechen werden.« Hector saß schweigend da und ließ sich alles durch den Kopf gehen, während die uniformierten Spieler auf dem Feld unter ihm einen Wettkampf mit festen Spielregeln bestritten. Welch -30-
ein Unterschied zu politischen Winkelzügen! Mercedes war unbezahlbar, eine Frau, die in den höchsten Kreisen der kubanischen Regierung verkehrte. Sie lieferte ihm Informationen, über die wahrscheinlich nicht einmal Castro selbst verfügte. Die entscheidende Frage war natürlich die, woher sie ihr Wissen bezog. Hector sagte sich immer wieder, dass er es gar nicht wissen wollte, aber ihm war absolut klar, dass er sich damit selbst belog. Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie trug ein schlichtes Kleid, das ihren wunderbaren Körper weder betonte, noch ihn irgendwie verbarg. Mercedes war eine schöne Frau, die kein Make- up benötigte und auch keins trug. Jeder Mann, der ihr begegnete, fühlte sich augenblicklich zu ihr hingezogen, eine Tatsache, die so natürlich wie das Wetter war, was sie nicht einmal zu bemerken schien. Sie war außergewöhnlich klug und besaß ein nahezu fotografisches Gedächtnis, doch die kubanische Gesellschaft bot ihr kaum eine Möglichkeit, diese Gabe zu nutzen. Es sein denn als Spionin. »Wird Maximo morgen zu Mimas Feier kommen?« »Das hat er gesagt.« »Sollte ich schockiert sein, wenn er sich besitzergreifend verhält?« Mercedes warf ihm einen Seitenblick zu und hob eine Augenbraue. »Er wird garantiert nicht so dumm sein.« Blieb die Frage, mit wem sie schlief. Hector musterte sie immer wieder verstohlen und nachdenklich. Sie schien sich auf das Baseball-Spiel zu konzentrieren. Alles, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie nicht mit ihm schlief, und - weiß Gott! - darüber hatte er sich mehr Gedanken gemacht, als es irgendein Priester tun sollte. Sicher, auch Priester waren nur Menschen und hatten mit ihren -31-
Bedürfnissen zu kämpfen, aber trotzdem… Castro… Natürlich schlief sie mit ihm - sie war seine Geliebte -, daher bezog sie ihre Informationen. Aber liebte sie ihn auch? Oder war sie eine kaltschnäuzige, berechnende Opportunistin, bereit, die Seiten zu wechseln, jetzt, da Castro im Sterben lag? Nein. Hector schüttelte den Kopf. Er weigerte sich, so von ihr zu denken. Wie passte Maximo ins Bild? Während er über diesen Punkt nachdachte, fragte er sich, wie Maximo sie einschätzte. Mercedes verließ das Stadion, na chdem Ocho ein Inning geworfen hatte. Er schaltete drei Batter mit seinen Würfen aus. Dann war das Spiel zu Ende, aber Hector Sedano blieb auf seinem Platz sitzen und sah zu, wie die Zuschauer aus dem Stadion strömten. Er saß immer noch da, als ihm jemand zurief: »Hey, ich schalte jetzt das Licht aus!« Die anschließende Dunkelheit war nicht vollkommen. Über den Ausgängen brannten kleine Lampen, die Lichter Havannas erhellten den Himmel, und am Horizont flackerte noch immer fernes Wetterleuchten. Sedano zündete sich eine weitere Zigarre an und rauchte langsam. Einige Minuten später entdeckte er die Umrisse eines Mannes, der durch den Zwischengang in seine Richtung schlenderte und sich mehrere Schritte von ihm entfernt in einen Sitz fallen ließ. »Gutes Spiel heute Abend.« Es war Alfredo Garcia, der Platzwart. »Ja.« »Ihr Bruder, El Ocho, war großartig. Was für ein Talent, was für eine Ausstrahlung.« »Wir sind sehr stolz auf ihn.« »Warum nennen Sie ihn El Ocho?« »Er war das achte Kind. Er hat das übliche halbe Dutzend -32-
Namen, aber seine Brüder und ich nennen ihn einfach Ocho.« »Ich habe gesehen, dass sie da war, mit ihren Leibwächtern im Schlepptau… Was hat sie gesagt?« »Wieso glauben Sie, dass sie mir irgendwas erzählt?« »Kommen Sie, mein Freund. Irgendjemand flüstert Ihnen was zu.« »Und irgendwer flüstert es weiter an Alejo Vargas.« »Verdächtigen Sie mich?« »Ich halte Sie für dumm genug, sowohl Geld von den Amerikanern als auch von Alejo Vargas zu nehmen und zu glauben, niemand würde Ihnen auf die Schliche kommen.« »Guter Gott, Mann! Überlegen Sie sich, was Sie da sagen!« Alfredo rückte etwas näher. Sedano konnte das Gesicht des anderen sehen, das fast so weiß wie sein Hemd war. »Genau das tue ich.« »Sie haben mich in der Hand. Ich musste Ihnen mein Leben anvertrauen, als ich mich Ihnen damals zum ersten Mal genähert habe. Daran hat sich nichts geändert.« Sedano paffte schweigend seine Zigarre und betrachtete Garcias Gesicht. Garcia, als Kind kubanischer Eltern in den USA geboren, war Priester gewesen. Doch er hatte die Finger nicht von den Frauen lassen können und sich schließlich mit mehreren Oben-ohne-Tänzerinnen einer »Begleit«-ServiceAgentur in East St. Louis eingelassen. Schon nach wenigen Monaten hatte das FBI ihn wegen des Verstoßes gegen den »Mann Act« verhaftet, also Transport von Frauen über Staatsgrenzen zu unmoralischen Zwecken, mit anderen Worten: Prostitution. Nach seinem Rauswurf aus der Kirche war er auf Kaution freigekommen und nach Kuba geflohen. Einige Jahre später hatte die CIA ihn angeworben und beauftragt, Kontakte zu Sedano zu knüpfen. Hector Sedano zweifelte nicht daran, dass Garcia die -33-
amerikanische Regierung mit Informationen versorgte. Während der letzten vier Jahre hatte der ehemalige Priester ihm fast eine Million Dollar in bar und genug Waffen beschafft, um damit eine kleine Armee auszurüsten. Die Waffen und das Geld trafen stets pünktlich an den Orten ein, die Garcia nannte. Trotzdem blieb die Frage: Mit wem sprach der Mann sonst noch? Mit wem sprachen seine Verbindungsleute? Sedano hatte haufenweise Waffen versteckt, und er betete, dass sie nie zum Einsatz kommen würden. Das Geld benutzte er zur Deckung von Reisekosten und für Bestechungen. Ohne Geld, um kleinere Fische zu schmieren, wäre er schon vor Jahren im Gefängnis gelandet. Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. Seit Jahren lebte er an der Armutsgrenze, und das Leben wurde nicht leichter. »Castro liegt im Sterben«, sagte er. »Es ist nur noch eine Frage von Wochen. Zumindest behaupten die Ärzte das.« Alfredo Garcia holte tief Luft und stieß sie geräuschvoll wieder aus. »Ich erzähle Ihnen das jetzt von Mann zu Mann, Alfredo. Alejo Vargas' Unterlagen werden schon bald in meine Hände gelangen. Falls Sie mich oder das kubanische Volk verraten haben, sollten Sie sich lieber nach einer Möglichkeit umsehen, diesen Planeten zu verlassen, denn Sie werden nirgendwo einen Ort finden, an dem Sie sich verkriechen können, weder vor mir, noch vor der CIA oder den Menschen, die Sie verraten haben.« »Ich habe niemanden verraten«, beteuerte Alfredo Garcia. »Gott? Ja. Aber keinen Menschen.« Er stand auf und ließ Sedano allein mit seiner Zigarre zurück. Fidel Castro starb! Hector Sedano konnte sein Herz laut pochen hören, während er versuchte, die ganze Tragweite dieser Enthüllung zu erfassen. -34-
Millionen von Menschen warteten auf Castros Tod, einige geduldig, die meisten ungeduldig, viele mit der Ahnung drohenden Unheils. Seit 1959 beherrschte er Kuba als absoluter Diktator. Die von ihm angeführte Revolution hatte lediglich den alten Diktator gestürzt und einen neuen an seiner Stelle installiert. Castro hatte die noch in ihren Kinderschuhen steckende Demokratie zerschlagen, sich dem Kommunismus an den Hals geworfen und seine totale, absolute Herrschaft mit brachialer Demagogie gefestigt. Er verfolgte und exekutierte seine Feinde, konfiszierte das Eigentum eines jeden, der sich gegen ihn stellen könnte. Hunderttausende von Kubanern waren geflohen, viele davon nach Amerika. Castros Hinwendung zum Kommunismus und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums ausländischer Firmen, die in Kuba investiert hatten, Werte in Höhe mehrerer Milliarden Dollar, war im Grunde vorhersehbar gewesen. Die meisten dieser Firmen hatten sich, wie nicht anders zu erwarten, in amerikanischem Besitz befunden. Und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, hatte die Regierung der Vereinigten Staaten darauf mit einer diplomatischen und wirtschaftlichen Blockade reagiert, die bis heute anhielt. Nach der Konfiszierung des Vermögens amerikanischer Firmen, denen der größte Teil Kubas gehört hatte, waren Castro nicht viele Möglichkeiten geblieben, also hatte er die Sowjetunion gegen die Vereinigten Staaten als Schutzmacht Kubas eingetauscht. Das einzig Gute an diesem Austausch war die Tatsache, dass die Sowjetunion sehr viel weiter als Florida von Kuba entfernt lag. Es war nie eine gleichwertige Partnerschaft gewesen. Die Sowjets hatten Fidel praktisch bei jeder Wendung der geschichtlichen Ereignisse gedemütigt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus' Anfang der 90erJahre in der Sowjetunion hatte sich das nun demokratische Russland von Kuba als einem Kostenverursacher getrennt, den es sich nicht mehr leisten konnte. Dieser Schicksalsschlag hatte -35-
Kuba, das trotz aller Anstrengungen Castros noch immer ein Sklave des Zuckerrohrs war, hart getroffen. Aber Castro hatte alle Rückschläge überstanden. Wenn auch längst nicht so beliebt, wie seine Anhänger glaubten, war er nicht annähernd so unbeliebt, wie es die Exilkubaner behaupteten. Alles lief letztendlich darauf hinaus, dass Castro mit Leib und Seele Kubaner war und wild entschlossen an seiner Unabhängigkeit festhielt, und diese Einstellung hatte er auf ganz Kuba übertragen. Seine Demagogie fiel bei den armen Bauern, die nichts als ihren Stolz besaßen, auf fruchtbaren Boden. Die anhaltenden Fluchtbewegungen über die Meerenge von Florida diente dem Regime als Sicherheitsventil, das es vom Druck durch seine schlimmsten Feinde befreite, jenen lautstarken Kritikern, die gewillt und beharrlich genug waren, ernsthafte Probleme zu schaffen. Wer blieb, ordnete sich gemäß der lateinamerikanischen Mentalität Castro unter, respektierte ihn sogar dafür, dass er dem Rest der Welt eine lange Nase zeigte. Er mochte zwar ein Diktator sein, aber er war »unser« Diktator. Jetzt dämmerte ein neuer Tag über Kuba herauf, eine Zeit ohne Castro und die Altlasten des Kommunismus, ballistischer Raketen und Invasionen, eine Zeit ohne die bittere Feindschaft mit den Vereinigten Staaten. Was diese Zeit bringen würde, stand noch nicht fest, aber sie würde kommen. Die Exilkubaner wollten Gerechtigkeit und Rache, die Bauern, die in den Häusern der Exilanten wohnten, mittlerweile mit vielen Familien in jedem Gebäude, fürchteten, daraus vertrieben zu werden. Die ausländischen Firmen, die Castro bestohlen hatte, verlangten Entschädigungen. Alle wollten Nahrung, Arbeit und eine Zukunft. Es schien, als würden die Rechnungen für alle Fehler der Vergangenheit demnächst auf einen Schlag präsentiert werden. Wenn er überlebte, würde Hector Sedanos Stimme in dieser Zukunft Gehör finden. Er saß rauchend in der Dunkelheit und beobachtete den herannahenden Sturm. -36-
Natürlich hatte Mercedes Recht, was die Gefahr betraf, die Alejo Vargas darstellte. Man mische lateinamerikanischen Machismo und die Bereitschaft, Gewalt zur Erreichung der eigenen Ziele einzusetzen, füge eine großzügige Portion Eitelkeit, Egoismus und Paranoia hinzu, verrühre alles gut miteinander, und fertig ist das Rezept für einen waschechten lateinamerikanischen Diktator, selbstgerecht, misstrauisch, schießfreudig und absolut skrupellos. Fidel Alejandro Castro Ruz war das Ergebnis dieser Mischung, und Alejo Vargas, das wusste Hector, nur ein weiteres Exemplar dieser Art. Doch das konnte Hector Sedano Mercedes gegenüber, die Fidel liebte, wie er vermutete, nicht erwähnen. Er benötigte ihre Mitarbeit. Alfredo Garcia suchte sich einen Platz nahe der Bude des Ticketverkäufers, von wo aus er die dunkle Gestalt auf der oberen Sitzreihe im Auge behalten konnte. Er war so nervös, dass er zitterte. Wie Hector Sedano wurde auch er von der Nachricht überwältigt, die er soeben erhalten hatte. Fidel Castro lag im Sterben! Der Gedanke ließ ihn erschaudern. Dieser Priester in der oberen Sitzreihe war einer der Anwärter um die Macht in einem Kuba der Post-Castro-Ära. Natürlich gab es noch and ere, darunter an erster Stelle Alejo Vargas, seines Zeichens Innenminister und Chef der Geheimpolizei. Ja, Garcia erstattete der Geheimpolizei von Alejo Vargas Bericht - ihm blieb gar nichts anderes übrig. Niemand konnte sich der Abteilung für Staatssicherheit widersetzen, am wenigsten jemand, der vor der amerikanischen Justiz geflohen war und auf Kuba Schutz suchte. Und natürlich kooperierte er auch weiterhin. Vargas' Spione waren überall, belauschten jedes Gespräch, beobachteten ihn bei jeder Mahlzeit, in jedem wachen Moment… oder zumindest -37-
erschien es ihm so. Man konnte nie sicher sein, was die Geheimpolizei aus anderen Quellen wusste, was sie nur vermutete, in welchen Punkten er ihr einziger Informant war. Garcia ging mit dieser Situation auf die einzige Art und Weise um, zu der er fähig war. Konkrete Fragen beantwortete er mit ein paar Brocken Wahrheit - sofern er überhaupt etwas wusste -, aber er gab nie freiwillig etwas preis. Falls die Geheimpolizei wusste, dass er Kontakte zur CIA unterhielt, ließ sie sich nichts davon anmerken. Was sie dagegen zweifellos wusste, war, dass Hector Sedano Einfluss im Untergrund besaß, obwohl sie in ihm nur einen kleinen Fisch zu sehen schien. Garcia sah das anders. Er hielt Hector Sedano für den mächtigsten Mann Kubas nach Fidel Castro, sogar noch mächtiger als Alejo Vargas. Wieso verstand Hector nicht, in welcher Zwickmühle Alfredo Garcia steckte? Er musste doch wissen, wie es war, wenn man nur wenige Optionen hatte - oder überhaupt keine. Alfredo war ein schwacher Mann. Er war nie stark genug gewesen, den fleischlichen Gelüsten zu widerstehen. Gott hatte ihm vergeben, davon war er überzeugt, aber würde Hector Sedano es ebenfalls tun? Ein düsteres Lächeln huschte über sein Gesicht, während er Hector aus der Dunkelheit heraus beobachtete. Einer der Anwärter um die Macht in Kuba nach der Ära Castro würde Hectors eigener Bruder sein, Maximo Luis Sedano, der Finanzminister. Maximo war Fidels engster Vertrauter, er gehörte zum innersten Zirkel. Drei Jahre älter als Hector, hatte er Castros Revolution ein Leben lang verinnerlicht und gelebt, sich freiwillig im Schatten des großen Mannes gehalten. Diese Tage waren nun fast vorbei, und Maximos Freunde flüsterten, dass er bereit stünde, dass er mehr wolle. Das waren die Gerüchte, die Garcia so hörte, und er vermutete, dass sie wie die -38-
meisten Gerüchte einen Kern Wahrheit enthielten. Was Maximo betraf, sah er in Alejo Vargas wahrscheinlich seinen einzigen ernsthaften Rivalen. Er würde schon in naher Zukunft einen schweren Schock erleben. Und dann waren da noch die Exilanten. Gott allein wusste, was diese Idioten tun würden, wenn Fidel seinen letzten Atemzug aushauchte. Ja, wenn Fidel starb, würde das Feuerwerk ohne jeden Zweifel beginnen. Hector Sedano paffte die letzten Züge von seiner Zigarre, als sein jüngerer Bruder El Ocho die Sitzreihen zu ihm heraufkam. Ocho ließ sich auf der Bank ihm gegenüber nieder, lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Sitz vor sich. »Du hast heute Abend sehr gut gespielt. Dein Homerun war eine wahre Pracht.« »Es ist nur ein Spiel.« »Und du beherrschst es gut.« Ocho schnaubte. »Nur ein Spiel«, wiederholte er. »Das ganze Leben ist ein Spiel«, sagte sein Bruder und drückte den Zigarrenstummel aus. »War das Mercedes, die ich vorhin bei dir gesehen habe?« »Sie war wegen Mimas Geburtstag hier.« Ocho nickte. Er schien sich innerlich zu sammeln, bevor er weitersprach. »Diego Coca, mein Manager, möchte, dass ich in die Vereinigten Staaten gehe.« Hector kommentierte die Aussage seines Bruders nicht. Manchmal sagte Ocho furchtbare Dinge, um eine Reaktion zu provozieren. Hector selbst hatte dieses Spiel schon vor Jahren aufgegeben. »Diego meint, ich könnte in der Major League spielen.« -39-
»Glaubst du ihm?« Ocho sah seinen älteren Bruder und besten Freund an. »Diego ist ein Träumer. Ich mache in diesem Spiel eine gute Figur, weil die anderen Spieler nicht so gut sind. Der Pitch, den ich heute Abend aus dem Feld geschlagen habe, war ein hüfthoher, genau in die Mitte gezielter Fast-Ball. Pitcher in der amerikanischen Major League werfen keine solchen Bälle, weil jeder dort sie treffen kann.« »Könntest du dort pitchen?« »In Kuba ist mein Fast-Ball ein bisschen schneller als der aller anderen. Meine Flugkurve ist etwas unberechenbarer. In Amerika beherrschen alle Pitcher einen guten Fast-Ball und Breaking- Ball. Jeder dort ist besser als ich.« Hector lachte. »Du bist also nicht daran interessiert, nach Amerika zu gehen und reich zu werden, so wie unser Onkel Tomas?« Tomas hatte sich vor zehn Jahren während der Tournee einer aus Baseball-Stars bestehenden Mannschaft in Mexico City abgesetzt. Jetzt besaß er fünf Trockenreinigungen in Miami. O ja, Tomas wurde reich! »Ich bin nicht gut genug, um in den großen Ligen zu spielen. Diego behauptet, ich wäre es. Ich denke, er glaubt es wirklich. Er möchte, dass ich gehe, ihn mitnehme und einen großen Vertrag unterschreibe. Ich bin seine Chance.« »Er möchte mit dir fliehen?« »Richtig.« »Auf einem Boot?« »Er sagt, er kennt einen Mann, der ein Boot hat. Der Mann könnte uns nach Florida bringen, wo Leute auf uns warten würden.« »Glaubst du das?« »Diego glaubt es. Das ist es, was zählt.« »Du schuldest Diego ein paar schweißtreibende Stunden auf -40-
dem Baseball-Platz, sonst nichts.« Ocho schwieg. Er lehnte sich weiter zurück, stützte sich auf die Ellbogen und wippte mit den Füßen. »Warum erzählst du mir nicht die ganze Geschichte?«, fragte Hector sanft. »Ich habe Diegos Tochter geschwängert«, sagte Ocho nach einer Weile, ohne seinen Bruder dabei anzusehen. »Dora, seine zweite.« »Weiß er das?« Ocho nickte. »Dann heirate das Mädchen. Das ist vielleicht etwas peinlich, aber keine Schande. Mein Gott, Mama war schwanger, als Papa sie geheiratet hat! Willkommen in der Welt, Ocho. Und herzlichen Glückwunsch.« »Diego ist Doras Vater.« »Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Hector. »Ihr seid beide jung und heißblütig. Er wird es bestimmt verstehen. Ich werde ihm versprechen, dass du das Richtige für sie tun wirst. Du wirst mit ihr vor den Altar treten, sie lieben und ehren…« »Diego möchte das Beste für sie, für das Baby, für mich.« »Für sich selbst.« »Und für sich selbst, ja. Er möchte, dass wir mit dem Boot seines Freundes nach Amerika fliehen. Dort werde ich Baseball spielen und viel Geld verdienen, und wir werden ein gutes Leben in Amerika führen. Das ist sein Traum.« »Ich verstehe«, sagte Hector. Er lehnte sich gegen den Bretterzaun. »Ist es auch dein Traum?« »Ich habe niemandem davon erzählt«, erwiderte Ocho, womit er die Familie meinte. »Wirst du es Mima sagen?« »Nicht an ihrem Geburtstag. Ich dachte, du könntest es ihr -41-
sagen, sobald wir in Amerika sind.« »Estás loco, Ocho. Dieses Boot… ihr könntet ertrinken. Hunderte… Tausende von Menschen sind schon dort draußen ertrunken. Das Meer verschlingt sie. Sie verschwinden von hier, und niemand hört jemals mehr vo n ihnen.« Ocho betrachtete seine Zehen. »Wenn die Amerikaner euch aufgreifen, schicken sie euch zurück. Sie wollen keine Boat-People.« »Diego Coca sagt, dass…« »Scheiß auf Diego Coca! Die kubanische Marine wird euch wahrscheinlich schnappen, noch bevor ihr außer Sichtweite von Mamas Haus seid. Betet, dass sie es tut, damit ihr nicht dort draußen im Golfstrom sterbt. Und wenn ihr so viel Glück habt, lebendig in Florida anzukommen, werden die Amerikaner euch verhaften und in ein Lager in Guantánamo Bay stecken. Selbst wenn ihr nach Kuba zurückkommt, wird die Regierung dich nicht wieder Baseball spielen lassen. Ihr werdet den Rest eures Lebens damit verbringen, auf den Feldern Zuckerrohr zu schneiden. Denk darüber nach!« Ocho saß schweigend da und lauschte dem Konzert der Insekten. »Hast du Diego Coca Geld gegeben?«, wollte Hector wissen. »Ja.« »Verrätst du mir auch, wie viel?« »Nein.« »Du finanzierst seinen Traum, Ocho.« »Wenigstens hat er einen.« »Was soll das heißen?« »Genau das, was ich gesagt habe. Diego Coca hat wenigstens einen Traum. Er möchte nicht auf dieser gottverdammten Insel hocken und verrotten, während das Leben an ihm vorbeigeht. -42-
Das möchte er seiner Tochter und ihrem Kind ersparen.« »Er möchte es sich selbst ersparen.« Ocho warf die Hände in die Luft. »Diego Coca soll dieses Boot besteigen und seinem Traum hinterher jagen, wenn das sein Traum ist«, hakte Hector unbarmherzig nach. »Du und Dora, ihr solltet heiraten. Gebt eure Hochzeit morgen auf Mimas Feier bekannt - diese Menschen sind von eurem Fleisch und Blut. Kuba ist euer Land, euer Erbe. Ihr habt diesen Menschen alles zu verdanken, was ihr seid und jemals werden könnt.« »Kuba ist dein Traum, Hector.« »Und was ist deiner? Ich frage dich das zum zweiten Mal.« Ocho schüttelte den Kopf wie ein schwerfälliger Bulle. »Ich verspüre nicht das Bedürfnis, Intrigen gegen den Staat zu spinnen, Reden zu halten, darauf zu warten, verhaftet zu werden, von einer Utopie zu träumen, die niemals kommen wird. Das ist ein vergeudetes Leben.« Hector überlegte sich seine Antwort gut. »Was du sagst, ist wahr. Aber solange sich die Dinge in Kuba nicht ändern, ist es unmöglich, andere Träume zu träumen.« Sein Bruder stand auf. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit festen, lang gezogenen Muskelsträngen. »Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt.« »Ein Mann muss einen Traum haben, der größer als er selbst ist, oder das Leben hat wenig Sinn.« »Hab sowieso nicht gedacht, dass du es für eine gute Idee halten würdest.« »Das tue ich auch nicht.« »Sonst hättest du Kuba selbst schon verlassen.« »Ocho, ich bitte dich um einen persönlichen Gefallen. Warte noch zwei Wochen. Warte, wie die Welt in zwei Wochen aussieht, bevor du dieses Boot besteigst.« -43-
Hector konnte den Schmerz sehen, der sich tief in Ochos Züge grub. Der jüngere Mann blickte ihm direkt in die Augen. »Das Boot wird nicht warten.« »Ich bitte dich als dein Bruder, der dich noch nie um etwas anderes gebeten hat. Ich bitte dich in Mimas Namen, die dich von ganzem Herzen liebt, und in Papas Namen, der im Himmel über dich wacht. Sei so lieb, mir diese Bitte nicht abzuschlagen. Zwei Wochen.« »Das Boot wartet nicht, Hector. Diego will es. Dora will es. Ich habe keine Wahl.« Ocho drehte sich um und sprang leichtfüßig von Sitzreihe zu Sitzreihe, bis er das Spielfeld erreicht hatte. Er überquerte die dunkle, verwaiste Raute und verschwand im Unterstand der Heimmannschaft. El Gato war zwar in Kuba geboren, aber schon als Säugling, noch vor der kubanischen Revolution, mit seinen Eltern nach Miami gezogen. Er hatte keinerlei Erinnerungen an Kuba. Tatsächlich betrachtete er sich selbst als Amerikaner. Englisch war die Sprache, die er am besten beherrschte, die Sprache, in der er dachte. Als Jugendlicher hatte er zu Hause Spanisch gelernt, er verstand es problemlos und sprach es mit einem deutlichen Akzent. Trotzdem war es eine Art Kulturschock für ihn, tagelang nur kubanisches Spanisch um sich herum zu hören. Er war mit zweien seiner Leibwächter über Mexico City nach Havanna geflogen. Seine Kontakte zur kubanischen Regierung hatte er stets ganz behutsam gepflegt und sorgsam geheim gehalten, doch jetzt waren Gerüchte zu ihm durchgesickert, denen zufolge Castro krank war und bedeutende Veränderungen in Kuba bevorstanden. Diese Gerüchte klangen glaubwürdig, das sagte ihm sein Instinkt. El Gato, die Katze, war nicht reich geworden, indem er seine Instinkte ignoriert hatte. Also hatte er beschlossen, nach Kuba zu fliegen und das Risiko einzugehen, später dafür eine -44-
glaubwürdige Erklärung nachreichen zu müssen. Sollten die Exilanten jemals auch nur ahnen, dass er sie betrog, Geldzuwendungen hin oder her, würden sie sich an ihm rächen. Mut war eine von El Gatos herausragenden Tugenden. Wäre er feige gewesen, hätte er nicht ein Vermögen von nahezu einer halben Milliarde Dollar angehäuft. Und so hatten er und seine Leibwächter das Flugzeug bestiegen. Das war vor fast einer Woche gewesen; seither hatte er gewartet und ständig Geld in den Casinos verloren. Jetzt war die Wartezeit endlich vorüber. Heute Abend würde er dem Mann begegnen, den zu treffen er gekommen war. Alejo Vargas. In fünf Minuten. Er warf einen Blick auf seine Uhr, steckte seine Spielchips ein und ging zur Tür des Clubs, des Tropicana, das Juwel Havannas. Seine Leibwächter folgten ihm wie Schatten. El Gato verließ das Casino durch den Hintereingang. Die drei Männer marschierten einen Häuserblock weit zu einer schwarzen Limousine, die am Straßenrand parkte, stiegen ein und nahmen auf der Rücksitzbank Platz. Ihnen gegenüber, auf der ihnen zugewandten Bank der Passagierkabine, saßen zwei Männer. »El Gato, willkommen in Havanna. Ich muss gestehen, ich habe nie damit gerechnet, dass wir uns jemals auf kubanischem Boden treffen würden.« »Wunder geschehen immer wieder, Señor Vargas. Die Welt dreht sich, die Sonne geht auf, und wir alle werden mit jedem Tag älter. Kluge Männer passen sich den Veränderungen an.« »Völlig richtig. Dies ist Colonel Santana, Leiter der Abteilung für Staatssicherheit.« El Gato nickte Santana höflich zu. Dann stellte er ihm seine Leibwächter vor, die Santana nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte. »Ich hatte gehofft, Señor Vargas, wir beide könnten uns unter -45-
vier Augen unterhalten. Vielleicht unter Beobachtung, aber in einiger Entfernung von diesen Gentlemen?« Vargas neigte zustimmend den Kopf, drückte auf eine Taste und instruierte den Fahrer über eine Gegensprechanlage. Nach einer Fahrt von rund fünfzehn Minuten, während der kein einziges Wort fiel, hielt die Limousine, und ihre Passagiere stiegen gemeinsam aus. Der Wagen parkte auf einem Wellenbrecher neben dem Morro Castle, dessen dunkle Befestigungsmauern in den von den Lichtern Havannas erhellten Himmel ragten. Vargas und El Gato schlenderten davon. »Die Ladung ist an Bord«, begann El Gato, »und das Schiff ist in See gestochen. Ich schätze, Sie haben mich warten lassen, um sich zu vergewissern, ob es so eintreffen würde.« »Als Sie diese Operation vorgeschlagen haben, hatte ich so meine Zweifel. Die habe ich immer noch.« »Ich kann nicht für einen Erfolg garantieren«, sagte El Gato. »Ich tue alles, was in meine r Macht steht, um den Erfolg zu gewährleisten, aber manchmal dreht sich die Welt nicht so, wie ich es will. Ich weiß das, was mich aber nicht davon abhält, mich trotzdem zu bemühen.« »Die Zeit des Wartens ist bald vorüber.« »Allerdings. In vielerlei Hinsicht. Ich habe Gerüchte gehört, nach denen Fidel nicht mehr lange unter uns weilen wird.« Vargas quittierte die Bemerkung mit Schweigen. »Es werden schon sehr bald große Veränderungen in Kuba stattfinden«, fuhr El Gato fort. »Und mir ist der Gedanke gekommen, dass sich ein Mann, der Freunde unter der neuen Führung Kubas hat, in einer beneidenswerten Position befinden dürfte.« »Haben Sie solche Freunde?« »Ich bin hier, um ein wenig herumzuschnuppern, sozusagen, -46-
weil ich genau das herausfinden will.« »Nach all den Jahren, die Sie gegen Castro gearbeitet haben, werden alle Ihre Freunde, die Sie möglicherweise haben, das nicht an die große Glocke hängen.« »Was geschwätzige Freunde angeht, davon habe ich mehr als genug in Florida. Nein, die Art von Freunden, die ic h brauche, sind diejenigen, die ihre Freundschaft für sich behalten und helfen, wenn es nötig wird, die mir ihre Unterstützung gewähren, wenn ich sie darum bitte, die zu gegebener Zeit ja sagen.« »Wie viel Geld haben Sie den politischen Bewegungen der Exilkubaner zufließen lassen?« »Sie möchten die Summe wissen?« »Ja. Ich möchte wissen, ob Sie mir gegenüber aufrichtig sein werden. Es liegt auf der Hand, dass ich meine Quellen und eine gewisse Vorstellung von der fraglichen Summe habe. Kommen Sie, beeindrucken Sie mich mit Ihrer Offenheit und Ehrlichkeit.« »Alles in allem über fünf Millionen amerikanische Dollar«, sagte El Gato. Das war die doppelte Höhe dessen, was Vargas erwartet hatte, und er musterte den Amerikaner scharf. Wenn El Gato log und übertrieb, um Vargas damit zu beeindrucken, war seiner Miene jedenfalls nichts davon anzumerken. »Ein Teil des Geldes, nur eine kleine Summe, natürlich, kam direkt von der kubanischen Regierung«, fügte El Gato hinzu. »Ich denke, dass Sie diese Zahlungen autorisiert haben.« »Sie haben eine sardonische Ader, wie ich sehe«, sagte Vargas humorlos. Er erweckte den Eindruck, als hätte er noch nie in seinem Leben gelächelt und auch nicht vor, etwas daran zu ändern. El Gato nickte. -47-
»Sie hatten eine Ware anzubieten, wir wollten sie kaufen. Wir haben einen fairen Preis gezahlt.« »Nun kommen Sie schon, Señor Vargas. Machen wir uns gegenseitig nichts vor. Ich habe es Ihnen ermöglicht, das Zubehör und die Chemikalien zu erwerben, die für die Entwicklung eines Programms zur biologischen Kriegsführung benötigt werden. Was Sie mit diesem Zubehör und den Chemikalien getan haben, weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber Sie wissen ebenso gut wie ich, dass ich am Ende wäre, wenn die amerikanische Regierung Wind von dem Verkauf bekäme. Und Sie wissen außerdem, dass ich an diesem Geschäft nichts verdient habe.« Vargas nickte kaum merklich. »Noch habe ich Geld dafür verlangt, die Vorkehrungen für das Kapern der Nuestra Señora zu treffen.« »Das ist richtig, aber sollte die Operation Erfolg haben, werden wir eine angemessene Summe bezahlen.« »Ich will Ihr Geld nicht.« »Irgendetwas aber wollen Sie. Was ist es?« El Gato schlenderte einige Schritte weiter, die Hände in den Taschen vergraben, bevor er antwortete. »Ich habe die Vision eines Kubas nach Castro, das amerikanischen Interessen und dem Kapitalfluss in das Land hinein und aus ihm heraus gegenüber sehr viel aufgeschlossener ist. Eine Menge Leute in den Vereinigten Staaten haben sehr viel Geld angehäuft, das sie gern in Kuba investieren würden. Und das werden sie auch tun, sobald die Regierung der Vereinigten Staaten es ihnen erlaubt und die kubanische Regierung diesen Investoren garantiert, dass ihre Investitionen nicht konfisziert, über verdeckte Steuern gestohlen oder durch Bestechungsgelder abgeschöpft werden. Ein Mann, der seinen Freunden garantieren kann, in Kuba fair behandelt zu werden, könnte jede Menge Geld machen. Er wäre eine Art Schutzpatron, wenn Sie so wollen. Und wenn er sich -48-
seine Freunde sorgfältig aussucht, könnte Kuba mit einem verlässlichen Zustrom zahlungskräftiger Investoren rechnen, die ihre Zusagen einhalten.« »Für jeden etwas«, sagte Vargas. »Genau.« »Nur damit ich das richtig verstehe… wollen Sie andeuten, dass Sie dieser Mann sein möchten, el jefecito?« »Ich denke, ich könnte es sein.« »Die Exilanten erwarten, nach Castros Tod nach Kuba zu kommen und das Land zu übernehmen. Sie wollen Entschädigungen im Milliardenhöhe einfordern. Und ich sage Ihnen jetzt eins: Sie haben mit Ihren fünf Millionen Dollar kräftig dazu beigetragen, diese Erwartungshaltung anzuheizen.« Was er verschwieg, war die Tatsache, dass die kubanische Regierung die Ängste der auf Kuba gebliebenen einfachen Bauern geschürt und ihnen erklärt hatte, dass sie von ihrem Grund und Boden vertrieben werden würden, sollten die Exilanten jemals zurückkehren. El Gato lächelte. »Wie die Exilanten erkennen auch Sie die Lage nicht richtig. Es sind Amerikaner. Sie verdienen mehr Geld in Amerika, als sie es in Kuba jemals könnten. Sie werden nie in größeren Zahlen nach Kuba zurückkehren. Tatsächlich wird der Hauptstrom der Wanderbewegungen in die Vereinigten Staaten und nicht nach Kuba fließen, sobald die Grenzen niedergerissen werden. Wenn es die amerikanische Regierung zuließe, würden eine Million Kubaner jährlich ihre Insel verlassen. Es wäre klug von Ihnen, die Leute dorthin gehen zu lassen, wohin sie gehen wollen.« »Sie behaupten, das Exilproblem würde sich einfach von selbst erledigen?« »Ja, abgesehen von einigen wenigen verbitterten alten Männern, davon bin ich überzeugt. Die jungen Exilanten haben -49-
ein neues Leben begonnen. Sie haben keine alten Rechnungen zu begleichen.« »Also betrügen Sie diese Alten um Ihres eigenen Vorteils willen?« »Señor Vargas, wenn sie es vorziehen, einen alten Groll zu hegen und von Zeiten zu träumen, die längst vorbei sind und nie mehr zurückkommen werden, wer bin ich, es ihnen zu verbieten? Die meisten dieser Leute sind ziemlich harmlos. Um diejenigen, die es nicht sind, kann man sich kümmern, sobald sie Schwierigkeiten machen. Eine öffentliche Entschuldigung an die Adresse enteigneter alter Menschen, ein Plädoyer für Wiedergutmachung, ein paar Pesos, und die Exilanten könnten besänftigt werden.« »Mordpläne gegen Castro und dergleichen?« »Pläne, die nie in die Tat umgesetzt wurden, sind belanglos. Lassen Sie ihnen ihre Zusammenkünfte und vollmundigen Verleumdungen. Diese Leute werden schon bald von der Szene verschwinden.« Vargas vollführte eine gereizte Geste. Er hatte seine eigenen Ansichten und kein Interesse daran, die anderer Menschen zu hören. »Colonel Santana wird Sie und Ihre Männer in Ihr Hotel bringen.« »Ich danke Ihnen.« »Ich kann Ihnen nur sehr wenig versprechen, El Gato. Mir ist klar, dass Sie nicht für die weitere Entwicklung garantieren können, aber die Nordkoreaner müssen ihren Teil unserer Abmachung erfüllen. Wenn sie es tun, besteht eine Chance, nur eine Chance, dass ich nach Castro regiere.« El Gato wartete. »Ich werde nicht vergessen, was Sie für mich, für Kuba, getan haben«, fuhr Vargas fort. »Sollte jemals der Tag kommen, an dem ich in der Position bin, Ihnen zu helfen, zögern Sie nicht, -50-
mich darum zu bitten. Was ich dann für Sie tun kann, wird sich an diesem Tag entscheiden.« »Das ist mehr, als ich gehofft habe«, sagte El Gato mit aufrichtiger Wärme in der Stimme. »Ich danke Ihnen für dieses Versprechen.«
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3 Die F-14 Tomcat schwebte reglos in einem unendlichen blauen Himmel über einem ebenso unendlichen blauen Meer. Zumindest erschien es Jake Grafton so, der vorne im Cockpit saß und den Anblick auf sich einwirken ließ. Hinter ihm suchte Toad Tarkington den Himmel in Flugrichtung mit dem Radar ab. Da heute absolute Windstille herrschte, gab es keinerlei optische Anhaltspunkte, die den Eindruck von Bewegung vermittelten. Die flauschigen Wolken über dem Meer schienen wie im Gleichschritt nach achtern zu marschieren, fast so, als würde sich der Himmel unter dem Flugzeug drehen. Die Jagdmaschine flog in 31000 Fuß Höhe und folgte der Südküste Kubas in einem Abstand von rund 150 Meilen in nordwestlicher Richtung. »Ich bin wirklich froh, dass Sie uns von diesem Schiff runtergebracht haben, Sir«, sagte Tarkington fröhlich. »Ein kleiner Flug hilft, sich das Gehirn durchpusten zu lassen und alles in die richtige Perspektive zu rücken.« »Ganz Ihrer Meinung«, stimmte ihm Jake zu und streckte sich. Er fand, dass er den besten Job in der Navy hatte. Als Kommandant einer Kampfeinheit durfte er immer noch fliegen, ja, gelegentliche Flüge gehörten sogar zu seiner Stellenbeschreibung. Allerdings würde diese Zeit schon bald der Vergangenheit angehören. In zwei Monaten sollte er planmäßig das Kommando an einen anderen Admiral abtreten und eine neue Aufgabe übernehmen. Automatisch suchte er den leeren Himmel vor sich ab und fragte sich erneut, wohin ihn seine nächsten Befehle bringen würden. Wenn die Leute im Planungsstab des Pentagons schon -52-
eine Vorstellung hatten, behielten sie es doch für sich. Nun ja, alles würde sich schon irgendwie fügen. Seine Vorgesetzten würden ihm eine Reihe neuer Befehle erteilen oder ihn in den Ruhestand versetzen, und es spielte wirklich keine Rolle, wie es ausging. Jeder musste früher oder später abtreten, warum also nicht jetzt? Vielleicht sollte er einfach seine Entlassungspapiere unterschreiben und einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Mit der rechten Hand schlug er auf die Notabschaltung des Autopiloten, der ordnungsgemäß funktionierte. Ohne die Gashebel zu berühren, hob Jake Grafton sanft die Nase der Tomcat und zog den Steuerknüppel gleichzeitig nach links. Die Nase stieg, der Flügel kippte nach unten weg… langsam durch die Rückenlage rollen, wenn auch nur mit 70 Grad Richtungswechsel. Die Nase senkte sich tiefer nach unten die Rolle stabil halten! -, und die g-Werte nahmen zu, als der Jäger den Sturzflug abfing und wieder auf ursprünglichen Kurs ging, nur 1.400 Fuß unterhalb der Eintrittshöhe vor Beginn des Manövers. Tata! Eine lässige kleine Rolle! Jake zog den Steuerknüppel zurück und setzte zu einer Rechtsrolle an. »Alles in Ordnung mit Ihnen da vorne, Sir?«, erkundigte sich Toad Tarkington besorgt. »Das fragen Sie mich? Den besten Kunstflieger der Welt? Haben Sie denn gar keinen Respekt?« »Diese luftigen Nummern erreichen nicht ganz Ihren gewohnten Weltklasse-Standard, also wird man zwangsläufig etwas nachdenklich. Könnte da vielleicht Krankheit im Spiel sein, Altersschwäche, Senilität…?« »Allein für diese Bemerkung, Tarkington, können Sie uns von heute an täglich auf den Flugplan setzen, damit wir Zeit zum Üben finden«, sagte Jake, als sie gerade wieder die Rückenlage erreicht hatten. »Eineinhalb Stunden Manöver mit hoher g-53-
Belastung sieben Tage in der Woche werden Sie lehren, Ihre Vorgesetzten zu respektieren.« »Das haben Sie richtig verstanden«, erwiderte Toad und stöhnte wie unter Schmerzen, als Jake die Tomcat in einen Looping zog. »War Ace One Oh Four, hier Sea Hawk. Luftverkehr hundert Meilen nordwestlich von Ihnen, Kurs Süd in rund 30.000 Fuß Höhe.« »Roger, Sea Hawk.« Jake vollendete den Looping und drehte nach Nordwesten ab. »Admiral, ich weiß, Sie glauben, ich hätte hier hinten gepennt«, sagte Toad unterwürfig, »aber ich hatte den Burschen schon auf dem Schirm. Ehrlich! Ich wollte gerade was sagen, als mir dieser E-2-Typ zuvorgekommen ist.« »Sicher, Toad. So was passiert schon mal. Wenn Sie das nächste Mal ein Nickerchen machen wollen, bringen Sie sich am besten gleich ein Kopfkissen mit.« »Dieser Typ fliegt Richtung Süden, ungefähr in unserer Höhe, als käme er von irgendeinem Stützpunkt in Zentralkuba. Komischer Zufall, was?« Die F-14 hatte eine in die Nase eingebaute optische Kamera, die sich automatisch auf das Fadenkreuz des Radars ausrichtete. »Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie ihn sehen«, murmelte Jake. »Wird noch ein paar Meilen dauern. Lassen Sie uns in einem Winkel von zehn Grad auf Sichtweite rankommen und sehen, was passiert.« Jake hatte den Jäger zwischenzeitlich wieder auf Autopilot geschaltet. Jetzt drückte er den Steuerknüppel nach rechts und schwenkte auf den neuen Kurs ein. Fünfzig Meilen später hatte Toad die andere Maschine auf seinem Monitor. Ein silbernes Flugzeug, der Größe nach ein -54-
Jäger, dessen Rumpf in der Sonne glitzerte. Die Kontrollanzeigen des elektronischen Identifizierungs-Systems (ECM) erhellten sich, als die Sensoren der F-14 die Emissionen des Radars der anderen Maschine auffingen. »Eine MiG-29«, murmelte Jake überrascht. »Was treibt der Kerl hier draußen?«, wunderte sich Toad laut. »Das Gleiche wie wir. Fliegt herum und sieht nach, was denn so los ist.« »Ich dachte, die Kubaner hätten alle ihre MiG-29 eingemottet. Hätten die Wartungskosten nicht mehr aufbringen können.« »Nun, eine ist zumindest noch einsatzfähig.« Die MiG schwenkte leicht nach links, so dass sie die Gelegenheit bekommen würde, sich hinter die F-14 zu setzen, sobald sich ihre Flugbahnen kreuzten. Im selben Moment wusste Jake Grafton, dass er die MiG nicht hinter sich haben wollte. Die Sowjets hatten ihre MiG-29 besonders dazu entwickelt, die F-14, F-15, F-16 und F/A-18 im Nahkampf zu besiegen. Es war vermutlich der zweitbeste Jäger der Welt nach der Sukhoi Su-27 Flanker. Jake änderte den Kurs so, dass sich die Bahnen der beiden Flugzeuge in gleicher Höhe schneiden würden. Was würde die MiG tun? Wenn der kubanische Pilot über dem Ozean das Feuer eröffnete, mehr als hundert Meilen von der Küste entfernt, wer würde jemals davon erfahren? »Sea Hawk, One-Oh-Four, halten Sie das auf Band fest?« »Ja, Sir. Wir zeichnen auf.« »Dieser Vogel ist eine MiG-29.« »Verstanden. Wir haben ihn jetzt seit fünfundzwanzig Minuten in der Ortung.« Der Abstand schrumpfte schnell zusammen. Trotzdem konnte Jake die MiG immer noch nicht sehen. Er warf einen Blick auf den Zielpunkt im Overhead-Monitor, aber der Himmel war -55-
gewaltig und der kubanische Jäger, obwohl fast so groß wie die F-14, noch zu weit entfernt. Als sie sich der MiG auf rund vier Meilen genähert hatten, entdeckte Jake sie schließlich, eine geflügelte, silbern glitzernde Nadel, die knapp unter dem rechten Flügel der F-14 dahinschoss. Er schaltete den Autopiloten aus und ergriff den Steuerknüppel. Jake Grafton zog das Flugzeug vorsichtig und gleichmäßig herum, reckte den Hals und stützte sich mit der linken Hand ab, um die abdrehende MiG im Auge zu behalten. Der kubanische Jäger beendete seine Kurve und flog nach Norden. Jake ging auf Parallelkurs und näherte sich der anderen Maschine, wobei er darauf achtete, nicht mit der Nase auf sie zu zielen. Als die beiden Flugzeuge keine hundert Meter mehr voneinander entfernt waren, ließ er den Annäherungswinkel flacher werden. Schließlich jagten beide Maschinen im Formationsflug nebeneinander her. Der Abstand zwischen ihren Flügelspitzen betrug nur noch knapp zwanzig Meter. »Schauen Sie sich das Ding an!«, rief Toad begeistert. »Haben Sie jemals ein herrlicheres Flugzeug gesehen?« »Wie ich gehört habe, soll es ein Traum von einer Maschine sein«, sagte Jake. »Oh, Baby, diese Linien, diese Rundungen… Die Russen wissen wirklich, wie man Flugzeuge gestaltet.« »Mal angenommen, dieser Typ muss aus seiner Kiste aussteigen, glauben Sie, die kubanische Luft-See-Rettung würde kommen, um ihn aus dem Meer zu fischen?«, fragte Jake. »Das bezweifle ich«, erwiderte Toad. »Und ich vermute, er weiß das auch.« »Der Kerl hat echt Nerven«, sagte Jake. »Und ich wette, er -56-
kann mit dem Ding auch ein höllisches Tempo fliegen.« Major Carlos Corrado, der Pilot des kubanischen Kampfjägers, ließ sich Zeit, das amerikanische Flugzeug zu betrachten. Es war das erste Mal, dass er eine F-14 sah. Erstaunlich, wie groß diese Maschinen mit ihrer zweiköpfigen Besatzung und den Raketen unter den Tragflächen waren. Carlos war froh, dass er dieses heiße russische Geschoss fliegen konnte, den MiG-19 und MiG-21, die den Großteil der kubanischen Taktischen Flugstreitkräfte ausmachten, in technischer Hinsicht um Generationen voraus, und er wusste es verdammt gut. Kuba verfügte über drei Dutzend MiG-29, und exakt eine davon war funktionstüchtig - diese eine, die Corrado nur dadurch einsatzfähig erhielt, indem er die anderen ausschlachtete, um defekte Komponenten und Verschleißteile zu ersetzen. Er überprüfte die Treibstoffanzeige. Der Vorrat reichte gerade noch für den Rückflug. Sicher, er hatte hier draußen über dem Meer eigentlich nichts zu suchen, aber er hatte heute fliegen wollen und von der kubanischen Boden-Abfang-Kontrolle (GCI) erfahren, dass sich der Amerikaner vor der Küste herumtrieb. So hatte eins zum anderen geführt, und hier war er nun. Jetzt befand er sich auf dem direkten Rückflugkurs zu seiner Basis in der Nähe von Cienfuegos an der kubanischen Südküste. Er warf einen kurzen Blick auf den Kompass und die Triebwerksanzeigen, dann wandte er sich wieder dem amerikanischen Flugzeug zu, das wie in den Himmel gemalt an seiner Flügelspitze zu hängen schien. Nach ungefähr einer Minute hob der Mann im Vordersitz der anderen Maschine die Hand und winkte. Carlos erwiderte die Geste. Der große amerikanische Jäger drehte nach rechts ab und begann sofort zurückzufallen. Major Corrado verrenkte sich fast in seinem Sitz, um die F-14 so lange wie möglich im Auge zu -57-
behalten. Wie groß sie auch war, sie verschwand mit verblüffender Geschwindigkeit im östlichen Himmel. Carlos Corrado drehte sich wieder um und nahm eine für sein Hinterteil bequemere Position ein. Die Amerikaner waren den Kubanern um zwei oder drei technische Generationen voraus, so weit, dass ihre Möglichkeiten den meisten kubanischen Militärs nahezu übermenschlich erschienen. Die Kubaner hatten vom Golfkrieg, von Satelliten, Computern und intelligenten Waffensystemen gelesen. Im Gegensatz zu seinen Kameraden verspürte Corrado keine Angst vor den Amerikanern. Ihre militärischen Fähigkeiten beeindruckten ihn, aber sie machten ihm keine Angst. Wenn ich klüger wäre, dachte er, würde ich mich fürchten. Doch es würde nie zu einem Kampf zwischen Amerikanern und Kubanern kommen. Seit der gescheiterten Invasion in der Schweinebucht hatten sie nicht mehr gegeneinander gekämpft und würden es zweifellos auch nicht mehr tun. Castro dürfte seiner Einschätzung nach schon bald Geschichte sein. Eine neue Regierung würde die Macht übernehmen und Kuba ein amerikanischer Vorposten werden, eine weitere kleine Urlaubsinsel unter der he ißen Sonne südlich von Miami Beach, Key Kuba. Carlos Corrado hatte sich fest vorgenommen, nach Amerika zu gehen, wenn dieser glückliche Tag kam, und sich dort einen guten Job als Pilot zu besorgen, bei dem er richtiges Geld verdiente. Doña Maria Vieuda de Sedanos Töchter trafen als Erste am frühen Nachmittag ein, um im Haus sauber zu machen und das Essen für die Gäste vorzubereiten. Sie hatten Männer aus der Nachbarschaft geheiratet, die auf den Zuckerrohrfeldern arbeiteten, und besuchten ihre Mutter täglich. Genauer gesagt, sie kümmerten sich um sie, halfen ihr, sich anzuziehen, kochten -58-
für sie, wuschen die Wäsche. Es war furchtbar, so hilflos zu sein, nichts mehr tun zu können; die Arthritis, die ihre Hände und Füße entstellt hatte, ließ selbst die einfachsten Tätigkeiten zu unüberwindbaren Hindernissen werden. Doña Maria schaffte es immerhin, ohne Hilfe zu ihrem Lieblingssessel auf der winzigen Veranda zu humpeln. Ihr kleines Haus lag am westlichen Rand des Dorfes, von der Veranda aus konnte sie einige Nachbarhäuser und ein Stück der Straße sehen. Jenseits der Straße erstreckte sich ein riesiges Zuckerrohrfeld, und eine halbe Meile weiter westlich gab es eine Zuckerfabrik. Sobald die Ernte begann, trug der Wind den Geruch kochenden Zuckers meilenweit. Dahinter, fast unsichtbar in der Ferne, schimmerte das Blau des Ozeans, ein schmales Band kurz vor dem Horizont, blauer als der Himmel. Der vom Meer her wehende Wind vertrieb die ärgste Hitze und verhinderte, dass sich Insekten zu einer größeren Plage entwickelten. Die Veranda war das Einzige, was Doña Maria an diesem Haus wirklich mochte, obwohl sie im Laufe der zweiundfünfzig Jahre, die sie hier wohnte, weiß Gott genug Erinnerungen damit verband. Das kleine Haus mit seinen vier Zimmern und dem mit Palmwedeln gedeckten Dach war der Mittelpunkt ihres Lebens als Erwachsene gewesen. Hierhin war sie als junge Braut mit ihrem Ehemann gezogen, hier hatte sie ihre Kinder zur Welt gebracht, sie großgezogen, mit ihnen gelacht und geweint, zwei der zehn begraben, hier ha tte sie zugesehen, wie sie erwachsen wurden, heirateten und fortzogen. Und hier hatte sie miterlebt, wie ihr Mann an Krebs gestorben war. Das war vor… sechzehn Jahren gewesen. Im November würden es sechzehn Jahre sein. Wenn man jung ist, denkt man nie daran, dass man seinen Ehepartner überleben könnte, was hinterher kommt, nach dem -59-
Glück und der Liebe. Und dann, viel zu schnell, ist die Zukunft da, über die man nie nachgedacht hat. Maria saß auf ihrer Veranda und betrachtete die Wolken, die über das ferne Meer zogen, fast wie Schiffe, die ins Unbekannte hinaussegelten. Sie hatte ihr ganzes Leben auf dieser Insel verbracht, jeden einzelnen Tag, war nie weiter als bis nach Havanna gekommen, und auch das nur zweimal: das erste Mal als junges Mädchen während einer wunderbaren Reise mit ihrer älteren Schwester, das letzte Mal, als ihr Sohn Maximo zum Finanzminister ernannt und vereidigt worden war. Bei diesem Besuch in der Hauptstadt hatte sie auch Fidel Castro kennen gelernt, die Kraft seiner Persönlichkeit gespürt, wie ein Feuer, das alle in seinem Umkreis wärmte. Oh, was für ein Mann er war, groß, männlich, voller Leben… Kein Wunder, dass Maximo ihn umkreiste wie ein Planet seine Sonne. Sein Bruder Jorge, Marias ältester Sohn, war einer von Castros ergebensten Jüngern gewesen, dem Marxismus und Kuba mit Leib und Seele verschrieben, nicht bereit, auch nur einen Anflug von Kritik an seinem Helden zu dulden. Jorge, mit zweiundvierzig Jahren an Herzversagen gestorben, ein weiterer Träumer. Alle Sedanos sind Träumer, dachte Maria, von Armut gezeichnete Träumer, gefangen auf dieser sonnenüberfluteten Insel in einem sonnenüberfluteten Meer, abgeschnitten vom Rest der Menschheit… Sie dachte noch immer an Jorge, als sie Mercedes, seine Witwe, aus dem Auto steigen sah. Die Männer im Wagen warfen der alten Frau auf der Veranda einen flüchtigen Blick zu, fuhren weiter, ohne ihr zuzuwinken, und ließen Mercedes auf der Straße zurück. »Hola, Mima.« Jorge, vom Schicksal aus dem Leben mit dieser Frau gerissen, die er mehr als alles andere geliebt hatte, mehr als Castro, mehr -60-
als seine Eltern, mehr als alles, denn die Sedanos waren auch große Liebhaber. »Hola, meine Hübsche. Komm, setz dich zu mir. Danke, dass du gekommen bist«, fügte Maria hinzu, als Mercedes die Veranda betrat. »Das ist doch selbstverständlich. Wir haben Jorge beide geliebt…« »Jorge…« Mercedes betrachtete Marias Hände und nahm sie in die ihren, als wären sie nicht knorrig und verkrüppelt. Sie küsste die ältere Frau, dann nahm sie auf einer Bank neben ihr Platz und sah auf das Meer hinaus. »Es ist ruhig dort draußen. Es verändert sich nie.« »Anders als wir.« Ein Sturm von Gefühlen brandete in Mercedes auf und ließ ihr Tränen in die Augen treten. In diesem Haus hatte sie so viel besessen, und dann, ohne Vorwarnung, war es ihr genommen worden, als hätte eine mächtige Flutwelle alles fortgerissen, was ihr lieb und teuer gewesen war, und nichts als Sand und Steine zurückgelassen. Jorge… oh, was für ein Mann er gewesen war, ein Träumer und Liebhaber und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Ein wahrhaft Gläubiger, ohne eine Spur von Selbstsucht. Und natürlich war er jung gestorben, bevor er erkennen konnte, wie sehr sich die Wirklichkeit von seinen Träumen unterschied. Er war gestorben, wie er gelebt hatte, als Kreuzritter für Gerechtigkeit, für Kuba und all seine Ideale… und hatte sie zurückgelassen, um ganz allein alt zu werden, Jahre voller einsamer Nächte zu durchleben, auf der Suche nach jemandem, der sich nicht nur für sich selbst interessierte. Mercedes biss sich auf die Lippen und blickte auf Marias verkrümmte und entstellte Hände hinab. Impulsiv beugte sie -61-
sich vor und küsste die alte Frau auf die Wange. »Gott segne dich, liebes Kind«, sagte Doña Maria. Einige Stunden später kam Ocho die Straße entlanggeschlendert, vier Nachbarskinder im Schlepptau, die um ihn herumhüpften, lachten und versuchten, ihm ein Lächeln zu entlocken. Als er das Tor zum Haus seiner Mutter erreicht hatte, machten sie kehrt und liefen davon. Alle inzwischen auf der Veranda versammelten Geburtstagsgäste drehten sich zu ihm um und begrüßten ihn, während er schnell die drei oder vier Schritte des kurzen Weges zurücklegte. Ocho war das Ebenbild eines griechischen Gottes, dunkles Haar auf einem perfekten Kopf, ein perfektes Gesicht und ein perfekter Körper, groß, breite Schultern, unglaublich schmale Hüften. Seine Bewegungen waren so geschmeidig wie die einer Katze. Er dominierte seine Umgebung, strahlte Männlichkeit aus wie ein Leuchtfeuer, zog die Blicke aller anwesenden Frauen auf sich. Selbst seine Mutter konnte die Augen nicht von ihm nehmen, wie Mercedes mit einem schiefen Lächeln registrierte. Bei diesem letzten Kind staunte selbst Doña Maria, die bei seiner Geburt bereits vierundvierzig Jahre alt gewesen war, über die Kombination der Gene, die ihn hervorgebracht hatte. Heute Abend hatte Ocho, der gewöhnlich sehr liebevoll war, wenig zu sagen. Er beschränkte sich auf einsilbige gebrummte Antworten, küsste seine Mutter, Mercedes und seine Schwestern oberflächlich und zog sich in eine Ecke der Veranda zurück. Frauen warfen sich ihm regelrecht an den Hals, aber das schien er nie zu bemerken. Es war beinahe so, als wollte er keine Frauen, die ihn begehrten. Er unterschied sich so sehr von den meisten Männern, die Mercedes kannte, dass er sie neugierig machte. Und vielleicht, überlegte sie, war das das Geheimnis seines Charmes. Maximo Luis Sedanos Limousine bremste in einer -62-
aufwirbelnden Staubwolke. Er sprang aus dem Wagen, schritt auf die Veranda zu und rief mit einem breiten Grinsen die Namen seiner Lieben. Dann schloss er seine Mutter sanft in die Arme, küsste sie auf beide Wangen und die Stirn, küsste ihre Hände, kniete vor ihr nieder und sah ihr ins Gesicht. Mercedes konnte nicht hören, was er sagte, seine Worte waren nur für die Ohren seiner Mutter bestimmt. Als sie den Blick von ihm und Mima abwandte, entdeckte sie zu ihrer Überraschung seine Frau, die die Stufen zur Veranda heraufstieg. Maximos Frau - wie hieß sie nur? -, für alle Zeiten dazu verdammt, unsichtbar im strahlenden Licht ihres bedeutenden Mannes zu sein. Maximo, eine weitere dominante Persönlichkeit - die Sedanos hatten zweifellos einige davon hervorgebracht -, war ein Gefangener seiner Herkunft. Kuba war viel zu klein für ihn. Erstaunlicherweise - bedachte man, dass sich das Leben selten so wie gewünscht entwickelt - hatte er eins der wenigen Betätigungsfelder in Castros Kuba gefunden, das es ihm gestattete, zu reisen und zeitweilig der Enge seiner Heimat zu entkommen. Als Finanzminister besuchte er regelmäßig Hauptstädte in Europa sowie in Mittel- und Südamerika. Gerade überreichte er seiner Mutter ein Geschenk, das er für sie öffnete, während sich seine Schwestern erwartungsvoll vorbeugten, um einen Blick auf den Inhalt der Schachtel zu erhaschen. Französisches Konfekt! Er öffnete die Verpackung, ließ seine Mutter eine Praline aussuchen und reichte die seltenen Köstlichkeiten weiter. Die Schwestern starrten die Schachtel an, strichen mit den Fingern über das metallbeschichtete Papier, sogen den appetitlichen Duft tief in die Nasen ein, bevor sie zögernd eine Praline aussuchten und die Schachtel weitergaben. »Sieh dir das nur an«, flüsterte ein Mann der Schwestern -63-
einem anderen gerade laut genug zu, so dass Mercedes es hören konnte. »Wir haben letzten Monat nichts als Kartoffeln und Kochbana nen gegessen, und wir waren froh, überhaupt welche bekommen zu haben.« »Letzte Woche hatten wir drei Tage gar nichts zu essen«, flüsterte der andere Schwager zurück. »Mein Bruder hat uns einen Fisch gebracht.« »Tja, den Herren in der Regierung geht es gut. Das ist die Hauptsache.« Mercedes lauschte dem Plappern der Stimmen, verglich Maximos saubere, weiße Hände mit denen der Ehemänner der Sedano-Schwestern - sie waren rau, schwielig, von harter Arbeit gezeichnet. Maximos Frau trug ein schickes, modisches französisches Kleid. Sie saß jetzt mit Doña Marias Töchtern zusammen und tuschelte mit ihnen. Unter ihrer teuren Kleidung war sie noch immer eine von ihnen, auf eine Art, wie es Maximo nie mehr sein würde. Dazu war er zu weit gereist, zu bedeutend geworden… Noch bevor Mercedes den Gedanken weiterverfolgen konnte, traf Hector ein. Er schlenderte die Straße entlang. Sogar Maximo unterbrach sein Gespräch mit einem seiner Brüder, dem Arzt, als er Hector auf dem Weg zur Veranda erblickte. »Alles Gute zum Geburtstag, Mima.« Hector, Jesuit, Priester, Politiker, Revolutionär… Er sprach leise mit seiner Mutter, küsste sie auf die Wange, schüttelte Maximo die Hand, blickte ihm in die Augen, während er eine Praline aß, küsste alle seine Schwestern, berührte Arme und Hände seiner Schwäger und Brüder, ob nun Arzt oder Automechaniker. Ocho beobachtete Hector, wartete darauf, dass der Ältere ihm die Hand reichte; seine Lippen zitterten. Mercedes konnte kaum glauben, was sie da sah, wie Hector Ocho umarmte, ihn festhielt und wiegte. Der jüngere Mann -64-
kämpfte gegen die Tränen. Dann war der Moment vorbei. Hector hielt seinen Bruder noch immer im Arm, führte ihn zu Doña Maria, zwang ihn mit sanftem Druck, sich zu ihren Füßen niederzusetzen, und legte Ochos Hände in die ihren. Ah, ja. Hector Sedano. Wenn irgendjemand das tun kann, dann du. »Sie wissen dich nicht zu würdigen«, sagte Maximos Frau, als sie in seinem Auto zurück nach Havanna fuhren. »Sie sind so ungebildet«, fügte sie hinzu, ein wenig verstimmt darüber, dass sie und ihr Mann einen Abend mit einfachen Landarbeitern in einer derart schäbigen Umgebung hatten verbringen müssen. Natürlich, es war seine Familie, und man hatte seine Verpflichtungen, aber trotzdem… Maximo hatte so hart gearbeitet, um in diese Position zu gelange n, und die Vorstellung, dass er in dieses Elend zurückkehren musste, war beängstigend. Und dann seine Verwandten! Die alte Frau, die Schwestern… verkrüppelt, ungebildet, schmutzig, primitiv… Das alles war ein bisschen zu viel gewesen. Schließlich noch Hector, der Priester, der ein geheimer Politiker war! Ein Mann, der die Kirche für konterrevolutionären Verrat benutzte. »Ihm ist doch bestimmt klar, dass du über seine politischen Aktivitäten Bescheid weißt«, sagte sie zu ihrem Mann, der mit gefurchter Stirn die Hütten und Zuckerrohrfelder betrachtete, an denen sie vorüberfuhren. »Er weiß es«, murmelte Maximo. »Es war so schön in Europa«, sagte seine Frau leise. »Ich möchte nicht hartherzig erscheinen, aber es ist wirklich eine Schande, dass wir zu so etwas zurückkehren müssen!« -65-
Maximo beachtete sie kaum. »Ich hoffe immer noch, dass wir eines Tages nach Europa gehen und für immer dort bleiben«, flüsterte sie. »Ich liebe Madrid so sehr.« Ihr Mann überhörte die Bemerkung. Seine Gedanken kreisten um Hector und Alejo Vargas. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden miteinander sprachen, aber was, wenn doch? Was, wenn sie sich zusammentaten, um gegen ihn zu intrigieren? Was konnte er tun, um Vorkehrungen gegen diese Möglichkeit zu treffen, um sich zu schützen? Später am selben Abend fuhren Hector und seine Schwägerin Mercedes mit dem Bus nach Havanna. »Es war nett von dir, dass du zu Mimas Feier gekommen bist«, sagte Hector. »Ich wollte sie sehen. Sie erinnert mich an Jorge.« »Vermisst du ihn immer noch?« »Ich werde ihn an jedem Tag meines Lebens vermissen.« »Ich auch«, murmelte Hector. »Vargas weiß über dich Bescheid«, sagte Mercedes, nachdem sie sich kurz umgesehen und sich vergewissert hatte, dass niemand sonst ihre Worte hören konnte. »Was weiß er?« »Dass du politische Versammlungen organisierst und besuchst, dass du Freunden schreibst und mit Studenten sprichst, dass die meisten Priester in Kuba loyal zu dir stehen, dass viele Menschen überall auf der Insel von dir erwarten, eine führende Rolle zu übernehmen… Das alles und wahrscheinlich noch mehr weiß er.« »Es wäre ein Wunder, wenn nichts davon an die Ohren der Geheimpolizei gedrungen wäre.« »Er könnte dich verhaften lassen.« -66-
»Ohne Fidels Zustimmung wird er nichts unternehmen. Er ist ihm wie ein Hund ergeben.« »Und du glaubst, Fidel heißt deine Aktivitäten gut?« »Ich glaube, er toleriert sie. Der Mann ist nicht unsterblich. Selbst er muss sich fragen, was nach ihm kommt.« »Du spielst mit dem Feuer. Castros Einfluss auf Vargas wird schwächer. Nach Fidels Tod wird Vargas freie Hand haben. Unterschätze ihn nicht.« »Das tue ich nicht, glaub mir. Aber Kuba ist wichtiger als ich, als Vargas oder Castro. Wenn dieses Land jemals etwas anderes als der Scheunenhof eines Tyrannen werden soll, muss irgendjemand Samen säen, die eine Chance haben zu wachsen und zu gedeihen. Jeder, mit dem ich spreche, ist ein solches Samenkorn, eine Investition in die Zukunft.« »Der ›Scheunenhof eines Tyrannen‹. Was für ein hübscher Vergleich!« Mercedes' Stimme klang bissig. Während der letzten Jahre, seit sie mit Fidel zusammenlebte, hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt. Die Leute erzählten sich die gemeinsten Sachen über ihn, und sie hatte gelernt, das meiste davon zu ignorieren. Aber da sie Hector aufrichtig bewunderte, schmerzten seine Worte sie. »Es tut mir Leid, wenn ich…« »Lieber Hector, Kuba ist auch der Friedhof jeder Menge Märtyrer«, sagte sie, nachdem sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte. »Es gibt hier Platz genug für Vargas, um uns beide zu begraben.« Er erinnerte sic h an die guten Tage, an die Zeit, als die Sonne hell geschienen hatte und er jung gewesen war, umgeben von glücklichen, lachenden Kameraden. Alles war damals möglich gewesen. Kugeln konnten ihnen nichts anhaben, niemand verriet sie an Batistas Männer. Sie -67-
würden Kuba retten, die Kubaner befreien, sie wohlhabend, gesund, stark und glücklich machen. Oh ja, als wir jung waren… Bilder tauchten wie kurze Filmsequenzen in seinem Kopf auf, während er sich auf seinem Bett hin und her warf und gegen die Schmerzen ankämpfte: Politikstudent an der Universität von Havanna, der Überfall auf die Moncada Baracken in Santiago, das Dröhnen von Gewehren, Kugeln, die als heulende Querschläger von Stahl und Mauerwerk abprallten… Er erinnerte sich an die Schießereien in den Straßen, an LKWFahrten über das Land, an Nächte, in denen er mit Che und den anderen Pläne schmiedete, wie sie die Dinge in Ordnung bringen und die Kapitalisten hinauswerfen würden, die Kuba jahrhundertelang versklavt hatten… Che, er hatte wirklich an ihre Sache geglaubt. Und da waren viele andere gewesen, allesamt wahre Gläubige. Ahnungslos wie die Jungfrauen, bettelarm und hungrig hatten sie geglaubt, die Welt in Ordnung bringen zu können. In seinem Dämmerzustand hörte er seine eigene Stimme, wie er Reden hielt, Erklärungen abgab, Verbesserungen versprach, dem Volk zu helfen, ihm Arbeit zu geben, Wohnungen, medizinische Versorgung, eine Zukunft für die Kinder… Worte. Nichts als Worte. Wind. Er hustete, und das riss ihn endgültig aus seinem Schlaf. Eine Krankenschwester saß auf einem Stuhl neben seinem Bett und beobachtete ihn. »Lass mich allein, Frau.« Sie verließ das Zimmer. Der Mann setzte sich halb auf und wischte sich mit einem Zipfel des Lakens den Schweiß aus dem Gesicht. Die Laken waren dünn, verschlissen. Sogar die Laken von el -68-
presidente waren am Ende! Was für ein böser Witz. Alles in dem ganzen verdammten Land war kaputt oder verschlissen, einschließlich Castros Bettlaken. Man musste kein hochrangiges Regierungsmitglied sein, um die bittere Wahrheit zu erkennen. Auf der Kommode gerade außerhalb seiner Reichweite stand ein Zigarrenkästchen. Er wälzte sich im Bett herum, zog eine Zigarre daraus hervor, dann beugte er sich weit vor und legte die Hand auf das Feuerzeug. Die Schmerzen ließen ihn keuchen. Madre mia! Als die Schmerzen ein wenig abebbten, sank er auf das Bett zurück und wischte sich erneut mit dem Laken über das Gesicht. Er hantierte mit der Zigarre herum, biss ein Ende ab und spuckte es auf den Boden, knipste das Feuerzeug an, sog an der Zigarre… Der Rauch fuhr ihm wie ein scharfes Messer durch die Kehle. Er hustete und hustete. Die Ärzte hatten ihn vor zehn Jahren überredet, die Zigarren aufzugeben. Vor zwei Tagen, als sie ihm mitgeteilt hatten, dass er sterben würde, hatte er nach dieser Schachtel verlangt. »Wenn ich sterbe, kann ich auch rauchen. Der Krebs wird mich vor den Zigarren umbringen. Warum also nicht?« Nachdem sich der Hustenreiz gelegt hatte, nahm er einen winzigen Zug von der Zigarre, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht zu inhalieren. Gott, der Rauch schmeckte köstlich. Noch ein Zug. Er ließ sich in sein Kissen sinken, sog den in der Luft schwebenden Rauch durch die Nase tief in die Lungen ein und atmete ihn wieder aus, während die Zigarre zwischen seinen Fingern qualmte. -69-
Die Wahrheit war, dass er es vergeigt hatte. Kubas Probleme hatten ihn besiegt. Oh, er hatte sein Bestes gegeben, aber wie auch immer man es betrachtete, sein Bestes war nicht gut genug gewesen. Dem Durchschnittskubaner ging es heute schlechter als während der letzten Jahre unter Batista. Es herrschte ein ständiger Mangel an Nahrungsmitteln, die Wirtschaft lag am Boden, die Verwaltungsleute waren ganz offen korrupt, die soziale Fürsorge fiel auseinander, und die Nation erbebte unter der gewaltigen Belastung der kurzfristigen Auslandsverschuldung, denn sie hatte ihren langfristigen internationalen Zahlungsverpflichtungen seit den späten 80ern nicht mehr nachkommen können. Die kurzfristigen Kreditrückzahlungen dagegen konnten nicht storniert werden, nicht wenn Kuba darauf hoffen wollte, sich jemals wieder einen Peso im Ausland zu leihen. Der todkranke Mann paffte an seiner Zigarre und genoss den Rauch. Dann rutschte er in seinem Bett herum, damit die Schmerzen in seinen Eingeweiden nachließen. Natürlich wusste er, was schief gelaufen war. Nach der Übernahme der Regierungsgewalt hatte er die ihm zur Verfügung stehenden Karten ausgespielt - die verhassten yanqui imperialistas vertrieben und ihren Besitz beschlagnahmt, den Jubel und die Bewunderung des Volkes dafür entgegengenommen, es von den Unterdrückern befreit zu haben. Unglücklicherweise war Kuba ein armes, kleines Land, und so hatte er den vertriebenen patrón durch einen anderen ersetzen müssen, wofür nur die Sowjetunion in Frage gekommen war. Er hatte sich dem Kommunismus unterworfen, war vor der Sowjetunion auf die Knie gefallen und hatte ihr treue Gefolgschaft geschworen. Damit hatte er den unsterblichen Hass der Politiker auf sich gezogen, die die Vereinigten Staaten regierten und nach einigen gescheiterten Attentatsversuchen und der in einem Debakel geendeten Invasion in der Schweinebucht Kuba den Wirtschaftskrieg erklärten. Und dann war nach langen -70-
Jahren der Dürre der grausamste Dolchstoß erfolgt, der Zusammenbruch der Sowjetunion in den Jahren 1990 und 1991. Kuba wurde das Rettungsseil abgeschnitten. Oh, er hätte klüger sein sollen und erkennen müssen, dass die Vereinigten Staaten das Rennen machen würden. Die spanischen Großgrundbesitzer hatten Kuba jahrhundertelang ausgeplündert, die Menschen zuerst als Sklaven und dann als mittellose Pächter für sich schuften lassen. Nach der Ablösung der Spanier durch die Amerikaner hatten amerikanische Firmen ihre Leute in den Herrenhäusern einquartiert, und das Leben war wie gehabt weitergegangen. Die Kubaner waren noch immer Sklaven des Zuckerrohrs, lebten in unsäglicher Armut, die es ihnen unmöglich machte, den firmeneigenen Städten und Geschäften zu entfliehen. Doch einige Dinge änderten sich tatsächlich unter den Amerikanern. Die Insel wurde der Rotlicht-Bezirk der Vereinigten Staaten, die Heimat des Lasters, das im amerikanischen Mutterland illegal war: Glücksspiel, Prostitution, Drogen und während der Prohibition Alkohol. Arme katholische Familien schickten ihre Töchter in die Städte, um den Yanquis als Huren zu dienen. Die Kapitalisten ließen Kuba ausbluten, bis es blutleer war, und so würden sie die Menschen überall auf der Welt ausbeuten, bis es keine Menschen mehr gab. Oder keine Kapitalisten mehr. Bis dahin aber würden sie das gesamte Geld besitzen! Diese grundlegende Wahrheit hätte er erkennen müssen. Er war mit dem Hass auf die Vereinigten Staaten aufgewachsen, auf die Yanquis, die sich die Nächte in Havanna mit Trinken, Glücksspiel und Prostituierten vertrieben. Er hasste ihre Diplomaten, ihren Stützpunkt in Guantánamo Bay, ihre Selbstgefälligkeit, ihr Geld… Er verabscheute sie und alles, was sie taten, und das war dumm, denn Amerika war nun mal eine Tatsache des Lebens. Genau wie Scheiße. Man konnte ihr nicht entkommen, nur weil sie stank. -71-
Gott hatte ihm nie eine Gelegenheit gegeben, die Yanquis zu vernichten, denn hätte Er es getan… Fidel Castro war mit Leib und Seele Kubaner. Er verkörperte die Abneigung, die das kubanische Volk für die Amerikaner empfand, weil es sein Leben lang um die Krümel gebettelt hatte, die von den Tischen der Reichen gefallen waren. Abneigung war eine schädliche Emotion, so wie Hass und Neid. Nun, er lag im Sterben. Wochen, sagten die Ärzte. Ein paar Wochen, mehr oder weniger. Der Krebs fraß ihn bei lebendigem Leib. Die Schmerzmittel wirkten, er konnte sich wenigstens aufsetzen, vernünftig denken, die verbotenen Zigarren rauchen und Pläne für Kubas Zukunft schmieden. Denn im Gegensatz zu ihm hatte Kuba eine Zukunft. Natürlich würden die Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle darin spielen. Nach dem Tod des großen Teufels Fidel war alles möglich. Das Wirtschaftsembargo würde wahrscheinlich mit ihm verschwinden, und ein neuer presidente konnte… was bringen? Castro dachte darüber nach, während er vorsichtig an seiner Zigarre paffte und den Rauch zwischen den Lippen hervorquellen ließ. Jahrelang waren Amerikaner durch diverse Regierungsbüros defiliert und hatten darüber geredet, was möglich sein konnte, sobald ihre Regierung das Wirtschaftsembargo aufhob. Immer hatten sie eine Idee gehabt, für die sie eine bestimmte Ausnahmegenehmigung von Havanna brauchten… und selbstverständlich waren sie bereit, dafür zu zahlen. Großzügig zu zahlen. Sofort. Uneingelöste Versprechen… Ihr Geld zu nehmen hatte ihm großes Vergnügen bereitet. Er hatte keine Pläne für einen Nachfolger gemacht, niemandem den Weg geebnet. Einige meinten, Raúl könnte die Amtsgeschäfte übernehmen, aber Raúl war impotente, ein -72-
Leichtgewicht. Fidel Castro würde seine Stimme jetzt abgeben müssen, solange er noch sehr lebendig war. Aber wie sollte Kubas Zukunft aussehen? Die Schmerzen in seinen Eingeweiden wurden so stark, dass er sich zusammenkrümmte. Stöhnend lag er in seinem Bett und hielt die Zigarre eisern fest. Nach rund einer Minute ließen die Schmerzen ein wenig nach, und er paffte wieder an der Zigarre, die noch qualmte. Wer auch immer nach ihm kam, er würde seinen Frieden mit den Vereinigten Staaten schließen müssen. Die Verantwortlichen mussten wählerisch mit den amerikanischen Geschenken sein, die schlechten zurückweisen und gleichzeitig lernen, von den guten Dingen zu profitieren, die Amerika der Welt zu geben hatte. Das war sein größtes Versagen gewesen - er selbst hatte nie gelernt, wie man den amerikanischen Elefanten gefahrlos handhabte, ihn dazu brachte, das zu tun, was man wollte. Sein Nachfolger würde genau das tun müssen, zum Wohle des kubanischen Volkes. Kuba würde nie etwas werden, wenn es nichts als ein langes, schmales Zuckerrohrfeld und ein Zwischenposten für Kokainschmuggler blieb. Wenn das alles war, was es zu bieten hatte, konnte die gesamte Bevölkerung ebenso gut Segel setzen und sich auf den Weg nach Miami machen. Vielleicht hätte er früher abdanken, die Amtsgeschäfte übergeben und sich an der Costa del Sol zur Ruhe setzen sollen. Das nächste Mal. Beim nächsten Mal würde er als junger Mann abdanken und die Kubaner ihren eigenen Weg gehen lassen. Wie jeder Mann, der jemals über die Erde gewandelt war, hatte sich Castro in seinen eigenen Fehlern verfangen. Die -73-
Entscheidungen, die er an einem frühen Punkt des Spiels getroffen hatte, waren unumkehrbar. Er und das kubanische Volk waren gezwungen gewesen, mit den Konsequenzen zu leben. So ist das Leben, dachte er. Jeder muss seine Wahl treffen, ob klug oder dumm, gut oder schlecht, und dann dazu stehen. Es gibt kein Zurück. Natürlich, es besteht immer eine Chance, Wiedergutmachung zu leisten, aber man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Wir haben nur die Gegenwart. Nur diesen Moment. Als die Schmerzen diesmal über ihn kamen, fiel ihm die Zigarre aus den Fingern. Zum wiederholten Male stöhnend lag er in seinem Bett und versuchte, nicht nach der Krankenschwester zu rufen. Wenn er es tat, würde sie ihm eine Spritze geben, die ihn einschlafen ließ. Die Nadel würde ihm während seiner letzten Tage Frieden schenken, aber dafür war er noch nicht bereit. Die Schmerzen waren etwas erträglicher geworden, als er eine Hand an seiner Stirn fühlte. Er öffnete die Augen. Mercedes. »Du hast deine Zigarre fallen lassen«, flüsterte sie. »Ich weiß.« »Soll ich die Krankenschwester rufen?« »Jetzt noch nicht.« Mercedes wischte ihm den Schweiß mit einem feuchten Tuch ab. Der Stoff fühlte sich gut an. »Zünd die Zigarre an.« Sie erfüllte ihm die Bitte und schob ihm die Zigarre zwischen die Finger. Er brachte eine winzige Rauchwolke zus tande. »Hast du mit Hector gesprochen?« »Ja.« »Was hat er gesagt?« -74-
»Er war überrascht. Er wusste nicht, dass es so bald geschehen wird.« »Das war dein Eindruck?« »Ja.« »Und das Tabakgeschäft mit den Amerikanern? Was hat Hector dazu gesagt?« »Er hat mir einfach zugehört.« »Die Geburtstagsfeier… ist Maximo gekommen?« »Ja. Er hat eine Schachtel französisches Konfekt und seine Frau mitgebracht, die ein Kleid aus Paris getragen hat.« Fidels Lippen zuckten. Er konnte sich vorstellen, was die anderen Geburtstagsgä ste davon gehalten hatten. Maximo konnte ausländische Banker für sich einnehmen und einen Peso ausquetschen, bis er wimmerte, aber er war kein Politiker. »Hast du Hector vor Alejo gewarnt?« »Ja.« »Was hat er gesagt?« »Er hat es nicht ernst genommen.« Fidel dachte darüber nach. Er erinnerte sich an seine Zigarre und nahm einen weiteren Zug. »Er glaubt, die Bedrohung würde von den Generälen kommen«, sagte er schließlich. »Aber das wird sie nicht. Die Generäle wissen noch nicht, dass die Soldaten Hector folgen werden. Alejo ist sein gefährlichster Konkurrent, und wenn Hector Sedano das nicht begreift, wird man ihn schon wenige Tage nach mir begraben.« »Admiral, was halten Sie davon, wenn wir uns nächstes Wochenende auf den Virgin Islands ein Schnellboot nehmen und ein bisschen Wasserski fahren?«, fragte die junge Adjutantin des Admirals im Rang eines Lieutenants, die eine -75-
F/A-18 auf der letzten Patrouille flog. Ihr Freund war noch immer einer der Hornet-Staffeln zugeteilt. Als Jake Grafton das letzte Mal einer Wasserskitour mit einem Schnellboot zugestimmt hatte, war ihr Freund ebenfalls eingeladen worden. Jake seufzte. »Ich bin mir nicht sicher, wo wir nächste Woche sein werden, Beth.« Er hatte nicht die Absicht, sich sehr weit von Guantánamo Bay zu entfernen, solange sich die Gefechtsköpfe noch in der Lagerhalle befanden, aber natürlich konnte er das nicht sagen. »Besprechen Sie das mit dem Planungsoffizier, Commander Tarkington.« »Ja, Sir«, erwiderte Beth und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Captain Gil Pascal, der neue Chief of Staff sowie Toad Tarkington und der Admiral hatten die Köpfe zusammengesteckt, gewissenhaft die verfügbaren Kräfte für einen eventuellen Notfall aufgelistet und einen Operationsplan entworfen. »All die Jahre ist nichts passiert«, hatte Jake gesagt, »aber Washington muss einen Grund dafür gehabt haben, uns zu befehlen, die Gegend im Auge zu behalten. Wahrscheinlich weiß man dort mehr als wir.« Gil Pascal erwiderte den Blick des Admirals. Er hatte sich erst vor einer Woche beim Stab gemeldet. »Sir, soweit ich mich erinnere, stand in den Befehlen, wir sollten die Verladung der Waffen in das Frachtschiff überwachen.« »Überwachen?«, murmelte Jake Grafton. »Was, zur Hölle, soll das heißen? Ist das so eine Art New-AgeBürokratenausdruck? Es sagt gar nichts aus.« »Ich schätze, eigentlich sollte meine Frage lauten: Wie viele Truppen sind Sie bereit, ohne Autorisation aus Washington einzusetzen?« Ein schwaches Lächeln huschte über Toad Tarkingtons Lippen. So eine Frage konnte nur jemand stellen, der den Admiral nicht kannte. Wer auch immer sich in Jake Graftons -76-
Aufgabenbereich einmischt, tut besser daran, sich auf einen Krieg einzustellen, dachte Toad. Es gelang ihm, das Lächeln wegzuwischen, bevor der Admiral antwortete. »Alles, was nötig ist, um dafür zu sorgen, dass diese Gefechtsköpfe in amerikanischem Besitz bleiben.« Pascal nahm sich Zeit, seine Gedanken zu ordnen. »Sollten wir diese Pläne nicht mit Washington absprechen, Admiral?« Jake Grafton öffnete eine Top-Secret-Aktenmappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Ich habe bereits eine Anfrage an den CNO geschickt. Das ist die Antwort.« Er reichte die Botschaft an Pascal weiter. Der Text lautete folgendermaßen: Überwachen Sie die Verladung der Waffen gewissenhaft nach bestem Ermessen, aber weichen Sie nicht von der normalen Routine ab. Es ist nicht im nationalen Interesse, dass die Präsenz biologischer und chemischer Waffen auf kubanischem Territorium bekannt wird. Die Risiken des Transfers wurden auf höchster Ebene sorgfältig erwogen. Sollte sich die Risikoeinschätzung ändern, werden Sie informiert. »Vier Sätze?«, fragte Toad Tarkington, nachdem er die Gelegenheit bekommen hatte, die Mitteilung zu lesen. »Nur vier Sätze?« Das Lesen von internen Anweisungen der Navy war natürlich eine Kunst für sich. Dazu musste man die Identität und den Charakter des Absenders berücksichtigen, den Empfänger, die Situation, jegliche vorangegangene Korrespondenz… Jake kam zu dem Schluss, dass der unbekannte Faktor hier die Lage in Washington war. Hätte der CNO, der für Operationen der Navy zuständige Offizier, die Freiheit gehabt, mehr zu sagen, hätte er es getan; Jake kannte den Mann. Das Fehlen genauerer Anweisungen oder Erläuterungen verriet ihm, dass der CNO von ihm erwartete, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. »Wir werden das Beste aus dem machen müssen, was wir haben«, sagte der Admiral an Pascal und Tarkington gewandt. -77-
»Ich möchte, dass wir einen Plan erstellen. Wir brauchen jemanden, der ununterbrochen die Beobachtung übernimmt, eine schnelle Eingreiftruppe, die jeden Überfall auf das Waffenlager vorerst gewaltsam zurückschlagen kann, eine Reservetruppe, die wir in die Schlacht werfen können, um jeden Zugriff mit absoluter Sicherheit zu verhindern, und vorgefertigte Blitznachrichten, um Washington über unsere Maßnahmen zu informieren.« Toad und Gil Pascal nickten. Angesichts der Truppen, die dem Admiral zur Verfügung standen, würde ein solcher Plan einfach auszuarbeiten sein. Keine Überraschungen zu erwarten. »Es besteht immer die Möglichkeit, dass es uns nicht gelingt, feindliche Kräfte daran zu hindern, die Gefechtsköpfe in die Finger zu bekommen, sollten sie sich dazu entschließen. Wir benötigen auch für diesen Fall einen entsprechenden Plan.« »Dieser Albtraum wird doch bestimmt nicht eintreten«, sagte Gil Pascal. »Ihre Risikoeinschätzung unterscheidet sich erheblich von der des Nationalen Sicherheitsrates.« »Ich bin mir sicher, dass unsere Vorgesetzten es für ziemlich unwahrscheinlich halten, irgendjemand könnte versuche n, uns daran zu hindern, die Waffen aus Kuba zu entfernen, und ich teile ihre Ansicht. Andererseits müssen sie über Informationen verfügen, die sie nicht mit uns teilen können. Wäre das Risiko gleich Null, hätten sie uns nicht mit dem Befehl hierher geschickt, die Operation zu überwachen, was auch immer das genau heißen soll. Gentlemen, ich möchte nur für den Fall vorbereitet sein, dass wir tatsächlich in der Lotterie gewinnen und unsere Zahlen gezogen werden.« Toad legte die Botschaft aus Washington gedankenverloren in den roten Ordner zurück und schürzte die Lippen. »Eins ist sicher«, sagte er nachdenklich. »Irgendwas ist im Busch.«
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4 Alejo Vargas fand, dass er das schönste Büro in Havanna hatte, sogar in ganz Kuba, und vielleicht stimmte das auch. Er verfügte über ein ganzes Viertel der obersten Etage mit jeder Menge Glas; durch die großen Fenster ging der Blick hinaus über die Dächer von Morro Castle und den Kanal, der vom Meer in das Hafenviertel Havannas führte. Der Schreibtisch bestand aus Mahagoni, die Sessel aus Leder, der Fußboden war mit einem Perserteppich ausgelegt. William Henry Chance blieb einen Moment lang stehen, um das Panorama zu genießen, dann nickte er anerkennend. Er drehte sich um und erblickte den alten Safe der United Fruit Company in einer Ecke des Zimmers, der jetzt offen stand, darin Gold- und Silbermünzen aus der südlichen Karibik unter Glas. Wieder verharrte er eine Weile und ließ den Blick gerade lange genug über die Münzen wandern, um seinem Gastgeber ein Kompliment für diesen Schatz zu machen. »Sehr schön«, sagte er und nahm in dem Sessel Platz, den Alejo Vargas ihm anbot. An einem Schreibtisch in der Nähe saß Colonel Pablo Santana, Vargas' Stabschef, der ihm zunickte, als er in seine Richtung sah, aber kein Wort sagte. Colonel Santana war dunkelhäutig, hatte pechschwarze Augen und schwarzes, straff aus der Stirn gekämmtes Haar, unter seinen Vorfahren mussten auch Sklaven und Indios gewesen sein. Er war derjenige, der für Alejo Kehlen durchschnitt und den Abzug drückte, wenn derartige Dinge erforderlich wurden. Chance zwang sich, Santana zu ignorieren und sich seinem Gastgeber zuzuwenden. »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu empfangen, General«, sagte er und schenkte Vargas ein offenes, gewinnendes Lächeln. -79-
William Henry Chance war groß und wirkte kantig, sah aber auf eine etwas derbe Art gut aus; er trug einen leichten grauen Anzug von einer Qualität, wie man sie auf Kuba für kein Geld der Welt bekommen konnte, und er wirkte völlig entspannt, als wäre er der Eigentümer des Gebäudes, der einen Mieter empfing. Kein Wunder, dass die Russen das Rennen gegen die Amerikaner verloren haben, dachte Vargas wehmütig. Als waschechter lateinamerikanischer Mann war er sich seiner körperlichen und gesellschaftlichen Defizite sehr wohl bewusst, seines Mangels an Eleganz und Ausstrahlung, und so wusste er diese erstrebten Eigenschaften bei anderen sofort zu würdigen. »So weit ich informiert bin, haben Sie bereits mit Vertretern mehrerer Ministerien über ein zukünftiges Geschäftsabkommen gesprochen«, begann er. »Das ist korrekt, General. Wie Sie wahrscheinlich wissen, vertrete ich ein Konsortium von Aktieninhabern, die an einigen der großen amerikanischen Tabakkonzerne beteiligt sind. Mein Auftrag ist diskreter Natur, nicht für die Ohren der Öffentlichkeit bestimmt.« Das wusste Vargas in der Tat. In der oberen rechten Schublade seines Schreibtischs lag ein komplettes Dossier über William Henry Chance, ein Dossier mit einem halben Dutzend Fotos, den Fotokopien aller Seiten von Chances Reisepass und seines Eintrags im Who's Who. Als Seniorpartner einer großen Anwaltskanzelei in New York vertrat Chance seit fünfundzwanzig Jahren amerikanische Tabakkonzerne. Die Tatsache, dass er in Havanna Gespräche mit der kubanischen Regierung führte, war ein sicheres Indiz dafür, dass hinter ihm eine Menge Geld stand. Tatsächlich war Chance heute in Vargas' Büro, weil Castro Vargas gebeten hatte, den Amerikaner zu empfangen. »Alejo«, hatte Fidel gesagt, »unsere Zukunft hängt davon ab, -80-
ob Kuba sich einen Anteil an der Weltwirtschaft sichert oder nicht. Die Amerikaner haben uns zu lange in der Isolation gehalten. Wenn wir es für sie lukrativ machen, das Embargo aufzuheben, werden sie es früher oder später tun. Die Yanquis können Geld über Meilen hinweg riechen.« Wenn William Henry Chance ahnte, dass Castro persönlich Vargas gebeten hatte, ihn zu empfangen, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Je weniger er über die Abläufe in unserer Regierung weiß, desto besser, dachte Vargas. Er räusperte sich. »Ich bin mir sicher, dass Sie unsere Sorgen verstehen, Señor Chance. Kuba ist eine arme Nation und hängt vom Zuckerrohr als ihrem wichtigsten Wirtschaftsfaktor ab, ein Produkt, von dem es wie üblich ein Überangebot auf dem Weltmarkt gibt. Der Vorschlag Ihrer Klienten, so weit ich es verstehe, besteht darin, auf Kuba in erster Linie Tabak statt Zuckerrohr anzubauen.« Chance nickte kaum merklich. Die Spur eines Lächelns huschte über seine Lippen. Er warf einen flüchtigen Blick in Santanas Richtung, der ihn mit professionellem Interesse betrachtete, so wie eine Katze eine Maus beobachtet. »Sie haben das richtig erkannt, General.« »Im Verlauf der Jahre, Señor, ist der Preis für Tabak auf dem Weltmarkt sogar noch niedriger als der für Zucker gewesen.« »Dieses Treffen sollte eine große Hilfe für meine Klienten sein«, erklärte Chance. »Ich möchte Ihnen hier und heute die vielen Vorteile erläutern, die sich in Zukunft einer Nation bieten könnten, welche sich Tabak gegenüber aufgeschlossen zeigt. Und ich spreche nicht von Zigarrentabak, der nur einen winzigen Bruchteil auf dem Weltmarkt ausmacht. Ich meine Zigarettentabak.« »Dessen Preis in den Vereinigten Staaten zusammenbrechen wird, wenn die amerikanische Regierung die Tabakfarmer in ihrem Land nicht länger sub ventioniert.« -81-
»So ist es«, bestätigte William Henry Chance. »Die Regierung der Vereinigten Staaten wird schon bald aufhören, den Preis zu stützen. Von noch größerem Interesse für unsere Klienten ist jedoch der Umstand, dass die Regierung das Zigarettengeschäft in zunehmendem Maße regulieren und besteuern wird. Unmissverständlich ausgedrückt: Die Regierung steht unserer Industrie feindselig gegenüber. Die derzeitige Verwaltung hat verkündet, dass es ihr Endziel ist, diese Industrie gänzlich zu beseitigen.« Er hob und senkte die Schultern um einen Millimeter und lehnte sich tiefer in seinem Sessel zurück. »Die amerikanische Bevölkerung lässt die Finger immer mehr von den Zigaretten. In einigen Jahren werden die einzigen Amerikaner, die noch rauchen, rebellische Jugendliche und süchtige Greise sein.« Chance beugte sich etwas vor und blickte Alejo Vargas direkt in die Augen. »Die Zukunft der Zigarettenindustrie ist es, amerikanische Marken an Nicht-Amerikaner zu verkaufen. Auf der ganzen Welt sehnen sich die Menschen in den Entwicklungsländern nach den Symbolen, für die amerikanische Zigaretten stehen: Wohlstand, Sex-Appeal, Luxus, eine wachsende Bedeutung in der Welt. Diese Symbole beruhen nicht auf Zufall, sie wurden mit großem finanziellem Aufwand und sorgfältiger Planung von den amerikanischen Tabakkonzernen geschaffen und gepflegt.« Er legte eine kurze Pause ein, um zu sehen, ob sein Gastgeber etwas zu seinen Ausführungen zu sagen hatte, was offensichtlich nicht der Fall war. Alejo Vargas saß schweigend und mit völlig ausdruckslosem Gesicht da. Er verriet mit keinem Muskelzucken, was er dachte. Im Laufe der Jahre hatte er durch Castros langatmige Ansprachen jede Menge Erfahrung im geduldigen Zuhören gesammelt. »Herr Minister, bei wohlwollender Mithilfe einer Re gierung, die an dem Erfolg der Tabakindustrie interessiert ist, sind die Gewinnaussichten enorm«, fasste Chance zusammen. »In -82-
Zukunft werden die Zigarettenkonzerne den Tabak selbst anbauen, ihn weiterverarbeiten, die Werbung übernehmen und das fertige Produkt verkaufen. Kubaner könnten einen Teil dieser Firmen besitzen, die Steuern zahlen und kubanische Arbeitskräfte zu anständigen Löhnen beschäftigen. Wir haben hier ein Produkt, das im Lande hergestellt und weltweit verkauft werden könnte. Zigaretten könnten im 21. Jahrhundert für Kuba so wertvoll wie Gold sein.« Diesmal lächelte Alejo Vargas. »Ich mag Sie, Señor Chance. Mir gefällt Ihr Stil.« »Sie können mir nichts vormachen«, gab Chance zurück. »Ihnen gefällt meine Botschaft.« »Kuba benötigt andere Industriezweige neben der Zuckerherstellung. « »Der Schlüssel zum Erfolg, General, ist eine stabile Regierung, die die Industrie schützt. Lassen Sie mich offen sprechen: Meine Klienten haben große Geldsummen zu investieren, aber das werden sie nicht tun, ohne die klare und eindeutige Aussicht auf eine stabile Regierung, die ihnen das Recht garantiert, Geschäfte zu machen und einen vernünftigen Profit zu erwirtschaften.« »Alle Zusagen oder Garantien müssen von den zuständigen Ministerien unserer Regierung mit dem Einverständnis unseres Präsidenten, Señor Castro, gegeben werden«, erklärte Alejo Vargas. »Es ist Kubas Zukunft, über die ich mit Ihnen reden möchte, General. Ich stelle unmissverständlich klar, dass meine Klienten keinen Cent in Kuba investieren werden, bevor die amerikanische Regierung nicht das Wirtschaftsembargo gegen Ihr Land aufhebt. Und ganz offen gesagt, das Embargo wird nicht aufgehoben werden, solange Castro im Amt ist.« »Ihre Offenheit verdient die gleiche Ehrlichkeit von meiner Seite«, erwiderte General Vargas. »Castro wird im Amt bleiben, -83-
bis er aus eigenem freien Willen zurücktritt oder stirbt. Täuschen Sie sich nicht - ganz egal, welches Geschwätz Sie auch von den Exilanten hören, Fidel Castro wird überall bewundert und geliebt, er wird von praktisch jedem Menschen in Kuba als großer Patriot verehrt. Es gibt keine Opposition, keine Bewegung, die ihn absetzen will… nichts dergleichen.« »Es ist die ferne Zukunft, über die ich mit Ihnen sprechen möchte.« »Eine sehr ferne Zukunft«, sagte der General. »Die Zeit nach Castro.« »Ich besitze keine Kristallkugel, Señor Chance. Vielleicht werde ich nicht so lange leben.« »Ich auch nicht, Sir. Aber die Zigarettenindustrie wird dann höchstwahrscheinlich immer noch im Geschäft sein und sich nach neuen Wachstumsmärkten umsehen.« »Vielleicht«, räumte Alejo Vargas ein und legte den Kopf ein bisschen schief. Er hatte Abschriften von Chances Telefonaten in die Vereinigten Staaten sowie eine Abschrift der Gespräche gesehen, die in seinem Hotelzimmer stattgefunden ha tten. Dabei war nicht ein einziges Wort über Castros Gesundheitszustand gefallen. Trotzdem war es eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass der Amerikaner hier in Havanna Gespräche über ein Kuba nach Castro führte, während der Präsident im Sterben lag. Alejo Vargas glaubte nicht an Zufälle. Sein Instinkt sagte ihm, dass William Henry Chance nicht der war, der er zu sein vorgab. Während er den Ausführungen seines Besuchers über das Marketing von Zigaretten und die demografische Entwicklung in der Dritten Welt zuhörte, zog er die Akte über ihn aus der Schreibtischschublade, hielt sie so, dass Chance sie nicht sehen konnte, und las sich noch einmal aufmerksam die darin enthaltenen Informationen durch. -84-
Die Fotos konnte er nicht genauer betrachten, aber er war bereit, sie als echt zu akzeptieren. Mr. William Henry Chance aus New York City war vermutlich wirklich ein Seniorpartner in einer großen Anwaltskanzlei. Nach einem weiteren Blick in die Unterlagen wäre Vargas schockiert gewesen, sollte sich das als Irrtum herausstellen. Die Akte enthielt alle erforderlichen Daten. Wenn in Kuba schon sonst nichts richtig funktionierte, arbeiteten zumindest die Informationssammler gründlich. Trotzdem konnte nicht ausgeschlossen werden, dass Chances Position und Beruf lediglich eine sorgfältig ausgearbeitete Tarnung waren. Er hatte die Mappe gerade durchgeblättert und legte sie in die Schreibtischschublade zurück, als Chance seine Ausführungen zusammenfasste. Der Anwalt hatte Tabellen und Grafiken ausgebreitet. Vargas würdigte sie nicht einmal eines Blickes. Stattdessen beobachtete er Chances Augen, die Art, wie sie sich bewegten, worauf sie sich richteten, wie sich die Muskeln des Amerikaners anspannten und lockerten. Es ist möglich, dachte Vargas. William Henry Chance könnte für die CIA arbeiten… Als Chance dreißig Minuten später seine Tabellen und Grafiken einpackte und sich zum Gehen anschickte, zog er ein kleines Päckchen aus seinem Aktenkoffer hervor, das er Vargas reichte. »Hier ist etwas, das Ihnen vielleicht gefallen wird, General. So eine Art Entspannungshilfe für gestresste Führungspersönlichkeiten. Da diese Dinger gerade der letzte Schrei in den Staaten sind, habe ich ein paar davon am Flughafen gekauft.« Vargas wickelte das Packpapier auf. Zum Vorschein kam ein kleines Plastikgestell, von dem drei unregelmäßig geformte Kristalle an Fäden herabbaumelten. »Es sind künstliche Kristalle, die auf Temperaturschwankungen reagieren«, erklärte Chance. »Stellen Sie das -85-
Ding auf eine Fensterbank, dann beginnen die Kristalle zu tanzen, und das Sonnenlicht bricht sich in ihnen. Ein sehr buntes Farbenspiel.« »Danke«, sagte Vargas mechanisch und stellte das Spielzeug auf seinen Schreibtisch. Nachdem der Amerikaner gegangen war, rief Colonel Santana einen Adjutanten, der das Gebilde zuerst einer optischen Inspektion unterzog und es dann mitnahm, um es elektronisch zu durchleuchten. Nach einer Stunde kehrte er mit dem Spielzeug zurück. »Es ist das, was es zu sein scheint, Señor, lediglich drei unregelmäßig geformte Kristallbrocken an Fäden. Die Kristalle und der Rahmen sind absolut kompakt, sie enthalten keinerlei Hohlräume mit Fremdkörpern.« »Amerikaner!«, knurrte Vargas verächtlich. »Entspannungshilfe für gestresste Führungskräfte!« Colonel Santana stellte das Spielzeug auf eine nach Süden hinausgehende Fensterbank, sah einen Moment lang zu, wie die Kristalle im Sonnenlicht tanzten, und dachte dann nicht mehr daran. William Henry Chance schlenderte gemächlich zu seinem Hotel zurück, dem Nacional, einem klassischen Prachtbau aus den Dreißigern, in der Nähe des Hafenviertels. Er ließ den verschlossenen Aktenkoffer in seinem Zimmer und begab sich in das Hotelrestaurant, wo wahrhaft enorme Preise in amerikanischer Währung für ziemlich bescheidene Gerichte verlangt wurden. Überhaupt waren amerikanische Dollar die einzige Währung, die das Personal akzeptierte. Bunte Holzvertäfelung, eingelassene Keramikarbeiten und Pfaue, die wie Flüchtlinge in einer Voliere umhermarschierten, verliehen dem Hotel ein übertrieben karibisches Ambiente, wie Chance fand, eine Art South Miami Beach, bei dem man etwas zu dick -86-
aufgetragen hatte. Er bestellte einen Seebarsch, gebeizt und gegrillt, schwarze Bohnen und Reis, Avocados und einen Mojito, eine köstliche Mischung aus Limonensaft, Zucker, Minzeblättern und Rum genau das Richtige, was der Arzt gegen Skorbut verschrieb. Chance genoss den Fisch und trank einen zweiten Mojito, während er über den Zustand des Universums und die anderen Essensgäste sinnierte. Das Hotelpersonal bestand aus Angehörigen der kubanischen Geheimpolizei, wie er wusste. Wenn sie nicht gerade mit Daiquiris und Fruchtsäften umhereilten, arbeiteten sie für Vargas, spionierten die Hotelgäste aus, belauschten ihre Gespräche, durchsuchten ihr Gepäck, verfassten schriftliche Berichte. Chance kannte die Prozedur. Er wusste auch, dass die Kubaner keine Erkenntnisse über ihn gewinnen würden, indem sie ihn beobachteten, weil es nichts herauszufinden gab. Während er seinen zweiten Mojito trank, ließ er im Kopf sorgfältig alles Revue passieren, was Vargas im Verlauf ihrer Unterhaltung gesagt hatte. Er dachte an den Gesichtsausdruck des Generals, an das Fehlen jeglicher Gemütsregung, als die Sprache auf Castros Tod gekommen war. Natürlich wusste Vargas, dass Castro im Sterben lag. Er musste es wissen. Was er nicht wusste, war, dass die CIA genauso gut über Castros Gesundheitszustand im Bilde war. Es wäre eine beachtliche Leistung der Geheimdienste gewesen, Castros tödliche Krankheit in Erfahrung zu bringen, überlegte Chance, hätte die CIA die Informationen nicht eher zufällig erhalten. Castros Hausarzt hatte einen Kollegen in Madrid konsultiert, der hatte den Fall wiederum mit einem amerikanischen Spezialisten für Onkologie diskutiert, welcher sich gerade in Madrid aufhielt, und der hatte den Namen des Patienten zufällig in der Krankenakte gesehen. Und wie der -87-
Zufall es wollte, arbeitete sein Bruder bei der Agentur. Nachdem Chance sein Essen beendet hatte, verließ er das Hotel, um einen Spaziergang zu unternehmen. Dazu musste er sich zuerst durch eine Traube von Kubanern kämpfen, die vor dem Foyer herumlungerten. Trauben armer, gelangweilter Kubaner, die nichts zu tun und kein besonderes Ziel hatten, bevölkerten die Gehwege vor allen Nachtclubs und Casinos, lauschten der Musik, die durch die offenen Türen und Fenster wehte. Gelegentlich tanzten und sangen sie, doch meistens vertrieben sie sich die Zeit damit, zu plaudern und die Touristen sowie die Bettler und Prostituierten zu beobachten, die versuchten, den Fremden den einen oder anderen Dollar abzuluchsen. Einige Häuserblocks weiter blieb Chance vor einem Kiosk stehen, um Brot zu kaufen. Der Verkäufer gab ihm einen Peso Wechselgeld zurück. Ein Peso bedeutete ja, zwei bedeuteten nein. Chance lächelte, bedankte sich mit einem Nicken und ging weiter. Das Kristallgerät funktionierte also. Die Schwingungen menschlicher Stimmen veränderten die Bewegungen der Kristalle in einem zwar minimalen, nichtsdestoweniger aber nachvollziehbaren Ausmaß. Richtete man ein leistungsstarkes optisches Instrument auf die Kristalle, konnte man mittels der Lichtbrechung, deren Werte in einen Computer eingegeben wurden, die Frequenzmuster in menschliche Sprache umwandeln. Die Kristalle waren ein absolut passives Abhörgerät. So weit, so gut, dachte Chance, während er ziellos weiterschlenderte, um sich etwas Bewegung zu verschaffen, und die Bilder, Geräusche und Gerüche Havannas in sich aufnahm. Die Stadt erschien ihm wie eine stark geschminkte alte Hure, die versuchte, nach außen hin den Schein zu wahren. Ihre -88-
Touristenattraktionen waren fröhlich und lebendig, Tempel des Hedonismus inmitten eines grauen kommunistischen Ödlands. Außerhalb der Touristenviertel stank die Stadt nach Elend und Verfall. Die heruntergekommenen, verrottenden Gebäude waren bis zum Dach mit Menschen voll gestopft, häufig hausten vier Familien in einer einzigen Wohnung. Jeder Tag war ein Kampf um Nahrungsmittel und die notwendigsten Dinge des Lebens. Entfernte man sich von den Clubs und Hotels, wurden die Gesichter der Menschen düster, verhärmt, hoffnungslos. Das Gift des Kommunismus hatte hier sein Werk getan, so wie in jedem anderen Land, das ihm verfallen war. Nach der Revolution hatte die Regierung fast jeden Privatbesitz enteignet, von den riesigen Anwesen der Reichen bis hin zu den kleinen Läden an den Straßenecken. Bittere, ausweglose Armut war praktisch allgegenwärtig geworden. Vierzig Jahre nach der Revolution betrug der monatliche Durchschnittslohn zehn Dollar. Mädchen aus ganz Kuba strömten nach Havanna, um sich zu prostituieren. Alles, was man für ein menschenwürdiges Leben benötigte, war furchtbar teuer oder nicht einmal zu Wucherpreisen erhältlich. Die von den Kommunisten versprochene soziale Gerechtigkeit war so fern wie jemals zuvor. Trotz der Schmerzen und des Elends, die Millionen Existenzen zerstört und an den Rand des Abgrunds getrieben hatten, war man dem ersehnten Ziel nicht einen Schritt näher gekommen. Der Gipfel der Ironie waren natürlich die Touristenattraktionen. Diese Monumente der Gier und fleischlichen Gelüste befanden sich im Besitz des sozialistischen Staates, der sie betrieb, um an harte Devisen zu gelangen. Dekadente Kapitalisten, die ihr Geld durch die Ausbeutung von Arbeitern in anderen Teilen der Welt verdienten, gaben hier ihre Dollar aus. Wenn das Karl Marx wüsste. Unter den im tropischen blauen Himmel flatternden Bannern sozialer Gerechtigkeit hatten sich -89-
die Kubaner dem Rattenfänger der Sierra Maestra angeschlossen, der tapfer geradewegs die Straße zur Holle entlangmarschiert war. Verfallende Gebäude, verrostende alte Autos, Nutten an jeder Straßenecke, allgemeine Hoffnungslosigkeit… es schien, als wäre das Ende des Weges fast erreicht. Sehr merkwürdig, dachte William Henry Chance. Höllisch merkwürdig. Von dort aus, wo er sich zur Zeit befand, konnte er alles überblicken, sein gesamtes Leben, wie ein Theaterstück, das für ihn aufgeführt wurde. Die Erinnerungen kehrten klar und lebhaft zurück, wie Szenen aus einem Film liefen sie vor ihm ab. Die Fehler und vergeudeten Möglichkeiten, die kleinlichen Fehden, endlos und unerbittlich zogen sie vor seinem inneren Auge vorbei, und er konnte nichts daran ändern, nicht ein Wort, nicht eine Geste. Die meisten Tage litt er Qualen, heftige Qualen, und heute Morgen hatte ihm der Arzt ein starkes Schmerzmittel gespritzt. Jetzt befand er sich in einem Schwebezustand, halb bewusstlos. Die Schmerzen, die ihn gezwungen hatten, sich wie ein Fötus zusammenzurollen, waren einem dumpfen, erträglichen Ziehen in seinen Gedärmen gewichen. Obwohl seine Gedanken rasten, war sein Körper entspannt. Mercedes Sedano saß in dem abgedunkelten Zimmer auf einem Stuhl neben seinem Bett, starrte in die Finsternis und hing ihren eigenen Gedanken nach. Nach einer Stunde schlug er die Augen auf, ohne etwas wahrzunehmen. Schließlich bewegte er den Kopf und versuchte, Mercedes in der Dunkelheit auszumachen. Fidel Castro sagte kein Wort, sah sie nur an. Er konnte spüren, wie die Wirkung des Betäubungsmittels nachließ. Die Schmerzen kehrten zurück. Er öffnete den Mund, -90-
wollte nach dem Arzt rufen, überlegte es sich dann anders und leckte sich über die trockenen Lippen. »Ich möchte eine Videoaufzeichnung machen«, flüsterte er kaum hörbar. »Bist du denn kräftig genug?« »Vielleicht für eine Weile, denke ich. Es muss getan werden.« »Was willst du sagen?« »Ich weiß es nicht genau. Ich muss darüber nachdenken.« »Wann möchtest du das Band machen?« »Bald, schätze ich. Oder nie.« »Morgen?« »Ja, morgen. Sag dem Arzt Bescheid. Ich muss morgen klar im Kopf sein, wenn auch nur für kurze Zeit.« »Warum?« »Ich möchte mein politisches Testament verfassen.« Mercedes beugte sich vor und näherte ihr Gesicht dem seinen. »Kannst du einen Moment für mich erübrigen?« »Te quiero, mujer.« »Y yo te adoro, mi viejo.« »Wir werden ein bisschen reden, dann der Arzt und die Nadel.« Er schwitzte jetzt, sein Körper verspannte sich. »Ich bin selbstsüchtig. Ich werde sofort nach dem Arzt rufen.« »Einen Moment noch. Ich möchte dir sagen… Ich liebe dich. Du warst der Fels, an dem ich mich während der letzten Jahre festgehalten habe.« Sie wischte ihre Tränen fort und küsste ihn. »Ich habe viele Fehler in meinem Leben gemacht«, sagte er, »aber ich habe immer versucht, das zu tun, was mir für Kuba richtig erschienen ist. Immer. Ohne Ausnahme.« »Warum, glaubst du wohl, liebe ich dich so sehr?« -91-
»Ich möchte, dass das kubanische Volk sich gut an mich erinnert. Es sind meine Kinder.« »Sie werden dich nie vergessen.« »Ich muss ihnen auf ihrem Weg in die Zukunft helfen.« Er zog die Knie an seine Brust. Seine Augen glänzten, Schweiß rann von seiner Stirn und tropfte auf das Kopfkissen. »Morgen«, hauchte er. »Ich werde nachdenken. Hol jetzt den Doktor.« Mercedes drückte seine Hand und verließ das Zimmer. Maximo Sedano verbrachte den Abend auf seiner Yacht, die in Sichtweite des Morro Castle kreuzte. Der Wind ließ Schaumkronen auf vereinzelten Wellenkämmen unter einem tiefblauen Himmel entstehen. Maximos beide Gäste drängten sich mit bleichen Gesichtern um den kleinen Tisch in der Kombüse. »Werden die Drogenschmuggler auch weiterhin Geschäfte mit uns machen, wenn Castro stirbt?«, erkundigte sich Admiral Carlos Delgado, der Chef der kubanischen Marine. In den letzten fünfzehn Jahren hatten sich seine nautischen Aktivitäten auf den Besuch von Patrouillenbooten beschränkt, die am Kai vor Anker lagen. »Natürlich, sofern wir ihnen weiterhin für die Sic herheit ihrer Ware und ihrer Leute garantieren können«, antwortete Maximo. »Wir können gar nichts garantieren«, sagte General Enrique Alba, der Generalstabschef der kubanischen Armee, bitter. »Die ganze Geschichte fällt auseinander. Wir werden etwas sehr Lukratives verlieren.« Wie typisch für Delgado und Alba, dachte Maximo, dass ihr erster Gedanke der Zukunft ihrer Einnahmequellen gilt. Geld. Diese unbedeutenden, kleinen Männer hatten ihr Leben auf das Kassieren von Bestechungsgeldern ausgerichtet. Sie waren -92-
unfähig, über den winzigen Rand ihrer schäbigen, korrupten Existenz hinauszusehen. Der Chef der Luftwaffe und der beste Militär in Kuba unter achtzig Jahren war letzten Monat gestorben. Castro hatte noch keinen Nachfolger ernannt und würde es wahrscheinlich auch nicht mehr tun. Maximo seufzte. »Nichts bleibt ewig, wie es ist«, sagte er. »Aber Veränderungen halten auch immer Gelegenheiten für diejenigen bereit, die ihre Möglichkeiten erkennen. Meine Herren, alles läuft auf die folgende Frage hinaus: Wer wird Kuba regieren, wenn sich der Staub nach dem Begräbnis gelegt hat?« »Sie werden es nicht sein«, erwiderte General Alba trocken. »Hector Sedano hat fünf meiner regionalen Kommandeure in der Tasche, und es gibt wenig, was ich dagegen tun könnte, es sei denn, ich ersetze sie durch andere Männer.« Er zuckte mit den Achseln. »Castro müsste die Anordnung absegnen. Wenn ich eine größere Maßnahme wie diese ohne seine Zustimmung treffe, wird er mich rausschmeißen.« »Er ist krank.« »Seine Adjutanten werden mich unter Berufung auf seine Autorität absägen. Ich kann mich nicht gegen Fidel auflehnen, solange er noch atmet. Das wissen Sie genauso gut wie ich.« »Vielleicht sollten Sie diese illoyalen Untergebenen erschießen lassen«, schlug der Admiral langsam vor und beäugte seinen Kollegen wachsam. »Falls Sie ein paar loyale Männer haben, die bis zum richtigen Moment warten«, fügte Maximo hinzu. »Wenn Castro stirbt?« »Nein. Wenn ich das Zeichen gebe. Keine Sekunde früher.« »Sicher, ich habe ein paar loyale Männer«, sagte der General. »Ich habe das Geld breit gestreut und dafür gesorgt, dass es bis -93-
in die untersten Ränge geflossen ist. Nur ein Idiot spielt das Schwein oder übergibt dicke Geldbündel jemand anderem, damit der es verteilt. Meine Männer haben ihren Anteil bekommen. Das Teuflische daran ist, dass die Illoyalen glauben, es würde von Alejo Vargas stammen. Sie halten ihn für die gute Märchenfee.« »Werden sie Ihnen gehorchen, ohne Fragen zu stellen?« »Die loyalen Männer werden mir gehorchen, ja.« »Und werden Sie mir gehorchen?«, fragte Maximo Sedano. General Alba starrte ihn ungerührt an. »Ich werde keinen Finger rühren, um Sie als den neuen Fidel auf den Thron zu heben, es sei denn…« Er blickte Maximo direkt in die Augen. »Es sei denn, Sie vertreten meine Interessen, die auch die Interessen meiner Männer sind, und wenn Sie eine Chance haben zu gewinnen. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie eine solche Chance haben.« »Ich habe Sie verstanden, Enrique. Wir arbeiten nun schon seit Jahren zusammen. Es ist genug vom Kuchen für uns alle da.« Maximo wandte sich dem Admiral zu. »Schließen Sie sich meiner Meinung an?« »Oh, es ist genug da. Aber es geht nicht nur um Geld. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Alejo Vargas ein Verleumder ist, und er hat zwanzig Jahre lang seinen Schmutz zusammengetragen. Seine Spione sind überall, er sieht und hört alles.« Der Admiral griff den Gedanken auf. »Vargas hat Leute korrumpiert, von denen Sie es nicht erwarten würden, und diejenigen, die er nicht korrumpieren kann, verleumdet er. Meine ehrliche Einschätzung: Sie haben keine Chance gegen diesen Mann.« »Nicht ohne Freunde, das ist wahr.« »Ich sage Ihnen jetzt eins, Maximo: Sie haben keine Freunde, -94-
die mit Ihnen zusammen sterben wollen. Das tut kaum ein Mann.« »Was ich nicht verstehe«, warf der General ein, »ist, warum Fidel den Unsinn Ihres Bruders geduldet hat. Er wurde immer wieder über Hectors Aktivitäten informiert, über die Versammlungen, die Reden, die geschickte Kritik an Fidel und den Entscheidungen, die er getroffen hat. Warum toleriert er das?« »Diese Frage habe ich ihm auch einmal gestellt, vor rund einem Jahr«, sagte Maximo. »Glauben Sie mir, er wurde ausführlich über Hector Sedano unterrichtet.« »Was hat er gesagt?« »Er meinte, Hector sei eine Art Barometer. Die Reaktionen der Menschen auf seine Botschaften zeigten Fidel das Ausmaß ihrer Unzufriedenheit mit ihm und der Regierung. Die Menschen lügen automatisch gegenüber Regierungsangestellten, aber wenn sie zu Hector Sedano gehen, um sich seine Reden anzuhören, hat das etwas zu bedeuten. Was mich betrifft, ich glaube, Fidel ist klug genug, um zu berücksichtigen, wie die Kirche denkt. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Hector ist Priester. Während der letzten Jahre hat Fidel vorsichtige Kontakte zum Vatikan geknüpft. Er kann es sich nicht leisten, sich mit dem Papst anzulegen.« »Wollen Sie behaupten, es kümmert ihn nicht, was Hector sagt?« »Ich denke, vor drei oder vier Jahren, als er zum ersten Mal auf Hector aufmerksam geworden ist, war er äußerst ungehalten über ihn. Glauben Sie mir, ich habe Hector wiederholt gewarnt und versucht, ihn dazu zu bringen, vernünftig zu sein und seine Zunge im Zaum zu halten. Er hat mich ignoriert, mich ausgelacht. Wahrscheinlich wollte Fidel ihn verhaften lassen, sobald Hector genug gesagt hätte, um sich durch seine eigenen Worte -95-
selbst zu überführen. Ich habe Hector gewarnt, dass er mit dem Feuer spielte. Aber ich denke, Castro hat das Interesse an ihm verloren, als er kränker geworden ist. Jetzt hört er sich nur noch die Berichte an, stellt ein paar Fragen über die Größe der Massen, wer da gewesen ist, und wechselt dann das Thema.« »Fidel will doch bestimmt nicht, dass Hector Sedano nach ihm regiert?«, fragte Admiral Delgado. Es war unüberhörbar, dass er Castros Verhalten missbilligte. »Wenn wir eine Chance haben wollen, das Rennen zu machen, müssen wir zuschlagen, sobald Fidel seinen letzten Atem aushaucht«, sagte Maximo. »Und zwar schnell. Alejo Vargas muss innerhalb weniger Stunden nach Castros Tod beseitigt werden. Innerhalb weniger Minuten.« »Wir müssten auch Santana töten«, meinte der General. »Ich schlafe nachts schlecht mit dem Wissen, dass er sich dort draußen herumtreibt, alles belauscht und an Alejos Seite Intrigen spinnt.« »Wer soll das tun?«, fragte der Admiral. Niemand antwortete ihm. »Unser Problem wird es sein, am Leben zu bleiben«, sagte der General, »denn Alejo Vargas und Santana werden uns schon beim geringsten Anzeichen, dass wir eine Bedrohung für sie darstellen könnten, umbringen lassen.« »Was ist mit Hector?« »Hector wird seinen eigenen Kugeln ausweichen müssen.« »Sie sind Schafe«, murmelte Maximo gerade laut genug, dass die beiden Männer ihn verstehen konnten. »Sie haben nicht den Mut, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die Wölfe werden ihnen die Kehlen zerfetzen.« Toad Tarkington und seine Frau, Lieutenant Commander Rita Moravia, saßen in einer ruhigen Ecke der Offiziersmesse an -96-
Bord der United States, rundeten das Essen mit einer Tasse Kaffee ab und unterhielten sich leise. Rita, Testpilotin der NavyFlieger, war als Austauschoffizierin den Piloten der auf der Kearsarge stationierten Marines zugeteilt worden, um direkte Erfahrungen mit der Osprey zu sammeln, bevor der mit schwenkbaren Rotoren ausgestattete Senkrechtstarter den Dienstbetrieb in den Flugstaffeln der Navy-Einheiten aufnahm. Wie meistens, wenn er mit Rita zusammen war, lächelte Toad Tarkington. Er fühlte sich wohl. Das Leben ist gut, dachte er und betrachtete sie, während sie ihm erzählte, was ihr Sohn Tyler, der jetzt vier Jahre alt war, in seinem letzten Brief geschrieben hatte. Natürlich hatte er ihn mit der Hilfe von Ritas Eltern geschrieben, die sich um ihn kümmerten, wenn seine Eltern auf See waren. Ja, das Leben ist gut! Und wenn man sich mit interessanten Leuten und interessanten Herausforderungen umgab, lohnte es sich. Toad grinste breit, mit sich und der Welt zufrieden. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Rita und Toad sahen auf. Vor ihnen stand der neue Chief of Staff mit einer Tasse Kaffee in der Hand. »Bitte, Captain. Kennen Sie schon meine Frau, Rita Moravia?« Gil Pascal kannte sie noch nicht. Sie gaben sich die Hand und tauschten die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus. »Soweit ich gehört habe, kennen Sie beide Admiral Grafton schon länger«, sagte Pascal, nachdem sie über das soeben beendete Komma ndo des Captains gesprochen hatten. »Oh ja«, bestätigte Toad. »Ich war noch ein einfacher Lieutenant in einer F-14, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Er war zu diesem Zeitpunkt der Befehlshaber der Flugstaffel auf genau diesem Schiff. Wir sind damals ins Mittelmeer ausgelaufen, hatten eine Begegnung mit El Hakim.« »Ich erinnere mich an den Vorfall«, erwiderte Pascal. »Das -97-
Schiff lag nach seiner Rückkehr in die Staaten anderthalb Jahre in der Werft. Und Admiral Grafton erhielt die Ehrenmedaille.« Toad nickte nur. »Rita hat den Admiral einige Wochen später in Washington getroffen.« Er bemühte sich, das Thema zu wechseln. Gespräche über El Hakim behagten ihm nicht. Das war lange her und vorbei, eine Zeit, als er noch Junggeselle gewesen war. Jetzt hatten sich die Dinge verändert, wie ihm unvermittelt bewusst wurde… jetzt hatte er Rita und Tyler. Er dachte gerade darüber nach, wie sehr sein Leben als Familienvater seine Einstellung verändert hatte, als er Rita sagen hörte: »Toad hat seither ständig unter dem Admiral gedient. Irgendwie hat er immer einen Weg gefunden, ihm zugeteilt zu werden.« »Dann kennen Sie Admiral Grafton also ziemlich gut«, sagte Pascal zu Toad. »Er ist der zweitbeste Freund, den ich habe«, erklärte Toad leichthin. Obwohl er lächelte, meinte er es völlig ernst. »Rita ist numero uno, Jake Grafton ist Nummer zwei.« Danach wandte sich das Gespräch wieder Ritas derzeitiger Aufgabe zu, der Einschätzung der neuen V-22 Osprey. »Soll ich dir noch einen Kaffee holen?«, erkundigte sich Toad einige Minuten später. Sie nickte, worauf er sich entschuldigte und mit den beiden Tassen zur Kaffeemaschine ging, die auf einem Nebentisch stand. Normalerweise wurde der Kaffee von einem Steward serviert, doch momentan war das Dienstpersonal damit beschäftigt, die Tische nach dem Abendessen abzudecken. »Haben die Einsätze Ihres Mannes seine Karriere behindert?«, fragte Captain Pascal. Rita wusste, was er meinte. Toad hatte nicht die klassische Karriere eingeschlagen, die normalerweise zu einem größeren Kommando und schließlich zu einem Admirals-Rang führte. -98-
»Vielleicht.« Sie zuckte leicht mit den Achseln. »Er hat sich so entschieden. Jake Grafton spricht eine andere Seite seiner Persönlichkeit an als ich.« »Oh, natürlich«, sagte der Captain behutsam. »Ehepartner und Freunde, zwei völlig unterschiedliche Dinge, das ist verständlich…« »Jake Grafton hat im Umgang mit den hartgesottensten Bürokraten in diesem Metier ein Gespür für die feinsten Nuancen, und gleichzeitig kann er ein Problem auf die denkbar direkteste Art und Weise angehen.« Rita suchte nach den richtigen Worten. »Er bemüht sich stets, das Richtige zu tun, ungeachtet aller Konsequenzen, die es für ihn haben könnte. Ich denke, das ist die Eigenschaft, die Toad an ihm am meisten bewundert.« »Ich verstehe«, versicherte der Chief of Staff, aber es war offensichtlich, dass er es nicht tat. »Jake Grafton und Toad Tarkington sind keine uniformierten Technokraten, keine Angestellten oder Knöpfedrücker«, versuchte Rita Moravia noch einmal zu erklären, was sie meinte, als Toad mit einer Tasse Kaffee in jeder Hand zurückkehrte. »Sie sind Krieger, und ich denke, das spüren sie in dem jeweils anderen.« Die Schatten verwandelten sich allmählich in Zwielicht, als Ocho Sedano durch die Straßen in Richtung der Docks ging. Auf jeder Schulter trug er einen Beutel, aus Bettlaken zusammengenäht. Einer enthielt Kleidung zum Wechseln, einen Baseball- Handschuh, mehrere Fotos seiner Familie… alles, was er in sein neues Leben in Amerika mitnehmen wollte. Wenn man all die Dinge durchwühlt, mit denen man sich im Laufe der Zeit umgibt, kommt man unweigerlich zu der Erkenntnis, dass man auf das meiste davon verzichten kann. Diego Coca hatte ihm geraten, mit leichtem Gepäck zu reisen, und Ocho nahm -99-
den Rat seines Trainers wörtlich. Der andere Beutel war voller Wasserflaschen. Ocho hatte den Müll nach Flaschen durchwühlt, sie sorgfältig ausgespült, mit Wasser gefüllt und verkorkt. Diego hatte zwar nichts über Wasser oder Essen gesagt, aber nach seinem Gespräch mit Hector glaubte Ocho, dass es klug war, ein paar Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Deshalb hatte er auch noch zwei gebackene Kartoffeln eingepackt. Diego würde ihn auslachen. Sie würden nicht lange genug auf See sein, um hungrig zu werden - zumindest hatte er das behauptet. Bitte, Gott, lass Diego Recht haben. Lass uns morgen bei Sonnenaufgang in Amerika sein. An einem bestimmten Strand in den Keys würde ein Mann sie erwarten. Diego hatte Ocho eine Karte gezeigt, auf der der Strand deutlich markiert war. »Er war ein enger Freund me ines Schwagers«, hatte er gesagt. »Ein Mann, dem wir vertrauen können.« Das Boot, behauptete Diego, war schnell genug, um im Morgengrauen amerikanisches Gewässer zu erreichen. Sie würden sich der Küste erst nach Sonnenaufgang nähern, wenn eventuelle Hindernisse sichtbar waren und sie sich an markanten Punkten und Bojen orientieren konnten… Diego war zuversichtlich. Dora glaubte ihrem Vater, hing mit glänzenden Augen an seinen Lippen, wenn er über Amerika sprach, davon, wie es sein würde, in einem amerikanischen Haus zu wohnen, in riesige Stadien zu gehen und zuzusehen, wie Ocho Baseball spielte, während ihm alle zujubelten… einen Fernseher zu haben, mehr als genug zu essen, gute Kleidung, ein Auto! Dios mío! Das klang so, als wäre Amerika das Paradies! Nach Diegos Worten war es der Himmel, in dem nur der Engelschor fehlte, und es lag gerade einmal eine Bootsfahrt entfernt jenseits -100-
der Straße von Florida. Sicher, wahrscheinlich würden sie seekrank werden und sich übergeben müssen, hatte Diego gesagt. Damit musste man rechnen, das war zu erwarten, ein geringer Preis für die Freiheit. Und es bestand die Möglichkeit, dass sie von der kubanischen Marine oder den Amerikanern gefasst und zurückgeschickt wurden. »Sollte das passieren, sind wir auch nicht schlechter dran als jetzt«, hatte Diego erklärt. »Wir könnten jederzeit wieder versuchen, nach Amerika zu gelangen. Weiß Gott, noch ärmer, als wir jetzt schon sind, können wir doch gar nicht mehr werden.« Doras glänzende Augen… sie sah so hoffnungsvoll aus, wenn sie ihrem Vater zuhörte. Sie war die erste Frau, mit der Ocho jemals geschlafen hatte. Und gleich nach dem ersten Mal schwanger geworden! Anfangs hatte er es ihr nicht geglaubt, es nicht glauben wollen. Dann war sie wütend geworden und durchgedreht. Danach hatte er ihr geglaubt. Er dachte an sie, während er durch die dunklen Straßen ging, vorbei an Menschen, die in Hauseingängen saßen, Pärchen, die Händchen hielten, Bars, durch deren Türen Musik drang. Hier hatte er sein gesamtes Leben verbracht, und jetzt ließ er es hinter sich zurück, ein unerhörtes Ereignis. Alle mussten ihm ansehen können, was er vorhatte, es in seinem Gesicht lesen, in der Art, wie er sich bewegte. »Ocho!«, riefen ihm einige Leute zu. Seine Fans wollten ihm die Hand schütteln, aber es waren nicht mehr als sonst. Sie reagierten wie immer, wenn sie ihn sahen, behandelten ihn so, wie sie es seit seinem fünfzehnten Lebensjahr getan hatten. Er ging weiter, vorbei an den geschlossenen Ständen des Fischmarkts und den Lagerschuppen. Seine Schritte hallten von den Häuserwänden wider. -101-
Das Boot lag zwischen zwei Hellingen, wie Diego gesagt hatte, hinter einem bestimmten Anlegeplatz. Ocho umrundete eine Häuserecke und entdeckte eine Ansammlung von Menschen. Männer, Frauen und Kinder drängten sich in kleinen Grüppchen zusammen. Hmm, sie befanden sich ganz in der Nähe der Schlippe. Sie standen direkt um die Schlippe herum. Dann sah er Diego und Dora auf dem Dock. Die Leute traten zur Seite, um ihn durchzulassen. »So viele Menschen«, sagte er zu Diego. »Hast du unsere Abreise öffentlich im Stadion bekannt gegeben? Ich dachte, wir wollten uns heimlich fortstehlen.« Diegos Miene wirkte gequält. »Sie kommen mit uns«, erklärte er. »Was?« »Der Kapitän hat seine Verwandten mitgebracht, mein Bruder hat gehört, dass wir fahren, mit ein paar Freunden gesprochen…« Ocho starrte das Boot an. Am Heck stand der Name in schwarzer Farbe, die an einigen Stellen abblätterte. Angel del Mar, Engel des Meeres. Das Boot war vielleicht dreizehn Meter lang und hatte ein kleines Ruderha us. Am Achtermast baumelten noch Fischernetze. Die Menschenmenge… Ocho schätzte sie auf rund fünfzig Personen. »Wie viele sind es, Diego? Wie viele?« »Über achtzig.« »Auf diesem Kahn? Im Golfstrom? Estás loco?« Diego war offenbar nicht ganz bei Sinnen. »Das ist unsere Chance, Ocho. Wir können es schaffen. Gott steht auf unserer Seite.« »Gott? Wenn das Boot kentert, wird Er uns dann vor dem -102-
Ertrinken bewahren?« »Hör zu, Ocho. Meine Freunde warten bereits in Florida auf uns. Dies ist unsere Chance, nach Amerika zu kommen, jemand zu sein, anständig zu leben… Das ist unsere Chance!« Die Leute starrten ihn an und lauschten gleichzeitig Diegos Worten. Ocho betrachtete die auf ihn gerichteten Gesichter. Dann riss er den Blick von ihnen los und wandte sich wieder Diego zu, der ihn am Arm gefasst hatte. »Nein, ich werde nicht mitfahren.« Er löste sich aus Diegos Griff. »Wenn ihr mit einem Passagier weniger fahrt, stehen die Chancen für euch alle ein bisschen besser.« »Du musst mitkommen«, bettelte Diego und griff erne ut nach Ochos Arm. »Ocho«, jammerte Dora. »Du musst mitkommen!«, fauchte Diego. »Du hast sie geschwängert! Sei ein Mann!« Mit vierundachtzig Menschen an Bord hoffnungslos überladen, hielt die Angel del Mar unter einem samtschwarzen, mit Sternen übersäten Himmel auf den Ausgang der kleinen Bucht zu. Die Mondsichel spendete gerade genug Licht, um die Sandbänke am Ende der Bucht erkennen zu können. Das Boot lag tief im Wasser und reagierte träge auf die kleinen Wellen, die in den Kanal hineinliefen. »Das ist Wahnsinn«, sagte Ocho zu Diego Coca, der an der Wand des kleinen Ruderhauses lehnte. »Wir werden es schaffen. Wir werden den Treffpunkt in den Florida Keys ein oder zwei Stunden nach Morgengrauen erreichen. Vamos con dios.« »Gott sollte uns besser beschütze n«, murmelte Ocho und streckte eine Hand nach Dora aus. Noch merkte man ihr die Schwangerschaft nicht an. Dora war mittelgroß und hatte eine -103-
schlanke, athletische Figur. Wie gut er ihren Körper kannte. Soweit er wusste, war er der Einzige an Bord, der Wasser oder Proviant mitgebracht hatte. Oh, auch die anderen hatten Gepäck dabei, Säcke und Kisten voller Dinge, die ihnen zu wertvoll erschienen, um sie zurückzulassen: Kleidungsstücke, Bilder, Silber, Bibeln, Rosenkränze und Kruzifixe, die die Wände ihrer Wohnungen oder die ihrer Eltern und Großeltern geschmückt hatten. Die Kisten und Säcke waren um die Menschen herum aufgestapelt, die entweder auf den Stapeln oder den nackten Deckplanken saßen. Männer, Frauen und Kinder, teilweise noch Babys, die in den Armen gehalten wurden… Ocho hatte den Eindruck, als wäre ein Teil der Besucher eines Baseballspiels auf wundersame Weise direkt aus dem Stadion auf dieses kleine Boot transportiert worden. Die Brise roch nach Seeluft, frisch und würzig. Er atmete tief ein, fragte sich, ob dies die letzte Nacht seines Lebens sein würde, und zog Dora näher an sich heran, spürte die Wärme und Verheißungen ihres Körpers. Nun gut, diese Schiffsladung von Menschen würde es nach Florida schaffen oder auch nicht, das lag jetzt in Gottes Händen. Ocho hatte sich nie allzu viele Gedanken über Religion gemacht, sie einfach als einen festen Bestandteil des Lebens akzeptiert, aber im Laufe der Jahre hatte er seine Erfahrungen mit dem Willen Gottes gemacht. Er gehörte nicht zu den Sportlern, die sich jedesmal bekreuzigten, wenn sie ans Schlagmal traten oder sich auf einen wichtigen Pitch vorbereiteten, er bat nicht in unbedeutenden Angelegenheiten um den Beistand Gottes, doch er war sich ziemlich sicher, dass man keine Kontrolle über die meisten größeren Ereignisse des Lebens hatte - ob man nun ein Ballspieler, Manager, Vater, Ehemann, Zuckerrohrarbeiter oder was auch immer war. Die Dinge entwickelten eine Eigendynamik und rissen die Menschen mit sich fort. Ganz egal, wie man es nannte, Gottes Wille, Zufall -104-
oder Schicksal, letztendlich konnte ein Mann den Ball nur so gut werfen, wie es seine Fähigkeiten zuließen. Was passierte, nachdem der Ball seine Hand verlassen hatte, entzog sich seiner Kontrolle. Dann lag alles Weitere in Gottes Hand, wie man so sagte. Sofern es Gott interessierte. Zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Ocho, ob seine Situation Gott interessierte. Er dachte immer noch darüber nach, als sich der Bug des Bootes in die erste große Woge am Eingang der Bucht grub. Gischt spritzte auf und flog bis zum Ruderhaus. Die Leute stießen spitze Schreie aus, einige lachten. Alle versuchten, irgendwo ein bisschen Schutz zu finden. Sie hielten Kleidungsstücke oder Streifen aus Pappe hoch, um die nächste Gischtdusche abzuwehren. Jedesmal, wenn das Boot in eine Welle lief, hob es sich ein wenig, aber es war zu schwer beladen. »Wir sind noch nicht mal aus dem Hafen raus«, brummte der Mann neben Ocho. Seine Stimme klang unendlich müde. Dora umarmte Ocho, klammerte sich an ihn und starrte in die Nacht hinaus. Sie reichte ihm kaum bis zu den Achseln. Er hielt sie fest und drückte sich an die Wand des Kajütenaufbaus. Das Boot kämpfte sich durch die Wellen, schleuderte Wasserfontänen in die Höhe, die sich über die auf dem Deck zusammengedrängten Menschen ergossen. Die Tür des Ruderhauses öffnete sich. Ein kahlköpfiger Mann streckte den Kopf heraus. »Das Boot ist überladen, Mann!«, rief er Diego Coca zu. »Es ist zu gefährlich, weiter zu fahren. Wir müssen umkehren.« Diego zog eine Pistole aus der Tasche und drückte dem Mann den Lauf an die Stirn. Dann schob er ihn durch die Tür zurück, folgte ihm in den winzigen Verschlag und schloss die Tür hinter sich. -105-
»Wir könnten es schaffen… wenn die See nicht rauer wird«, sagte der Mann neben Ocho. »Ich war frühe r Fischer, ich kenne mich mit dem Meer aus.« Er war vielleicht Ende sechzig, hatte ein tief gefurchtes Gesicht und von der Sonne ausgebleichtes Haar. Ocho hatte sich das Gesicht des Alten genauer angesehen, bevor das letzte Zwielicht verdämmert war; jetzt konnte er nur noch die Umrisse des Fischers in der Dunkelheit erkennen. »Dein Vater ist verrückt«, sagte er Dora ins Ohr, um den Wind und das Tosen der Brandung zu übertönen. Sie schwieg, klammerte sich nur noch fester an ihn. In diesem Moment erkannte er, dass sie ebenso viel Angst wie er hatte. Die Angel del Mar pflügte unter einem wolkenlosen Sternenhimmel nordwärts durch die Wogen. Der Wind blies mit zwölf bis fünfzehn Knoten gleichmäßig von Westen. Jetzt schon völlig durchnässt und ohne irgendeine Zufluchtsmöglichkeit, kauerten die Menschen auf dem Deck. Von seiner Position neben dem Ruderhaus aus nahm Ocho sie inmitten der Gischtfontänen nur noch als dunkle Schemen im schwachen Mondschein wahr. Um nicht von einer kubanischen Marinepatrouille entdeckt zu werden, gab es keinerlei Lichtquellen an Bord. »Wenn wir den Golfstrom erreichen«, rief der Fischer neben ihm über das Rauschen des Windes und das Wimmern des Dieselmotors hinweg in Ochos Ohr, »… Wellen… brechen die Fugen zwischen den Planken auf… kentern bei diesem Seegang…« Da das Deck so schwer beladen war, hob und senkte sich das Boot nicht nur mit der Dünung, es schlingerte auch heftig. Besonders bedenklich neigte es sich nach Steuerbord, wenn es einen Wellengipfel erklomm und dem Wind schutzlos ausgesetzt war. -106-
Ocho Sedano vergrub das Gesicht in Doras Haar und hielt sie in den Armen, während das Boot in die Höhe stieg und wieder zurückfiel, drehte er sich so, dass er sie mit dem Körper ein wenig gegen die spritzende Gischt abschirmen konnte, die auf sie alle niederprasselte. Er konnte hören, wie die Leute würgten. Zum Glück wehte der Wind den Geruch des Erbrochenen fort, bevor er Ocho und Dora erreichen konnte. Das Boot fuhr weiter in die Finsternis hinaus, kämpfte sich rollend und stampfend durch die aufgewühlte See. Später am Abend traf sich William Henry Chance mit seinem Partner an der Mahagonibar des El Floridita, einem der schrillsten Nachtclubs in Alt-Havanna. Diese Monstrosität war das vibrierende Zentrum des vorrevolutionären Havanna der schlimmen alten Zeiten gewesen. Noch immer schmückten Schwarzweißfotos von Ernest Hemingway, Cary Grant und Ava Gardner die Wände. Der Schuppen war voller Amerikaner, die trotz des von ihrer Regierung erlassenen Reiseverbots gekommen waren. Sie tranken, aßen und taxierten die Prostituierten in ihren aufreizend engen Kleidern und hochhackigen Schuhen, während die Bands lautstark Salsa und Rumba spielten. Chances Partner war Tommy Carmellini, ein Absolvent der Juristischen Fakultät von Stanford, Ende zwanzig. Die weite Sportjacke und die ebenso weite Hose verrieten nichts von Carmellinis breiten Schultern und seinem Waschbrettbauch. Trotzdem würde einem aufmerksamen Beobachter auffallen, dass Carmellini bemerkenswert fit für einen Mann war, der zwölf Stunden am Tag an einem Schreibtisch saß. »Sieht so aus, als wären die Kubaner wieder da angelangt, wo sie angefangen haben«, sagte Chance, als Carmellini sich zu ihm an die Bar gesellte. Er musste die Stimme heben, um die durch -107-
die Fenster dringende Musik zu übertönen. »Alles dreht sich im Kreis«, stimmte ihm Carmellini zu. »Ich frage mich nur, wie viele verschiedene Geschlechtskrankheiten heute Nacht allein hier zirkulieren.« Als sie kurz darauf draußen die Straße entlangschlenderten, zog Chance eine Zigarre aus der Tasche seiner Jacke, die er über den Arm gelegt trug. Er biss ein Ende ab und entzündete ein Streichholz in den hohlen Händen, um die Flamme gegen den leichten Wind abzuschirmen. Trotzdem benötigte er drei Streichhölzer, bis die Zigarre brannte. Nachdem er ein paarmal daran gezogen hatte, seufzte er genießerisch. »Riecht köstlich«, sagte Carmellini. »Kubanische Zigarren sind das einzig Wahre. Werden bald überall in sein. Sie sollten eine probieren.« »Nein. Könnte sonst sein, dass ich Zigarren mag. Ich bin so lange zurechtgekommen, ohne zu rauchen, dass ich gar nicht erst damit anfangen will.« Sie blieben vor einem Nachtclub stehen und lauschten der Musik, die ins Freie drang. »Das ist eine gute Band.« »Wenn Sie die Augen schließen, fühlen Sie sich fast wie in Miami Beach.« »Miami del Sud.« Sie schlenderten weiter. »Also, was haben Sie gehört?« »Die ›Entspannungshilfen‹ funktionieren. Alle drei. Heute Nachmittag hat Vargas mit seinen Untergebenen über dieses und jenes gesprochen, der Finanzminister hatte Telefonsex mit einer Freundin, und Castros wichtigster Adjutant hat sich eine Stunde lang mit den Ärzten unterhalten.« »Wie geht es dem alten Sack?« »Nicht gut, wie es klang. Die Ärzte haben darüber diskutiert, welche Dosen an Schmerzmitteln sie ihm verabreichen sollen, damit er nicht leidet.« -108-
»Irgendeine Ahnung, wann es so weit ist?« »Nein.« »Dieser Exilkubaner, El Gato, wie passt er ins Bild?« »Weiß ich noch nicht.« »Er sitzt gerade mit drei russischen Gangstern, die er offensichtlich kennt, im Casino und spielt um hohe Einsätze.« »El Gato ist angeblich ein einflussreicher und mächtiger Feind des Castro-Regimes«, murmelte Chance. »Da kommt man schon ins Grübeln.« »Yeah«, bestätigte Carmellini. Sie wussten beide, dass die CIA einen Agenten und drei Informanten in El Gatos Betrieb für Chemiezubehör hatte, um nach Hinweisen zu suchen, ob das möglicherweise die Quelle war, aus der einige der Komponenten für Fidel Castros vermutetes Biowaffen-Programm stammten. Bisher lagen keinerlei Erkenntnisse vor. Dann war El Gato völlig unerwartet nach Havanna geflogen, wohin Chance und Carmellini ohnehin gereist wären, doch jetzt hatten sie eine zusätzliche Aufgabe erhalten. Und Castro lag im Sterben. »Ich wüsste zu gerne, was er all seinen Exilanten-Freunden erzählen wird, wenn er nach Florida zurückkehrt«, sagte Tommy Carmellini. »Vielleicht finden wir es ja heraus, wenn er hier in den richtigen Büros aufkreuzt, was?« Die Anspielung auf die Entspannungshilfen für Führungskräfte entlockte Chance ein Grinsen. Er paffte ein paarmal an seiner Zigarre, die er vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Sie haben wirklich keine große Erfahrung darin, Zigarren zu rauchen, oder?«, fragte Carmellini. »Ist das so offensichtlich?« »Ja, Sir.« Chance schob sich die Zigarre zwischen die Zähne, so dass sie -109-
in einem flotten Winkel aufragte, und stieß furchtlos drei oder vier Qualmwolken aus. Dann nahm er sie aus dem Mund und betrachtete sie eine Weile. »Ich wünschte, ich könnte damit richtig umgehen. Kuba schien mir der geeignete Ort zu sein, um etwas über Zigarren zu lernen.« Er warf den Stummel in einen Straßengully. »Macht mich ein bisschen schwindlig.« Chance grinste verlegen und wischte sich einen leichten Schweißfilm von der Stirn. Danach blieb er eine Weile stehen und lauschte dem Lärm der Menschenmenge und den Musikfetzen, die aus den Bars und Casinos wehten, während er an biologische Waffen dachte. Es war erst eine halbe Stunde vergangen, seit die Angel del Mar die Mündung der Bucht passiert hatte, als der Fischer neben Ocho Sedano den jungen Mann am Arm zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Wir werden schon bald den Golfstrom erreichen!«, rief er. »Dort sind die Wellen höher. Wir sind zu schwer beladen. Wir müssen so viel Gewicht wie möglich loswerden.« Das Boot schaukelte ge fährlich. Ocho nickte und schob Dora dem Fischer zu; dann stand er auf, öffnete die Tür zum Ruderhaus und trat vorsichtig ein. Der Kapitän hielt das Steuerruder umklammert, ein Auge auf den Kompass gerichtet. Die einzigen Lichtquellen waren die Kompassanze ige und der Drehzahlmesser des Dieselmotors. In ihrem schwachen Schein konnte Ocho die Gesichter des Kapitäns und Diegos sehen, der sich zwischen die Seitenwand und den anderen Mann geklemmt hatte, die Pistole noch immer in der Hand. Beide starrten geradeaus durch die Fensterscheibe auf die Gischtschleier, die jedes Mal hochgewirbelt wurden, wenn der Bug mit einem hörbaren Klatschen in eine Welle schlug. Die Schläge ließen das Deck und die Wände des Ruderhauses erzittern. -110-
»Sie treiben uns in den Selbstmord!«, rief der Kapitän Diego zu. »Die See wird noch wilder werden, wenn wir den Golfstrom erreichen. Wir sind nur noch ein oder zwei Meilen davon entfernt!« Diego wich zurück, stützte sich an der Achterwand der winzigen Kajüte ab und zielte mit der Pistole zwischen die Schulterblätter des Kapitäns. Er hob die freie Hand, um Ocho auf Distanz zu halten. »Sie haben unser Geld genommen«, sagte er anklagend zu dem Kapitän. »Seien Sie kein Idiot, Mann.« »Amerika oder ich erschieße Sie! So wahr Gott mein Zeuge ist!« »Möchten Sie hier draußen ertrinken, in dieser Wasserhölle?« »Sie haben das Geld genommen!«, schrie Diego. Als Ocho vortrat, schwenkte Diego die Pistole herum und zielte auf ihn. »Zurück. Geh zurück! Ich will nicht auf dich schießen, aber ich werde es tun!« Ocho beugte sich vor. »Ich denke, die anderen haben Recht mit dem, was sie sagen. Du bist verrückt! Du wirst jeden Mann und jede Frau auf diesem Boot umbringen. Sogar die Babys.« »Das Boot ist überladen«, sagte der Kapitän, ohne Ocho dabei anzusehen. »Wir müssen Gewicht loswerden. Werfen Sie die Fischereiausrüstung über Bord, das Gepäck, alles, was Sie finden.« Ocho riss die Tür auf und trat auf das geneigte Deck hinaus. Er zog Dora von dem Fischer fort, schob sie in das Ruderhaus und stemmte sich gegen die Tür, bis das Schloss einrastete. »Wir müssen Ballast abwerfen. Alles außer den Menschen geht über Bord.« Der Fischer nickte, ergriff die Taschen neben seinen Füßen und schleuderte sie in den vom Bug hochspritzenden weißen -111-
Schaum. Dann packte er Ochos Be utel und warf ihn ebenfalls ins Meer, bevor der junge Mann ihn daran hindern konnte. Madre mia! Es war nicht einfach, über das schlingernde Deck zu gehen. Ocho arbeitete sich vor, ergriff jeden Sack und jede Kiste in seiner Reichweite und warf sie in die See. Einige Leute protestierten, umklammerten ihre Habseligkeiten und versuchten sie festzuhalten, doch Ocho war zu stark. Er riss den Frauen die Säcke aus den Händen und stemmte schwere Kisten in die Höhe, als wären sie leer. So kämpfte er sich über das Deck zum Bug, triefend vor Nässe, und warf alles, was ihm in die Hände fiel, in die aufgepeitschte See. Andere folgten seinem Beispiel. Bald war das Deck völlig leer bis auf die Menschen, die sich in kleinen Grüppchen zusammendrängten, die Rücken der spritze nden Gischt zugewandt. Die von dem Mast herabbaumelnden Netze wurden heruntergelassen und über Bord geworfen, die Halteseile durchgeschnitten. In der Nähe des Bugs waren die Schlingerbewegungen tückisch. Die aufgewirbelten Wasserfontänen rissen ihn fast vo n den Beinen. Ocho umklammerte ein Seil, das den Mast stabilisierte, und hangelte sich dann an der Reling entlang nach achtern. Er hatte den Eindruck, als läge das Boot jetzt etwas ruhiger im Wasser, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Dann erreichten sie den Golfstrom. Die Wogen wurden immer höher, das Schlingern und Stampfen noch mörderischer. Wie viel konnte das Boot noch aushalten? Menschen schrien, beteten laut, reckten die Arme dem Himmel entgegen. Ocho konnte das Jammern der Frauen trotz der grollenden Motorgeräusche und der gegen den Rumpf klatschenden Brecher hören. -112-
Er zog an der Tür zum Ruderhaus. Verschlossen! Ocho rüttelte am Türknauf, drehte ihn wild hin und her, zerrte mit all seiner Kraft. »Mach auf, Diego!« Er hämmerte vergeblich gegen die Tür. Sechs Personen kauerten im Windschatten vor dem winzigen Aufbau und blockierten die Tür mit ihren Körpern. Eine davon war Dora. Ocho beugte sich über sie und schlug erneut mit der Faust gegen die Tür. Er blickte auf Dora hinab, die den Kopf gesenkt hielt. Frustriert, völlig durchnässt und angewidert von sich selbst, von Diego und Dora, fand er eine freie Stelle an der Achterwand des Ruderhauses, wo er den Kopf in den Armen vergrub, um sein Gesicht vor der peitschenden Gischt zu schützen. Er schwebte im Nirgendwo, dachte an seine Mutter und erlebte noch einmal Szenen aus seiner Kindheit, als Mercedes ihn sanft schüttelte und er aus seinem Dämmerzustand erwachte. Noch immer unter dem Einfluss der schmerzstillenden Drogen, öffnete Fidel Castro die Augen zu schmalen Schlitzen und blinzelte heftig, obwohl das Licht sehr schwach war. »Maximo ist hier, Fidel. So wie du es gewünscht hast.« Er versuchte, die Schemen der Vergangenheit zu verjagen und in die Gegenwart zurückzufinden. Sein Mund war trocken, seine Zunge pelzig. »Wie spät?« »Fast Mitternacht.« Castro nickte, sah sich um, ließ den Blick über die Wände, die Decke, die dunklen Umrisse von Menschen und Möbeln wandern. Er konnte keine Gesichter erkennen. »Licht.« Mercedes drückte einen Schalter. -113-
Nachdem sich seine Augen auf die Helligkeit eingestellt hatten, entdeckte er Maximo in den Schatten. Er wedelte mit einem Finger. Ja, es war Maximo, jetzt erkannte er das Gesicht. »Mi amigo.« »Señor Presidente«, erwiderte Maximo. »Näher, ins Licht.« Maximo Sedano kniete sich neben das Bett. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, erklärte Castro. Sein Mund war so taub, dass es ihm Mühe bereitete, die Worte auszusprechen. »Ich möchte, dass das Geld zurückgebracht wird.« »Nach Kuba?« »Ja. Die gesamte Summe.« »Sie werden die Überweisungsformulare unterschreiben und mit Ihrem Daumenabdruck versehen müssen.« »Das Geld hat nie mir gehört, das wissen Sie.« »Ich hatte Vertrauen in Sie, Señor Presidente. Wir alle hatten Vertrauen.« »Vertrauen…« »Ich werde sofort in mein Büro gehen und dann wiederkommen.« »Mercedes wird Sie hereinlassen.« Ocho Sedano war bis auf die Haut durchnässt und mit dem Erbrochenen der Frau neben ihm besudelt, als er den Schrei hörte. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand des Ruderhauses ab, umklammerte mit der anderen die Takelung das Mastbaums, zog sich in die Höhe und wappnete sich gegen die schwankenden Bewegungen des Bootes. Wellen spülten über den Bug, der jetzt tiefer im Wasser zu liegen schien. Er hob sich nicht mehr so hoch, wie er es noch -114-
vor rund einer Stunde getan hatte. Vielleicht aber waren die Wellen auch nur höher als vorher. Irgendjemand stand an der Reling und deutete nach achtern. »Mann über Bord!« »Madre mia, hab Erbarmen!« Ein weiterer Brecher ergoss sich über das Deck, und zwei Leute, die sich gegen die Reling auf der Lee-Seite gestützt hatten, wurden ins Meer gespült, als das Boot rollte. Ocho drehte sich zum Ruderhaus um, zerrte die Menschen vor der Tür weg, bearbeitete den Knauf wie ein Wilder mit der rechten Hand und hä mmerte mit der linken Faust gegen die Tür. »Lass mich rein, Diego! So wahr mir Gott helfe, ich werde dich töten, wenn du das Boot nicht wendest!« Der Bug begann herumzuschwenken, das Heck drehte sich direkter in den Wind und die Wellen. Aus dem Ruderhaus klang der gedämpfte Knall eines Schusses auf. Ocho spannte sich an, dann rammte er die linke Faust gegen die obere Platte der Tür. Das Holz splitterte, sein Arm verschwand bis zum Ellbogen. Er tastete nach unten, entriegelte die Tür und riss sie auf. Der Kapitän lag auf dem Boden. Diego Coca stand an der Rückwand, das Gesicht in den Händen vergraben. Seine Pistole war nirgendwo zu sehen. Das Steuerrad kreiste jedesmal wild, wenn die Wellen gegen das Ruder schlugen. Ocho bückte sich und untersuchte den Kapitän. Er fühlte einen nassen Fleck in der Mitte des Rückens, genau zwischen den Schulterblättern. Kein Puls. Wenigstens schien das Boot jetzt, da die Wellen direkt von achtern kamen, ruhiger im Wasser zu liegen. Wie lange noch? Wie lange würde der Motor noch laufen? -115-
Der Fischer öffnete die Tür, sah Ocho am Steuerruder und die dunkle Gestalt auf dem Boden. »Ist er tot?«, rief er. »Ja.« »Wir müssen einen Treibanker für den Fall auswerfen, dass der Motor streikt. Wenn sich das Boot in dieser See längsseits dreht, werden wir kentern.« »Können Sie das machen?« »Ich hole mir ein paar Männer zu Hilfe«, sagte der Fischer und schloss die Überreste der Tür. Eine große Müdigkeit senkte sich über Ocho Sedano. Es war seine Sünde mit dem Mädchen gewesen, die all diese Menschen hierher gebracht und dem Tod geweiht hatte, auf diesem in einer rauen, windgepeitschten See hüpfenden Boot unter einem nächtlichen Himmel, aus dem Millionen kalt funkelnder Sterne mitleidlos auf sie herabsahen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass das Vorderdeck leer war. Leer! Die Menschen waren verschwunden. Von der See verschlungen… das war die einzige Erklärung! Sie mussten über Bord gespült worden sein. »Ocho.« Diego krallte dem jüngeren Mann eine Hand in die Schulter. »Ich wollte ihn nicht erschießen. So wahr Gott mein Zeuge ist, ich wollte nicht, dass das passiert! Es war ein Unfall!« Sedano wischte die Hand seines Trainers beiseite und deutete durch die Glasscheibe auf das Vorderdeck. »Sie sind fort! Da, sieh hin. Die Menschen sind fort!« »Ich wollte nicht, dass das passiert«, wiederholte Diego mechanisch. »Was?«, wollte Ocho wissen. »Was sollte nicht passieren?« O mein Gott, dass es so weit hatte kommen können! -116-
»Antworte mir!«, schrie er Diego Coca an, der sich weigerte, durch das Fenster des Ruderha uses zu blicken. »Sieh hin, du Bastard!«, befahl Ocho mit zusammengepressten Zähnen, packte den kleineren Mann im Nacken und drückte ihn mit dem Gesicht gegen die Scheibe. »Schau dir an, was du mit deiner Gier und deiner Dummheit angerichtet hast!« Er verstummte und stieß Diego Coca zu Boden. Das Ausmaß der Katastrophe raubte ihm die Kraft, ließ ihn innerlich leer werden. Er senkte den Kopf und krümmte sich zusammen. Diegos Schuld machte die seine nicht geringer, o ja, das wusste er nur zu gut. Er, Ocho Sedano, war schuldig. Seine Wollust hatte diese Kette von Ereignissen in Gang gesetzt. Er fühlte sich, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihm. Maximo Sedanos Büro im Finanzministerium spiegelte den persönlichen Geschmack seines Besitzers wider. Das Mobiliar war auf den ersten Blick täuschend schlicht, aber das Holz stammte aus dem Regenwald des Amazonas und war von brasilianischen Meistern ihres Fachs bearbeitet worden. Souvenirs von seinen Reisen durch Europa und Lateinamerika standen auf seinem Schreibtisch und in den Bücherregalen, hingen an den Wänden, kleine, nicht besonders wertvolle Gegenstände, denn kostspielige Mitbringsel wären politisch nicht opportun gewesen. Er schaltete das Licht an, trat vor den riesigen Safe und öffnete ihn, suchte nach einem bestimmten Fach und entnahm ihm einen steifen Umschlag. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und rückte die Leselampe in Position. Nachdem er den Inhalt des Umschlags auf der glänzend polierten Mahagoniplatte ausgebreitet hatte, verharrte er eine Weile und ließ den Blick durch das Büro wandern, ohne wirklich etwas zu sehen. Er blinzelte mehrmals, bevor er sich in seinem Sessel zurücklehnte und sich streckte. -117-
Es gab vier Konten in der Schweiz, die Fidel Castro gehörten, und bei Maximos letzter Zinsberechnung hatten die Gesamteinlagen dreiundfünfzig Millionen Dollar betragen. Castro hatte bei der Eröffnung der Konten vor mehreren Jahren darauf bestanden, dass sie in amerikanischen Dollar geführt werden sollten. Da die Währungen aller größeren Handelsnationen in letzter Zeit von erheblicher Inflation oder Abwertung in Mitleidenschaft gezogen worden waren, hatte sich seine Wahl als außerordentlich gut erwiesen. Die Währung der Vereinigten Staaten war das moderne Äquivalent von Gold, auch wenn sich kein Mitglied des Castro-Regimes die Blöße hätte geben dürfen, das öffentlich auszusprechen. Dreiundfünfzig Millionen Dollar. Eine beachtliche Summe. Genug, um für ein oder zwei Jahrtausende ein luxuriöses Leben zu führen. Fidel hatte das kleine Nest in der Schweiz nur für den Fall angelegt, dass die Dinge in seinem kommunistischen Paradies schlecht liefen und er sich absetzen musste. Warum sollte man von der staatlichen Wohlfahrt eines anderen bankrotten kommunistischen Paradieses wie Polen, Russland oder der Ukraine leben, wenn man das Problem mit ein bisschen Voraussicht lösen konnte? Also hatte Fidel ein Vermögen dort geparkt, wo nur er Zugriff darauf hatte, um allzeit gut schlafen zu können. Jetzt wollte er, dass das Geld zurück nach Kuba transferiert wurde. Nicht, dass es tatsächlich jemals der kubanischen Regierung gehört hätte. Es stammte von Drogendealern, von Gebühren zur Nutzung kubanischer Häfen, wo die Drogen so lange zwischengelagert werden konnten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, sie weiter zu verschiffen. Das Geld war wirklich Fidels Anteil an den auf die Drogengeschäfte erhobenen Gebühren. Ein noch viel größerer -118-
Brocken ging an die Marine, die Armee und die Polizei; jeder Uniformträger in Kuba wurde aus dieser Quelle bezahlt. Weitere Gelder flossen an Castros Unterführer und politische Verbündete. Maximo selbst hatte fast eine halbe Million Dollar erhalten. Alles in allem waren die Abmachungen mit den Drogensyndikaten eine gute Maßnahme gewesen: Das Drogengeschäft war höchst profitabel, hatte Castro das Geld beschafft, das er benötigte, um sich Loyalität zu erkaufen und an der Macht zu bleiben, und es schadete den Vereinigten Staaten, die er hasste. Und, ja, pikanterweise kam das Geld ausgerechnet aus den Vereinigten Staaten, trotz aller Anstrengungen, die die amerikanische Regierung unternahm, es zu verhindern. Auch diese Ironie hatte Fidel stets gefallen. Dreiundfünfzig Millionen Dollar. Maximo schürzte die Lippen, während er sich vorstellte, wie viel Luxus und welche Privilegien man sich mit einem solchen Vermögen erkaufen konnte. Man könnte das Geld in Hotels und Aktien investieren und allein von den Zinsen leben, ohne das Grundkapital antasten zu müssen. Er könnte im George V in Paris wohnen, in St. Moritz Ski fahren, in London und Rom einkaufen und mit einer Yacht durch das gesamte Mittelmeer kreuzen… Gott, der Gedanke war verführerisch! Dreiundfünfzig Millionen. Alles, was er tun musste, war, Castros Daumenabdruck auf die Überweisungsformulare zu bekommen. Ohne den Daumenabdruck wü rde die Bank nicht einen einzigen Dollar überweisen. Wirklich, diese Schweizer Banken… Maximo hatte Castro seit Monaten gedrängt, das Geld auf spanische oder kubanische Banken zu transferieren, seit bei dem Diktator Krebs diagnostiziert worden war. Wenn Castro starb, solange das Geld noch in der Schweiz lag, würde es praktisch unmöglich sein, es -119-
von diesen Banken zurückzubekommen. Und die Drogendealer hielten ihre Geschäfte für profitabel! Aber warum so kleinlich sein? Wieso sollte er sich mit dreiundfünfzig Millionen Dollar begnügen, wenn irgendwo noch viel mehr versteckt war? Er zog eine Münze aus der Tasche, eine goldene Fünf-PesoMünze, die 1915 geprägt worden war. Eine Seite zierte das Porträt von José Marti, die andere die kubanische Krone. Bis zur Revolution war Gold eine gebräuchliche Währung in Kuba gewesen. Dann hatten Castro und die Kommunisten es als legales Zahlungsmittel verboten, eingezogen und damit zugelassen, dass der Peso auf dem Weltmarkt verfiel. Maximo rieb die Goldmünze zwischen den Fingern. Nach seinen Berechnungen, die auf den Unterlagen des Finanzministeriums beruhten, waren knapp 1,2 Millionen Unzen Gold im Austausch gegen Banknoten an die Regierung abgeliefert worden. Eine Million und 200000 Unzen… rund siebenunddreißig Tonnen Gold. Diese Menge war auf dem Weltmarkt um die 400 Millionen Dollar wert. Wer dieses Vermögen in die Finger bekam, hatte für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Das einzige Problem bestand darin, das Gold zu finden. Es lag weder in den Tresoren des Finanzministeriums, noch in denen der Bank von Kuba, und auch nicht in Banken in der Schweiz, London, New York oder Mexico City. Es war verschwunden! Siebenunddreißig Tonnen Gold, die sich einfach in Luft aufgelöst hatten. Sollten Alejo Vargas und Hector Sedano ruhig um die Präsidentschaft in Kuba kämpfen, und mochte der Bessere gewinnen. Maximo würde sich mit dem Gold begnügen. Wenn er es finden konnte. -120-
Er hatte sogar ein paar Ideen, wo es stecken könnte. Tatsächlich hatte er seit seiner Ernennung zum Finanzminister unauffällig in dieser Sache recherchiert. Acht Jahre lang Akten durchstöbern, mit alten Angestellten reden, Spuren nachgehen, das Problem von allen Seiten durchdenken… Das Gold musste noch immer in Kuba sein, in Havanna. Siebenunddreißig Tonnen. Ein unbeschwertes Leben voller Luxus in europäischen Kurorten inmitten der Reichen und Berühmten, umgeben von schönen Frauen und dem Besten von allem… Aber zuerst musste er sich um die dreiundfünfzig Millionen Dollar kümmern. Er würde die Kontonummern und die Höhe des zu transferierenden Betrags mit der Schreibmaschine des Sekretariats auf die Überweisungsformulare tippen. Die Kontonummern standen in dem Notizbuch, das er dem Safe entnommen hatte. Maximo blätterte es durch, fand die gesuchte Seite und starrte den Zahlencode an. Wie genau würde Fidel die Formulare kontrollieren? Der Mann ist krank, mit Drogen voll gepumpt, er liegt im Sterben. Er ist kaum noch bei Bewusstsein. Wenn er die Kontonummern nicht gerade griffbereit im Nachtschrank hat, wird er nichts merken. Aber was, wenn doch? Was, wenn er sie in einem Buch oder Notizblock aufgeschrieben hatte und Mercedes die Überweisungsaufträge gab, damit sie sie überprüfte? Was dann? Dreiundfünfzig Millionen Dollar… Maximo dachte an die alten Zeiten, als er noch jung gewesen und Castro wie Jesus Christus mit einem kubanischen Akzent auf der Erde gewandelt war. Ah… das Feuer der Revolution, wie die wahren Gläubigen die Welt verändern würden! Stattdessen hatte die Zeit die Revolutionäre verändert. -121-
Amerika hatte sie ausgeblutet, das Leben hatte sie besiegt. Maximo war Fidel und der Revolution gegenüber loyal gewesen. Niemand konnte das Gegenteil behaupten. Seit seiner Rückkehr von der Universität in Spanien im Alter von vierundzwanzig Jahren hatte er auf Castros Seite gestanden. Er hatte die guten und die schlechten Zeiten mitgemacht, nie auch nur ein einziges Wort der Kritik geäußert. Er hatte an Fidel geglaubt, sich öffentlich zu ihm bekannt und das Gleiche auch von den anderen verlangt. Und jetzt lag Castro im Sterben. Schon in wenigen Tagen würde er Geschichte sein. Dreiundfünfzig Millionen Dollar. Durch die Wucht der Wellen des Golfstroms, denen das überladene Boot ausgesetzt war, hatten sich die Fugen zwischen den Rumpfplanken etwas geweitet. Der Fischer entfernte das einsickernde Wasser mit der Bilgenpumpe, die über einen Generator von dem Dieselmotor angetrieben wurde. »Solange der Motor läuft und die Fugen nicht noch weiter aufplatzen, haben wir nichts zu befürchten.« »Wie viel Sprit haben wir an Bord?« Der Fischer verschwand, um nachzusehen. Ocho stand am Ruder und hielt fast genau Ostkurs. Jetzt, nachdem der Wind und die Wellen von achtern kamen, lag die Angel del Mar besser im Wasser. Sie hob und senkte sich nach wie vor unter den Wogen, rollte aber kaum noch um die Längsachse. Von den vierundachtzig Menschen, mit denen das Boot aufgebrochen war, lebten nur noch sechsundzwanzig. Die Leiche des Kapitäns lag an eine Wand des Ruderhauses gelehnt. Ocho hatte Diegos Pistole gefunden und sie unter seinen Gürtel geklemmt, Diego dann mit Gewalt aus dem Ruderhaus -122-
gezerrt und ihn auf das Deck gestoßen. Siebenundfünfzig Menschen, Männer, Frauen und Kinder waren von der See verschlungen worden. Es hatte keinen Sinn umzukehren und zu versuchen, sie zu retten. Selbst wenn es ihm und dem Fischer gelang, sie bei diesem Seegang in der Dunkelheit zu finden, würde das Boot wahrscheinlich zu viel Wasser aufnehmen, wenn sie den Bug direkt in den Wind drehten und gegen die Wellen anfuhren, und dadurch würden sie das Leben der verbliebenen Passagiere gefährden. Nein, das Schicksal der Menschen, die über Bord gegangen waren, war besiegelt. Wahrscheinlich werden wir sechsundzwanzig Überlebenden ihr Los schon bald teilen, dachte Ocho. Das Boot hielt jetzt Kurs Ost, weg von Florida. Vielleicht konnten sie wieder nach Süden umschwenken, sobald sich die See etwas beruhigte, und nach Kuba zurückkehren. Das, so glaubte er, war ihre einzige Chance. Kuba. Sie mussten umkehren. Warum warten? Mit jeder Seemeile, die sie zurücklegten, wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass der Motor versagte oder das Boot sank. Er drehte ein bisschen am Steuerruder, ließ den Bug ein paar Grad nach Süden herumschwenken. Die Rollbewegungen wurden stärker, als der Wind mehr von steuerbord blies. Wie lange noch bis zur Morgendämmerung? Eine oder zwei Stunden? Die Tür zum Ruderhaus schwang auf. In dem dunklen Rechteck stand Diego. Das Weiß seiner Augen leuchtete im schwachen Licht. »Nimm wieder auf Kurs auf Florida! Niemand will zurück nach Kuba.« »Das ist der einzige Ausweg. Wir werden alle sterben, wenn wir versuchen, bei diesem Seegang nach Florida zu fahren.« -123-
»Ich war all die Jahre in Kuba tot!«, schrie Diego. »Ich weigere mich umzukehren! Ich will nicht!« Ocho schlug ihm auf den Mund. Er verdrehte den Körper, legte seine ganze Kraft in den Schlag und ließ seine Linke vorschießen. Diego taumelte zurück, prallte mit dem Hinterkopf auf die Planken vor der Tür und blieb reglos liegen. Dora wimmerte und kroch auf ihren bewusstlosen Vater zu. Ohne sie weiter zu beachten, schloss Ocho die Tür und brachte das Boot wieder auf Südostkurs. Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut. Der Fischer trat ein. »Wir haben Treibstoff für zehn bis zwölf Stunden. Nicht mehr.« »Bis dahin sind wir wieder in Kuba.« »Das ist unsere einzige Chance.« Die Sterne im Osten verblassten, als der Motor ausfiel. Nachdem der Fischer einige Minute lang vergeblich versucht hatte, den Diesel wieder anzuwerfen, hastete er davon und tauchte im Rumpf des Bootes unter. Ocho ließ das Steuer los. Das Boot tanzte Übelkeit erregend in der Dünung. Zumindest waren die Wellen jetzt nicht mehr so hoch wie vorher inmitten des Golfstroms. Fünfzehn Minuten später kehrte der Fischer zurück. Seine Kleidung triefte vor Diesel. »Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Der Motor ist hinüber.« »Was ist mit dem Wasser in der Bilge? Läuft es weiter rein?« »Wir werden uns an der Handpumpe abwechseln müssen.« »Und was machen wir mit dem Motor?«, fragte Ocho. Der Fischer antwortete nicht. Er stand einfach da und starrte auf die Wellen hinaus, während im Osten der Morgen heraufdämmerte.
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6 Der Lieferwagen folgte dem Abwasserkanal im Süden Havannas und bog dann ab, um zu dem achtzig Meter hohen Mast der Hochspannungsleitung hinaufzufahren. Der Fuß des Mastes war von einem gut drei Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben, um dessen oberen Rand ein Ring aus Stacheldraht lief; das Eingangstor war selbstverständlich mit einem Schloss gesichert. Der Fahrer und der Beifahrer des Wagens trugen einteilige Overalls. Sie stiegen aus, streckten sich, kratzten sich die Köpfe, betrachteten die Stromleitungen hoch über ihnen und die heruntergekommenen vierstöckigen Wohnhäuser entlang des Kanals. Einer der Männer kramte eine Zigarettenschachtel aus seinem Overall hervor, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an. Die nächsten Häuser lagen mindestens sechzig Meter entfernt, obwohl der Abstand aus Sicherheitsgründen deutlich größer hätte sein müssen. Durch jede der ÜberlandHochspannungsleitungen flossen 500.000 Volt. Der Fahrer des Lieferwagens hieß Enrique Poveda, sein Beifahrer Arquimidez Cabrera. Beide Männer waren Bürger der Vereinigten Staaten, Söhne von Exilkubanern und erbitterte Feinde des Castro-Regimes. Poveda hatte den Wagen so geparkt, dass die geöffneten Hecktüren fast das Tor des Maschendrahtzauns berührten. Er entnahm ihm einen Bolzenschneider und schnitt den Bügel des Vorhängeschlosses mit einem kräftigen Ruck durch. Cabrera warf die Überreste des Schlosses ins Heck des Transporters, dann öffnete er das Tor, hängte ein neues Schloss mit dem aufgeklappten Bügel an die Haspe und starrte zu dem Mast empor. -125-
Am besten würden sich die Hochspannungsleitungen wohl durchtrennen lassen, wenn man an dem Mast hinaufkletterte und verformbaren Sprengstoff an den Isolatoren anbrachte. Unglücklicherweise floss so viel Saft durch die Leitungen, dass die heiße Zone um sie herum fast vier Meter betrug, bei feuchter Witterung sogar noch mehr. Nein, die einzige praktikable Möglichkeit bestand darin, den ganzen Mast zu fällen, was nicht schwer sein würde; dazu reichte eine entsprechend geformte Sprengladung an jedem Trägerpfeiler aus. Cabrera begutachtete die Winkel, in denen die Leitungen auf der einen Seite zum Mast hin und auf der anderen wieder von ihm weg führten. Ja, sobald die Pfeiler durchtrennt waren, würden das Gewicht und die Spannung der Leitungen den Mast vom Kanal weg auf freies Gelände kippen lassen, wo die Kabel entweder durch die Bodenberührung einen Kurzschluss verursachen oder durch den Aufprall und die Eigenspannung zerreißen würden. Problematisch war dagegen die zeitliche Abstimmung der Explosionen. In unmittelbarer Nähe derart hoher Spannungen kam kein elektronischer Zeitzünder in Frage. Am besten eigneten sich Zeitzünder auf chemischer Basis, auch wenn sie leider nicht so präzise wie mechanische waren. Aber dieser Schritt lag noch in der Zukunft. Die Entscheidung, wann der Mast umstürzen sollte, war noch nicht gefallen. Heute würden Cabrera und Poveda lediglich die Sprengladungen legen und später zurückkehren, um Zündkapseln und Zeitzünder anzubringen. Poseda warf seine Zigarette weg und schnallte sich den Werkzeuggürtel um. Dies war der vierte Mast, den sie sich heute vornahmen. Danach stand nur noch einer auf dem Programm. »Bereit?«, fragte er Cabrera. »Packen wir's an.«
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Ocho Sedano wohnte mit seinem älteren Bruder Julio, dessen Frau und den beiden Kindern in einer winzigen Wohnung über einer Reparaturwerkstatt, nur ein paar hundert Meter von Doña Marias Haus entfernt. Julio reparierte amerikanische Autos in der Werkstatt. Die Autos waren Antiquitäten aus den 50ern, und da es keine Ersatzteile gab, stellte Julio sie selbst her oder schlachtete sie aus den Wracks von Fahrzeugen aus, die hinter der Werkstatt standen und so kaputt waren, dass kein Mechaniker auf der Welt sie noch hätte retten können. Wenn er nicht gerade Baseball spielte, half Ocho ihm dabei. Hector fand seinen Bruder Julio, der im Schein mehrerer nackter Glühbirnen in seiner Werkstatt arbeitete. »Wo ist Ocho?« »Verschwunden.« »Wohin?« Julio tauschte die Ventile eines uralten AchtzylinderReihenmotors unter der Haube eines Oldsmobile aus. Die Beleuchtung war jämmerlich, aber da er nach Gefühl arbeitete, spielte das keine große Rolle. Er richtete sich auf und blickte seinen älteren Bruder finster an. »Er ist gegangen, um sein Glück in Amerika zu versuchen.« »Du hast nicht versucht, ihn aufzuhalten?« Der Jüngere sah sich in der notdürftig beleuchteten Werkstatt um, ließ den Blick über den Boden aus festgestampftem Lehm und die schäbigen alten Autos wandern. Er wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab, der an seinem Gürtel hing. »Nein, habe ich nicht.« »Was, wenn er dort draußen im Golfstrom ertrinkt?« »Ich habe für ihn gebetet.« »Das ist alles? Für deinen kleinen Bruder? Ein Gebet?« »Was, glaubst du, hätte ich tun sollen, Hector? Dem Jungen sagen, dass er mitten in einem kommunistischen Paradies lebt -127-
und hier glücklich sein sollte, zufrieden mit seiner Arbeit und seinem Los? Bah! Er erwartet mehr vom Leben, mehr für sich und für seine Kinder.« »Wenn er stirbt…« »Sieh dich doch um, Hector. Sieh dir dieses elende, schmutzige Loch an. Schau dir an, wie wir leben! Die meisten Kubaner leben so, abgesehen von ein paar wenigen wie dem lieben Maximo, der das Brot isst, das andere verdienen. Du hast ihn gestern bei Mima gesehen - nichts ist zu gut für unseren treuen Revolutionär Maximo Sedano, Fidels rechte Hand und Arschabwischer.« Julio schnaubte verächtlich und beugte sich wieder unter die Motorhaube des Oldsmobile. »Ich habe Ocho gesagt, er solle mit Gott gehen. Ich habe für ihn gebetet.« »Was, wenn er dort draußen stirbt?« »Wir alle müssen sterben, du, ich, Fidel, Ocho, jeder Einzelne von uns. So ist nun einmal der Lauf der Dinge. Das hätten sie dir in der Kirche beibringen sollen. Wenigstens wird sich Ocho nichts mehr von der Scheiße anhören müssen, die Fidel verzapft, wenn er stirbt. Und auch nichts mehr von deiner Scheiße. Weiß Gott, Scheiße ist das Einzige, woran auf dieser Insel kein Mangel herrscht.« »Hast du Mima gesagt, dass er gegangen ist?« »Ich wollte den Mund halten, bis ich ihr etwas zu erzählen habe.« Julio verdrehte den Kopf, um Hector über den Rand der Motorhaube hinweg anzusehen. »Ocho ist erwachsen. Er hat sein Leben in die eigenen Hände genommen, was sein gutes Recht ist. Er wird überleben oder sterben. Vielleicht schafft er es nach Amerika, vielleicht auch nicht.« »Er hätte noch warten sollen. Ich habe ihn gebeten zu warten.« »Worauf?«, wollte Julio wissen. -128-
Hector machte kehrt und verließ die Werkstatt. »Worauf sollen wir warten, Hector? Auf die Wiederkunft des Herrn?« Julio trat in die Tür. »Wie lange muss ich noch darauf warten, meine Söhne anständig ernähren zu können?«, rief er Hector hinterher. »Verrate mir das! Ich habe mein ganzes Leben lang gewartet, ich bin es leid zu warten. Ich möchte es jetzt wissen: Wie lange noch?« Hector blieb stehen, drehte sich um und ging zu Julio zurück. »Genug!«, schrie er mit schneidender Stimme. »Genug! Du hockst hier in diesem Loch und wartest darauf, dass das Leben besser wird, dass irgendjemand kommt und es besser macht! Du hast keinen Mut… du bist kein Mann! Wenn unsere Zukunft von Menschen wie dir abhängt, wird Kuba für immer eine Sickergrube bleiben!« Damit wandte er sich ab und stakste steifbeinig davon, den Kopf gesenkt, die Schultern gebeugt, als müsste er gegen einen starken Wind ankämpfen. Der Offiziersclub des Marinestützpunkts von Guantánamo Bay lag auf einem kleinen Hügel, der den Hafen überragte. Vom Patio aus, einer mit niedrigen Mauern eingefassten Veranda, konnten Toad Tarkington und Rita Moravia den Flugzeugträger sehen, der vor der Einfahrt zur Bucht an seinem Ankerplatz in der Dünung dümpelte. In letzter Zeit wurde der O-Club gewöhnlich nur noch spärlich besucht. Der Stützpunkt war jetzt ein militärischer Hinterhof, nicht länger ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Streitkräfte. Während der letzten Jahre hatte seine Funktion hauptsächlich darin bestanden, die auf See aufgegriffenen kubanischen Flüchtlinge unterzubringen. Trotzdem entfalteten das grünblaue karibische Meer und die niedrigen gelben Hügel unter dem tiefblauen Himmel den Charme einer Ansichtskarte. Mit ihren Kakteen, Palmen und -129-
strahlend hellen Tagen erinnerte die Gegend Toad an Südkalifornien. Sollten die Kubaner jemals politisch wieder auf die Beine kommen, würde das Land einen ähnlichen Boom wie der Süden Kaliforniens erleben, vermutete Toad, wo Condos und High- Tech-Industrie wie Unkraut gediehen. Horden von Menschen, die mit Geldscheinen wedelten, würden aus Philly und New Jersey kommen, um sich hier zur Ruhe zu setzen. Diese Insel musste Florida ganz einfach um Länge n schlagen. Er teilte seine Gedanken Rita mit, der einzigen anderen Person, die sich außer ihm in dem Patio aufhielt. Es war früh am Nachmittag, sie hatten das erste Boot zur Küste genommen, gleich nachdem das Schiff vor Anker gegangen war. Jake Grafton ha tte ihnen Kurzurlaub gegeben, da heute ihr Hochzeitstag war. Im Offiziersquartier hatte man ein Zimmer für sie reserviert. Sie beabsichtigten, nur zu zweit ein frühes Abendessen im Club zu sich zu nehmen und sich dann zu einer Privatfeier zurückzuziehen. »Es könnte sein, die Kubaner sind gar nicht scharf darauf, dass Horden aus Philly, Hoboken und Ashtabula hierher ziehen«, gab Rita zu bedenken. »Ich selbst hätte auch nichts gegen ein kleines Haus in einem der Dörfer hier einzuwenden«, sagte Toad und deutete mit einer unbestimmten Handbewegung irgendwo nach Norden oder Westen. »Ein bisschen angeln und faulenzen, während ich alt, fett und dunkelbraun werde, das Leben an mir vorbeiziehen lasse. Vielleicht einen Golfplatz anlegen und meine alten Tage damit verbringen, Golfbälle zu verkaufen und die Greens zu sprengen. Das hier sieht mir wie eine Weltklasse-Golfgegend aus. Ahh… irgendwann einmal.« »Irgendwann, Buster«, erwiderte Rita grinsend. Toad redete gern über seinen Ruhestand, darüber, wie er sich die Zeit mit dem Lesen von Romanen und Zeitungen und mit Golfspielen -130-
vertreiben würde, und doch langweilte er sich an einem faulen Sonntagmorgen in den Staaten schon gegen zehn Uhr schrecklich. Golf spielte er vielleicht einmal im Jahr, wenn es nicht regnete. Jetzt trank er sein Bier und atmete die saubere, klare, perfekte Luft ein paarmal tief ein. »Fühl nur diese Sonne! Ist das Leben nicht herrlich, Frau?« Sie ließen sich ein gutes kubanisches Essen schmecken, frischen Fisch, Bohnen und Reis. Mittlerweile füllte sich der Club mit Offizieren der niedrigeren Dienstgrade aus den Fliegerstaffeln, die Landurlaub hatten. Der Lärm aus den Bars wurde wilder, als Toad und Rita ihr Essen beendeten und sich mit Kaffeetassen auf die Veranda zurückziehen wollten. »Vielleicht sollte ich lieber einmal nachsehen, was meine Mädels treiben«, sagte Rita und machte kehrt. Toad blieb in der Tür stehen und starrte in den dunklen Raum, der durch das helle Sonnenlicht draußen noch dunkler wirkte. »Commander Tarkington!« Zwei der jungen Piloten näherten sich ihm. »Leisten Sie uns ein paar Minuten lang Gesellschaft, ja? Wir trinken Nachbrenner. Nehmen Sie doch einen mit uns.« Toad sah Rita am Tisch der weiblichen Offiziere und ließ sich überreden. Auf dem runden kleinen Tisch stand ein Tablett mit bis zum Rand gefüllten Gläsern. Einer der jungen Spunde zündete den Schnaps mit einem Gasfeuerzeug an. »Okay, Commander, zeigen Sie uns, wie das geht!« Toad warf Rita einen Blick zu. Sie musterte ihn mit einer ausdruckslos gehobenen Augenbraue. Er setzte sich. Ein Pilot stellte ein Glas direkt vor ihm ab; die blaue Flamme brannte gleichmäßig. Es war schon Jahre her, seit er das zum letzten Mal gemacht hatte. Wann und wo hatte er sich so mörderisch betrunken, dass -131-
er ohnmächtig geworden war, während er auf das Taxi gewartet hatte? Aber heute ging es in der Navy politisch korrekt zu, heute betrank sich niemand mehr. Toad sammelte sich, atmete einmal tief ein und wieder aus, ergriff das Glas und schüttete sich den brennenden Brandy in die Kehle. Das Zeug schien auf dem gesamten Weg zum Magen weiterzubrennen. Ein bisschen davon lief ihm, immer noch bläulich flackernd, über die Lippen, und er fuhr einfach mit der Zunge darüber. Brannte es etwa weiter? Wahrscheinlich nicht, aber um ganz sicherzugehen, wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Publikum glotzte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Heiliger Himmel, Sir! Wir pusten die Flammen immer aus, bevor wir das Zeug trinken.« »Ihr gottverdammten Schwächlinge.« Toad wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, und kippte noch ein Glas hinunter. »Unser Hochzeitstag, und du bist betrunken!« Toad Tarkington hatte das Gefühl, als wäre er von einem Lastwagen angefahren worden. Er drehte sich in der Badezimmertür um, sah zu seiner Frau hinüber und kniff die Augen zusammen, um das Bild schärfer zu stellen. »Ich bin nicht betrunken! Ein bisschen beschwipst, das gebe ich zu, aber nicht betrunken.« Er drückte die Brust raus und bemühte sich, nüchtern zu wirken. »Diese Welpen, glauben die doch tatsächlich, sie könnten einen alten Hund wie mich unter den Tisch saufen.« Er schnaubte geringschätzig. »›Wir pusten die Flammen aus, bevor wir trinken.‹ Ha, ha und nochmals ha!« Rita war völlig außer sich. »Oh, du…« »Entschuldige mich.« Toad hob einen Finger. »Nur eine oder zwei Minuten, dann setzen wir das Gespräch fort, bis du alles gesagt hast, was es zu sagen gibt. Davon gibt es zweifellos jede -132-
Menge, und ich bin mir sicher, dass es eine Weile dauern wird. Nur eine kleine Minute.« Er schloss die Badezimmertür und übergab sich ins Waschbecken. Dann wischte er sich die Stirn mit einem nassen Waschlappen ab. Danach fühlte er sich besser. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Du siehst grauenhaft aus, du alter Trottel. Toad trank ein großes Glas Wasser, fuhr sich mit einem Handtuch übers Gesicht und öffnete die Tür wieder. »Okay, was wolltest du gerade sagen?« Rita war nicht mehr da, das Zimmer leer. Sogar ihre Tasche war verschwunden. Er legte sich aufs Bett. Oh, wie gut sich das anfühlte! Vielleicht sollte er einfach ein paar Minuten liegen bleiben, bis Rita sich beruhigt hatte und er wieder völlig nüchtern geworden war. Dann würde er sie suchen und sich entschuldigen. Um ihn herum drehte sich alles, erst als er sich auf die Seite wälzte, ließ die Kreiselbewegung ein wenig nach; dafür döste er auf der Stelle ein. Jake Grafton saß allein an einem Ecktisch im Speisesaal des O-Clubs, als Rita Moravia ihn entdeckte und zu ihm ging. Er stand auf, während sie sich setzte. »Sie sind allein? Wo ist Toad?« »Schläft seinen Rausch aus. Er war mit unseren jungen Hengsten in der Bar und hat sich vier Drinks reingeschüttet. Vier! Er ist völlig besoffen.« Jake Grafton schmunzelte. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er während der letzten Jahre mehr als gelegentlich ein Bier oder ein Glas Wein getrunken hat.« »Tut er auch nicht. Der arme Kerl verträgt es nicht mehr.« -133-
»Ein Reinfall von einer Hochzeitstagsfeier«, kommentierte Jake und musterte sie aufmerksam. »Ich habe Glück gehabt«, entgegnete Rita schlicht. »Toad Tarkington und ich waren und sind immer noch füreinander bestimmt. Ich weiß nicht, wie die Mächte, die das Universum beherrschen, festlegen, wer wen heiratet, aber ich hatte auf jeden Fall Glück.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Jake. Plötzlich lächelte er, und Rita wusste, dass er an seine Frau Callie dachte. Immer, wenn er an sie dachte, lächelte er. »Da Toad zur Zeit indisponiert und Callie nicht hier ist, sollten Sie vielleicht mit mir essen«, schlug er vor. »Ich habe bereits gegessen, und es könnte Gerede geben, Admiral«, sagte Rita mit gespieltem Ernst. »Wahrscheinlich wird es das. Das ist weder für Ihren noch für meinen Ruf gut.« »Ich werde mein Leben nicht so einrichten, dass es Hohlköpfen gefällt«, erwiderte Rita. »Deshalb leiste ich Ihnen bei einem Drink Gesellschaft.« »Erzählen Sie mir von der V-22«, bat Jake, nachdem sie dem Kellner ihre Bestellungen gegeben hatten. »Ich interessiere mich schon lange für das Flugzeug, hatte bisher aber noch keine Gelegenheit, mit Ihnen darüber zu sprechen.« Und Rita legte los, sprach über Flugzeuge und das Fliegen, Themen, für die sie sich beide begeisterten. Eine leichte Brise wehte durch die offenen Türen des Speisesaals, ließ die Vorhänge wehen und die Kerzenflammen auf dem Tisch im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends flackern. »Toad sagt, Sie hätten immer noch nichts über Ihre nächsten Befehle aus Washington gehört«, bemerkte Rita, als sie im Anschluss an das Essen Kaffee tranken. »Richtig.« -134-
»Es liegt mir fern, ein Thema anzuschneiden, über das Sie lieber nicht sprechen wo llen, aber er meint, dass man Sie vielleicht auffordern wird, in den Ruhestand zu treten.« »Das könnte sein. Ich habe in der Vergangenheit ein paarmal meinen Einfluss geltend gemacht und mir Feinde geschaffen, mit und ohne Uniform.« Er zuckte mit den Achseln. »An irgendeinem Punkt wird jeder Offizier im Admiralsrang bei der Beförderung übergangen und aufgefordert, sich pensionieren zu lassen. Meine Zeit wird früher oder später kommen. Vielleicht früher.« »Freuen Sie sich auf den Ruhestand?« »Darüber habe ich mir noch keine großen Gedanken gemacht«, bekannte Jake. »Um die Wahrheit zu sagen, die Aussicht, mehr Zeit mit Callie zu verbringen, hat ihren Reiz.« Er rieb sich die Stirn, dann grinste er wehmütig. »Es wird wehtun, wenn man keine weitere Aufgabe für mich findet und mir nächstes Jahr nicht noch einen Stern verleiht. Trotzdem heißt es auch für einen CNO irgendwann, dass es Zeit ist zu gehen. Wenn der Tag kommt, werden Callie und ich einen anderen Lebensabschnitt beginnen. Als ich damals nach Vietnam beschlossen habe, in der Navy zu bleiben, habe ich nie damit gerechnet, so weit nach oben zu kommen. Ich dachte, es wäre fantastisch, wenn ich es bis zum Commander oder Captain bringen würde. Und jetzt habe ich zwei Sterne auf den Schultern und kommandiere eine Flugzeugträger-Kampfeinheit.« Er schnaubte spöttisch. »Schätze, das beweist nur, was für ein undankbarer Bastard ich bin, was?« »Es beweist, dass Sie ein Mensch sind.« »Sie sind sehr freundlich, Rita.« »Sie haben Ihre Zeit in der Navy wirklich genossen, nicht wahr?« »Jede Mission war eine Herausforderung, ein Abenteuer. Bei jedem neuen Auftrag habe ich gedacht: Oh, das wird ein Spaß -135-
werden! Ich kann nicht behaupten, dass ich jeden einzelnen Tag genossen hätte, das wäre gelogen, aber es war eine gute Karriere. Wie die meisten Leute, die eine Uniform tragen, habe ich mein Bestes gegeben, wo auch immer ich gebraucht wurde. Ich habe mit großartigen Menschen zusammengearbeitet. Es gibt nichts, was ich bedauern müsste.« Einer seiner Adjutanten trat an den Tisch, lächelte Rita zu und beugte sich zu ihm hinab. »Das Schiff, das vor vier Tagen von hier mit biologischen Gefechtsköpfen an Bord aufgebrochen ist«, flüsterte er ihm ins Ohr, »hat Norfolk noch nicht erreicht. Es ist überfällig.« »Die Zivilisation beginnt, wenn die Starken endlich begreifen, dass sie die Pflicht haben, die Schwächeren zu beschützen. Diese Pflicht ist die Grundlage jeglicher Zivilisation, das Fundament, das alles andere trägt.« Hector Sedano blickte von der Kanzel aus in ein Meer schwitzender, glänzender Gesichter: Die Kirche war zum Bersten gefüllt. Er konnte die Hitze spüren, die die Körper ausstrahlten; es mussten an die 200 Leute da sein. »Jahrhundertelang haben wir, das Volk, diese Pflicht einigen wenigen starken Männern übertragen. Regiert uns, haben wir gesagt, und stehlt nicht zu viel von uns. Seid nicht korrupt, betrügt uns nicht zu sehr, erniedrigt uns nicht aufs Unerträgliche. Beschützt die Schwachen, die Alten, die Hilflosen, die Kranken und die Kinder, beschützt sie vor denjenigen, die ihnen Übles wollen. Und beschützt uns. Wenn ihr uns Schutz gewährt, könnt ihr uns ein wenig bestehlen, genug, um ekelhaft reich zu werden, solange ihr uns nicht mit der Nase darauf stoßt. Wir setzen in euch, die Starken, ein großes Vertrauen, weil wir nicht die Kraft haben, uns selbst dem Bösen in der Welt zu stellen. -136-
O ihr Starken, beschützt uns, weil uns der Mut fehlt, uns selbst zu beschützen.« Die Menge war von seinen Worten hingerissen und dürstete nach mehr. Hector Sedano hatte genau die gleiche Rede mehr als hundertmal gehalten. Nur die Gesichter des Publikums waren stets andere. Er beugte sich vor und streckte die Arme aus, als wollte er die Menschen berühren. Sie mussten begreifen, seine Leidenschaft spüren, oder Kuba würde sich nie verändern. Der Schweiß strömte ihm übers Gesicht und versickerte in seinem Hemd. »Ich sage euch hier und heute Abend, dass wir unsere Pflicht nicht länger ignorieren dürfen. Die Hände, die das Universum erschaffen haben, legen unser Schicksal in unsere eigenen menschlichen Hände. Wir müssen bereit sein, wenn der Tag kommt. Wir müssen vor Gott und vor einander bekennen, dass wir es sind, die die Zukunft dieser Nation schreiben, wir müssen sie gestalten, wir müssen sie leben, und wir müssen am Tag des Jüngsten Gerichts vor dem Himmlischen Thron dafür Rechenschaft ablegen.« Donnernder Applaus ließ die winzige Kirche erbeben. »Ich sage euch, dass die Zukunft unserer Familien in unseren Händen liegt«, fuhr Hector fort, nachdem der Applaus verstummt war, »dass es unsere Verantwortung und unsere Bestimmung ist, die Zukunft dieses Volkes zu gestalten. Wir werden jeden Tropfen trinken, den Gott für uns ausschüttet, sei er süß oder bitter, dünn oder vollmundig, sei es ein winziges Rinnsal oder ein mächtiger Strom. Wir werden uns nicht von diesem Kelch der Rechtschaffenheit abwenden.« Der Applaus schwoll immer stärker an, erfüllte den Raum bis in den letzten Winkel, ergoss sich durch die offenen Türen und Fenster, drang hinaus ins Freie, um sich dem Kampf mit der Stille und der Dunkelheit der Nacht zu stellen. -137-
»Wir haben es durchgezogen«, berichtete Admiral Delgado Alejo Vargas. »Die Nuestra Señora de Colón ist auf einem Felsenriff nahe des Eingangs zur Bahia de Nipe gestrandet. Santana ist bereit und wartet.« »Wieso hat das so lange gedauert?« »Als das Schiff Guantánamo verlassen hat, haben die Amerikaner einen Zerstörer als Geleitschutz mitgeschickt. Der Kapitän dachte fälschlicherweise, der Zerstörer würde sie bis nach Norfolk begleiten. Also simulierte er einen Maschinenschaden in der Windward Passage und kroch mit drei Knoten Fahrt dahin. Natürlich weigerte sich der Zerstörer, ihn allein zu lassen. Schließlich musste der Kapitän melden, er habe das Problem beseitigt. Erst als die Nuestra Señora de Colón mit zwölf Knoten weiterdampfte, kehrte der Zerstörer um.« Vargas lächelte. »Wenn das funktioniert, werde ich Ihnen sehr dankbar sein, Delgado.« »Es gibt reale Probleme, die wir besprochen haben. Ich gebe dieser Operation höchstens eine fünfzigprozentige Erfolgsaussicht.« »Fünfzig Prozent sind schon optimistisch«, erwiderte Vargas. »Ich schätze, die Chancen stehen deutlich schlechter. Trotzdem sind sie immer noch gut genug, um das Risiko einzugehen, und wenn wir es nicht versuchen, können wir nur uns selbst die Schuld geben, oder?« »Geschäfte mit den Nordkoreanern zu machen ist eine Einladung, sich betrügen zu lassen. Woher wollen Sie wissen, dass sie mitspielen?« »Wir brauchen ballistische Langstreckenraketen, die Nordkoreaner wollen gute, zuverlässige biologische Gefechtsköpfe. Es ist ein fairer Handel für beide Seiten.« »Ich traue ihnen trotzdem immer noch nicht«, gab Delgado -138-
zurück. »Das ist ein Geschäft, wie man es nur einmal im Leben macht.« Vargas wechselte das Thema. Schließlich war Delgado kein gleichberechtigter Partner, sond ern nur ein gemieteter Helfer. »Erzählen Sie mir von Ihrer abendlichen Kreuzfahrt mit Maximo Sedano.« »Er möchte politische Rückendeckung, wenn Castro stirbt.« »Was haben Sie ihm versprochen?« »Ich habe ihm gesagt, dass Sie Leute kaufen oder erpressen und er keine Chance hat.« »Und Alba?« »Er hat meiner Einschätzung zugestimmt.« Vargas lächelte. »Hoffen wir, dass Maximo seinen Ehrgeiz zügelt. Zu seinem eigenen Besten. Sie haben ihm die Wahrheit gesagt. Wenn er beschließt, die Warnung zu ignorieren, wird er die Konsequenzen tragen müssen.« Delgado schwieg. Er vermutete, dass Vargas bereits mit Alba gesprochen hatte. Der Admiral hoffte, dass der General nicht versucht hatte, die Geschichte in irgendeiner Form auszuschmücken. Vargas die Wahrheit zu sagen war die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Toad Tarkington saß am Fenster der Offiziersunterkunft und dachte über biologische Waffen und Marines nach, die sich um eine Lagerhalle herum verschanzt hatten, als Rita die Tür aufschloss und eintrat. Sie trug noch immer ihre Uniform. Tarkingtons Kopf pochte wie ein fauler Zahn; er fühlte sich furchtbar. »Was für ein Hochzeitstag«, sagte er. »Ich komme mir wie ein Esel vor.« Rita ging zu ihm, kniete sich vor seinem Stuhl hin und umarmte ihren Mann. -139-
»So sollte der Abend nicht verlaufen. Es tut mir Leid, Rita.« »Bisher ist unser gemeinsames Leben großartig verlaufen, Toad-Man. Du bist immer noch der Bursche, den ich will.« Er erwiderte ihre Umarmung. »Lass uns ins Bett gehen«, sagte sie.
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7 Erst nachdem die Maschine vom Flughafen von Havanna abgehoben und ihre Reisehöhe erreicht hatte, verspürte Maximo Sedano die emotionelle Reaktion auf sein Vabanquespiel. Er zog die mit Castros Daumenabdruck versehenen Überweisungsformulare aus der linken Brusttasche, hielt sie so, dass kein anderer Passagier der ersten Klasse sie lesen konnte, und betrachtete sie sorgfältig. Was er da in den Händen hielt, waren dreiundfünfzig Millionen Dollar. Eine heiße Welle der Erregung durchströmte ihn. Er hatte es getan! Es war ein großes Risiko gewesen. Er hatte Castros Schlafzimmer mit den echten Transferpapieren in der linken Jackentasche betreten, die Überweisungsträger, die auf seine eigenen Konten ausgestellt waren, in der rechten Tasche. Zum Glück war Mercedes diesmal nicht da gewesen. Seine frühere Schwägerin war zu aufmerksam, ihr entging kaum etwas. Sie hätte allein an seinem Gesichtsausdruck erkennen können, dass irgendetwas nicht stimmte. Außer Fidel war nur ein Pfleger anwesend, ein Niemand, der sich um die Bettpfannen und Urinflaschen kümmerte. Es befand sich kein Notizbuch oder Aktenordner in Sichtweite des Bettes, und Fidel war mit Sicherheit nicht in der Verfassung, sich an Kontonummern von Schweizer Banken zu erinnern. Er unterschrieb die Papiere und ließ sich von Maximo helfen, seinen Daumen zuerst auf ein Stempelkissen und dann auf die Formulare zu drücken. Fidel sagte nicht viel. Er hatte offensichtlich ein starkes Schmerzmittel injiziert bekommen, achtete kaum auf das, was um ihn herum vorging, und stieß nur ein unverständlichen -141-
Grunzen aus, als Maximo sich verabschiedete. Der Maximo Sedano, der Castros Schlafzimmer betreten hatte, war der vermutlich schon bald arbeitslose Finanzminister Kubas mit äußerst zweifelhaften Zukunftsaussichten gewesen. Doch der Maximo Sedano, der das Zimmer wieder verließ, war der reichste Kubaner südlich von Miami. Einfach so! Das Sahnehäubchen auf dem Kuchen war, dass auf den Schweizer Konten vielleicht noch eine Million mehr von diesen schönen Yankee-Dollars lagen - aufgelaufene Zinsen. Jeden einzelnen Cent davon würde Maximo auf seine eigenen Konten bei einer anderen Bank in Zürich überweisen. Aber auch dort würde das Geld nicht lange bleiben. Morgen früh, gleich nachdem er die Überweisungsaufträge in Fidels Bank eingereicht hatte, brauchte er nur die Straßenseite zu wechseln, um das Geld von dort aus zu weiteren Konten zu transferieren, die er in Spanien, Mexiko, Deutschland und Argentinien eröffnet hatte. Das waren die Geschäftskonten verschiedener Scheinfirmen, die Maximo vor Jahren gegründet hatte, um Geld für Fidel und die Drogensyndikate zu waschen, Konten, über die nur er die alleinige Verfügungsgewalt besaß. Die Scheinfirmen würden umgehend eine Anzahl sehr großer Schecks an andere Firmen schicken, die ebenfalls Maximo gehörten. Nach einer langen und verschlungenen Reise rund um den Erdball und wieder zurück würde das Geld schließlich auf seinen über ganz Europa verteilten Privatkonten landen. Die Durchführung des Plans beruhte auf dem Bankgeheimnis mehrerer Nationen, nicht zuletzt dem der Schweiz. Hinzu kam, dass jeder, der versuchte, den Weg des Geldes zurückzuverfolgen, nur unzusammenhängende Teile des Puzzles, nicht aber das Gesamtbild sehen würde. Maximo lächelte in sich hinein und seufzte zufrieden. »Wünschen Sie etwas zu trinken, Sir?«, erkundigte sich eine -142-
Stewardess. Es war eine schöne, schlanke Frau mit dunklen Augen und makelloser, heller Haut. »Ein Glas Weißwein, bitte. Etwas aus Katalonien.« »Ich werde nachschauen, was wir an Bord haben, Sir.« Sie lächelte sanft und verschwand. Maximo nahm sich vor, sich demnächst eine solche Frau zu suchen, eine Frau, die den feineren Dingen des Lebens zugetan war und einen Mann wie ihn zu schätzen wusste, weil er ihr diese Dinge besorgen konnte. Seine Frau rechnete damit, dass er in drei Tagen nach Kuba zurückkehrte. »Ich muss morgen früh nach Europa fliegen«, hatte er ihr gesagt. »Es hat sich eine dringliche Angelegenheit ergeben.« Natürlich hatte sie ihn auf der Reise begleiten wollen - sie nahm jede Chance wahr, die Insel zu verlassen, wenn auch nur für kurze Zeit. »Liebling, ich wollte, ich könnte dich mitnehmen, aber diese Sache hat sich zu kurzfristig ergeben, um Reservierungen vorzunehmen. Ich habe den einzigen noch freien Platz in der Maschine erwischt.« Sie war alles andere als erfreut gewesen, aber was hätte sie sagen können? Er hatte sie mit dem Versprechen besänftigt, ihr ein teures Geschenk bei einem Juwelier zu kaufen. Die Stewardess brachte ihm den Wein. Maximo trank langsam, dann ließ er sich in seinen Sitz zurücksinken und schloss die Augen. Ah, ja. In seiner Brieftasche steckte eine neue Identität: ein argentinischer Reisepass, Führerschein, Personalausweis, dazu eine Geburtsurkunde, mehrere gültige Kreditkarten, ein Bankkonto und eine echte Adresse in Buenos Aires, alles auf den Namen Eduardo José López ausgestellt. Ein ziemlich geläufiger Nachname. Diese Identität hatte er Jahre zuvor -143-
geschaffen und regelmäßig benutzt, um Geld rund um die Welt bewegen zu können, wenn Drogenschmuggler Fidel Castro bezahlen wollten. Sich in den guten Señor Lopéz zu verwandeln würde genauso einfach sein, wie den Pass an einer Hotelrezeption vorzuzeigen. Zusätzlich hatte er die Dokumente für zwei weitere Identitäten in einem Schließfach in Lausanne am Ufer des Genfer Sees deponiert. Maximo tastete noch einmal über die Transferformulare, dann stellte er die Rückenlehne seines Sessels in Ruheposition. Wie fühlt es sich an, reich zu sein? Verdammt gut, danke der Nachfrage. Gott, es war verführerisch. Einfach als Señor Lopéz mit dem Geld davonspazieren und sich - puff! - in Luft auflösen. Aber andererseits war da noch das Gold. Seine Pläne waren gemacht, seine Verbündeten standen bereit… jetzt musste er das Gold nur noch aufspüren und außer Landes schaffen. Er machte es sich in seinem Liegesessel bequem, schlo ss die Augen und kostete das Gefühl aus, ein reicher Mann zu sein. Doña Sedano saß auf ihrer Veranda, atmete tief den süßen Duft der tropischen Blumen ein, die in verschwenderischer Fülle vor ihrem Haus wuchsen, und sah zu, wie eine sanfte Brise die Blütenblätter zittern ließ, als sie Hector auf der Straße erblickte. Er trat durch das Tor und stieg die Stufen zur Veranda herauf. Nachdem er seine Mutter geküsst hatte, setzte er sich auf die oberste Stufe und lehnte sich so zurück, dass er Mimas Gesicht sehen konnte. »Warum bist du nicht in der Schule und unterrichtest?«, fragte sie. Er machte eine vage Geste und ließ den Blick nach Norden wandern, aufs Meer hinaus. -144-
Es gab dort nichts zu sehen, außer ein paar im Wind schwankenden Baumwipfeln und den darüber hinwegziehenden flauschigen Wolken. Hector drehte sich wieder zu ihr um und griff nach ihrer Hand. »Ocho ist vor zwei Nächten mit einem Boot weggefahren. Er und ein paar andere wollen versuchen, die Florida Keys zu erreichen.« »Haben sie es geschafft?« »Ich weiß es nicht. Wenn sie es schaffen, werden wir tagelang nichts von ihnen hören - oder sogar wochenlang. Und wenn sie Florida nicht erreichen, werden wir es vielleicht nie erfahren.« Doña Maria beugte sich vor und strich ihrem Sohn über das Haar; dann legte sie die entstellten Hände wieder in den Schoß. »Danke, dass du es mir gesagt hast.« »Ocho hätte es dir selbst sagen sollen.« »Abschiede können schwierig sein.« »Das ist wohl so, denke ich.« »Du bist der klügste meiner Söhne, der mit dem größten Potenzial. Warum bist du nicht nach Amerika gegangen, Hector? Du hattest oft die Gelegenheit dazu. Warum bist du in diesem hoffnungslosen Land geblieben?« »Kuba ist meine Heimat.« Er gestikulierte hilflos. »Das ist die Aufgabe, die Gott mir gegeben hat.« Doña Maria massierte behutsam ihre Hände. Sie zu reiben schien die Schmerzen manchmal ein wenig zu lindern. »Ich kann dir genauso gut auch gleich den Rest erzählen«, sagte Hector. »Ocho hat ein Mädchen geschwängert. Er ist mit ihr und ihrem Vater auf das Boot gegangen. Der Vater möchte, dass Ocho in Amerika Baseball spielt.« »Schwanger?« »Ocho hat es mir gesagt und mir das Versprechen abgenommen, es für mich zu behalten. Er hat es mir nicht als -145-
Priester, sondern als Bruder anvertraut, also nehme ich mir das Privileg des älteren Bruders heraus und breche mein Versprechen.« Seine Mutter seufzte und schloss einen Moment lang die Augen. »Wenn Gott mit ihnen ist, schaffen sie es über die Meerenge«, fügte Hector hinzu. »Diese Hoffnung bleibt uns.« Tränen liefen Doña Marias Wangen herab. In diesem Augenblick erkannte sie klarer als jemals zuvor die Grenzen, die das Schicksal für alles Leben gezogen hatte. Sie und Hector waren zwei allzu sterbliche Menschen, Gefangene der Umstände und des Schicksals, gefangen zwischen zwei Ewigkeiten; die Vergangenheit war unerreichbar für sie. Diejenigen, die sie einst geliebt hatten und die jetzt tot waren, hatten sich wie Rauch verflüchtigt, und alles, was ihnen blieb, waren Erinnerungen. Die Zukunft war… nun, die Zukunft war unvorhersagbar, verborgen im Nebel der Zeit. Alles, was es gab, war die Gegenwart, dieser Augenblick, diese beiden Menschen mit ihren Erinnerungen an all das, was gewesen war. Hector streichelte seiner Mutter über das Haar, küsste ihr die Tränen von den Wangen, dann stand er auf und ging stumm den kurzen Weg zur Straße. Als er sich zu Doña Maria umdrehte, saß sie immer noch so da, wie er sie zurückgelassen hatte, und blickte nach Norden, auf das Meer hinaus. Ihm wurde klar, dass Ocho wahrscheinlich längst tot war, ein weiteres Opfer der kubanischen Zustände. Wann, o Herr, wann wird das endlich aufhören? Wie viele Menschen müssen noch im Meer ertrinken? Wie viele Leben müssen noch verdorren und zugrunde gehen, weil es in diesem Land keine Zukunftschancen gibt? Wie viele Menschenleben müssen noch auf dem Altar politischer Ambitionen geopfert werden? Während er die Straße entlang zur Haltestelle des Dorfbusses -146-
ging, hob er die Hände über den Kopf und brüllte seine Wut hinaus, ein zorniger Schrei, der in der endlosen Kathedrale des Himmels verhallte. Die Schmerzen waren da, unverkennbar, aber sie schnitten ihm nicht wie Messer ins Fleisch, zwangen ihn nicht, sich zusammenzukrümmen. Fidel Castro ließ sich von Mercedes und der Krankenschwester aufhelfen und zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch führen. Sie streiften ihm sein grünes Drillichhemd über. Als es geschafft war, schwitzte er und biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. »Weißt du, was du sagen willst?«, fragte Mercedes. »Ich glaube schon.« Das Kamera-Team hantierte mit der Beleuchtung herum und verlegte Stromkabel. »Ich möchte dir etwas sagen, jetzt, sofort«, flüsterte Mercedes Castro ins Ohr. »Solange du geistig wach und nicht zu stark sediert bist.« Er blickte sie an. »Ich liebe dich, Fidel. Von ganzem Herzen.« »Und ich liebe dich, Frau. Hätten wir nur mehr Zeit für uns.« »Ah, Zeit… was für eine Hure sie doch ist. Wir hatten einander, und das war genug.« Er biss sich auf die Lippen, griff nach ihrer Hand. »Hätten wir uns doch schon vor Jahren kennen gelernt, bevor…« Er zuckte zusammen. »Lasst das Band jetzt laufen«, sagte er. »Mir bleibt nicht viel Zeit.« Fidel Castro richtete sich auf und umklammerte die Armlehnen des Stuhls so fest, dass sich seine Fingerknöchel weiß unter der Haut abzeichneten. -147-
Als die Beleuchtung eingestellt war, richtete er den Blick direkt in die Kamera und begann: »Bürger von Kuba, ich spreche heute zum letzten Mal zu euch. Ich bin todkrank, und meine Tage auf dieser Welt werden schon bald vorbei sein. Doch bevor ich euch verlasse, möchte ich mir ein paar Minuten Zeit nehmen, um euch von meinem Traum für Kuba zu erzählen, davon, was aus dieser Nation in den kommenden Jahren werden kann…« Die Tür öffnete sich, und Alejo Vargas trat ein, gefolgt von Colonel Raúl Santana. »So, so, Señor Presidente. Wie ich hörte, wollen Sie heute Nachmittag eine Rede vor einer Videokamera halten. Lassen Sie sich von uns nicht stören, fahren Sie ruhig fort. Wir werden als stumme Zuschauer außerhalb des Kamerabereichs bleiben, zwei loyale Kubaner, die Millionen anderer repräsentieren.« »Ich habe Sie nicht zu mir bestellt, Vargas.« »Stimmt, das haben Sie nicht, Señor Presidente. Aber in letzter Zeit scheinen Ihnen die Dinge zu entgleiten - wichtige Dinge. Die Welt hört nicht auf, sich um ihre Achse zu drehen, während Sie im Bett liegen und sich mit Drogen voll pumpen.« »Raus hier! Das ist mein Büro!« Alejo Vargas machte es sich in einem Stuhl bequem und wandte sich dem Kamera-Team zu. »Schalten Sie das Ding ab. Auch die Beleuchtung. Sie können jetzt eine kurze Pause machen. Wir werden Sie rufen lassen, wenn Sie wiederkommen sollen.« Nach dem Erlöschen der Aufnahmescheinwerfer wirkte das Zimmer sehr dunkel. Colonel Santana eskortierte die Techniker hinaus, schloss die Tür hinter ihnen und baute sich davor auf, die Arme vor der Brust verschränkt. »Wenn Sie vorhaben, den Knopf in der Nähe Ihres Knies zu -148-
drücken, um den Sicherheitsdienst zu rufen, verschwenden Sie nur Ihre Zeit«, erklärte Vargas. »Ihre Leute sind durch Männer aus meinem Stab ersetzt worden.« »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann verschwinden Sie«, verlangte Castro. Vargas nahm sich eine Zigarette, zündete sie an und ließ sich Zeit. »Ich mache mir Gedanken über Maxime Sedano. Er war letzte Nacht hier bei Ihnen. Sie haben irgendetwas für ihn unterschrieben. Heute Morgen ist er über Madrid nach Zürich geflogen. Was hat es damit auf sich?« Fidel schwieg. Mercedes bemerkte, dass er wieder stark schwitzte. »Ich habe es nicht eilig«, sagte Vargas. »Ich habe alle Zeit der Welt.« »Er ist nach Zürich geflogen, um Gelder zu transferieren.« Fidel knirschte mit den Zähnen. »In einer Angelegenheit, die das Finanzministerium betrifft.« »Die Frage ist, wo wird das Geld landen, wenn es seine elektronische Reise beendet hat? Bitte erzählen Sie mir das.« »Auf den Regierungskonten der Bank von Kuba in Havanna.« »Ich frage Sie das, weil der Pfleger, der gestern Abend hier war, nicht gesehen hat, dass Sie die Kontonummern mit irgendwelchen Unterlagen verglichen haben. Kennen Sie die Nummern auswendig?« »Nein.« »Also wissen Sie nicht wirklich, wohin Maximo Sedano das Geld kabeln wird?« »Er ist ein vertrauenswürdiger Mann. Loyal. Ich kann nicht überall sein und alles sehen, ich muss den Menschen vertrauen. Das habe ich mein Leben lang getan.« »Über wie viel Geld reden wir hier, Señor Presidente?« »Ich weiß es nicht.« -149-
»Millionen?« »Ja.« »Zig Millionen?« »Ja.« »Dios mio, unser Maximo muss wirklich ein Heiliger sein! Bei einer solchen Summe würde ich nicht einmal meiner eigenen Mutter vertrauen.« »Ich würde Ihrer Mutter nicht einmal so weit vertrauen, sie mit einem betrunkenen Seemann allein zu lassen«, sagte Mercedes. »Jedenfalls nicht, wenn er zwei Centavos in der Tasche hat.« Sie gab Castro ein paar Tabletten. Er starrte die Pillen an. »Wasser, bitte«, flüsterte er und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. »Sollten wir Maximo Sedano jemals wieder zu Gesicht bekommen, werden Sie sich bei mir dafür bedanken müssen, Señor Presidente«, fuhr Vargas fort. »Ich habe dafür gesorgt, dass einer meiner Männer unserem Finanzminister in Zürich einen Besuch abstattet. Wir werden versuchen, Maximo davon zu überzeugen, seine Pflicht Kuba gegenüber zu erfüllen.« Mercedes reichte Fidel ein Glas Wasser. Er nahm einige der Pillen, schob sie sich in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Kurz darauf schluckte er auch die letzte. Vargas ist ein moralischer Nihilist, dachte Castro, ein Mann, der an gar nichts glaubt. Er wusste seit Jahren über Vargas' Charakter Bescheid und hatte ihn trotzdem benutzt, weil der General gut in seinem Job war - einem widerlichen Job. Wir haben diese Aufgaben einem Schwein anvertraut, um uns nicht selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Ein weiterer Fehler. »Ich muss mich ausruhen«, krächzte er und versuchte aufzustehen. -150-
»Nein«, sagte Vargas scharf. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte und näherte sein Gesicht dem Fidels. »Sie haben noch eine Erklärung vor der Kamera abzugeben.« »Nicht für Sie.« »Sie glauben, Sie hätten nichts mehr zu verlieren, richtig? Sie denken: Alejo könnte mich umbringen, aber was soll's? Damit beschleunigt er nur das Unvermeidliche.« Fidel blickte Vargas fest in die Augen. »Ich hätte Sie schon vor vielen Jahren töten lassen sollen«, sagte er. Er nahm die Hände von den Armlehnen und presste sie auf seine Magengrube. »Nichts bedauert man so bitter wie den Mord, den man nicht begangen hat. Wie wahr diese Worte doch sind! Aber Sie haben mich nicht getötet, weil Sie mich brauchten, Fidel. Sie brauchten mich, um Ihre Feinde aufzuspüren, um herauszufinden, wer hinter Ihrem Rücken schlecht über Sie sprach, und um Ihnen die Namen zu liefern. Um Ihnen zu helfen, diese Leute zum Schweigen zu bringen, um die faulen Stellen vom Stamm des Baumes zu entfernen, ohne ihn vollständig fällen zu müssen. Mich töten? Wie hätten Sie sich ohne mich die Loyalität Ihrer elenden Untertanen sichern sollen? Wer hätte die armseligen guajiros, die auf diesem sandigen Fels mitten im Meer verhungern, davon abhalten sollen, Ihnen das Fleisch in Streifen aus dem Leib zu schneiden? Wer hätte die Kraft aufbringen sollen, Sie im Amt zu halten, nachdem die Russen Sie im Stich gelassen hatten und nichts mehr richtig funktionierte? Nachdem alles, was Sie angefasst haben, nach hinten losgegangen ist? Mich töten? Ha! Genauso gut hätten Sie Selbstmord begehen können. Jetzt komme ich, um den Lohn für meine Mühen einzufordern. Nicht Centavos wie bisher. Ich möchte das, was mir dafür zusteht, dass ich Ihnen all die Jahre die Macht -151-
gesichert und die Bauern davon abgehalten habe, Ihnen die Kehle durchzuschneiden, denn genau das ist es, was Sie verdient hätten. Sie sind ein erbärmlicher Versager, Fidel, sowohl als Mann wie als Diener Kubas. Und Sie werden als ein von allen verehrter alter Mann sterben - Gott, was für ein Witz! In den nächsten zehn Jahrhunderten gepriesen als die kubanische Version von Washington…« Vargas schnaubte. »Jetzt habe ich die Macht über Leben und Tod, Fidel. Ich denke, Sie werden Ihre Erklärung vor der Kamera abgeben. Sie werden mich, Alejo Vargas, Ihren loyalen und vertrauenswürdigen Innenminister, zu Ihrem Nachfolger ernennen, und Sie werden alle loyalen Kubaner, wo auch immer sie leben, auffordern, die Weisheit Ihrer Entscheidung anzuerkennen.« Schweiß lief Fidel in Strömen über das Gesicht und tropfte in seinen Bart. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. »Vierzig Jahre lang habe ich meinem Land gedient, und Sie erwarten von mir, Ihnen Kuba zu übergeben? Damit Sie es zu Ihrem persönlichen Vorteil ausplündern können? Nicht in Ihrem Leben.« »Seien Sie kein Idiot. Sie haben keine Verhandlungsgrundlage.« »Töten Sie mich, und warten Sie ab, was Sie dadurch gewinnen«, krächzte Fidel mit kaum noch verständlicher Stimme. »Sie werden schon bald genug sterben, nur keine Angst. Aber bevor es so weit ist, wird Colonel Santana Mercedes auf diesem Tisch abschlachten, und Sie werden dabei zuschauen.« »Haben Sie denn überhaupt keine Ehre?« »Erzählen Sie mir nichts von Ehre. Sie haben so oft gelogen, dass Sie sich gar nicht mehr daran erinnern können, jemals die Wahrheit gesagt zu haben. Sie haben die Kirche entweiht, Gott verleugnet, loyale kubanische Soldaten zum Sterben nach -152-
Angola geschickt und verlangt, dass eine Generation nach der anderen ihr Blut gibt, damit Sie Ihrer Bestimmung als der Retter Kubas gerecht werden können. Sie haben ein Land arm und seine Bürger zu Bettlern gemacht, nur um Ihr eigenes Ego zu füttern. Ich spucke auf Sie und alles, was Sie aus uns machen wollten.« Und er setzte seine Worte in Taten um. Fidel Castro hob eine Hand und wischte sich den Speichel aus dem Gesicht. »Lecken Sie mich!«, brachte er leise hervor. »Sie mich auch, Líder Maximo!«, gab Vargas zurück. »Ich tue nicht so, als wäre ich der zweite Sohn Gottes, ich stolziere nicht in grünem Drillichzeug herum, und ich verbreite keine Plattitüden, während mich die Leute anbeten. Aber genug davon. Bevor wir zu der Videoaufzeichnung kommen, möchte ich von Ihnen erfahren, wo das Gold ist.« »Das Gold?« »Das Gold, Fidel. Das Gold aus den Pesomünzen, die das Finanzministerium zu Barren eingeschmolzen hat, die Goldbarren, die Sie, Che, Edis Lopéz und José Otero beiseite geschafft haben. Wie viel Gold war es? Vierzig oder fünfzig Tonnen? Sie haben es jedenfalls nicht für das kubanische Volk ausgegeben. Wo ist es?« Castros Lippen verzerrten sich zu einer Grimasse. »Sie werden es nie finden, das ist sicher. Edis und José sind einige Wochen nach Che gestorben. Ich bin der einzige Überlebende, der weiß, wo das Gold ist, und ich werde das Geheimnis mit ins Grab nehmen.« »Das Gold gehört nicht Ihnen.« »Und dir auch nicht, du Sohn eines Schweines«, rief Mercedes aufgebracht. »Wir werden Sie zuschauen lassen, wie wir Mercedes aufschlitzen. Wir werden einen kleinen Einschnitt an ihrem -153-
Bauch machen und eine Schlinge ihres Dünndarms herausziehen. Dann werde ich Ihnen Fragen stellen, und jedes Mal, wenn Sie sich weigern zu antworten, wird Colonel Santana etwas mehr Darm herausziehen. Sie werden uns alles erzählen, was wir wissen wollen, oder wir werden uns Ihre Freundin von innen ansehen. Colonel?« Santana packte Mercedes an den Armen, krallte eine Hand in die Vorderseite ihres Kleides und riss es entzwei. Fidel Castros Kiefer mahlten. Dann erschlaffte er und sackte in seinem Stuhl zusammen. »Fidel!«, schrie Mercedes. Vargas sprang vor, zwängte Castros Kiefer auseinander, schob ihm die Finger in den Mund und beförderte ein Stück Zelluloid zu Tage. »Gift«, sagte er angewidert. Er umfasste Castros Handgelenk und tastete nach dem Puls. »Tot.« Alejo Vargas ließ Castros Unterarm los und drehte sich zu Mercedes um. »Du hast ihm das Gift gegeben! Er hatte die Kapsel die ganze Zeit im Mund.« Er schlug ihr so kräftig ins Gesicht, wie er konnte. »Und das ist dafür, dass du meine Mutter beleidigt hast, puta!« Wieder schlug er so hart zu, dass sie in die Knie ging. Die getroffene Hälfte ihres Gesichts wurde taub. »Wenn du das noch einmal tust, werde ich dir die Zunge herausschneiden«, fügte er hinzu, und seine Stimme wurde fast zu einem Fauchen. Dann atmete er tief ein und gewann die Beherrschung zurück. Der Anblick von Fidel Castros Leichnam ließ seinen Zorn verrauchen und setzte einen Adrenalinschub in ihm frei. Alejo Vargas war bereit, seiner Bestimmung zu folgen. Er hatte sein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet, und jetzt war es so weit! -154-
»Hören Sie sich das an«, sagte der Techniker und hielt William Henry Chance den Kopfhörer hin. Sie hockten in einem winzigen Lieferwagen, auf dessen Seiten der Schriftzug des Kommunikationsministeriums prangte. Der Wagen parkte in einer Seitenstraße, nahe dem Hotel, in dem Chance wohnte und von wo aus man zusätzlich einen ausgezeichneten Blick auf das Innenministerium hatte. Chance setzte die Kopfhörer auf. »Wir haben das heute am frühen Morgen aufgenommen«, erklärte der Techniker Chances Partner Tommy Carmellini. »Die einzige Schwierigkeit bestand darin, sich mit Ihnen zu treffen, ohne die Aufmerksamkeit der Kubaner zu erregen. Warten Sie, bis Sie das gehört haben.« »Worum geht es?«, fragte Carmellini. »Vargas und sein Schlächter Santana im Büro des Ministers. Sie unterhalten sich über eine Ansprache, die Castro vor einer Kamera machen soll. Vargas hat es ein politisches Testament genannt. Sie schreiben die Rede und diskutieren über einzelne Formulierungen.« »Was soll die Rede aussagen?« »Sie wollen, dass Castro Vargas zu seinem Nachfolger ernennt, zu seinem Erben.« »Wird er das tun?« »Anscheinend glauben sie es.« »Haben wir irgendetwas aus Washington über die Erwähnung dieses Schiffes gehört, der Colón… Nuestra Señora de Colón?« »Nein. Derartige Dinge brauchen Tage, bis sie durch sämtliche bürokratischen Filter gelaufen sind.« »Ich habe gehofft, die Erwähnung von Nordkoreanern und biologischen Gefechtsköpfen würde irgendjemandem Feuer unterm Hintern machen.« -155-
»Es dauert immer eine Weile, bis wir den Rauch riechen, wenn es irgendwo brennt.« Tommy Carmellini beobachtete Chances Gesicht, während der andere das Band abhörte. William Henry Chance, Anwalt und CIA-Agent, sah auf keinen Fall wie ein Mann aus, der in der zwielichtigen Welt von Geheimagenten und Spionage zu Hause war. Andererseits waren Äußerlichkeiten oft irreführend. Carmellini selbst war Einbrecher gewesen - mehr oder weniger halb im Ruhestand -, Student an der Juristischen Fakultät der Stanford University, als er eines Tages Besuch von einer Anwerberin der CIA erhalten hatte. Die Frau hatte ihn zum Mittagessen in die Cafeteria des Studentenverbandes eingeladen und zu seinen Zukunftsplänen befragt. Er erinnerte sich immer noch gut an das Gespräch. Ein Job in der Wirtschaft, hatte er gesagt. Vielleicht in der Politik. Er könne sich vorstellen, sich eines Tages um ein öffentliches Amt zu bewerben. »Eine Anklage wegen des Diebstahls des Peabody-Diamanten aus dem Museum of Natural History in Washington würde Ihren Plänen wahrscheinlich eher hinderlich sein, nicht wahr?«, fragte sie liebenswürdig. Er glotzte sie an, saß wie ein Vollidiot, dessen Gehirn streikte, mit offenem Mund vor ihr. Sie hatte ihm gleich nach der Begrüßung ihren Dienstausweis gezeigt, der ziemlich offiziell aussah. Central Intelligence Agency. Regierungsamtlicher ging es gar nicht mehr. Aber Tommy Carmellini hatte nie einen Hinweis darauf gehabt, dass ihm irgendjemand auf den Fersen war. Nicht einmal die Andeutung eines Hinweises. »Das wäre wohl so«, brachte er mühsam hervor. Nach einer Weile begann er sich zu fragen, woher sie über die Sache Bescheid wusste, und er überlegte sich, wie er sich danach auf eine Art und Weise erkundigen konnte, mit der er sich nicht selbst belastete. -156-
»Jetzt fragen Sie sich, wie wir von Ihrer Verwicklung in diese Geschichte erfahren haben«, stellte sie nüchtern zwischen zwei Schlucken Kaffee fest. Gegen seinen Willen nickte er. »Ihr Kumpel hat geredet. Er wurde bei einem anderen Einbruch von der Polizei in Miami erwischt und hat Sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen, um durch seine Aussage Strafmilderung zu bekommen.« Das war es also. Sein allerbester Freund und der einzige Bursche, der alles über ihn wusste, hatte ihn verkauft. »Sie brauchen bessere Freunde«, sagte die Frau. »Ihr vermeintlicher Freund war ein ziemlicher Schmalspurgauner, ein echter Verlierer. Er ha t acht Jahre vom Staatsanwalt gekriegt. Der Transport von gestohlenem Eigentum über Staatsgrenzen hinweg ist natürlich ein anderes Verbrechen, das nach Bundesrecht geahndet wird, und die Justiz hat noch nicht entschieden, ob sie auch in diesem Punkt Anklage erheben wird.« In diesem Moment wurde ihm schnell klar, dass seine besten Aussichten, Karriere zu machen, in der CIA lagen. Nach Beendigung des Jurastudiums verbrachte Carmellini ein Jahr in der Abteilung für verdeckte Operationen der Agentur. Jetzt war er einer der Partner von William Henry Chance, der der CIA seit seinem Ausscheiden aus der Armee nach dem Ende des Vietnamkrieges angehörte. Ihre Tarnung war einwandfrei. Beide Männer praktizierten tatsächlich als Anwälte und arbeiteten nebenbei als CIA-Agenten. Carmellini erinnerte sich an seine erste Begegnung mit William Henry Chance. An jenem Wochenende hatte er an einem Zehn-Kilometer-Lauf in Virginia teilgenommen, als Chance nach einem Sprint neben ihm aufgetaucht war, fast ohne zu schwitzen, und ihm vorgeschlagen hatte, nach dem Rennen gemeinsam zu Mittag zu essen. -157-
Chance erwähnte einen Namen, den von Carmellinis Vorgesetzten in der Agentur. »Er meinte, Sie wären ein ziemlich guter Läufer«, sagte er und erhöhte das Tempo. Es gelang Tommy Carmellini, bis zum Zielband mit Chance Schritt zu halten, aber es war eine fürchterliche Tortur. Chance musste nicht trainieren, er lief einfach vor sich hin, als bestünde er nur aus schlanken Muskeln, Knochen und Sehnen, der geborene Langstreckenläufer. Carmellini dagegen war eher wie ein Footballspieler gebaut, wie ein Running-Back oder MiddleLinebacker. Die eine Hälfte seiner Zeit verbrachte er damit, Aufträge für die Agentur zu erledigen, die andere als Anwalt in der Kanzlei. Da seine Stärken eher auf dem Gebiet verdeckter Ermittlungen lagen, musste er hart arbeiten, um nicht von den anderen talentierten jungen Anwälten abgehängt zu werden, die nicht die geringste Ahnung hatten, dass er und Chance nebenbei im Sold der CIA standen. Während er jetzt mitten in Havanna im Wagen einer Telefonfirma hockte und abgehörten Gesprächen lauschte, fragte er sich, ob er das Angebot der CIA nicht besser hätte ausschlagen sollen. Wahrscheinlich wäre er mittlerweile wieder aus dem Gefängnis entlassen worden und frei wie ein Vogel gewesen. Und pleite, klar, denn sein Freund hatte den Diamanten verhökert und das ganze Geld selbst ausgegeben; er hatte nie vorgehabt, Carmellini den ihm zustehenden Anteil abzutreten. Auf dem Tisch im Heck des Transporters lagen eine Reihe von Fotos, die die Techniker von dem wissenschaftlichen Gebäude der Universität von Havanna geschossen hatten. Sie überwachten den Komplex bereits seit zwei Tagen. Carmellini betrachtete die Fotos aufmerksam, als plante er einen Einbruch in das Gebäude. Vor jedem Eingang standen Wachen. Keine elektronischen Alarmanlagen. Es wäre wie ein -158-
Sonntagsspaziergang, den Laden auszuräumen. Nach einer Weile gab Chance den Kopfhörer einem der Techniker zurück. Er musterte Carmellini mit gerunzelter Stirn. »Ich denke, Vargas hat vor, Fidel umzubringen«, sagte er schließlich. »Wann?« »Bald. Schon sehr bald. Heute oder morgen, könnte ich mir vorstellen.« »Und dann?« »Ich weiß auch nicht mehr als Sie.« Die noch auf der Angel del Mar verbliebenen Männer konnten den Motor nicht mehr in Gang setzen, und so trieb das Boot hilflos mit dem Wind und den Wellen dahin. Auch Ocho verbrachte einige Zeit in dem winzigen, beengten Maschinenraum. Irgendetwas im Innern des Motors war gebrochen, vielleicht die Kurbelwelle. Wenn man sie mit der Hand drehte, erzeugte sie ein knirschendes Geräusch, und an einem bestimmten Punkt ließ sie sich kaum noch bewegen. Nachdem er sich eingestanden hatte, dass eine Reparatur des Motors hoffnungslos war, kroch Ocho wieder aus dem kleinen Maschinenraum. Sein Platz wurde von einem anderen Mann eingenommen, der sich ebenfalls davon überzeugen wollte, dass der Motor nicht mehr zu reparieren war. Schließlich gaben alle ihre Bemühungen auf und schlossen die Tür. Nach dem Ausfall des Motors mussten sie die Bilgenpumpe manuell bedienen. Sie benötigten fünfzehn Minuten harter Arbeit, das eingeströmte Wasser abzupumpen. Als das erste Tageslicht durch die Luke fiel, konnte man undeutlich erkennen, dass dort, wo die Wellen die Kalfaterung zwischen den Rumpfplanken gelockert hatten, Wasser durch die Fugen -159-
sickerte. Es dauerte ungefähr fünfzehn Minuten, bis der Kielraum so weit vollgelaufen war, dass sie ihn wieder leerpumpen mussten. Eine Viertelstunde Arbeit, dann eine Viertelstunde Ruhepause. »Solange wir es mit der Pumpe schaffen, gehen wir nicht unter«, sagte der alte Fischer. »Das heißt, wenn der Wassereinbruch nicht stärker wird«, fügte Ocho hinzu. Da er jung und kräftig war, verbrachte er Stunden im Bauch des Bootes, bediente die Pumpe und sah zu, wie ständig Wasser nachfloss. Das Schaukeln und Hüpfen des Bootes war stark genug, um den Passagieren Übelkeit zu bereiten. Drei oder vier legten sich flach auf das Deck und übergaben sich in die See. Sechsundzwanzig Menschen lebten noch. Die Leiche des Kapitäns lag nach wie vor dort, wo er zusammengebrochen war, im Ruderhaus. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen, den Toten zu entfernen. Nachdem er den Morgen an der Bilgenpumpe verbracht hatte, lehnte Ocho an der Wand des Ruderhauses. Er schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Sonnenstrahlen ab und spähte in alle Himmelsrichtungen. Die Szenerie hatte sich seit gestern nicht verändert: Wogen, die sich bis zum Horizont erstreckten, darüber ein mit kleinen bauschigen Wolken gesprenkelter Himmel. Zumindest hatte sich die Dünung etwas beruhigt. Der Wind riss keine Schaumkronen mehr von den Wellenkämmen. Er wehte mit acht bis zehn Knoten aus Südwesten. Also musste das Boot mit dem Golfstrom nach Nordosten treiben. Das nächste Land in dieser Richtung waren die Bahamas. Die Vereinigten Staaten lagen im Norden, jetzt vielleicht im Nordwesten. Ein ganzer Kontinent direkt hinter dem Horizont, ein Kontinent voller Menschen, Städte, Restaurants, Farmen, -160-
Berge, Flüsse… Wenn sie ihn doch nur erreichen könnten. Nun, irgendjemand würde das treibende Boot bestimmt schon bald entdecken. Irgendjemand in einem Flugzeug oder einem Fischerboot, vielleicht ein amerikanisches Küstenwachtschiff oder ein Schiff der US-Navy, das Ausschau nach Drogenschmugglern hielt. Die Besatzung würde sehen, dass die Angel del Mar hilflos im Meer trieb, die Menschen an Bord mit Wasser und Essen versorgen, sie nach Guantánamo Bay fahren und durch das Tor zurück nach Kuba schicken. Oder vielleicht würde man sie in Krankenhäuser in Amerika bringen. Einige der Leute benötigten bereits ärztliche Behandlung in einem Krankenhaus. Sie hatten sich zu oft übergeben und schon zu lange nichts mehr getrunken. Ihre Körper waren ausgetrocknet, ihr Elektrolythaushalt geriet gefährlich aus dem Gleichgewicht. Wenn sie keine Hilfe erhielten, würden sie sterben. Genau wie diejenigen, die gestern Nacht über Bord gespült worden waren. Natürlich wusste Ocho Sedano, dass er rein gar nichts tun konnte. Auch er verspürte einen brennenden Durst und einen stechenden Schmerz in seinem leeren Magen. Zum Glück war er nicht seekrank gewesen, hatte sich nicht die Eingeweide aus dem Leib gekotzt, bis er nur noch trocken würgte wie so viele der anderen, die hilflos in der sengenden Sonne lagen. Das Ruderhaus warf ein wenig Schatten, und er zog ein paar Leute hinein. Vielleicht half ihnen das ein bisschen. Da das Boot quer zu den Wellen lag, wanderte der Schatten nicht allzu sehr herum, was ein Segen war. Aber der Platz reichte nicht für alle. »Das Segel«, sagte der alte Fischer. »Um den Baum ist ein Stück alte Segelplane gewickelt. Sehen wir nach, ob wir sie hochziehen können.« Eine Stunde lang arbeiteten sie in der Nachmittagssonne an der Plane und versuchten, sie zu einem Segel -161-
umzufunktionieren; es war mehr eine Zeltbahn als ein Segel. Schließlich meinte der Fischer, es sei wahrscheinlich am besten, sie zum Auffangen von Regenwasser und als Sonnenschutz zu benutzen. Also befestigten sie sie am Längsbaum und spannten sie horizontal. Ocho schleppte so viele Leute, wie er konnte, unter die Plane. Dann sank er erschöpft im Schatten auf das Deck. Seine Zunge war geschwollen und schwer, ein rauer Klumpen in seinem ausgedörrten Mund. Schwitzen. Er musste aufhören, so stark zu schwitzen, ständig Körperflüssigkeit zu verlieren und weiter auszutrocknen. In der Nähe weinte ein kleines Mädchen. Wahrscheinlich wird es schon bald damit aufhören, dachte er, weil es zu durstig ist, um die Energie zum Weinen aufzubringen. Er richtete sich auf und sah sich nach Dora um. Sie saß im Schatten mit dem Rücken an das Ruderhaus gelehnt. Diego Coca, ihr Vater, lag neben ihr, den Kopf in ihren Schoß gebettet. Sie sah Ocho kurz an, dann wandte sie den Blick ab. »Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte er. Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Er erhob sich und ging zu ihr. »Was hätte ich tun sollen?«, wiederholte er. Dora sagte nichts, senkte nur den Kopf. Sie streichelte ihrem Vater über das Haar. Er hatte die Augen geschlossen und schien weder seine Umgebung noch die schlingernden Bewegungen des treibenden Bootes wahrzunehmen. Sein Körper schwankte schlaff im Rhythmus des sich senkenden und hebenden Decks. Ocho Sedano betrat das Ruderhaus. Über der aufgeblähten Leiche des Kapitäns wirbelte das Steuerrad hin und her, wenn die Wellen gegen das Ruder schlugen. Mit angehaltenem Atem drehte Ocho den Leichnam um und durchsuchte die Taschen des Toten. Er fand ein paar Pesos, -162-
einen Brief, ein selbst gemachtes Taschenmesser, einen alten, rostigen Bolzen, einen Bleistiftstummel, einen Knopf… Nicht viel für ein Leben voller Arbeit. Die Hitze hatte die Le iche bereits anschwellen lassen. Das Gesicht des Kapitäns war dunkel angelaufen und fleckig. Ocho schleifte den steifen Körper aus dem Ruderhaus über das Deck und legte einen der Arme über die Reling. Dann hob er die Füße des Kapitäns an. Der Tote war sehr schwer. Da ihm niemand zu Hilfe kam, mühte sich Ocho allein ab, hievte die Leiche ächzend auf die Reling und hielt sie dort im Gleichgewicht, während er den richtigen Moment abpasste. Als sich das Deck tief zu Seite neigte, ließ er den Kapitän los, und der steife Körper kippte ins Meer. Der Tote trieb mit dem Gesicht nach oben neben dem Boot her. Seine leblosen Augen schienen Ocho anzustarren. Der junge Mann riss sich von dem Anblick los und sah zu der Mastspitze hinauf, die Kreise über den blauen Himmel und die weißgrauen Wolken zog. Als er den Blick wieder senkte, trieb der Leichnam noch immer mit dem Gesicht nach oben neben dem Boot. Die Wellen ließen sein langes Haar wie einen Schleier wogen, hin und her, als flatterte es im Wind. Wasser strömte in den offenen Mund der Leiche, die sich wie ein riesiger Korken hob und senkte, in die Mundhöhle hinein und wieder heraus. Die langen Nächte, die Sonne, Hitze und Erschöpfung forderten ihren Tribut. Ocho Sedano hatte nicht länger die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Deshalb legte er sich auf die Planken, verkeilte seinen Körper im Winkel zwischen Deck und Reling und schlief ein. »Der Frachter, der Gitmo letzte Woche verlassen hat? Der mit -163-
den Gefechtsköpfen?« »Ich erinnere mich«, sagte Toad Tarkington. »Die Colón oder so ähnlich.« »Die Nuestra Señora de Colón. Sie ist nie in Norfolk angekommen.« »Was?« Toad starrte den Admiral an, der die geheime Nachricht in den Händen hielt. »Sie ist nicht angekommen. Das HQ der Atlantikflotte sucht gerade nach ihr.« Toad nahm die Nachricht entgegen, las sie und gab sie zurück. »Wir haben sie von einem Zerstörer eskortieren lassen«, sagte der Admiral. »Rufen Sie den Kapitän an und bringen Sie in Erfahrung, was Sie können. Ich möchte wissen, wann und wo er das Schiff zuletzt gesehen hat.« Schon nach wenigen Minuten hatte Toad den Kommandanten des Zerstörers auf einer abhörsicheren Leitung. »Wir sind durch die Windward- und die Mayaguanan-Passage gefahren«, erfuhr er. »Der Frachter ist mit drei Knoten Fahrt dahingekrochen, aber die Leute haben den Maschinenschaden so weit behoben, dass sie wieder zwölf Knoten machen konnten, also haben wir das Schiff hundert Meilen nördlich von San Salvador mit Kurs Nord verlassen.« Der Kapitän übermittelte Datum und Uhrzeit des letzten Sichtkontakts. »Die Colón ist nie in Norfolk eingetroffen«, sagte Toad. »Ich will verdammt sein! Mit Mann und Maus gesunken?« »Das bezweifle ich stark«, erwiderte Toad. Kurz darauf nahmen die Computer auf dem amerikanischen Festland und an Bord der United States Kontakt auf. Verschlüsselte digitale Datenströme von den Zentralrechnern der National Security Agency in Fort Meade, Maryland, flossen über einen Satelliten in die Computer des Flugzeugträgers. Toad -164-
forderte von den Computertechnikern in Maryland per verschlüsselter Direktverbindung die benötigten Informationen an. Auf den Monitoren vor ihm erschienen Bilder, von Überwachungssatelliten angefertigte Radaraufnahmen. Die blinkenden Punkte, die die Colón und den sie begleitenden Zerstörer darstellten, ließen sich einfach identifizieren, als die beiden Schiffe Guantánamo Bay verließen und durch die Windward Passage fuhren. Stunde um Stunde der Satellitenaufnahmen liefen über die Bildschirme. Durch die langsame Fahrt von nur drei Knoten schienen sich die Radarecho s kaum zu bewegen, und so blätterte Toad die elektronischen Seiten schneller um. Schließlich musste er eine Weile warten, bis die Rechner aus Fort Meade die neuen Daten geliefert hatten. Jake Grafton gesellte sich zu ihm. Gemeinsam verfolgten sie das Geschehen auf den Monitoren. Die beiden Radarechos krochen nach Norden, vorbei an Mayaguana und San Salvador, dann nahm ihre Geschwindigkeit deutlich zu. Man konnte gut erkennen, wie der Zerstörer umkehrte. Etwas später schwenkte der blinkende Punkt der Colón nach Südosten ab und hielt wieder auf den Bahama-Archipel zu, bevor er mit einem Meer weißer Radarechos verschmolz. »Was jetzt?« »Das ist Regen«, sagte Jake. »Es gab ein Gewitter. Das Radarecho der Colón ist irgendwo unter den Störimpulsen versteckt, die der Regen erzeugt. Rufen Sie die NSA an. Stellen Sie fest, ob die Leute dort den Effekt des Regens rausfiltern können.« Er hatte Recht, es war tatsächlich der Regen, der das Radarecho verschleierte. Aber die Techniker der NSA konnten das Echo der Colón nicht lokalisieren. -165-
»Erkundigen Sie sich, ob die NSA eine Wahrscheinlichkeitsberechnung anstellen kann, die uns den vermutlichen Aufenthaltsort der Colón in diesem Chaos zeigt.« Die Berechnungen, die der Admiral angefordert hatte, nahmen mehrere Stunden in Anspruch, und die Resultate waren nicht aussagekräftig. Im gleichen Maß, in dem die Intensität der Niederschläge zu- beziehungsweise abnahm, vergrößerte oder verkleinerte sich der Kreis, in dem sich das Schiff möglicherweise aufhielt. Er pulsierte wie ein lebendiges Gebilde. Jake und Toad tranken Kaffee und aßen Sandwiches, während sie die Computerdarstellungen beobachteten. Der Admiral ging ruhelos auf und ab und studierte Seekarten, warf gelegentlich einen kurzen Blick auf die Monitore und führte zwischendurch mehrere Gespräche über eine weitere verschlüsselte Sprechfunkverbindung mit seinen Vorgesetzten im Pentagon. Mittlerweile hatte sich auch das Weiße Haus eingeschaltet, und der Präsident wollte wissen, wie, zur Hölle, eine ganze Schiffsladung biologischer und chemischer Gefechtsköpfe einfach verschwinden konnte. »Was, glauben Sie, ist da passiert, Admiral?«, erkundigte sich Toad. »Schwer zu sagen, zu viele Möglichkeiten.« »Machen die Leute in Washington Sie dafür verantwortlich, dass Sie der Colón nicht für die gesamte Strecke bis nach Norfolk eine Eskorte mitgegeben haben?« »Natürlich. Der Nationale Sicherheitsberater will wissen, warum der Zerstörer die Colón nicht bis ans Ziel begleitet hat.« »Sie hatten nicht den Auftrag, das Schiff zu eskortieren, Sie hatten den Auftrag, den Stützpunkt zu bewachen«, sagte Toad aufgebracht. »Es lag nicht in Ihrer Verantwortung, über dieses Seegebiet hinaus Geleitschutz für den Frachter zu stellen.« »Irgendjemand wird jede Entscheidung, die ich fälle, hinterfragen«, erwiderte Jake Grafton. »Alle werden es tun, sie -166-
sind schon dabei. Das bringen die Sterne und der Job nun mal mit sich.« »Im Nachhinein ist man immer klüger.« »Ich werde meine Zeit schon bald auf dem Golfplatz verbringen, und der einzige Mensch, der dann an mir herummäkeln kann, wird meine Frau sein.« Trotz aller Bemühungen der Experten in Maryland und an Bord der United States konnte die Position der Colón unter den Niederschlägen der Kaltfront nicht lokalisiert werden. Schließlich gab Jake den Versuch auf. »Sagen Sie ihnen, sie sollen die Aufzeichnungen vorspulen. Mal sehen, wo das Schiff nach dem Sturm war.« Doch nachdem der Regen aufgehört hatte, konnte der Computer das Radarecho der Colón nicht von denen anderer Schiffe unterscheiden. Allein in der Nähe der Bahamas befanden sich zweiunddreißig Schiffe mit mittlerer und größerer Tonnage. Toad hielt über die verschlüsselte Leitung weiterhin Kontakt zu den Experten der NSA, doch irgendwann legte er den Hörer auf und wandte sich dem Admiral zu. »Sie können alle Radarechos mit Kennnummern versehen, ihren Kurs verfolgen und mit Hilfe eines Eliminierungsprozesses die Echos mit den größten Wahrscheinlichkeitswerten heraussuchen. Aber das erfordert eine Menge Rechenarbeit. Es wird etliche Stunden dauern, vielleicht sogar einen oder zwei Tage.« Jake Grafton ergriff einen Flugplan, warf einen Blick darauf und überreichte ihn Toad. »Lassen Sie die Maschinen aufsteigen und das Meer systematisch absuchen. Mal sehen, was wir jetzt da draußen finden können.« Toad deutete auf die Seekarte an einem Schott. »Wo sollen sie suchen?« »Von der Nordküste Kubas weiter nach Norden zu den -167-
Bahamas. Entlang der Küste Hispaniolas bis nach Puerto Rico. Nehmen Sie sich auch die Turks- und Caicosinseln vor. Die Crews sollen jedes Schiff fotografieren, das sie entdecken. Die NSA soll die derzeitigen Kurse der Schiffe feststellen und die Beobachtungen unserer Flugzeuge mit denen der Satelliten vergleichen. Danach lassen wir die aktuellen Daten rückwärts laufen.« »Irgendjemand hatte mächtig Glück mit dem Gewitter«, kommentierte Toad. »Vielleicht hat er es auch einfach einkalkuliert?« »Schicken Sie eine streng geheime Nachricht an den Kommandanten der Gitmo-Basis. Bringen Sie alles in Erfahrung, was man dort über die Besatzung der Colón weiß.« Jake Grafton tippte mit dem Finger an die Karte. »Der Präsident hat jedem, der eine Uniform trägt, einen Marschbefehl erteilt. Und der lautet: Macht dieses Schiff ausfindig.«
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8 Maximo zeigte dem Zollbeamten am Flughafen von Madrid seinen Diplomatenpass und wurde nach einer oberflächlichen Musterung durch den Zollbereich gewinkt. Sein Koffer wurde gleich nach Zürich weitergeschickt, und natürlich kontrollierte niemand seine Aktentasche. Als Diplomat zu reisen, hatte zweifellos seine Vorteile. Das Sicherheitspersonal des Flughafens durchleuchtete nicht einmal das Reisegepäck eines Diplomaten. Der kubanische Finanzminister schlenderte durch das Terminal und genoss das europäische Ambiente. Die Geschäfte waren voll mit Delikatessen, Büchern, Tabakwaren, Kleidung und Spirituosen, die Frauen hübsch herausgeputzt. Wohin man auch sah, was man auch roch, alles kündete von Zivilisation, Wohlstand und gehobener Lebensart. Ohne es zu wollen, stieß Maximo Sedano einen tiefen Seufzer aus. Ah, ja… Das spanische Festland oder eine der spanischen Inseln waren seine bevorzugte Wahl, um sich zur Ruhe zu setzen. Was konnte sich ein Mann, dem Europa zu Füßen lag, mehr wünschen? Und der Ruhestand schien ihm ganz nahe zu sein. Wie war noch einmal diese Redewendung? »Feuer im Leib haben«, oder? Irgendein Yanqui-Politiker hatte gesagt, man müsste Feuer im Leib haben, wenn man ein öffentliches Amt erringen wollte. Nach kurzem Nachdenken kam Maximo zu dem Schluss, dass in ihm kein solches Feuer brannte. Sollten nach Fidels Tod ruhig dessen Bruder Raúl, Maximos eigener Bruder Hector, Alejo Vargas oder jeder andere, dem es gelang, seine Rivalen als Erster umzubringen, Kuba regieren, daran war Maximo nicht -169-
länger interessiert. Er würde sich mit dem Geld begnügen. Und mit all den Dingen, die man damit kaufen konnte: Villen, schöne Frauen, Yachten, erlesene Speisen, gute Weine, schöne Frauen… Von ihm aus konnte ein anderer auf der Plaza de la Revolución in Havanna stehen und im Jubel der Menge baden. Er bestieg die Maschine nach Zürich und machte es sich gut gelaunt bequem, lächelte der Stewardess zu und strahlte den Mann auf der anderen Seite des Mittelgangs an. Das Leben ist schön, dachte er und tastete unbewusst über seine Brusttasche, in der die Formulare mit Fidels Unterschrift und Daumenabdruck steckten. Wozu noch einmal zurückkehren? Dreiundfünfzig oder vierundfünfzig Millionen amerikanische Dollar waren mehr als genug. Zur Hölle mit dem Gold! Während die Maschine mit zunehmender Beschleunigung über die Startbahn raste, sagte sich Maximo, dass es das Klügste wäre, das Geld zu nehmen und sich zur Ruhe zu setzen. Dies war der richtige Zeitpunkt, um zuzugreifen. Den Fisch einholen, der bereits am Haken hängt, anstatt die Leine nach einem noch größeren auszuwerfen. Er konnte das Geld überweisen, sich drei oder vier Tage erholen und Zürich dann mit seinem argentinischen Reisepass als Eduarde José Lopéz verlassen. Maximo Sedano würde einfach aufhören zu existieren. Auf nach Ibiza, ein kleines Ferienhaus mit Blick aufs Meer kaufen, sich eine willige Frau suchen, nicht zu jung, nicht zu alt… Fidel Castros plötzlicher Tod hatte Alejo Vargas unvorbereitet getroffen. Eigentlich hätte der Diktator erst in einigen Tagen, vielleicht sogar erst in einigen Wochen sterben sollen. Unglücklicherweise war Vargas' politische Position wacklig, -170-
vorsichtig ausgedrückt. Er hätte Fidels Empfehlung - ganz egal, auf welche Weise sie auch zustande gekommen wäre gut gebrauchen können. Aber immerhin würde sie jetzt auch kein anderer erhalten. Obwohl er sein Leben lang im Schatten seines Bruders gestanden hatte, hielt nominell Raúl Castro nun die Zügel der Regierung in der Hand. Ohne Fidel war Raúl nach Alejo Vargas' Einschätzung jedoch stark geschwächt, da er keine eigene politische Hausmacht besaß. Während er sich seine nächsten Schritte überlegte, hatte Vargas Mercedes von Colonel Santana in ein Schlafzimmer einsperren lassen, die Eingänge des Präsidentenpalastes versiegelt und einen Sicherheitspolizisten in die Telefonzentrale geschickt. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass die Nachricht von Fidels Tod nach außen drang, bevor er bereit war. Vargas übertrug Santana die Verantwortung für den Palast und fuhr mit seiner Limousine zurück zum Innenministerium. Natürlich verzichtete er darauf, Anweisungen über sein Autotelefon zu geben. Die Amerikaner belauschten alle Frequenzen des Funktelefonverkehrs und wären schnell über alles informiert gewesen, was er tat oder anordnete. Während der Fahrt durch den nachmittäglichen Verkehr zu seinem Ministerium saß er schweigend im Fond des Wagens. In seinem Büro angekommen, rief er seine vertrauenswürdigsten Unterführer zu sich und erteilte ihnen eine Reihe von Befehlen. Schafft sofort Admiral Delgado und General Alba hierher! Sucht und verhaftet Raúl Castro und Hector Sedano! Danach stand er am Fenster und blickte auf Morro Castle und das Meer hinaus. Weit in der Ferne konnte er gerade noch das tiefe Blau des Golfstroms sehen, wie eine dünne Linie knapp unterhalb des Horizonts. Von Südosten her näherte sich eine Wolkendecke, und Wind kam auf. Ein historischer Tag… Fidel Castro, der alles überragende -171-
Gigant der Geschichte Kubas, war tot. Das Ende einer Ära, dachte Vargas, und der Anfang einer neuen Epoche, die er dominieren würde. Trotz des überraschenden Zeitpunkts hatte Vargas keine Wahl, er musste seinen Plan vorantreiben. Vor rund einem Monat war er zu dem Schluss gekommen, dass ihm nach Castros Tod nur ein Weg offen stand: eine Situation herbeizuführen, die das kubanische Volk dazu bringen würde, sich um ihn zu scharen. Er benötigte Kühnheit und wilde Entschlossenheit, wenn er eine Erfolgschance haben wollte, aber er war genau der Typ von Mann, der bereit war, das höchste Risiko einzugehen und alles auf eine Karte zu setzen - nachdem er sie selbst zuvor gezinkt hatte. Gestern hatte Colonel Santana eine Artilleriegranate nach Havanna gebracht, die von der Nuestra Señora de Colón stammte. Nun lag das Ding im Kellergewölbe des Ministeriums, bewacht von bewaffneten Sicherheitsposten. Die kubanische Führung wusste seit Jahren, dass die Amerikaner Bund CWaffen in Guantánamo lagerten. Jetzt schafften sie ihr Arsenal fort, doch es war bereits zu spät! Dank El Gato hielt Vargas nun eine dieser Waffen in den Händen, die er der Welt zeigen konnte. Und er hoffte, schon bald sehr viel mehr davon zu haben. Alejo Vargas atmete tief durch, streckte sich ausgiebig und nahm sich eine Zigarre. Er zündete sie an, inhalierte den Rauch und blies ihn durch die Nase wieder aus. Dann lachte er. »Ich möchte ein kleines Haus mit einem Garten. Jeden Tag genug zu essen. Kinder. Einen Arzt, der sie gesund macht, wenn sie krank werden. Einen Mann, der mich liebt. Ist das zu viel verlangt?« Doras Mund war so trocken, dass sie die Worte nur undeutlich aussprach, aber Ocho verstand auch so, was sie meinte. Sie -172-
lagen Kopf an Kopf im Schatten unter der Segeltuchplane, während die Angel del Mar unaufhörlich in der lang gezogenen Dünung schlingerte und schaukelte. Umgeben von einem Universum aus Wasser, das sie nicht trinken konnten, wurden die sechsundzwanzig Menschen von Durst gequält und von der sengenden Hitze gebraten. Viele hatten bereits einen schlimmen Sonnenbrand, rohe, nässende Stellen am Körper, wo ihre Haut Blasen geworfen und sich geschält hatte. Der alte Fischer übergoss die wunden Körperpartien mit Eimern voller Salzwasser, schüttete es behutsam über den kleinen Kindern aus, die längst zu weinen aufgehört hatten. Vielleicht sog ihre ausgedörrte Haut etwas davon auf. Wenn nicht, würde es sie zumindest abkühlen und ihre Qualen ein wenig lindern. In Doras Nähe betete eine Frau mit leiser Stimme ohne Unterbrechung den Rosenkranz durch. Hin und wieder schloss sich ihr eine andere Frau für einige Minuten an, verstummte für eine Weile und begann dann von neuem. Es schien, als hätte jeder der Überlebenden während der ersten Nacht irgendjemanden an das Meer verloren. Die Schreie und das Leid, wenn die Menschen richtig begriffen, wen sie für immer verloren hatten, waren fast unerträglich. Mütter weinten, Töchter waren so fassungslos, dass sie unkontrolliert zitterten. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage hatte alle mit der Wucht einer Abrissbirne niedergeschlagen. Seit die Mutter des Kapitäns ihren ermordeten Sohn gesehen hatte, durch einen Schuss in den Rücken getötet, war sie nicht mehr in der Lage zu sprechen oder sich zu bewegen. Ocho beobachtete sie, während Dora von ihren Träumen erzählte. Die alte Frau saß jetzt am Fuß des Hauptmastes, um den sie einen Arm geschlungen hatte, den anderen um eine ihrer Töchter oder Schwiegertöchter gelegt. Immer wieder stand Ocho für kurze Zeit auf und suchte den Horizont ab. Nichts. Kein Boot, kein Land, kein Schiff. Gar nichts. -173-
Das war nicht ganz richtig. Drei Flugzeuge waren über sie hinweggeflogen, zwei Düsenjets in so großer Höhe, dass sie weiße Kondensstreifen in den Himmel malten, danach ein zweimotoriges Flugzeug, vielleicht zwei Meilen hoch auf einem schnurgeraden Kurs, den es stur beibehielt, obwohl es die Angel del Mar in einer Entfernung von höchstens einer halben Meile passierte. Diese Flugzeuge zu sehen und zu wissen, dass in ihnen Menschen sitzen, die mehr als genug zu essen und zu trinken haben, sicher und bequem von einem Ort zum anderen fliegen, während wir arme Teufel auf diesem jämmerlichen Kahn gefangen sind, dazu verdammt, langsam vor Durst und Entkräftung zugrunde zu gehen… Bestimmt wird uns bald irgendjemand finden! Wer auch immer! Wie ist es nur möglich, dass die Amerikaner uns nicht sehen? Wie kann das sein? Oder sehen sie uns, aber es kümmert sie nicht? Ocho hatte sich erhoben, hielt nach anderen Schiffen Ausscha u und hörte zu, wie Dora von dem Haus sprach, das sie sich wünschte, mit Blumenbeeten zu beiden Seiten der Tür, als er begriff, dass die dunkle Fläche, die er im Westen sah, Regen war. »Regen…«, flüsterte er. »Regen!«, schrie er dann laut und deutete nach Westen. Das Gewitter war bereits über ihnen, bevor irgendjemand die Energie aufbrachte, etwas zu unternehmen. Die Leute standen einfach mit offenen Mündern da, die Köpfe weit in den Nacken gelegt, als der Regen auf sie herabprasselte, ihre Kleidung durchnässte, über die Segeltuchplane auf das Deck tropfte und von dort weiter durch die Speigatts ins Meer lief. »Die Plane! Schnell! Wir müssen einen Behälter aus der Plane machen, um das Wasser aufzufangen!« Ocho knotete ein Ende mit gefühllosen Fingern auf, der alte Fischer ein anderes, und gemeinsam hielten sie das Segeltuch -174-
hoch, damit sich das Wasser darin sammeln konnte. Sie hatten mehrere Gallonen aufgefangen, als der Regen aufhörte. Einige Männer versuchten, sich über die Plane zu beugen und zu trinken. »Nein, zuerst die Kinder.« Mit der freien Hand gelang es Ocho, einen der Männer am Nacken zu packen und zurückzustoßen. »Zuerst die Kinder!« Eins nach dem anderen durften die Kinder so viel trinken, wie sie konnten. Danach kamen die Frauen an die Reihe. Mehrere Männer bekamen ein oder zwei Schlucke ab, dann war der bescheidene Wasservorrat aufgebraucht. Ocho setzte sich auf die Planken, wischte sich Schweiß und Wasser aus dem Haar und leckte seine Finger ab. Er hatte nicht mehr als das getrunken, was ihm in den offenen Mund geregnet war. Dora hatte ihren Anteil bekommen. Jetzt lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Deck. Sogar Diego Coca hatte einen Schluck ergattert. Er sah sich mit entzündeten Augen um und sank dann neben seiner Tochter nieder. »Wir müssen die Plane so aufspannen, dass sie das Wasser auffängt, wenn es wieder regnet«, sagte Ocho dem alten Fischer. Sie machten sich an die Arbeit und schnitten ein Loch in den tiefsten Teil des Segeltuchs, unter das sie einen fünf Gallonen fassenden Behälter stellten. Falls es wieder regnet, dachte Ocho und musterte die Wolken. Bitte, Gott, erhöre unsere Gebete. »Warum bist du hier auf diesem Boot?«, fragte der Fischer Ocho. Der Jüngere starrte den Alten überrascht an. »Warum bist du hier?«, wiederholte der Fischer. »Du bist -175-
nicht wie wir.« Ocho ließ den Blick über seine Leidensgefährten gleiten. Er begriff nicht, was der alte Mann meinte. »All diese Leute sind Verlierer«, erklärte der Fischer. »So wie ich. Wir waren auf der Suche nach etwas, das wir nie finden werden. Warum bist du bei uns?« »Es ist Zeit, dass irgendjemand Lopéz an der Pumpe ablöst«, wich Ocho der Frage aus. »Ich werde das für eine Weile übernehmen, dann löst du mich ab, alter Mann.« »Wir werden bald sterben, denke ich«, sagte der Alte. »Einige Kinder können uns hören«, zischte Ocho. »Pass auf, was du sagst!« »Wenn wir nicht mehr pumpen können, müssen wir schwimmen. Und dann werden wir sterben. Die Leute werden nacheinander ertrinken. Oder die Haie kommen.« »Halte nach einem Schiff Ausschau«, sagte Ocho scharf und verschwand unter Deck. Haie! Dass der alte Seebär die Kinder so erschrecken muss. Natürlich, es war möglich, dass Haie kamen. Blut oder wild um sich schlagende Menschen würden die Raubfische anlocken. Zumindest hatte er das gehört. Die Haie würden die Leute in Stücke reißen und in die Tiefe ziehen. Er pumpte gut zwanzig Minuten lang, dann gönnte er sich eine Pause. Das Wasser drang mittlerweile schneller ein. Nach fünf Minuten machte er weiter. Es dauerte weitere zwanzig Minuten höchster Anstrengung, bis er den Kielraum geleert hatte. Der Wassereinbruch war stärker als am Vortag. Auch der Pumpschwengel schien sich immer schwerer bewegen zu lassen, doch er wusste, dass in Wirklichkeit seine Energiereserven schwanden. Pumpen, pumpen, pumpen, eine kurze Ruhepause in dem stinkenden Kielraum, und dann wieder von neuem pumpen -176-
und pumpen… Je müder er wurde, desto mehr schwand seine Hoffnung. Sie alle waren dem Tod geweiht. Dora, das Baby, das in ihr wuchs, sein Kind… Es war seine Schuld. Wäre er Mann genug gewesen, nein zu sagen, dem Verlangen zu widerstehen, wären all diese Menschen immer noch in Kuba, hätten sie eine Zukunft vor sich statt der Aussicht auf ein nasses Grab. All die Menschen, die von den Brechern in den Tod gerissen worden waren, wären immer noch am Leben. Am Leben! Wie hätte er denn ahnen können, welch furchtbare Abfolge von Ereignissen er auslösen würde, als er Doras Kleid aufknöpfte und über ihren verlockenden Körper tastete, ihren Herzschlag unter seinen Fingerkuppen fühlte? Das Schuldgefühl erdrückte ihn, raubte ihm den Atem. Er musste tun, was in seiner Macht stand, um all diese Menschen zu retten. Das war die einzige ehrenhafte Wahl, die ihm blieb. So viele Menschen retten, wie er konnte. Vielleicht würde Gott ihm dann vergeben. Vielleicht würde er sich dann selbst vergeben können… Und er durfte die Hoffnung noch nicht aufgeben. Während er den Pumpenschwengel hob und niederdrückte, rügte er sich dafür, so negativ zu denken, kein Vertrauen in Gott zu haben, in Seinen Plan, den Er für die sechsundzwanzig Überlebenden an Bord der Angel del Mar hatte. Schon bald würde ein Schiff kommen. Die Seeleute würden das Boot sehen und die Flüchtlinge retten. Ihnen kühles, sauberes Wasser geben, mehr als sie trinken konnten. Und Essen. Jeder würde sich satt essen können. Schon bald. Jede Minute musste es so weit sein. Er pumpte und pumpte. Schweiß brannte ihm in den Augen, tropfte ihm über die Nase, aber nicht mehr so viel wie gestern. Er war ziemlich ausgetrocknet. Das Salz sammelte sich in -177-
seinen Achselhöhlen und in seiner Leistengegend. Es juckte unangenehm. Er kratzte sich mit der freien Hand, aber dadurch wurde das Jucken nur schlimmer. Jede Minute wird ein Schiff am Horizont erscheinen. Nicht mehr lange… Am Flughafen von Zürich nahm Maximo Sedano ein Taxi, das ihn zu einem hervorragenden Hotel im Bankenviertel brachte, wo er schon bei sieben oder acht früheren Besuchen gewohnt hatte. Es war ein altes Hotel, solide, seriös, fast schon bankartig, aber nicht das beste Haus am Platz. Dies war das letzte Mal, dass er hier absteigen würde, sagte er sich. Eduardo José Lopéz würde im besten Hotel der Stadt residieren, denn bei Gott - er konnte es sich leisten. Und weil das Personal dort ihn nie als Maximo Sedano kennen gelernt hatte. In nächster Zeit würde er einige Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen, Fotografen aus dem Weg gehen und Orte meiden, wo ihn prominente Kubaner entdecken konnten, wie zum Beispiel die Zentren von Madrid, London oder Paris. Natürlich würde er in seiner Wachsamkeit ein wenig nachlassen können, sollte Vargas im Aufruhr nach Fidels Tod ermordet werden. Vargas war ein Bluthund, ein humorloser Mann und ein Profi, wenn es darum ging, Rache zu nehmen. Andererseits würde er mit genug anderen Dingen beschäftigt sein, wenn er als Sieger aus dem Machtkampf um Fidels Nachfolge in Havanna hervorging, und ein verschwundener Ex-Finanzminister musste zwangsläufig ziemlich weit unten auf seiner Prioritätenliste stehen. Maximo war fest entschlossen, seine Chance zu nutzen. Er war in Europa, das Geld lag auf den Banken am Ende der Straße, der Ruf des Schicksals ertönte laut und klar in seinen Ohren. Er nippte gerade an einem Drink und überlegte sich, wohin er zum Abendessen gehen sollte, als es an der Tür klopfte. -178-
»Ja?« »Eine Lieferung.« »Ich habe nichts bestellt. Das muss ein Irrtum sein.« »Für Seine Exzellenz, Maximo Sedano.« Neugierig geworden, öffnete er die Tür. Der Mann im Flur war Europäer. Er hatte schütteres Haar, schwellende Muskeln und ein kantiges Kinn. Und er hielt eine Pistole in der Hand, mit der er genau auf Maximos Solarplexus zielte. Er dirigierte Maximo in das Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. »Ihren Pass, bitte.« Ein deutscher Akzent. »Ich habe nicht viel Geld bei mir. Nehmen Sie es und verschwinden Sie.« »Setzen.« Der Fremde deutete mit der Pistole auf einen Sessel neben dem Bett. Maximo gehorchte dankbar. Seine Knie waren weich wie heißes Wachs, und er verspürte das dringende Bedürfnis zu urinieren. »Jetzt den Pass.« Maximo zog den Diplomatenpass aus der Jackeninnentasche. Der Mann griff mit der linken Hand danach, wobei er gewissenhaft darauf achtete, die Pistole außerhalb von Maximos Reichweite zu halten und sein Ziel weiterhin anzuvisieren. Er warf einen Blick auf das Foto und den Namen, grinste und warf den Pass auf das Bett. Dann setzte er sich. »Sie sind ja so weiß wie ein Laken, Mann. Werden Sie etwa ohnmächtig?« Der kubanische Finanzminister fühlte sich benommen und schwindlig. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf der kalter Schweiß stand. »Lockern Sie Ihre Krawatte«, befahl der Deutsche. »Öffnen -179-
Sie den obersten Knopf Ihres Hemdes und beugen Sie sich vor, bis Ihr Kopf zwischen Ihren Knien liegt.« Wieder gehorchte Maximo bereitwillig. »Atmen Sie nicht so schnell. Reißen Sie sich zusammen. Wenn Sie nicht aufpassen, hyperventilieren Sie und werden tatsächlich noch ohnmächtig.« Maximo konzentrierte sich darauf, langsamer zu atmen. Schon nach wenigen Sekunden ging es ihm besser. Schließlich richtete er sich wieder auf. Die Pistole war nicht mehr zu sehen. »Vargas hat mir gesagt, dass Sie ein Waschlappen sind.« Der Deutsche schüttelte traurig den Kopf. »Sie arbeiten für ihn?« Maximo erschrak über den schrillen Klang seiner eigenen Stimme. »Ich erledige von Zeit zu Zeit ein paar Aufträge für ihn. Er zahlt gut, und die Art der Arbeit liegt mir.« »Was wollen Sie?« »Vargas möchte Sie durch mich daran erinnern, dass Sie geschickt wurden, um eine Besorgung zu machen. Sie sollen das Geld morgen auf die richtigen Konten überweisen und nach Kuba zurückkehren. Wenn das nicht geschieht, soll ich Sie töten.« Der Deutsche lächelte sanft. »Und das werde ich tun. Es gibt da einen Charakterzug an mir, auf den ich nicht stolz bin und den ich nicht gern zugebe, aber es ist nur fair, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage. Es macht mir Spaß, Menschen zu töten. Ich genieße es. Ich erschieße sie nicht einfach so, peng, peng, ich bemühe mich, sie möglichst lange leiden zu lassen. Ich besitze ein kleines, weit abgelegenes Haus, wo es ruhig ist, perfekt geeignet für meine Bedürfnisse.« Seine Augen wurden schmal. »Sie scheinen mir zwar ein ziemlich jämmerliches Exemplar von einem Mann zu sein, aber ich schätze Herausforderungen. Ich denke, wenn ich ein paar -180-
Vorkehrungen treffe, kann ich es so einrichten, dass Sie sich mindestens achtundvierzig Stunden lang die Seele aus dem Leib schreien, bevor Sie sterben.« Maximo rauschte das Blut in den Ohren, sein Herz hämmerte so rasend wie galoppierende Pferdehufe. Der Deutsche griff nach dem Telefon, sagte der Vermittlung, dass er ein Ferngespräch nach Havanna führen wollte, und gab die Telefonnummer durch. Eine Minute verstrich, dann noch eine. »Rall hier. Für Vargas.« Der Mann wartete einige Sekunden. »Buenos dias, señor«, fuhr er dann fort. »Ich habe ihm Ihre Botschaft ausgerichtet.« Wieder wartete er ein paar Sekunden, bevor er den Hörer an Maximo weiterreichte. Der kubanische Finanzminister brachte einen krächzenden Laut zustande. »Das Geld muss morgen eintreffen, Maximo«, hörte er Vargas' Stimme. »Haben Sie verstanden?« »Ihr Totschläger hat mich bedroht.« »Ich hoffe, Señor Rall hat Ihnen die Lage klar gemacht. Es wäre eine Tragödie, wenn Sie sterben würden, nur weil Sie nicht richtig verstanden haben, was Ihre Pflicht ist.« Die Verbindung brach ab, bevor Maximo antworten konnte. Er saß mit dem Hörer in der Hand da und versuchte, seinen Magen unter Kontrolle zu behalten. Auf eine Geste Ralls hin gab er ihm den Hörer zurück. Nachdem der Deutsche sich überzeugt hatte, dass die Verbindung getrennt worden war, legte er den Hörer auf die Gabel und erhob sich. »Ich weiß nicht, was es noch zu sagen gibt. Sie kennen jetzt Ihre Situation. Ihr Schicksal liegt in Ihrer eigenen Hand.« -181-
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging der Deutsche zur Tür, öffnete sie, trat in den Flur und zog die Tür hinter sich wieder zu, bis das Schloss hörbar einrastete. Maximo sprang auf, stürzte in die Toilette und erbrach sich ins Waschbecken. William Henry Chance lag im Bett seines Hotelzimmers und las in einem Magazin, als ihn ein Klopfen an der Tür aufblicken ließ. Er öffnete. Vor ihm stand Tommy Carmellini. »Hey, Boss«, sagte Carmellini. »Machen wir einen kleinen Spaziergang.« »Geben Sie mir einen Moment Zeit, meine Schuhe anzuziehen.« Chance streifte ein leichtes Sportsakko über, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Beide Männer schwiegen, während sie mit dem Fahrstuhl abwärts fuhren. Draußen vor dem Hotel vergewisserten sie sich automatisch, ob ihnen jemand folgte. Es war niemand zu sehen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sollten die Kubaner sie als CIA-Agenten identifiziert haben, konnten in jedem Gebäude Beobachter postiert sein, die jeden Schritt, jede Geste und Lippenbewegung der Amerikaner filmten. Also schwiegen beide weiter. Carmellini führte Chance zu einem der größeren Casinos auf dem Malecon. Lateina merikanische Klänge umfingen sie, als sie eintraten. Das Casino erinnerte Chance an Atlantic City. Es war bevölkert mit grauhaarigen Rentnern, hauptsächlich Amerikaner, Deutsche, Engländer und Spanier, die sich ihre Zeit mit Glücksspielen vertrieben. Natürlich waren keine Kubaner darunter, nur Ausländer mit harter Währung in den Taschen. Die einzigen Kubaner, die nicht hinter den Spieltischen ihren Dienst versahen, waren Prostituierte, bezaubernde junge Frauen, -182-
nach der neuesten europäischen Mode gekleidet. Zu dieser Uhrzeit des Abends war die Luft dick mit Zigarrenrauch geschwängert, von Gelächter und lauter Musik erfüllt, und der Alkohol floss in Strömen. Die beiden Männer schlenderten ziellos umher, sahen sich unauffällig um und versuchten herauszufinden, wer sie beobachtete, bis sie das Casino schließlich durch einen Nebeneingang verließen. Vor der Rampe des Lieferanteneingangs sortierte ein Mann in einem Lieferwagen des Telefonreparaturdienstes Werkzeuge und Ersatzteile. Chance und Carmellini stiegen ein. Der Mann schloss die Tür, und der Wagen rollte los. »Vargas hält Kriegsrat in seinem Büro«, berichtete Carmellini. »Es klingt so, als wäre Castro tot.« »Niemand lebt ewig«, kommentierte Chance unbekümmert. »Nicht einmal Diktatoren.« »Das ist nicht einmal die Hälfte der Neuigkeiten. Die Burschen unterhalten sich wieder einmal über biologische Waffen.« »Bingo«, sagte Chance. In seiner Stimme klang ein Anflug von Befriedigung mit. »Yeah. Vargas sagt, es gäbe eine Lagerhalle voll mit biologischen Gefechtsköpfen in Gitmo.« Es bedurfte schon einer Menge, William Henry Chance zu überraschen. Seine Augen wurden groß. »Nicht nur das«, fuhr Carmellini fort, »er hat sogar eins von diesen Dingern. Er will es dem kubanischen Volk zeigen und der Welt beweisen, was für perfide Bastarde die Amerikaner doch sind.« »Er hat einen amerikanischen CBW-Gefechtskopf in seinem Besitz?« »Sie müssen sich das Tonband anhören. Für den Techniker -183-
klang es so, als hätten die Kubaner das Ding von einem Schiff geklaut.« »Biologische Gefechtsköpfe in Guantánamo Bay? Unmöglich! Haben diese Typen irgendwas geraucht?« »Ich denke, Vargas und seine Kumpels haben das große Los gezogen. Entweder das, oder sie planen, irgendeinen biologischen Kampfstoff in Guantánamo freizusetzen, nachdem sie die Absperrungen durchbrochen haben.« »Vielleicht wissen sie, dass wir sie belauschen«, sagte Chance. »Vielleicht ist diese ganze Geschichte nur ein Schwindel, um uns zu verunsichern.« »Möglich«, räumte Carmellini ein, aber seinem Tonfall nach zu urteilen, glaubte er nicht daran. Maximo Sedano saß in der Klemme. Er konnte das Geld nicht auf die Konten der kubanischen Regierung transferieren, weil auf den Überweisungsformularen die falschen Kontonummern standen. Die Nummern zu ändern kam nicht in Frage. Jede nachträgliche Korrektur würde sofort bemerkt werden und das Misstrauen der Schweizer Banker erregen. Er stellte sorgfältig die richtige Kombination des Zahlenschlosses an seinem Aktenkoffer ein und öffnete ihn. Auf dem Boden des Koffers lag eine hübsche kleine 7,35mmWalther. Das Magazin war voll, die Kammer noch leer. Er lud die Waffe durch, legte den Sicherungshebel um und steckte die Pistole in seine rechte Hosentasche. Dann betrachtete er sich im Spiegel. Nachdenklich schob er die Hand in die Tasche und umklammerte den Pistolengriff. Morgen würde er die Banken aufsuchen und sich wie ein Bürokrat benehmen müssen, der Geld an seine Regierung überwies, obwohl die Banken in Wirklichkeit dreiundfünfzig -184-
Millionen Dollar plus Zinsen auf seine persönlichen Konten schaufelten. Gut, wenn es ihm gelang, den Deutschen zu töten, ohne dabei erwischt zu werden, würde er mit Sicherheit auch cool bleiben können, während die Schweizer Banker ihn reich machten. Konnte er Rall überhaupt töten? Wie wichtig war es ihm, reich zu werden? Er stand am Fenster und sah auf die Limmat hinaus, die einen Häuserblock entfernt dahinfloss. Hinter dem Fluss erstreckte sich die weite Wasserfläche des Zürichsees. Noch weiter in der Ferne, halb verborgen im Dunst, ragten die Gipfel der Alpen auf, die noch immer vom Schnee des letzten Winters bedeckt waren. Maximo wollte auf keinen Fall nach Kuba zurückkehren. Ein Glas Scotch aus der Minibar half ihm, seine Nerven ein wenig zu beruhigen. Eine Stunde später verließ er das Hotel. Er wandte sich nach links, überquerte die Limmat auf der nächsten Brücke und ging weiter in Richtung der Hauptverkehrsstraße. In spätestens einer Stunde würde es dunkel werden. Maximo sah sich nicht um. Er war sich sicher, dass Rall irgendwo in der Nähe steckte. Also schlenderte er gemächlich dahin und tat so, als würde er den Frühsommertag und das bunte Treiben der Menschenmenge genießen, unter der viele junge Leute waren, die Ferien hatten. Schließlich bog er in eine alte Kopfsteinpflasterstraße ab, die zu schmal für Fahrzeugverkehr war, und folgte ihr den Hügel hinauf, der das Stadtzentrum überragte. Mittelalterliche Gebäude säumten die Straße und schienen zusammenrücken zu wollen, so dass die Gasse im schwindenden Tageslicht noch enger wirkte, als sie tatsächlich war. Maximo fand ein Restaurant, das er von einem früheren Besuch kannte, und ging hinein. Ja, es war so, wie er es in Erinnerung hatte, ein einfacher Raum mit Tischen und Stühlen, -185-
dahinter die Küche und wiederum dahinter die Toilette. Ein Klo mit einem alten, hoch an der Wand angebrachten Spülkasten, von dem eine Kette herabhing. Wie lange war es her? Zwei Jahre, mindestens. Der Kellner war neu, schien ihn nicht zu erkennen. Nicht dass das zu erwarten gewesen wäre, aber es könnte sich als ungünstig erweisen, wenn er sich später daran erinnerte, Sedano an diesem Abend hier gesehen zu haben. Maximo setzte sich mit dem Rücken zur Wand, so dass er sowohl den Vordereingang als auch die Küchentür im Auge behalten konnte. Er bestellte einen italienischen Wein, etwas Bodenständiges, während er die Speisekarte las. In Wahrheit war er so nervös, dass er bezweifelte, auch nur einen Bissen runterzukriegen. Die Pistole lag schwer auf seinem Oberschenkel; ihr Gewicht verlieh ihr eine bedrohliche Präsenz, die er nicht ignorieren konnte. Er versuchte seine Atmung zu verlangsamen, seinen rasenden Puls zu beruhigen, wischte sich mit dem Taschentuch Hände und Gesicht ab. Bei Gott, er war an die Hitze Kubas gewöhnt, er sollte nicht derart schwitzen! Reiß dich zusammen, Maximo, wenn du dich nicht beherrschen kannst, wirst du schon bald tot sein! Oder das Versuchsobjekt für die Experimente dieses perversen Killers! Er fragte sich, ob Rall die Wahrheit gesagt hatte, was sein Faible für das Foltern von Menschen betraf. Allein der Gedanke daran, an das offensichtliche Vergnügen, mit dem Rall davon gesprochen hatte, trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er wischte sich das Gesicht erneut mit dem Taschentuch ab. Außer ihm saßen noch zwei Pärchen und ein einzelner Mann -186-
im Restaurant. Nur ein Kellner, der zwischen Küche und Restaurant hin und her pendelte, bediente die Gäste. Maximo setzte sich auf einen anderen Stuhl am selben Tisch, von dem aus er durch die Küchentür sehen konnte. Ja, er konnte den größten Teil der schmalen Küche überblicken, als der Kellner die Tür erneut öffnete. Der Koch rührte in einem Topf herum, überprüfte den Herd, holte ein paar Dinge aus dem Kühlschrank… »Noch etwas Wein?« Der Kellner stand mit der Weinflasche neben Maximos Tisch. »Wenn Sie so freundlich wären.« »Haben Sie eine Toilette?«, erkundigte sich Maximo, während ihm der Kellner nachschenkte. »Ja, natürlich. Durch die Küche und dann hinten links.« »Ich möchte den Koch nicht bei seiner Arbeit stören.« »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Sir.« Maximo wartete, trank seinen Wein und bemühte sich, nicht zu auffällig durch die Küchentür zu starren. Als der Kellner zurückkehrte, bestellte er irgendetwas, das erste Gericht, das er auf der Karte sah. Eins der beiden Pärchen ging, das zweite beendete sein Essen und trank jetzt Kaffee. Maximos Gericht wurde etwa zur gleichen Zeit wie das des anderen einzelnen Gastes serviert. Er begann gerade mit dem Hauptgericht, als der Koch in der Tür erschien, sich die Hände mit einem Tuch abwischte und etwas zu dem Kellner sagte. Dann trat er auf die Gasse hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Maximo stand auf und steuerte die Toilette an. Als sich die Küchentür hinter ihm geschlossen hatte, blickte er sich nach einer Schublade oder einem Regal mit Küchenutensilien um. -187-
Jetzt musste es schnell gehen… Er öffnete eine Schublade. Fehlanzeige. Die nächste… ja! Gedankenschnell griff er hinein, packte das, wonach er gesucht hatte, und ging weiter zur Toilette. Es dauerte zehn Minuten, bis er fertig war und ins Restaurant zurückkehrte. Der Koch stand wieder vor seinen Töpfen und Pfannen und nickte ihm zu. Maximo nahm an seinem Tisch Platz. Er hatte es nicht eilig, stocherte in seinem Essen herum, brachte aber keinen Bissen herunter. Stattdessen trank er noch ein paar Schlucke Wein und bestellte schließlich einen Kaffee. Er griff gerade nach der Rechnung, als Rall sich auf einen Stuhl neben ihm setzte. »Ich hätte früher kommen und mir von Ihnen ein Essen spendieren lassen sollen.« »Verschwinden Sie.« »Oh, seien Sie doch nicht so unhöflich. Ich würde mich gern ein bisschen mit Ihnen unterhalten und herausfinden, was genau Sie eigentlich für die kubanische Regierung tun.« »Wenn Sie wissen wollen, ob ich Ihnen mehr als Vargas zahlen kann, lautet die Antwort wahrscheinlich nein. Ich bin nur ein Verwaltungsbeamter. Sie sollten sich mit dieser Frage besser an Vargas wenden.« Maximo zählte einen Betrag aus seiner Brieftasche ab, der für das Essen und ein Trinkgeld reichte, und legte die Scheine auf das Tablett mit der Rechnung. »Ich habe einen Diplomatenpass. Wenn Sie jetzt nicht gehen, werde ich den Kellner bitten, die Polizei zu rufen.« »Um mich verhaften zu lassen?« »So ungefähr.« -188-
Rall blickte Maximo in die Augen. »Ich glaube nicht, dass Ihnen Ihre La ge behagt.« »Schon möglich. Haben Sie die Ihre richtig eingeschätzt?« »Eine Maus, die brüllt.« Rall schob seinen Stuhl zurück, stand auf und ging. Maximo blieb sitzen und dachte nach. Eine halbe Stunde später verließ er ebenfalls das Restaurant, die rechte Hand um den Pistolengriff in seiner Hosentasche gelegt. Ohne nach rechts oder links zu sehen, folgte er zielstrebig den Verkehrsstraßen. Er überquerte die Limmat und näherte sich dem Hauptbahnhof, der hell erleuchtet und mit Studenten bevölkert war, die Semesterferien hatten und mit Rucksäcken unterwegs waren. Für Maximo Sedano bestand kein Zweifel mehr daran, dass Rall wirklich ein Killer war. Er wusste nur das über ihn, was der Deutsche ihm gesagt hatte, aber er kannte Alejo Vargas. Die Liste der Feinde Castros, die im Laufe der Jahre verschwunden waren, war lang genug, um jeden davon zu überzeugen, dass es nicht der Gesundheit förderlich war, sich Vargas' Feindschaft zuzuziehen. Maximo schlenderte weiter durch den Bahnhof. Dann hörte er die Schritte hinter sich. Ein paar Studenten sahen flüchtig zu ihm auf und warfen seinem Verfolger einen kurzen Blick zu. Es musste Rall sein. Was, wenn es irgendein anderer war? Was, wenn Rall einen Partner hatte? Sollte er es mit zwei Männern zu tun haben, war er verloren. Er setzte alles darauf, dass er nur von einem Mann verfolgt wurde, von einem Mann, der ihn für einen unfähigen Feigling hielt. Nun gut, er war ein Feigling. Er hatte sich nie auf seine -189-
Geistesgegenwart verlassen oder sich einer körperlichen Bedrohung erwehren müssen. Die Angst, die er verspürte, war ihm zweifellos anzusehen. Er schwitzte gewaltig, jeder Herzschlag ließ seine Schläfen pochen, sein Atem ging keuchend, schnell und abgehackt. Maximo betrat einen langen, schmuddeligen Gang und folgte den Wegweisern zur Herrentoilette. Es war niemand zu sehen. Die Schritte folgten ihm hartnäckig. Sein Verfolger hatte es nicht eilig, und er gab sich keine Mühe, leise aufzutreten. Im krassen Gegensatz zu Maximo Sedano war er selbstsicher und gelassen, Herr der Situation. Nur mit Mühe konnte Maximo sich davon abhalten, loszurennen und einen Blick über die Schulter zu werfen, um sich zu überzeugen, wer es war, der ihm folgte. Die Zeit schien sich immer mehr zu verlangsamen. Er nahm alles um sich herum mit übernatürlicher Deutlichkeit wahr, die Geräusche, die Menschen, den schmutzigen Fußboden, die verblasste Wandfarbe, den Geruch von altem Urin und Exkrementen, der ihm beim Betreten der Toilette entgegenschlug. Der Raum war leer, keine der Toilettenkabinen besetzt. Maximo ging bis zur Rückwand, drehte sich um und behielt die Tür im Auge, die rechte Hand in der Tasche. Er umklammerte die Pistole mit festem Griff, den Zeigefinger am Abzug. Rall trat ein und blieb mehrere Schritte vor ihm stehen. »Sieh an, sieh an. So trifft man sich wieder.« Der kubanische Finanzminister schwieg und schluckte nur mehrmals. »Wollen Sie vielleicht irgendwohin verreisen? Halte ich Sie auf?« Maximo biss sich auf die Zunge. -190-
»Was haben Sie da in der Tasche, kleiner Mann?« Mit schwitzenden Fingern hob Maximo den Lauf der Pistole. Der Stoff seiner Hose beulte sich aus. Rall grinste. Trotz des Lichtes, das von der nackten Glühbirne an der Decke fiel, lag seine untere Gesichtshälfte im Schatten, so dass sein Grinsen wie das eines Totenschädels wirkte. Er griff in seine Jacke, zog eine Pistole hervor und richtete sie auf den Kubaner. »Wenn Sie mich erschießen wollen, kleiner Mann, dann nur zu. Tun Sie es.« Maximos Augen brannten. Er schüttelte den Kopf, damit ihm nicht noch mehr Schweiß in die Augen lief. Rall kam langsam ein paar Schritte näher. »Nehmen Sie die Hand aus der Tasche.« Der Deutsche hob den Lauf seiner Waffe und zielte auf Maximos Gesicht. »Wenn Sie nicht tun, was ich sage, werde ich Sie mit dem größten Vergnügen abknallen.« »Alle würden den Schuss hören«, krächzte Maximo schrill, gehorchte aber trotzdem und hob automatisch beide Hände in Schulterhöhe. Rall näherte sich ihm weiter, bis die Glühbirne hinter ihm hing und der Schatten seine Augenpartie verschluckte, so dass Maximo nicht mehr erkennen konnte, wohin der Killer blickte. Der Deutsche blieb vor ihm stehen, schlug ihm mit der linken Hand ins Gesicht und tastete über Maximos rechte Hosentasche. Aus dieser kurzen Entfernung konnte Maximo Ralls Augen wieder sehen. Mittlerweile hatte er die Hände über dem Kopf zusammengelegt. »Eine Pistole!«, stieß der Deutsche mit einem Anflug von Überraschung hervor. Er schob die linke Hand in Maximos Hosentasche, um die Waffe herauszuziehen. Dabei richtete er den Blick kurz nach unten. -191-
Maximo zerrte den Eispickel, den er mit dem Griff unter seine Armbanduhr geklemmt hatte, mit der rechten Hand aus seinem linken Jackenärmel hervor, ließ ihn mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung herumschwingen und schlug Rall die Spitze mit aller Wucht bis zum Anschlag in die Schläfe. Der Deutsche brach zusammen. Da Maximo den Griff weiter fest umklammert hielt, löste sich der schimmernde runde Dorn aus der winzigen Wunde rund zwei Zentimeter oberhalb von Ralls linkem Ohr. Maximo kniete sich nieder und hob seine Pistole auf, die Rall fallen gelassen hatte. Der Auftragskiller hielt seine eigene Waffe immer noch mit allmählich kraftlos werdenden Fingern fest. Es sickerte kaum Blut aus dem Loch in seiner Schläfe. Rall versuchte, den Blick auf Maximo zu richten. Sein Körper streckte sich etwas, seine Hand krallte sich in einem unkontrollierten Reflex um den Pistolengriff und erschlaffte schließlich. Er stöhnte, sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Maximo atmete tief ein und stoßartig wieder aus. Er wischte sich den Schweiß aus der Stirn, der ihm in Strömen über das Gesicht floss; sein Hemd war klatschnass. Dann straffte er die Schultern und verließ die Toilette, ohne den auf dem Boden liegenden Mann eines weiteren Blickes zu würdigen. Auf dem Weg zum Hauptwartesaal kamen ihm zwei Studenten mit Rucksäcken entgegen; er vermied jeglichen Blickkontakt, und auch die jungen Männer schienen ihm keinerlei Beachtung zu schenken. Mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten durchquerte er die Bahnhofshalle und tauchte im nächtlichen Zürich unter.
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9 William Henry Chance saß im Heck des Lieferwagens und hörte sich den Mitschnitt des Gesprächs zwischen Vargas und seinen Generälen an. Normalerweise galt dieses Abhörsystem als zuverlässig. Hin und wieder war ein Wort oder ein Satzteil undeutlich oder unverständlich, Mängel, wie sie bei jeder Abhörtechnik auftraten, zum Beispiel wenn die Leute murmelten, mehrere gleichzeitig sprachen, die Köpfe in die falsche Richtung drehten oder beim Sprechen rauchten. Doch an diesem Abend verstand er nur einzelne Wörter. Er konzentrierte sich. Halbsätze, gelegentlich ein deutliches Wort, eine Menge unverständlicher Geräusche… »Ist das das Beste, was wir aus der Aufzeichnung rausholen können?« »Der Himmel war bewölkt, und das Fenster lag im Schatten, weil die Abenddämmerung hereinbrach.« »Was ist mit dem Laser?« Wenn die Kristalle mit einem Laser im nicht sichtbaren Lichtspektrum beschossen wurden, konnten die Schwingungen mit den hochauflösenden Beobachtungsgeräten aus der gängigen Entfernung aufgezeichnet werden. Das Problem bestand allerdings darin, den Laser nahe genug an die Kristalle heranzubringen. Da die maximale Reichweite weniger als hundert Meter betrug, hätte der Wagen buchstäblich vor dem Eingang des Gebäudes parken müssen. »Wir wollten das Risiko nicht ohne Ihre Genehmigung eingehen.« Ja, ja, das Risiko. Die Ausrüstung war auf dem Seeweg nach Kuba geschafft worden. Auf dem gleichen Weg waren die vier Techniker - mexikanischer oder kubanischer Herkunft - ins -193-
Land gekommen. Miguelito, Sohn von Wanderarbeitern, stammte aus Südtexas und hatte erst kurz vor seinem zwanzigsten Lebensjahr Englisch gelernt. Er hatte die Gespräche aufgezeichnet und abgehört, nachdem die Signale vom Computer bearbeitet und in Sprache übersetzt worden waren. »Was meinen Sie, Miguelito?«, fragte Chance. Sein Spanisch war hervorragend, das Ergebnis einer monatelangen intensiven Schulung, aber er würde es nie so gut wie jemand verstehen, dessen Muttersprache es war. »Das ist schwer zu sagen«, erwiderte Miguelito nach längerem Zö gern. »Ich höre Redewendungen, Satzfetzen, vereinzelte Wörter und setze dann alles im Kopf zu etwas zusammen, das vielleicht nicht wirklich so gesagt worden ist. Verstehen Sie?« Chance nickte. »Was ich höre, ist ein Gespräch über biologische Waffen in Guantánamo Bay.« »Sie meinen den Einsatz von biologischen Waffen gegen Guantánamo Bay?« »Möglicherweise. Aber ich hatte eher den Eindruck, dass die Waffen bereits dort waren.« »Castro. Haben sie über Castro gesprochen?« »Sein Name ist erwähnt worden. Er lässt sich leicht heraushören. Ich glaube, ich habe ihn gehört.« »Lebt er noch?« »Ich weiß es nicht«, sagte Miguelito bedauernd, als müsste er sich dafür entschuldigen. »Biologische Waffen innerhalb der US-Einrichtung, das ist unmöglich. Die Burschen müssen vorhaben, sie gegen die Leute dort einzusetzen.« Miguelito antwortete nicht. -194-
»Ich sollte mir das lieber selbst anhören«, murmelte Chance. »Ich werde Ihnen die besten Stellen vorspielen«, schlug ihm Miguelito vor. »Geben Sie mir einen Moment.« Er hantierte an den Geräten herum; etwa eine Minute später deutete er mit einem Nicken an, dass er fertig war. Chance und Carmellini setzten sich Kopfhörer auf. Geräusche. Sie hörten Rauschen und undeutliche Stimmen, größtenteils aber computergenerierte Geräusche, der erfolglose Versuch des Rechners, das mit den hochauflösenden Beobachtungsgeräten aufgefangene Lichtflackern in sinnvolle Laute umzuwandeln. Hier und da klangen ein oder zwei spanische Wörter auf. »Guantánamo… Angriff…« Einmal glaubte Chance, das Wort »biologisch« verstanden zu haben, aber ganz sicher war er sich auch da nicht. Schließlich streifte er den Kopfhörer wieder ab. Miguelito folgte seinem Beispiel. »Vielleicht reden sie von möglichen Zielen für den Fall, dass es zu Kampfhandlungen kommen sollte«, meinte Carmellini. »Es würde ja schon reichen, das Zeug einfach in die Luft zu sprühen, wenn der Wind in die Richtung des Stützpunktes weht, um alle Leute dort umzubringen.« Chance schnitt eine Grimasse. Was er hier in den Händen hielt, war rein gar nichts. Er benötigte etwas Konkreteres, bevor er sich via Satellit mit Washington in Verbindung setzte. »Sie haben sich ausgiebig über politische Fragen unterhalten, über Personen und Bezirke, die sie unterstützen und so weiter«, sagte Miguelito. »Die Qualität dieses Teils ist auch nicht viel besser als der Ausschnitt, den Sie bisher gehört haben, obwohl das noch vor Sonnenuntergang war, aber ich hatte den Eindruck, dass Vargas von Delgado und Alba erwartet, sich von Raúl Castro oder den Sedanos loszusagen und sich auf seine Seite zu schlagen.« »Hmmm…«, brummte William Henry Chance. Er versuchte, -195-
sich auf Miguelitos Worte zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Die biologischen Waffen gingen ihm einfach nicht aus dem Sinn. Er rief sich Vargas' Gesicht ins Gedächtnis zurück, erinnerte sich, wie der kubanische Innenminister ihn angesehen hatte, als das Gespräch auf einen kubanischamerikanischen Tabakkonzern gekommen war. Das markante, fleischige Gesicht war maskenhaft gewesen und hatte nichts über die Gedanken seines Besitzers verraten. Dieses Pokerface… das war der beherrschende Eindruck, den Chance mit Vargas verband. Der Mann hatte einen Ruf, er war die Verkörperung rücksichtsloser Effizienz, ein Bastard, der Schädel einschlug, Kehlen aufschlitzte und Antworten aus Leuten herauspresste, die fest entschlossen waren, nicht zu reden. Jede Diktatur brauchte ein paar Soziopathen dieses Kalibers in hohen Positionen. Andererseits konnte Vargas subtil und aalglatt sein, wenn es die Situation erforderte. Und er war auch noch nicht seinen Gelüsten und der völligen Korruption erlegen, die absolute Macht zwangsläufig mit sich bringt. Jedenfalls bis jetzt noch nicht. Ja, Alejo Vargas war ein verdammt gefährlicher Mann, ein Mann, der offensichtlich über den erforderlichen Verstand und das Organisationstalent verfügte, um sich biologische Waffen zu besorgen. Und er war brutal genug, diese Waffen auch einzusetzen. Möglicherweise hatte El Gato den Kubanern das Material beschafft, mit dem sie Bakterien- und Virenkulturen herstellen konnten, aber noch gab es keine schlüssigen Beweise, dass sie dies bereits getan hatten. Dieser quälende Begriff »biologisch«. Warum sollten der Innenminister und die Befehlshaber des kubanischen Heers sowie der Marine dieses Wort benutzen, wenn sie nicht über Waffen sprachen? Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, -196-
dass sie sich nicht über die sanitären Einrichtungen in den Kasernen oder die hygienischen Zustände in den Kantinen unterhalten hatten. Sollte es tatsächlich ein biologisches Waffenprogramm der Kubaner geben, überlegte Chance, würden sich die Beweise am ehesten im Ministerium selbst finden lassen, im Hauptquartier der Geheimpolizei. Dort musste es Papiere geben, Unterlagen, Befehle, Korrespondenz… irgendetwas Verwertbares! Niemand konnte ein ernsthaftes Projekt dieser Art ohne schriftliche Unterlagen durchführen, nicht einmal Vargas. Die Beweise sind in diesem Gebäude, sagte er sich. Nachdem Fidel an dem Gift gestorben war, das sie ihm gegeben hatte, war Mercedes von Vargas und Santana in ihrem Schlafzimmer eingesperrt worden. Was ihr völlig egal war; sie kroch unter die Decke und rollte sich in ihrem Bett zusammen. Die Stille und das nachmittägliche Zwielicht waren irgendwie tröstlich. Erstaunlicherweise weinte sie nicht einmal. Fidel hatte schon seit Monaten im Sterben gelegen, deshalb war sie froh, dass er am Ende seiner Reise angekommen war, am Ende der Schmerzen. In der Stille hörte sie das Geräusch ihres Atems, das Schlagen ihres Herzens, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, das Summen eines Insekts, dumpfe Schritte in der Ferne, das Schlagen von Türen - die alltäglichen Geräusche, die Menschen verursachten. Hoch oben an der Zimmerwand entdeckte sie einen Gecko, reglos bis auf das Heben und Senken seiner Flanken, die sich gerade stark genug bewegten, um es in dem gedämpften Licht, das durch die Vorhänge fiel, erkennen zu können. Das kleine Reptil schien sie zu beobachten. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass es nach Fliegen Ausschau hielt, so wie es das -197-
jeden Tag tat, so wie es seine Vorfahren seit Anbeginn der Zeiten getan hatten und es seine Nachkommen tun würden, bis sich die Sonne in einer fernen Zukunft aufblähte und die Erde zu einem Haufen Schlacke verbrannte. Danach, so hieß es, würde die Sonne vollständig erlöschen und die Erde - falls sie dann noch existierte - für alle Ewigkeit durch das Universum treiben, ein kalter, lebloser Felsbrocken, der sich ziellos um sich selbst drehte. Bis zu diesem Tag würden Geckos an den Wänden kleben und von Gott mit Fliegen versorgt werden. Erstaunlich, doch das war der Lauf der Dinge. Sie fragte sich, wie es Hector ging, ob man ihn finden und verhaften oder sogar ermorden und dann irgendwo in einem anonymen Grab verscharren würde. Weiß Gott, sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, um ihn zu warnen. Vielleicht hatte er nicht gewarnt werden wollen, vielleicht wusste er, dass die Aufgabe, die ihm bevorstand, unmöglich zu bewältigen war. Vielleicht glaubte er tatsächlich diesen ganzen jesuitischen Müll, und es scherte ihn nicht, ob er überlebte oder starb. Höchstwahrscheinlich war es so. Je mehr man begriff, wie das Leben funktionierte, welche Kompromisse man eingehen musste, um von einem Tag zum nächsten zu gelangen, desto deutlicher erkannte man die Sinnlosigkeit des Ganzen. Das war die Wahrheit. Menschen wurden geboren, lebten und starben, Regierungen entstanden und stürzten, Gerechtigkeit wurde gewährt oder verweigert, Korruption triumphierte oder scheiterte, letztendlich spielte alles keine Rolle. Die Welt drehte sich um die Sonne, das Leben ging weiter… Wenn wir aus der Erinnerung der Menschen verschwinden, verlöschen wir. Dann sind wir wahrhaftig fort, als hätte es uns nie gegeben. Mercedes schleuderte die Decke von sich, setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Sie dachte wieder an Fidel, und -198-
schließlich ließ sie ihn los. Danach blieb ihr nichts außer dem Zwielicht, während die Abenddämmerung hereinbrach und sich Dunkelheit im Zimmer ausbreitete. Toad Tarkington wartete auf dem Flugdeck der United States neben der V-22 Osprey auf Jake Grafton. Die Osprey war ein einzigartiges Flugzeug. An den Enden ihrer Tragflächen befand sich jeweils ein Turboprop-Triebwerk. Momentan waren die Motoren vertikal nach oben geschwenkt, so dass die gut zwölf Meter messenden Propeller wie die Rotorblätter eines Helikopters fungieren würden. Die Maschine konnte wahlweise senkrecht wie ein Hubschrauber oder nach einer kurzen Rollstrecke wie ein Flugzeug starten. Sobald sie abgehoben hatte, ging der Pilot schrittweise in den Vorwärtsflug über, indem er die Motoren in eine horizontale Position schwenkte. Dann fungierten die gigantischen Rotoren wie konventionelle, wenn auch außergewöhnlich große Propeller. Gleichermaßen konnte die Osprey senkrecht landen oder mit einer sehr kurzen Rollbahn auskommen. Als Kreuzung zwischen einem Hubschrauber und einer Turboprop-Transportermaschine verfügte die extrem vielseitige Osprey über enorme Hubkapazitäten und erreichte eine Reisegeschwindigkeit von rund 250 Knoten, was sie jedem konventionellen Hubschrauber weit überlegen machte. Jake Grafton nahm sich einige Sekunden Zeit, das Flugzeug zu betrachten. Da die Triebwerke an den äußersten Flügelspitzen angebracht waren - das erforderten die Abmessungen der Rotoren -, konnte sich das Flugzeug nicht in der Luft halten, wenn eins der Rotorengetriebe ausfiel. Allerdings blieb es auch mit nur einem funktionierenden Motor flugfähig, solange die Kurbelwelle, die die Getriebe beider Rotoren miteinander verband, intakt war. Ein weiterer Faktor bei den ohnehin schon extrem -199-
komplizierten Systemen der Osprey war die Anforderung, dass sich Tragflächen und Rotoren zusammenklappen lassen mussten, damit das Flugzeug an Bord eines Schiffes verstaut werden konnte. Der Übergang zwischen Schwebe- und Horizontalflug ließ sich nur durch die Unterstützung von Computern bewältigen. Komplexe Steuerinstrumente, komplexe Systeme - Jake sah in der Maschine einen fliegenden Beitrag zum Einfallsreichtum der menschlichen Spezies. Es versprach ein herrlicher Abend zu werden. Der Himmel klärte sich auf, die Sicht war gut. Die tief über dem Horizont stehende Sonne ließ die im Wind wogende See glitzern. Jake atmete tief durch, bestieg die Osprey und setzte sich ein Standard-Headset auf, um mit der Flugcrew sprechen zu können. »'lo, Admiral.« »Hallo, Rita. Wie geht es Ihnen?« »Bereit zum Rock 'n' Roll, Sir. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie angeschnallt sind.« »Bin ich.« Jake lehnte sich zurück und sah zu, wie Toad und der Copilot ihre Gurte festzurrten. Da sie kaum beladen war, katapultierte sich die Osprey regelrecht in den steifen Wind hinein, der über das Flugdeck blies. Rita schwenkte die Motoren sofort in die HorizontalPosition. Die Maschine beschleunigte schnell, nachdem sich die gigantischen Rotoren in Propeller verwandelt hatten und die Tragflächen den nötigen Auftrieb lieferten, um die Osprey in der Luft zu halten. Eine Stunde später landete Rita Moravia senkrecht auf einem Pier in Guantánamo zwischen zwei Laternenmasten. Mittlerweile war die Sonne untergegangen, und die Hafenanlage wurde von Flutlicht erhellt. Ein Lieutenant Colonel der Marines erwartete sie. Er hatte das -200-
übliche kurz geschorene Haar, dunkel gebräunte Haut, das obligatorische kantige Kinn, und er erweckte den Eindruck, als würde er jeden Tag mehrere Stunden lang schwere Gewichte stemmen. »Ein weiterer Flüchtling vom Mr.-Universe-Wettbewerb«, murmelte Toad gerade laut genug, dass Jake ihn verstehen konnte, als sie sich dem bulligen Mann näherten. »Wer es beim Bodybuilding zu nichts bringt, kann immer noch zu den Marines gehen.« »Behalten Sie das für sich, Toad.« Der Lieutenant Colonel salutierte zackig. »Ich stationiere eine Kompanie um die Lagerhalle herum, Admiral. Wir gehen gerade in Stellung.« »Ausgezeichnet«, sagte Jake Grafton. »Ich habe Ihnen eine Luftaufnahme mitgebracht, die heute Nachmittag gemacht worden ist.« Toad zog das Foto aus einer Mappe und reichte es dem Marine. »Wenn Sie mir bitte zeigen würden, wo Sie Ihre Leute postieren.« »Jawohl, Sir.« Lieutenant Colonel Eckhardt, der Kommandant der Landungstruppe, nahm das Foto entgegen und deutete auf die entsprechenden Stellen. »Mein Plan sieht vor, potenzielle Angreifer auf die beiden freien Abschnitte zu locken, die von diesen Straßen hier gebildet werden, und sie dort auszuschalten.« »Wie sind Ihre Alternativen?« Sie diskutierten über Ausweichmöglichkeiten und Eckhardts Absicht, einen Zug Marines zwischen verschiedenen Lagerhallen aufzuteilen und als Reserveeinsatzkräfte zu verwenden. »Ich denke, das wird eine sehr realistische Übung werden, Sir«, beendete der Colonel seine Ausführungen. »Ich habe sogar Munition an die Männer ausgeben lassen, obwohl sie natürlich angewiesen worden sind, ihre Waffen nicht zu laden.« »Colonel Eckhardt, das ist keine Übung.« -201-
»Sir?« »Diese Lagerhalle, Halle neun, enthält CBW-Gefechtsköpfe. Sie werden auf den Frachter dort drüben verladen, genau wie es während der letzten Tage mit dem anderen Schiff geschehen ist, das Kurs auf die Vereinigten Staaten genommen hat, wo die Gefechtsköpfe zerstört werden sollen. Das erste Schiff mit den verdammten Dingern an Bord ist verschwunden. Wir suchen es jetzt. Ich habe keine Ahnung, was zum Teufel es mit dieser ganzen Sache auf sich hat, und deshalb will ich Ihre Leute für alle Fälle hier stationiert haben.« »Mit welcher Art von Bedrohung haben wir es zu tun, Sir?« »Das weiß ich nicht.« Jake sah, dass Eckhardt Mühe hatte, seinen stoischen Gesichtsausdruck zu bewahren. »Sollten die Kubaner oder wer auch immer sonst über die Grenzzäune steigen, unter ihnen durchkriechen, um sie herumkommen oder sie durchbrechen, eröffnen Sie das Feuer.« »Jawohl, Sir«, sagte Eckhardt. »Weisen Sie Ihre Leute an, die Waffen zu laden, Colonel. Sie werden sich und dieses Gebäude verteidigen. Keine Warnschüsse, schießen Sie sofort gezielt.« »Falls wir angegriffen werden, Sir, mit welcher Vo rwarnzeit können wir Ihrer Meinung nach rechnen?« »Auch das weiß ich nicht. Vielleicht Tage, vielleicht Stunden, vielleicht überhaupt keine Zeit.« »Je früher wir gewarnt werden, desto weniger Männer werde ich verlieren.« »Ich werde das nach Washington weiterleiten, Colonel. Wenn ich höre, dass irgendetwas passiert, melde ich mich innerhalb von Sekunden bei Ihnen. Das ist alles, was ich für Sie tun kann.« »Jawohl, Sir.« »Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, Colonel, ich erwarte, dass dieses La gerhaus verteidigt wird, bis -202-
Sie Verstärkung erhalten oder der letzte Marine tot ist.« Diesmal schwieg Eckhardt. Toad Tarkingtons verkniffene Miene wurde sanfter, denn Eckhardt hätte ja auch so etwas sagen können wie: »Ein Marine ergibt sich niemals« oder ähnlichen Mist, aber er verzichtete darauf. Allmählich wurde er Toad sympathisch. »Was auch immer Sie von mir brauchen«, fuhr Jake Grafton fort, »verlangen Sie es einfach. Mein Kampfverband und der Stützpunkt-Kommandant werden Sie mit allem unterstützen, was wir aufbieten können. Der Kreuzer wird Ihnen Artillerieunterstützung geben. Ich möchte, dass Sie sich in den nächsten ein oder zwei Stunden mit der Kreuzerbesatzung abstimmen. Sorgen Sie dafür, dass die Verbindung steht und Sie feuerbereit sind.« »Jawohl, Sir.« »Was eine Frage aufwirft. Wie ich sehe, schichten Ihre Leute Sandsäcke auf.« »Ja, Sir. Wir versuchen, einige Stellungen abzusichern und zu befestigen.« »Besorgen Sie sich Spitzhacken aus dem Stützpunkt. Schicken Sie ein paar Männer los, bringen Sie in Erfahrung, wo das Werkzeug gelagert wird, heben Sie Schützengräben aus. Brechen Sie den Beton mit Presslufthämmern auf. Bis zur Morgendämmerung möchte ich Ihre Leute bis zu den Augen eingebuddelt sehen.« Dieser Befehl mochte die Anweisung »Dienst nach Vorschrift« zu leisten arg strapazieren, aber darüber machte sich Jake keine Sorgen. Frachter mit Waffen an Bord verschwanden normalerweise nicht einfach von der Bildfläche. »Yessir.« »Was werden Sie tun, wenn die Kubaner Panzer durch die Absperrungen schicken?« -203-
»Sie haben nur alte sowjetische T-54, glaube ich«, sagte Lieutenant Colonel Eckhardt. »Wir werden sie in diese beiden offenen Streifen drängen« - er deutete auf die Luftaufnahme »und sie dort ausschalten, die Mannschaften in ihren Panzern einäschern.« »Okay. Heben Sie so viele Panzergräben aus, wie Sie wollen, sobald Ihre Leute sich eingegraben haben. Sie haben freie Hand, Colonel.« »Niemand gelangt in diese Lagerhalle, Sir.« »Schön. Wir werden Ihnen die kubanische Marine vom Hals halten und Ihnen Luftunterstützung geben. Der Kreuzer übernimmt die Artillerie. Melden Sie sich bei uns, wenn Sie irgendetwas Verdächtiges sehen oder hören.« Toad übergab dem Colonel eine Liste mit Funkfrequenzen. Danach diskutierten sie einige Minuten lang Fragen der Kommunikation. Jake nutzte die Gelegenheit, sich zu entfernen und die Lagerhalle von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Er stand neben sechs großen Gabelstaplern vor der Hauptladerampe, als Toad und Eckhardt sich zu ihm gesellten. »Schneiden Sie diese Gabelstapler nicht vom Kai ab, wenn Sie den Beton aufreißen«, mahnte er. »Natürlich nicht.« »Und noch etwas anderes. Sie sollten besser die MOPPAnzüge auspacken und griffbereit neben jedem Mann deponieren.« MOPP war das Kürzel für »mission oriented protective posture« - missionsbedingte Schutzmaßnahmen -, ein Begriff, den sich Karriere-Bürokraten ausgedacht hatten, um die wahre Natur von Schutzanzügen zu verschleiern, die im Fall der Kriegsführung mit biologischchemischen Waffen zum Einsatz kamen. Der Colonel setzte zu einer Bemerkung über die Anzüge an, -204-
entschied dann aber, das Thema auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen unterhielt er sich noch einige Minuten lang mit den beiden Offizieren über diverse Probleme, die den Einsatz seiner Truppe betrafen. So wo llte er zusätzlich zu den bereits beschlossenen Maßnahmen Männer auf den Dächern aller Lagerhallen stationieren. Nachdem Jake und Toad sich verabschiedet hatten und zu der wartenden Osprey zurückkehrten, wandte sich Lieutenant Colonel Eckhardt der Lagerhalle Nummer neun zu und kratzte sich am Kopf. Er glaubte nicht eine Sekunde lang daran, dass das Gebäude tatsächlich chemische und biologische Waffen beherbergte. Ein entführtes Frachtschiff? Der Colonel verzog das Gesicht. Er diente lange genug im Corps, um zu wissen, wie die Navy funktionierte. Dies war nichts anderes als eine weitere Bereitschaftsübung, aber der Admiral war nicht höflich oder anständig genug, es zuzugeben. »Kneifen wir also den Arsch zusammen«, knurrte Eckhardt. MOPP-Anzüge in der kubanischen Sommerhitze! Großartig! »Kuba muss lernen, mit dem Elefanten zu leben«, verkündete Hector Sedano den Lehrern und Verwaltungsangestellten. »Unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten war schon immer der entscheidende Faktor in unserer Geschichte, und es wird der Schlüssel für unsere Zukunft sein. Jede kubanische Regierung, die hofft, die Lebensumstände des kubanischen Volkes verbessern zu können, muss sich mit den Realitäten abfinden, die der Koloss neunzig Meilen nördlich von uns darstellt.« Das war der Kernpunkt seiner Botschaft, schlicht und einfach. Er hatte diese Rede schon sehr häufig gehalten, und er hoffte, dass die Botschaft ankam. Dabei achtete er sorgsam darauf, weder Fidel Castro noch dessen Regierung zu kritisieren, denn -205-
er wusste, dass das der Gipfel der Torheit gewesen wäre. Ebenso gut hätte er die Tür zu seiner Gefängniszelle selbst aufschließen können. Die meisten Leute in diesem Raum waren Lehrer, einige davon Agenten der Geheimpolizei. Kuba war eine Diktatur, daran gab es nichts zu rütteln. Genauso wenig wie daran, dass die Insel eine Nation war. Trotzdem, er sprach über die Zukunft, über eine Zeit, in der sich die Dinge ändern mochten, eine Zukunft, der sich Kuba irgendwann stellen musste. Jeder der Anwesenden begriff das, einschließlich der Geheimpolizisten, und so regte sich nirgendwo Widerspruch. Hector Sedano fuhr fort, sprach über Ausbildung, Arbeitsplätze, Investitionen und Möglichkeiten, über die Eckpfeiler eines menschenwürdigen Lebens. Nachdem er geendet hatte, setzte er sich hin - unter donnerndem Applaus. Er nahm an, dass die Reaktion seiner Zuhörer nicht so sehr seiner Botschaft galt, die wirklich nicht so neu, aufregend oder interessant war, sondern vielmehr der Tatsache, dass er als Privatperson offen über sensible politische Themen sprach. Das war es, was die Leute als äußerst bemerkenswert empfanden. Sie waren aufgestanden, applaudierten, drängten sich vor, um ihn anzufassen, ihm zu danken oder ihn zu segnen, zwängten sich zwischen den anderen hindurch, um seine Kleidung, seine Hände, sein Haar zu berühren. Später saß er mit einer Traube von Leuten zusammen, die auf seiner Seite stehen wollten, wenn der ersehnte Tag kam, und unterhielt sich vertraulich mit ihnen. Jetzt war er offener, sprach konkretere Punkte an, achtete aber trotzdem darauf, sich nach wie vor nicht direkt gegen die Regierung zu äußern oder Fidel Castro zu kritisieren. Tief in seinem Herzen wusste er, dass Castro klar sein musste, was er zu sagen hatte, dass Fidel die Botschaft des Priesters fast genauso gut verstand wie Hector selbst. Was auch immer die Regierung wusste, das wusste auch Fidel, denn er war die -206-
Regierung. Trotzdem ließ er ihn gewähren. Das war das Erstaunliche, und Hector hatte eine Theorie darüber, woran dies liegen mochte. Als junger Revolut ionär hatte Fidel im Gefängnis ein politisches Traktat zur Verteidigung der kubanischen Revolution geschrieben, das zu ihrem Manifest geworden war. Er gab ihm den Titel »Die Geschichte wird mich freisprechen«. Darin definierte er »das Volk« als »die riesigen betrogenen Massen, denen jeder Versprechungen macht und die von allen getäuscht werden«. Vielleicht, dachte Hector, sehnte sich Castro immer noch danach, dass seine Nachfolger ihm vergeben würden. Vielleicht dachte er selbst jetzt noch an »das Volk«, an die Versprechungen, die er gemacht hatte - und an die Realität, die daraus geworden war. Als Hector die Schule verließ und mit zweien seiner Freunde, die ihn während seiner Vorträge begleiteten, auf dem Rückweg zu dem gemieteten Wagen war, sah er sich plötzlich von gut gekleideten Männern umringt, offensichtlich keine hiesigen Arbeiter. »Hector Sedano«, sagte einer von ihnen, »Sie sind verhaftet. Sie müssen mit uns kommen.« Es war, als hätte man ihn vor den Kopf geschlagen. »Was wird mir vorgeworfen?«, wollte er wissen. »Darüber dürfen wir keine Auskunft geben«, erwiderte der Mann. Er fasste Hector am Ellbogen und schob ihn zu einem Transporter mit Regierungskennzeichen. »Sie verhaften Sedano!«, rief irgendjemand, andere griffen den Ruf auf. Als die Mensche n von allen Seiten zusammenströmten und näher kamen, Drohungen und Schmähungen brüllten, stießen die gut gekleideten Männer Hector in den Wagen und zwängten sich selbst eilig hinein. Sekunden später fuhren sie auch schon los. -207-
Hector protestierte. Er habe nichts Unrechtes getan und werde wegen keines Verbrechens gesucht, sagte er. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, zeigte ihm seine Dienstmarke. »Sie sind verhaftet«, wiederholte er. »Wir haben unsere Befehle. Seien Sie jetzt still.« Der Wagen jagte durch die Straßen der Stadt und bog dann auf die Autobahn nach Havanna ein. Maximo Sedano war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Vargas' gedungenem Mörder einen Eispickel in den Schädel zu bohren, hatte so viel Adrenalin in ihm freigesetzt, dass er jetzt eigentlich hätte zusammenklappen müssen, aber der Gedanke an die dreiundfünfzig Millionen Dollar plus Zinsen hielt ihn hellwach. Das und die Angst, jederzeit Polizeisirenen aufheulen zu hören. Er lag in der Dunkelheit und lauschte. Hin und wieder klang in der Ferne das gedämpfte Wimmern einer Sirene auf. Voller Anspannung wartete er darauf, dass aus den einzelnen Sirenen ein ganzer Chor werden würde, dass ein Konvoi aus Polizeiautos vor seinem Hotel hielt, gefolgt von den stampfenden Fußschritten einer Horde Polizisten, die die Treppen heraufstürmten, um ihn zu verhaften. Jedes Jaulen der Sirenen in der Nacht ließ ihn zusammenzucken, auch wenn es ganz leise und sehr fern war und nie lauter zu werden schien. Wenn dann wieder völlige Stille einkehrte, vergnügte er sich damit, die Zinsen zu berechnen, die Castros Vermögen eingebracht haben musste. Seit rund sechs Monaten hatte er keinen Kontoauszug mehr gesehen. Gut, nehmen wir genau sechs Monate, dachte er, ein halbes Jahr. Der Zinssatz betrug 2,45 Prozent, die Einlage dreiundfünfzig Millionen Dollar… machte fast 650000 amerikanische Dollar. Ha! Allein von den Zinsen konnte er sich eine hübsche kleine -208-
Villa auf Ibiza kaufen. Natürlich durfte er auch Mallorca oder Menorca nicht ausschließen, bevor er nicht beide Inseln bereist, sich von den Verhältnissen vor Ort überzeugt und sich über das Immobilienangebot informiert hatte. Nein, auf keinen Fall. Er würde nacheinander alle Balearen-Inseln besuchen, einschließlich Formentera und Cabrera, in einheimischen Gasthäusern absteigen, einheimischen Wein trinken, Lamm-, Rind- und Fischgerichte der lokalen Küche essen, so zubereitet, wie sie die Einheimischen selbst schätzten… Ahh, sein Traum war in greifbare Nähe gerückt. Morgen. Schon in einigen wenigen Stunden. Sobald die Banken öffneten, würde er sofort diejenige mit der höchsten Einlage aufsuchen und das Überweisungsformular einreichen, danach zur nächsten und zum Schluss zu der mit dem geringsten Guthaben, das gerade einmal elf Millionen Dollar betrug. Maximo erhob sich, ging auf und ab, starrte eine Weile aus dem Fenster auf die Lichter der Stadt hinaus, die sein Vermögen verwahrte, und setzte seine ruhelose Wanderung fort. Er stand derart unter Druck, dass er glaubte, explodieren zu müssen. Nachdem er den Bahnhof verla ssen hatte, wäre er am liebsten zurück zum Hotel gerannt. Trotzdem hatte er sich Zeit gelassen, war gemächlich durch die Straßen geschlendert und auf einer der Brücken über der Limmat stehen geblieben, um die Enten zu füttern. In einem unbeobachteten Moment hatte er den Eispickel in den Fluss geworfen und sich dann auf den Rückweg zu seinem Hotel gemacht, so glücklich und erleichtert, dass er sich kaum hatte beherrschen können. Gegen vier Uhr morgens klang die Erregung allmählich ab, und er legte sich ins Bett; wenige Minuten später war er eingeschlafen. Als er erwachte, stand die Sonne bereits am Himmel. Aus dem Nachbarzimmer konnte er das Dröhnen eines Staubsaugers hören. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: kurz vor halb neun. Maximo duschte, rasierte sich, zog frische Kleidung an und packte seine Taschen. Er würde am -209-
Nachmittag noch einmal zurückkommen, sobald er die Bankgeschäfte erledigt hatte. Vielleicht erwischte er einen Nachtzug nach Barcelona, von wo aus er eine Fähre oder ein Flugzeug nach Palma nehmen konnte. Im Speisesaal des Hotels war ein Frühstücksbuffet aufgebaut. Maximo setzte sich kurz, aß ein Croissant und trank Kaffee dazu. So gestärkt, machte er sich mit der Aktentasche in der linken Hand und den von Fidel unterschriebenen Überweisungsformularen in der Innentasche seines Jacketts zu Fuß auf den Weg zur ersten Bank. Sie lag nur zwei Häuserblocks entfernt, ein riesiges Gebäude mit dicken Mauern und kleinen Fenstern, Hunderte von Jahren alt, in dessen Gewölben die Schätze vergangener Zeiten ruhten. Maximo Sedano sprach bei einem Angestellten vor und wurde in ein kleines fensterloses Büro geführt, wo ihn ein Mann mittleren Alters empfing, der eine grüne Sonnenbrille trug und passabel Spanisch sprach. Der kubanische Finanzminister gab ihm das Überweisungsformular und machte es sich in einem Sessel bequem, nachdem der Mann das Büro verlassen hatte. Es war still in der Bank. Die weitläufigen Holz- und Steinfußböden schienen alle Schritte zu verschlucken; es war, als wären die Menschen hier Eindringlinge, lediglich Besucher auf Zeit, die kamen und gingen, während die Bank selbst den Stürmen der Jahrhunderte trotzte, ein Monument der Macht des Kapitals. Fünf angenehme Minuten verstrichen, dann noch einmal fünf. Maximo hatte es nicht eilig. Für dreiundfünfzig Millionen Dollar war er bereit, eine Weile zu warten, selbst wenn es den ganzen Tag dauerte. Oder mehrere Tage. Schließlich hatte er schon ein ganzes Leben lang gewartet. Aber so lange würde es ja wohl nicht dauern. Der Angestellte musste jeden Augenblick -210-
zurückkommen. Was er auch tat. Er betrat das Büro, musterte Maximo mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck und gab ihm den Überweisungsauftrag mit der kaum wahrnehmbaren Andeutung einer Verbeugung zurück. »Ich bedaure, Señor, aber das Guthaben auf diesem Konto ist so gering, dass die Überweisung unmöglich ausgeführt werden kann.« Maximo glotzte ihn verständnislos an und schluckte mühsam. »Was haben Sie gesagt?« »Ich bedaure, Señor, aber hier muss ein Irrtum vorliegen.« »Nicht von meiner Seite«, erwiderte Maximo hitzig. Der Angestellte schenkte ihm ein dünnes professionelles Lächeln. »Die Unterlagen der Bank sind eindeutig und korrekt.« Er deutete auf das Formular. »Das Guthaben auf diesem Konto beläuft sich auf wenig mehr als tausend Dollar.« Maximo traute seinen Ohren nicht. »Wo ist das Geld geblieben?« »Aufgrund des Bankgeheimnisses ist meine Auskunftsbefugnis in diesen Dingen verständlicherweise sehr beschränkt.« Mit einem Satz sprang Maximo Sedano fast über den Tisch und packte den Mann am Revers. »Wo ist das Geld geblieben, Sie Idiot?«, brüllte er. »Irgendjemand mit der erforderlichen Autorisation hat eine Überweisung veranlasst, Señor. So viel ist offensichtlich. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Damit wand sich der Angestellte aus Maximos Griff. Dasselbe wiederholte sich in den beiden nächsten Banken, die Maximo aufsuchte. Die Konten waren leer, enthielten jeweils gerade ein paar Dollar mehr als die Mindesteinlage, die zur -211-
Führung eines Kontos erforderlich war. Das Entsetzen über seine Lage traf Maximo mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Nicht nur, dass es hier kein Geld für ihn gab, Alejo Vargas würde ihn umbringen, sobald er wieder kubanischen Boden betrat. In der letzten Bank erklärte er dem Angestellten, dass er mit Kuba telefonieren wolle, und er bat den Mann, mit der Person am anderen Ende der Leitung zu sprechen. Maximo erreichte Vargas zu Hause, noch bevor der Innenminister zu seinem Büro fuhr. Nachdem er ihm die Situation geschildert hatte, bat er den Angestellten, seine Ausführungen zu bestätigen. Der Mann weigerte sich, das Telefon auch nur zu berühren. »Das Bankgeheimnis ist in diesem Punkt sehr eindeutig«, sagte er selbstgefällig. Maximo verspürte das Bedürfnis, ihn zu erwürgen. Natürlich hatte Vargas den kurzen Wortwechsel mitgehört. »Hier gibt es kein Geld«, erklärte Maximo dem Chef der Geheimpolizei verzweifelt. »Irgendjemand hat es gestohlen.« »Sie Esel!«, zischte Vargas. »Sie haben es gestohlen. Sie sind der Finanzminister.« »Rufen Sie die anderen Banken an, Alejo!«, drängte Maximo. »Hier in Zürich. Ich gebe Ihnen die Namen der Banken und die jeweiligen Kontonummern durch. Hören Sie sich an, was die Banker zu sagen haben.« »Sie sind ein riesengroßer Esel, Sedano. Die Schweizer Banker werden mir nichts verraten. Deshalb wurde das Geld ja auch in der Schweiz deponiert, eben weil diese Bastarde niemandem ein Sterbenswörtchen verraten.« »Ich werde Sie von den Büros der Banken aus anrufen und die zuständigen Leute veranlassen, mit Ihnen zu sprechen.« »Haben Sie den Verstand verloren? Was für ein Spiel treiben -212-
Sie da?« Es war eine albtraumhafte Szene. »Hätte ich das Geld, würde ich keinen Fuß mehr auf kubanischen Boden setzen, Vargas. Das wissen wir beide! Denken Sie doch nach! Ich habe das Geld nicht, deshalb fliege ich jetzt nach Hause.« Er wollte den Telefonhörer mit Wucht auf die Gabel knallen, verfehlte jedoch das Ziel, worauf der Hörer über den Tisch rutschte. Mit zitternden Fingern zog er ihn am Kabel zurück und legte ihn ordentlich auf. Der Bankangestellte betrachtete ihn mit professioneller Ruhe und Gelassenheit, ähnlich wie ein Bestattungsunternehmer, der einen zukünftigen Kunden anlächelt. Vielleicht haben die Banken Fidels Geld gestohlen, dachte Maximo. Diese schweizerischen Bastarde haben sich das Geld der Juden eingesteckt. Möglich, dass sie auch das von Castro behalten. Er wollte seine Gedanken gerade dem Angestellten mitteilen, der ihm am Tisch gegenübersaß, überlegte es sich dann aber anders. Wortlos ergriff er den Aktenkoffer mit der Pistole und verließ die Bank mit schleppenden Schritten. Der Wagen brachte Hector Sedano in die Festung La Cabana in Havanna und hielt auf einem dunklen Hof, wo bereits andere Männer warteten. Sie führten ihn durch lange Gänge und Stahltüren, die sich vor ihnen öffneten und sofort wieder hinter ihnen schlossen, bis sie vor einer offenen Zelle im Isolationstrakt des Gefängnisses anhielten. Dort nahmen sie ihm seine Kleidung, die Schuhe, die Uhr und alles ab, was er in den Taschen hatte. Als er völlig nackt war, reichte ihm einer der Männer einen einteiligen Overall. Hector zog ihn an und wurde in die Zelle gestoßen. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. -213-
Aus dem alltäglichen Leben inmitten anderer Menschen mit all ihren Stimmen, Sorgen und Nöten gerissen zu werden und sich unvermittelt in der krassen, abstoßenden Realität einer Gefängniszelle wiederzufinden, ist die schlimmste Vergewaltigung, die einem Menschen widerfahren kann. Hector Sedano war seiner Gegenwart und Zukunft beraubt worden, und alles, was ihm blieb, waren seine Erinnerungen an die Vergangenheit. Er war sich durchaus der Möglichkeit bewusst, dass man ihn körperlich misshandeln, foltern und umbringen konnte, je nach Laune desjenigen, der die Verhaftung angeordnet hatte. Schon immer waren Menschen in kubanischen Gefängnissen verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Plötzlich wurde ihm, der im Sinne der Jesuiten erzogen worden war, die Parallele zwischen seinem Schicksal und dem von Jesus Christus bewusst, der seine Kreuzigung erwartete. Und fast im gleichen Atemzug erinnerte er sich, dass auch Fidel Castro vor der Revolution ins Gefängnis gesperrt worden war. Vielleicht war das Gefängnis ein natürlicher Schritt auf dem Weg des Revolutionärs. Von dem alten Regime wegen der eigenen Überzeugungen inhaftiert zu werden, war zwangsläufig das Eingeständnis der Machthaber, dass die Überzeugungen, die man vertrat, gefährlich waren, und dass derjenige, der sie vertrat, ein ernst zu nehmender Feind war. Dadurch wurden Position und Ansehen des Verhafteten automatisch erhöht. Diese Gedanken wirbelten durch Hectors Kopf, als er ohne Decken auf seiner harten Pritsche hockte und seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Er bebte vor Wut, sprang auf, lief in seiner Zelle auf und ab und trommelte mit den Fäusten gegen die Wände, bis seine Hände wund waren. Irgendwann sank er erschöpft auf seine Pritsche und starrte in die Dunkelheit. Die Angel del Mar schwankte und schlingerte unkontrolliert -214-
in der Dünung. In allen Richtungen erstreckten sich die wogende See und der bewölkte Himmel bis zum Horizont. Mittlerweile war eine dichte Wolkenschicht heraufgezogen, der Wind frischte auf, und die Wellen wurden höher, kamen in kürzeren Intervallen. Die meisten Flüchtlinge lagen flach auf dem Bauch und klammerten sich an den Planken fest. Alle litten unter Wassermangel, einige mehr als andere. Ocho Sedano, der seit ihrer Abfahrt nur wenige Schlucke Wasser getrunken und sich erbarmungslos zu großen Kraftanstrengungen angetrieben hatte, war verzweifelt. Es kam ihm so vor, als wären seine Augen glühende Kohlen, als stünde seine Haut in Flammen, als wäre seine Zunge ein dicker Klumpen aus totem Fleisch in einem ausgetrockneten, rissigen Mund. Er schwitzte kaum noch. Von allen Symptomen machte ihm das die größte Angst; er wusste als Sportler schließlich, wie wichtig die Regulierung der Körpertemperatur war. Dora lag stumm im Schatten des Ruderhauses. Sie hatte sich ein oder zwei Male übergeben, ihr Kleid war mit Erbrochenem besudelt. Mittlerweile ging es ihr offenbar wieder etwas besser. Diego Coca, ihr Vater, lag neben ihr. Er war bei Bewusstsein, seine Augen schienen zu lodern, sein Mund war geschwollen und verunstaltet. Er hatte sich seit Stunden nicht mehr von der Stelle bewegt, damit ihm niemand seinen Platz im Schatten streitig machen konnte. Ocho hockte sich erschöpft neben Dora, ließ den Blick langsam und aufmerksam über die See wandern. O mein Gott. Es muss doch ein Schiff kommen! Ein Schiff oder ein kleines Boot - irgendjemand, der uns etwas zu essen und zu trinken gibt… Es muss Hunderte von Fischerbooten und Yachten in diesem Meer geben, Dutzende von Frachtern, Schmugglern, Patrouillen der amerikanischen Küstenwache, die Jagd auf Schmuggler und -215-
feindliche Kriegsschiffe machen… Wo, zum Teufel, sind sie bloß? Wo sind all diese gottverdammten Schiffe und Boote? Hin und wieder hörte er Düsenjäger, die über sie hinwegflogen, manchmal sah er einen der Jets unter der Wolkendecke dahinjagen, aber sie blieben stets in großer Höhe, verschwanden immer wieder im Dunst. Unter dem Mast saß eine alte weinende Frau. Es war diejenige, die um den Kapitän und einige der Menschen trauerte, die während der ersten Nacht über Bord gespült worden waren. Sie weinte lautlos, ihre Schultern zuckten, ihr Atem ging keuchend. Ocho wollte sie in die Arme schließen, sie trösten, doch gab es nichts, was er hätte sagen können. Sein Bruder Hector hätte die richtigen Worte für sie gefunden, ihm dagegen fiel nichts Passendes ein. Er betrachtete Dora voller Sehnsucht, Dora, die einmal so schön gewesen war, aber selbst für sie fand er keine tröstenden Worte. Nichts. All die Möglichkeiten, die das Leben bereithielt, und sie hatten sie alle für diese verrückte, aussichtslose Flucht weggeworfen. Diego hatte sie aufgestachelt, von ihnen verlangt, dass sie flohen, und noch immer wusste Ocho nicht, was er Diego sagen sollte. Er war so erschöpft, so lethargisch. Stundenlang hatte er gepumpt und gerade Schritt mit dem einströmenden Wasser halten können. Sollte es noch schneller eindringen… darüber wollte er erst gar nicht nachdenken. Dann würden sie alle sterben. Im offenen Meer hatten sie nicht die geringste Chance. Ocho sackte auf dem schaukelnden Deck zusammen. Er war so müde, dass er nur noch schlafen wollte, schlafen… Der alte Fischer rüttelte ihn wach. Die Sonne sank dem Horizont entgegen, das Boot schlingerte immer noch wild in der Dünung. -216-
»Ein Fisch…« Der Alte hielt seine Beute in die Höhe, fünfundvierzig bis fünfzig Zentimeter lang. »Keine Möglichkeit, ihn zu kochen. Wir müssen ihn roh essen. Um bei Kräften zu bleiben.« Mit schnellen Schnitten seines Messers löste er zwei blutende Filets und gab eins dem jüngeren Mann. Ocho schloss die Augen, biss in das rohe Fleisch und begann zu kauen. Irgendjemand packte ihn und zerrte an dem Filet. Ocho öffnete die Augen. Diego Coca stopfte sich gerade einen Fleischfetzen in den Mund. Der alte Mann trat ihn in die Magengrube, und als sich Diego zusammenkrümmte, zwang der Alte seine Kiefer auseinander und pulte ihm den noch unzerkauten Fetzen aus dem Mund. »Er bedient die Pumpe und sorgt dafür, dass wir nicht untergehen, du Hurensohn. Er muss essen, oder wir werden alle sterben.« Diego entwand dem Fischer das Messer und sprang ihn an. Er griff nach dem Fisch, während er wild mit der Klinge um sich herumfuchtelte. Diesmal trat ihm der Alte gegen den Arm. Das Messer löste sich aus Diegos Fingern, hüpfte einmal über das Deck und blieb dann zitternd mit der Spitze in den Planken stecken. Der Fischer nutzte eine schwankende Bewegung des Bootes aus, um Diego einen Tritt gegen den Kopf zu verpassen. Diego kippte rücklings um; es gab einen dumpfen Laut, als er mit dem Hinterkopf auf das Deck prallte. Er erschlaffte und blieb reglos liegen. Nachdem er sein Messer aufgehoben hatte, verzehrte der alte Mann wortlos sein Stück Fisch. Ocho kaute gierig, sein ausgedörrter Mund und die trockene Kehle sogen die Feuchtigkeit wie ein Schwamm auf. Er behielt jeden zerkauten -217-
Bissen mehrere Sekunden lang im Mund und saugte den Saft heraus, bevor er den Brei widerwillig schluckte. Dora beobachtete ihn mit fiebrigen Augen. Er reichte ihr einen Brocken, den sie sich in einem Stück in den Mund stopfte. Dann kaute sie hastig, wobei sie den alten Fischer misstrauisch beäugte, als fürchtete sie, er könnte ihr den Bissen wegnehmen. Als sie ihn heruntergeschluckt hatte, versuchte sie ein Grinsen. Ocho wandte den Blick ab. »Du musst wieder an die Pumpe«, sagte der Alte. Diego lag immer noch da, wo er hingefallen war. Ocho stand auf, ging in das Ruderhaus und stieg in den Maschinenraum hinunter. Das Wasser umspülte seine Schuhe, als er den Pumpenschwengel hob und senkte, hob und senkte, immer und immer wieder. Stunden später kam jemand, der ihn ablöste. Er stolperte die Treppe hinauf, so erschöpft, dass er kaum noch die Hände richtig bewegen konnte. Die Leute an Deck hatten mehr Fische gefangen. Ocho ließ sich schwerfällig neben dem Ruderhaus auf die Planken sinken. Im schwachen Licht der Sterne und des Mondes konnte er sehen, wie die Menschen die Fische mit bloßen Händen auseinander rissen, sich die Fleischfetzen in den Mund stopften und sich auf jeden Fisch stürzten, der aus den Wellen über die Reling sprang, wenn sich das Boot gefährlich weit zur Seite neigte. Übergangslos fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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10 Einer der Bediensteten schloss die Schlafzimmertür auf und brachte Mercedes zu Colonel Santana, der hinter Fidels Schreibtisch stand und Papiere sortierte; er blickte nicht auf, als sie eintrat. Sie setzte sich auf einen Stuhl. »Die Regierung hat noch nicht entschieden, wann und wie sie den Tod von el presidente bekannt geben soll. Es wird zweifellos bereits in wenigen Tagen geschehen, aber bis dahin müssen Sie hier in der Residenz bleiben und dürfen mit niemandem sprechen. Mitarbeiter der Sicherheitsbehörde sitzen in der Telefonzentrale und überwachen alle Telefonate. Alle Verbindungen, die nicht über die Zentrale laufen, wurden unterbrochen.« Er warf ihr einen misstrauischen Seitenblick zu und widmete sich dann wieder den Papieren. »Sobald die offizielle Version von Fidels Tod geschrieben und bekannt gegeben worden ist, sind Sie frei und dürfen gehen. Ich weise Sie aber darauf hin, dass es ein Verbrechen ist, die offizielle Version der Vorgänge in Frage zu stellen.« »Alle werden Ihre Geschichte beeidigen, noch bevor Sie sie geschrieben haben?«, zischte Mercedes. Santana sah sie an und lächelte. »Ich habe nach den richtigen Worten gesucht, um den Kern der Sache zu beschreiben, und Ihnen fliegen sie einfach so zu.« Er schnippte mit den Fingern. »Das ist eine Gabe, denke ich. Da Sie es so präzise formulieren, weiß ich, dass Sie verstanden haben. Nichtwis senheit ist also kein Entschuldigungsgrund, sollten sich irgendwelche Probleme ergeben.« Mercedes stand auf und verließ wortlos das Büro. Sie wanderte durch die Flure und Empfangsräume, durch die -219-
Privatflügel und Büros, die jetzt alle verwaist waren. Im Geist sah sie Fidel, wie er mit anderen sprach und sich dabei etwas herabbeugte, denn er war ein großer Mann gewesen. Er hatte Kuba regiert, seit sie sich erinnern konnte, seit ihren Kindertagen, nach ihrer Heirat und dem Tod ihres Mannes, als sie Fidels Geliebte geworden war… Ihr ganzes Leben lang hatte es Fidel Castro gegeben. Was für ein Mann er doch gewesen war! Sie war eine LatinoFrau und er der Inbegriff des Latino-Mannes, brillant, athletisch, ein begnadeter Redner, ein perfekter Patriot, ein Mann, der den Machismo verkörperte. Diejenigen Facetten seiner Persönlichkeit, die Menschen aus anderen Kulturkreisen äußerst irritierend fanden, betrachteten Kubaner als die herausragenden Merkmale eines Mannes. Er war selbstgerecht, stolz, überzeugt von seiner eige nen Wichtigkeit und seinem Platz in der Geschichte, räumte nie einen Fehler ein und weigerte sich nachzugeben, wenn er von der Außenwelt gedemütigt wurde. Er hatte gekämpft, gelitten, viel gewonnen und noch mehr verloren - und war auf eine Art und Weise, die kein Nicht-Latino jemals verstehen würde, die Personifizierung Kubas geworden. Und sie hatte ihn geliebt. In dem Zimmer, in dem er gestorben war, standen immer noch die Videokameras und Lampen, waren die Stromkabel noch immer ausgelegt. Nur Fidels Leichnam fehlte. Mercedes betrachtete das Szenario, erinnerte sich, sah ihn so, wie er gewesen war, als sie ihn am besten gekannt hatte. Noch immer strahlend. Endlich kamen die Tränen, verschleierten ihren Blick, und sie konnte sie nicht aufhalten. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und weinte stumm. Ohne ihr Zutun begann ihr Geist zu wandern, und vor ihrem inneren Auge erschienen Szenen aus ihrem Leben, Momente mit ihrer Mutter, ihrem ersten Ehemann, Fidel… -220-
Erst als ihre Tränen schon eine Weile versiegt waren, wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie noch immer in diesem Zimmer saß. Vor ihr standen die Kameras auf schweren, mit Rollen versehenen Dreibeinen. Sie mussten irgendeinen Film enthalten, ein Videoband. Mercedes näherte sich der ersten Kamera und untersuchte sie. Versuchsweise drückte und zog sie an Knöpfen, Hebeln und Schaltern. Schließlich sprang eine Seitenklappe auf, und dahinter war die Videokassette. Sie nahm sie heraus und schloss die Klappe wieder. Auch die zweite Kamera enthielt eine Kassette. Beide Bänder in den Falten ihres Kleides versteckt, verließ Mercedes das Zimmer. Ein über das Deck schlagender Brecher umspülte Ocho mit lauwarmem Wasser und riss ihn aus einem trotz seiner Erschöpfung unruhigen Schlaf. Die Angel del Mar lag sehr tief im Wasser. Gerade als ihm klar wurde, dass der Kielraum voll gelaufen sein musste, ergoss sich eine weitere Welle über das Deck. Ocho eilte in den Maschinenraum hinunter. Der alte Fischer war über der Pumpe zusammengesunken, und das Wasser schwappte nun fast hüfthoch im Kielraum. Ocho schob den Mann beiseite und begann zu pumpen. Er spürte den Widerstand, konnte fühlen, wie das Wasser durch das Rohr strömte, und mobilisierte alle Kräfte. »Tut mir Leid«, sagte der Alte leise. »Bin fertig. Einfach fertig.« »Geh an Deck. Trockne dich ein bisschen, trink etwas Wasser.« Der Fischer nickte und kroch langsam die steile Treppe hinauf. Einmal glitt er aus und fiel fast mit dem Gesicht auf eine -221-
Stufe. Schließlich verschwanden seine Füße im Ruderhaus. Drei Regenschauer während der letzten Nacht hatten es allen Menschen an Bord der Angel del Mar ermöglicht, ausreichend zu trinken, und als Ocho das letzte Mal nachgesehen hatte, waren noch etliche Gallonen in dem Behälter unter der Plane gewesen, mehr als irgendjemand hätte austrinken können. Er war nicht mehr durstig, aber mörderisch hungrig. Es hatte keine Fische mehr gegeben. Ohne Angelleinen, Haken, Köder oder Netze waren die Tiere unerreichbar für sie, solange sie nicht von selbst aus den Wellen aufs Deck sprangen. Und seit einiger Zeit hatten sie das nicht mehr getan. Die Segeltuchplane verlieh dem in ihr aufgefangenen Regenwasser einen brackigen Geschmack, was niemanden störte. Doch wenn man auf nüchternen Magen eine größere Menge davon trank, merkte man erst, wie hungrig man war. Ocho pumpte, spürte, wie sich seine verkrampften Muskeln allmählich lockerten, und genoss den Widerstand, den ihm der Schwengel entgegensetzte, denn das bedeutete, dass Wasser durch den Hubkolben strömte. Nach fünfzehn Minuten höchster Anstrengung konnte er sehen, dass der Pegel um rund fünfzehn Zentimeter gesunken war. Er drosselte die Taktfrequenz und arbeitete langsamer und gleichmäßig weiter. Noch immer war der Horizont leer geblieben. Leer! Kein Boot oder Segel. Nur endlose Wellen und Himmel in allen Windrichtungen. Es schien fast, als hätte Gott sie verlassen, als wollte er, dass sie auf diesem lecken kleinen Boot inmitten des riesigen Ozeans starben, während Flugzeuge am Himmel über ihnen hinwegflogen und Schiffe direkt hinter dem Horizont vorbeifuhren. Wir werden nicht mehr lange warten müssen, dachte Ocho. Unser Ende ist sehr nah. Wenn die Kette der Pumpe reißt, wenn wir zu schwach sind, sie weiter zu bedienen, wenn die Dünung -222-
stärker wird und hellen über das Deck schlagen, wird das Boot auseinanderbrechen, und die Menschen werden über Bord gehen. Das wäre dann unser Schicksal, so zu ertrinken wie all die Leute, die während der ersten Nacht in die See gespült worden sind. Sie sind mittlerweile tot, ganz sicher. Für immer verloren. Erstaunlich, wie das läuft. Jeder muss sterben, aber man muss es nur einmal tun. Trotzdem kämpft man wie verrückt, um seinen Weg zu gehen, und wenn man an seinem Ende angekommen ist, dreht sich die Welt einfach weiter, als hätte es einen nie gegeben. Während er pump te, dachte er an seine Mutter, fragte sich, wie es ihr ging, ob er ihr hätte sagen sollen, dass er nach Amerika fliehen wollte. Nach einer Stunde pumpte er immer noch. Der Wasserpegel war weiter gesunken, und das Boot lag nun wieder besser in der See. Doch Ochos Kräfte erlahmten. Er hörte, wie jemand die Leiter herunterstieg, dann ragten zwei Füße in sein Blickfeld. Dora. Sie hielt sich an der Leiter fest und sah ihn an, wie er bis zu den Knien im Wasser stand und den Pumpenschwengel bediente, auf und ab, auf und ab. »Es ist Papa«, sagte sie tonlos. Er antwortete nicht, wartete darauf, dass sie weitersprach. »Ich glaube, er hat aufgegeben.« Ocho pumpte weiter. »Sprich mit mir, Ocho. Verletz mich nicht mit deinem Schweigen.« Er zuckte mit den Achseln, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. »Was gibt es da zu sagen? Wenn er aufgegeben hat, hat er eben aufgegeben.« »Wird man uns retten?« »Bin ich Gott? Woher soll ich das wissen?« -223-
»Ich habe es satt, dieses Boot, diesen Ozean!«, fauchte Dora. »Ich habe es alles satt, verstehst du?« »Ich verstehe.« Sie schluchzte und schniefte geräuschvoll. Ocho pumpte weiter. »Ich glaube nicht, dass du mich liebst«, sagte sie nach einer Weile. »Ich weiß es selbst nicht.« Sie sah zu, wie er den Pumpenschwengel hob und senkte, rhythmisch, ohne Unterlass. »Macht dich das nicht müde?« »Doch.« »Wir werden sterben, nicht wahr?« Er wischte sich mit der freien Hand den Schweiß aus dem Gesicht. »Wir alle, früher oder später. Ja.« »Ich meine jetzt. Dieses Boot wird untergehen. Wir werden ertrinken.« Zum ersten Mal blickte er sie direkt an. Die Haut spannte sich über ihrem Gesicht, sie hatte die Zähne gebleckt, und ihre zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen starrten ihn mit einer Intensität an, wie er sie noch nie bei ihr gesehen hatte. »Ich weiß es nicht«, sagte er sanft. »Ich möchte noch nicht sterben.« Er senkte den Kopf, um ihr nicht länger ins Gesicht sehen zu müssen, und pumpte stoisch weiter. Dora stieg die Leiter hinauf und verschwand. Ocho legte eine kurze Pause ein, richtete sich so weit auf, wie es die niedrige Decke zuließ, und betrachtete kritisch die im Kielraum verbliebene Wassermenge. Er gewann den Zweikampf. Nachdem er sich gestreckt hatte, bekreuzigte er sich flüchtig, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass Gott ihn -224-
beobachtete, und begann erneut zu pumpen. Der Mann der CIA in Kuba war ein Amerikaner namens Dr. Henri Bouchard, ein ehemaliger College-Professor, der in der Amerikanischen Interessenvertretung innerhalb der Schweizer Botschaft wohnte und arbeitete, einem Gebäudekomplex, der früher die Amerikanische Botschaft beherbergt hatte und es wohl eines Tages wieder tun würde. Da die Kubaner die amerikanischen Diplomaten äußerst genau beobachteten, unterhielt dieser CIA-Mitarbeiter keinerlei Kontakte zu den verdeckt arbeitenden Ermittlern des Geheimdienstes auf der Insel. Er beschäftigte sich damit, fernzusehen, Radio zu hören, kubanische Zeitungen und andere Veröffentlichungen zu sammeln und Berichte über das zu verfassen, was er sah, hörte oder las. Sein Verhältnis zu den Kollegen unter den Diplomaten war hervorragend, und das nahezu klösterliche Leben, das er führte, sagte ihm zu. Der Mann, der die verdeckten Ermittlungen leitete, war ein Kubaner, der nie einen Fuß in die Amerikanische Interessenvertretung gesetzt ha tte und es vermutlich auch nie tun würde. Er besaß einen Meeresfrüchtegroßhandel direkt am Ufer des Hafenviertels von Havanna. Die Fischerboote brachten ihren Fang täglich an seinen Pier, wo er das kaufte, von dem er glaubte, es weiterverkaufen zu können. Sowohl die Einkaufs- als auch die Verkaufspreise wurden von der Regierung festgesetzt. Hätte es keinen Schwarzmarkt für Fisch gegeben, wäre er verhungert. Die Tarnung erfüllte ihren Zweck. Ein kubanisches Fischerboot konnte sich auf See mit einem amerikanischen Schiff oder U-Boot treffen, wo dann Informationen oder Material ausgetauscht wurden. Die Lieferwagen des Agentenführers fuhren jedes Restaurant, jedes Casino und jede Botschaft in der Hauptstadt an. Durch die ständigen Kontakte und den Handel wusste der alte Mann stets, was in Kuba los -225-
war. Man nannte ihn El Tiburón, den Hai. William Henry Chance hatte nicht vor, sich jemals mit El Tiburón zu treffen, solange es sich irgendwie vermeiden ließ. Was den CIA-Mann in der Amerikanischen Interessenvertretung betraf, so war das etwas völlig anderes. »Ah, ja, Mr. Chance. Sehr erfreut, Sie zu sehen.« Dr. Bouchard gab Chance und Carmellini die Hand, während er sie über den Brillenrand hinweg musterte. Er führte seine Besucher mehrere enge Gänge hinab in einen winzigen fensterlosen Raum im Kellergeschoss des Gebäudes. »Ich bedaure, aber das ist das Büro. Sicherheitsgründe, Sie verstehen. Früher wurden hier Lebensmittel gelagert. Muffig, aber ruhig.« Er räumte einen Stapel Zeitungen von dem einzigen Besucherstuhl, legte ihn auf seinen Schreibtisch, zog einen Klappstuhl für Carmellini darunter hervor und nahm dann in seinem Sessel Platz. Die Knie der drei Männer berührten sich fast. »Also, wie gefällt Ihnen Kuba?« »Faszinierend«, murmelte Chance. »Ja, nicht wahr?« Bouchard strahlte vor Zufriedenheit. »Sechs Jahre bin ich jetzt schon hier, und ich möchte gar nicht mehr fort. Mir fehlt der Schnee zu Hause nicht, das kann ich Ihnen sagen, oder die Fakultätspolitik, die Fehden, das eifersüchtige Gezänk über das Budget für die verschiedenen Abteilungen… Gott sei Dank, das habe ich alles hinter mir.« Chance nickte. Er verspürte nicht das Bedürfnis, von sich aus auf den Punkt zu kommen. »Wir sind uns früher schon mal begegnet, glaube ich«, sagte er. »Oh, ja, ich meine mich zu erinnern…« Sie tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus. »Mein Partner, Mr. Carmellini. Ich glaube nicht, dass Sie ihn kennen.« -226-
Nachdem das Geplänkel endlich erledigt war, kam Chance zur Sache. »Sie haben ein paar Dinge in Ihrem Lager, die wir uns ausborgen müssten, denke ich.« »Gewiss. Die Inventarliste liegt im Safe. Wenn sich die Gentlemen für einen Moment in den Flur begeben würden…« Sie erfüllten ihm die Bitte, und während sie warteten, hantierte Bouchard am Zahlenschloss des Panzerschranks herum. Als er den gesuchten Aktenordner gefunden hatte, schloss er den Safe und nahm wie zuvor hinter seinem Schreibtisch Platz. Chance setzte sich ebenfalls wieder, Carmellini blieb stehen. »Das ist die Inventarliste, da bin ich mir sicher. Was wünschen Sie?« »Zwei Ruger mit Schalldämpfern, Munition, zwei Garotten, zwei Kampfmesser, ein Dutzend Einweg-Latexhandschuhe, zwei absolut luftdichte Gasmasken…« »Mal sehen…« Der Professor fuhr mit dem Finger die Liste entlang. »Pistolen, klar. Munition, okay. Messer… Messer… ah, da sind sie. Drähte, Garotten, klar… Handschuhe, Gasmasken. Ja, ich denke, wir haben alles, was Sie brauchen. Möchten Sie die Dinge gleich mitnehmen?« »Ja. In irgendeinem Koffer, wenn Sie einen besorgen können.« »Ich werde Ihnen einen von meinen eigenen geben müssen. Sie können ihn mir später zurückbringen oder ihn bezahlen, wie es Ihnen lieber ist.« »Wir werden versuchen, ihn zurückzubringen.« »Das wäre das Beste, denke ich. Die Rechnungsabteilung ist so kleinlich, was Spesenausgaben betrifft. Bitte warten Sie hier, Gentlemen, ich werde sehen, was ich tun kann. Hätten Sie in der Zwischenzeit vielleicht gern einen Kaffee, eine Limonade?« »Für mich nicht«, sagte Chance. -227-
»Machen Sie sich wegen mir keine Umstände«, schloss sich Carmellini an. »Es wird einige Minuten dauern«, erklärte der Professor. »Möchten Sie vielleicht lieber solange im Hof warten? Die Gartenanlage dort ist mein Hobby, und der Adler vom Maine Memorial ein seltenes Kunstwerk.« »Ist das der große Adler über dem Eingang?« »Ja. Nach der Revolution hat Castro verlangt, ihn vom Maine Memorial zu entfernen. Das war so um die Zeit, als er verkündet hat, Kommunist zu sein, vor der Geschichte in der Schweinebucht. Eine schwierige Zeit für alle.« »Ah… ja. Wir finden den Weg selbst.« »Ich komme zu Ihnen in den Hof, sobald ich Ihre Ausrüstung habe«, sagte der Professor und eilte davon. Der Adler war riesig. »Ein beachtliches Kunstwerk«, murmelte Carmellini. »Zu groß für Sie«, kommentierte Chance. »Da bin ich mir gar nicht so sicher«, erwiderte Carmellini und sah sich aufmerksam um. »Schieben Sie einen fahrbaren Baukran auf die andere Seite der Mauer, seilen Sie einen Mann an einem Haken ab und ziehen Sie das Ding hoch. Ich könnte es in sechs bis sieben Minuten rausholen und wieder verschwinden.« Chance machte sich nicht einmal die Mühe, die Stirn zu runzeln. Carmellini hatte die Gewohnheit, ihn auf eine Art zu ärgern, die nicht böse gemeint war, weshalb sich jeder Widerspruch erübrigte. »Der Professor ist der am wenigsten neugierige Mann, dem ich jemals begegnet bin«, sagte Tommy Carmellini einige Minuten später im Plauderton. »Er möchte nicht zu viel wissen.« »Er möchte überhaupt nichts wissen«, korrigierte Carmellini. -228-
»Leute, die keine auf der Hand liegenden Fragen stellen, machen mich nervös.« »Hmmm«, machte William Henry Chance. Er wirkte nicht im Mindesten beunruhigt. Der Professor tauchte eine halbe Stunde später wieder auf. Nachdem er eine unleserliche Unterschrift auf einen umfangreichen Verwaltungsbogen gekritzelt hatte, gab Chance ihm das Foto eines Mannes, das sein Überwachungs-Team vor dem Wissenschaftsinstitut der Universität von Havanna geschossen hatte. Der Mann war in den Sechzigern, leicht übergewichtig und mit beginnender Glatze. Er blickte fast direkt in die Kamera, die er natürlich nic ht bemerkt hatte, da das Bild aus dem Lieferwagen heraus gemacht worden war. »Wenn es Ihnen möglich wäre, Professor, möchte ich Sie bitten, das nach Washington zu schicken. Ich wüsste gern, wer dieser Mann ist.« »Ein Amerikaner?«, fragte Dr. Bouchard. Er nahm das Foto entgegen und warf einen flüchtigen Blick darauf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Sir. Wir haben ihn hier und da gesehen und rätseln, wer er sein könnte. Würden Sie die Leute in Langley veranlassen, es herauszufinden?« »Selbstverständlich«, sagte der Professor und steckte das Bild in seine Tasche. Toad Tarkington war so sauer wie selten. Er fauchte die Bootsleute und den Flag Lieutenant an, brütete zornig über der Nachrichtentafel und warf überhaupt jedem, der in seine Richtung sah, finstere Blicke zu. Natürlich wüsste er selbst, dass es so nicht weitergehen konnte, und so begab er sich in seine Kabine und zog seine Laufschuhe an, um an Deck zu joggen. Die tropische Seeluft, die langen, schäumenden Wellen, die über den Himmel -229-
jagenden Schä fchenwolken, das tiefe Blau der Karibik - alles verschlimmerte seine Laune nur noch mehr. Keine der Bemühungen, die Colón zu finden, hatte Früchte getragen - das Schiff blieb verschwunden. Der Kapitän und die Mannschaft waren die ganze Zeit, während die Colón in Guantánamo am Kai gelegen hatte, an Bord geblieben. Das Rätsel schien unlösbar. Die Flugstaffel suchte immer noch nach dem Frachter, aber bisher hatte sie keine Spur entdeckt. Nichts! Und natürlich wurde der Ton aus dem Weißen Haus und dem Pentagon von Stunde zu Stunde schärfer. Toad lief gerade vom Bug des Flugzeugträgers Richtung Heck, als ihm ein Maat aus dem Stab des Admirals zuwinkte. »Die Luftaufklärung hat ein Foto der Colón!« »Wo ist sie?« »Auf einem Riff vor der Nordküste Kubas auf Grund gelaufen.« Toad sprintete auf die Luke zu, von der aus eine Treppe in das Innere des Schiffes führte, den Maat dicht auf den Fersen. Das Foto zeigte die Colón, kein Zweifel. Der Frachter sah aus, als hätte er sich zwischen einigen Klippen verkeilt, fast so, als wäre er bei Flut zwischen die Felsen geraten. Jetzt herrschte Ebbe, und an Deck war kein Mensch zu sehen. »Wann wurde die Aufnahme gemacht?«, fragte Toad den Offizier der Luftaufklärung. »Gestern.« »Und niemand hat die Colón erkannt?« »Nicht bis heute.« »Haben Sie den Admiral informiert?«, knurrte Toad gereizt. »Ja, Sir.« »Zeigen Sie mir die Position.« Der Offizier deutete auf einen Koordinatenpunkt auf einer -230-
Ausschnittskarte. Toad setzte sich mit Jake Grafton in Verbindung. »Ich möchte mir das Schiff ansehen«, sagte Jake. »So schnell wie möglich. Wir nehmen eine F-14 mit TARPS-Ausrüstung.« Das Kürzel TARPS stand für »tactical air reconnaissance pods«, taktische Luftaufklärungs-Kapseln. Jede Kapsel enthielt zwei Kameras und einen Infrarot-Scanner. Kuba ist eine Insel, die von mehr als 1600 anderen Inseln umgeben wird. Die meisten dieser Inseln vor der Nordküste Kubas sind klein und unbewohnt, winzige felsige Tropenparadiese. Zumindest boten sie sich so Jake Grafton dar, der sie vom Vordersitz einer F-14 aus durch ein Fernglas sah. Das Schiff lag rund drei Meilen vor der Küste, gestrandet zwischen Klippen, die kaum über die Wasseroberfläche ragten. Die Brandung brach sich weiß schäumend an den Felsen. Der Frachter war gut sichtbar, er hatte leichte Schlagseite; auf dem Hauptdeck konnte man ein paar Waffencontainer erkennen. Jake überprüfte das Foto in seinem Schoß, das der Pilot einer F/A-18 Hornet am Vortag per Hand mit einer 35-MillimeterKamera geschossen hatte. Ja, die auf der Aufnahme sichtbaren Container befanden sich immer noch an Bord des Schiffes. Obwohl die Kubaner eine Zwölf-Meilen- Zone als Staatsterritorium beanspruchten, erkannten die Vereinigten Staaten nur drei an. Die Leute von der Luftaufklärung hatten Jake versichert, dass die Nuestra Señora de Colón auf einem Riff in internationalen Gewässern gestrandet war. Das hatten sie laut eigener Aussage mit dem Außenministerium abgeklärt. Südlich des Schiffes lag der Eingang zur Bahia de Nipe, eine seichte Bucht mittlerer Größe. War das Schiff auf dem Weg in diese Bucht zwischen die Felsen geraten? Jake schoss die erste Fotoreihe eine Meile seewärts der Colón. -231-
Für den Fall, dass die Kubaner Abfangjäger losschickten, um ihn zu verjagen, hatte er eine Staffel F-14 zehn Meilen nördlich als Rückendeckung positioniert. Dazu gehörte eine EA-6B Prowler für elektronische Kriegsführung, die den Äther nach kubanischem Feuerleitradar abhorchte und bereit war, es bei Bedarf sofort zu stören. Den Erfassungs instrumenten für elektronische Kriegsführung in Jakes Cockpit nach zu urteilen, wurde er nur von Suchradar abgetastet. Das aber konnte sich, wie er gut wusste, jederzeit ändern. Er hatte gerade eine Fotostrecke von Ost nach West beendet und drehte seewärts ab, als sich die E-2 über Funk meldete. »Battlestar One, wir haben Gesellschaft. Unbekannte Maschine zwanzig Meilen westlich Ihrer Position, fliegt in Ihre Richtung. Sieht nach einer Fulcrum aus.« Eine Fulcrum war eine MiG-29. Jake aktivierte sein Funksprechmikro. »Verstanden. Ich mache noch eine Fotostrecke, bevor der Bursche hier auftaucht, und setze mich dann nach Norden ab.« Er drückte die Nase der Tomcat nach unten und beschleunigte. Das Flugzeug war wie ein lebendiges Wesen in seinen Händen, der Jet hüpfte und schüttelte sich im turbulenten tropischen Aufwind unter den Kumuluswolken, die in der Passatströmung dahintrieben. »Kameras laufen«, meldete Toad Tarkington vom Hecksitz. Knapp außerhalb der Drei-Meilen-Zone flog Jake noch einmal am Heck des gestrandeten Frachters vorbei. Also würde er wahrscheinlich gute Sicht auf das Achternschiff bekommen und die Flanken im schiefen Winkel einsehen können. »Wenn wir schon mal hier sind…«, murmelte er, kippte über eine Tragfläche ab, drückte den Steuerknüppel tiefer und nahm Schub weg. Hinter ihm überwachte Toad Tarkington die Beobachtungsund Aufzeichnungssysteme. »Ich bin wirklich froh, dass wir außerhalb des kubanischen Luftraums bleiben«, sagte er. »Noch -232-
wohler würde ich mich allerdings jenseits der Zwölf- MeilenZone fühlen, aber das wäre zu viel von dieser Technik verlangt. Ein Schiff, das wie der Kahn da unten auf einem Riff sitzt, sieht mir nach einer Falle aus. Als würden die Burschen versuchen, jemanden dazu zu bringen, vorbeizufliegen und ein paar Fotos zu schießen, damit sie ihm den Arsch perforieren können.« »Yeah«, knurrte Jake Graf ton und fing die F-14 hundert Fuß über dem Meer ab. Er flog jetzt parallel zur Längsachse des Schiffes, leicht nach rechts versetzt, da die Aufklärungsinstrumente unter dem rechten Triebwerk angebracht waren. »Laufen die Kameras und der Infrarot-Scanner?« »O ja, sieht wirklich gut aus«, erwiderte Toad, als er durch die Rundumverglasung des Cockpits einen Blick auf das Meer warf, genau im richtigen Moment, um den Frachter vorbeihuschen zu sehen, bevor Jake Grafton den Steuerknüppel anzog und die Nachbrenner zündete. Die Nase der Tomcat stieg 60 Grad über den Horizont, die Maschine schoss wie eine Rakete in die Höhe und jagte wieder aufs offene Meer hinaus. Zur gleichen Zeit informierte der Radartechniker der E-2 Hawkeye die Besatzungen der F-14, die Jake Graftons bewaffnete Rückendeckung stellten, über die fremde Maschine; beide Ortungsoffiziere meldeten, dass sie den Unbekannten auf den Radarschirmen hatten. »Wie ich schon sagte«, meinte Toad zu Jake, »wirklich großartig, dass wir uns aus dem kubanischen Luftraum raushalten.« »Großartig«, stimmte ihm der Admiral zu. »Hab keine Lust, irgendwen wütend zu machen.« »O nein.« »Fragen Sie sich, warum das Schiff genau da gelandet ist, wo es jetzt feststeckt?« -233-
»Vielleicht verraten es uns die Fotos.« »Fremde Maschine sechs Meilen achtern, Battlestar One«, berichtete der Radartechniker der E-2 Hawkeye. »Geschwindigkeit 400 Knoten, nähert sich von Ihnen aus gesehen aus acht Uhr.« »Wollen Sie zu ihm rumschwenken, Admiral, so dass ich ihn mit dem Radar erwische?«, fragte Toad. »Nein, lassen Sie uns seewärts verschwinden.« »Ich kann ihn jetzt sehen«, sagte Toad, als die Tomcat über 15000 Fuß kletterte. »Er ist etwas höher als wir. Setzt sich direkt hinter uns.« »Direkt hinter uns?« Jake blickte über die linke Schulter und entdeckte die MiG-29. »Er könnte jederzeit feuern«, warnte Toad. »Der ist auf Rendezvous-Kurs. Sieht so aus, als will er sich an unsere linke Tragfläche hängen.« Und genau das tat die MiG. Sie näherte sich elegant auf fast parallele m Kurs, ein klassisches Rendezvous-Manöver. Dann nahm sie eine Position wie bei einer Flugparade ein. Die Entfernung zwischen den Flügelspitzen betrug nur noch vier Fuß, schrumpfte auf rund drei. Trotz der Luftturbulenzen hielt sie mühelos die Position. Jake Grafton und Toad Tarkington starrten zu Carlos Corrado hinüber in das andere Cockpit. Toad hob seine 35-MillimeterKamera und schoss ein Dutzend Fotos des kubanischen Jägers und der beiden Luft-Luft-Raketen in ihren Halterungen. »Glauben Sie, er weiß, dass wir innerhalb der Drei-MeilenZone waren?«, erkundigte sich Toad. »Die Bodenkontrolle hat es ihm wahrscheinlich gesagt.« Corrado klebte regelrecht weiter an der F-14. Er schenkte den anderen Tomcat, die herangejagt kamen und sich der Formation anschlossen, keinerlei Beachtung, würdigte sie nicht einmal -234-
eines kurzen Blickes. Jake Grafton beschleunigte langsam auf fünfundneunzig Prozent Schubleistung. Die MiG blieb neben ihm. Ohne die Triebwerke zu drosseln, zog Jake die Nase der F-14 hoch, rollte von der MiG weg in Rückenlage und vollendete die Drehung, behielt den Steigungswinkel bei, damit die Nase nicht ausbrach… eine etwas schlampige Rolle. Dann eine Linksrolle. Die beiden F-14 hinter Carlos Corrado hängten sich an sein Heck und ließen sich etwas zurückfallen, um den Manövern der Maschinen vor ihnen leichter folgen zu können, aber Corrado hielt seine Position an Jakes linker Tragflächenspitze, als wäre er dort festgeschweißt. Jetzt ein Looping. Hoch, hoch und höher, über den Gipfelpunkt hinweg, zunehme nde Fliehkräfte zum Heck hin, Meer und Himmel wechselten sich perfekt ab, die Sonne tanzte über das Cockpit. »Dieser Typ ist ziemlich gut«, bemerkte Toad mürrisch. »Ziemlich gut?« »Okay, er ist ein Ass.« Das nächste Manöver, ein halber Looping, eine halbe Rolle am Gipfelpunkt, fünf Sekunden lang geradeaus in Rückenlage, eine weitere Rolle und ein halber Kreis zu einem aufgebrochenen S, 45 Grad zur Vertikalen versetzt. Jake beendete den Sturzflug und ließ die Nase steigen, bis sie direkt nach oben zeigte. Er rollte langsam um die Längsachse, dann zog er die Maschine auf den Rücken und wartete, bis der Neigungswinkel 45 Grad betrug, bevor er die Tragflächen waagrecht stellte und die Tomcat wieder hoch zog. Und während des gesamten Manövers hielt Corrado eisern die Position an Jakes Flügelspitze. Nach Beendigung des letzten Manövers drehte Jake Grafton ostwärts ab. Die MiG-29 begleitete die amerikanischen Jäger noch fünfzehn Minuten lang, bis sie sich der östlichsten Spitze -235-
Kubas näherten, Cape Maisi, und auf Südkurs gingen. Erst dann winkte Carlos Corrado Jake und Toad zu, drückte die Nase seiner Maschine abwärts und flog schräg unter der F-14 weg. Aus den Augenwinkeln heraus sah Jake, wie Toad den MiGPiloten, der nach Westen abdrehte, mit einem Salut verabschiedete. »Ich frage mich, warum das Schiff auf diese Felsen gelaufen ist«, grübelte Toad Tarkington laut. Er, Jake Grafton, Gil Pascal, Lieutenant Colonel Eckhardt und einige Spezialisten der Bildauswertung hatten sich in der Abteilung der Luftaufklärung über einen Tisch gebeugt und betrachteten die Fotos aus der TARPS-Kapsel der F-14. »Vielleicht hatte sich der Navigator verirrt«, spekulierte der Chef der Luftaufklärung. »Oder er kannte die Gewässer nicht«, meinte der Marine. »Vielleicht wollten die Kubaner das Schiff genau dort haben«, murmelte Gil. Jake Grafton studierte die Fotos des Teils der Insel, der dem gestrandeten Frachter am nächsten lag. »Hier ist eine Mannschaft, die ein Artilleriegeschütz in Stellung bringt«, sagte er und richtete sich auf, damit sich die anderen selbst überzeugen konnten. »Wenn die Typen von Anfang an geplant hatten, den Frachter zwischen diesen Klippen auflaufen zu lassen, sollte man eigentlich annehmen, dass sie schon vorher Geschütze und ein paar SAM-Batterien aufstellen würden.« »Vielleicht wollen sie, dass wir genau das denken.« »Wie weit ist das Schiff von der nächsten festen Landmasse entfernt?« »Drei Punkt zwei nautische Meilen, Sir«, erwiderte einer der Bildauswertungs-Spezialisten, ein Obermaat. »Wenn Sie sich -236-
dieses Satellitenfoto der Hauptinsel ansehen, Admiral, werden Sie erkennen, dass zwei SAM-Batterien in der Nähe dieses kleinen Hafens zehn Meilen südlich der Stelle stationiert sind, wo die Colón gestrandet ist.« »Wahrscheinlich war der Frachter dahin unterwegs, als er auf das Riff gelaufen ist«, sagte Jake. »Oder er ist tatsächlich dort gewesen. Also, wie viele Artillerie- und Raketenstellungen gibt es in der näheren Umgebung?« »Vier.« »Wir werden EA-6B Prowlers und F/A-18 Hornets mit feuerbereiten HARM-Raketen aufsteigen lassen, dazu F-14Jäger als Rückendeckung. Sollte irgendjemand FeuerleitRadaremissionen auffangen, möchte ich, dass die Quelle unverzüglich ausgeschaltet wird.« »Wann wollen Sie an Bord der Colón landen?«, fragte Eckhardt. Jake Grafton sah auf seine Uhr. »Ein Uhr nach Mitternacht.« »In fünf Stunden?« »Schaffen wir das?« »Wenn wir Druck machen.« »Dann lassen Sie uns Druck machen. Ich habe mit General Totten im Pentagon gesprochen. Er ist einverstanden. Wir sollen dieses Schiff so schnell wie möglich inspizieren. Für mich heißt das, in fünf Stunden von jetzt an. Wir fliegen mit drei Ospreys. Die Leitmaschine wird Commander Tarkington und mich an Bord des Frachters absetzen. Lieutenant Colonel Eckhardt fliegt mit einem Rettungsteam im zweiten Vogel, um uns rauszuholen, sollte irgendetwas schief laufen. Ein weiteres zehnköpfiges Team nimmt die dritte Osprey unter dem Kommando Ihres Seeoffiziers.« »Wissen die Leute in Washington, dass Sie vorhaben, das Schiff zu entern, Admiral?«, erkundigte sich Captain Pascal -237-
sofort. »Nein, und ich werde auch nicht ihre Erlaubnis zu diesem Unternehmen einholen.« »Sir, falls Sie erwischt werden… ein Zwei-Sterne-Admiral an Bord eines in kubanischen Gewässern gestrandeten Schiffes?« »Das Schiff befindet sich in internationalen Gewässern. Wir müssen herausfinden, was auf der Colón passiert ist, nachdem sie Guantánamo verlassen hat. Es steht eine Menge auf dem Spiel; deshalb werde ich persönlich nachsehen. Während meiner Abwesenheit haben Sie das Kommando, Gil.« »Admiral, bei allem gebotenen Respekt, Sir, ich denke, Sie sollten mehr als nur einen Mann mitnehmen. Warum nicht ein halbes Dutzend gut bewaffneter Marines?« »Ich weiß nicht, was uns auf diesem Schiff erwartet«, erklärte Jake. »Es könnten Leute an Bord sein, es besteht die Gefahr biologischer Kontamination, vielleicht ist der Frachter vermint. Deshalb ist es sinnvoll, einen Späher zu schicken, bevor wir den Verlust vieler Menschenleben riskieren. Dieser Späher werde ich sein, weil ich mit eigenen Augen sehen will, was dort los ist, und ich mache die Regeln. Alles klar?« Die Nachricht über den Verlust eines mit biologischen Waffen beladenen Schiffes schlug in Washington mit der verheerenden Wirkung einer hochexplosiven Cruise-Missile ein. Als der Nationale Sicherheitsrat zusammentrat, um die letzten Informationen über das vermisste Schiff zu erhalten, war auch der Präsident anwesend, und seine Laune war mörderisch. »Lassen Sie mich das auf den Punkt bringen«, unterbrach er den Nationalen Sicherheitsberater, der die Gruppe über den Stand der Dinge unterrichtete. »Wir haben beschlossen, unser Arsenal an biologischen und chemischen Gefechtsköpfen in dem Moment aus Guantánamo Bay abzuziehen, als wir gehört haben, dass Castro möglicherweise eigene biologische Waffen entwickeln würde. Ist das korrekt?« -238-
»Das zeitliche Zusammentreffen war zufällig, Sir. Die Verlegung der Waffen war schon länger geplant.« »Für das nächste Jahr«, sagte der Präsident eisig. »Wir haben die Dinge in dem Moment beschleunigt, als die CIA Wind davon bekommen hat, dass El Gato Laborausrüstung nach Kuba verschiffen könnte. Stimmen Sie mir in diesem Punkt zu?« »Ja, Sir.« »Nur fürs Protokoll, warum hatten wir diese verdammten Dinger überhaupt in Gitmo?« »Ein Computerfehler, Sir, der noch aus der Zeit stammt, als das Pentagon den Bedarf an militärischen Gütern und Material für Guantánamo festgelegt hat. Irgendwie sind auch die CBWKomponenten auf die Liste gelangt, und als der Fehler entdeckt wurde, war das Material bereits unterwegs.« Die Lippen des Präsidenten verzogen sich zu einem hämischen Lächeln. »Ist dieser Mist während meiner Amtszeit passiert?« »Nein, Sir. Während der Ihres Vorgängers.« Der Präsident blickte gen Himmel. »Gott sei Dank.« Er atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll wieder aus. »Wir haben also beschlossen, alte Fehler auszumerzen. Wir wollten nicht das Risiko eingehen, dass Castro von unserem CBW-Arsenal in Gitmo erfährt, als wir diese Sache übers Knie gebrochen haben.« Das war an den Nationalen Sicherheitsberater gerichtet. »Aber zur Rückendeckung der Aktion wollten Sie einen Flugzeugträger-Kampfverband, der zufällig gerade in der Karibik war, dazu benutzen, die Dinge im Auge zu behalten, während Sie die Waffen wegschafften. Die Navy in der Gegend zu belassen wäre ein Garant dafür, dass die Kubaner keinen Unsinn veranstalten, meinten Sie.« »Ja, Sir.« »Und jetzt liegt ein Schiff, das mit Waffen aus den Lagern -239-
von Gitmo beladen ist, auf einem Riff vor der kubanischen Küste.« »Das Schiff ist zwischen den Klippen gestrandet, aber wir wissen nicht, ob sich die Waffen noch an Bord befinden.« »Werden Sie den kommandierenden Admiral des Verbandes wegen dieser Sache vor ein Kriegsgericht stellen?«, fragte der Präsident General Howard D. »Tater« Totten, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, eine n kleinen grauhaarigen Mann, der aussah, als würde er sich in der grünen, mit Orden und Auszeichnungen geschmückten Uniform eines Vier-SterneArmee-Generals verkriechen. »Nein, Sir. Er hatte Befehl, die Lage in Guantánamo, Zitat Anfang ›zu überwachen‹ Zitat Ende, nicht die Frachtschiffe zu begleiten. Tatsächlich hat er den gekaperten Frachter sogar auf eigene Veranlassung durch die kubanischen Gewässer eskortieren lassen, aber nicht verfügt, Begleitschutz für den ganzen Weg bis nach Norfolk zu stellen. Niemand hat das getan, weil offensichtlich niemand eine bewaffnete Eskorte für erforderlich gehalten hat.« »Wurde das Schiff gekapert?« »Das wissen wir nicht, Sir. Wir konnten die Besatzung nicht über Funk erreichen.« »Wie sollen wir dann herausfinden, ob die Waffen noch an Bord sind?« »Indem wir heute Nacht Marines an Bord schicken, die das überprüfen.« »Ich glaube nicht, dass das Schiff in internationalen Gewässern gestrandet ist«, warf die Außenministerin ein. »Laut Ihrem Ministerium ist es das«, gab Totten hitzig zurück. »Das war eine erste Einschätzung untergeordneter Mitarbeiter. Unsere Experten haben verlangt, das genauer zu -240-
überprüfen. Wir sind uns nicht ganz sicher. Die Interpretation hängt davon ab, ob die Untiefe, auf der das Schiff liegt, bei Flut noch aus dem Wasser ragt.« Totten atmete tief durch. »Mr. President, wir wissen nicht, was sich auf dem Schiff abgespielt hat. Wir wissen auch nicht, ob sich die Waffen noch an Bord befinden. Sollten sie entfernt worden sein, müssen wir herausfinden, wohin sie gebracht worden sind. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Haarspaltereien über internationale Gesetze. Lassen Sie uns das Schiff entern, um Antworten zu bekommen. Danach können sich die Juristen nach Herzenslust die Köpfe einschlagen.« »Das ist das Problem mit Testosteron-Hengsten in Uniform!«, fauchte die Außenministerin. »Sie glauben, Sie könnten die Gesetze jederzeit übergehen, sobald es Ihnen in den Kram passt!« Der Präsident der Vereinigten Staaten war von seinem Naturell her ein vorsichtiger Mann, ein Karriere-Politiker, der sich sein Leben lang von der gerade vorherrschenden Strömung an sein Ziel hatte treiben lassen. Sein Nationaler Sicherheitsberater kennt ihn gut, dachte Totten, als sich der Mann mit einem Vorschlag zu Wort meldete. »Nach unserem bisherigen Kenntnisstand ist das Schiff in internationalen Gewässern auf Grund gelaufen, Mr. President. Der NavyKommandant vor Ort hat das Recht, ein Wrack, das in internationalen Gewässern liegt, zu untersuchen, wenn er das für angemessen erachtet. Lassen Sie ihn entscheiden, und warten wir seinen Bericht ab.« »Richtig«, stimmte ihm der Präsident zu. »Ich denke, das ist die richtige Vorgehensweise in dieser Angelegenheit.« »Würden Sie das bitte an den Kommandanten des Kampfverbandes weitergeben?«, bat der Nationale Sicherheitsberater General Totten. Der General griff nach einem Telefon, über dessen Leitung -241-
alle Gespräche automatisch verschlüsselt wurden. Jake Grafton und Toad Tarkington bestiegen die in der ersten Reihe auf dem Flugdeck der USS United States geparkte V-22, Marines gingen an Bord des zweiten und dritten Flugzeugs. In dieser Nacht lag der Flugzeugträger dreißig Meilen nordöstlich von Cape Maisi, etwas über hundert Meilen von dem gestrandeten Frachter entfernt. Jake war so nervös wie schon seit langem nicht mehr. Kurz vor Verlassen der Räume des Planungsstabes hatte er einen letzten Blick auf die Karte geworfen, auf der das Gebiet markiert war, das von den beiden Boden-Luft-Raketenstellungen auf der kubanischen Hauptinsel, nur wenige Meilen von der Nuestra Señora de Colón entfernt, erreicht werden konnte. Der Frachter befand sich deutlich innerhalb der Reichweite der Raketen, und das Gleiche galt auch für die Ospreys. Zuvor hatte Jake eine ausführliche Unterredung mit den Crews für elektronische Kriegsführung der EA-6B und der vier F/A-18 Hornets gehabt, die mit HARMs ausgerüstet über den drei Ospreys kreisen würden. HARM war das Kürzel für »highspeed antiradiation missile«, HochgeschwindigkeitsAntiradar-Rakete. Das Ziel dieser Marschflugkörper waren feindliche Radarstellungen; sie benutzten die feindlichen Emissionen als Leitstrahlen und folgten ihnen bis direkt in die Radarschüsseln hinein. Darüber hinaus besaßen sie ein elektronisches Gedächtnis, so dass sie das einmal angepeilte Ziel auch dann im Visier behielten, wenn der feindliche Radartechniker seine Anlage nach dem Abschuss einer HARM ausschaltete. »Eröffnen Sie das Feuer, sobald die Kubaner das SAM-Radar aktivieren«, schärfte Jake seinen Schutzengeln ein. »Warten Sie nicht, bis ihre Raketen in der Luft sind.« »Ja, Sir.« -242-
Jake hatte nichts mehr aus Washington gehört, was etwas an der Einschätzung änderte, dass sich die Colón in internationalen Gewässern befand. So weit es ihn betraf, war das also eine Tatsache. Die Kubaner hatten kein Recht, Schiffe oder Flugzeuge außerhalb ihres Hoheitsgebietes zu beschießen. Sollten sie es trotzdem tun, war Jake Grafton entschlossen zurückzuschießen. Wenn die anderen zuerst schossen, würden sie vermutlich die Besatzungen und Passagiere von einem oder zwei amerikanischen Flugzeugen töten, einschließlich dem von Jake Grafton, das lag auf der Hand; dessen waren sich auch die Crews der EA-6B Prowlers und der Hornets sehr wohl bewusst. Als Jake Grafton in der Osprey Platz nahm, fragte er sich, ob die Marines in den beiden anderen Flugzeugen begriffen, welche Risiken mit dieser Mission verbunden waren. Er vermutete, dass sie es nicht wussten und wahrscheinlich auch gar nicht wissen wollten. Ihr Job war es, die Befehle ihrer Offiziere auszuführen, und sobald die Offiziere sie in einen Einsatz führten, war niemandem damit geholfen, wenn sich die Mannschaften den Kopf über die mit dem Einsatz verbundenen Gefahren zerbrachen. Dieser Gedanke zog einen anderen nach sich: War er sich selbst der Risiken bewusst? »Alles okay, Admiral?« Das kam von Toad. Jake Grafton nickte lächelnd. Einen Freund wie Tarkington fand man nur selten. Jake hatte ihn nicht gefragt, ob er sein Leben auf dieser Mission riskieren wollte, denn das hätte der Commander als Beleidigung aufgefasst. Der Lärm, die Wärme und die Dunkelheit wirkten irgendwie beruhigend, als wäre das Flugzeug ein geräuschvoller, sicherer Mutterschoß. Nachdem die Osprey abgehoben hatte, saß Jake fünf Minuten lang mit geschlossenen Augen da, genoss das Gefühl zu fliegen, lud seine inneren Batterien auf. Dann begab -243-
er sich ins Cockpit und hockte sich hinter die Piloten. Beide trugen Nachtsichtbrillen. Von seiner Position aus konnte er die Computer-Displays auf der Instrumentenkonsole sehen. Der Flugingenieur reichte ihm einen Helm, der bereits mit den Bordsystemen verbunden war, so dass Jake mit den Piloten sprechen und den Funkverkehr verfolgen konnte. Die Prowlers, Hornets, F-14 und S-3-Tankflugzeuge gaben ihre Meldungen durch. Rita informierte den Einsatzkoordinator in der E-2 Hawkeye, dass die Entfernung zum Zielobjekt noch zwanzig Meilen betrug. Sie flog die Osprey in 1000 Fuß über Meerhöhe mit einer Geschwindigkeit von 250 Knoten. »Sichtweite beträgt fünf oder sechs Meilen«, sagte sie über das Bordkommunikationsnetz zu Jake. »Einige Regenschauer in der näheren Umgebung. Wind aus Westnordwest.« »Okay.« »Wir gehen wie geplant vor«, fuhr sie fort, um sich zu vergewissern, dass Jake, ihr Copilot und der Crewführer auf dem Laufenden blieben. »Ich werde den Vogel in den Wind drehen, dann sinken, ihn rückwärts auf das Schiff zutreiben lassen und die Rampe über dem Heckaufbau des Frachters absenken.« »Zehn Meilen«, meldete der Copilot. Jake nahm den Bordhelm ab und tauschte ihn gegen einen Marine-Einsatzhelm, der ein kleines eingebautes Funkgerät enthielt, das wahlweise auf einer von vier verschiedenen Frequenzen sendete. Empfindliche Empfänger in der Osprey erfassten die energieschwachen Emissionen des Helmfunks und schickten sie mit höherer Leistung zurück in den Äther, so dass jeder innerhalb des taktischen Netzes in die Kommunikation eingebunden war, einschließlich des Einsatzkoordinators in der E-2, der Besatzung an Bord des Flugzeugträgers und der Maschinen, die sich zurzeit in der Luft befanden. -244-
Nachdem Jake sich eine Nachtsichtbrille aufgesetzt hatte, blickte er durch die Frontscheibe der Osprey. Die Nacht war wie weggewischt. Er konnte den havarierten Frachter erkennen, noch einige Meilen voraus, die sich an den Klippen brechenden Wogen, die an Deck gestapelten Container, die in allen Richtungen leere See. Die nächste feste Landmasse war eine Insel, kaum mehr als drei Meilen entfernt, von der er nur den Brandungsstreifen erkennen konnte. Die Osprey drosselte die Geschwindigkeit. Rita schwenkte die Motorengondeln in die vertikale Position und wechselte vom Tragflächen-Modus in den Helikopter-Modus. Computer überwachten ihre Eingaben und erhöhten allmählich den Auftrieb durch die Rotorblätter. Mit der sinkenden Geschwindigkeit verloren die Seiten- und Höhenruder ihren Wirkungsgrad. Der Übergang von der Funktion der Osprey als Flugzeug zu der eines Hubschraubers verlief glatt und stufenlos, ein Wunder der Technik, und als solches empfand Jake es auch. Er behielt den Frachter während des gesamten Manövers im Auge: keine Menschen zu sehen. Der Bug des Schiffes lag auf den Felsen, Es hatte einen kleinen Frontaufbau, Hauptaufbau und Brücke befanden sich achtern. Die Ladung war mittschiffs in Frachträumen verstaut, weitere Container waren an Deck zwischen der Brücke und der Back gestapelt. Es gab zwei große Kräne, einer am Bug, der andere am Heck. Der Frachter hatte nur einen Schornstein und - seiner Größe nach zu schließen vermutlich auch nur eine Schraube. Jake konnte sehen, dass die Container ungeordnet über das Deck verstreut he rumstanden. Einige waren offensichtlich aufgebrochen worden und leer, eine ganze Menge mehr schien komplett verschwunden zu sein. Rita schwenkte von der Colón weg in den Wind. Toad und der Crewführer warteten vor der geöffneten Rampe am Heck des Flugzeugs; Jake gesellte sich zu ihnen. -245-
Der Crewführer wies Rita über Bordfunk ein, vierzig Fuß zurück, zehn Fuß abwärts, während sie das Annäherungsmanöver über einen kleinen Monitor verfolgte, der für diese Mission im Cockpit installiert worden war. Tiefer, näher an das Schiff heran… und dann berührte die Rampe das Deck. »Los, los, los!«, rief der Crewkommandant. »Auf geht's«, sagte Jake in das stimmaktivierte Helmmikrofon. Nach einer Stunde in der fliegenden Osprey fühlte sich das unbewegliche Deck des gestrandeten Frachters seltsam unter seinen Füßen an. Hier auf dem Heckaufbau entfaltete der Luftstrom der gut zwölf Meter durchmessenden Rotoren die Wirkung eines Miniaturhurrikans, eine Mischung aus heftigen Windböen, Gischt, Staub und Abfall, der vom Deck und den Containern aufgewirbelt wurde. Toad und Jake kauerten tief geduckt auf dem Deck, während sich die Osprey entfernte. Die Laderampe hatte die Colón nicht länger als fünfzehn Sekunden berührt. Jake sprach in sein Lippen-Mikro und überzeugte sich davon, dass der Einsatzkoordinator ihn hören konnte. Toad führte ihn mit einer M-16 im Anschlag zum Hauptdeck. Grafton trug eine laufende Videokamera und zwei 35-Millimeter-Kameras mit sich. Die Videokamera und einer der beiden Fotoapparate enthielten Infrarotfilme, der zweite Fotoapparat, der mit einem Blitzlicht ausgestattet war, einen konventionellen Film. Den ersten Stopp legten sie auf dem Hauptdeck ein, wo Jake die Container inspizierte. Bei etlichen standen die Klappen offen, bei manchen waren sie geschlossen, aber alle waren leer. Obwohl er nicht wusste, wie viele der Behälter da sein sollten, war der Bereich um die Hauptladeluken herum bemerkenswert frei. Die Luken selbst waren nicht ordnungsgemäß versiegelt, eine war zur Seite geklappt. -246-
Keine Menschenseele zu sehen, nicht eine einzige. Das Schiff wirkte völlig verwaist, und es lag fest auf Grund. Jake spürte nicht die geringste Bewegung. Er leuchtete mit einer Taschenlampe in einen Ladeschacht. Dieser Teil des Frachtraums schien nicht gänzlich gefüllt zu sein; auch hier waren viele der Container geöffnet worden. Während die beiden Männer mit der Videokamera filmten und hin und wieder innehielten, um Fotos zu schießen, suchten sie, bis sie eine Leiter fanden, die in die Ladebucht des Schiffes führte. Toad baute sich neben der Luke auf, die M-16 schussbereit. Jake stieg die Leiter hinab in den dunklen Frachtraum. Er hatte die Nachtsichtbrille abgesetzt, in vollkommener Finsternis war sie nutzlos. Mit der Taschenlampe leuchtete er um sich und ließ die Fingerspitzen der anderen Hand unbewusst über die Pistole in seinem Hüftholster gleiten. Dieser Teil des Frachtraums war halb leer, doch lag überall verstreut das Verpackungsmaterial herum, in das die Gefechtsköpfe eingewickelt gewesen waren; Jake watete knietief im Abfall. Die Container hier waren offensichtlich leer. Er blieb nicht länger als eine Minute, bevor er wieder die Leiter hinaufkletterte. »Überprüfen wir die Brücke«, sagte er zu Toad über die taktische Funkfrequenz. Sie gingen nach achtern und stiegen über eine Außentreppe zur Brücke hinauf, die von einer Seite des Frachters zur anderen reichte. »Sie haben den Kahn leer geräumt«, bemerkte Toad über das Taktik-Netz. »Yeah«, knurrte Jake, ohne stehen zu bleiben. In der Brücke setzte er erneut die Nachtsichtbrille ab und benutzte die Taschenlampe. Er wollte in normalem Licht sehen, -247-
was es zu sehen gab. Was er fand, waren Blutflecken. Es musste eine Menge Blut im Kommandostand geflossen sein, überall entdeckte er schwarze, klebrige Pfützen geronnenen Blutes. Leute waren darin herumgewatet und hatten in der ganzen Brücke schmierige Fußabdrücke hinterlassen. »Offenbar hat nicht die gesamte Besatzung auf der Lohnliste der Kaperer gestanden«, murmelte Jake und beendete den Rundgang schnell. Er filmte die Blutflecken und schoss eine Reihe von Fotos, wobei er die Kamera mit dem regulären Film und dem Blitzlicht benutzte. Toad suchte unterdessen mit seiner Taschenlampe nach dem Logbuch und den Schiffsdokumenten. »Der Safe ist offen und leer«, meldete er Jake. Er kehrte zurück und sah zu, wie der Admiral seine Aufnahmen machte. »Wo, zur Hölle, stecken die Gefechtsköpfe?«, grübelte er laut. »Die Amerikaner sind an Bord der Colón, Colonel.« Der Mann schüttelte Santana wach. Er hielt eine brennende Kerze in der Hand. Die Flamme flackerte in der durch die Jalousien wehenden tropischen Brise. Santana setzte sich auf und blickte auf seine Uhr. Er stieg aus dem Bett, ging auf die Veranda des kleinen Hauses hinaus und suchte die nächtliche See mit einem Fernglas ab. Nichts. Langsam ließ er das Fernglas sinken und lauschte angestrengt. Ja, er konnte Motorengeräusche hören, sehr schwach… Düsentriebwerke, das Flappen von Rotoren… »Wie lange sind sie schon an Bord?« »Ich weiß es nicht, Colonel. Bei diesem Wind ist es schwer, -248-
Helikoptergeräusche zu hören. Ich bin sofort gekommen, um Sie zu wecken, als ich die Stimmen im Funkgerät gehört habe.« »Admiral, schauen Sie sich das an.« Toad kam zu Jake herüber und zeigte ihm das Display eines kleinen batteriebetriebenen Computers. »Ich fange Funkwellen auf, selbst wenn wir nicht das taktische Netz benutzen. Irgendwo auf dem Schiff gibt es einen aktiven Sender.« Jake Grafton zog das Mikro zu den Lippen herab. »Hawkeye, hier Cool Hand. Hat irgendjemand Radiowellen vom Zielobjekt aufgefangen?« »Cool Hand, hier Hawkeye. Die Emissionen haben vor rund einer Minuten angefangen, als Sie zur Brücke hochgestiegen sind. Wir hören sie jetzt wieder.« »Welche Art von Funkwellen?« »Erstaunlicherweise, Sir, empfange ich klaren gebündelten Funkverkehr. Ich kann Sie auf dieser anderen Frequenz sprechen hören.« »Was, zur Hölle…« »Das verdammte Schiff ist verkabelt und mit Sprengladungen gespickt! Die Bastarde belauschen uns in diesem Augenblick! Wir müssen sofort raus hier!« Jake stieß Toad in Richtung der Brückentür. Toad sprintete los, dicht gefolgt von Jake Graf ton. Colonel Santana konnte durch das Fernglas rein gar nichts erkennen, aber er hörte die amerikanischen Stimmen aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. Die dazu gehörigen Mikrofone waren auf der Brücke der Colón versteckt. »Jederzeit, Tomas«, sagte er. Tomas drückte dreimal auf die Sendetaste. In der Dunkelheit erblühte eine rotgelb leuchtende Blume. Santana richtete das Fernglas auf die Lichtquelle, bis die letzte Explosion verblasste. Er konnte das Flackern der sich über -249-
die Nuestra Señora de Colón ausbreitenden Flammen sehen. Diese Amerikaner! So durchschaubar! Er kicherte leise vor sich hin. »Ins Meer!«, schrie Jake. Toad hechtete über die Reling, hinein in die Dunkelheit. Während er in die Tiefe stürzte, fragte er sich, was unter ihm war, Felsen oder Wasser. Er und Jake Grafton segelten noch durch die Luft, als hinter ihnen die Brücke explodierte. Jake spürte die Hitzestrahlung und die erste Druckwelle. Dann schlug dunkles, kühles Wasser über ihm zusammen und verschluckte ihn. Als er sich zurück zur Oberfläche arbeitete, fühlte er weitere Explosionen im Schiffsinneren. Die Erschütterungen trafen ihn wie die Fausthiebe eines Preisboxers. Flammen erhellten die Nacht, als sein Kopf durch die Wasseroberfläche brach. Über den Lärm der Explosionen und das Lodern des Feuers hinweg konnte er Tarkington fluchen hören.
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11 Nachdem Rita sie aus dem Meer gefischt und zum Flugzeugträger zurückgeflogen hatte, wurden Toad Tarkington und Jake Grafton in der Krankenstation untersucht. Danach duschten sie und versuchten, ein paar Stunden Schlaf abzubekommen. Toad gab es bald auf - zu viel Adrenalin. Er lag in seiner Koje und dachte daran, wie es gewesen war, über die Brückenreling zu springen, ohne zu wissen, ob er auf Felsen oder ins Wasser stürzen würde; die Erinnerung ließ ihn erschaudern. Der harte Aufprall auf dem Wasser war beinahe eine Erlösung gewesen. Er schaltete das Licht an und betrachtete die Fotos von Rita und Tyler, die er an die Wand der Kabine geklebt hatte. Wirklich dämlich, Toadman, wirklich dämlich. Grafton muss die Lage der Klippen vorher überprüft und sich genau eingeprägt haben. Er wusste, wo er über Bord springen konnte und wo nicht, und du hast nie auch nur daran gedacht, vorher nachzusehen. Da er ohnehin nicht schlafen konnte, stand er auf, zog sich an und begab sich in die Computerabteilung, wo er eine geheime Email an die Leute der National Security Agency tippte. Nach dem Frühstück war er bereit, Jake Grafton und Gil Pascal zu unterrichten. »Die Nuestra Señora de Colón hatte diesen kleinen kubanischen Hafen am westlichen Ende von Bahia de Nipe angelaufen, bevor sie gestrandet ist. Sie hat dort sechs Stunden gelegen, dann ist sie losgedampft und auf den Klippen auf Grund gelaufen, wo wir sie gefunden haben. Wenn Sie sich dieses Satellitenfoto ansehen, können Sie ein Boot in der Nähe erkennen, das wahrscheinlich die Mannschaft nach der Havarie eingesammelt hat. Die Leute von der NSA in Fort Meade sagen, -251-
sie könnten Seile sehen, die vom Schiff zu diesem Boot laufen und an denen die Männer herabrutschen konnten.« Toad Tarkington trat einen Schritt zurück, damit Jake Grafton und Gil Pascal die Satellitenfotos betrachten konnten, die er an ein schwarzes Brett in der Zentrale der Einsatzplanung geheftet hatte. »Wo sind die Waffen jetzt?«, fragte Gil Pascal. »In diesem Fischereilagerhaus.« Toad zeigte mit einem Stift auf das entsprechende Foto. »Genau hier.« »Das ist ein leichtes Ziel für die SEAL«, kommentierte der Chief of Staff. »Zu leicht«, sagte Jake Grafton und bedauerte die Bemerkung gleich darauf. »Wann hatte der Frachter diesen Hafen erreicht?« »Vor drei Tagen gegen Mittag.« »Und die Kubaner haben den Nachmittag damit verbracht, die Fracht auszuladen?« »Ja. In derselben Nacht ist die Colón dann auf das Riff gelaufen.« »Zu leicht.« Jetzt war sich Jake sicher. »Was meinen Sie damit?« »Diese Leute sind nicht dumm. Sie wissen über die Satellitenaufklärung Bescheid, sie wussten, dass wir sehen würden, wie sie das Schiff in diesem Hafen entladen; sie wollten, dass wir es sehen. Die Frage lautet also: Warum haben sie sich die ganze Mühe gemacht, eine derartige Show für uns abzuziehen? Was verbergen sie vor uns?« Toad ging die Satellitenfotos durch, überprüfte die Zeitangaben. »Hier läuft das Schiff in die Bucht ein, da liegt es am Pier von Antilla, da wird es entladen, hier ist eine Infrarotaufnahme, wie es nach Einbruch der Dunkelheit zu den Klippen fährt, hier ein weiteres Infrarotfoto des Frachters und des -252-
Bootes, das wahrscheinlich die Besatzung weggebracht hat.« »Radarbilder?« Auch davon hatte Toad eine Hand voll. »Ich möchte wissen, wo das Schiff während der Zeit war, nachdem der Zerstörer es verlassen hat und es in diesem kubanischen Hafen aufgetaucht ist.« »Die NSA arbeitet noch daran«, sagte Toad. »Vielleic ht haben wir die Antwort in ein paar Stunden, Sir.« »Dann informieren Sie mich sofort.« »Die Waffen waren nicht mehr an Bord des Schiffes«, berichtete der Nationale Sicherheitsberater dem Präsidenten im Oval Office. »Der Frachter war bereits geräumt, als er auf das Riff gelaufen ist. Offensichtlich hatten die Kubaner es vermint. Es ist explodiert, nur wenige Minuten nachdem der Admiral an Bord gegangen war, um es zu inspizieren.« »Verluste?« »Nein, Sir, wir hatten Glück. Hätte der Admiral mehr Männer mitgenommen, wäre das Ergebnis vielleicht anders ausgefallen.« »Wo sind also die Waffen?« »Die NSA vermutet sie in einem Lagerschuppen direkt am Wasser, mitten in einem Ort namens Antilla. Die Auswertungsabteilung untersucht zurzeit die Messdaten der Satelliten.« »Scheiße!«, entfuhr es dem Präsidenten. William Henry Chance und Tommy Carmellini nahmen das Abendessen im Hauptrestaurant des größten Casinos am Malecon ein. Chance war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass neunundneunzig Prozent der auf der Insel lebenden -253-
Kubaner nicht so gut aßen, als er beobachtete, wie die Kellner zwischen den hauptsächlich von Europäern besetzten Tischen umhereilten. Überfluss inmitten von Armut, eine alte kubanische Geschichte, die so alltäglich war, dass sie keine gesonderte Erwähnung mehr verdiente. Carmellini spielte nur mit seinem Essen, er war zu angespannt, um es genießen zu können, zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Chance versuchte, sich auf ein hervorragendes Streichquartett zu konzentrieren, das in einer Ecke des Speisesaals klassische Musik spielte. So weit er es beurteilen konnte, waren er und Carmellini auf ihren Streifzügen durch die Hauptstadt nicht verfolgt worden, obwohl er nur zu gut wusste, dass sich eine wirklich erstklassige Überwachung unmöglich entdecken ließ. Verfügte man über genügend Leute, Funkgeräte und Autos, konnte man die Zielpersonen ununterbrochen im Auge behalten, ohne ihnen direkt auf den Fersen bleiben zu müssen und so Gefahr zu laufen, von ihnen bemerkt zu werden. Dann schienen sich die Verfolgten völlig unbeobachtet durch die Stadt zu bewegen, und doch war es eine bloße Illusion. Obwohl Chance das genau wusste, konnte er keinerlei Anzeichen dafür feststellen, dass sich irgendwer für ihn und Carmellini interessierte. Er war kein Anfänger, er hatte jede Menge Erfahrung in diesem Gewerbe, und so wusste er, was möglich und was wahrscheinlich war. All das ging ihm durch den Kopf, als der makellos gekleidete kubanische Kellner den Kaffee brachte. Die Musik bildete den Hintergrund zu dem Plappern der anderen Restaurantbesucher, die sich in mindestens fünf oder sechs verschiedenen Sprachen unterhielten. Chance trank seinen Kaffee und ließ den Blick durch den Raum wandern. Niemand schenkte ihm die geringste Beachtung. Nicht ein einziger verstohlener Blick, keine hastig -254-
niedergeschlagenen Augen, niemand, der sich auffällig stur weigerte, in seine Richtung zu sehen. Nun, wenn er und Carmellini es tun wollten, dann war dies ihre Nacht. Je länger sie in Havanna blieben, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Interesse der Abteilung für Staatssicherheit, der Geheimpolizei erregten. Das Interesse von Santana und Alejo Vargas. Vielleicht hatte Vargas bereits die nötigen Mittel eingesetzt, um alles über sie in Erfahrung zu bringen; vielleicht warteten er und seine Chargen heute Nacht im wissenschaftlichen Institut darauf, die beiden Agenten auf frischer Tat zu ertappen, um die Vereinigten Staaten so in Verlegenheit zu bringen oder sogar einen legitimen Grund zu haben, Chance und Carmellini als Spione zu exekutieren. In diesem Metier waren die Unwägbarkeiten immer gewaltig, die Risiken unmöglich abzuschätzen. Trotzdem würden er und Carmellini in das Gebäude eindringen müssen, um herauszufinden, was sich darin verbarg. Sollte ein Projekt zur Entwicklung biologischer Waffen in Kuba existieren, konnte es nur in dem Gebäude durchgeführt werden, das die umfangreichsten und bestausgerüsteten Laboratorien beherbergte, die es auf der Insel gab. Außerdem fand man dort auch die erfahrensten Leute, die Mikrobiologen, Chemiker und fähigen Labortechniker, die unverzichtbar waren, wollte man große Mengen an Mikroorganismen herstellen. Chance wusste sehr gut, dass für einen Forscher, dessen Ziel es war, eine biologische Waffe zu konstruieren, das schwierigste technische Problem darin bestand, einen Weg zu finden, die Mikroorganismen innerhalb eines Gefechtskopfs oder einer Bombe über einen längeren Zeitraum lebensfähig zu erhalten. Einige biologische Kampfstoffe ließen sich leichter lagern als andere, weshalb sie am häufigsten für die Waffenforschung ausgewählt wurden. So waren Anthraxsporen beispielsweise -255-
sehr stabil, wie auch die Sporen der Pilzerkrankung Coccidioidomycosis, die ihre Opfer handlungsunfähig macht, sie aber nur selten tötet. Andererseits konnten die natürlich vorkommenden Stämme einer infektiösen Krankheit auch verändert werden, um die Mikroorganismen stabiler und ansteckender zu machen, oder um eine weit verbreitete Immunität gegen die Erreger zu umgehen. Genau zu diesem Zweck hatten Forscher vor Jahren einen höchst infektiösen Stamm von Poliomyelitis-Viren entwickelt. Welcher Mikrobiologe leitete wohl das Projekt? Was für ein Mensch war er, welche Motivation trieb ihn zu dem an, was er tat? Vielleicht beantwortete sich diese Frage allein durch die Existenz einer totalitären Gesellschaft von selbst, aber Chance fand, dass es sich lohnte, der Frage nachzugehen, sobald er ein wenig Zeit hatte. Falls er jemals ein wenig Zeit hatte. »Fertig?«, murmelte er Carmellini zu, der gerade den letzten Schluck Kaffee trank. Die beiden Männer bezahlten ihre Rechnung in bar und verließen das Casino. Sie stiegen in einen Wagen, der am Straßenrand parkte und von einem ihrer Partner gefahren wurde, und tauchten in der Nacht unter. Auf einem dunklen, verlassenen Feldweg am Rande der Stadt trafen sie den Transporter der Telefonfirma, den sie schon früher benutzt hatten, nur prangte auf ihm jetzt das Logo eines Lebensmittelgroßhändlers. Im Inneren des Lieferwagens schlüpften Chance und Carmellini in schwarze Hosen, leichte schwarze Pullover mit hohen Rollkragen, schwarze Socken und schwarze Schuhe mit Gummisohlen. Nachdem sie sich umgezogen hatten, saßen sie längere Zeit da, lauschten dem Konzert der Insekten, tranken Wasser und hörten eine bestimmte Funkfrequenz ab. Einer ihrer Kollegen beobachtete das Gebäude der wissenschaftlichen -256-
Fakultät an der Universität; er meldete sich alle fünfzehn Minuten. Bisher hatte er nichts Ungewöhnliches bemerkt. »Warum sind Sie eigentlich Einbrecher geworden?«, fragte Chance Carmellini, während draußen die Grillen zirpten. »Mich hat wohl die Herausforderung gereizt, schätze ich. Ich hatte einen Onkel, der ein paar Safes geknackt hat… Er war eine Legende. Das einzige Mal, dass er im Knast gelandet ist, war wegen Steuerhinterziehung. Dafür hat er ein paar Jahre abgerissen. Ich habe ihn immer mit Fragen gelöchert. Wenn ich wirklich vorhätte, ein Safeknacker zu werden, hat er gesagt, sollte ich in einer Firma arbeiten, die diese Dinger herstellt und bei den Kunden einbaut. Das war ein guter Rat. Ich habe mehrere Sommersemesterferien lang Safes installiert, als ich auf dem College war. Bin ein bisschen zu übermütig geworden, mehr als gut für mich war. Ich dachte, ich wüsste, wie die Sache läuft, verstehen Sie? So führte eins zum anderen, und ehe ich wüsste, was ich tat, habe ich die Dinger geknackt.« Chance nickte. »Und jetzt mache ich immer noch den gleichen Job. Nur werde ich diesmal nicht in den Bau gehen, wenn man mich erwischt.« »Yeah. Die Kubaner werden uns wahrscheinlich hinrichten, sobald Vargas mit uns fertig ist - falls dann noch was zum Hinrichten von uns übrig ist.« »So wie ich das sehe, habe ich es schließlich doch noch in die erste Liga geschafft.« »Ihr Optimisten seht immer die helle Seite des Lebens.« »Was mich zu einem Punkt bringt. Sie haben uns Garotten, Messer und Pistolen besorgt. Ich trage nie eine Waffe. Ich bin ein Safeknacker, kein Killer.« »Sie werden wahrscheinlich ein toter Safeknacker sein, wenn man Sie da drinnen schnappt.« -257-
»Ich trage nie Waffen. Niemals.« »Eine weise Vorsichtsmaßnahme, wenn Sie den Safe eines Gentleman ausräumen. Aber wie Sie selbst gesagt haben, spielen Sie jetzt in der ersten Liga.« »Hören Sie, Chance…« »Das ist kein Spiel, Tommy. Was mich betrifft, ich möchte noch eine Weile am Leben bleiben. Tun Sie, was ich Ihnen sage.« Der Fahrer parkte den Lieferwagen in einer Gasse nahe der Wissenschaftlichen Fakultät. Er hockte über das Lenkrad gebeugt da und beobachtete die Leute auf den Bürgersteigen, während Chance und Carmellini das Gebäude mit Ferngläsern absuchten. Sie saßen hinter dem Fahrer im Laderaum des Transporters und spähten an ihm vorbei durch die Windschutzscheibe. Der Weg hinein führte über das Dach, entschieden sie. Um dorthin zu gelangen, würden sie in das Nachbargebäude eindringen müssen, in dem Vorlesungen gehalten wurden, in den obersten Stock steigen und auf das Dach klettern. Von dort aus mussten sie auf das Dach des wissenschaftlichen Instituts kommen und einen Einstieg finden. Das Haus mit den Vorlesungssälen war nachts zwar verschlossen, wurde aber nicht bewacht. Eine Stunde nach Mitternacht hielt der Lieferwagen in der schmalen Seitenstraße hinter dem Vorlesungsgebäude. Die beiden schwarz gekleideten Männer streiften Latexhandschuhe über, schnallten sich Rucksäcke um und verließen den Wagen durch die Seitentür. Die Gebäudetür war nicht mit einer Alarmanlage gesichert. Carmellini knackte das Schloss in dreißig Sekunden, und sie waren drinnen. Der Lieferwagen fuhr sofort davon, als sich die Tür wieder -258-
hinter ihnen schloss. Sie blieben eine Weile im Foyer stehen und ließen ihren Augen Zeit, sich auf die Dunkelheit einzustellen. Carmellini ging voraus. Chance zog seine Pistole, entsicherte sie und hielt den Lauf auf den Boden gerichtet. Das spärliche Licht, das durch die Fenster in die Seminarräume und von dort durch die offenen Türen in die Gänge fiel, konnte die Dunkelheit kaum vertreiben. Die Fußböden bestanden aus nacktem Beton, die Wände aus massivem Mauerwerk, die Decke war gut vier Meter hoch. Das Gebäude war völlig schmucklos und ohne den Hauch architektonischer Fantasie errichtet worden. Tommy Carmellini glitt lautlos wie ein Schatten dahin. Chance dagegen hatte das Gefühl, Krach genug für beide zu machen. Er konnte seine Atemzüge hören, das Schlagen seines Herzens, den Widerhall seiner Schritte in den höhlenartigen Fluren. Dicht an die Wand gedrückt, stiegen sie die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Carmellini bewegte sich langsam und gleichmäßig, horchte vor jeder Biegung aufmerksam, bevor er sie umrundete, schob den Kopf in einer Hö he, in der niemand darauf achten würde, um die Ecken. Dann huschte er jedes Mal außer Sicht, und Chance folgte ihm so leise wie er konnte. Das Treppenhaus endete im vierten Stock des Gebäudes. Es musste eine weitere Treppe geben, vermutlich eine sehr schmale, die auf das Dach führte. Wo mochte sie sein? Carmellini wollte sich gerade auf die Suche machen, als er plötzlich warnend die Hand hob und einen Finger auf seine Lippen legte. Chance lauschte mit aller Konzentration, die er aufbringen konnte. Er hörte etwas! Stimmen? -259-
Der jüngere Mann tastete sich Schritt für Schritt den Flur entlang auf eine offene Tür zu und verharrte dort reglos. Erst nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Geräusche nicht aus dieser Tür kamen, spähte er hinein. Kurz darauf kehrte er zu Chance zurück. »Ein Pärchen, das es miteinander treibt«, hauchte er Chance ins Ohr. Die Ruger mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer wog schwer in der Hand des Agenten. »Werden Sie sie töten?« Sie nicht zu erschießen wäre riskant, keine Frage. Chance lauschte. Die Liebenden flüsterten. Sonst hörte er nichts. »Suchen Sie die Treppe zum Dach.« Die Treppe befand sich am Ende eines weiteren Flurs hinter einer verschlossenen Tür. Carmellini arbeitete fast eine Minute lang in der Finsternis an dem Schloss, bevor er es geknackt hatte. Sie zogen die Tür hinter sich zu und tasteten sich in absoluter Schwärze die Treppe hinauf, bis sie in eine voll gestopfte Dachkammer gelangten. Chance benutzte seine Taschenlampe. Möbel, Schreibtische, Stühle waren übereinander gestapelt. Von der Mitte des Raumes aus führte noch eine Stufenleiter nach oben. Auch die Dachluke war abgesperrt, diesmal mit einem Vorhängeschloss auf dieser Seite der Klappe. »Was, wenn auch auf der anderen Seite ein Schloss hängt?«, fragte Chance. »Dann stecken wir in der Scheiße. Es sei denn, Sie wollen das Ding eintreten.« »Nein.« »Versuchen wir, erst das Schloss und dann die Luke zu öffnen.« »Okay.« -260-
Das Vorhängeschloss war alt und verrostet. Nach mehreren Minuten gab sich Carmellini geschlagen und rückte dem Metallbügel mit einer Drahtsäge zu Leibe. Es kostete ihn zwei Minuten höchster Anstrengung, den Bügel zu durchtrennen, aber der Vorgang machte verhältnismäßig wenig Krach. Nachdem sie das Schloss und die Haspe entfernt hatten, drückten sie gegen die Luke. Nichts. Sie stemmten sich gemeinsam dagegen und erhöhten den Druck. Langsam und widerwillig schwang die Klappe mit einem fürchterlichen Knarren auf. »Der Lärm weckt die Toten«, murmelte Chance und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Carmellini zwängte sich durch die Öffnung und kletterte hindurch. Chance folgte ihm. Das Metalldach fiel nach mehreren Richtungen hin steil ab. Auf Händen und Knien krochen die beiden Männer zu der Kante, die dem Gebäude der Wissenschaftlichen Fakultät gegenüberlag. »Lassen Sie mich das übernehmen«, flüsterte Carmellini. Er zog ein Seil aus seinem Rucksack. »Gehen Sie mir aus dem Weg, warten Sie an der Luke.« Chance kroch davon. Die Lichter der Stadt und die Straßenlaternen erhellten das Dach ziemlich gut, sogar etwas zu gut. Zwar konnte man so problemlos sehen, wohin man trat, aber sollte irgendjemand auf der Straße zufällig einen Blick in die Höhe werfen, würde er wahrscheinlich die Silhouetten der schwarz gekleideten Gestalten entdecken, die sich vor dem leuchtenden Himmel abzeichneten. Chance schmiegte sich an den Dachaufbau, in dem die Treppe endete, damit seine Umrisse mit dem dunklen Hintergrund verschmolzen. Er beobachtete Carmellini, der an der Dachkante das Seil ausschüttelte und den Greifhaken überprüfte. Dann begann er, den Haken über seinem Kopf kreisen und das Seil -261-
dabei immer weiter durch seine Finger gleiten zu lassen, so dass sich der Kreis, den der Haken beschrieb, ständig vergrößerte. Erst als der Kreis fast übermäßig groß erschien, ließ Carmellini das Seil los und schleuderte den Greifanker über den Abgrund zwischen den Gebäuden auf einen metallenen Kamin zu, der aus dem anderen Dach ragte. Der Haken prallte mit einem hörbaren Geräusch auf und rutschte an dem Dach entlang. Carmellini holte das Seil schnell in großen Schlaufen ein, war aber zu langsam, um zu verhindern, dass der Haken über die Dachkante glitt. Nachdem er ihn wieder in der Hand hielt, duckte er sich. Irgendjemand war unten auf der Straße. Selbst von seiner Position aus konnte Chance Stimmen hören. Er ließ den Blick über die Dächer und die dunklen Fenster der Nachbargebäude wandern, über die Straßenabschnitte, die er einsehen konnte. Die Minuten schleppten sich dahin, bis die Stimmen aus der Tiefe endlich verklangen. Carmellini richtete sic h wieder auf, ließ das Seil erneut kreisen, schleuderte es von sich… und diesmal fanden die gebogenen Metallklauen halt! Er ruckte an dem Seil, kroch zu Chance zurück, schlang das Seil um den Dachaufbau, zurrte es so straff fest, wie er konnte, und verknotete es. »Das ist also unser Weg hinüber«, sagte er. »Wollen Sie zuerst gehen, oder soll ich den Anfang machen?« »Ist der Haken auch fest verankert?« »Darauf können Sie wetten.« »Alter vor Schönheit«, brummte Chance, streifte ein Paar Lederhandschuhe über und ergriff das Seil. Er zog sich ein Stück vor und hakte die Unterschenkel über das Seil. Der Rucksack zerrte an seinen Schultern. Es bedurfte einer beachtlichen Kraftanstrengung, sich auf -262-
diese Art vorzuarbeiten. Das Seil sackte unter seinem Gewicht gefährlich durch und bildete ein flaches V mit ihm am unteren Ende, was das Vorwärtskommen zusätzlich erschwerte. Chance biss die Zähne zusammen, versuchte, gleichmäßig zu atmen, und hangelte sich an dem Seil entlang, wobei er es sorgfältig vermied, nach unten zu sehen. An einem bestimmten Punkt wusste er, dass er über dem Abgrund hing, aber das spielte ohnehin keine Rolle. Sollte er abgleiten, würde er sterben, ob er nun auf das abschüssige Dach fiel und über die Kante rutschte oder es verfehlte und direkt in die Tiefe stürzte. Er zog sich mit schmerzenden Muskeln verbissen weiter, bis er spürte, wie sein Rucksack über das Dach des Wissenschaftsinstituts schleifte. Erst dann löste er die Beine vom Seil, stellte die Füße vorsichtig auf das Dach, um seine Arme zu entlasten, und hangelte sich weiter zum Kamin vor. Der Greifhaken hielt mit nur einer Klaue. Chance schlang das Seil um den Kamin, klemmte den Haken erneut fest und ruckte mehrmals daran, um sich zu vergewissern, dass die Klauen richtig saßen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete ein paarmal tief durch. Da er eine Hand auf das Seil gelegt hatte, konnte er fühlen, wie es sich unter Carmellinis Gewicht spannte. Er spähte zu dem Nachbargebäude hinüber. Carmellini kletterte so geschickt wie ein gottverdammter Schimpanse über den Abgrund. Der jüngere Mann befand sich etwa auf halber Strecke, als das Seil plötzlich riss, offensichtlich dort, wo es auf der anderen Seite befestigt war. Er beschrieb eine bogenförmige Bahn, stürzte lautlos in die Tiefe und verschwand aus Chances Blickfeld. Ein dumpfer, klatschender Laut verriet, dass ein Körper gegen die Außenwand des Gebäudes prallte. »Die Nuestra Señora de Colón befand sich unter diesem -263-
Sturmsystem sechs Stunden lang außer Sicht der Überwachungssatelliten«, erklärte Toad Tarkington Jake Grafton. Sie hatten sich über einen Tisch in der Einsatzplanungszentrale gebeugt und studierten SatellitenRadarbilder. »Als sie wieder aufgetaucht ist, war sie mit zwölf Knoten unterwegs nach Bahia de Nipe, doch nach der zurückgelegten Strecke während der Zeit zu urteilen, die sie nicht beobachtet werden konnte, betrug ihre Durchschnittsgeschwindigkeit lediglich zwei Knoten.« »Zwei?« »Zwei.« Toad zeigte dem Admiral die Positionen und die Berechnungen. »Also hat sie ir gendwo gestoppt.« »Oder einen Umweg gemacht.« »Was, wenn sie sich mit einem anderen Schiff getroffen hat und die Gefechtsköpfe umgeladen wurden?« »Möglich, aber wenn Sie sich die Routen der anderen Schiffe ansehen, werden Sie feststellen, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist. Die Fahrtrouten und Durchschnittsgeschwindigkeiten aller anderen Schiffe liegen innerhalb eines plausiblen Rahmens.« »Okay. Was, wenn das Schiff gestoppt wurde und die Mannschaft einige der Waffen über Bord geworfen hat? Vielleicht sogar alle? In flachem Wasser versenkt, damit sie später von jemand anderem wieder herausgefischt werden können? Wie tief ist das Meer in dieser Gegend?« »Das ist der Bahamas-Sockel, Admiral. Ziemlich seicht an einigen Stellen.« »Veranlassen Sie die NSA, die Gegend intensiv zu beobachten. Die Spezialisten sollen jede Satellitenaufnahme untersuchen, die seit dem Ende des Sturms gemacht worden ist. Sollten die Gefechtsköpfe über Bord geworfen worden sein, -264-
wird irgendwer aufkreuzen, um sie rauszufischen. Wir müssen dort sein, bevor dieser Unbekannte sie holen kann.« »Ja, Sir.« »Bitten Sie die Atlantische Flotte, so schnell wie möglich eine P-3 in dieses Gebiet zu schicken. Die Mannschaft soll nach ankernden oder stationären Schiffen Ausschau halten. Nach irgendwelchen Schiffen, die keine Fahrt machen. Verstanden?« »Ja, Sir.« Jake Grafton rieb sich die Stirn und überlegte, ob es noch etwas gab, das er anordnen sollte. »Äh, Admiral…«, begann Toad leise. »Ich wollte Ihnen dafür danken, dass Sie mir letzte Nacht den Arsch gerettet haben. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, als wir über die Reling gesprungen sind, hinter uns alles in die Luft geflogen ist und ich mich gefragt habe, ob wir im Wasser landen oder als blutige Klumpen auf einem Felsen enden würden. Das war eine wahrhaft religiöse Erfahrung.« Ein schiefes Grinsen huschte über Jake Graftons Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte vorher besser darauf geachtet, wo die Felsen waren. Raus aus der heißen Pfanne und rein ins Feuer! Ein paar Sekunden lang habe ich gedacht, es würde uns erwischen.« »Sie wussten es gar nicht?«, fragte Toad entgeistert. »Ich schlage vor, wir erwähnen Rita oder Callie gegenüber nichts davon«, sagte Jake und ließ Toad allein. Er musste noch an einem anderen Treffen teilnehmen. William Henry Chance packte das Seil, das hinter der Dachkante in der Dunkelheit verschwand. Es war immer noch straff. Also musste Tommy Carmellini am anderen Ende hängen! Chance stützte sich ab und begann zu ziehen, Hand um Hand. Seine Muskeln drohten zu bersten. -265-
Er hatte nicht mehr als zwei Meter Seil eingeholt, als ihm klar wurde, dass er nicht in der richtigen Position war. Mit äußerster Vorsicht stemmte er sich gegen den Kamin und hievte das Seil über seine Schultern. Jetzt konnte er den gesamten Körper als Hebel einsetzen. Ein weiterer knapper Meter. Zwei. Ein dunkler Fleck tauchte über der Kante auf, ein Kopf. Chance hielt das Seil ruhig, während Carmellini sich auf das Dach zog und die Schräge hinaufhangelte. »Mann, ich dachte schon, ich würde draufgehen!«, keuchte der jüngere Mann heiser. Wie durch ein Wunder war er unverletzt, abgesehen von ein paar Schrammen. Chance, der sich gegen den Kamin lehnte, atmete nicht weniger heftig. »Ich werde allmählich zu alt für diese Scheiße«, murmelte Carmellini. »Besorgen Sie sich das nächste Mal einen Schreibtisch-Job.« »Warum, zur Hölle, glauben Sie, habe ich wohl Jura studiert?« Chance wickelte das Seil auf und untersuchte es. Es war dort, wo sie es um den Dachaufbau des anderen Gebäudes gewickelt hatten, durchgescheuert. Er zeigte seinem Partner die Stelle und verstaute es in seinem Rucksack. »Gehen wir.« Carmellini benutzte einen Glasschneider, um ein Loch in ein Erkerfenster zu fräsen, und schlüpfte hindurch. Nachdem Chance ihm gefolgt war, riskierte er es, kurz seine Taschenlampe einzuschalten. Diese Dachkammer war mit Laborzubehör angefüllt: Petrischalen, Bunsenbrenner, Mixer, Mikroskope, ein Spektrometer, kleine und große Geräte, die er nicht identifizieren konnte. »Legen wir die Gasmasken an«, schlug er vor. »Nur für alle -266-
Fälle.« Sie streiften die Masken über und überzeugten sich, dass die Filterelemente dicht abschlossen. Diese Modelle konnten ihre Träger nur mit gefilterter Außenluft versorgen; sie besaßen zwei getrennte Ventile, eins zum Einatmen, das andere zum Ausatmen, eine schwarze Sichtscheibe mit zwei großen durchsichtigen Linsen, dazu Kapuzen, die bis zu den Schultern reichten und mit Bändern um den Hals festgezurrt werden konnten, so dass keine ungefilterte Außenluft eindrang. Nachdem die beiden Männer die Gasmasken aufgesetzt hatten, tauschten sie die Lederhandschuhe gegen Latexhandschuhe und stopften die Hosenbeine in die Säume ihre Socken. Dann schlichen sie verstohlen die Treppe hinab. Wie zuvor übernahm Carmellini auch diesmal wieder die Führung. Alle Eingänge des Gebäudes befanden sich im Erdgeschoss. Da das Labor im Keller lag, mussten Chance und Carmellini auf dem Weg dorthin zwangsläufig das Erdgeschoss passieren. Am einfachsten hätten sie mit dem Aufzug in den Keller gelangen können, aber der wurde möglicherweise von den Sicherheitsposten am Haupteingang überwacht. Damit war zu rechnen, schließlich war es eine Kleinigkeit, ein Warnlämpchen am Kontrollpult zu installieren, das aufleuchtete, sobald der elektrische Motor des Fahrstuhls ansprang. Carmellini ging voraus. Er überprüfte die Tür zum Treppenhaus im Licht seiner Taschenlampe auf Alarmanlagen, dann öffnete er die Tür einen Spalt weit und spähte hindurch. Zum Glück war das Treppenhaus beleuchtet. In den Vereinigten Staaten wäre es mit einer ganzen Batterie von Infrarotsensoren, Bewegungsmeldern, Mikrofonen und Kameras gespickt gewesen, die sich von einem Kontrollraum aus fernsteuern ließen. Doch dies war Kuba. Vor jeder Biegung fuhr Carmellini ein kleines Periskop aus, -267-
mit dem er um die Ecke sehen konnte. Vom ersten Stockwerk aus entdeckte er eine an der Wand über dem Treppenabsatz montierte Kamera, die den Eingangsbereich zum Erdgeschoss überblickte; vermutlich hing direkt über der Tür ein zweites, auf diese Kamera gerichtetes Überwachungsauge, so dass kein toter Winkel entstand. Carmellini studierte die Kamera durch das Periskop, vergrößerte die Auflösung auf Maximalwerte und regulierte die Schärfe nach; er stabilisierte das Instrument, indem er sich an der Wand abstützte. Die Überwachungskamera war fünfzehn oder zwanzig Jahre alt, mindestens. Zweifellos gab es zehn bis zwölf davon innerhalb des Gebäudes, die mit einer Sequenzschaltung gekoppelt waren, so dass ihre Aufnahmen in Intervallen auf einem Monitor in der Wachstation gezeigt wurden. Der Wachposten las vermutlich zwischendurch, aß oder unterhielt sich mit einem Kollegen, sofern er dem Kontrollbildschirm überhaupt Beachtung schenkte. Carmellini zog die Einzelteile eines Stroboskops und eine Batterie aus seinem Rucksack hervor. Er setzte das Gerät zusammen, schloss die Batterie an und wartete, bis der Kondensator sich aufgeladen hatte. Die Glühbirne wurde von ringförmig angeordneten Metallfedern umgeben, mit denen der Lichtblitz gebündelt werden konnte. Carmellini spannte die Federn so weit es ging, wodurch die Öffnung vor der Birne schrumpfte. Als das Kontrolllämpchen des Kondensators grün aufleuchtete, schob er das Gerät vorsichtig um die Ecke und lugte zum ersten Mal mit dem Kopf hervor. Ein kurzer Blick, um mit dem Stroboskop auf die Kamera zu zielen, dann drückte er es an die Wand, um nicht zu wackeln, zog den Kopf zurück, schloss die Augen und vergrub das Gesicht in der Armbeuge. William Henry Chance folgte seinem Beispiel. Der kurze, intensive Blitz sollte den Lichtstärkesensor der Kamera durchbrennen lassen. -268-
Das aufflammende Licht war so grell, dass Carmellini es noch durch die geschlossenen Lider sah. Die beiden Männer huschten die Treppe hinab. Direkt unterhalb der jetzt lahm gelegten Kamera benutzte Carmellini erneut das Periskop. Richtig, eine weitere Kamera unmittelbar über der Tür zur Hauptetage. Er wartete zehn Sekunden, bis der Kondensator sich wieder voll aufgeladen hatte, schob das Stroboskop um die Ecke und schaltete auch die zweite Kamera mit einem Lichtblitz aus. »Auf geht' s!« Mit Chance im Schlepptau erreichte Carmellini den Treppenabsatz des Erdgeschosses. Keine weiteren Kameras auf dem Weg nach unten. Ein vorsichtiger Blick um die letzte Ecke vor der Kelleretage. »Bewegungsmelder«, hauchte Carmellini seinem Partner ins Ohr. Chance atmete schwer unter seiner Gasmaske, was seiner Meinung nach nicht an der körperlichen Anstrengung, sondern an der geistigen Anspannung lag. Man musste sein Keuchen noch in fünfzig Metern Entfernung hören können! Er versuchte, das Geräusch seiner eigenen Atemstöße zu ignorieren und zu lauschen. Kamen die Wachen? Zwei Kameras waren ausgefallen hatten sie es bemerkt? Würden sie überprüfen, was geschehen war? Oder riefen sie möglicherweise schon in diesem Moment Verstärkung herbei? »Mikrowelle oder Infrarot?«, erkundigte sich Chance, womit er den Bewegungsdetektor meinte. »Beides.« »Wunderbar.« »Wahrscheinlich zwei voneinander unabhängige Systeme.« -269-
»Super!« »Eigentlich eine schlechte Art, sie zu installieren. Das ist alte Technik, Mission-Impossible-Kram. Wir gehen einfach an dem Infrarotdetektor vorbei. Die geschlossene Kleidung dürfte helfen, unsere Körperwärme abzuschirmen. Wenn wir den Detektor schnell passieren, müsste alles glatt gehen.« »Und das Mikrowellen-System?« Carmellini hatte bereits ein Gerät von der Größe eines tragbaren CD-Players aus seinem Rucksack gekramt. »Störimpulsgeber«, sagte er und überprüfte die Schaltung. Er aktivierte das Gerät, hielt es vor sich und näherte sich damit den Bewegungsmeldern. Der zu seiner Rechten war der Mikrowellendetektor, von dem ein Koaxialkabel wegführte. Carmellini zog das Kabel ein paar Zentimeter von der Wand weg und klemmte den Störimpulsgeber dazwischen. »Kommen Sie», flüsterte er und öffnete die Tür zum Kellergeschoss. Sie betraten einen Korridor. Direkt über ihren Köpfen befand sich eine Überwachungskamera, die in den Flur gerichtet war und die Tür auf halber Strecke erfasste, hinter der sich das Labor verbergen müsste. Carmellini zog einen batteriebetriebenen Camcorder aus Chances Rucksack. Er hob ihn unter die Überwachungskamera, filmte rund eine Minute lang den leeren Flur und drückte dann die Abspieltaste. Das Gerät gab die Aufnahme jetzt in einer Endlosschlaufe wieder und würde es so lange tun, bis die Batterien erschöpft waren. Carmellini legte eine Manschette, die mit dem Camcorder verbunden war, um das Koaxialkabel der Überwachungskamera, schraubte sie fest und durchtrennte das Kabel zwischen Kamera und Manschette mit einem Seitenschneider. Die Labortür war mit einer am oberen Rahmen angebrachten Alarmanlage gesichert. -270-
»Die Sirene jault los, sobald der Stromkreis unterbrochen wird«, raunte Carmellini. »Die Anlage dient dazu, ein unautorisiertes Verlassen des Labors zu verhindern, nicht den Zutritt. Wird keine Minute dauern.« Er arbeitete schnell mit einem Taschenmesser und einem Stück Draht, überbrückte damit die Kontakte zwischen Tür und Zarge, so dass der Stromkreis nicht unterbrochen werden konnte. Sechzig Sekunden später drückte er vorsichtig die Klinke hinunter… Abgeschlossen! Nun kamen die Dietriche ins Spiel. »Die verriegeln tatsächlich einen Notausgang?«, fragte Chance. »Yeah. Echte Bastarde, was?« Tommy Carmellini verstand sein Handwerk. Nachdem ein Klicken aus dem Schloss ertönte, verstaute er die Dietriche wieder in seinem Rucksack, zurrte ihn fest und nahm die Pistole in die Hand. »Sind Sie bereit?« »Yeah.« Carmellini öffnete behutsam die Tür, steckte den Kopf so weit durch den Rahmen, dass er gerade mit einem Auge daran vorbeischielen konnte, und spähte nach rechts und links. Vor ihm erstreckte sich ein hell erleuchteter Vorraum. Die gesamte Rückwand bestand aus einer dicken Glasscheibe, hinter der ein gut ausgestattetes Labor lag. Keine Menschenseele zu sehen, auch keine weiteren Überwachungskameras oder Bewegungsmelder. Beide Männer traten ein, die Läufe ihrer Pistolen zu Boden gerichtet. Chance schloss die Tür hinter ihnen. Sie knieten sich vor der Glasscheibe auf den Boden, die -271-
Köpfe nur leicht erhoben, und ließen die Blicke durch das Labor gleiten. Reihe um Reihe mit Petrischalen voller Bakterienkulturen, Reagenzgläsern, Geräten zum Mixen von Chemikalien, bauchigen Glaskolben, Schließfächern, großen Sterilisierungseinheiten, dazu Dutzende Behälter aus rostfreiem Stahl, Retorten, Analysevorrichtungen, Mikroskope… »Heilige Scheiße«, sagte Carmellini leise. »Die züchten hier mit tödlicher Sicherheit wirklich irgendwas.« »Irgendwas«, stimmte ihm Chance zu. Am Ende des Raumes zu ihrer Linken befand sich eine große Luftschleuse. »Das ist der Eingang.« »Müssen wir da reingehen?« »Wir brauchen Proben von diesen Bakterienkulturen.« Chance ging voraus, die Pistole gegen den rechten Oberschenkel gedrückt. Es waren zwei Luftschleusen. Nachdem sie die erste passiert hatten, fanden sie sich in einem Umkleideraum wieder, in dem mehrere weiße, einteilige Ganzkörper-Schutzanzüge an Haken baumelten. Sie schnallten die Rucksäcke ab, schlüpften jeweils in einen Schutzanzug, zogen die Reißverschlüsse zu und versiegelten die Ärmel mit Velcro-Verschlüssen um die Handgelenke. Es gab auch Gasmasken, aber solche trugen sie ja bereits. Die zweite Schleuse war mit einem großen Vakuumsauger ausgestattet, der Staub und Mikroorganismen von den weißen Schutzanzügen entfernte. Sie öffneten die Schleusentür und betraten das Labor. »Die Bakterienkulturen«, sagte Chance. Er zog ein paar Spritzen aus seinem Rucksack und versah sie eilig mit Injektionsnadeln. -272-
Die Glasschalen standen auf mobilen Regalen, jeweils drei Dutzend pro Regal. Sie waren durchsichtig, so dass Chance problemlos die in ihrer Nährlösung wachsenden Bakterien sehen konnte. Er entschied sich für ein Regal, nahm eine Schale heraus, stellte sie auf einen Arbeitstisch mit einer Marmorplatte ab, öffnete den Deckel und führte die Kanüle in den Brei aus Nährlösung und Bakterien. Als der Kolben zur Hälfte voll war, schraubte er die Nadel ab, verstaute die Spritze in einer wärmeisolierten Plastiktüte und versiegelte sie. Carmellini hatte sich in der Zwischenzeit im Labor umgesehen. Er kehrte zu Chance zurück, als der gerade die zweite Bakterienprobe verstaute, und hob eine Hand. »Sie sollten sich das besser ansehen. Scheint so, als würden die Typen hier verschiedene Arten von Bakterienkulturen züchten.« Die zweite Kultur sah der ersten recht ähnlich, hatte aber eine etwas andere Farbe. Chance nahm auch hiervon eine Probe und stellte die Petrischale wie am ersten Regal an ihren alten Platz zurück. Er hatte gerade die zweite Probe entnommen, als er aus den Augenwinkeln heraus sah, wie Carmellini ihm ein Zeichen gab, sich zu ducken. Chance ließ sich in die Hocke nieder, versiegelte die Plastiktüte, schob sie in seinen Rucksack und tastete nach seiner Pistole, die er auf dem Arbeitstisch abgelegt hatte. Carmellini kroch mit der Waffe in der Hand unter dem Tisch hindurch. Irgendjemand war in der Luftschleuse. Chance, der durch den Gang zwischen den Arbeitspulten spähte, konnte von seiner Position aus gerade noch einen Haarschopf erkennen, als der Fremde in der Umkleidekabine eine Gasmaske aufsetzte. Wer auch immer er war, er kam herein. -273-
Carmellini warf Chance einen Blick zu und hob fragend die Hände: Was jetzt? Chance deutete auf den Boden. Vielleicht würde die Person nur etwas holen und gleich wieder verschwinden. Sie konnten sich unmöglich unbemerkt hinausschleichen, solange sich der Unbekannte im Labor aufhielt. Obwohl der Raum ziemlich groß war, mindestens dreißig Meter lang, konnte man die Luftschleuse von fast jeder Stelle aus sehen. Scheiße! Gut, die Kubaner würden also schon bald entdecken, dass ihr Labor nicht länger geheim war. Das war keine Katastrophe, bedauerlich vielleicht, und vielleicht nicht einmal das. Der Unbekannte trug Atemmaske und Schutzkleidung, so dass jeder Quadratzentimeter seiner Haut verhüllt war. Ziemlich groß für eine Frau, also höchstwahrscheinlich ein Mann, rund 1,80 Meter groß. Das Gewicht war unter dem unförmigen Schutzanzug schwer abzuschätzen, aber es mussten mindestens fünfundachtzig Kilo sein. Chance überprüfte den Sicherungshebel seiner Pistole, löste ihn mit dem Daumen und vergewisserte sich zusätzlich mit einem kurzen Blick, dass die Waffe schussbereit war. Jetzt verließ der Unbekannte die Luftschleuse und ging zielstrebig den Gang zwischen den Arbeitstischen und den Regalen mit Bakterienkulturen entlang. William Henry Chance erhob sich und richtete seine Pistole genau auf das Gesicht der maskierten Person, die auf ihn zukam. Der Mann erstarrte. Falls es ein Mann war. Er blieb reglos stehen und hob langsam die Hände. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Chance, wie Carmellini sich dem Kubaner näherte. »Suchen Sie irgendetwas, womit wir ihn fesseln können«, sagte er laut und hoffte, dass Carmellini ihn trotz der Gasmaske, -274-
unter der seine Stimme undeutlich klang, verstand, Offensichtlich war das der Fall. Carmellini hielt eine Rolle Klebeband in die Höhe. Er ging vorsichtig auf den Mann zu, der den Kopf zur Seite drehte, um den Eindringling besser seien zu können. Da die Holster unter ihrer Schutzkleidung unerreichbar waren, war Carmellini wie Chance gezwungen, seine Pistole in der Hand mit sich zu tragen. Er legte sie auf eine Arbeitsplatte, weit außerhalb der Reichweite des Unbekannten, und schob sich hinter ihn. Übermittelt sprang der Mann zurück und stieß Carmellini mit seinem Körper gegen einen Labortisch. Verdammt! Chance konnte nicht schießen, da er sonst riskierte, Carmellini zu treffen. Wobei er ohnehin nicht sicher war, ob die kleinkalibrige Kugel aus der Ruger einen großen Mann aus dieser Entfernung sofort niederstrecken würde. Er schob sich um den Tisch herum und weiter den Gang entlang, um dem Kubaner aus nächster Nähe in den Kopf zu schießen. Sein Partner trat wild um sich, und der Kubaner krachte rücklings in ein Regal voller Bakterienkulturen. Drei oder vier Petrischalen fielen herab und zerschellten auf dem Boden. Der Mann stürzte sich auf den jungen Agenten. Carmellini wich einem rechten Schwinger aus, während der Angreifer weiter vorstürmte und die Pistole auf der Arbeitsplatte zu erreichen versuchte. Carmellini packte ihn am Rücken seines Schutzanzugs und wirbelte ihn mit aller Kraft herum, versetzte ihm einen wuchtigen Faustschlag, der ihn zurücktaumeln ließ. Der Kubaner prallte gegen das gleiche Regal wie zuvor, rutschte aus und stürzte in die Glasscherben. Durch den aufgeschraubten Schalldämpfer war es nicht leicht, mit der Ruger richtig zu zielen. Chance feuerte trotzdem eine -275-
Kugel ab. Er sollte nie erfahren, wo sie eingeschlagen war. Bevor er ein zweites Mal schießen konnte, begann der Mann unvermittelt vor Schmerzen zu heulen. Seine gesamte Muskulatur verkrampfte sich. Er krümmte sich nach hinten und stieß dabei schrille Schreie aus. »Hauen wir ab!«, brüllte Carmellini. Der Kubaner erlangte die Kontrolle über einen Arm zurück, griff nach seiner Maske und versuchte, sie sich vom Gesicht zu reißen. Er kreischte ununterbrochen, schlug und trat inmitten der Glasscherben ziellos um sich. »Heilige Scheiße!« Schließlich ging ihm die Luft aus. Er blieb reglos liegen, den Rücken so weit durchgebogen, dass sich sein Hinterkopf und seine Fersen fast berührten. Vorsichtig, um nicht in eine Scherbe zu treten, beugte sich Chance über die leblose Gestalt und nahm ihr die Gasmaske ab. Der Mann schien regelrecht schockgefroren zu sein. Alle Muskeln seines Körpers waren hart wie Stein, die Augen so weit verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. »Er muss sich den Anzug aufgerissen haben«, murmelte Chance vor sich hin. Hat er etwa keine Schutzimpfung bekommen? Gibt es keinen Schutz gegen eine Infektion mit diesem Zeug? »Schaffen wir unsere Ärsche in die Luftschleuse und machen wir, dass wir hier schleunigst rauskommen!«, rief Carmellini. Sie blieben lange in der Vakuumschleuse stehen. Keiner wollte die Kammer als Erster verlassen. »Wir müssen gehen«, sagte Carmellini schließlich, nachdem sie fast zehn Minuten unter dem Vakuumsauger verbracht und alle Falten und Säume ihrer Schutzanzüge mit Pressluft aus einer Hochdruckdüse durchgeblasen hatten. Sie zogen die Schutzanzüge aus, hängten sie an ihre Haken, -276-
betraten die nächste Luftschleuse und reinigten sich ein weiteres Mal mit einem Vakuumsauger. Dann befanden sie sich im Vorraum. Sie trugen noch immer ihre Gasmasken. »Wir könnten jeden Menschen in Havanna umbringen, wenn wir uns infiziert haben«, stellte Chance fest. »Das würden wir nie erfahren«, gab Carmellini hitzig zurück. »Wir wären schon vor ihnen in der Hölle.« »Ich verstehe einfach nicht, warum die Schutzimpfung dem Typ da drinnen nicht geholfen hat.« »Später. Wie, zum Teufel, sollen wir hier rauskommen?« »Das Einfachste wäre es, durch die Vordertür zu marschieren, die Wachen zu erschießen und um die Ecke herum zu unserem Lieferwagen zu ge hen.« »Sie werden uns sehen, wenn wir die Treppe hochsteigen.« »Der Aufzug. Wir nehmen den Aufzug. Die Pistolen halten wir so, dass die Wachposten sie nicht sehen können.« »Sie sind absolut verrückt, Mann. Ein vollkommen irrer Motherfucker.« Der Fahrstuhl wartete im Kellergeschoss, die Tür stand offen. Chance drückte auf die Aufwärtstaste. Die Pistolen hinter den Oberschenkeln versteckt, verließen sie den Aufzug und steuerten direkt die Wächterkabine am Haupteingang an. Dort saß nur ein einzelner Mann, der in irgendeinem Blättchen schmökerte. Er blickte auf, als die beiden Männer sich ihm näherten. Dann erhob er sich. »Qué pasa…?«, begann er. Weiter kam er nicht, denn Chance schoss ihm aus nur zwei Metern Entfernung in die Stirn. Der Wachposten kippte nach hinten um. Chance und Carmellini gingen weiter, verließen das Gebäude in gemächlichem Tempo, schlenderten unter den -277-
Straßenlaternen wie zwei Flüchtlinge aus einer fliegenden Untertasse den Gehweg entlang und bogen um die nächste Straßenecke, wo der Lieferwagen parkte. Sie rissen die Hintertür auf und stiegen ein. Chance zerrte sich die Gasmaske vom Gesicht. »Machen wir, dass wir hier wegkommen!«, brüllte er den Fahrer an, der über ihr plötzliches Auftauchen genauso überrascht war, wie kurz zuvor der Wachposten. »Los, verdammt noch mal, fahren Sie schon!« Als der Transporter durch die Straßen der Stadt jagte, hockten Chance und Carmellini im Heck, starrten einander wortlos an und warteten darauf, dass die Infektion auch bei ihnen zuschlug. Warteten und warteten und warteten…
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12 Sechs Stunden, nachdem William Henry Chance und Tommy Carmellini das Gebäude der Wissenschaftlichen Fakultät verlassen hatten, war Dr. Bouchard - mit zwei Proben der Bakterienkulturen im Diplomatengepäck - mit Zwischenstopp in Mexico City auf dem Weg nach Washington. Wiederum drei Stunden später nahm eine Bedienstete der amerikanischen Interessenvertretung im untersten Diplomatenrang einen Flug nach Freetown und flog von dort über Miami ebenfalls nach Washington. Sie hatte die anderen beiden Proben in ihrem Gepäck. Chance und Carmellini wurden vor ihrem Hotel abgesetzt. Sie hatten sich noch während der Fahrt im Lieferwagen umgezogen. »Verbrennen Sie diese Kleidungsstücke unverzüglich«, hatte Chance den Fahrer angewiesen. »Und berühren Sie sie nicht mit bloßen Händen.« Kaum in ihren Zimmern angekommen, entkleideten sie sich und blieben so lange unter der Dusche, wie sie es aushalten konnten. Während Chance unter den Wasserstrahlen stand, wartete er darauf, dass sich die ersten Symptome einer Infektion zeigten. Trotz des heißen Wassers krochen ihm immer wieder kalte Schauer über den Rücken und ließen ihn zittern; auch hatte er rasende Kopfschmerzen. Nachdem er sich abgetrocknet und das Bad verlassen hatte, kroch er ins Bett und legte sich eine n feuchten Lappen auf die Stirn. Der Labortechniker, der sich auf dem Boden wand, der entsetzte Gesichtsausdruck des Wachpostens, unmittelbar bevor er starb… Die Szenen spielten sich wieder und wieder vor Chances geistigem Auge ab. Der Todeskampf des -279-
Labortechnikers war schon schlimm genug, aber das Gesicht des Wächters, als er sah, wie sich die Pistole mit dem Schalldämpfer auf ihn richtete, als er begriff, dass der Fremde ihn erschießen würde, diesen Anblick würde Chance mit sich ins Grab nehmen. Er hätte den Wächter nicht töten müssen. Aber um sich die Wahrheit einzugestehen - er war in Panik geraten, als er den Labortechniker auf eine so grauenhafte Art hatte sterben sehen. In der Luftschleuse hatte er nur daran denken können, dass es ihn oder Carmellini als Nächsten erwischen würde, jede Sekunde. Sein Bedürfnis, das Gebäude sofort zu verlassen, war so übermächtig gewesen, dass er alle Vorsicht über Bord geworfen hatte und blindlings zum Vordereingang gestürzt war. Ein Wunder, dass dort nicht zwei oder drei Männer mit gezückten Waffen gestanden hatten, um die zwei Gestalten, die aus der biologischen Hölle kamen, zu erschießen. In der Dunkelheit seines Zimmers dachte er auch über Mikroorganismen nach, fragte sich, was die Phiolen mit den Proben enthielten, warum der Laborarbeiter, der eine Schutzimpfung gehabt haben musste, einen so qualvollen und furchtbaren Tod gestorben war. Eins stand mit Sicherheit fest: Die Kubaner waren dabei, biologische Waffen zu entwickeln. Und das einzige vorstellbare Ziel für diese Waffen waren die Vereinigten Staaten. Da die pochenden Kopfschmerzen ihn nicht einschlafen ließen, schaltete er seinen kleinen Computer an und verfasste einen Bericht über den nächtlichen Einbruch und seine Entdeckungen in Form einer Email. Nachdem er den Bericht verschlüsselt hatte, wählte er sich über das Zimmertelefon ins Internet ein und jagte die Email in den Cyberspace. Danach kehrte er ins Bett zurück, und endlich konnte er schlafen. Der Amerikaner stand inmitten der Glasscherben und betrachtete die Leiche des Laboranten. Er trug einen -280-
Schutzanzug, der ihn von Kopf bis Fuß einhüllte, und eine Gasmaske, die seine Atemluft filterte. Der Mann sah sich alles gründlich an, ließ sich Zeit und verließ dann das Labor durch die doppelte Luftschleuse. Alejo Vargas erwartete ihn auf der anderen Seite. Er stand wortlos da, bis der Amerikaner das Wort ergriff. »Das Virus ist offensichtlich mutiert«, sagte der Amerikaner schließlich. »Ich hatte gedacht, der Stamm wäre stabil, aber…« Er zuckte kaum merklich mit den Achseln. »Mutiert?« »Wahrscheinlich.« »Kommen Sie, Professor, ich habe keinen wissenschaftlich exakten Beweis verlangt. Sagen Sie mir, was Sie denken.« »Eine Mutation. Ein paar Tage am Elektronenmikroskop sollten uns genauere Anhaltspunkte geben. Wir müssen mehr Kulturen erzeugen, um sicherzugehen. Es würde helfen, wenn ich den Toten obduzieren könnte, um zu sehen, welche Auswirkungen die Krankheit auf ihn hatte.« »So, wie Sie es mit den anderen gemacht haben?« »Sie haben mir gesagt, es wären Mörder, zum Tode verurteilte Männer. Wir brauchten Gewissheit!« »Was, wenn die Seuche aus der Leichenhalle entweicht? Was, wenn sie sich in der Bevölkerung ausbreitet?« »Mit den entsprechenden Vorkehrungen ist die Gefahr verschwindend gering. Mann, der Fortschritt me nschlicher Erkenntnis erfordert…« »Nein«, schnitt ihm Vargas das Wort ab. Er deutete auf das Labor. »Wenn das da von hier entweicht, aus welchen Gründen auch immer, wird kein Mensch auf dieser Insel überleben.« »Dann fragen Sie mich nicht erst nach meiner Meinung!«, fauchte der Professor. »Blind raten können Sie genauso gut wie ich.« -281-
Alejo Vargas' Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Kalte Wut klang in seiner Stimme auf. »Ich wollte einen Anthrax-Kampfstoff verwenden, aber nein, Sie mussten auf Poliomyelitis bestehen. Jetzt erzählen Sie mir, dass es mutiert ist, genau wie ich es befürchtet habe.« Dieser elende Narr, dachte der Amerikaner. Natürlich hatte er auf einem Virus bestanden - verdammt noch mal, sein Lebenswerk war die Erforschung von Viren, nicht von Bakterien. »Wir haben all dies Geld ausgegeben«, fuhr Vargas fort, als würde er einen Schuldspruch verkünden, »die Gefechtsköpfe gebaut und installiert, und wir sind dabei gewaltige Risiken eingegangen. Erzählen Sie mir nichts von akzeptablen Risiken.« Der Professor war nicht der Typ, der sich ungerührt von einem ihm intellektuell unterlegenen Mann eine Standpauke halten ließ. »Blaffen Sie mich nicht an, Vargas. Sie sind ein dummer, ungebildeter Totschläger. Ich habe das Universum nicht entworfen und kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Ich versuche nur zu begreifen, wie die Dinge funktionieren, zu lernen und das Wissen der Menschheit zu erweitern.« Er verlor völlig die Beherrschung. »Biologie ist keine Ingenieurswissenschaft, gottverdammt noch mal!«, platzte es aus ihm heraus. »In der Biologie ergibt zwei plus zwei manchmal fünf.« Vargas wandte ihm den Rücken zu. Er starrte durch die Glasscheibe in das Labor, das im Licht der Lampen kalt und tot wirkte und doch voll mit giftigem Leben war. »Ich verstehe nicht, was da drinnen passiert ist«, sagte der Amerikaner. »Der Arbeiter ist nicht einfach ausgerutscht und hingefallen. Es sieht so aus, als hätte da ein Kampf stattgefunden.« »Irgendjemand ist eingebrochen«, erklärte Vargas. »Eingebrochen?« Der Wissenschaftler war entsetzt. »An den -282-
Wachen vorbei? Wer sollte so töricht sein?« »Jemand, der wissen wollte, was sich hier verbirgt.« Vargas drehte sich um und blickte dem anderen ins Gesicht. Eine Spur von Genugtuung schlich sich in seine Stimme ein, als er hinzufügte: »Wahrscheinlich Amerikaner. Vielleicht CIALeute.« Der Professor schien schockiert zu sein, als hätte er diese Möglichkeit nie auch nur in Erwägung gezogen. »Kommen Sie schon, Professor, erzählen Sie mir nicht, Sie hätten geglaubt, Ihre Arbeit hier in Kuba würde für alle Zeiten ein Geheimnis bleiben.« »Ich bin Wissenschaftler«, sagte der Amerikaner. »Die Wissenschaft ist mein Leben.« Vargas schnaubte verächtlich. »Ihr Leben!« Zum zweiten Mal verlor der Professor die Beherrschung. »Sie Narr!«, schrie er. »Idiot! Sie hocken in dieser Dritte-WeltKloake und glauben, dieser Dreck spielt eine Rolle… Sie Narr!« »Vielleicht«, erwiderte Vargas kalt. Er hatte sich an Professor Svenson gewöhnt, einen verstockten, intellektuellen Snob der allerschlimmsten Sorte, der darüber hinaus auch noch Amerikaner war. »Ich würde gerne noch bleiben und den ganzen Tag lang Beleidigungen mit Ihnen austauschen, aber dazu fehlt uns leider die Zeit. Die Arbeiter warten draußen. Sie werden ihnen erklären, wie sie das Labor zu säubern haben, und dann werden Sie herausfinden, was genau mit den Viren passiert ist. Sie werden alles niederschreiben, was getan werden muss, um die Gefechtsköpfe zu überprüfen, und Sie werden mir den Bericht höchstpersönlich aushändigen. Wenn Sie nicht exakt das tun, was ich von Ihnen verlange, werden Sie zusammen mit dem Labortechniker das Krematorium von innen kennen lernen. Haben Sie mich verstanden, Professor?« »Sie können mir nicht drohen. Ich bin…« -283-
Alejo Vargas' Finger klatschten auf die Wange des Professors, nur ganz leicht. Er starrte ihm in die Augen. »Sie leiden unter der bedauerlichen Illusion, unersetzlich zu sein. Diese Krankheit kann ich heilen. Wenn Sie es wünschen, können Sie sich auf der Stelle ins Krematorium begeben. Zwei Leichensäcke machen nicht viel mehr Umstände als einer.« Nachdem Vargas gegangen war, sank Olaf Svenson auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte nie über die wissenschaftlichen Aspekte des Projekts hinaus gedacht. Natürlich hätte er es tun müssen, er wusste, dass Vargas beabsichtigte, die Gefechtsköpfe mit den Viren zu bestücken. Aber er hatte die Augen vor dem Grauen verschlossen, er hatte herausfinden wollen, ob sich die Mutation der Viren kontrollieren ließ. Nein… ob er sie kontrollieren konnte. Die wissenschaftliche Herausforderung nahm ihn mit Leib und Seele gefangen. Vargas hatte das Geld und das technische Zubehör, Olaf Svenson wollte die Forschung übernehmen. Er würde aus Kuba verschwinden müssen, so schnell wie nur möglich. Seine Universität glaubte, er wäre in Europa, und dorthin würde er auch fliegen. Wahrscheinlich hatte die CIA keine Beweise gegen ihn in der Hand, oder jedenfalls nicht genug, um ihn vor einem amerikanischen Gericht anzuklagen. Wenn er jetzt sofort zum Flughafen fuhr und in ein Flugzeug stieg, würde der Geheimdienst wahrscheinlich nie genügend Beweismittel bekommen - Vargas war garantiert nicht bereit, freiwillig als Zeuge aufzutreten. Svenson wartete noch einige Minuten, lange genug, um Vargas Zeit zu geben, das Gebäude zu verlassen, dann stand er auf und warf einen letzten flüchtigen Blick auf das Labor. Mit einem Seufzen wandte er dem, was hätte sein können, den Rücken und ging zum Fahrstuhl. In der Lobby gab er den Arbeitern, die das Labor reinigen und dekontaminieren sollten, detaillierte Anweisungen, beantwortete die Fragen des -284-
Vorarbeiters und sah zu, wie der Trupp in den Aufzug stieg. Nachdem sich die Fahrstuhltüren hinter den Männern geschlossen hatten, nickte Professor Svenson den Posten am Eingang zu, trat auf die Straße hinaus und marschierte los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die P-3 Orion, ein Aufklärungsflugzeug zur U-Boot-Abwehr, flog über ein glitzerndes Meer. In einigen Stunden würden sich Cumuluswolken im Passat bilden, aber im Augenblick war der Himmel bis auf ein paar dünne Schleier hoher Stratuswolken klar. Doch die Crew der P-3 hatte keine Augen für die Schönheit des Morgens. Sie überprüfte einen alten Frachter, der auf der Leeseite eines kleinen L-förmigen Eilandes ankerte. Einige Palmen und dichtes Gestrüpp wuchsen auf dem leicht erhöhten Rücken der Insel, die auf allen Seiten von breiten goldenen Sandstränden eingerahmt wurde. »Was denkt ihr?«, fragte der Pilot seinen Copiloten und den TACCO, den taktischen Koordinator, der an der Mittelkonsole stand. »Gehen wir tiefer und schießen ein paar Bilder«, schlug der TACCO vor und reichte dem Copiloten eine Videokamera. Der Pilot drosselte den Schub, zog das Flugzeug in einer weiten Kurve herum und flog in rund 200 Fuß Höhe seitlich an dem Schiff vorbei. Sein Copilot hielt die Kamera auf den Frachter gerichtet, der nicht besonders groß war, um die 10.000 Tonnen, abblätternde Farbe, rostige Wasserlinie. Auf dem Deck waren einige Matrosen zu sehen, aber keine Flaggen oder Hoheitsabzeichen. »Ich hänge mich ans Funkgerät«, sagte der TACCO dem Piloten. »Mal sehen, ob die Leute in Norfolk das Schiff identifizieren können. Aber lass uns noch mal darüber fliegen und den Grundriss direkt von oben filmen.« -285-
Die Computer klassifizierten Schiffe sowohl nach ihrer Silhouette als auch nach ihrem Grundriss, und so würde sich der Identifizierungsprozess beschleunigen, wenn beide Ansichten vorlagen. Professor Olaf Svenson stand in einer Menschenschlange vor einem Schalter im Flughafen Havannas, um ein Ticket nach Mexico City zu kaufen, als Colonel Santana in einer Limousine mit Chauffeur draußen vorfuhr. Durch die riesige Glasfront konnte Svenson deutlich sehen, wie Santana ausstieg, wie die uniformierten Sicherheitsposten salutierten und Santana mit seinen Agenten in Zivil Touristen beiseite stieß, die ihm im Weg standen. Svenson wirbelte herum und eilte in die entgegengesetzte Richtung. Er verschwand in der ersten Herrentoilette, die er entdeckte, und verkroch sich in einer freien Kabine. War Santana hinter ihm her? Der beißende Geruch der öffentlichen Toilette stieg ihm in die Nase, nistete sich in seiner Kleidung ein und erweckte in ihm das Gefühl, schmutzig zu sein. Er saß still auf dem Klodeckel und lauschte, hörte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss, als Männer kamen und gingen, das Schlurfen von Füßen, das Plätschern von Wasser und Urin in den Becken der Pissoirs, gedämpfte Unterhaltungen. Schweiß rann ihm den Hals hinab, tränkte sein Hemd. Rumms! Irgendjemand stieß die Toilettentür neben ihm so heftig auf, dass sie gegen die Wand schlug. Die Minuten schleppten sich zäh dahin. Santana ist ein Tier, dachte Svenson, ein Sadist, eine üble, bösartige Kreatur, die es genoss, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Svenson hatte es in den Augen des Kubaners gesehen, das heimtückische Funkeln, das selbst die unbedeutendste Gehässigkeit begleitete. Er vermutete, dass -286-
Santana als Kind Spaß daran gehabt hatte, kleine Haustiere zu quälen. Was würde der Colonel wohl mit einem übergewichtigen Wissenschaftler mittleren Alters aus Colorado anstellen, der versuchte, aus Kuba zu fliehen? Wieder knallte die Tür geräuschvoll gegen die Wand. Svenson zuckte zusammen. Folter? Natürlich. Santana würde ihn leiden lassen wollen. Die Eingeweide des Professors schienen sich zu verflüssigen, als er sich ausmalte, welche Schmerzen Santana ihm bereiten konnte. Jedes Geräusch ließ ihn zusammenfahren und erbeben. Er sah auf seine Uhr. Es waren erst wenige Minuten vergangen. O Gott, wenn Du wirklich existierst, hab Erbarmen mit mir! Lass nicht zu, dass Santana mich findet! Bitte! Nach Hause. Er wollte nur noch heim. In sein Apartment, zu seinen Katzen und Topfpflanzen. In seine ordentliche, sichere kleine Zuflucht, wo er die Tür vor dem Bösen in der Welt verschließen konnte. Irgendjemand schlug mit der flachen Hand gegen die Seitenwand der Toilettenkabine und sagte etwas Unverständliches auf Spanisch. Wahrscheinlich wollte er, dass sich der Mann in der Kabine beeilte und sie für den nächsten freimachte. Svenson gab einen würgenden Laut von sich, wobei ihm beinahe das Frühstück hochkam. Er versuchte erneut, hörbar zu würgen, diesmal nicht ganz so heftig. Der Mann auf der anderen Seite entfernte sich, die Außentür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Wo blieb Santana? Vielleicht würde er gar nicht kommen. Wenn er die -287-
Abflughalle durchsuchen würde, hätte er mit Sicherheit längst auch in dieser Toilette nachgesehen. War es möglich…? Oder stand er vielleicht draußen vor der Tür und wartete darauf, dass Svenson herauskam, weil es ihm Vergnügen bereitete, die aufkeimenden Hoffnungen des Wissenschaftlers im letzten Augenblick zu zerstören? Ein solches Verhalten wäre typisch für ihn, sagte sich Svenson. Er fühlte sich so schmutzig, so jämmerlich. Svenson wischte sich den Schweiß von der Stirn und rieb sich die nassen Handflächen an seiner Hose ab. Der Professor zählte die Sekunden, beobachtete den Minutenzeiger seiner Armbanduhr, der langsam und so mühelos seine Kreise zog. Mit jeder verstreichenden Minute, die Santana nicht auftauchte, fühlte sich Sve nson besser. Ja, vielleicht war der Colonel gar nicht hinter ihm her. Würde er ihn suchen, wäre er in diese Toilette gekommen, hätte ihn aus der Kabine gezerrt und ihn verhaftet, ihm Handschellen angelegt, ihn durch die Abflughalle geschleift und in einen Polizeiwagen gestoßen. Aber Santana kam nicht. Nach rund einer Stunde begann Svenson, sich Gedanken zu machen, wie er das Land verlassen sollte. Er benötigte einen anderen Pass. Wenn er seinen eigenen benutzte, würden ihn die Leute am Zoll vielleicht nicht durch die Absperrung lassen. Er zog seine Hosen hoch, wusch sich gründlich die Hände und trat in die Haupthalle des Terminals hinaus. Während er wachsam nach Santana Ausschau hielt, begab er sich zum Ticketschalter der Mexicana Airlines und postierte sich so in der Nähe, dass er den Angestellten der Fluglinie beobachten konnte. Wenn der Mann einen Reisepass entgegennahm, blickte er nur kurz auf, um das Foto mit dem Gesicht des Passbesitzers zu vergleichen. Zwar nur ein kurzer Blick, aber das würde -288-
ausreichen. Einen gestohlenen Pass mit dem Foto eines anderen zu benutzen, wäre zu riskant. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen eigenen vorzuzeigen, wie gefährlich das auch sein mochte. Svenson nahm all seinen Mut zusammen und reihte sich wieder in die Schlange ein. »Ciudad Mejico, por favor.« Er reichte seinen Pass dem Mann, der ihm flüchtig ins Gesicht sah und ihm das Dokument zurückgab. Eine Stunde später durchquerte Svenson den Abfertigungsbereich. Der uniformierte Beamte blickte nicht einmal auf, verglich den Pass nur mit einer Liste, die vor ihm auf dem Tisch lag, ohne das Reisedokument abzustempeln. Olaf Svenson nahm im Wartesaal Platz und tupfte sich mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ein Aufschub. Die Mächte, die das Universum lenkten, hatten ihm einen Aufschub gewährt. Er hätte nur zu gern die Möglichkeit gehabt, die letzte Mutation der Viren zu untersuchen, aber das Risiko war einfach zu groß gewesen. Eine verschenkte Gelegenheit, dachte er. Oh, wie schade, wie schade. Nachdem die Maschine aus Madrid mit Maximo Sedano auf dem Flughafen von Havanna gelandet war, wurde er von Colonel Santana und zwei Beamten der Geheimpolizei in Zivil in Empfang genommen. Sie blieben in seiner unmittelbaren Nähe, während er auf sein Gepäck wartete, und trugen es zu ihrem Auto. Santana wich nicht von Maximos Seite. Er beschränkte sich darauf, dem Finanzminister mitzuteilen, dass Alejo Vargas ihn zu sehen wünschte, und ließ ihn dann schmoren. Santana hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Schweigen eine sehr effektive Waffe war, die nichts kostete und bei Schuldigen schwere Wunden schlug. Seiner Überzeugung nach waren alle Menschen schuldig, selbst wenn es sich nur um -289-
geheime Laster handelte, und sie unbehaglichem Schweigen auszusetzen überzeugte sie in der Regel davon, dass die Behörden alles über sie wussten. Oft reichte es schon aus, lange genug kein Wort mit ihnen zu sprechen, und alles, was man dann noch tun musste, war, ihr Geständnis aufzunehmen und es von ihnen unterschreiben zu la ssen. Einer seiner Männer steuerte den Wagen, während Santana mit Sedano im Fond saß. Während der gesamten Fahrt wechselten sie nicht ein Wort. Maximo hielt sich recht gut, wie Santana fand, er schwitzte nicht übermäßig, war nicht blass geworden, atmete ruhig und gleichmäßig. Der Colonel lächelte breit, und sein Lächeln vertiefte sich, als er aus den Augenwinkeln heraus registrierte, dass Maximo Sedano ihn verstohlen beobachtete. Ah, ja, Stille. Schweigen und Angst. Der Wagen fuhr in die Tiefgarage des Inne nministeriums, wo Maximo Sedano unverzüglich in ein Verhörzimmer gebracht wurde. »Ich verlange, Vargas zu sehen«, sagte er hitzig, als er in einen Stuhl gestoßen wurde und die Tür hinter ihm schwungvoll ins Schloss fiel. »Sie verlangen?«, fragte Santana sanft und beugte sich vor, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von dem Maximos entfernt war. »Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Sie können bescheiden darum bitten, Sie können sogar betteln, aber Sie können nichts verlangen. Sie haben kein Recht, irgendetwas zu verlangen.« Er nahm ihm gegenüber hinter einem Schreibtisch Platz, zog einen Befragungsbogen hervor, füllte die leeren Felder in den ersten Zeilen aus und legte das Formular vor sich auf die mit Kratzern übersäte hölzerne Schreibtischplatte. »Wo ist das Geld?«, fragte er. -290-
Der kubanische Finanzminister atmete tief durch die Nase ein. Die Luft roch muffig und nach Urin, nach irgendetwas Verrottendem, Fleisch oder vielleicht Gemüse… und nach etwas, das kalt, schleimig und böse war. Es befand sich hier in diesem Zimmer, strömte von allen Seiten auf ihn ein, die gemauerten Wände selbst stanken danach. Vor Castro hatte die Geheimpolizei Fulgenico Batista gedient, davor Geraldo Machado und so weiter. Dies war ein verborgener Raum, in den nie Tageslicht fiel, in dem es keine Gerechtigkeit gab, wo Gewalt, Bestechlichkeit und Egomanie herrschten. Hier kümmerten sich Schattenmänner ohne Skrupel und Gewissen um die Feinde der jeweiligen Diktatoren. Der Raum stank nach Blut und Furcht, nach Folter und Verstümmelung, nach Schmerzen und Tod. Maximo verdrängte die in seinem Geist aufsteigenden Bilder. Mit mühsamer Beherrschung, sorgfältig, vollständig und ehrlich berichtete er von den Konten, dem deutschen Killer und den Bankangestellten. Er rekapitulierte nach bestem Wissen, was sie ihm gesagt hatten, erzählte von dem Eispickel, der Herrentoilette im Hauptbahnhof von Zürich und von allem anderen. Das Einzige, was er verschwieg, war seine ursprüngliche Absicht, das Geld auf seine eigenen Konten zu überweisen. Natürlich stellte Santana ihm Fragen, zwang ihn, das meiste zwei- oder dreimal zu wiederholen. Nachdem er alle Aussagen notiert hatte, unterschrieb Maximo das Verhörprotokoll. »Wo sind die Überweisungsformulare?«, fragte Santana. »In der Schweiz. Ich habe sie in den Banken gelassen.« »Warum?« »Sollte es einen Fehler gegeben haben und das Geld gestohlen worden sein, haben die Banken gültige, legale Zahlungsanweisungen, die sie ausführen müssen. Dann müssen sie das Geld an die Bank von Kuba überweisen.« -291-
»Also, wo ist das Geld?« »Offensichtlich nicht mehr auf den alten Konten. Ich denke, es wurde gestohlen.« Zum ersten Mal wirkte Santana unverkennbar skeptisch. »Von wem?« »Von jemandem, der Zugang zu den Kontonummern hatte. El Presidente hat darauf bestanden, eine Kopie davon in seinem Büro aufzubewahren. Ich würde zuerst dort nachschauen.« »Warum nicht in Ihrem Büro? Ist es nicht möglich, dass einer Ihrer Mitarbeiter die Kontonummern in Erfahrung gebracht und sie an jemanden weitergegeben hat, der…« »Die Nummern aller ausländischen Regierungskonten, einschließlich derjenigen, die exklusiv von El Presidente kontrolliert worden sind, werden in einem Safe in meinem Büro verwahrt, den nur ich öffnen kann. Niemand aus meinem Stab außer mir hat darauf Zugriff.« Jetzt lächelte Santana wieder. »Ihnen ist doch sicher klar, dass Sie sich mit Ihren eigenen Worten selbst verurteilen, oder?« Maximo warf die Hände in die Luft. »Ich versichere Ihnen, Santana, ich habe das Geld nicht! Hätte ich dreiundfünfzig Millionen Dollar, wäre ich bestimmt nicht nach Kuba zurückgekehrt. Dann würde ich jetzt nicht in diesem dreckigen Loch sitzen und mit einem Scheißkerl wie Ihnen reden.« Santana ignorierte die Beleidigung und fügte seinem Bericht noch ein paar Zeilen hinzu. Er persönlich glaubte Maximo hätte der Mann das Geld, wäre er wie der Blitz damit untergetaucht -, aber das einzugestehen würde Sedano zu viel Oberwasser geben. Und Maximo behauptete, einen Mann mit einem Eispickel getötet zu haben, ein Verhalten, das völlig uncharakteristisch für ihn erschien. Santana hob eine Braue, als er an Rall dachte. Maximo Sedano hatte Rall getötet… nun, die Welt steckte wirklich voller Überraschungen. -292-
Er ließ Maximo Sedano im Verhörraum allein und machte sich auf die Suche nach Vargas. Der Minister saß in seinem Büro und hörte sich von einem seiner Mitarbeiter, der gerade aus der Universität zurückgekehrt war, einen Bericht über den Einbruch im Labor an. Bisher wusste Santana noch nichts von dem Vorfall, man hatte ihn nicht informiert, bevor er zum Flughafen gefahren war. Schweigend stand er da und wartete, bis Alejo Vargas Zeit für ihn hatte. Es dauerte eine Stunde, bis Vargas bereit war, über Maximo Sedano zu sprechen. »Er sitzt jetzt unten in einem der Verhörzimmer«, sagte Santana und reichte seinem Chef das von ihm angefertigte Protokoll. »Das ist seine Aussage.« Vargas las den Befragungsbogen wortlos durch. »Das Geld befindet sich nicht auf den Schweizer Konten«, fasste er schließlich zusammen. »Das behauptet er.« »Und glauben Sie, dass er die Wahrheit sagt?« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Maximo Sedano den Mumm hat, so viel Geld zu stehlen und dann nach Kuba zurückzukommen, um sich Ihnen zu stellen. Er wusste, dass wir ihn am Flugplatz abfangen würden. Er hatte uns bereits erwartet.« Vargas blinzelte nur. »Seine Vermutung, was die Kontonummern in der Residenz des Präsidenten betrifft, ist sogar stichhaltig. Wenn es irgendwo eine undichte Stelle gab, dann vermutlich dort. Fidel hat das Buch wahrscheinlich offen herumliegen lassen, er hatte kein Gespür für organisatorische Dinge.« »Und?« »Ich kenne niemanden in Kuba, der gut genug mit einem -293-
Computer umgehen kann, um elektronisch in die Schweizer Banken einzubrechen und das Geld zu stehlen, aber in Amerika gibt es jede Menge Leute, die dazu in der Lage wären. Viele davon arbeiten für die amerikanische Regierung.« »Die Menschen haben schon lange vor der Erfindung des Computers Banken ausgeraubt«, wandte Vargas ein. »Jeder hätte einen Bankangestellten bestechen und so an das Geld herankommen können. Allerdings stehen die Yanquis auf der Liste der Verdächtigen ganz oben.« Er wusste nur zu gut, dass nicht hinter allem, was südlich von Key West schief lief, die Regierung der Vereinigten Staaten steckte, aber er arbeitete schon zu lange in dieser Branche, um die Verantwortlichen in der CIA für inkompetente Dummköpfe zu halten, die so beschäftigt waren, dass sie sich nicht mehr um Kuba kümmerten. »Scheiße passiert nun mal, lautet ein amerikanisches Sprichwort.« »Und die Amerikaner sorgen oft dafür, dass Scheiße passiert«, stimmte Vargas Santana zu. Er erhob sich. »Lassen Sie uns mit Maximo sprechen. Vielleicht können wir eine arme Seele vor der Hölle bewahren.« »Maximo hat Intrigen gesponnen, um sich nach Castros Tod zum Präsidenten wählen zu lassen«, sagte Vargas etwas später, als sie die Treppe hinabstiegen. »Heute wäre der richtige Zeitpunkt, ihn wissen zu lassen, dass jeder Versuch zwecklos ist.« »Ja, Señor.« »Ein paar Schmerzen könnten nicht schaden, denke ich. Nichts, was bleibende Schäden verursacht, nichts Lebensbedrohliches. Wir werden seine Erfahrung in Finanzfragen später noch benötigen.« »In Ordnung.« -294-
Ein Maat erschien bei Jake Grafton und geleitete ihn in die Station der Luftaufklärung, wo der Admiral Toad und die verantwortlichen Leute der Abteilung um einen Videomonitor herum versammelt vorfand. »Eine P-3 hat diese Aufnahmen vor wenigen Stunden gemacht«, erklärte Toad dem Admiral. »Bei den Bahamas. Es ist ein nordkoreanischer Frachter, der dort vor Anker liegt. Die P-3 wird ihn in einer Minute direkt überfliegen und von oben filmen. Wir halten das Video an dieser Stelle an.« Die Perspektive veränderte sich, als das Flugzeug über das Deck des Schiffes hinwegflog. Das klare blaue Wasser schien zu verschwinden, als schwebte der Frachter über einer gelben Sandbank. Kurz bevor die P-3 das Schiff passieren konnte, schaltete Toad die Aufzeichnung auf Standbild. Er trat vor und deutete auf die dunklen Umrisse auf der Sandbank unter dem Frachter. »Ich denke, wir haben den Rest der gestohlenen Gefechtsköpfe gefunden«, sagte er. »Die Leute von der Colón haben sie hier für die Nordkoreaner, die sie später wieder rausfischen sollten, ins Meer geworfen.« Jake betrachtete das Bild auf dem Monitor. »Kann die Bildqualität dieser Aufnahme per Comp uter nachgebessert werden?« »Die Experten in Norfolk arbeiten gerade daran.« »Wie sicher sind sie sich über die Identifizierung des Schiffes?« »Sehr sicher. Es handelt sich ohne jeden Zweifel um einen Nordkoreaner.« Als der Nationale Sicherheitsrat erneut zusammentrat, um sich über die Entwicklungen in Kuba informieren zu lassen, war die Laune des Präsidenten noch mörderischer als wenige Tage -295-
zuvor. Er hörte sich mit versteinerter Miene den Bericht über das Forschungslabor für die Entwicklung biologischer Waffen an und legte sich eine Hand über die Augen, als er erfuhr, dass offenbar einige der Gefechtsköpfe von der Nuestra Señora de Colón auf einer sandigen Untiefe bei den Bahamas lagen, wo ein nordkoreanischer Frachter ankerte. »Die gute Nachricht ist, dass sich der Frachter innerhalb britischer Hoheitsgewässer zu befinden scheint«, beendete der Informant seine Ausführungen. »Haben Sie einen Plan ausgearbeitet?«, fragte der Präsident General Totten. »Ja, Sir. Auf unsere Bitte hin haben die Briten uns offiziell aufgefordert, den nordkoreanischen Frachter, der ihre Hoheitsgewässer verletzt hat, von der Mannschaft eines unserer Schiffe entern und durchsuchen zu lassen. Das US-Schiff, das dem Frachter am nächsten ist, wird dort in drei Stunden eintreffen.« »Und wenn die Nordkoreaner in der Zwischenzeit den Anker lichten und verschwinden?« »Wir werden das Schiff in jedem Fall stoppen und alles von der Ladung entfernen, was der Regierung der Vereinigten Staaten gehört.« »Ein weiterer internationaler Zwischenfall«, grollte der Präsident. »Die Nordkoreaner werden Zeter und Mordio schreien, und die Kubaner werden in das Geschrei mit einstimmen.« »Sir, die Kubaner können nicht beweisen, dass wir CBWGefechtsköpfe in Gitmo hatten«, warf der Nationale Sicherheitsberater ein. »Können sie nicht? Wenn auf Fidel Castros Schreibtisch in diesem Moment keine aus unseren Beständen gestohlene Artilleriegranate liegt, küsse ich Ihnen heute Mittag auf den Stufen des Capitols den Arsch, während CNN…« »Sir, wir glauben…« -296-
»Lassen Sie mich ausreden! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich bin derjenige, dem der Kongress den Kopf abreißt, wenn er von diesem Fiasko erfährt. Also lassen Sie mich gefälligst ausreden.« Stille. Der Präsident schluckte einmal und rückte seine Krawatte zurecht. »Und jetzt«, fuhr er in dem Bemühen fort, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken, »erfahren wir, dass die Kubaner ein biologisches Waffenlabor in einem Gebäude im Herzen Havannas haben, neben der Universität. Ist das korrekt?« »Ja, Sir.« »Was ich wissen möchte, ist Folgendes: Verfügen die Kubaner über irgendeine Möglichkeit, jetzt und sofort biologische Waffen gegen die Vereinigten Staaten einzusetzen? Heute noch? Haben sie irgendwelche Trägersysteme?« »Sir, das wissen wir nicht.« »Na schön. Bei Gott, meiner unmilitärischen Meinung nach sollten wir das so schnell wie möglich in Erfahrung bringen. Stimmen mir alle der hier Anwesenden in diesem Punkt zu?« »Ja, Sir.« »Und noch etwas, das ich wissen will: Könnte mir irgendjemand noch einmal erklären, wie das gottverdammte Chemiewaffenabkommen Länder wie Kuba dazu bewegen soll, auf die Entwicklung biologischer und chemischer Waffen zu verzichten?« General Totten, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, brach schließlich das lang anhaltende Schweigen, das der Frage des Präsidenten folgte. »Das Abkommen über die Chemiewaffen-Konvention wird niemanden, der es sich in den Kopf gesetzt hat, davon abhalten, derartige Waffen herzustellen. Alles, was es bewirkt, ist, uns zu zwingen, unsere eigenen Arsenale zu beseitigen, die and ere -297-
Länder davor abschrecken, diese Waffen zu benutzen. Biologische und chemische Waffen werden nur dann eingesetzt, wenn der Angreifer glaubt, dass sein Gegner nicht auf die gleiche Weise zurückschlagen kann oder will. Ihr Stab wusste das, Mr. President, und wollte das Abkommen trotzdem, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, damit herumzuprahlen und sich die Stimmen von Weicheiern zu sichern, die nicht einmal Scheiße von Erdnussbutter unterscheiden können.« Der Präsident musterte den General mit verkniffener Miene und ließ den Blick dann über den Rest des Sicherheitsrates wandern. »Zumindest hat einer hier den Mut, die Wahrheit auszusprechen«, murmelte er. »Das Richtige zu tun ist nicht das Gleiche, wie die richtigen Resultate zu erzielen«, fügte der Oberbefehlshaber hinzu. »Wenn Sie mich fragen, brauchen wir mehr von Letzterem als von Ersterem.« »Überspannen Sie den Bogen nicht, General«, knurrte der Präsident. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, fuhr der grauhaarige General fort, als hätte der Präsident nichts gesagt, »natürlich verfügen die Kubaner über ein oder mehrere Trägersysteme. Nichts lässt sich leichter anwenden als eine biologische Waffe. Als Trägersystem reichen schon ein paar Flugzeuge mit Sprühvorrichtungen aus, um die Mikroorganismen in die Atmosphäre zu blasen. Schließlich liegt Kuba gerade einmal neunzig Meilen südlich von Key West. Jets könnten innerhalb weniger Minuten über Florida sein. Oder Saboteure könnten die Giftstoffe in die Wasserversorgungsanlagen größerer Städte einbringen und etliche Millionen Menschen infizieren, bevor irgendjemand auch nur ahnt, dass wir ein Problem haben.« Es war das klassische Dilemma. Die USA hatten sich darauf vorbereitet, notfalls einen Nuklearkrieg bis zum bitteren Ende zu führen und jede Nation in einem konventionellen Krieg zu -298-
erledigen. Hunderte von Milliarden Dollar waren in Netzwerke und Kommunikationseinrichtungen investiert worden, in Präzisionswaffen und Raketensysteme, in ein Heer, eine Kriegsmarine und eine Luftwaffe, in die am besten ausgerüsteten, trainierten und geführten Streitkräfte der Welt. Kein Feind, der noch bei Verstand war, würde die Vereinigten Staaten mit konventionellen oder nuklearen Waffen angreifen. Als Alternativen blieben nur Guerillakriege und der Einsatz von Terrorwaffen. »Was die Kubaner vermutlich nicht haben«, dozierte General Totten weiter, »sind die wissenschaftlichen und technischen Kapazitäten, um größere Mengen an giftigen Kampfstoffen in echte Waffen zu verwandeln, die leicht zu bedienen und unbegrenzt lagerbar sind und sehr gezielt eingesetzt werden können. Deshalb wollen sie diese Schiffsladung biologischer Gefechtsköpfe in die Finger bekommen.« »Wie also hindern wir sie daran, CBW-Waffen zu benutzen?«, wollte der Präsident wissen. »Durch Abschreckung«, erklärte Totten. »Man muss bereit sein, ihnen Schlimmeres zuzufügen, als sie es einem antun können. Und sie müssen wissen, dass man wirklich dazu bereit ist.« »Mit anderen Worten, wenn die Kubaner zehn Millionen Amerikaner ermorden, müssen wir im Gegenzug jeden Menschen auf Kuba töten?« »Richtig. Das Versprechen wechselseitiger Vernichtung.« »Das ist Wahnsinn.« »Verrückt. Aber es gibt keine andere Lösung. Wenn diese Leute glauben, dass man nicht entschlossen ist, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen, hat man den Krieg schon verloren.« »Wenn irgendjemand Amerikaner tötet, üben wir Vergeltung«, sagte der Präsident. »Das ist die Politik der -299-
Vereinigten Staaten, seit George Washington den Amtseid abgelegt hat.« Der General konzentrierte sich darauf, eine Büroklammer in die Länge zu ziehen und dann in eine andere Form zu biegen. Nachdem der Präsident seine Meinung geäußert und der Nationale Sicherheitsberater die Situation zusammengefasst hatte, meldete sich Totten erneut zu Wort. »Unser Agent in Havanna, der das Labor entdeckt hat, hatte eine Bitte. Sie stand im letzten Absatz seiner Nachricht, die heute Morgen eingetroffen ist. Mr. Adviser, wollen Sie sich dazu äußern?« Offensichtlich war das nicht der Fall. Der Sicherheitsberater hätte den Punkt jederzeit im Verlauf der Versammlung zur Sprache bringen können, hatte es aber nicht getan. Sein Gesicht rötete sich zornig. »Ich habe die Bitte meinem Stab und dem Außenministerium vorgelegt… äh, und sowohl mein Stab als auch das Außenministerium erachten diese Bitte als maßlos übertrieben.« »Welche Bitte?«, erkundigte sich der Präsident knapp. »Sir, Stab und Ministerium halten den Vorschlag für indiskutabel. Ich habe ihn von der Tagesordnung gestrichen.« »Welche Bitte?«, wiederholte der Präsident mit einer gewissen Schärfe. »Der Agent möchte, dass morgen früh um ein Uhr dreißig Operation Flashlight in Kraft tritt«, antwortete Totten anstelle des Sicherheitsberaters. »Und was ist das?«, fragte der Präsident mit gerunzelter Stirn. »Er möchte, dass das Stromnetz im Zentrum von Havanna lahm gelegt wird.« »Ah, ja, jetzt erinnere ich mich. Sie wollen ein paar Hochspannungsmasten in die Luft jagen.« »Das ist korrekt, Sir. Diese Operation wurde vor drei Wochen -300-
diskutiert und abgesegnet.« »O nein. Vor drei Wochen habe ich eine provisorische Zustimmung erteilt, nur eine provisorische. Sabotage der Energieversorgung eines fremden Landes ist eine verdammt heikle Sache. Zu meiner Schulzeit wurde so etwas als kriegerischer Akt bezeichnet.« »Das ist es immer noch«, pflichtete ihm der Nationale Sicherheitsberater bei. Was für ein Speichellecker, dachte General Totten. »Ich denke, in dieser Angelegenheit gibt es noch erheblichen Beratungsbedarf«, sagte der Präsident. »Ja, Sir.« »Was passiert, wenn die Leute, die diese Sprengladungen legen, verhaftet werden?« »Sir, das gehört nun einmal zu den unvermeidlichen Risiken bei heimlichen Operationen«, mischte sich der CIA-Direktor widerstrebend ein. »Die Männer, die die Operation durchführen, kennen das Risiko, und wir kennen es auch. Worauf es hier ankommt, ist, dass der mögliche Nutzen das Risiko rechtfertigt. Es ist die gleiche Kosten-Nutzen-Rechnung, die wir jedes Mal aufstellen, bevor wir irgendeine verdeckte Operation genehmigen.« »Was, wenn die Leute verhaftet werden? Können die Kubaner beweisen, dass sie für die CIA arbeiten?« »Nein, Sir. Sie werden als Exilkubaner erscheinen, die auf eigene Faust Unheil in Kuba anrichten wollten.« General Totten konnte seine Zunge nicht länger im Zaum halten. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Genau in diesem Moment werden in unseren Laboratorien ganz in der Nähe von Washington vier Phiolen mit Mikroorganismen untersucht, die aus einem Entwicklungslabor für biologische Kriegsführung in der Hauptstadt eines kommunistischen, den Vereinigten Staaten -301-
feindlich gesonnenen Landes stammen, das gerade einmal neunzig Meilen südlich von Key West liegt. Kuba könnte zu einem zweiten Irak werden, bis an die Zähne bewaffnet mit chemischen und biologischen Kampfstoffen. Diese Nation kann es sich nicht leisten, das zuzulassen. Kuba liegt nur neunzig Meilen von uns entfernt. Die Gefahr ist einfach zu groß.« Der Präsident blickte sich düster in der Runde um. Er sucht jemanden, dem er die Schuld geben kann, dachte Totten. »Mr. President, Flashlight durchzuführen wird einige Stunden in Anspruch nehmen«, sagte der Direktor der CIA. »Ich habe bereits den Befehl erteilt, die Operation anlaufen zu lassen.« »Sie haben den Befehl bereits erteilt?«, wiederholte der Präsident ungläubig. »Wir durften keine Zeit verlieren«, erwiderte der Direktor hitzig. »Es dauert Stunden, solche Unternehmen in Gang zu setzen. Der Zeitpunkt der Ausführung des Unternehmens ist ein Uhr dreißig nach Mitternacht.« Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte beugte sich in seinem Sessel vor, beide Ellbogen auf die Mahagonitischp latte gestützt. »Mr. President, uns bleibt keine andere Wahl in dieser Angelegenheit. Überhaupt keine. Wenn diese Administration darauf verzichtet, durch ein aggressives Vorgehen ganz genau in Erfahrung zu bringen, welcher Art die Bedrohung ist, die von Kuba ausgeht, um anschließend die entsprechenden Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wird der Kongress fast mit Sicherheit ein Impeachment-Verfahren gegen Sie eröffnen und Sie wegen Pflichtversäumnis Ihres Amtes entheben.« Der Präsident sah so aus, als würde er jeden Augenblick explodieren. Das war eine Seite an ihm, die seinen Wählern immer verborgen blieb. Als Kontrollfanatiker, wie es die meisten Politiker waren, hasste er nichts mehr, als vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. So, wie es in dem -302-
Präsidenten brodelte, wusste General Totten, dass seine Tage im aktiven Dienst gezählt waren. Auch der CIA-Direktor täte gut daran, sich Gedanken über seine Pensionierung zu machen. »Wer ist unser Agent in Kuba?«, wollte der Präsident wissen. Der Direktor wirkte überrascht. Die Namen von Agenten wurden unter Verschluss gehalten und nie während solcher Treffen erwähnt. Trotzdem konnte er nicht die Antwort auf eine direkte Frage des Präsidenten der Vereinigten Staaten verweigern. »Sir, wenn Sie diese Information benötigen, kann ich sie auf ein Blatt Papier schreiben.« Er kritzelte den Namen in ein Notizblock, riss die Seite heraus, faltete sie zusammen und schob sie über den Tisch. Der Präsident legte das Blatt vor sich, ohne es zu öffnen, und tippte mit dem Finger darauf. »Ich möchte wissen, wer diesen Mann dazu autorisiert hat, nach Kuba zu gehen und nachzusehen, was für eine Kloake er dort entdecken könnte.« »Sir, die Mission ist vor zwei Monaten von diesem Rat genehmigt worden.« »Warum, zur Hölle, hat sie dann niemand erwähnt, als wir darüber gesprochen haben, unsere Gefechtsköpfe aus Guantánamo Bay nach Hause zu schaffen? Warum ist der Frachter nicht von Pier zu Pier eskortiert worden? Warum, zur Hölle, haben wir diese Gefechtsköpfe nicht schon vor zwei Monaten oder vor zwei Jahren da rausgeholt? Warum, zur Hölle, können Sie alle diese gottverdammten Dinge nicht in den Griff bekommen?« Stille folgte dem Wutausbruch, und wieder war es der Oberbefehlshaber, der das Schweigen brach. »Anstatt sich über das Timing aufzurege n, sollten wir uns gegenseitig dafür auf die Schultern klopfen, dass wir klug genug waren, einen Agenten nach Havanna zu schicken. Es geht um das Waffenlabor der Kubaner, nicht um unseres.« Als General Totten den Sitzungssaal verließ, steckte sein -303-
Rücktrit tsgesuch vom Posten des Oberbefehlshabers der Streitkräfte noch immer in seiner Tasche. Er hatte es verfasst, nachdem Operation Flashlight auf Veranlassung des Nationalen Sicherheitsberaters von der Tagesordnung gestrichen worden war. Vielleicht hätte er das Gesuch dem Präsidenten überreichen und sich auf den Golfplatz zurückziehen sollen, bevor diese Trottel den Karren in den Dreck fuhren. Er zweifelte nicht daran, dass die vertrackte Situation in Kuba schon sehr bald eskalieren und ihnen die Fetzen nur so um die Ohren fliegen würden. Das amerikanische Kriegsschiff, das dem namenlosen Eiland am nächsten war, vor dem der nordkoreanische Frachter ankerte, war ein Zerstörer aus Charleston in South Carolina. Seine Besatzung bestand aus Navy-Reservisten, die ihre jährliche Zwei-Wochen-Tour im aktiven Dienst absolvierten. Das Schiff war gerade auf dem Weg nach Nassau gewesen, als der Drucker die Eilmeldung ausgespuckt hatte. Die Spitzengeschwindigkeit des Zerstörers betrug vierunddreißig Knoten, und die nutzte er auch bis zum Anschlag aus, als er angriffslustig durch den Exuma Channel rauschte. Jake Grafton konnte das Kriegsschiff aus 5.000 Fuß Höhe deutlich sehen, obwohl es noch zwanzig Meilen entfernt war. Und er sah die länger werdende Kielspur hinter dem nordkoreanischen Frachter, der Wonsan. »Der verdammte Kahn macht sich aus dem Staub«, sagte Rita Moravia, die die V-22 flog. »Er wird längst in internationalen Gewässern sein, bevor der Zerstörer eintrifft. Ich frage mich, wie viele Gefechtsköpfe die Burschen aus dem Wasser gefischt haben.« »Das werden wir schon ziemlich bald herausfinden«, knurrte Jake Grafton. »Wenn dieser Typ freiwillig stoppt und uns an Bord gehen lässt, hat er nicht einen einzigen dabei. Wenn er sich -304-
weigert, hat er eine ganze Ladung.« »Was werden Sie tun, Admiral, wenn er sich weigert zu stoppen?« Darauf hatte Jake Grafton keine Antwort parat, und er wollte die Entscheidung auch nicht selbst treffen. Sollte der Fall eintreten, würde er sich Weisung aus Washington holen, den schwarzen Peter den Leuten zuschieben, die ihn wahrscheinlich an die Politiker weiterreichen würden. »Die Wonsan dreht nach Nordost ab«, bemerkte Rita. »Wahrscheinlich fährt sie zwischen Cat Island und San Salvador hindurch.« »Lassen Sie uns runtergehen und vor dem Typen schweben«, sagte Jake Grafton. »Mal sehen, ob er anhält.« Er saß im Sitz des Flugingenieurs direkt hinter den Piloten. Fünf Minuten später sank die Osprey mit nach oben geschwenkten Rotoren im Helikopter-Modus federleicht vor die Wonsan, die jetzt fünf oder sechs Knoten Fahrt machte. Jake entdeckte vier Personen auf der Brücke. Sie standen dicht zusammen und gestikulierten in Richtung der Osprey. Der Copilot beobachtete den Abstand und informierte Rita laufend über den verbleibenden Manövrierraum. »Näher«, verlangte Jake. Rita verringerte den Abstand weiter. Zum Glück kam der Wind aus Osten, so dass sie die Zwillingsrotor-Maschine auf der Steuerbordseite des Frachters halten und trotzdem frontal auf die Brücke ausrichten konnte. Dadurch blieb der Wind auf ihrer Backbordseite. Als das Cockpit keine fünfzig Meter von der Glasscheibe der Brücke entfernt war, hielt sie die Position. Der rechte Rotor befand sich noch ein gutes Stück über dem mittschiffs angebrachten Ladekran des Frachters. »Näher«, wiederholte Jake. »Aber achten Sie auf den -305-
Abstand.« Der Copilot warf dem Admiral einen nervösen Blick zu. »Geben Sie mir weitere Abstandsmeldungen durch«, fauchte Rita ihn an, worauf er sich sofort wieder auf seine Aufgabe konzentrierte. Sie manövrierte die Osprey bis direkt an die Steuerbordseite der Wonsan und ging so tief, dass sie die gesamte Brücke überblicken konnte. Der Kapitän - vielleicht war es der Kapitän, da er eine schmutzige weiße Kommandantenmütze trug -, trat durch die Brückentür auf die Nock und starrte in das nicht einmal fünf Meter entfernte Cockpit. Er hatte beide Hände auf die Ohren gepresst, um sie vor dem dröhnenden Lärm der beiden riesigen Motoren zu schützen. Der Luftstrom der Rotoren ließ Meerwasser hochspritzen und riss ihm die Mütze vom Kopf. »Näher«, verlangte Jake ein drittes Mal. »Dadurch, dass der Wind um den Brückenaufbau herumbläst, ist die Luft ein bisschen unruhig.« »Yeah«, sagte der Admiral. Drei Meter trennten die Nase der V-22 noch vom Geländer der Brückennock. Rita tastete sich vorsichtig weiter, bis der Tankstutzen und die drei Läufe des Maschinengewehrs Kaliber 50mm, die aus der Nase des Flugzeugs ragten, nur noch einen knappen halben Meter von der Reling entfernt waren. »Zielen Sie mit dem Gewehr auf den Kapitän«, befahl Jake. Der Copilot legte einen Schalter um und richtete den Blick auf den Kopf des Kapitäns. Das Maschinengewehr vollzog die Bewegung gewissenhaft nach, gesteuert durch die in den Helm des Copiloten eingebaute Zielvorrichtung. Jake betrachtete das Gesicht des Kapitäns aus einer Entfernung von nicht mehr als drei Metern. Der Mann hatte eine beginnende Glatze und war leicht übergewichtig, Ende fünfzig. -306-
Der Luftstrom der Rotoren peitschte über ihn, zerrte an seiner durchnässten Kleidung und bereitete ihm Mühe, nicht den Halt zu verlieren. Er krallte sich an der Reling fest, den Blick auf das dreiläufige Maschinengewehr gerichtet, das jeder seiner Bewegungen wie ein lebendiges Wesen folgte, und sah dann Jake Grafton in seinem Sitz hinter den Piloten an. Er drehte sich um, rief irgendetwas über die linke Schulter und kehrte, noch immer beide Hände um das Geländer gelegt, durch die Tür in den geschlossenen Brückenstand zurück. »Vorsicht«, murmelte Jake in sein Kehlkopfmikrofon. »Der Typ könnte verrückt genug sein, das Schiff in Sie reinzudrehen.« Rita erkannte zuerst, was passierte. Sie spürte, dass sie nach links schwenken musste, um die Position relativ zur Brücke zu halten. »Das Schiff wird langsamer«, sagte sie. »Ich glaube, er hat die Maschinen gestoppt.« Einige Sekunden später zeigte sich, dass sie Recht hatte. Rita zog die Osprey zurück, bis die Distanz zwischen Cockpit und Schiff rund fünfzehn Meter betrug. »Ich denke, er hat die Nerven verloren, Admiral.« »Sehen Sie sich den Kram an Deck an«, sagte der Copilot. »Scheint so, als hätte er einen ganzen Haufen Gefechtsköpfe aus dem Meer gefischt.« Der Frachter trieb ohne Fahrt, als der Zerstörer eine halbe Stunde später eintraf, ein paar hundert Meter vor dem Schiff anhielt und innerhalb weniger Minuten ein Beiboot zu Wasser ließ. Jake wartete, bis bewaffnete Amerikaner auf dem Deck der Wonsan standen, dann tippte er Rita auf die Schulter. »Fliegen wir nach Hause.« »Ich habe mir heute Nachmittag das Band aus Alejo Vargas' -307-
Büro angehört«, sagte Carmellini zu Chance. Sie schlenderten über den Prado und hielten nach einem Restaurant Ausschau. Wenn sie eine reichhaltige Auswahl an Gerichten und gute Qualität wollten, musste es ein Restaurant sein, in dem nur harte Währung akzeptiert wurde. Zwar befanden sich die besten Lokale in heruntergekommenen Häusern der Altstadt, aber heute Abend sehnte sich Chance nach Musik, Gelächter und Menschen. »Irgendjemand hat Vargas alles über den Einbruch in das Universitätslabor, die Kontamination und den toten Laboranten erzählt. Die Techniker haben fast den ganzen Tag lang die Lüftung des Labors laufen lassen, um die Konzentration der Viren in der Luft vor dem Betreten zu verringern.« »Was haben sie über den Toten gesagt, über die Todesursache?« »Das hat sie völlig überrascht. Der Mann war geimpft. Sie haben einen Professor Svenson gerufen.« »Olaf Svenson?« »Niemand hat den Vornamen genannt.« »Er muss es sein. Ich habe von ihm gehört. Ein verdammter eingebildeter alter Trottel. Hat jahrelang an der Cal Tech gelehrt. Ich dachte, er wäre jetzt in Colorado. Ein Genie, hätte fast den Nobelpreis gewonnen.« Chance schnippte mit den Fingern. »Dieses Foto, das wir Bouchard gegeben haben, das muss Svenson gewesen sein.« »Also, der Unterhaltung in Vargas' Büro nach zu schließen, ist er der wichtigste Mann im Labor.« »Aber warum ist der Laborant trotz der Schutzimpfung gestorben?« »Laut dem Professor ist das Zeug mutiert. Ein weiteres Mal mutiert, hat er gesagt.« »Was, zur Hölle, ist das für ein Zeug? Haben sie darüber -308-
gesprochen?« »Irgendeine Polio-Abart.« »Polio tötet nicht so schnell«, wandte Chance ein. »Diese Variante schon. Offensichtlich war der Laborarbeiter nicht das erste Opfer. Der Professor wollte ihn wie die anderen zuvor sezieren, aber Vargas hat befohlen, den Leichnam sofort zu verbrennen.« Sie blieben an einer Straßenecke stehen und beobachteten die Menschen, die die Gehwege unter den zerfallenden Gebäuden bevölkerten. Ein Stückchen weiter links versuchte ein Kubaner erfolglos, einem deutschen Pärchen Schmuck zu verkaufen. Zu ihrer Rechten umarmte ein großer, hellhäutiger junger Mann, vermutlich ein Amerikaner oder Kanadier, leidenschaftlich ein einheimisches Mädchen. »Sonne, Sex und Sozialismus«, murmelte Carmellini. »Da fragt man sich, warum es nicht mehr Kubaner gibt.« Chance schloss die Augen, genoss die sanfte Brise, die ihm über das Gesicht und durchs Haar strich. Er konnte vereinzelte Musikfetzen inmitten der Verkehrsgeräusche und hupenden Autos hören. Heute Abend - wie jeden Abend pulsierte das Leben in Havanna. Schließlich öffnete er die Augen wieder, ließ den Blick über die an ihm vorbeiströmenden Kubaner und Touristen wandern. Und über Tommy Carmellini, der einen leicht gelangweilten Eindruck machte. »Haben sie irgendeine Ahnung, wer die Einbrecher waren?« »Amerikaner, CIA-Abschaum. Keinerlei Beweise, aber sie sind davon überzeugt.« Chance nickte. »Sie haben davon gesprochen, einige Verdächtige zu verhaften und gründlich zu verhören, nur um zu sehen, was dabei herauskommen könnte«, fuhr Carmellini fort. »Der -309-
Vorschlag kam von Colonel Santana, der offensichtlich ein ganz besonderer Vertreter seiner Zunft ist. Vargas hat ihn überstimmt und gesagt, sie könnten nicht jedesmal Touristen foltern, wenn die CIA irgendwas anstellt, das ihnen nicht gefällt, weil sie sonst bald keine Touristen mehr haben würden.« »Vernünftig. Sonst noch was?« Carmellini zuckte mit den Achseln und kratzte sich am Kinn. »Ich habe mir fast drei Stunden von diesem Zeugs angehört, und wissen Sie was? Die Typen haben Fidel Castro nicht mit einem einzigen Wort erwähnt.« »Nicht einmal seinen Namen?« »Nope. Und der Techniker meinte, er hätte den Namen den ganzen Tag über nicht einmal gehört.« »Interessant.« »Es war merkwürdig. Ich hätte gedacht…« »Das Labor ist nur die Spitze des Eisbergs«, sagte Chance nach einer Weile. »Es muss irgendwo Geräte geben, um die Kulturen zu trocknen und die Gefechtsköpfe damit zu bestücken, oder um sie in irgendein chemisches Gebräu zu mixen, das man aus Flugzeugen versprühen kann. Die Typen brauchen Spezialfahrzeuge, um das Zeug von einem Ort zum anderen zu transportieren. Und dann sind da noch die Gefechtsköpfe. Wo, zum Teufel, stecken die?« Sie betraten einen Nachtclub und fanden einen freien Tisch. Am Nachbartisch saßen sechs Huren. Sie tranken Daiquiris und unterhielten sich laut und fröhlich. Eins der Mädchen sah zu den beiden Männern hinüber, während die Band nur wenige Meter entfernt loslegte. »Washington verlangt mehr Informationen«, sagte Carmellini, ohne die Prostituierten zu beachten. »Das war zu erwarten.« Chance kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe herum und griff dann nach der Weinkarte. -310-
»Heute Nacht werden wir Vargas' Safe aufbrechen. Geht das in Ordnung für Sie?« Carmellini ließ sich so lange Zeit mit einer Antwort, dass Chance seine Frage schon wiederholen wollte. »Wenn die Alarmanlagen ausgeschaltet sind.« »Das werden sie.« »Na klar.« »Vertrauen Sie mir.« Als der Kellner kam, gaben sie ihre Bestellungen auf. »Also, erzählen Sie mir noch mal, was Sie über das Innenministerium wissen«, verlangte Carmellini. »Alles, woran Sie sich erinnern. Alles.« Chance lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was er beim Verlassen des Taxis vor dem Gebäude und auf dem Weg zu Alejo Vargas' Büro gesehen hatte. »Auf dem Bürgersteig vor dem Ministerium steht ein Wachhäuschen. Dort geht man durch ein Tor und einen Weg entlang zu den Wachposten am Vordereingang, wo man erneut seine Papiere vorzeigen muss. Die Posten rufen denjenigen an, den man besuchen möchte. Der kommt dann persönlich und führt einen durch die Gänge in das Büro, in das man will.« »Kameras?« »Sicherheitskameras hoch oben in den Ecken, die von der Hauptwachstation kontrolliert werden. Es gibt mindestens zwei voneinander unabhängige Systeme, deren Aufnahmen über separate Monitore laufen.« »Infrarotsensoren?« »Das denke ich…«, sagte Chance. Tatsache war, dass er besser aufpassen, sich gründlicher umsehen und alles bewusst hätte einprägen müssen. »Ja, ich erinnere mich, einen entdeckt zu haben.« -311-
»Bewegungsmelder?« »Nein.« »Lasersperren?« »Ja, in Fußknöchelhöhe installiert.« Vermutlich wurden sie erst aktiviert, wenn das Gebäude nicht mehr besetzt war. »Alarmanlagen an den Fenstern?« »Ja.« »Vibrationsvorrichtungen?« »Nein.« Hätte es Vibratoren an den Fensterscheiben gegeben, wäre es dem Computer sehr viel schwerer gefallen, bei dem Versuch, das von den Kristallen gebrochene Licht zu analysieren, die menschlichen Stimmen aus dem elektronischen Geräusch herauszufiltern, das die Vibratoren erzeugten. »Gab es interne Sicherheitstüren, die vielleicht geschlossen werden, wenn das Gebäude nicht besetzt ist?« »Ja, in jedem Korridor, aber ich bezweifle, dass sie jemals benutzt worden sind.« »Und interne Wachstationen?« »Ich habe keine gesehen.« Carmellini ließ sich die Angaben durch den Kopf gehen. Geschlossene Sicherheitstüren erschwerten einerseits den Einbruch, boten dem Einbrecher andererseits jedoch die Möglichkeit, seine Arbeit ruhig und ungestört zu verrichten, nachdem er sich einmal Zutritt verschafft hatte. »Ob sie wohl eine eigene Notstromversorgung für den Fall haben, dass die reguläre Energiezufuhr ausfällt?«, überlegte Carmellini laut. »Das müssen sie«, erwiderte Chance nachdenklich. »Irgendeine Art Notstromgenerator. Ich werde das Gebäude in der Annahme betreten, dass sie über ein Reservesystem verfügen, aber ich stelle mich darauf ein zu improvisieren.« -312-
»Das werden wir ja schon bald genug selbst herausfinden, was?« Carmellini grinste. Es war das erste Grinsen, das er an diesem Nachmittag zustande brachte. Der Tod des Labortechnikers hatte ihm scho n schwer zugesetzt, aber die kaltblütige Exekution des Wächters an der Eingangstür durch William Henry Chance war für ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube gewesen. Chance hatte den Mann einfach über den Haufen geschossen und war danach ruhig weitergegangen, als wäre das Töten eines Menschen etwas, das er jeden Morgen zwischen Frühstück und Mittagessen machte. Den ganzen Abend lang hatte Carmellini den Älteren beobachtet und nach Anzeichen dafür gesucht, dass die Ermordung des Wachpostens für Chance mehr als nur eine ganz routinemäßige Operation gewesen war, aber er hatte nichts dergleichen entdeckt. Rein gar nichts. Chance hatte wie ein Mann ausgesehen, der ebenso gut in einem Restaurant in der Bronx hätte sitzen können und zu Abend aß, während er mit einem Ohr einem Spiel der Yankees lauschte, das von einem Radio in der Küche übertragen wurde. Carmellini starrte auf das Gericht vor ihm auf dem Tisch, das der Kellner gerade gebracht hatte. Er hatte überhaupt keinen Appetit. Aber was würde er jetzt für einen kräftigen Drink geben! Er trank einen Schluck Wasser und fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Bestellen Sie sich einen Drink«, sagte Chance, während er mit Messer und Gabel hantierte. »Einen. Irgendwas auf Eis. Sie können es brauchen. Wir haben noch eine lange Nacht vor uns.« Carmellini hielt nach dem Kellner Ausschau, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass sein Blick an einer der Prostituierten am Nachbartisch hängen geblieben war. Die Frau schenkte ihm ein breites Lächeln, und er grinste zurück. Ein Mann musste die Dinge ganz einfach in die richtige Perspektive rücken.
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13 Die Sonne war bereits seit einigen Stunden untergegangen, als Enrique Poveda und Arquimidez Cabrera zu dem fünften Hochspannungsmast fuhren, den sie in die Luft zu jagen gedachten. Nach einem schnellen Blick in die Runde entfernten sie das Vorhängeschloss am Tor und schnallten sich die Werkzeuggürtel um. Jeder Mann kletterte an einem Pfeiler empor. In rund drei Metern Höhe fanden sie die mit Klebeband an den Stahlträgern befestigten verformbaren C-4Plastiksprengstoffladungen genau so vor, wie sie sie zurückgelassen hatten. Durch die Dunkelheit allein auf ihren Tastsinn angewiesen, zogen sie jeweils einen chemischen Zünder aus den Gürteltaschen, der in etwa die Form und Größe eines Füllfederhalters hatte, und drückten ihn in den Plastiksprengstoff. Die Zeitzünder waren bereits so eingestellt, dass sie möglichst exakt um ein Uhr dreißig nach Mitternacht explodieren würden. Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass die Zünder richtig saßen, kletterten Poveda und Cabrera wieder hinab und nahmen sich die beiden anderen Pfeiler vor; nach wenigen Minuten war die Arbeit erledigt. Sie verriegelten das Tor mit dem Vorhängeschloss, schlugen die Hecktür des Lieferwagens zu und fuhren davon. ›Einen noch«, sagte Poveda. Er wünschte, er hätte eine Karte oder ein Diagramm dabei, aber sämtliche Unterlagen waren in Florida zurückgeblieben. Dort hatten er und Cabrera tagelang zusammen mit Energieversorgungsexperten der US-Army über Bildern von Aufklärungssatelliten, über Fotos, die von nicht ganz so unschuldigen Touristen vor Ort gemacht worden waren, und über computergenerierten Diagrammen gesessen. Sie hatten -314-
die Zielmasten ausgewählt und sich ihre Lage genau eingeprägt. Nicht ein Blatt Papier hatte den Raum verlassen. Jetzt deutete Cabrera auf eine Straße, Poveda auf eine andere. Sie lachten. »Ich bin mir ganz sicher«, sagte Poveda. »Zwei Häuserblocks weiter, rechts abbiegen und dann noch einmal eine halbe Meile geradeaus.« »Okay. Ich bin froh, dass es heute Nacht passiert«, murmelte Cabrera. »Die Sprengladungen kleben schon viel zu lange an den Masten, und die neuen Vorhängeschlösser sind genauso lange da. Ich bin allmählich nervös geworden. Du weißt, was ich meine, alter Freund?« Poveda brummte wortlos. Er wusste es. Sein Magen schien sich verknotet zu haben. Von seinem ersten Einsatz als junger Bursche vor fünfzehn Jahren einmal abgesehen, hatte er sich während einer Operation nie mehr derart angespannt gefühlt. Seither war er mehrfach in Kuba gewesen, acht Mal, wie er sich erinnerte, und bis jetzt hatte ihm kein Einsatz mehr so schwer zu schaffen gemacht. Beim ersten Mal hätten die Kubaner ihn und seinen damaligen Partner beinahe erwischt. Sechs Jahre später war sein Partner dann tatsächlich geschnappt worden und im Verlauf eines Verhörs gestorben, zumindest hatte er das nach einigen Monaten gehört. Damals hatte Poveda sich geschworen, dass er den Kubanern nie lebend in die Hände fallen würde. Er würde unter keinen Umständen in einem kubanischen Gefängnis sterben. Kommunisten! Er spuckte durch das offene Fenster. Den Menschen in Kuba, die gearbeitet, gespart und für ihre Zukunft vorgesorgt hatten, war von den Kommunisten alles weggenommen und an die Leichtlebigen und Faulen verteilt worden. Und jetzt sehe sich einer das Land an! Alle waren arm, standen dicht vor dem Hungertod. Städte, Dörfer und Fabriken verrotteten, weil die Investitionen fehlten. Die Kommunisten -315-
vertrieben die Menschen, die Kuba hätten gedeihen lassen können, diejenigen, die das Land dringend brauchte, um alle anderen zu ernähren. Ah, diese Bastarde verdienten ihr Elend, und - bei Gott! - sie hatten eine Menge davon bekommen. Castros Vermächtnis bestand aus allgemeiner Verarmung, das war sein Geschenk an die kommenden Generationen. Poveda war Pessimist. Er wusste, dass Castro bald sterben und sich die Dinge in Kuba ändern würden. »Sie werden Castros Fehler vergessen und sich nur an das Gute erinnern«, versicherte er Cabrera bestimmt zum hundertsten Mal. »Wart's nur ab. In hundert Jahren wird ihn die Kirche heilig sprechen.« »Der Heilige Castro.« Cabrera lachte. »Ich verarsche dich nicht. So läuft das auf der Welt. Die Leute, denen er am übelsten mitgespielt hat, werden ihn segnen.« »Ob Heiliger oder Teufel, wir werden dem Hurensohn heute Nacht ein bisschen einheizen«, erwiderte Cabrera, während sich der Wagen dem letzten Mast näherte. Poveda schaltete Motor und Licht ab. Die beiden Männer stiegen aus. Stille umfing sie. »Schrecklich still, meinst du nicht auch?«, fragte Poveda. Cabrera stand an der Hecktür des Transporters, lauschte und blickte sich um. Poveda kramte in den Taschen nach dem Schlüssel des Vorhängeschlosses. Der Schlüssel passte nicht. Poveda versuchte es mit einem anderen. »Was ist?« »Der Schlüssel scheint nicht reinzugehen.« »Lass uns sofort verschwinden, Mann!«, zischte Cabrera und lief zur Beifahrertür. Ein Scheinwerferkegel erfasste sie. »Hände hoch!«, dröhnte eine Lautsprecherstimme. -316-
Poveda ließ sich auf die Knie fallen und zog eine 9- mmPistole aus der Tasche. Er zögerte nicht eine Sekunde, zielte auf den Scheinwerfer und schoss. Irgendetwas schlug ihm in den Rücken. Er lag neben dem Hinterrad des Wagens auf dem Boden und versuchte sich aufzurichten, als er begriff, dass er von einer Kugel getroffen worden war. Sie wurden von zwei Seiten beschossen. Mündungsfeuer blitzte in der Dunkelheit, Kugeln bohrten sich in den Lieferwagen und ließen ihn erzittern. Ein Stöhnen von Cabrera. »Es hat mich erwischt, Enrique.« »Schlimm?« »Ich glaube… ich glaube, ja.« Cabrera stöhnte erneut, als ihn eine zweite Kugel traf. Die Kugel, die Poveda in den Rücken getroffen hatte, war auf der anderen Seite seines Körpers in Magenhöhe wieder ausgetreten. Er spürte, wie sich etwas Nasses und Warmes auf seinem Bauch ausbreitete. Blut, das aus der Austrittswunde strömte. Noch waren die Schmerzen nicht sehr stark, aber in seinem Bauch klaffte ein riesiges Loch. Er hob seine Pistole und zielte auf Arquimidez Cabrera, seinen besten Freund. Ja, jetzt konnte er seinen Hinterkopf sehen. Er schoss einmal, und die Wucht des Einschlags schleuderte Cabreras Kopf mit dem Gesicht voran in den Dreck. Dann hielt sich Poveda den Lauf seiner Waffe an die Schläfe und drückte ab. Im Heck eines Lieferwagens, der in der zum Innenministerium führenden Straße parkte, beobachtete William Henry Chance den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr, der sich der Zwölf näherte und sie genau um ein Uhr dreißig passierte. Die Lichter der Stadt erloschen nicht. -317-
Carmellini sah wie gebannt auf seine eigene Uhr. »Was, zur Hölle, ist schief gelaufen?«, fragte er. »Ich habe keine Ahnung.« »Lieber Gott!« Sie starrten auf die Lichter der Stadt hinaus. »Es hat nicht geklappt«, sagte Tommy Carmellini. »Zeit für uns, die Kurve zu kratzen.« »Geben wir ihnen noch ein paar Minuten.« »Herrje, wenn der Strom nicht wie geplant ausfällt, ist irgendwas faul. Worauf warten Sie noch, auf einen Anruf vo n Fidel? Lassen Sie uns schleunigst von hier verschwinden, solange unsere Ärsche noch am richtigen Platz sitzen.« »Wenn ich einen Rest von Vernunft hätte, wäre ich nicht in dieser Branche tätig«, erwiderte Chance sarkastisch. Seine Uhr zeigte zehn Sekunden nach halb zwei, als die Lichter im Zentrum von Havanna flackerten. »Na bitte«, sagte er und schlug sich kräftig auf den Oberschenkel. Die Lichter flackerten erneut, wurden schwächer, einen Moment lang wieder stärker und erloschen dann gänzlich. Sämtliche Lichter. Nur die Scheinwerfer der Autos durchbrachen die völlige Finsternis. Chance nickte Tommy Carmellini zu. »Das war's, gehen wir.« Sie öffneten die Hecktür und stiegen aus, während der Fahrer den Motor startete. Chance musste nur wenige Schritte gehen, um einen alten Lada zu erreichen, der hinter dem Lieferwagen am Bordstein parkte. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Carmellini setzte sich hinter das Lenkrad und schaltete die Scheinwerfer an, während der Lieferwagen bereits die Straßen hinunterrollte. Die beiden Agenten fuhren die kurze Strecke bis zum Innenministerium, einem gewaltigen Klotz, der noch dunkler als der Nachthimmel war. -318-
Die Scheinwerfer des Lada fielen auf drei Wachposten am Haupteingang des Ministeriums. Carmellini hielt an, schaltete den Motor ab und steckte den Zündschlüssel in die Tasche. Chance öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Natürlich hatten die Wachen seine Uniform im Licht der Innenbeleuchtung, die sich beim Öffnen der Wagentür automatisch anschaltete, erkannt. Jetzt richteten sie eine Taschenlampe auf ihn und salutierten. Chance trug die Uniform eines Colonels des Ministeriums für Staatssicherheit. Obwohl er vor mehreren Tagen scho n einmal in Zivilkleidung im Innenministerium gewesen war, hielt er es für höchst unwahrscheinlich, dass ihn irgendjemand, der ihn damals gesehen hatte, wieder erkennen würde. Er war bereit, das Risiko einzugehen. Trotzdem hatte er das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben, als er den Gruß der Wachen erwiderte. »Wir waren gerade einen Straßenblock entfernt, als der Strom im ganzen Viertel ausgefallen ist«, sagte er. »Ja, Colonel. Vor ein oder zwei Minuten.« »Und wer sind Sie?« »Leutnant Gómez, Colonel, der wachhabende Offizier.« »Haben Sie Vorbereitungen getroffen, den Notstromgenerator anzuwerfen, Gómez?« »Ähh… das wollte ich gerade tun, Colonel. Der Generator befindet sich im Keller. Ich wollte nur warten, ob der Strom von selbst wiederkommt. Oft dauern diese Ausfälle nur wenige Momente, und…« »Es scheint ein großflächiger Stromausfall zu sein, Gómez. Werfen wir den Generator an.« »Natürlich, Colonel.« Der Leutnant beschrieb seinen beiden Untergebenen, die offenbar nichts von einem Notstromaggregat wussten, den Weg und erklärte ihnen, in welchem Raum der -319-
Generator stand. »Vielleicht sollten Sie Ihre Männer lieber begleiten, Leutnant«, unterbrach ihn Chance. »Mein Fahrer und ich werden den Eingang bewachen, bis Sie zurückkommen.« »Natürlich, Colonel.« Im Lichtkegel seiner Taschenlampe machten sich der Leutnant und seine Männer auf den Weg zur Treppe. Carmellini öffnete den Kofferraum des Lada, zog einen Seesack hervor und warf ihn sich über die Schulter. Ohne ein Wort mit Chance zu wechseln, verschwand er im Inneren des stockfinsteren Gebäudes. Er betrat das Zentraltreppenhaus, stieg die Stufen bis zur obersten Etage empor und marschierte zügig den Gang entlang zu Alejo Vargas' Privatbüro. Natürlich war die Tür abgeschlossen. In völliger Dunkelheit ließ er die Hände über die Tür gleiten und ertastete ein Schloss neben dem Drehknauf. Er zog eine kleine Lampe aus dem Seesack, die von einem an seinem Gürtel festgehakten Batteriekästchen gespeist wurde. Dann schob er sich ein Stirnband über den Kopf und befestigte die Lampe mit einem Klettstreifen daran. Ein Blick auf die Uhr: sechsunddreißig Minuten nach eins. Er untersuchte das Schloss, tastete in seinem Seesack herum und fand einen Bund mit Dietrichen. Hmm… Vielleicht dieser. Er schob ihn in das Schloss. Nein. Der hier? Ja. Die Latexhandschuhe schienen seinen Tastsinn nicht zu beeinträchtigen. Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, Schlösser zu knacken. Das nötige Fingerspitzengefühl, die erforderliche Geduld, der Zeitdruck, der gewöhnlich damit verbunden war, -320-
die Schätze, die auf der anderen Seite der Tür darauf warteten, entdeckt zu werden… Die CIA war wirklich ein Glücksfall für ihn gewesen. Ohne sie wäre er garantiert früher oder später im Gefängnis gelandet, denn jede Glückssträhne reißt irgendwann einmal. Er führte einen kleineren Dietrich ein, erfühlte die Kontakte… und drehte den Dietrich ohne großen Kraftaufwand mit den Fingerspitzen herum. Der Riegel glitt zurück. Carmellini verstaute den Schlüsselbund, ergriff den Seesack und öffnete die Tür. Das Büro war dunkel, lediglich durch die Fenster fiel ein wenig Licht, das von Autoscheinwerfern unten auf den Straßen und einem irgendwo flackernden Feuer stammte. Der Safe stand in einer Zimmerecke gegenüber der Fensterfront. Es war ein altes Modell, groß, mindestens zwei Meter hoch, ein Meter breit und genauso tief. Die Tresortür zierte ein Bild mit einer ländlichen Szenerie, über der in einem Halbbogen die Aufschrift »United Fruit Company« prangte. Nach einem kurzen Blick auf den Safe wandte sich Carmellini dem Rest des Büros zu. Er durchsuchte es schnell und methodisch. Zuerst die Schreibtischschubfächer. In einem fand er eine Pistole, in einem anderen eine Flasche teuren Scotch und mehrere Gläser, im nächsten Stifte und Füllfederhalter und einen Stapel unbeschriebener Papierbögen. Außerdem mehrere Namenslisten, Telefonnummern, Adressen… Das untere rechte Schubfach war abgeschlossen. Ein kleines, billiges Schreibtischschloss. Er brach es mit einem Messer auf und entdeckte einen Stoß Akten. Sie schienen Informationen über wichtige Regierungsmitglieder zu enthalten: Freundinnen, geheime Laster, Lügen, Bestechung und Bestechlichkeit, Dinge dieser Art. Carmellini blätterte die Akten schnell durch, stapelte sie auf -321-
dem Schreibtisch und huschte weiter. Der Rahmen, an dem die Kristalle der Abhörvorrichtung hingen, stand auf einer Fensterbank. Unter dem Fenster lief ein niedriges Bücherregal entlang. Carmellini untersuchte es flüchtig, konnte aber keine weiteren Akten zwischen den Büchern hervorragen sehen. Die Münzen in ihren Schaukästen würdigte er keines Blickes. Bevor er angefangen hatte, für die Regierung zu arbeiten, hätte der bloße Anblick sein Herz schneller schlagen lassen, doch das gehörte der Vergangenheit an. Weiter zum Bücherschrank. Dort gab es jede Menge Aktenordner. Carmellini überflog die Beschriftung der Deckel, suchte nach Begriffen aus den Bereichen Biologie, Waffen, merkwürdige Codenamen. Wenn er auf etwas stieß, das er nicht verstand, öffnete er die Ordner und warf einen Blick auf ihren Inhalt. Persone n! Die meisten dieser Akten betrafen keine Dinge, sondern irgendwelche Personen. Unglücklicherweise waren ihm die Namen unbekannt. Er fügte die Akten dem Stapel auf dem Schreibtisch hinzu. Erst jetzt wandte er sich dem Safe zu. Das Ding musste mit einem Kran in diesen Raum gehoben worden sein, bevor das Gebäude seine Fenster erhalten hatte, vermutete er. Er überprüfte jeden Quadratzentimeter der Außenwände, um herauszufinden, ob der Safe verkabelt war. Negativ. Vorsichtig drückte er die Klinke hinunter. Blockiert. Ohne den Druck auf die Klinke zu vermindern, drehte er das Zahlenkombinationsschloss ganz behutsam nach rechts. Wenn irgendjemand die Safetür hastig geschlossen hatte, würden nicht alle Nocken des Schlosses in ihren Halterungen eingerastet sein. Carmellini ließ sich Zeit. Nein. Der Safe war geschlossen. -322-
Er sah wieder auf seine Uhr. Ein Uhr siebenundvierzig. Das Licht würde schon bald wieder brennen, gespeist durch den Notstromgenerator. Carmellini öffnete den Seesack und förderte mehrere Gegenstände zu Tage. Der erste war eine Teleskopstange, die er ausfuhr und über der Drehscheibe des Zahlenkombinationsschlosses in Position brachte. Er sicherte sie mit Klemmen, die er an den Seitenwänden des Tresors befestigte. Dann arretierte er einen kleinen Elektromotor am Ende der Teleskopstange und stellte die aus dem Motor ragenden Greifklauen so ein, dass sie sich um die Drehscheibe schlossen. Er arbeitete schnell und geschickt, jeder Handgriff saß. Als Nächstes klebte er vier durch Magnete selbsthaftende Sensoren oben, unten, rechts und links auf die Safetür. Von den Sensoren und dem Elektromotor führten Kabel zu einem kleinen Computer, der zu Carmellinis Einbruchswerkzeug gehörte und den er nun einschaltete. Das letzte freie Kabel verband er mit einer Zwölf- Volt-Batterie aus seinem Seesack. Während er wartete, bis der Computer hochgefahren war, überprüfte er noch einmal sämtliche Kabel. Alles in Ordnung. Tommy Carmellini spitzte die Lippen, als würde er pfeifen. Mit dieser Konstruktion, die er selbst entwickelt hatte, konnte er jeden älteren, auf mechanischer Basis funktionierenden Safe öffnen, wenn man ihm genug Zeit ließ. Eine in die Safetür induzierte elektrische Spannung erzeugte ein messbares magnetisches Feld. Die Drehung der Nocken innerhalb der Schließvorrichtung verursachte Fluktuationen des Feldes, Schwankungen, die auf dem Computermonitor angezeigt wurden. Der Computer wiederum berechnete daraus die Stromstärke, die erforderlich war, um die Drehscheibe des Schlosses zu bewegen - ein äußert empfindlicher Messvorgang. Anhand dieser Faktoren konnte er die Kombination berechnen, mit der sich der Safe öffnen ließ. -323-
Carmellini, der mit übereinander geschlagenen Beinen vor dem Tresor saß, den Laptop im Schoß, zog die Latexhandschuhe straffer um seine Finger und stellte die Drehscheibe des Zahlenkombinationsschlosses manuell auf Null. Dann startete er das Computerprogramm. Die Scheibe begann sich langsam und lautlos zu drehen, angetrieben von dem durch das Programm gesteuerten Elektromotor. Nach einer kompletten Umdrehung stoppte die Scheibe bei zweiunddreißig. Die Zahl erschien in der oberen rechte Ecke des Bildschirms. Nach einer kurzen Pause drehte der Computer die Scheibe nach links, im Gegenuhrzeigersinn. Carmellini grinste zufrieden. Vor seinem geistigen Auge konnte er sehen, wie sich die Scheiben im Inneren des Schlosses drehten, sich die Nocken bewegten… Die Linie auf dem Bildschirm, die den magnetischen Feldfluss anzeigte, zuckte überraschend. Carmellini runzelte die Stirn. Er hatte sich nicht bewegt, und aus dem Gebäude war kein Laut zu hören. Wieder ein Zittern der Linie, so schwach, dass er es beinahe übersehen hätte. Und noch eins. Irgendjemand näherte sich dem Büro, ging leise den Flur entlang. Die Sensoren registrierten die durch die Schritte hervorgerufenen Erschütterungen, die sich durch das Gebäude ausbreiteten und auch den Safe erfassten. Ganz vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, stellte Carmellini den Laptop auf den Seesack, stand auf und schlich zur Tür. Gleichzeitig zog er die Ruger aus dem Holster unter seinem Hemd und legte mit dem Daumen den Sicherungshebel um. Dann schaltete er die an seinem Stirnband befestigte Lampe aus. Er wechselte die Pistole in die linke Hand. Mit der anderen griff er in eine Hüfttasche und zog einen Totschläger hervor, eine biegsame Gummistange, deren vorderes Ende mit einem Bleikern beschwert war. -324-
Die Dunkelheit erschien ihm vollkommen, bevor sich seine Augen den veränderten Lichtverhältnissen anpassten. Es dauerte eine Weile, bis sich im schwachen Widerschein von den Autoscheinwerfern unten auf den Straßen allmählich wieder die Umrisse des Büros aus der Schwärze schälten. Carmellini hatte gute Ohren, trotzdem konnte er keine Schritte hören. Dagegen registrierte er deutlich das leise Winseln, das der Elektromotor erzeugte, wenn er die Drehscheibe bewegte, das Hupen von mehreren Häuserblocks entfernten Autos, und schwach, ganz schwach, das Heulen von Feuerwehr- oder Polizeisirenen. Er hörte auf zu atmen, hörte auf zu denken, stand absolut starr und reglos da, als sich der Türknauf langsam drehte und sich die Tür öffnete. William Henry Chance ging langsam vor dem Haupteingang des Innenministeriums auf und ab. Der wachhabende Offizier und seine beiden Männer befanden sich im Kellergeschoss, wo sie Gott weiß was mit dem Notstromgenerator anstellten. Chance fragte sich, wie lange es her sein mochte, seit der Generator zum letzten Mal betankt, geschmiert, ordentlich gewartet und in Betrieb genommen worden war. Der Sekundenzeiger seiner Uhr schien eingefroren zu sein. Chance kontrollierte die Zeit, ging hin und her, beobachtete die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen, rückte seinen Waffengurt und die Mütze zurecht, marschierte weiter, nahm sich vor, nicht mehr auf das beleuchtete Ziffernblatt der Uhr zu sehen und brach sein eigenes Versprechen gleich darauf wieder. Eine Minute. Eine lausige Minute war seit dem letzten Mal verstrichen. Irgendjemand kam den Gehweg entlang… ein uniformierter Wachposten mit einer AK-47 an der Schulter. Vermutlich war er an einem der Seitene ingänge oder am Hinterausgang stationiert. -325-
Er blieb etwas überrascht stehen, als er Chance vor den Glasflügeltüren des Gebäudes entdeckte, sah genauer hin und salutierte. »Colonel, ich suche den wachhabenden Offizier.« »Der Leutnant ist mit seinen Männern im Keller, um den Notstromgenerator anzuwerfen. Hält außer Ihnen noch jemand vor Ihrem Posten Wache?« »Ähh… ja, Colonel. Ich bin nur vorbeigekommen, um nachzusehen, ob…« »Ich denke, Sie sollten auf Ihrem Posten bleiben. Der Notstrom für das Gebäude wird in wenigen Minuten anspringen. Dann können Sie sich mit Ihrem Anliegen an den Offizier vom Dienst wenden.« »Ja, Colonel. Aber als wir den Generator das letzte Mal gestartet haben, sind alle Alarmanlagen losgegangen. Jede einzelne. Der Offizier vom Dienst wollte immer, dass sie abgeschaltet werden, bevor er den Generator anwirft.« »Ich bin mir sicher, dass er sich darum kümmern wird. Er kennt das System.« »Jawohl, Colonel.« »Wann ist das Notstromaggregat überhaupt zum letzten Mal benutzt worden?« »Während des großen Unwetters vor einem Jahr, Colonel. Das ist jetzt acht oder neun Monate her, glaube ich.« »Gut, kehren Sie auf Ihren Posten zurück.« »Jawohl, Colonel.« Der Mann salutierte, drehte sich um und marschierte davon. Chance konnte die Schritte des Wachpostens noch mehrere Sekunden lang hören, nachdem ihn die Dunkelheit verschluckt hatte. Der Posten hatte ihn für einen Kubaner gehalten, genau wie Leutnant Gómez und dessen Männer. Wenn sie nur wüssten, wie viele Hunderte von Stunden Sprachunterricht Chance über sich -326-
hatte ergehen lassen, um diesen besonderen Spanischakzent perfekt zu beherrschen! Und das alles nur, um auf einen Moment vorbereitet zu sein, zu dem es vielleicht nie kommen würde. Doch dann war der Befehl tatsächlich an ihn ergangen, und hier war er nun, spazierte vor dem Foyer des Hauptquartiers der Geheimpolizei in Havanna herum und schwadronierte in kubanischem Spanisch wie José Marti. Er ging zur Wachstation und sah sich die Ausstattung im Lichtkegel seiner Taschenlampe an. Die Monitore waren natürlich dunkel, alle Systeme ausgefallen, aber wo war das Überwachungsband? Chance hatte nicht vor, Alejo Vargas und Santana ein Souvenir in Form eines Videobandes mit den Männern zu hinterlassen, die ihren Safe aufgebrochen hatten, falls die Stromversorgung wieder funktionierte, bevor Carmellini und er verschwunden waren. Ah, da war der Videorecorder. Chance drückte die Kassettenauswurftaste. Vergeblich. Ohne Strom würde das Gerät das Band nicht ausspucken. Er zog die Ruger, jagte vier Kugeln in das Videogerät, sammelte die Patronenhülsen vom Boden auf und steckte sie in die Tasche. Wieder ging er auf und ab. Jede Minute, die verstrich, wurde zur Qual. Ursprünglich hatte er erwartet, dass die Alarmanlagen in Vargas' Büro losgehen würden und er Carmellinis Rückzug würde decken müssen, sobald der Notstromgenerator des Gebäudes ansprang. Er war fest entschlossen gewesen, der einzige lebende Mensch am Haupteingang zu sein, wenn Carmellini herauskam, welche Mittel er auch immer dazu einsetzen musste. Wenn es allerdings ganz normal war, dass die Alarmanlagen nach einem Stromausfall losgingen, konnte er vielleicht auf Gewaltanwendung verzichten. Die schallgedämpfte Ruger trug er in einem Holster unter der -327-
linken Achselhöhle unter seinem Hemd. Es war eine ideale Waffe für Meuchelmörder. Sie verschoss Kugeln vom Kaliber .22 mit Hohlbohrung in der Spitze, die nur minimale Schäden anrichteten, solange man sie nicht einem Menschen aus kürzester Distanz direkt ins Hirn jagte. Treffer in den Körper oder die Gliedmaßen waren zwar schmerzhaft, setzten den Gegner aber nicht sofort außer Gefecht. Der einzige Vorzug der Ruger bestand in ihrem Schalldämpfer, der den normalerweise ohrenbetäubenden Knall auf ein leises Plopp reduzierte, das nur ein paar Schritte weit zu hören war. Chance fragte sich, wie Carmellini mit dem Knacken des Safes vorankam. Los, Tommy!, beschwor er seinen Partner in Gedanken. Aus dem Gebäude ertönten Schritte. Der Strahl einer Taschenlampe durchschnitt die Dunkelheit. »Ah, Colonel, der Leutnant hat mich geschickt, um Ihnen mitzuteilen, dass der Generator schon sehr bald anspringen wird.« »Gut.« »Es haben sich einige Schwierigkeiten ergeben. Der mechanische Zustand ist nicht so, wie er sein sollte.« »Ich verstehe. Ich habe vollstes Vertrauen in den Leutnant.« Der Mann kehrte in das Foyer zurück und verschwand in der Richtung, aus der er gekommen war. Chance wanderte weiter auf und ab. Es waren mindestens drei Minuten vergangen, als der Leutnant durch die Glastüren ins Freie trat. Im Licht vereinzelt vorbeihuschender Autoscheinwerfer konnte man sehen, dass er ein großer, dicklicher Mann war. »Es tut mir Leid, Colonel, aber wir bringen das verdammte Ding nicht zum Laufen.« »Kein Beinbruch, solange Ihre Männer wachsam bleiben. Und -328-
ich schätze, ich kann morgen noch einmal wiederkommen, um das zu erledigen, was ich hier vorhatte.« »Wir werden wachsam bleiben und gewissenhaft unsere Pflicht erfüllen, Colonel.« »Sie und Ihre Männer haben getan, was Sie konnten, oder?« »Wir könnten Colonel Santana wecken, denke ich. Vielleicht kennt er sich besser als wir mit dem Generator aus.« Chance versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen und ganz ruhig zu sprechen. »Dann befindet sich Colonel Santana zurzeit hier im Gebäude?« »Ja, Colonel. Er ist vor etwa einer Stunde gekommen und in seine Wohnung in der obersten Etage gegangen. Ich glaube, er hat den Vorfall untersucht, bei dem zwei Männer in der Nähe eines Hochspannungsmastes im Süden vor der Stadt getötet worden sind.« »Ein Hochspannungsmast? Das klingt nach Sabotage.« »O ja, Colonel.« »Ich habe nichts von diesem Vorfall gehört.« »Feinde der Regierung, Colonel. Offenbar waren einige von ihnen erfolgreicher.« »Santana ist genau der Mann, den ich sehen wollte«, behauptete Chance. »Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass er schlafen würde. Ich schlage vor, Sie versuchen es noch einmal mit dem Generator, und wenn Sie dann immer noch keinen Erfolg haben, werde ich Colonel Santana wecken.« Nachdem sich der Knauf bis zum Anschlag herumgedreht hatte, öffnete sich die Tür zu Alejo Vargas' Büro langsam. Tommy Carmellini stand reglos wie eine Statue dicht hinter der Tür, den Totschläger in der rechten, die schallgedämpfte Ruger in der linken Hand. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe flammte auf, glitt schnell -329-
durch den Raum, fiel auf den Safe, wanderte ein Stückchen weiter und zuckte dann zum Tresor zurück. Die von Carmellini installierte Vorrichtung war deutlich im Lichtkegel sichtbar, ebenso die diversen Verbindungskabel, die zu dem kleinen Computer führten. Schneller, als er es jemals für möglich gehalten hätte, flog die Tür vollends auf und knallte Tommy Carmellini ins Gesicht. Der Aufprall schleuderte ihn rückwärts gegen die Wand. Die schemenhafte Gestalt eines Mannes hechtete in das Büro, holte aus und schlug Carme llini irgendetwas auf den Schädel, das Sterne vor seinen Augen tanzen ließ. Carmellini verlor das Gleichgewicht und taumelte. Er schaffte es, die Ruger zu heben und auf den Schemen zu zielen, als der Mann mit rücksichtsloser Brutalität nachsetzen wollte, und drückte so schnell wie nur möglich mehrmals auf den Abzug. Die Schüsse waren kaum zu hören. Er stolperte und ging zu Boden. Der Angreifer stürzte sich auf ihn und hämmerte ihm die Faust ins Gesicht. Carmellini holte mit der rechten Hand aus, ließ den Totschläger so wuchtig wie er konnte auf die Schläfe der dunklen Gestalt niederfahren. Und noch einmal. Der Mann sackte in sich zusammen und knickte in den Knien ein. Tommy Carmellini legte all seine Kraft in einen letzten Schlag und zog seinem Kontrahenten den Totschläger über den Schädel. Der Unbekannte kippte um und blieb auf dem Rücken liegen. Carmellini setzte sich auf. Er atmete keuchend und abgehackt. Sein Gesicht fühlte sich teilweise taub an. Speichel tropfte unkontrolliert aus seinem Mund, der einen heftigen Faustschlag eingesteckt hatte. Mit Mühe gelang es ihm, auf die Knie zu kommen. Er steckte -330-
den Totschläger ein und ergriff die Taschenlampe, die neben ihm auf dem Boden lag und immer noch brannte. Dann richtete er den Lichtstrahl auf den unbekannten Angreifer. Santana. Verdammt! Er überprüfte seine Pistole. Wenn er sich nicht täuschte, hatte er mindestens fünfmal abgedrückt. Einige der ausgeworfenen Patronenhülsen lagen neben Santana, auf dessen Brust und Hals sich zwei dunkle Flecken ausbreiteten. Also mindestens zwei Treffer. Vielleicht würde ihn eine der kleinkalibrigen Kugeln umbringen. Vielleicht auch nicht. Tommy Carmellini stellte überrascht fest, dass es ihm egal war. Er schob die Pistole in das Holster, wischte sich das Gesicht mit einem Hemdsärmel ab und kehrte zu seinem Laptop zurück. Der Bildschirm zeigte die vollständige Kombination, alle drei Zahlen. Die Drehscheibe des Zahlenkombinationsschlosses stand still. Carmellini legte eine Hand auf die Klinke und zog leicht daran. Sie bewegte sich. Der Safe war offen! Nachdem er sich erneut das Gesicht mit einem Hemdsärmel abgewischt hatte, zwang er sich, wieder an die Arbeit zu gehen. Zuerst verstaute er den Computer und das Einbruchswerkzeug in seinem Seesack. Dann öffnete er die Tresortür und untersuchte mit Hilfe von Santanas Taschenlampe den Inhalt des Safes. Eine Menge Papiere, Akten, zwei Fächer voll. Das obere Fach enthielt Personalakten, die jeweils einen Namen trugen. Das waren die Unterlagen, auf die er es abgesehen hatte. Er packte sie in seinen Seesack. Im zweiten Fach stapelten sich Akten, die mit Zahlen -331-
gekennzeichnet waren. Carmellini schlug eine davon auf. Technische Zeichnungen, möglicherweise von einem Gefechtskopf… Er stopfte alles, was interessant aussah, ebenfalls in den Seesack, einschließlich des Aktenstapels auf Vargas' Schreibtisch. Sieh an, eine Akte mit Lieferungen von einer Firma für Laborzubehör in Miami, eine andere mit Untersuchungen über Infektionswahrscheinlichkeiten, Sterblichkeitsraten, Impfstoffe… Auch sie wanderten in den Seesack. Die nächsten Akten… Ach, zur Hölle damit! Am besten nahm er alles mit. Die Akten im unteren Fach konnten sich als genauso interessant erweisen wie die im oberen. Keine Zeit, sie alle zu sichten. Der große Stoffbeutel würde zwar ziemlich schwer werden, aber er konnte ihn tragen. Nachdem er alle Unterlagen verstaut hatte, hob er den Seesack probehalber an. Mindestens fünfunddreißig Kilo. Platz für noch ein paar andere Dinge… Was bewahrte Vargas sonst noch in seinem Safe auf? Einen kleine n Laptop. Nun, den würde er bestimmt nicht mehr brauchen. Ab damit in den Sack. Carmellini durchwühlte gerade die Seitenfächer, als er eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Er drehte sich um… Santanas Faust schrammte über Carmellinis Wange. Die Drehung hatte gerade ausgereicht, um ihm das Leben zu retten. Sein Stirnband mit der kleinen Lampe flog davon, der Lichtstrahl tanzte wie verrückt über die Wände und die Decke des Büros. Er riss den Totschläger aus der Tasche, schwang ihn in einem Halbkreis herum und spürte, wie er auf Knochen traf. Santana kippte seitlich um. Keine Zeit mehr für Spielchen! Der Mann ist einfach zu -332-
gefährlich! Carmellini zog die Ruger aus dem Holster und schaffte es gerade rechtzeitig, die Sicherungssperre zu lösen, als Santana wieder aufsprang. Die Pistole hustete leise. Von seinem eigenen Schwung getragen, taumelte Santana weiter und brach vor Carmellinis Füßen zusammen. Der Amerikaner trat um den leblosen Körper herum und steckte die Pistole zurück ins Holster. Er fand das Stirnband mit der daran befestigten Lampe, verstaute es in seinem Seesack und zog den Reißverschluss zu. Nach einem letzten schnellen Rundblick ging er zur Tür und vergewisserte sich, dass der Riegel im Schloss einrasten würde, wenn er sie hinter sich zuschlug. Er kehrte ins Büro zurück und hängte sich den Seesack über die Schulter. Dann trat er auf den dunklen Gang hinaus, zog die Tür zu, überzeugte sich, dass sie richtig geschlossen war, und eilte den Flur entlang zur Treppe. Die Ruger mit der rechten Hand gegen seinen Oberschenkel gedrückt, stieg Tommy Carmellini die Stufen hinab, durchquerte das Foyer und näherte sich der Silhouette vor der Tür. Kurz bevor er sie erreicht hatte, gingen die Lichter an, und im gleichen Augenblick heulten überall die Alarmsirenen los. Er blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Die Gestalt in der Tür entpuppte sich als William Henry Chance. »In den Wagen, schnell!«, rief Chance. Die Sirenen jaulten, sämtliche Lichter des Gebäudes brannten, aber noch war kein Mensch zu sehen. Wenn es ihnen gelang zu verschwinden, bevor der Leutnant mit seinen Männern zurückkam, würde er sie nicht töten müssen. Sie konnten sein Gesicht in der Dunkelheit nicht allzu gut gesehen haben. Seine Uhr zeigte vier Minuten nach zwei. Chance wartete vor dem Eingang. Er spürte, wie ihn ein -333-
Glücksgefühl durchströmte, als Carmellini den Seesack im Kofferraum des Lada verstaute, sich hinter das Steuer zwängte und den Motor startete. Mit drei weit ausgreifenden Schritten war Chance bei ihm, riss die Beifahrertür auf und sprang in den Wagen. Carmellini trat das Gaspedal durch. Der Rest der Stadt lag noch immer in vollkommener Dunkelheit da, und kaum hatte sich der Lada von dem hell erleuchteten Gebäude entfernt, verschluckte ihn die Nacht. »Was haben Sie erbeutet?« »Ich konnte den Safe knacken, habe zwei Fächer mit Akten ausgeräumt, alles aus Papier, was drin war, dazu ein paar Akten aus Vargas' Schreibtisch. Außerdem noch einen Laptop.« »Gut gemacht.« »Irgendjemand ist gekommen, während ich im Büro war. Santana, glaube ich. Ich habe ihn erledigt.« »War er tot?« »Ich habe mir nicht die Zeit genommen, es zu überprüfen, und ehrlich gesagt, ist es mir auch egal. Ich habe dem Hurensohn sechs Kugeln in den Leib gejagt und eine Weile mit dem Totschläger auf ihn eingedroschen. Wenn er danach noch nicht tot war, dürfte er es auf jeden Fall bald sein.« Chance schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens ein, gerade lange genug, um einen Blick auf Carmellinis Gesicht zu werfen. »Sieht so aus, als hätte er Ihnen auch ein oder zwei Schläge verpasst.« »Yeah. Er war verdammt schnell.« »Hat er Ihr Gesicht erkennen können?« »Glaube ich nicht. War ziemlich dunkel da drinnen. Und wahrscheinlich ist er ohnehin tot. Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf.« Chance gab ein wortloses Knurren von sich und starrte durch -334-
die Windschutzscheibe auf die dunkle, tote Stadt hinaus. In der Nacht sahen die Passagiere der Angel del Mar ein Schiff. Es tauchte aus einem dunklen Loch des Universums auf und fuhr in nur einer halben Meile Entfernung an dem treibenden Wrack vorbei, auf dessen Deck sich die Leute die Seelen aus dem Leib schrien und wild mit der einzigen funktionierenden Taschenlampe herumfuchtelten. Das Schiff war ein riesiger Frachter mit hell beleuchteter Brücke und brennenden Lampen an den Aufbauten. Es rauschte durch die Nacht und verschwand genauso schnell im Nichts, wie es aufgetaucht war, ließ die Menschen an Bord des Fischerbootes mit weit aufgerissenen Augen zurück, erschöpft, halb verhungert und hoffnungslos. Am frühen Abend war ein kleines Mädchen gestorben, kurz nach Sonnenuntergang, und einige der Leute hatten es essen wollen. »Wir können nichts mehr für sie tun, und ihr Fleisch kann uns das Leben retten«, sagte ein Mann. Mehrere andere stimmten ihm zu. Der alte Fischer stieg in den Kielraum des Bootes hinab, um Ocho zu informieren, der seine Schicht an der Pumpe absolvierte. Da der Mann vor ihm nicht mit dem ständigen Wassereinbruch hatte Schritt halten können, musste Ocho nicht nur das nachströmende Wasser abpumpen, sondern zusätzlich noch die beachtliche Menge, die ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte. Obwohl er am Rande des völligen Zusammenbruchs stand, hörte er sich an, was der Fischer zu sagen hatte, während er mit dem Pumpenschwengel kämpfte. »Vielleicht…«, begann er. Aber der alte Mann war nicht bereit, die Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. »Ihr Fleisch zu essen wäre ein Sakrileg«, sagte er, »der moralische Tod eines jeden, der davon -335-
kostet oder den anderen dabei zusieht. Alles Fleisch muss irgendwann einmal sterben, aber Gott wird uns nie vergeben, wenn wir vor ihn treten, nachdem wir einen solchen Frevel begangen haben. Komm mit mir. Komm!« Er musste Ocho beinahe die Stufenleiter hinaufschleifen. An Deck verteilten sie nach allen Seiten Fausthiebe, ergriffen die Leiche des Mädchens und warfen sie über Bord. Der alte Fischer baute sich im schwindenden Licht mit dem Rücken zum Ruderhaus auf und brüllte die anderen an, von denen einige bereits zu schwach waren, um sich zu bewegen. Er verfluchte sie, beschimpfte sie, trat nach denjenigen, die ihm zu nahe kamen, versetzte einem Mann einen so heftigen Schlag, dass er beinahe über die Reling kippte. Die Kinderleiche trieb knapp außer Reichweite im Meer, hob und senkte sich mit den Wellen. Einige der Leute starrten sie an, andere wandten den Blick ab. Nachdem das letzte Tageslicht erloschen war, verschluckte die Finsternis das tote Mädchen. Ocho stieg wieder in den Kielraum hinab, im dem es nach Erbrochenem und Fäulnis stank, und arbeitete wie ein Roboter an der Pumpe. Irgendwann half ihm der alte Fischer die Treppe hinauf und löste ihn ab. Als das Schiff in der Dunkelheit vorbeifuhr, lag Ocho neben einem Speigatt. Er zog sich hoch, hielt sich mit einer Hand an der Reling fest, versuchte zu schreien und musste feststellen, dass ihm die Stimme versagte. Dann versuchte irgendjemand, ihn über Bord zu stoßen. Es war kein Versehen, sondern Absicht, ein kräftiger Stoß in seinen Rücken, ein anhaltender Druck. Nur rohe Kraft rettete ihn. Er wirbelte herum und schlug blindlings zu, spürte, wie seine Faust auf Knorpel und Knochen traf, schlug noch ein paarmal zu, bis der Mann vor ihm zu -336-
Boden ging. Ocho brach vor Erschöpfung zusammen. Er kroch auf Händen und Knien vor, wollte so lange auf den Mann einschlagen, wie er die Kraft aufbrachte, die Fäuste zu heben, aber plötzlich stand Dora schluchzend vor ihm und hielt ihn zurück. »Nein, nein, nein, o mein Gott!«, heulte sie. »Du bringst ihn noch um!« »Er hat versucht, mich über Bord zu stoßen«, krächzte Ocho schwach. »Oh, ich verfluche dich, Ocho! Wenn du nicht wärst, hätten wir Kuba nie verlassen und wären jetzt zu Hause in Sicherheit.« »Ich?« »Ja, du! Du warst Papas Fahrkarte in die Freiheit! Du! Das alles ist deine Schuld!« »Und du bist schamlos! Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, obwohl du ein Kind in dir trägst!« »Ich bin nicht schwanger! Ich bin nie schwanger gewesen! Papa hat mich dazu überredet, dir zu sagen, ich wäre schwanger, damit du mitkommst.« Ihre Stimme brach und ging in einem Schluchzen unter. Ocho lag wie betäubt in der Dunkelheit und versuchte nachzudenken, das Boot und die Menschen auf ihm so zu sehen, wie Gott sie aus dem Himmel sehen musste. Zum Glück regnete es hin und wieder, gerade genug, um den Eimer zu füllen, so dass alle trinken konnten. Vielleicht war es Gott, der ihnen die Regenschauer schickte. Aber sie verhungerten, und Ocho war müde, so schrecklich müde. Sein ganzes Leben hatte sich in nichts aufgelöst, es würde bald enden, und es war ihm egal. Er versuchte, Dora zu sagen, dass es keine Rolle spielte, aber er konnte es nicht, denn sie schluchzte hysterisch, und eigentlich war ihm auch das völlig -337-
egal. Nach einer weiteren Schicht an der Pumpe kehrte Ocho an Bord zurück und suchte nach Diego und Dora, um irgendetwas zu sagen, das ihnen ihre Bürde erleichtern würde - auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, was er ihnen sagen sollte. Aber Diego war nicht da. Er war nicht im Kielraum, im Ruderhaus oder an Deck. Ocho suchte die See ab, ließ seinen Blick in alle Himmelsrichtungen wandern, hielt nach einem Kopf Ausschau, der wie ein Korken auf den Wellen hüpfte. Dora hatte sich in der Nähe des Bugs zu einer Kugel zusammengerollt. Er ging zu ihr und schüttelte sie. »Wo ist Diego?« Sie starrte ihn verwirrt an, als würde sie ihn nicht verstehen. Er wiederholte die Frage mehrere Male. Dora blickte sich verständnislos um. »Ich kann ihn nirgendwo finden«, erklärte Ocho. »Ist er in der Nacht über Bord gefallen?« Sie schien einfach durch ihn hindurchzublicken, obwohl ihre Augen direkt auf ihn gerichtet waren. Ihr Gesicht war leer, geistesabwesend. Endlich klärte sich ihr Blick. »Er ist gestern Nacht auf die Reling geklettert. Ins Meer gesprungen.« Ocho ließ erneut den Blick über die See wandern, stolperte zur Backbordseite des Bootes, um am Ruderhaus vorbei nach achtern sehen zu können. Dann kehrte er zu Dora zurück. Sie hatte sich wieder auf dem Deck zusammengerollt, die Knie bis an die Stirn gezogen. Er ließ sie allein, legte sich auf die Planken und versuchte, sich auszuruhen.
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14 »Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte Alejo Vargas. Colonel Santana lag auf einer Tragbahre in der Notaufnahme des Krankenhauses und wurde gerade für die Operation vorbereitet. Er hatte vier Kugeln im Leib und eine hässliche Wunde an der Stirn, wo ein weiteres Projektil über seinen Schädelknochen geschrammt war. Sein Kinn und eine Wange waren stark geschwollen, die Nase zerschmettert. Er hatte zwei Zähne verloren und litt offensichtlich unter einer Gehirnerschütterung. Die Pupille seines rechten Auges war geweitet und weigerte sich, irgendetwas scharf abzubilden. »Ich weiß es nicht«, brachte Santana mühsam hervor und versuchte zu schlucken, wobei er beinahe an seiner Zunge erstickte. Nachdem er eine Weile heftig gewürgt hatte, schien er sich ein wenig zu entspannen. »Amerikaner?« »Ich weiß es nicht. Er hat nichts gesagt, und es war dunkel. Er hat hinter der Tür auf mich gewartet, als ich reingegangen bin.« »Eine der Kugeln ist in seinen Brustkorb eingedrungen, Herr Minister«, sagte der Arzt. »Wir müssen sie rausholen und die innere Blutung stoppen. Er braucht eine Transfusion und viel Ruhe.« Vargas verließ die Notaufnahme. Der Wagen brachte ihn zurück ins Ministerium, und er fuhr mit dem Fahrstuhl zu seinem Büro hinauf. Die Arbeiter hatten die schlimmsten Schäden bereits beseitigt, doch die Tür zum Safe stand noch immer offen, und die Schubfächer in dem Tresor waren leer. Die unersetzbaren Akten über Generäle und hohe -339-
Regierungsangestellte, die zusammenzutragen immerhin zwanzig Jahre gedauert hatte, waren fort - verschwunden wie ein Sturm in der Nacht. Jede me nschliche Schwäche war irgendwo in diesen Akten zu finden gewesen: eheliche Untreue, Diebstahl, Vergewaltigung, Inzest, Sodomie, sogar Mord. Diese Akten waren der Schlüssel seiner Macht, sie befähigten ihn, bestimmte Dinge in Kuba geschehen zu lassen. Und nun waren sie fort. Hector Sedano war sein Hauptverdächtiger. Natürlich hielt sich Hector momentan selbst in La Cabana auf, aber er könnte jemanden geschickt haben, um den Safe für ihn auszurauben. Andererseits könnte es einer der Generäle gewesen sein. Oder Admiral Delgado. Eigentlich jeder dieser ehrgeizigen Idioten. Raúl Castro? Auch eine Möglichkeit, aber daran wollte Vargas nicht so recht glauben. Andererseits machte ihn schon der Umstand, dass er Raúl Castro als eher unverdächtig einstufte, misstrauisch. Er würde ihn überprüfen lassen, überwachen, Tag und Nacht, ihn und jeden, der mit ihm sprach. Ja, es gab viel zu tun. Es gab sehr viel zu tun. Der Stromausfall hatte diesen Raub erst ermöglicht. Fünf Stromleitungsmasten umgestürzt, zwei Saboteure tot. Aber sie hatten Spuren hinterlassen, und eine gewissenhafte Untersuchung würde ihn am Ende zu dem Mann oder den Männern führen, die dieses Verbrechen zu verantworten hatten. Nicht, dass ihm das noch etwas nützen würde. Wer auch immer sich in den Besitz die ser Akten gebracht hatte, würde sie auf der Stelle vernichten. All seine Pläne, all diese Arbeit… alles umsonst. Alejo Vargas konnte die Tragweite des Ganzen kaum fassen, geschweige denn an die Folgen denken. Der Unbekannte, der diesen Safe ausgeraubt hatte, war gut vorbereitet zu Werke gegangen. Dies war keine spontane Tat, sondern ein akribisch -340-
geplantes Verbrechen. Wieder sah er sich den Safe an. Nicht die kleinste Schramme zu entdecken. Jemand hatte die Kombination geknackt. Er hatte schon gehört, dass so etwas möglich war, aber er hatte noch nie erlebt, dass es wirklich geschah. So wenig wie er jemals gehört hatte, dass irgendwann etwas Vergleichbares in Kuba passiert wäre. Noch gestern hätte er steif und fest behauptet, dass es in ganz Kuba niemanden gab, der dazu fähig war. Und die Akten über das Biowaffen-Projekt waren weg. Einen Tag nach dem Einbruch in das Labor verschwunden. Der Einbruch in das Labor entsprach nicht Hectors Stil er hätte keinen Grund gehabt, dort einzubrechen, so wenig wie irgendjemand sonst -, dort gab es nichts für ihn zu holen. Abgesehen von Poliomyelitisviren. Wollte Hector womöglich versuchen, das Biowaffenprogramm öffentlich bekannt zu machen, seine Existenz zu beweisen, um sich dadurch einen politischen Vorteil zu verschaffen? Die Amerikaner… Alejo Vargas starrte seinen leeren Safe an und dachte über die Amerikaner nach. Die Amerikaner kamen als Täter in Frage, wie er sich, wenn auch ungern, eingestehen musste. Er nahm eine Lupe aus der obersten Schublade seines Schreibtisches und untersuchte den Safe so genau er nur konnte. Er entdeckte Spuren, Kratzer, sogar mehrere. Aber wie alt waren sie? Was hatte sie verursacht? Es war niemand da, der es ihm hätte verraten können, und so beschloss er schließlich, dass ihm diese Details so oder so nicht weiterhelfen würden. Die Leute, die diesen Safe geöffnet und seine Schlüssel zur Macht in Kuba gestohlen hatten, hatten auch die Stromversorgung des Zentrums von Havanna lahm gelegt, und das war die Spur, der er jetzt nachgehen musste. -341-
Ein paar Sekunden grübelte er darüber nach, wie er sich an den Kerlen rächen würde, wenn er sie erst einmal geschnappt hatte. »Herr Minister, Leutnant Gómez ist hier. Er hatte letzte Nacht Dienst.« »Haben Sie die Männer gesehen, Gómez?« »Zwei Männer sind hier angekommen, kurz nachdem der Strom ausgefallen ist, Señor. Ich konnte den Colonel für einige Sekunden im Licht einer Taschenlampe sehen, den Fahrer dagegen nicht.« »Wie hat dieser Mann ausgesehen?« »Er war ziemlich groß.« »Akzent?« »Ist mir nicht aufgefallen, Señor.« »Kommen Sie, kommen Sie, Leutnant. War er aus Kuba, aus Havanna oder Oriente, oder hat er kastilisches Spanisch gesprochen?« »Aus Havanna, glaube ich, Señor. Er klang genau wie Sie und ich.« »Was hat er gesagt?« »Dass wir den Notstromgenerator anwerfen sollen.« »Und das haben Sie getan?« »Ja, Señor. Ohne Strom funktioniert die Alarmanlage nicht, wir konnten nicht miteinander telefonieren, die Sicherheit des Gebäudes war in Gefahr. Meine Männer und ich sind in den Keller gegangen und haben versucht, den Generator anzuwerfen. Ich bin noch einmal nach oben gegangen und habe dem Colonel berichtet, dass wir Probleme hätten, aber er hat nur gesagt, er sei überzeugt, wir würden das schon schaffen. Als wir das Ding dann endlich zum Laufen gebracht hatten und wieder heraufgekommen sind, war der Colonel samt Fahrer und Wagen schon wieder weg.« -342-
»Sie haben diesen Colonel noch nie zuvor gesehen?« »Nicht dass ich wüsste, Sir.« »Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn er Ihnen noch einmal begegnet?« »O ja, Sir.« Nein, das wird er nicht, dachte Vargas. Hätte dieser Colonel befürchtet, dass es auch nur den Hauch einer Chance gab, der Leutnant könnte ihn früher oder später wiedererkennen, hätte er ihn umgebracht. Gómez war nur deshalb noch am Leben, weil er keine Gefahr darstellte. Vargas entließ Gómez und rief alle Abteilungsleiter zu sich, um ihnen seine Befehle zu erteilen. Mercedes Sedano wurde kommentarlos und ohne größeres Aufhebens aus dem Präsidentenpalast entlassen. Ein Hausdiener klopfte an ihre Tür und riet ihr zu packen. Es gab immer noch keinen elektrischen Strom; die Leitungen waren tot, seit Mercedes an diesem Morgen erwacht war, und so hatte sie sich mit altem Brot und Wasser zum Frühstück begnügen müssen. Sie packte die Kleidungsstücke, die sie mitnehmen wollte, in zwei Einkaufstüten, die auf dem Boden des Schrankes gelegen hatten, stopfte die Videokassetten zwischen die Kleidungsstücke und sah sich ein letztes Mal in der Zimmerflucht um. Fünf Minuten später kehrte der Hausdiener auch schon zurück, um sie hinauszugeleiten. Infolge des Stromausfalls wirkte der Präsidentenpalast düster und unheimlich. Mercedes wünschte sich nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich von hier zu verschwinden und mit diesem Teil ihres Lebens abzuschließen. Sie biss sich auf die Lippen, um ihre Nervosität zu unterdrücken. In einem der verwaisten Flure blieb der Hausdiener kurz -343-
stehen und sah sich verstohlen um, um sich zu vergewissern, dass kein Zimmermädchen in der Nähe war. »Ihr Schwager, Hector Sedano, ist verhaftet worden«, flüsterte er dann. »Er sitzt in La Cabana.« Danach brachte er sie zum Eingang, verabschiedete sich kaum hörbar und schloss die Tür hinter ihr. Mercedes ging an den Wachposten vorbei und die Straße hinunter bis zur Bushaltestelle. Der Strom schien überall ausgefallen zu sein, trotzdem herrschte auf den Straßen von Havanna die übliche Hektik und Geschäftigkeit. Wussten die Leute denn nicht, dass Fidel tot war? Sie wagte nicht, jemanden zu fragen. Als sie im Bus saß, entdeckte sie auf dem Nebensitz eine Zeitung und überflog die Titelseite. Nur das übliche Zeug, kein Wort über Fidel. Also hatten Vargas und seine Schergen Fidels Tod noch nicht bekannt gegeben. Sie musste einmal umsteigen, da sie ihre Kleider bei einer Freundin lassen wollte, die einen kleinen Laden am Malecon hatte. Das Geschäft war wegen des Stromausfalls geschlossen, aber Mercedes klopfte so lange an das Fenster, bis ihre Freundin auftauchte und die Tür öffnete. Sie war furchtbar aufgeregt und zerrte Mercedes hastig in den winzigen Lagerraum. »Ich habe gehört, dass Hector verhaftet worden ist. Was hat das zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Mercedes und schüttelte den Kopf. »Hectors Freunde sind völlig aus dem Häuschen«, berichtete die Ladenbesitzerin. »Und er hat viele, viele Freunde. Ich habe gehört, in Mariel hätte es einen regelrechten Aufruhr gegeben, nachdem er verhaftet worden ist. Obwohl die Zeitungen nichts darüber berichtet haben, hat sich die Nachricht schnell -344-
herumgesprochen. Alle möglichen Leute kommen zu mir und fragen mich aus, weil sie wissen, dass wir uns kennen.« Mercedes versicherte der Frau, dass sie von nichts wusste und ebenso im Dunkeln tappte wie die Menschen auf der Straße. Mit dem Bus fuhr sie durch Havanna zum La Cabana. Der Wächter am Tor kannte ihren Namen und schickte einen Mann los, um den Offizier vom Dienst, Hauptmann Franqui, zu holen. Franqui behandelte sie mit Respekt, führte sie in sein Büro, einen finsteren kleinen Verschlag in der Nähe des Tores, und ließ den Commandante benachrichtigen. Während sie warteten, entschuldigte er sich für den Stromausfall. »So lange hat es schon seit Jahren nicht mehr gedauert.« Fünf Minuten später betraten sie und Franqui das Büro des Gefängniskommandanten, eines stämmigen Offiziers mit beginnender Glatze, der den Eindruck vermittelte, als fürchtete er sich vor seinem eigenen Schatten. »Ich habe meine Befehle«, erklärte er. »Ich kann Sie nicht zu ihm lassen. Er darf keinen Besuch empfangen.« »Fidel hat mich geschickt«, log Mercedes mit ruhiger Stimme. »Hector Sedano ist mein Schwager.« Der Commandante sah so aus, als wäre er hin und her gerissen. Offensichtlich wusste er von der Beziehung zwischen Mercedes und Fidel. Sein Gesicht verlor jegliche Farbe, während er sich zu entscheiden versuchte, vor wem er mehr Angst hatte, vor Fidel oder vor Vargas. Hauptmann Franqui konnte das Dilemma seines Vorgesetzten gut nachvollziehen. »Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Commandante, vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie zurzeit indisponiert wären, möglicherweise gerade beim Essen, und ich angesichts des einwandfreien Leumunds der Dame auf eigene Faust handeln würde.« Der Gefängniskommandant ergriff bereitwillig den rettenden -345-
Strohhalm. »Ich kann ja schließlich nicht überall zugleich sein und jede Entscheidung persönlich treffen, nicht wahr?« »Nein, Commandante. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden?« Hauptmann Franqui fasste Mercedes am Ellbogen und führte sie entschlossen zur Tür hinaus auf den Korridor. »Ich bin selbst ein Bewunderer von Hector Sedano«, gestand er ihr unterwegs. »Ihr Schwager ist ein großer Patriot und ein Mann Gottes. Er wird Kuba in den kommenden Jahren gewiss noch gute Dienste erweisen.« Nachdem sie einige Minuten lang Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, fand sich Mercedes vor Hectors Zelle im Isolationstrakt wieder. Alle anderen Zellen dieses Flügels waren leer, und nachdem sich der Hauptmann diskret zurückgezogen hatte, war sie mit Hector allein. »Werden wir abgehört?«, flüsterte sie. »Vermutlich nicht«, entgegnete Hector. »Da der Strom ausgefallen ist, müsste jemand ganz in der Nähe sein, wenn man uns belauschen wollte.« »Wie lange bist du schon hier?« »Zwei Tage. Seit zwei Tagen sitze ich allein in diesem Loch, und niemand kommt, um mich zu besuchen.« »Sie lassen niemanden zu dir. Ich habe behauptet, Fidel hätte mich geschickt, nur deshalb hat der Commandante mich nicht abgewiesen.« »Ach ja, Fidel.« »Er ist tot.« »Das tut mir Leid, Mercedes«, sagte Hector leise, so leise, dass sie ihn beinahe nicht verstanden hätte. »Es müsste früher oder später passieren. Er wusste es, ich wusste es, und wir haben es beide akzeptiert.« Hector seufzte. »Zumindest erklärt das meine Verhaftung.« -346-
»Es ist zwei Tage her.« »Hat ihn der Krebs also endgültig besiegt, was?« »Gift! Er hat sich lieber vergiftet, als Vargas zu seinem Nachfolger zu ernennen.« Hector bekreuzigte sich. »Es war keine Sünde«, sagte Mercedes, verzweifelt um eine Entschuldigung bemüht. »Er hat das Unvermeidbare nur um ein paar Tage beschleunigt.« Hector beugte sich vor, bis seine Stirn die kalten Stahlstangen der Zelle berührte. »Ich habe gehört, es hätte nach deiner Festnahme in Mariel einen Aufruhr gegeben.« Mercedes' Stimme war sehr leise, kaum mehr als ein Flüstern in einer Kirche. »Das wusste ich nicht.« »Eine Freundin hat es mir erzählt.« »Hast du irgendetwas von Ocho gehört?« »Nein, nichts. Ist er denn nicht zu Hause?« »Er ist mit ein paar anderen auf ein Boot gegangen. Sie wollten nach Amerika.« »Ich habe nichts gehört.« Hector sackte in sich zusammen, kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben. Er sieht so… so ganz anders aus als Fidel, dachte Mercedes. Er war nicht groß, kein energiegeladener Inbegriff des Machismo. Und doch hatte Fidel ihm zugetraut, Kuba regieren zu können! Sie trat so nah an die Gitterstäbe heran, wie sie konnte, und flüsterte: »Ich muss mit den Amerikanern reden. Soll ich diesen kleinen Mann aufsuchen, dem du die Nummern der Schweizer Bankkonten gegeben hast? Den Platzwart des Stadions?« »Er könnte dich hintergehen. Der Kerl steht auch mit Vargas in Verbindung. Ich habe versucht, ihn einzuschüchtern. -347-
Vielleicht war ich ein bisschen zu erfolgreich.« »Mit wem dann?« »Geh in die amerikanische Vertretung und frag nach dem Kulturattaché, ich glaube, sein Name lautet Bouchard. Soviel ich weiß, arbeitet er für die CIA.« »Fidel hat die Ba nkanweisungen für Maximo unterschrieben, und der ist, wie wir erwartet haben, in die Schweiz geflogen, aber ich weiß nicht, ob er das Geld bekommen hat.« »Wenn er es bekommt, wird er nicht zurückkehren«, sagte Hector. »Maximo würde es stehlen«, stimmte sie ihm zu. »Aber glaubst du, die Amerikaner werden das Geld jemals zurückgeben?« »So weit ich gehört habe, soll es an ihren Gerichten gerecht zugehen. Ich würde jedenfalls lieber versuchen, das Geld von ihnen zurückzuholen als von Maximo.« Mercedes nickte. »Warum willst du mit den Amerikanern sprechen?«, fragte Hector. Sie erklärte es ihm. Die Geheimpolizei hatte die Leichen der beiden Saboteure im Keller des Polizeihauptquartiers aufgebahrt, als Vargas sie schließlich zu Gesicht bekam. Zwei lateinamerikanisch aussehende Männer, die viele Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hatten, ihren Zahnfüllungen nach zu schließen. Vermutlich Exilkubaner. Vargas durchsuchte ihre Kleidung, die auf einem Haufen lag, ehe er sich den Gegenständen aus dem Lieferwagen zuwandte. Er untersuchte die chemischen Zeitzünder und formbaren C-4Sprengladungen, die Waffen und Rollen mit Isolierband und warf alles zurück auf den Tisch. -348-
CIA. Ohne den geringsten Zweifel. Fünf Hochspannungsmasten waren umgekippt, die Stromversorgung für die beiden Umspannungswerke, die das Zentrum von Havanna und mit ihm die Regierungsgebäude versorgten, zusammengebrochen. Eine saubere Operation. Und unmittelbar nach dem Stromausfall waren Einbrecher in das Ministerium eingedrungen, hatten den Safe in seinem Büro ausgeräumt und all die Akten mitgenommen, die zusammenzustellen ihn zwanzig Jahre gekostet hatte. Die Amerikaner. Und er hatte weder den Hauch eines Beweises, noch würde er ihn jemals bekommen. Die Einbrecher hatten auch seinen Laptop-Computer gestohlen, und das gab ihm zu denken. Der Laptop war zwar bestimmt nicht so wertvoll wie die Akten, trotzdem waren in ihm einige Daten gespeichert, die er lieber nicht in den Händen der Amerikaner sehen wollte. Er hatte den Computer dazu benutzt, die Flugbahnen für das Raketenlenksystem anzugleichen, die nach dem Austausch der Gefechtsköpfe neu hatten programmiert werden müssen, da die neuen biologischen Köpfe erheblich leichter waren als die alten nuklearen. Andererseits - falls die Amerikaner nichts von den Raketen wussten, würden sie die Datei vielleicht gar nicht beachten. Auf jeden Fall, so schloss Alejo Vargas, zeigte ihm der Einbruch, dass die Zeit knapp wurde. Die Amerikaner handelten schnell und entschlossen - wollte er das Spiel gewinnen, musste er noch schneller sein. Die Zeit ist gekommen, dachte er. Ich bin bereit.
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»Mein Name ist Bouchard, ich bin der Kulturattaché.« Mercedes Sedano lächelte und ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes. »Bitte, setzen Sie sich.« Bouchard wirkte verlegen, als würde er nur selten Besucher in seinem kleinen Büro empfangen, in dem sich kubanische Zeitungen und Magazine stapelten. Vier Kerzen krönten die diversen Stapel. »Der Strom ist immer noch ausgefallen«, erklärte er. »Und dem Notstromgenerator ist vor einer Stunde der Treibstoff ausgegangen.« »Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll, Doktor…«, begann Mercedes. »Ich bin eigentlich gar kein Doktor«, sagte er entschuldigend. »Ich bin Wissenschaftler.« »Hector Sedano ist mein Schwager«, erklärte sie. »Er hat mir geraten, mich an Sie zu wenden.« »Meine Arbeit gilt ausschließlich kulturellen Belangen, Señora. Ich studiere die Kultur Kubas im Auftrag des amerikanischen Außenministeriums. Daher kann ich mir kaum vorstellen, wie ich Ihnen oder wem auch immer von Nutzen sein könnte. Ich schreibe lediglich Studien über kubanische Musik, die Literatur, die Schauspielkunst…« »Ich weiß nichts über die einzelnen Abteilungen in der amerikanischen Regierung«, sagte sie. Bouchard lächelte. »Ich weiß darüber selbst nicht sehr viel«, gestand er. »Sie haben mich immer noch nicht gefragt, warum ich hier bin.« »Dann frage ich Sie jetzt, Señora. Was kann ich für Sie tun?« »Mein Schwager, Hector Sedano, meint, Sie arbeiten für die CIA. Er…« Bouchard hob sichtlich entsetzt die Hände. »Señora, da sind Sie aber ganz falsch informiert. Wie ich gerade schon sagte, ich -350-
bin Wissenschaftler und…« »Ja, ja, ich verstehe. Aber ich habe ein Problem, das…« Er hielt sich die Ohren zu. »Nein, nein, nein. Sie begehen einen großen Fehler.« Sie schwieg und wartete, dass er die Hände wieder sinken ließ. Als er sah, dass sie nicht mehr sprach, tat er ihr den Gefallen. »Ich werde Ihnen zeigen, woran ich arbeite«, sagte Bouchard und wühlte in einer Schublade. Kurz darauf zog er einen Stapel Papier hervor, den er ihr vor die Nase hielt. »Ich habe gerade erst eine umfassende Studie über…« Mercedes weigerte sich, das Papier auch nur anzurühren. »Fidel Castro ist tot«, sagte sie. Bouchard erstarrte. Nach ein paar Sekunden erinnerte er sich an die Papiere in seiner Hand und legte sie auf dem nächstbesten Stapel ab. »Ich war dort, als er gestorben ist. Wir haben eine Ansprache von ihm an das kubanische Volk gefilmt, eine Art politisches Testament, wenn Sie so wollen.« Sie zog die zwei Videobänder aus ihrer überdimensionierten Handtasche und legte sie auf einen Zeitschriftenstapel. »Er ist gestorben, bevor er seine Ansprache beenden konnte«, erklärte sie. »Was bedauerlich und in einem weiteren Sinne tragisch ist.« »Ich versichere Ihnen, Señora Sedano, ich bin nur ein einfacher Wissenschaftler, in jeder Hinsicht mittelmäßig. Und ich arbeite nur in Kuba, weil ich das Gebot ›Veröffentliche oder stirb‹ in der akademischen Welt satt hatte. Meine Arbeit ist weder für die Regierung der Vereinigten Staaten noch für irgendjemanden sonst von großer Bedeutung. Ich arbeitete nicht für die CIA. Da liegt ein Irrtum vor.« Mercedes schwieg höflich, bis sein Redefluss versiegt war. »Fidel und ich haben vor einigen Monaten einen amerikanischen -351-
Film gesehen«, sagte sie dann, »eine Geschichte über Dinosaurier in einem Park - eine außergewöhnliche Geschichte und ein außergewöhnlicher Film. Wir haben sehr über diese Saurier gestaunt, die so lebendig erschienen sind. Es war beinahe, als hätten die Produzenten des Films tatsächlich richtige Dinosaurier gehabt. Vielleicht hatte die Zauberei aber auch mit Computern zu tun. Wie auch immer die Filmleute das gemacht haben, sie haben etwas, das schon lange tot war, zu neuem Leben erweckt.« Bouchard wusste nicht, was er sagen sollte. Die Anweisungen seiner Dienststelle ließen nicht zu, dass er irgendeinem Außenstehenden verriet, für wen er arbeitete. Er knetete unruhig die Hände, während er überlegte, wie er mit dieser Frau verfahren sollte, die sein Leugnen so standhaft ignorierte. »Haben Sie gerade etwas gesagt?«, fragte sie. »Ich mag keine Spielfilme«, murmelte Bouchard. »Es gibt heutzutage keine guten Schauspieler mehr.« »Vielleicht keine lebenden«, entgegnete Mercedes Sedano. »Aber Sie müssen zugeben, dass die Zauberer einigen toten Figuren neues Leben eingehaucht haben. Sie und Ihre Freunde könnten Kuba einen großen Dienst erweisen, wenn Sie diese Videobänder zu den Filmemachern bringen, damit sie Fidel ins Leben zurückholen. Nur für eine kurze Zeit.« Bouchard griff nach den Kassetten und musterte sie ausgiebig. »Ich nehme an, der Kulturattaché sollte in der Lage sein, diese Kassetten weiterzureichen«, räumte er schließlich ein. »Was ist es, von dem Sie sich wünschen, Fidel hätte es vor seinem Tod noch sagen können?« Mercedes nickte, sah Bouchard direkt in die Augen und erzählte es ihm. Maximo Sedano saß zurückgelehnt in seinem riesigen, -352-
gepolsterten Ledersessel im Finanzministerium und blickte auf die Skyline von Havanna hinaus. Er trank noch einen Schluck Rum und entlastete seine verletzte Hand ein wenig. Meistens hielt er sie gerade nach oben gerichtet. Ein Rat des Arztes, der die gebrochenen Knochen in seinen Fingern geschient hatte. Angeblich half es, die Hand in die Höhe zu halten, damit die Schwellungen abnahmen. Santana, dieses Schwein! Der Kerl hatte plötzlich seine Pistole herausgerissen und sie ihm so schnell auf die Finger der linken Hand geschmettert, dass Maximo nicht einmal daran gedacht hatte, sie wegzuziehen. Drei Finger gebrochen. Und dann hatte der Hurensohn gelacht! Auch Vargas hatte gelacht. »Sie werden nicht der nächste Präsident Kubas werden, Maximo«, hatte Vargas ihm ins Ohr geflüstert. »Sie haben keine Verbündeten. Delgado und Alba werden mir bis zum Tod gehorchen, genauso wie Sie. Sie haben eine Frau, eine Tochter und Ihre Gesundhe it, Maximo. Geben Sie sich damit zufrieden.« Maximo hatte nicht geantwortet. »Ihr Bruder Hector sitzt im Gefängnis und wird wegen Volksverhetzung angeklagt werden. Ich schlage vor, Sie denken gründlich darüber nach.« Maximo trank einen weiteren Schluck Rum. Seine Finger schmerzten höllisch. Der Arzt hatte ihm ein Lokalanästhetikum verabreicht, ihm die gebrochenen Finger geschient und ihm ein halbes Dutzend Pillen mitgegeben, aber mittlerweile ließ die Betäubung nach, und die Pillen halfen kaum. Vermutlich sollte er keinen Rum trinken, während er diese Medikamente schluckte, aber zur Hölle damit. Man konnte schließlich nur einmal sterben. Wo waren die dreiundfünfzig Millionen Dollar? -353-
Irgendwo auf der anderen Seite des Schwarzen Loches, das sich Schweizer Banken nannte. Sieh den Tatsachen ins Auge, Maximo. Von der Kohle kannst du dich verabschieden. Die schönen Dollar könnten ebenso gut auf der anderen Seite des Mondes sein. Eine Weile grübelte er darüber nach, was hätte sein können schließlich war er auch nur ein Mensch -, aber bald verblassten auch diese Träume. Die Realität war der Schmerz in seiner Hand und die Tatsache, dass er in diesem Höllenloch der Dritten Welt festsaß und bald seinen Job verlieren würde. Welche Regierung auch immer nach Fidel kam, sie würde einen neuen Finanzminister berufen. Da er nicht die geringste Chance hatte, selbst Castros Nachfolger zu werden, verabschiedete er sich auch von dieser Fantasievorstellung. Er hatte keine Verbündeten in hohen Positionen, er war nicht bekannt genug, und wäre er es doch gewesen, würde er in dieser Minute in der Zelle neben Hector schmoren. Hectors missliche Lage bereitete ihm nicht allzu viele Sorgen. Er und Hector hatten einander nie sehr nahe gestanden, dafür waren sie viel zu verschieden gewesen. Nun, um die Wahrheit zu sagen, sie konnten sich gegenseitig nicht ausstehen. Eine Taube landete auf dem Sims vor dem Fenster, und er sah gelangweilt zu, wie sie den Sims nach Futter absuchte und unverrichteter Dinge wieder davonflog. Maximo beobachtete sie. Die Taube kreiste über dem Platz vor dem Ministerium und landete auf der Statue in der Nähe des Vordereingangs. Die Statue - irgendeine griechische Göttin mit einem Schwert in der Hand - war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen, aber sie verlieh dem Gebäude einen gewissen Stil, weshalb er sie nie hatte entfernen lassen. Statuen. Wenigstens hatte er eine Göttin und keine überlebensgroße Büste von Fidel, wie das Landwirtschafts-354-
ministerium… Er starrte die Statue an. Sie bestand aus Bronze, aus der Art Metall, die sich unter dem Einfluss von Regen, Sonne und dem Salz des Meeres langsam grün färbte. Natürlich war die Büste von Fidel vor dem Landwirtschaftsministerium erst nach der Revolution hergestellt worden. So wie die Statuen auf der Plaza de la Revoluc ión. Und wie einige andere Monumente in der Altstadt Havannas, am Museo de Arte Colonial, an der Catedral de San Cristobal de la Havana und auf einigen kleineren Plätzen. Nach der Revolution! Nachdem die Regierung all die Goldpesos eingesammelt hatte oder schon vorher? Das Museum der Revolution! Der alte Präsidentenpalast war in einen Propagandatempel verwandelt worden, der auch für künftige Generationen als Mahnmal für den korrupten Regierungsstil Batistas, jenes Diktators, den Fidel gestürzt hatte, dienen sollte. Maximo erinnerte sich dunkel, dass Fidel persönlich die Renovierung und Umgestaltung des alten Gebäudes überwacht hatte. Siebenunddreißig Tonnen Gold. Fidel hatte sie irgendwo gehortet. Ihm blieb nur eines zu tun. Er musste ins Museum der Revolution gehen und sich in den Raum mit den gesammelten Zeitungen Havannas einschließen. Nach der Revolution, nachdem das Gold eingesammelt worden war - was hatte Fidel da getan? Siebenunddreißig Tonnen Gold. »Eine der Phiolen aus dem kubanischen Labor enthält ein neues, extrem infektiöses Poliomyelitisvirus. Dieses Virus ist so aggressiv, dass es binnen Sekunden tötet.« -355-
Keiner der Angehörigen des Nationalen Sicherheitsrates sagte auch nur ein Wort. »Die Wissenschaftler haben erklärt, etwas Derartiges noch nie gesehen zu haben«, fuhr der Nationale Sicherheitsberater fort. »Diese vier Musterphiolen enthalten drei unterschiedliche Stämme des Poliovirus. In zwei Phiolen findet sich der gleiche Virentyp.« »Wirkt die Schutzimpfung, die unsere Kinder bekommen, gegen diese Virenstämme?«, erkundigte sich der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. »Anscheinend nicht. Die Wissenschaftler brauchen noch etwas Zeit, um diesen Punkt zu überprüfen, aber es sieht schlecht aus.« Das Gesicht des Präsidenten verfinsterte sich. »Sprechen wir über die Alternativen. Wir können warten, bis die Kubaner das Zeug gegen uns zum Einsatz bringen, oder wir können ihr Labor sofort bombardieren.« »Nein, Sir«, widersprach der Nationale Sicherheitsberater. »Es gibt keine Garantie, dass eine Bombe auch das Virus vernichten würde. Das Virus würde durch eine Bombardierung wahrscheinlich nur freigesetzt werden und jeden Menschen in Kuba töten, der sich zufällig da aufhält, wo der Wind es hinträgt.« Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. »Liegt seitens der Wissenschaftler bereits eine Schätzung vor, wie lange das Virus außerhalb des Labors überleben kann?«, fragte die Außenministerin schließlich. »Bisher noch nicht«, entgegnete der Nationale Sicherheitsberater. Er atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf seine Unterlagen. »Ich werde Ihnen nun unsere Einschätzung der Situation in Kuba darlegen: Unser Mann in Havanna hat uns vor zwei Stunden mitgeteilt, heute gehört zu haben, dass Fidel Castro tot ist. Er schickt uns Videobänder mit -356-
der Diplomatenpost.« »Tot, was?«, fragte der Präsident. »Das glaube ich erst, wenn ich seine Leiche in einem offenen Sarg auf der Plaza de la Revolución sehe.« Irgendjemand kicherte leise. Der Nationale Sicherheitsberater las weiter aus seinen Notizen vor. »Eine Prüfung der Dokumente aus dem Safe des Chefs der Geheimpolizei, Alejo Vargas, hat ergeben, dass die Kubaner vermutlich bereits biologische Gefechtsköpfe in ihren Mittelstreckenraketen installiert haben.« »Was?«, rief der Präsident und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, um die anderen zum Schweigen zu bringen. Als es um ihn herum wieder still war, fuhr er mit dröhnender Stimme fort: »Woher, zum Teufel, haben diese Leute ballistische Raketen?« Der Nationale Sicherheitsexperte sah aus, als litte er unter heftigen Schmerzen. »Von den Russen, Sir. 1962. Offenbar haben die Russen ein paar Raketen nach der Kubakrise dort zurückgelassen. Vielleicht erinnern Sie sich, dass Castro sich geweigert hat, eine UN-Untersuchungskommission ins Land zu lassen, die überprüfen sollte, ob damals wirklich alle Raketen abgezogen worden waren.« »Wie glaubhaft ist diese Information?« »Der Mann, der sie uns geschickt hat, ist absolut zuverlässig.« Der Präsident stieß einen lästerlichen Fluch aus, der nach Meinung des Oberbefehlshabers der Streitkräfte eine angemessene Zusammenfassung der Lage darstellte.
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15 In einem so armen Land wie Kuba war es nicht leicht, ein geschütztes Versteck aufzutreiben. Das, in dem sich William Henry Chance und Tommy Carmellini zurzeit aufhielten, war ein verlassenes Kloster auf einer gebirgigen Landzunge an der Südküste der Insel. Umgeben von einem flachen Gezeitenstrand und dichter Vegetation diente der weitläufige, einstöckige Gebäudekomplex hin und wieder Drogenschmugglern oder Verliebten, die alle ihren Müll in dem verfallenden Kloster zurückgelassen hatten, als Schlupfwinkel. Das verrottete Strohdach war nur noch über der Küche intakt, in deren Feuerstelle, die von den Mönchen offensichtlich vorrangig zum Kochen genutzt worden war, gerade ein prasselndes Feuer brannte. Durch das Fenster waren drei Fischerboote zu sehen, hölzerne Boote mit nur einem Mast, bemannt mit einem oder zwei Männern. Auf zwei Booten wurden gerade die Körbe ausgebracht, während auf dem anderen das Netz eingeholt wurde. Chance beobachtete jedes der Fischerboote durch sein Fernglas. Allem Anschein nach waren sie harmlos - er bezweifelte sogar, dass sie über einen Motor oder ein Funkgerät verfügten. »Was meinen Sie?«, fragte Carmellini. »Wir haben noch ein bisschen Zeit, aber ich weiß nicht, wie viel.« »Schätze, das hängt ganz davon ab, wie effizient die Geheimpolizei und das Militär arbeiten.« »Mmm«, brummte Chance, ließ ein letztes Mal den Blick über die Boote schweifen und legte das Fernglas dann zur Seite. Tommy Carminelli fütterte das Feuer so schnell wie nur möglich -358-
mit den Papierbögen aus den Akten der Geheimpolizei. Er sah kaum noch auf die Zeilen, während er Seite um Seite aus den Ordnern riss und in die Flammen warf. »Vargas und seine Jungs waren zweifellos gründlich«, kommentierte Carmellini. »Die haben jeden Stein einzeln umgedreht.« »Und jedes schleimige Etwas gefunden, das da kreucht und fleucht«, stimmte ihm Chance zu. Er hatte Vargas' Laptop eingeschaltet und widmete sich wieder der Untersuchung der Dateien. »Beinahe wie J. Edgar Hoover.« »Geheimpolizisten ähneln sich überall auf der Welt«, murmelte Chance, während er den Cursor mit der Maus zu der nächsten Datei im Verzeichnis steuerte und das Dokument öffnete. »Wie viele Raketen sind auf dieser Insel stationiert?«, erkundigte sich Carmellini, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Ich habe bisher sechs entdeckt. Es könnte allerdings noch mehr geben - ich habe ein paar Verweise auf Informationen gefunden, die nicht in den Dateien dieses Computers gespeichert zu sein scheinen.« »Sechs? Mit Ortsangaben?« »Nur Namen. Jede Rakete hat einen Namen: Miami, Atlanta, Jacksonville, Charleston, New Orleans und Tampa«. »Wie steht es mit Mobile?« »Kann ich hier nicht entdecken.« »Birmingham und Orlando - die Militärstützpunkte in Alabama?« »Nichts.« »Meiner Meinung nach ist es schwer zu glauben, dass die Kubaner es wirklich geschafft haben sollen, ihre ballistischen Raketen seit 1962 geheim zu halten.« -359-
Chance antwortete nicht. Er hatte nie viel davon gehalten, dass die CIA ihr Geld in erster Linie für Spionagesatelliten ausgab. Die Leute in Washington waren auf High-TechComputer und ein umfangreiches Netzwerk aus Beobachtungsund Abhörsystemen zur Informationsgewinnung fixiert. Hardware und Software konnten keinen Verrat begehen und ließen sich gegenüber den Erbsenzählern des Rechnungshofes leicht rechtfertigen. Die Oberspione übersahen dabei nur eine grundlegende Tatsache: Überwachungsnetzwerke konnten lediglich die Informationen sammeln, auf die ihre Sensoren eingestellt waren. Und man konnte sie täuschen. Wurden sie mit Müll gefüttert, kam am anderen Ende auch nur Müll heraus. Nun ja, die Welt drehte sich weiter. »Wie lange wird das noch dauern?«, fragte Chance, womit er die Akten und das Feuer meinte. »Ein paar Stunden, wenn es in diesem Tempo weitergeht.« Chance sah auf seine Uhr. Kurz nach ein Uhr nachmittags. Das Treffen mit dem U-Boot war für zehn Uhr abends geplant, also blieben ihnen noch fast neun Stunden. »Wenn wir vorher abhauen müssen, nehmen wir alles mit, was wir bis dahin nicht verbrennen konnten.« Er, Carmellini und die vier U.S. Navy SEALs, die draußen im Gras und Gestrüpp Wache hielten, würden versuchen zu fliehen, sollten die Kubaner das Gebäude angreifen. In dem alten Bootshaus lagen zwei voll getankte Schnellboote für sie bereit, und fünfzig Meilen weiter südlich würde ein U-Boot auf sie warten. Leider war es ihm nicht möglich festzustellen, ob das U-Boot bereits unter Wasser auf Position war, oder ob der Kapitän erst zum vereinbarten Zeitpunkt eintreffen würde. Sollte er schon dort sein, hätten Chance, Carmellini und die SEALs sofort abziehen können. Wenn das U-Boot aber noch nicht vor Ort war, würden die beiden Boote den Nachmittag und Abend über -360-
auf der Dünung schaukeln müssen, während die Männer nur beten konnten, dass die kubanische Marine sich nicht am Horizont blicken ließ. Wir werden warten, beschloss Chance nach einem weiteren Blick auf die Uhr, obwohl ihm die erzwungene Untätigkeit weiß Gott an den Nerven zehrte. Alejo Vargas zu unterschätzen wäre ein schwerer Fehler. Die kubanische Geheimpolizei hatte seit vierzig Jahren Übung darin, Menschen, die sich heimlich an Land schlichen, aufzuspüren und festzunehmen - man durfte also davon ausgehen, dass sie auf diesem Gebiet ziemlich gut war. Chance wollte unter allen Umständen vermeiden, in ein Feuergefecht mit dem kubanischen Militär oder der Geheimpolizei zu geraten. Eine Leiche zurückzulassen wäre schon schlimm genug, aber einen lebenden Menschen zurückzulassen, der gefangen genommen und gefoltert werden konnte, käme einer Katastrophe gleich. Sollten die Kubaner über das Gebirge kommen, würden Chance und seine Leute so schnell wie möglich verschwinden und ihr Glück auf der offenen See suchen. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, konzentrierte er sich wieder auf den Computerbildschirm. Vor zwei Monaten, als er und Carmellini diesen Auftrag erhalten hatten, hätte William Henry Chance keine fünf Cent darauf verwettet, dass es ihnen gelingen würde, die Sache durchzuziehen. Über hundert Stunden Unterricht in Spanisch, damit sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein konnten, wenn der Strom ausfiel, bereit, Alejo Vargas' Safe im Hauptquartier der Geheimpolizei aufzubrechen, die Akten zu entwenden, die Vargas über einen Zeitraum von zwanzig Jahren zusammengetragen ha tte, die Akten, die ihm nach Castros Tod die nötige politische Rückendeckung einbringen sollten. Erstaunlicherweise hatte der Plan funktioniert. Und jede Akte, -361-
die in Flammen aufging, war eine Akte, die Vargas nichts mehr nützen würde. Chance sah zu Carmellini hinüber, der mit einem Stock in der Asche herumrührte, damit das Feuer nicht erstickte und die Papiere schneller verbrannten. Ja, sie hatten es geschafft. Und waren dabei auch noch über das Biowaffenprogramm und Fidels Sammlung alter sowjetischer Mittelstreckenraketen gestolpert. Sechs Raketen. Ohne Angaben über den Ort ihrer Stationierung. Die Standorte mussten sehr gut getarnt sein, sonst hätte die Satellitenüberwachung sie schon vor langer Zeit entdeckt. Andererseits, sobald die Experten erst einmal wussten, wonach sie suchen mussten… Chance ging zur Tür und rief leise nach dem Lieutenant der SEALs. »Mr. Fitzgerald, würden Sie bitte das Satellitentelefon aufstellen?« »Natürlich. Dauert etwa fünf Minuten.« »Danke.« Während der Lieutenant das Gerät einschaltete und auf den Übertragungssatelliten ausrichtete, fuhr Chance mit seiner Untersuchung der Dateien fort. Als er eine Datei mit dem Namen ›Flugbahnen‹ entdeckte, ahnte er, dass er auf eine heiße Spur gestoßen war. Die Datei enthielt eine Reihe mathematischer Berechnungen und komplexer Formeln. Hmmm… Mal sehen, ob wir herausfinden können, auf welche Ziele die Gefechtsköpfe eingestellt sind, dann könnten wir die vorhandenen Daten benutzen, um die Ausgangsposition zu berechnen. Stimmt doch, oder nicht? »Mr. Chance, die Verbindung steht.« Der Lieutenant reichte ihm das Satellitentelefon. -362-
In Washington D.C. hörten der Direktor der CIA und der Nationale Sicherheitsberater kommentarlos zu, als die Stimme des Agenten in Kuba aus dem Lautsprecher erklang. Er lieferte ihnen die neuesten Informationen so schnell und knapp wie nur möglich. Sein Partner und er hatten sich die Akten der Geheimpolizei verschafft und waren gerade dabei, sie zu verbrennen, auch wenn das wahrscheinlich noch einige Stunden dauern würde. Außerdem hatten sie einen Computer mit einer Datei erbeutet, die anscheinend Flugbahnberechnungen für ballistische Raketen enthielt, von denen es auf Kuba mindestens sechs gab, vielleicht aber auch mehr. Chance nannte den Männern in Washington die Namen der Raketen. »Gut gemacht«, sagte der CIA-Direktor, ein hohes Lob für diesen sonst so wortkargen Staatsbediensteten. Nachdem das Gespräch beendet war, blieben der Nationale Sicherheitsberater und der CIA-Direktor noch eine Weile schweigend sitzen. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft. Der Oberspion dachte über Alejo Vargas und darüber nach, dass der kubanische Innenminister die Möglichkeit wahrnehmen könnte, nach Castros Tod die Macht in Kuba an sich zu reißen. Der andere Mann dachte an ballistische Marschflugkörper und mikroskopisch kleine Poliomyelitisviren. »Eine weitere Kubakrise«, murmelte der Nationale Sicherheitsberater angewidert. Der CIA-Direktor grinste. »Warum sehen Sie zur Abwechslung nicht lieber einmal den Silberstreif am Horizont? Das Schicksal hat uns gerade die seltene Gelegenheit gegeben, eine Jauchegrube in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auszuheben. Wir sollten auf die Knie fallen und ihm dafür danken.« Der Sicherheitsberater war anderer Ansicht. Er wusste, dass der Präsident den Tod Castros als günstige Gelegenheit begriff, -363-
als Chance, die Beziehung zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten auf eine neue Basis zu stellen und der unseligen Vergangenheit zu entkommen. Vielleicht würde der Präsident beschließen, die Waffen einfach zu ignorieren, so zu tun, als wären sie gar nicht vorhanden. Dann konnte er den Kubanern mit dem Ölzweig winken, sich von ihnen holen, was er wollte, die amerikanischen Wähler mit seiner fortschrittlichen Politik beeindrucken und später über die Waffen verhandeln. Tommy Carmellini verbrannte gerade die letzte Akte, als William Henry Chance bemerkte, dass zwei der Fischerboote nicht mehr in Sichtweite waren. »Wann sind sie verschwunden?«, fragte er den Marineoffizier, Lieutenant Fitzgerald. »Vor einigen Stunden, Sir. Ich habe gesehen, wie eines von ihnen nach Westen gesegelt ist, aber ich muss zugeben, dass ich den anderen keine besondere Beachtung geschenkt habe.« Carmellini warf einen Blick auf seine Uhr - halb sechs. Noch drei, vier Stunden, bis es vollständig dunkel sein würde. »Rührt sich da draußen irgendwas?«, erkundigte sich Chance. »Nein, Sir. Alles ruhig. Gegen drei Uhr sind ein alter Mann und ein Mädchen über die Straße Richtung Kloster geschlendert, aber dann haben sie kehrtgemacht und sind wieder zurückgegangen.« »Haben sie Ihre Männer gesehen?« »Nein, Sir.« »Gut…« Tatsächlich aber war Chance ziemlich nervös. Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen, auf Gedeih und Verderb der Gnade von Mächten ausgeliefert zu sein, die sich seiner Kontrolle entzogen. Er atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen, während Carmellini in der Asche herumstocherte, um sicherzugehen, dass die Papiere, die er ins Feuer geworfen hatte, auch wirklich vollständig verbrannt waren. -364-
»Wie wäre es mit etwas Marschverpflegung, Sir?«, fragte der Marineoffizier. »Meine Männer und ich werden allmählich hungrig.« Überrascht stellte Chance fest, dass er ebenfalls ziemlich hungrig war. »Warum nicht?« Er hatte seit der vergangenen Nacht keinen Bissen mehr zu sich genommen. Sie kauten gerade auf ihren Rationen herum, als das dröhnende Motorengeräusch eines Helikopters erklang. Die Maschine kam von Westen und folgte dem Küstenverlauf. Chance schätzte die Geschwindigkeit auf rund achtzig Knoten, als sie über das Kloster hinwegjagte. Der Hubschrauber flog noch etwa eine halbe Meile weiter, ehe er umdrehte und zurückkam. »Scheiße«, fluchte Tommy Carmellini. »Lieutenant, ich glaube, der ist hinter uns her!«, rief Chance dem SEAL-Offizier zu. »Wenn er es auf uns abgesehen hat, dürften seine Freunde auch nicht weit sein«, entgegnete der Marine. Er zog sich in den Schatten in der Mitte des Raumes zurück und beobachtete den Helikopter durch einen Feldstecher. »Zwei Männer. Einer sieht durch ein Fernglas in unsere Richtung.« »Vielleicht wird es Zeit, die Segel zu setzen«, sagte Chance, klappte den Laptop zu und packte ihn in die Tragetasche. Dann verstaute er den Computer in einen wasserdichten Plastikbeutel und versiegelte ihn sorgfältig. »Bleiben Sie unten und halten Sie sich vom Fenster fern«, riet der Lieutenant, ehe er blitzschnell zur Tür hinaushuschte. Chance und Carmellini hockten sich mit dem Rücken zum Fenster auf den Boden. Das Motorengeräusch des Hubschraubers kam näher und näher, dann schien es sich plötzlich nicht mehr zu bewegen. Es klang, als würde der -365-
Helikopter etwa dreißig Meter östlich des verfallenen Gebäudes über ihnen lauern. Der von den Rotorblättern verursachte Luftstrom ließ die Überreste des Strohdachs in Chances Blickfeld flattern. Auf einmal ertönte der peitschend e Schuss eines Gewehrs, kurz darauf folgten zwei weitere Schüsse. Das Motorengeräusch veränderte sich und wurde Sekunden später von einer ohrenbetäubenden Explosion verschluckt. Chance riskierte einen Blick aus dem Fenster. Das Wrack des Helikopters lag auf den Klippen nahe beim Wasser. Erstaunlicherweise saß eines der Rotorblätter noch immer an der Antriebswelle und drehte sich langsam. Eine Rauchfahne stieg aus dem Trümmerhaufen aus Metall und Plexiglas auf. Chance konnte zwei Männer erkennen, die reglos in den Überresten des Cockpits hingen. Und dann ging das Wrack in Flammen auf. »Tut mir Leid, aber das ließ sich nicht vermeiden«, erklärte der Lieutenant, als er wieder in den Raum stürzte. »Der Copilot hatte ein Mikrofon in der Hand. Ich denke, wir sollten Kuba Lebewohl sagen.« »Hauen wir ab«, stimmte ihm Chance zu. Die Boote waren schnell, sie machten mindestens dreißig Knoten, doch in der Dünung auf offener See jenseits der Halbinsel bockten sie heftig. Salzwasserfontänen prasselten auf die Männer hinter der winzigen Windschutzscheibe herab, wann immer der Bug in ein Wellental krachte. Chance lehnte sich zurück, bis er samt Laptop sicher eingekeilt war. Mittlerweile waren sie schon ziemlich weit draußen und unterwegs nach Süden, als ein kubanisches Kanonenboot sich ihnen von Osten näherte und die Verfolgung aufnahm. Eine Rauchwolke stieg aus dem Geschütz auf dem Vorderdeck auf und wurde vom Wind fortgerissen. Die Kubaner hatten zu kurz gezielt. Das Geschoss klatschte -366-
mehrere hundert Meter hinter ihnen ins Wasser. Der Lieutenant am Ruder änderte den Kurs, um den Verfolgern kein allzu leichtes Ziel zu bieten. Die Kubaner feuerten noch zweimal, doch beide Geschosse verfehlten ihr Ziel. Dann beschlossen sie offenbar, keine Munition mehr zu verschwenden. Die Boote hielten Kurs Südost. Tommy Carmellini bedachte Chance mit einem breiten Grinsen. Yeah, Baby! Während der nächsten Stunde wuchs der Abstand zwischen den Schnellbooten und ihrem Verfolger langsam. Nach einer Weile war das Kanonenboot nur noch als schwarzer Punkt am Horizont zu erkennen, wenn die Schnellboote über einen Wellenkamm schossen. Als die Sonne den Horizont berührte, wurde den Amerikanern klar, dass ihre Verfolger aufgegeben hatten und nach Norden zurückgekehrt waren. Dann hörten sie die Flugzeuge. Zwei Deltaflügelkampfjäger tauchten achtern auf, trennten sich und jagten jeweils auf eins der Boote zu. »MiG-19!«, brüllte der Lieutenant. »Festhalten!« Geschossgarben frästen hinter den Booten eine Linie in die Wasseroberfläche und näherten sich ihnen mit irrwitziger Geschwindigkeit. Lieutenant Fitzgerald riss das Ruder herum, das Boot stellte sich seitlich auf, kippte beinahe über die Längsachse, und die Einschläge liefen dicht an der Steuerbordseite vorbei. Der Pilot, der Chances Boot beschossen hatte, zog die MiG in eine weite Linkskurve, um zu einem neuen Angriff anzusetzen. Das zweite Flugzeug blieb direkt hinter ihm. »Drehen Sie nach Westen ab, direkt in die Sonne hinein!«, brüllte Chance Fitzgerald zu. Der Lieutenant gehorchte ohne das -367-
geringste Zögern. Das andere Boot folgte ihrem Beispiel. Beide hielten nun genau auf die Sonne zu, die wie ein gigantischer Feuerball den Horizont berührte. Die beiden MiG verpassten den richtigen Zeitpunkt zum Schuss und mussten erneut abdrehen, um sich wieder von hinten zu nähern. Fitzgerald übergab Chance seine M-16. »Wenn er über uns hochzieht, feuern Sie das ganze Magazin auf ihn ab.« Chance nickte und legte sich flach in das Boot. Als die Jets heranrasten, riss Fitzgerald das Ruder um neunzig Grad herum und zog es dann wieder gerade. Die linke Tragfläche der MiG kippte tief herab, als die Nase herumschwang, um dem kreuzenden Boot zu folgen. Der Kampfjäger ging tiefer. Als das Mündungsfeuer am Ansatz der Tragflächen aufblitzte, zerrte Fitzgerald wie ein Besessene r am Ruder, um das Boot wieder auf Ostkurs zu bringen, direkt auf den Angreifer zu. Dieses Mal jagten die Geschosse links an ihnen vorbei, und Chance feuerte - die M-16 senkrecht nach oben gerichtet - in der Hoffnung, dass die MiG genau durch das Sperrfeue r fliegen würde. Er hatte keine Ahnung, ob tatsächlich eine seiner Kugeln ihr Ziel traf, als der Jet über sie hinwegschoss. Etwa dreißig Grad über die linke Tragfläche geneigt, fing die MiG ihren Sturzflug ab, aber ihre Nase kam nicht mehr hoch genug. Vielleicht hatte die Sonne, in die der Pilot direkt hineinflog, ihm die Orientierung genommen. Die Linkskurve zog sich weiter, während sich die MiG der Wasseroberfläche näherte und schließlich mit einem verblüffend leisen Plätschern ins Meer stürzte. Und dann war sie verschwunden, einfach so. Der andere Jet dagegen fing den Sturzflug sauber ab. Sein Pilot hatte das Ziel nicht verfehlt, das zweite Schnellboot trieb kieloben im Wasser. -368-
Fitzgerald hielt mit unverminderter Geschwindigkeit auf das gekenterte Boot zu. Die zweite MiG ließ sich Zeit - offenbar war dem Piloten klar geworden, dass er nur noch einen einzigen Angriff würde fliegen können, weil es allmählich dunkel wurde. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sein Treibstoff langsam zur Neige ging. Er nahm das Tempo zurück, so dass er beim nächsten Anflug nur noch mit 250 Knoten flog, eine Geschwindigkeit, bei der sich gut manövrieren ließ. Fitzgerald änderte erneut den Kurs, bis sie mit Vollgas direkt auf das Flugzeug zuhielten. Der Pilot ging in einen steileren Sinkflug. Der Kampfjäger näherte sich stetig, ohne das Feuer zu eröffnen. Fitzgerald riss das Ruder so weit wie nur möglich herum und legte das Boot in eine enge Kurve. Die MiG schoss immer noch nicht, reduzierte jedoch schrittweise den Neigungswinkel. William Henry Chance feuerte ein ganzes Magazin auf sie ab. Tiefer und tiefer sank das Flugzeug der Wasseroberfläche entgegen und richtete langsam die Nase auf, während die Bordgeschützläufe an den Enden der Tragflächen weißen Qualm ausspuckten, der zwei winzige Kondensstreifen bildete. Die MiG berührte beinahe die See mit der Unterseite, entging dem Aufschlag nur um Haaresbreite. Dann stieg sie wieder auf und zog dabei eine dünne Rauchfahne hinter sich her. »Möglich, dass Sie ihn getroffen haben!«, rie f Lieutenant Fitzgerald. »Nahe genug war er jedenfalls.« Noch immer im Steigflug drehte der Flieger nach Norden ab und verschwand samt seiner Rauchfahne in den Kumuluswolken am Himmel. -369-
Das gekenterte Boot war von der Bordkanone erwischt worden, die mindestens sechs Löcher in seinen Rumpf gerissen hatte. Ein Mann trieb mit gebrochenem Arm im Wasser, die beiden anderen waren tot; ein Geschoss hatte den Körper eines der Männer durchschlagen. Chance und Carmellini zogen den Verwundeten an Bord. »Die Toten auch«, verlangte Fitzgerald. »Das sind meine Männer.« »Was ist mit dem kubanischen Piloten?«, erkundigte sich Carmellini. »Der ist vermutlich tot«, entgegnete der SEAL-Lieutenant. »Falls nicht, kann ich nur für ihn hoffen, dass er ein guter Schwimmer ist.« Er zog ein tragbares Satellitennavigationsgerät hervor, um den Kurs zu dem vereinbarten Treffpunkt mit dem U-Boot zu bestimmen. Jake Grafton schlenderte den Hügel von der Offiziersmesse herab und am Pier zwischen den Lagerhäusern entlang, vorbei an Schützengräben und mit übereinander geschichteten Betonbruchstücken befestigten Stellungen, hinter denen jeweils eine Hand voll Marines kauerte, junge Männer in Tarnanzügen und dazugehörigem Helm - und bis an die Zähne bewaffnet. In jeder Stellung saß mindestens ein Mann, der wachsam jeden Schritt des Admirals beobachtete, während er vor den Mündungen Dutzender Maschinengewehre und leichter Artilleriegeschütze entlangmarschierte. Das ganze Gebiet war durch die Flutlichtanlage an den Dachtraufen der Lagerhallen taghell erleuchtet. Einige Marines hatten sich um die mobile Feldküche versammelt und stopften ihre warmen Feldrationen in sich hinein, andere gruppierten sich um das Kommandozelt neben dem hurrikansicheren Lagerhaus. Alle trugen Gasmasken am Gürtel. -370-
Jake blieb vor dem Zelt stehen und begrüßte den Bataillonskommandanten, Lieutenant Colonel Eckhardt, der auch zu dieser späten Stunde noch wach war und ein Auge auf seine Männer hatte. Der Colonel schenkte Jake eine Tasse Kaffee ein. »Ihr Chief of Staff, Captain Pascal, war vor etwa einer Stunde hier, Admiral«, sagte der Colonel. »Er hat berichtet, es würde noch drei weitere Tage dauern, das Lagerhaus auszuräumen. Das Feldzeugskorps aus Nevada arbeitet inzwischen rund um die Uhr.« Jake nickte. Gil Pascal unterrichtete ihn viermal am Tag über den Stand der Dinge. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was sich in der Lagerhalle befindet«, fügte der Colonel hinzu und hielt seine Gasmaske hoch. »Wenn Sie zu begriffsstutzig wären, um das herauszufinden, würde ich Sie auf der Stelle feuern«, entgegnete Jake. »Trotzdem gilt nach wie vor absolute Geheimhaltung, weshalb ich mich außer Stande sehe, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Es tut mir Leid, aber Gerüchte, die weder bestätigt noch dementiert werden können, liegen nicht in unserem nationalen Interesse.« »Den Männern wurde gesagt, dass die ganze Operation strikter Geheimhaltung unterliegt und sie mit nicht autorisierten Personen nicht darüber sprechen dürfen«, erwiderte Colonel Eckhardt. »Gut. Kann ich dann noch etwas für Sie tun? Brauchen Sie irgendetwas?« Sie beschäftigten sich einige Minuten lang mit logistischen Problemen. »Ich nehme doch an, Sie sind in Bezug auf die Neuigkeiten aus Kuba auf dem neuesten Stand, Admiral«, sagte der Colonel schließlich. »Ich wurde informiert, ehe ic h an Land gegangen bin«, -371-
bestätigte Jake. »Das Oberkommando hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass es in drei oder vier kubanischen Städten zu größeren Tumulten gekommen ist.« »Davon habe ich auch gehört.« »Steht das in irgendeinem Zusammenhang mit unserer Aufgabe hier, Sir?«, fragte Eckhardt. »Wenn ich wüsste, was zur Hölle da vor sich geht, Colonel, wären Sie der Erste, dem ich es erzählen würde. Washington lässt mich völlig im Dunkeln tappen. Ich glaube, die tappen selbst noch im Dunkeln. Ja, unsere Geheimdienste berichten, dass sich die Menschen in verschiedenen kubanischen Städten auf den Straßen zusammenrotten, und jeder in Washington wartet darauf, dass Castro auftaucht und sein Volk zur Ordnung ruft oder Truppen aufmarschieren lässt. Aber bis jetzt ist nichts dergleichen passiert.« »Vielleicht ist Castro tot«, spekulierte Lieutenant Colonel Eckhardt. »Das weiß nur Gott allein. Sorgen Sie nur dafür, dass Ihre Männer wachsam und in Bereitschaft bleiben. Drei Tage noch. Nur noch drei Tage.«
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16 So sehr sie sich auch bemühten, gelang es Ocha Sedano und dem alten Fischer nicht, das Wasser aus der Angel del Mar zu pumpen. Solange sie zu zweit an dem Pumpenschwengel zogen, schafften sie es gerade, die Wassermenge auszugleichen, die in das Schiff eindrang. Aber wenn einer von ihnen vor Erschöpfung aufhörte und der andere sich nicht mit doppelter Kraft ins Zeug legte, stieg der Pegel bedrohlich an. Sie kämpften die ganze Nacht gegen die Wassermassen. Im Morgengrauen wussten sie, dass es aussichtslos war. Keiner der anderen würde nach unten kommen, um ihnen zu helfen. Einige gaben zu, dass sie sich davor fürchteten, unter Deck gefangen zu sein, wenn das Schiff sinken würde; anderen fehlte schlicht und ergreifend die Kraft. Die Passagiere der Angel del Mar lagen halb bewusstlos auf dem Deck, völlig dehydriert, dem Hungertod nahe, von grausamen Sonnenbränden entstellt. Am letzten Abend hatte eine der Frauen Meerwasser getrunken. Der alte Fischer hatte sie nicht dabei ertappt, aber später bemerkte er, wie sie begann, das Wasser unkontrolliert wieder hochzuwürgen. Sie kotzte und würgte, bis sie besinnungslos war und irgendwann in der Nacht starb. Die Kinder waren ebenfalls tot - drei kleine Körper, die sich nie mehr bewegen würden. Niemand protestierte, als er ihre Leichen über Bord warf. Danach ging er wieder nach unten, um Ocho zu helfen. Die bereits verlorene Schlacht gegen den immer schwergängiger erscheinenden Pumpenschwengel wurde in völliger Finsternis ausgetragen, im Kielraum eines wild schaukelnden Bootes, in dem ihnen das Wasser um die Beine schwappte. Ocho betete laut, weinte, brabbelte von seiner -373-
Mutter, seinem verstorbenen Vater und von Erinnerungen an seine Kindheit. Der alte Fischer schwieg und ignorierte alles, was Ocho der nie aufhörte zu pumpen - von sich gab. Stattdessen dachte er über sein Leben nach, über seine geliebte Frau, über die Härten des Lebens, die er erfahren hatte. Er würde bald sterben, das wusste er genau. Aber das ging schon klar, er empfand es als durchaus passend, als ein angemessenes Ende der Reise durchs Leben, die er hinter sich gebracht hatte. Das Leben ist eine Geißel, dachte er, die dir den Stolz und den beschissenen Mut der Jugend austreibt. Wenn du nur lange genug lebst, dann begreifst du irgendwann die großen Zusammenhänge. Siehst dich, wie Gott dich sieht, als fehlerhaften Tropfen Protoplasma, dessen Schicksal niemanden weiter interessiert, abgesehen natürlich von dir selbst. Du arbeitest, isst, schläfst, kackst, vermehrst dich und stirbst, genau wie die anderen, ohne Besonderheiten. Und währenddessen rast dieser Planet durchs All, und die Sterne leuchten weiter, ohne etwas von deinem Schicksal zu bemerken. Jetzt endlich begriff er, wie das alles zusammenhing, aber diese Erkenntnis erschien ihm lächerlich und profan. Nicht einmal wichtig genug, um dem Jungen davon zu erzählen, zumal auch der bald sterben würde und nicht über sein Alter und seine Erfahrung verfügte. Nein, der Junge würde nichts mit der Weisheit anfangen können, die erst mit dem Alter kam. »Es reicht«, sagte der Alte, als das fahle Licht des neuen Tages durch die Luke fiel und ihm offenbarte, wie hoch das im Rumpf des Schiffes herumplatschende Wasser stand. »Schluss damit. Raus hier, bevor der Kahn sinkt.« Er drängte Ocho von der Pumpe weg zur Leiter. »Rauf! Worauf wartest du? Ich will nicht deinetwegen hier unten verrecken.« Mit diesen Worten gelang es ihm, Ocho anzutreiben. Draußen war in allen Himmelsrichtungen nur das endlose Grau des Meeres zu sehen. Der alte Fischer hielt trotzdem nach -374-
Schiffen Ausschau. Schließlich schüttelte er niedergeschlagen den Kopf. Wo waren all die Schiffe und Boote, die sich sonst in diesen Gewässern tummelten? Wieso hatte niemand das treibende Wrack der Angel del Mar entdeckt? »Springt ins Meer. Das Boot wird bald sinken. Ihr müsst von Bord sein, bevor es passiert, sonst besteht Gefahr, dass ihr euch im Tauwerk verheddert und mit runtergezogen werdet.« Die anderen starrten ihn verständnislos an. »Rein ins Wasser, oder auch nicht«, sagte er. »Entscheidet euch. Möge Gott mit euch sein.« Und dann ging er zum Heck und sprang über die Reling. Das Salzwasser war erfrischend, schien ihn willkommen zu heißen. Ocho Sedano balancierte einen Moment lang auf dem Geländer, bevor er das Gleichgewicht verlor und ins Meer fiel. Er kraulte auf den alten Mann zu. »Ocho!« Es war Dora, die vom Deck aus seinen Namen rief. »Du musst springen!«, schrie Ocho. »Das Boot wird sinken!« Die Angel del Mar lag jetzt sehr tief im Wasser, das Deck war beinahe überschwemmt und wurde genau in dem Moment von einer Welle überspült. Dora sah sich panisch um, wollte die zweifelhafte Sicherheit des Schiffes nicht aufgeben. Andere gesellten sich zu ihr, einige davon kriechend, da ihnen die Kraft fehlte, sich aufrecht fortzubewegen. Zusammen starrten sie die beiden Männer dort draußen im Meer an, den Horizont, die Wellengipfel, den Himmel. Eine der Frauen begann, langsam auf den Zehenspitzen zu wippen, während sie mit weit geöffneten Augen Klagelaute von sich gab. »Schwimm«, sagte der alte Fischer zu Ocho. »Sieh zu, dass du weit genug wegkommst, bevor es losgeht.« Er wandte dem Schiff den Rücken zu und schwamm los. -375-
Ocho folgte ihm. Es verging eine Minute, bevor Ocho sich noch einmal umsah. Das Boot sank, während die Menschen sich zu retten versuchten. Er hörte den Schrei einer Frau - vielleicht war es Dora. Dann kippte der Mast weg, und die Angel del Mar wurde von den Wellen verschlungen. Ein letzter, lauter Seufzer war zu hören, als die Luft aus dem Schiffsrumpf entwich. Zwischen den Wellen tauchten einige Köpfe auf - wie viele, vermochte Ocho nicht zu sagen. Er trat Wasser, um nicht unnötig Kraft zu verschwenden. Wohin hätte er auch schwimmen sollen? Müde, er war so müde, so erschöpft. Einen Moment lang schloss er die Augen, spürte, wie die Sonne auf seinen Lidern brannte. Als er versehentlich Wasser schluckte, riss er die Augen wieder auf. Nein, er durfte nicht einschlafen. So war das also. Er würde kämpfen, um oben zu bleiben, bis er vor Erschöpfung und Durst einschlief, und dann würde er ertrinken. Die Frau hörte gar nicht mehr auf zu schreien. Nur manchmal hielt sie für einen kurzen Moment inne, um ihre Lungen mit Luft voll zu pumpen und direkt weiterzuschreien. Ocho bemerkte eine weiße Linie am Himmel. Ein Kondensstreifen. Eine Düsenmaschine, die plötzlich aus dem unendlichen Blau des Himmels auftauchte. Oh, wie schön es wäre, jetzt dort oben statt hier unten zu sein. Er konzentrierte sich auf das Geschrei der Frau, in der Hoffnung, dass es ihn vom Einschlafen abhielt. Plötzlich stieß irgendetwas gegen seinen Fuß. Etwas Hartes. Er tauchte sein Gesicht ins Wasser und öffnete die Augen. Haie! -376-
Der Präsident der Vereinigten Staaten hörte mit finsterer Miene dem Nationalen Sicherheitsberater zu. Er blickt immer finster drein, wenn er etwas hört, was ihm absolut nicht in den Kram passt, dachte der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Totten, mürrisch. Der Sicherheitsberater legte die Fakten auf den Tisch wie der Gewinner einer Pokerrunde seine Spielkarten: Die Kubaner besaßen mindestens sechs Mittelstreckenraketen, die nach Ansicht des Stabes irgendwo in versteckten Silos untergebracht waren, unsichtbar für die Beobachtungsflugzeuge und Spionagesatelliten. Die Dokumente aus dem Safe von Alejo Vargas ließen darauf schließen, dass die Raketen mit biologischen Gefechtsköpfen ausgerüstet waren, die allem Anschein nach eine äußerst aggressive Form des Poliovirus enthielten. Einige der von der Nuestra Señora de Colón gestohlenen Gefechtsköpfe befanden sich in einem Lagerhaus an der Küste der kubanischen Provinzstadt Antilla. Die Lage wurde durch die Aufstände und Demonstrationen verkompliziert, die sich zur Zeit in allen größeren Städten Kubas abspielten. Niemand machte sich daran, diese Unruhen mit Gewalt niederzuschlagen. Keine Soldaten, die durch die Straßen patrouillierten. Tatsächlich wurde in der Bevölkerung offen die Möglichkeit diskutiert, dass Fidel Castro tot sein könnte. Die CIA ging davon aus, dass diese Gerüchte keineswegs ins Reich der Spekulation gehörten. Das hatte der Direktor direkt zu Beginn der Sitzung erklärt. »Wenn Castro tatsächlich ins Gras gebissen hat, dann stellt sich uns die Frage, wer den Laden dort jetzt schmeißt«, meldete sich die Außenministerin zu Wort. »Wer ist sein Nachfolger?« »Hector Sedano, zumindest hoffen wir das«, sagte der Sicherheitsberater mit einem nervösen Seitenblick auf den Präsidenten, der sich gerade die Fingernägel säuberte. -377-
»Operation Flashlight sollte eigentlich dafür gesorgt haben, dass Alejo Vargas aus dem Rennen ist.« »Kompromittierende Unterlagen aus seinem Safe zu klauen mag Vargas unter Druck setzen, aber damit ist Hector Sedano nicht geholfen«, murmelte General Totten. »Ich erinnere mich dunkel an eine Mitteilung der CIA, dass Hector Sedano möglicherweise bereits inhaftiert wurde.« »Richtig.« Der Direktor nickte. »Wir gehen davon aus, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den gegenwärtigen Unruhen und Sedanos Verhaftung gibt. Da unten geht es mächtig rund.« »Wir haben unsere Finger schon so manches Mal in die kubanische Politsuppe gesteckt und darin herumgerührt«, sagte der Präsident und faltete die Hände. »Vielleicht zu oft. Trifft es nicht zu, dass die CIA erst neulich mittels einer Blitzaktion per Computer Fidels Schweizer Bankkonten ausgeräumt hat?« »Das Geld liegt immer noch dort«, beeilte sich der Direktor der CIA zu versichern. »Wir haben es lediglich auf andere Konten verschoben. Niemand soll glauben, wir würden uns in diesen Tagen mit Bankraub befassen.« »Wieso nicht? Die Bevölkerung hat diese Administration doch bereits so ziemlich jeder anderen Straftat verdächtigt«, sagte der Präsident sarkastisch. Selbstironie war eine seiner starken Seiten und einer der Hauptgründe, warum er es bis ganz an die Spitze der amerikanischen Politik geschafft hatte. Er legte die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wenn wir vernünftig wären, würden wir es den Kubanern selbst überlassen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Wir haben, weiß Gott, mehr als genug eigene Probleme.« Ein Murmeln der Zustimmung breitete sich unter den Anwesenden aus. General Totten seufzte und zog den Umschlag mit seinem -378-
Rücktrittsgesuch aus der Innentasche seiner Jacke. Er fischte das Schreiben aus dem Umschlag und legte es vor sich auf den Tisch. Dann holte er ein zweites Schreiben hervor, den Antrag auf vorzeitige Versetzung in den Ruhestand, und legte es neben das erste. Er glättete die Bögen sorgfältig und setzte seine Brille auf, um den Text noch einmal durchzugehen. Die Außenministerin saß direkt neben ihm. Sie warf einen Blick auf die Papiere vor ihm, um zu sehen, was er da las. Als sie begriff, dass es um seinen Rücktritt ging, beugte sie sich weiter vor. »Was haben wir heute?«, fragte Totten leise. »Welches Datum, meine ich.« »Den Siebten.« Totten holte seinen Füllfederhalter heraus, schrieb das Datum oben auf das Rücktrittsgesuch und anschließend auch auf seinen Pensionsantrag. Dann unterschrieb er beide Dokumente und steckte den Füllfederhalter wieder ein. »… unsere Bereitschaft, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten«, sagte der Nationale Sicherheitsberater gerade. »Ja, ich glaube sogar, dass dies ein hervorragender Zeitpunkt wäre, das Handelsembargo gegen Kuba zu überdenken.« Offenbar zitierte er aus einer Rede, die er bereits morgens zusammen mit dem Präsidenten vorbereitet hatte. Während der Sicherheitsberater redete, wanderten die Blicke des Präsidenten durch den Raum, um etwaige Reaktionen von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Jetzt sah er auch General Totten an, und seine Augen wurden schmal. Er weiß es, dachte der General. Als der Berater seinen Sermon beendet hatte, ergriff der Präsident sofort das Wort, bevor ihm einer der anderen zuvorkommen konnte. »General Totten, Sie sehen aus, als ob Sie uns etwas zu sagen hätten.« -379-
»Sechs ICBMs mit biologischen Gefechtsköpfen, das können wir nicht einfach ignorieren. Ebenso wenig wie ein Labor, in dem man Biotoxine produzieren kann. Oder ein Lagerhaus, das bis zur Decke mit gestohlenen CBW-Gefechtsköpfen gefüllt ist.« Er beugte sich vor und wandte sich direkt an den Präsidenten, dessen Stirn wieder missmutig gerunzelt war. »Fünfzig Millionen Amerikaner befinden sich direkt in Reichweite dieser ICBMs. Wir müssen jetzt zuschlagen, dafür sorgen, dass die Kubaner nicht mehr in der biologischen Kriegsführung mitmischen können, und die Gefechtsköpfe sicherstellen. Uns bleib t absolut keine andere Wahl. Wenn die amerikanische Öffentlichkeit herausfindet, welcher Bedrohung sie ausgesetzt ist, wird sie keine Entschuldigung akzeptieren.« Tottens Blick wanderte den Konferenztisch entlang, über die bleichen, übernächtigten Gesichter. Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. »Wenn auch nur eine dieser Raketen abgefeuert wird, ist jeder Einzelne in diesem Raum dafür mitverantwortlich«, fuhr er fort. »Das ist die nackte, harte Wahrheit. Das ganze nette Geplauder über die Lockerung des Embargos und eine neue Ära des Friedens in der Karibik geht völlig am Kern des Problems vorbei. Wir können nicht die Tatsache ignorieren, dass sich in diesem Moment Massenvernichtungs waffen auf Millionen unschuldiger Amerikaner richten.« Einige Sekunden lang herrschte völlige Stille, bis schließlich der Präsident das Wort ergriff. »General, niemand redet davon, dass wir diese Waffen ignorieren sollten. Ich habe lediglich die Frage aufgeworfen, wie wir am besten auf ihre Existenz reagieren. Spontan neige ich dazu abzuwarten, bis sich herauskristallisiert, wer Kuba zukünftig regieren wird, um dann Abrüstungsgespräche einzuleiten und natürlich auch die Rückgabe der gestohlenen Gefechtsköpfe zu verlangen, wobei wir als Gegenleistung naheliegenderweise eine Lockerung des Embargos ins Feld führen würden. Eine für beide Seiten vorteilhafte Lösung, wie jeder vernünftige Mensch leicht -380-
erkennen dürfte.« »Ihr Fehler liegt darin zu glauben, dass wir mit vernünftigen Leuten verhandeln werden«, wandte General Totten ein. »Bedauerlicherweise werden chemischbiologische Massenvernichtungswaffen aber nicht von vernünftigen Menschen gebaut, sondern von ausgesprochen unvernünftigen. Es sind unvernünftige Leute, die solche Waffen einsetzen, um Ziele zu erreichen, die sie auf keine andere Weise verwirklichen könnten. Ziele, die es ihrer Meinung nach wert sind, das Blut anderer Menschen zu vergießen. Das, bei Gott, ist die harte Wirklichkeit.« Die Außenministerin hatte Tottens Rücktrittsgesuch zu sich über den Tisch gezogen und durchgelesen. Jetzt zeigte sie es dem Direktor der CIA, der links neben ihr saß. »Was ist das?«, fragte der Präsident. »Mein Rücktrittsgesuch«, erklärte Totten unverblümt. »Ich habe mich aber noch nicht entschieden, ob ich es gleich jetzt oder erst später einreichen soll.« Der Präsident verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen, während die Außenministerin das Schreiben wieder vor dem General auf den Tisch legte. »Totten, Sie Hurensohn! Ich bin derjenige, den man für das hier zur Rechenschaft ziehen wird!« »Aber ich will nachts ruhig schlafen können«, entgegnete Totten scharf. »Wenn Sie vertrauliche Informationen an die Presse weitergeben sollten, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen der Prozess gemacht wird.« Dabei wusste der Präsident genau, dass Totten auf einer Pressekonferenz zu seinem Rücktritt Stellung nehmen würde. »Sie werden Ihren gottverdammten Ruhestand in einem Bundesgefängnis verbringen!«, fauchte er wütend. »Blödsinn! Wenn die Öffentlichkeit herausfindet, dass in diesem Augenblick mit Polioviren bestückte Raketen auf die -381-
Küste von Florida gerichtet sind, wird eine Welle der Empörung Sie hinwegfegen.« General Totten zielte mit einem Finger direkt auf den Präsidenten. »Bauen Sie jetzt keine Scheiße, Cowboy dafür steht das Leben von zu vielen Amerikanern auf dem Spiel. Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um eine Runde russisches Roulette zu spielen.« »Okay«, sagte der Präsident und hob die Hände in einer friedfertigen Geste. »Okay. Was für ein Datum steht auf Ihrem Rücktrittsgesuch?« »Das von heute.« »Geben Sie mir eine Woche. Wir machen es auf Ihre Weise, und in einer Woche von heute an können Sie dann auf dem Golfplatz wohnen, sofern Sie den Mund halten.« Totten holte seinen Füllfederhalter wieder heraus und änderte das Datum auf beiden Schreiben. Dann reichte er die Bögen an den Präsidenten weiter, der es nicht für nötig befand, auch nur einen Blick darauf zu werfen. »Los, machen Sie sich an die Arbeit, General«, knurrte der Präsident. »Ja, Sir«, erwiderte Totten, erhob sich und verließ den Sitzungssaal. Zur selben Zeit, als sich der Präsident der Vereinigten Staaten mit dem Sicherheitsrat auseinander setzte, fand eine andere Sitzung des Zentralkomitees der kommunistischen Regierung Kubas statt. »Wo ist Fidel?«, brüllte irgendjemand Alejo Vargas zu, als der Innenminister, flankiert von Colonel Santana und einem Sicherheitsbeamten der Geheimpolizei in Zivil, den Raum betrat. Santana humpelte. Sein Kopf und sein linker Arm waren bandagiert, und er erweckte insgesamt den Eindruck eines Mannes, der starke Schmerzen litt. -382-
Vizepräsident Raúl Castro beobachtete Vargas, der sich zwischen den anderen Ministern am Tisch niederließ, mit einer grimmigen Miene, die seine Wut nur schlecht verbarg. Er richtete sich auf, um für Ruhe zu sorgen, die aber erst einkehrte, als er mit einem Holzhammer auf den Tisch schlug. Dann wandte er sich direkt an Vargas. »Wo ist mein Bruder?« »Tot.« »Und Sie haben den Leichnam versteckt?« »Der Leichnam des Präsidenten wird für ein Staatsbegräbnis vorbereitet. Ich bin davon ausgegangen, dass niemand Einwände dagegen erheben würde.« »Lügner!« Raúl spuckte das Wort förmlich aus. Er sprang von seinem Stuhl auf. »Lügner!«, schrie er Vargas an. »Ich bin davon überzeugt, dass er in Ihrem Auftrag ermordet worden ist! Ermordet, damit Sie die Regierung dieses Landes übernehmen können!« Er machte eine Geste zum Fenster hin. »Die Menschen da draußen denken wie ich. Sie haben meinen Bruder ermordet und mit Hector Sedano den Mann verhaftet, der eines Tages sein Nachfolger werden sollte! Sehen Sie doch, was Sie angerichtet haben, Mann - das gesamte Land bricht auseinander, überall in den Straßen rotten sich die Menschen zusammen!« Alejo Vargas musterte die Gesichter der Anwesenden, während Raúl schrie und tobte. Maximo Sedano saß mit undurchsichtiger Miene auf seinem Platz. Vielen der anderen war ebenfalls nicht anzusehen, was sie dachten. Den meisten hier ging es lediglich darum, anständig zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Darum, dass es ihnen etwas besser als den Arbeitern draußen auf den Zuckerrohrfeldern ging. Sie marschierten brav jeden Tag ins Büro, befolgten Fidels Befehle, nahmen die Verantwortung auf sich, falls mal wieder etwas schief ging - was so gut wie vorprogrammiert war -, und sahen tatenlos zu, wie Fidel sich dafür lobpreisen ließ, wenn zur -383-
Abwechslung einmal etwas geklappt hatte. Brave Parteisoldaten, allesamt. Zwei Generationen lang hatten sie sich so verhalten vierzig Jahre lang. Aber nun war das vorbei. »… die Menschen haben Fidel geliebt«, rief Raúl gerade, »ihn als den größten Patrioten in der Geschichte Kubas respektiert und verehrt. Und ich glaube, dass Sie, Alejo Vargas, an seinem Tod schuld sind! Ich beschuldige Sie, ihn ermordet zu haben!« »Passen Sie nur auf, was Sie sagen«, warnte Santana. Raúl fuhr wie ein wütender Bär herum, als wollte er sich auf ihn stürzen. »Ich bin der Vizepräsident der Republik und damit der erste Kandidat für die Nachfolge, wenn der Präsident stirbt!«, brüllte er den Colonel an. »Entweder Sie halten den Mund, oder Sie werden ausgeschlossen!« Alejo Vargas hatte seine Pistole bereits zu Beginn von Raúls Tirade gezogen. Jetzt hob er die Waffe, zielte und drückte den Abzug durch. Noch bevor irgendjemand reagieren konnte, hatte er Raúl Castro bereits drei Kugeln in den Leib gepumpt. Der Vizepräsident kippte seitlich weg und warf dabei seinen Stuhl um. Die Schüsse hallten wie Donnerschläge durch den Raum. Alle Anwesenden saßen wie erstarrt da, fassungslos und halb taub. Alejo Vargas stand auf und hielt die Pistole locker im Anschlag. »Noch jemand, der mich des Mordes bezichtigen will?« Vargas' Blick wanderte über die Gesichter, suchte Augenkontakt mit jedem, der den Mut besaß, ihn anzusehen. Die meisten trauten sich nicht, seinem Blick zu begegnen. »Colonel Santana, bitte helfen Sie Señor Castro hinaus. Er fühlt sich nicht wohl.« Während Santana und der Geheimpolizist in Zivil die Leiche fortschafften, nahm Alejo Vargas wieder Platz und legte die Pistole vor sich auf den Tisch. -384-
»Ich werde diese Sitzung leiten«, erklärte er. »Wir haben uns heute zusammengefunden, um zu entscheiden, welche Schritte wir nach dem Tod unseres geliebten Präsidenten Fidel Castro ergreifen sollen. Lange Zeit hat er tapfer gegen den Krebs angekämpft, ein Kampf, den er vor zwei Tagen verloren hat. Natürlich konnte diese Information nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, ohne vorab den Staatsrat zu informieren und über seine Nachfolge zu entscheiden. Hiermit setze ich die Anwesenden also offiziell davon in Kenntnis, dass unser geliebter Präsident Fidel Castro tragischerweise von uns gegangen ist, und stelle den Antrag, über seine Nachfolge zu entscheiden.« Mit diesen Worten langte er über den Tisch, ergriff den Hammer, der noch warm von Raúl Castros Hand war, und schlug damit mehrmals kräftig auf den Tisch. Der scharfe Ton der Schläge ließ einige Leute zusammenzucken. »Damit ist diese Versammlung offiziell eröffnet«, verkündete Vargas. »Wer möchte als Erster sprechen?« Niemand meldete sich. »Die Nachricht vom Tod unseres geliebten Präsidenten hat uns alle zutiefst erschüttert«, sagte Vargas. »Das kann ich gut verstehen. Trotzdem darf das politische Leben unserer Nation nicht ruhen. Deshalb schlage ich mich hiermit für die Nachfolge als Präsident vor. Wer unterstützt meinen Antrag?« »Ich unterstütze den Antrag«, rief General Alba laut in die Stille hinein. »Ich bitte, ins Protokoll aufzunehmen, dass die Wahl durch meine Stimme als einstimmig anzusehen ist«, erklärte Admiral Delgado. Seine Stimme zitterte ein wenig. »Ich stimme diesem Vorschlag zu und beantrage, dass die Nominierungsrunde damit abgeschlossen ist«, sagte General Alba. Man könnte fast glauben, dass sie das vorher geprobt haben, -385-
dachte Alejo Vargas und nickte den beiden Offizieren dankbar zu. Haie! Die lautlosen Raubfische glitten ohne jede Anstrengung wie graublaue, lebendige Torpedos durch das halb dunkle Wasser. Ocho Sedano bemerkte, wie sie zu der Stelle schwammen, an der die Angel del Mar gerade versunken war. Zweifellos hatten der Sog und die Geräusche des sinkenden Schiffes sie angelockt. Auch die Schiffbrüchigen, die wild um sich schlugen, machten Lärm. Die Natur hatte die Haie mit Sinnen ausgestattet, die darauf optimiert waren, den Todeskampf anderer Lebewesen wahrzunehmen. Ocho riss eine Hand aus dem Wasser, winkte und brüllte: »Haie! Haie!« Seine Stimme war rau, sein Hals entsetzlich ausgedörrt. Er nahm einen Schluck Seewasser in den Mund und spuckte ihn sofort wieder aus. »Haie! Verhaltet euch ruhig! Schwimmt ganz langsam von dem Wrack weg!« Er wusste nicht, ob ihn überhaupt irgendjemand gehört hatte. Ein gellender Schrei ertönte und verstummte gleich darauf wie abgeschnitten. Wahrscheinlich war das Opfer sofort unter die Wasseroberfläche gezogen worden. Wieder ein Schrei. »Haie!«, schrien einige, andere riefen Gott an. Ocho spürte, wie etwas an seinem Bein vorbeischrammte, und trat mit aller Kraft zu. Wieder tauchte er das Gesicht unter Wasser und konnte den Hai sehen, ein großes Tier von gut zweieinhalb Metern Länge. Es schwamm auf die kleine Gruppe zu, die sich immer noch an der Stelle aufhielt, wo das Schiff gesunken war. Entsetzt machte Ocho kehrt und schwamm in die -386-
entgegengesetzte Richtung. Der alte Fischer war dicht neben ihm. »Keine Panik«, sagte der Alte. »Bleib ganz ruhig, schwimm langsam und mit gleichmäßigen Bewegungen.« »Aber die anderen…« »Es gibt nichts, was wir für sie tun könnten. Möge Gott ihnen beistehen.« Wieder hörte Ocho Schreie, ein oder zwei Flüche, dann nichts mehr. Er wollte auch nichts mehr hören und schwamm deshalb gegen den Wind, so dass die Geräusche ihn nicht erreichen konnten. Dora war irgendwo da hinten. Falls sie es geschafft hatte, vor dem Untergang des Bootes ins Meer zu springen. Er wusste nicht, ob sie rechtzeitig von dem Wrack weggekommen war. Vielleicht hatte die Angel del Mar sie mit sich in die Tiefe gerissen. Das lag allein in Gottes Hand. Schließlich war es immer noch besser zu ertrinken, als von einem Hai verschlungen zu werden, der einem zuerst ein halbes Bein oder einen Arm abbiss, bis man hilflos und mit grauenhaften Schmerzen darauf wartete, endgültig in Fetzen gerissen oder in einem Stück unter die Wasseroberfläche gezogen zu werden, um dort jämmerlich zu ersaufen. Dass es auf diesem Planeten immer noch Lebewesen gab, die Menschen fraßen, erschien Ocho grauenhafter als alles andere, was er sich jemals vorgestellt hatte. Er war erschöpft und trat für einen Moment Wasser, statt weiterzuschwimmen, aber der Fischer trieb ihn sofort wieder an. »Jetzt mach nicht schlapp, mein Sohn. Schwimm weiter, weg von den Haien.« »Die sind doch überall«, entge gnete Ocho und sprach damit aus, was nicht zu bestreiten war. »Schwimm weiter«, sagte der Alte noch einmal. Ocho folgte -387-
ihm gehorsam. Irgendwann paddelten sie auf der Stelle, ohne zu wissen, wie weit sie vorangekommen waren. Die Wogen hoben und senkten sich in einem gleichmäßigen, immer währenden Zyklus. Ab und zu riss ein Windstoß den Schaum von einer Wellenkrone und ließ ihn durch die Luft fliegen. Flauschige Wolken eilten über den Himmel, aus dem die Sonne erbarmungslos herabbrannte. »Hier draußen werden wir sterben«, sagte Ocho zu dem alten Mann, der kaum mehr als drei Meter von ihm entfernt schwamm. Der alte Fischer sagte nichts. Was hätte er darauf auch erwidern sollen? Selbst das tragische Schicksal von Dora konnte Ocho nicht mehr wach halten. Er nickte immer wieder kurz ein und schreckte dann jedesmal hoch, weil ihm Wasser in Mund und Nase drang. Gegen Nachmittag glaubte er, ein Schiff zu sehen, einen Segler mit drei Masten und rechteckigen Segeln, die vom Wind gebläht wurden. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Außerdem entdeckte er weitere Kondensstreifen am Himmel, aber das konnte ebenfalls Einbildung sein. Ocho beschloss, so lange weiterzuschwimmen, bis ihn die Kräfte verließen und er ertrank. Mehr konnte ein Mann nicht tun. Gott würde das wissen, ihm seine Sünden vergeben und ihn im Himmel aufnehmen. Irgendwie erfüllte dieser Gedanke seine Seele mit tiefem Frieden. »Meine Herren, Ihre Unterstützung heute Morgen hat mich zutiefst berührt.« Alejo Vargas saß mit Admiral Delgado und General Alba in seinem Büro im Gebäude des Innenministeriums. Colonel -388-
Santana hockte in der Nähe des Fensters auf einem Stuhl, das verletzte Bein auf einen Fußschemel gelegt. Sein Kopf war immer noch bandagiert. »Was ist Ihnen zugestoßen, Colonel?«, erkundigte sich General Alba. »Ein Unfall.« »Der Verkehr wird von Tag zu Tag schlimmer.« »Ja.« »Kommen wir zur Sache, meine Herren«, begann Alejo Vargas. »Momentan genieße ich nicht die Zustimmung des Volkes. Der Mob ist außer Kontrolle geraten. Wir müssen die Ordnung und das Vertrauen in die Regierung wiederherstellen. Das ist absolut vorrangig.« Delgado und Alba nickten. Selbst ein Diktator brauchte eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung. Oder zumindest die Akzeptanz eines größeren Teils seiner Untertanen. »Ich schlage vor, gleichzeitig an zwei Fronten zu operieren. Einerseits werde ich eine Delegation zu Hector Sedano schicken. Vielleicht lässt er sich auf meine Seite ziehen. Ihn freizulassen würde ihn bestimmt entsprechend motivieren, aber auf dieser Basis kann man kein Bündnis errichten. Deshalb dachte ich daran, ihn zum Botschafter in den Vereinigten Staaten zu ernennen.« »Das wäre eine ausgesprochen populäre Entscheidung«, stimmte ihm Alba zu, und Delgado schloss sich dem General augenblicklich an. »Seit ich erwachsen bin, habe ich Fidel Castros politisches Ränkespiel genau studiert«, fuhr Vargas fort. »Ich habe durch meine Beobachtungen des Meisters eine Menge gelernt. Meine Herren, es kommt Ihnen vielleicht wie Ketzerei vor, wenn ich behaupte, dass er sich ohne die Vereinigten Staaten bestenfalls ein paar Jahre an der Macht hätte halten können. Wäre es ihm -389-
wie allen anderen ergangen, die ihre Versprechungen nicht eingehalten haben, hätte ein Staatsstreich oder ein Volksaufstand sein Regime beendet. Aber Fidel hat politisch überlebt, weil er immer einen perfekten Sündenbock hatte - er konnte stets die Vereinigten Staaten für alle Schwierigkeiten Kubas verantwortlich machen.« »So etwas sollte man nicht unbedingt in der Öffentlichkeit sagen, aber es ist siche r etwas Wahres dran.« »Die Yanquis haben noch nie eine Gelegenheit versäumt, sich von Fidel in eines seiner kleinen politischen Ränkespiele einspannen zu lassen«, bestätigte Delgado. Alle Anwesenden lachten, einschließlich Santana. »Ich verspreche Ihnen, das kubanische Volk erneut gegen die Vereinigten Staaten aufzubringen«, verkündete Alejo Vargas, nachdem sich die allgemeine Heiterkeit wieder gelegt hatte, »und diesmal werde ich die Aktion aus vorderster Front steuern.« An diesem Abend war Jake Grafton mit den Führungsoffizieren der verschiedenen Einheiten seines Schlachtverbandes zum Dinner verabredet. Neben den Kommandanten der Schiffe waren auch der Befehlshaber des Marinebataillons, Lieutenant Colonel Eckhardt, sowie der Flugstaffelkommandant der United States anwesend. Das Dinner fand in der Stabsmesse des Flugzeugträgers statt und gehörte zu den seltenen offiziellen Anlässen, bei denen es so hemdsärmelig zuging, dass sich alle Beteiligten gut amüsieren konnten. Umgeben von anderen hochrangigen Offizieren hatte Admiral Grafton wieder einmal das Gefühl, Teil einer verschworenen Gemeinschaft zu sein, die größer als die Summe aller Kameraden war. Die Tradition, die Kameradschaft und die Überzeugung, an etwas beteiligt zu sein, dessen Wert sich nicht in Dollar oder Dienststunden bemessen ließ, machte die -390-
manchmal unmenschlich langen Arbeitszeiten, die Trennung von der Familie und die anderen Belastungen, die der Dienst in den Streitkräften zwangsläufig mit sich brachte, irgendwie erträglicher. Er sonnte sich gerade in diesem Gefühl, als die Tür aufging und einer seiner Adjutanten eintrat, um ihm eine Top-SecretEilmeldung aus Washington zu überreichen. Jake setzte seine Brille auf, bevor er den Umschlag öffnete. Zuerst überflog er die Mitteilung kurz, dann las er sie noch einmal langsam. Ballistische Raketen auf Kuba, biologische Massenvernichtungswaffen, Castro tot… Er bedankte sich bei seinem Adjutanten und ließ ihn abtreten. Während sich die anderen der einem guten Dinner in Offizierskreisen unweigerlich folgenden Konversation widmeten, ging er die Mitteilung noch einmal sehr gründlich durch. Sie enthielt den Befehl, gegen die vermuteten Raketenstellungen auf Kuba vorzugehen, »so unverzüglich wie nur irgendwie möglich, um zu verhindern, dass diese Raketen Ziele auf amerikanischem Territorium anfliegen.« »Gentlemen, ich möchte Sie im Kommandobereich sprechen«, sagte er und geleitete die Offiziere aus der Stabsmesse. »Das Schicksal hat uns wieder einmal mit einer Riesensauerei konfrontiert«, begann er, nachdem die Gruppe vollständig im Kommandostand versammelt war und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich habe gerade eine Eilmeldung aus Washington erhalten.« Er las sie laut vor. Allgemeines Schweigen machte sich breit, nachdem er geendet hatte. Er faltete die Depesche zusammen und steckte sie wieder in den roten Umschlag. »Kehren Sie bitte so schnell wie möglich auf Ihre Schiffe zurück. Nehmen Sie Kurs durch die Windward Passage und steuern Sie mit Höchstgeschwindigkeit eine Position zwischen -391-
Kuba und den Florida Keys an, die es Ihnen ermöglicht, alle Raketen zu orten und zu zerstören, die von Kuba aus auf das amerikanische Festland abgeschossen werden. Holen Sie das Letzte aus Ihren Maschinen heraus. Jede Minute zählt. Wir werden keinen Finger gegen die Kubaner rühren, bevor Sie nicht diese Position erreicht haben.« Er schüttelte den Kapitänen die Hand, und sie verließen den Raum. »Jetzt können wir eigentlich nichts mehr tun, außer es uns gemütlich zu machen«, sagte er zu den verbliebenen Offizieren. »Sieht ganz so aus, als stünde uns eine verdammt lange Nacht bevor.« Fünfzehn Minuten lang beobachtete Ocho Sedano das Ding, bevor er überhaupt auf die Idee kam herauszufinden, um was es sich dabei handelte. Es war etwas Weißes, das keine zehn Meter halb rechts von ihm auf den Wellen tanzte. Nachdem sich das weiße Gebilde endlich in sein Bewusstsein vorgearbeitet hatte, begann er sich wieder zu bewegen, um darauf zuzuschwimmen. Fast einen Tag lang hatte er sich irgendwie über Wasser gehalten. Bald würde die Sonne untergehen, und dann würde er allein in der Dunkelheit sein. Den Angriff der Haie hatten nur er und der alte Fischer überlebt, der aber schon seit einer Weile nicht mehr auf seine Rufe reagierte. Schon seit etlichen Stunden nicht mehr. Vielleicht ist er einfach so weit weggedriftet, dass er mich nicht mehr hört, dachte Ocho. Das war die einzige Erklärung. Die Haie hatten alle anderen getötet. Nur die beiden Männer, die das Boot rechtzeitig verlassen hatten, waren von ihnen verschont geblieben. Zumindest ging er davon aus, dass die anderen tot waren - es gab keine Möglichkeit, sich zu überzeugen, ob diese Vermutung zutraf. -392-
Er hatte den ganzen Tag darüber nachgedacht, wieder und immer wieder, ob die Entscheidung, einfach von der sinkenden Angel del Mar wegzuschwimmen, sich so weit wie möglich von den anderen zu entfernen, wie es der alte Mann und er getan hatten, einem Instinkt entsprungen war. Ertrinkende neigen dazu, nach allem in ihrer Nähe zu greifen und mit sich hinunterzuziehen - zweifellos hatte dieser Gedanke sowohl ihn als auch den Alten dazu bewegen, wegzuschwimmen und die Verantwortung für ihr Überleben in die eigenen Hände zu nehmen. Vielleicht waren diejenigen, die von den Haien erwischt worden waren, besser dran, denn sie mussten nicht mehr leiden. Dora - traf das auch auf sie zu? Diego Coca war bereits tot, keine Frage. Er war vor… vor einem, vielleicht auch vor zwei Tagen gestorben… oder? Einfach über Bord gesprungen und von der Angel del Mar fortgeschwommen. Diego, du Esel. Ich hoffe, dass du jetzt in der Hölle schmorst. Ocho griff nach dem weißen Ding, das natürlich sofort seinen Fingern entglitt. Er schwamm ihm hinterher und packte erneut zu, diesmal von unten. Ein Milchkanister. Ein Kanister mit einem Fassungsvermögen von einer Gallone, der mit der Öffnung nach unten im Wasser trieb. Der Deckel fehlte. Ocho hob den Kanister an, um das Wasser herauslaufen zu lassen. Ein idealer Schwimmkörper. Er schlang die Arme um den Kanister. Es war nicht einfach, sich daran festzuhalten, denn das Ding hatte einen mächtigen Auftrieb. Ein wirklich idealer Schwimmkörper. Aber wie konnte er sicherstellen, dass er ihn auch in der Nacht nicht verlieren würde? Ihn sich unter das Hemd schieben? Er versuchte, den Kanister -393-
unter die Wasseroberfläche zu drücken. Beim ersten Versuch klappte es nicht, das Ding entglitt seinen Fingern und schoss wieder hoch. Er griff danach und versuchte es ein zweites Mal. Diesmal hatte er mehr Glück. Zuerst war der Auftrieb ungewohnt, und er kämpfte dagegen an, in Rückenlage gedreht zu werden. Aber dann schaffte er es, den Kanister wieder unter sich zu bekommen. Er musste ständig die Balance ausgleichen, aber das würde ihn verhältnismäßig wenig Anstrengung kosten; zumindest hielt es ihn ohne großen Kraftaufwand über Wasser. Solange die nach unten deutende Öffnung da blieb, wo sie war, würde es funktionieren. Ocho triumphierte bereits, als eine Wellenfront ihn umwarf. Es dauerte eine Weile, bis er den Milchkanister wieder unter Kontrolle hatte. Die Dämmerung brach herein, und er überlegte, ob es nicht einfacher wäre, den Kanister aufzugeben. Das ständige Ausbalancieren kostete ihn womöglich doch nicht weniger Kraft als das Wassertreten. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen entschied er sich schließlich dafür, weiter auf den Kanister zu setzen. Er musste nur lernen, richtig damit umzugehen. »Man wird mich retten«, murmelte er. »Irgendjemand wird mich retten. Ich muss nur die Ruhe bewahren und durchhalten.« Nach einer Weile sagte er: »Und auf Gott vertrauen.« Ocho war Katholik - natürlich. Aber er gehörte nicht zu den Menschen, die oft beteten. Er überlegte, ob er es jetzt tun sollte. Bestimmt sah Gott, in welcher Misere er sich befand - was also hätte er Ihm sagen können, was Er nicht schon längst wusste? Im Zwielicht wirkte das Wasser dunkler. Es bewegte sich nach wie vor, stieg und fiel im Rhythmus der Wellen, aber es wirkte nun düster und schwarz wie ein Grab. Vielleicht würde er in der hereinbrechenden Nacht sterben. -394-
Irgendwann würde er vielleicht einschlafen und ertrinken, oder ein Hai würde ihn erwischen, oder er würde einfach den Überlebenswillen verlieren. Er war so verdammt müde, von einer Lethargie befallen, die jeden Muskel in seinem Körper lahmte. Heute Nacht, dachte er. Aber ich will nicht sterben. Ich will leben! Bitte, Gott, lass mich nur noch einen Tag erleben. Wenn ich morgen nicht gerettet werde, dann lass mich in der Nacht darauf sterben. Das war eine durchaus vernünftige Bitte. Schließlich würde er spätestens in der morgigen Nacht keine Kraft mehr haben, um sich über Wasser zu halten. Am Himmel verdämmerte das letzte Licht, und er war allein in der unendlichen Weite des Meeres. Das Gefängnis von La Cabana war ein altes Steingebäude. Im heißen, feuchten Klima Kubas war das Innere des Gefängnisses angenehm kühl. Andererseits sorgte die mangelnde Luftzirkulation dafür, dass es in den dunklen Gängen Ekel erregend nach Schimmel und Verfall stank. Auf den Eisenstangen und Gittern der Gefängniszellen schlug sich Kondenswasser nieder, so dass sie von einer dicken Rostschicht überzo gen waren. Tagsüber sorgten die vor Dreck starrenden und deshalb beinahe milchigen Fenster für eine schummrige Beleuchtung. Nachts brannten nackte Glühbirnen an den Kreuzungspunkten der Korridore und überall dort, wo ein Bereich durch ein Sicherheitsgitter abgesperrt war; viele Korridore und Zellen waren überhaupt nicht beleuchtet. Hector Sedano bemerkte den Lichtschein lange, bevor er die sich ihm nähernden Schritte hörte. Eine Taschenlampe, -395-
vielleicht zwei oder drei, möglicherweise sogar vier - es war schwer zu sagen. Schließlich glitten die Lichtstrahlen über die Gitter seiner Zelle, bohrten sich ihm ins Gesicht und nagelten ihn regelrecht auf seiner Pritsche fest. »Da ist er.« »Ich möchte allein mit ihm sprechen.« »Ja, Señor Presidente.« Ein Mann blieb im Halbdunkel vor der Zelle stehen, während sich die anderen entfernten. Nachdem sich Hectors Augen von dem grellen Licht der Taschenlampen erholt hatten, konnte er erkennen, wer es war - Alejo Vargas. Vargas zündete sich ein kurzes Zigarillo an. Als er das Streichholz anriss, schloss Hector die Augen und öffnete sie erst wieder, als er den Duft des Tabaks roch und Vargas ihn ansprach. »Vater Sedano, so trifft man sich wieder.« Hector fand, dass eine solche Bemerkung keine Erwiderung verdiente. »Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir vor zwei Jahren geführt haben, oder vielleicht vor drei«, fuhr Vargas nachdenklich fort. »Ich habe Ihnen damals gesagt, dass sich Religion und Politik nicht miteinander vertragen.« »Zu meiner Überraschung haben Sie damals sogar eine Stelle aus der Bibel zitiert, Markus zwölf, Vers siebzehn.« »Sie haben meinen Rat nicht beherzigt.« »Nein.« »Es ist nicht unbedingt Ihre Art, den Rat anderer Leute zu beherzigen, nicht wahr?« »Nein.« »Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie nicht Frieden -396-
mit dem Cäsaren schließen wollen. Sie könnten meinem Kabinett beitreten, vielleicht als Religionsminister.« »Sie sind jetzt der Präsident?« »Nur vorübergehend. Bis zu den Wahlen.« »Die Ihren Titel für alle Zeit festigen sollen.« »Ich glaube nicht, dass irgendjemand als Gegenkandidat antreten will.« »Vielleicht nicht.« »Aber das steht jetzt nicht zu Diskussion. Der provisorisch amtierende Präsident fragt Sie, ob Sie Ihrem Land in der bereits erwähnten Position dienen wollen.« »Und wenn ich Nein sage?« »Ich möchte ein reines Gewissen haben, deshalb bin ich heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen dieses Angebot zu unterbreiten.« »Sie könnten Ihr Gewissen sehr viel einfacher entlasten, wenn es Ihnen wirklich darum geht.« »Oh, es belastet mich gar nicht allzu sehr.« »Ein Mensch, der nach Ihren Maximen lebt, dürfte mit einem halbwegs gesunden Maß an Gewissen mehr Probleme haben als mit einem faulen Zahn.« »Ihre Antwort lautet also Nein.« »Darauf läuft es wohl hinaus.« »Aber immerhin haben Sie sich mein Angebot angehört, so dass ich davon ausgehen kann, dass Sie Ihr Schicksal selbst bestimmt haben.« »Mein Schicksal liegt allein in Gottes Hand.« »Ach, hätte ich doch nur die Zeit, mit einem so intelligenten Mann wie Ihnen über Religion diskutieren zu können. Aber das ist ein Luxus, auf den ich leider verzichten muss. Nun, ich habe noch andere Dinge mit Ihnen zu bereden, und ich warne Sie vorsorglich, dass Sie sich diesmal nicht auf ein einfaches Ja oder -397-
Nein zurückziehen können. Sie sollten sich mein Angebot sorgfältig überlegen und mir später sagen, wie Sie sich entscheiden.« Sedano kratzte sich am Kopf. Vargas war vermutlich durch die Glut seines Zigarillos geblendet, so dass es keine Rolle spielte, wie Hector reagierte. »Ich möchte wissen, was Fidel mit den Goldpesos gemacht hat«, sagte Vargas. »Ich möchte, dass Sie mir das verraten.« »Ich? Ich war gerade einmal sechs Jahre alt, als er die Pesos hat einschmelzen lassen - falls er das überhaupt getan hat.« »Ich glaube, dass Sie es wissen. Ich glaube, Fidel hat es Mercedes erzählt, und Mercedes hat es Ihnen anvertraut. Also frage ich Sie jetzt: Wo ist das Gold? Werden Sie es mir sagen?« »Sie hat mir nichts von irgendwelchem Gold erzählt.« »Ich hätte nicht so schnell auf eine Antwort von Ihnen drängen sollen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es nicht zu tun, und dann habe ich es doch getan. Entschuldigen Sie. Ich werde Sie später noch einmal fragen, nachdem Sie genug Zeit hatten, über die Frage und ihre Konsequenzen nachzudenken.« »Ich kann Ihnen nichts sagen, worüber ich nichts weiß.« »Nun, denken Sie einfach darüber nach, das ist alles, worum ich Sie bitte. Natürlich werde ich auch mit Mercedes darüber sprechen. Ich glaube, dass sie auch mit Ihnen oder mit der CIA über Fidels Schweizer Bankkonten gesprochen hat. Als Maximo das Geld abheben wollte, war es nicht mehr da. Ich hätte ja zu gerne Maximos Gesicht gesehen, als das passiert ist… Ach ja, das muss ein wirklich erhebender Anblick gewesen sein, mein Freund!« Er kicherte und zog an dem Zigarillo, bis die Spitze hell aufglühte. »Maximo glaubt, die Schweizer hätten das Geld einkassiert. Er ist sehr leichtgläubig. Ich dagegen vermute die CIA dahinter. Die CIA könnte so etwas mit Leichtigkeit -398-
bewerkstelligen.« »Die Welt ist ziemlich kompliziert.« »Ja, das kann man wo hl sagen.« Vargas seufzte. »Alle Spuren führen zu Mercedes. Sie weiß viel mehr, als gut für sie ist. Ich glaube allerdings, dass sie die richtige Entscheidung treffen wird. Sie ist eine loyale Patriotin. Wenn Colonel Santana sie befragt, wird sie im Interesse Kubas handeln, davon bin ich überzeugt.« Hector spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Er wartete, bis er sicher war, dass seine Stimme nicht verriet, was in ihm vorging. »Für Kuba?« »Für Kuba, ja. Oder für mich, das läuft auf dasselbe hinaus. Ich will das Gold, Vater, und ich werde es bekommen. Denken Sie darüber nach, während Sie in Ihrer Zelle verrotten.« Alejo Vargas drehte sich paffend um und ging. Der Geruch das Tabaks hing noch stundenlang in der Luft. Hector bildete sich sogar ein, ihn noch riechen zu können, als das erste Licht des neuen Tages durch das hoch an der Wand angebrachte Fenster am Ende des Korridors fiel.
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17 Die U-Boot-Besatzung hatte den Computer in einem Plastikmüllsack verstaut, um ihn vor Feuchtigkeit zu schützen, und dann in einen Rucksack gesteckt, der das Privateigentum eines Besatzungsmitglieds war. Nachdem William Henry Chance sich den Rucksack umgeschnallt hatte, kontrollierten die Matrosen den Sitz der Gurte. »Jetzt müsste alles klar sein, Sir«, sagte einer von ihnen. Der Mann am Sprechrohr nickte ihm zu, worauf Chance die Leiter hochstieg, gefolgt von Tommy Carmellini. Sie verließen das UBoot durch die Mannschaftsschleuse an der Vorderseite des Kommandoturms. Das Deck war eine konturlose Fläche aus nassem Stahl, dessen abgerundete Seiten sich rechts und links im schwarzen Meer verloren. In der Dunkelheit über ihnen schwebte ein Hubschrauber - der nach unten gerichtete Druck des Rotors raubte ihnen beinahe die Luft zum Atmen. Die blitzenden Positionslichter und der Suchscheinwerfer hinderten Chances Augen daran, sich den Lichtverhältnissen anzupassen, so dass er kaum etwas sah. Einer der Matrosen legte ihm ein Gebilde um den Hals, das an ein Pferdegeschirr erinnerte, und dann wurde er zum Hubschrauber hochgezogen; Carmellini kam nach ihm an die Reihe. Kräftige Hände griffen nach ihm und zerrten ihn an Bord des Helikopters. Er winkte den Offizieren im Kommandoturm des U-Boots zu und kroch dann auf Händen und Knien zu einer Sitzbank gegenüber der offenen Kabinentür, wo Chance bereits Platz genommen hatte. Fünfundvierzig Minuten später landete der Hubschrauber auf dem Flugdeck der USS United States. Während der Rotor ausdrehte, tauchte ein Offizier im Tarnanzug vor der Kabinentür -400-
auf und rief: »Mr. Chance? Mr. Carmellini?« »Direkt vor Ihnen.« »Mein Name ist Toad Tarkington. Wenn Sie bitte mitkommen würden. Der Admiral erwartet Sie bereits.« Tommy Carmellini fühlte sich wie im falschen Film, verloren und desorientiert. Nach der Fahrt im U-Boot und dem Flug im Hubschrauber waren seine Sinne einfach überwältigt durch den Ansturm von seltsamen Geräuschen und Gerüchen und das Gefühl, auf einem gewaltigen Schiff unterwegs durch die nächtliche See zu sein. Der Raum, in den Toad die beiden Agenten brachte, war vollgestopft mit Leuten, deren Stimmen durcheinander schwirrten; trotzdem erschien er im Vergleich zu dem Flug im Helikopter und dem Lärm auf dem Flugdeck wie eine Oase der Ruhe. Toad führte sie in eine Ecke und machte sie dort mit Konteradmiral Jake Grafton bekannt. Grafton war ein sportlich wirkender Typ, etwa 1,80 Meter groß, dessen graue Augen Tommys Aufmerksamkeit erregten. Sie schienen ihr Gegenüber mit einigen kurzen Blicken vollständig zu taxieren und zu durchschauen, bevor sie weiterwanderten. Nur wenn er einen nicht ansah, fiel auf, dass seine Nase etwas zu groß für sein Gesicht geraten war und er seitlich an der Stirn eine alte Narbe hatte, die sich durch ihren etwas helleren Farbton von der sie umgebenden gebräunten Haut abhob. Toad Tarkington war ein gutes Stück kleiner als der Konteradmiral und deutlich breiter in den Schultern. Er erweckte den Eindruck eines unermüdlichen Wirbelwinds, der jeden mit seiner Schlagfertigkeit und unerschöpflichen Energie überwältigte, die er auszustrahlen schien wie die Sonne ihre Korona. Er lachte häufig und wohl auch gern, wobei er ein Gebiss präsentierte, dessen perfekter Zustand jeden Zahnarzt stolz gemacht hätte. -401-
Jake Grafton und William Henry Chance sahen ihm über die Schulter, als Toad sich mit Alejo Vargas' Computer beschäftigte. Toad starrte konzentriert auf den Bildschirm, während seine Finger über die Tastatur flogen. Kurz darauf begannen sie, Koordinaten auf eine Karte einzutragen. »Die Raketen müssen sich hier an diesen Punkten befinden, Admiral«, erklärte Toad und deutete auf die von ihm markierten Stellen. »Insofern die Daten auf diesem Computer überhaupt verwendbar sind.« Er warf Chance einen Blick über die Schulter zu. »Wäre es denkbar, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelt?« Chance drehte sich zu Carmellini um, der auf einem Stuhl mit dem Rücken zur Wand saß. Der jüngere Mann sah sich aufmerksam in der Planungszentrale um und beobachtete die verschiedenen Grüppchen, die ihren diversen Aufgaben nachgingen. Das Stimmengewirr erweckte den Eindruck, als herrschte ein ziemliches Chaos, aber er wusste, dass das Gegenteil der Fall war. Die Wandkarten und Schautafeln mit den streng geheimen Markierungen und Einträgen, die Planungstische, die Aktenschränke mit ihren höchst vertrauenerweckenden Vorhängeschlössern, die Lampen der Notbeleuchtung an der Decke, Fotokopierer, Aktenvernichter das Ganze erinnerte ihn an die geheime Operationszentrale im Hauptquartier der CIA in Langley. »Das bezweifle ich sehr«, erwiderte Chance und beugte sich über die Karte, auf der Toad gerade etwas eintrug. »Das wären insgesamt sechs Stellungen«, sagte Toad. »Könnten sie noch mehr Raketen haben?«, fragte Jake Grafton. Er sah Carmellini an und wandte sich dann Chance zu. »Ist Ihnen bewusst, was es bedeutet, wenn es noch weitere Raketen auf Kuba gibt, von denen wir nichts wissen?« »Ja, Sir. Ich kann dazu nur sagen, dass wir von diesen sechs -402-
wissen. Nicht mehr.« »Sechs Silos«, murmelte Toad, der sich weiter auf die Karte konzentrierte. »Irgendwo auf dieser Insel muss es eine Fertigungsanlage zur Herstellung von Gefechtsköpfen geben«, bemerkte Chance. »Zunächst müssen die Viren getrocknet und dann in irgendeine Trägersubstanz eingebracht werden, die sie nach Ansicht der Kubaner am Leben und virulent erhält, bis der Gefechtskopf explodiert und die Trägersubstanz freisetzt. Zu guter Letzt müssen die Gefechtsköpfe dann mit diesem Material bestückt werden. Dazu benötigt man zwar keine große Fabrik, aber zumindest staubfreie Räume, Luftfilteranlagen, ferngesteuerte Instrumente für den Umgang mit dem biologischen Material und meiner Ansicht nach auch ein recht gut ausgerüstetes Labor.« »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Jake Grafton. »Vielleicht können uns die Leute von der Satellitenüberwachung weiterhelfen, wenn wir ihnen erzählen, wonach wir suchen.« »Das lässt sich einrichten. Aber haben Sie keine unabhängigen Informationen über den möglichen Standort dieser Einrichtung?« »Nein.« Jake gab Carmellini einen Wink, worauf sich der Agent vorbeugte, um hören zu können, worüber sie gerade sprachen. »Ich rekapituliere die Lage«, fasste Grafton den Stand der Dinge zusammen. »Das Weiße Haus will, dass wir die Raketen unschädlich machen. Eine Bombardierung steht jedoch nicht zur Diskussion. Stattdessen müssen wir die Silos finden, die Gefechtsköpfe abmontieren und die Raketen sprengen. Mein Stab und die anderen Leute hier versuchen, eine geeignete Strategie zu entwickeln, um die Befehle des Präsidenten in die Tat umzusetzen. Wenn wir ausreichend Zeit hätten, könnten wir Spezialeinheiten anfordern, die speziell für einen solchen -403-
Einsatz ausgebildet sind. Hätten wir mehr Zeit, könnten wir sogar vorher eine Trockenübung durchführen und uns davon überzeugen, dass alle Beteiligten genau wissen, was sie zu tun haben. Doch bedauerlicherweise verlangt das Weiße Haus, dass wir die Silos jetzt und sofort ausschalten, so schnell wie möglich.« »Und wie schnell ist es möglich?«, wollte Chance wissen. Jake Grafton atmete einmal tief ein und sehr langsam wieder aus. »Genau das ist die Tausend-Dollar-Frage. Wir müssen sehen, womit wir es zu tun haben, bevor wir losstürmen.« Er stand auf, ging zu der an einer Wand befestigten Landkarte von Kuba und betrachtete eine mit Bleistift eingezeichnete Linie, die sich durch die Windward Passage und entlang der kubanischen Nordküste bis hinunter zur schmälsten Stelle der Meerenge von Florida erstreckte. Wenn alles glatt verlief, würden die Kreuzer abends um sechs Uhr an der Zielposition eintreffen. Jake drehte sich um und deutete auf die Männer, die am Planungstisch standen. »Diese Leute spielen nur ein paar mögliche Strategien durch. Wir müssen genügend Einsatzkräfte zusammenziehen, um die Mission erfüllen zu können. Andererseits gehen wir ein gewaltiges Risiko ein, wenn wir uns zu viel Zeit lassen, nur um eine überwältigende Angriffsfront aufzubauen. Es kommt darauf an, einen ausgewogenen Kompromiss zu finden. Sobald die nächsten Satellitenbilder reinkommen, wissen wir mehr.« »Es würde mich sehr wundern, wenn die Kubaner Truppen in der Nähe der Silos stationiert hätten«, bemerkte William Henry Chance. »Schließlich sind die Standorte den Spezialisten der Bildauswertung zwei Generationen lang entgangen. Die Kubaner wissen doch genau, dass wir ihre Insel regelmäßig und minuziös per Satellit beobachten. Wir haben diese verdammten Silos vierzig Jahre lang direkt vor der Nase gehabt und nicht -404-
gewusst, worum es sich dabei handelt. Wahrscheinlich liegen sie gut getarnt unter der Erde.« »Ich schicke da niemanden runter, bevor wir nicht wissen, mit welcher Gegenwehr wir zu rechnen haben«, erwiderte Jake frei heraus. »Ich schicke keine Selbstmordkommandos los.« »Sind diese Silos wirklich Ihr einziges Ziel?«, fragte Chance. Jake Grafton musterte den hoch gewachsenen Agenten aus zusammengekniffenen Augen. »Was meinen Sie damit?« »Die Kubaner haben die Vir en in einem Labor der Wissenschaftlichen Fakultät auf dem Gelände der Universität von Havanna gezüchtet. Nehmen wir also an, wir gehen da rein und nehmen ihnen die Gefechtsköpfe weg. Was sollte sie davon abhalten, sich eine neue Ladung Viren zusammenzukochen und sie mit Flugzeugen über Florida und Georgia und weiß Gott wo sonst noch zu versprühen?« »Wollen Sie damit sagen, wir sollten uns auch ihr Labor vornehmen?« »Ich würde es dringend empfehlen. Die Gelegenheit, ein paar Kakerlaken zu zertreten, bietet sich einem nicht allzu häufig. Wir sollten Alejo Vargas lieber ausschalten, solange sich uns die Chance bietet.« »Ich kann nicht mehr tun, als Washington Ihren Vorschlag zu unterbreiten«, sagte der Admiral. »Vergessen Sie dabei nicht die Produktionsanlage für die Viren. Wenn wir sicherstellen wollen, dass Kuba nicht mehr über biologische Waffen verfügt, sollten wir gleich gründlich aufräumen.« »Könnten wir dazu Bomber einsetzen?«, erkundigte sich Toad Tarkington. »Oh, nein«, erwiderte Chance. »Eine Bombe, die in einem Labor voller Polioviren hochgeht, wäre in etwa das Gleiche wie die Detonation eines biologischen Gefechtskopfs. Das würde die -405-
Viren augenblicklich in der Atmosphäre freisetzen. Jeder, der sich in einem Gebiet von einigen hundert Kilometern in Windrichtung aufhält, würde wahrscheinlich sterben. Nein, das Virus lässt sich nur durch Feuer vernichten.« Jake Grafton kratzte sich am Kopf. »Das Feuer müsste sehr schnell hohe Temperaturen erreichen, um sicherzustellen, dass die Viren nicht in die Atmosphäre entweichen können«, fügte Chance hinzu. »Ein normaler Hausbrand reicht dazu nicht aus. Wir benötigen etwas, das wesentlich heißer ist.« »Ein richtiges Höllenfeuer also«, sagte Toad, und die anderen nickten. Es verging keine Stunde zwischen der verschlü sselten Übermittlung der vermuteten Positionsdaten der Silos und dem Moment, als die ersten Satellitenfotos ausgedruckt wurden. Die Experten der Luftaufklärung machten sich mit gezückten Vergrößerungsgläsern an die Arbeit. Jake Grafton gesellte sich zu ihnen. »Sieht so aus, als ob sich die erste Position hier mitten in einem Zuckerrohrfeld befindet«, knurrte der leitende Offizier der Aufklärungseinheit. Jake Grafton hatte keine Zeit, sich lange darüber den Kopf zu zerbrechen. »Gehen Sie ruhig davon aus, dass unsere Geodaten exakter sind als die der Kubaner.« »Meinen Sie, dass die gar nicht so genau wissen, wo ihre Silos liegen?« »Genau das.« »Nun, das nächstliegende Gebäude ist diese große Scheune hier, ungefähr 750 Meter von der angegebenen Position entfernt.« Der Spezialist legte einen Finger auf den markierten Punkt, und Jake nahm das Vergrößerungsglas zur Hand. »Das könnte es sein«, brummte er. »Sehen wir mal, ob wir in -406-
unseren Archiven etwas darüber finden können. Wie lange die Scheune schon dort steht, ob große Lastwagen in ihrer Nähe gesichtet wurden - wir sollten alle Jahreszeiten darauf überprüfen - und natürlich auch Trupps von Soldaten der kubanischen Armee. Diese Truppen würden mich am meisten interessieren.« »Stromleitungen«, überlegte der Chef der Luftaufklärung laut. »Es müsste dort eine leistungsfähige Energieversorgung geben.« »Das passt gut zusammen«, sagte Toad Tarkington zu Jake. »Erst haben sie die Scheune gebaut, dann in ihrem Inneren ein Loch für das Fundament des Silos ausgehoben und den anfallenden Dreck nachts abtransportiert. Den Beton haben sie ebenfalls nachts herbeigeschafft.« »Und zu guter Letzt auch die Rakete«, spann der Offizier den Gedanken fort. »So konnten sie das Ding direkt vor unserer Nase errichten, ohne dass wir es bemerkt haben. Sie mussten nur aufpassen, dass sich in der Nähe der Scheune nicht allzu viel abspielt.« »Beweisen Sie mir, dass es sich so verhält«, verlangte Jake. »Und beweisen Sie mir, dass meine Truppen dort nicht in einen Hinterhalt geraten.« Der Admiral stand mitten zwischen den Computern und sah zu, wie seine Leute via Satellit Daten mit der National Security Agency in Maryland austauschten. Die CIA-Agenten erhielten etwas zu essen und bekamen anschließend Schlafkojen zugewiesen, die sie ohne Widerspruch aufsuchten. Irgendjemand brachte Jake Grafton eine Tasse Kaffee, mit der er rastlos durch die Planungs- und Funkräume streifte, während er über ballistische Mittelstreckenraketen und biologische Gefechtsköpfe nachdachte. Als der Morgen dämmerte, klammerte sich Ocho Sedano immer noch eisern an seinen Kanister und trat Wasser. Das -407-
Denken hatte er schon vor Stunden eingestellt. Der Hunger und die Strapazen der letzten Stunden zehrten an seinen Kraftreserven, der Wassermangel ließ sein Blut dicker werden. Er war nicht richtig wach, aber er schlief auch nicht, sondern befand sich in einem halb bewussten Zwischenstadium. Irgendwann begriff er, dass er in die aus dem Meer aufsteigende Sonne starrte, dass er einen neuen Tag erlebte und es der letzte Tag für ihn sein würde. Heute muss mich irgendjemand finden… Die Scheinwerfer brannten und die Fernsehkameras liefen, als Alejo Vargas auf das Podium im Empfangsraum des Regierungspalastes von Havanna zuging. Vierzig Jahre lang hatte Fidel Castro dieses Podium betreten, um sich an das kubanische Volk und die Welt zu wenden - heute würde Alejo das Gleiche tun. »Unsere Nation erlebt heute einen Moment der Trauer und Verzweiflung«, begann er. »Fidel Castro, der größte Patriot, den das kubanische Volk hervorgebracht hat, ist vor nur drei Tagen von uns gegangen. Jeder, der meine Stimme hört, kennt sein Leben, kennt die Leistungen, die er als Präsident dieser Nation vollbracht hat. Ich war bei ihm, als er starb« - an dieser Stelle wischte sich Vargas die Tränen aus den Augen - »und ich sage euch, dass es der ergreifendste Moment in meinem Leben war. Gestern hat mich der Staatsrat als Übergangspräsident eingesetzt. Meine Aufgabe wird es sein, dieses Amt bis zur nächsten Zusammenkunft der Nationalversammlung wahrzunehmen, deren Aufgabe, wie ihr alle wisst, es ist, die Mitglieder des Staatsrates zu wählen und den Präsidenten zu ernennen. Ich habe den Ministern und dem Staatsrat geschworen, die Verfassung und die Souveränität Kubas mit all meiner Kraft zu schützen. Nun erneuere ich dieses Versprechen in eurer Gegenwart.« -408-
Er legte wieder eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln. »In diesem Augenblick, während ich zu euch spreche, gibt es Menschen dort draußen auf den Straßen, die behaupten, ich hätte Fidel Castro ermordet. Möge Gott der Herr mich auf der Stelle niederstrecken, sollte ich dieses Verbrechen begangen haben.« Er atmete einige Male tief durch. Da Gott der Herr ihn nicht niederstreckte, fuhr er fort: »Fidel Castro ist einem Krebsleiden erlegen. Sein Leichnam wird für die nächsten drei Tage der Öffentlichkeit zugänglich sein. Wenn ihr Kuba liebt, dann fordere ich euch dazu auf, diesem großen Mann den letzten Respekt zu erweisen und von seiner sterblichen Hülle Abschied zu nehmen. Überzeugt euch selbst davon, ob sein Körper auch nur die geringste Spur einer Gewalttat aufweist. Meine Feinde haben mich schlimmer Taten bezichtigt, aber der Mord an Fidel Castro ist die infamste aller Lügen. Ich habe Fidel verehrt. Seht euch seinen Leichnam genau an, damit eure eigenen Augen euch beweisen, wie falsch diese Anschuldigungen gegen mich sind.« Wieder musste er eine kurze Pause einlegen, um sich die Tränen fortzuwischen und am Rednerpult Halt zu finden. »Doch ist dies nicht das einzige Verbrechen, dessen ich bezichtigt werde. Deshalb werde ich diese Gelegenheit nutzen, vor euch meine Seele offen zu legen, um euch die Wahrheit zu offenbaren, so wie Gott der Allmächtige sie kennt, um die Lügen meiner Feinde als das zu entlarven, was sie sind. Meine Feinde behaupten, ich hätte gestern während einer Zusammenkunft des Staatsrates Raúl Castro getötet, als die Nachricht vom Tod seines Bruders offiziell verkündet wurde. Doch in Wirklichkeit wurde Raúl, als er uns die Hoffnungen und Träume seines verstorbenen Bruders vortrug, von Hector Sedano ermordet. Raúl Castro wurde in Anwesenheit von einem Dutzend Zeugen, darunter auch ich selbst, erschossen. Ich schwöre euch, Hector Sedano wird für diese Tat angemessen bestraft werden.« -409-
Er schwieg einen Moment lang, um diese Enthüllung auf seine Zuhörer einwirken zu lassen. Irgendjemand musste für die Ermordung Raúls zur Rechenschaft gezogen werden. Warum also nicht Hector? »Die Geschichte unsere Landes ist eine Geschichte des Kampfes«, fuhr er fort. »Eines Kampfes, der zwischen dem sozialistischen Volk Kubas und den Mächten des Kapitalismus ausgefochten wird, Mächten, die von den Vereinigten Staaten von Amerika kontrolliert und dominiert werden, dem Koloss im Norden. Fidel kann diesen Kampf nicht mehr gewinnen, obwohl er sich wacker geschlagen hat. Doch dieser Kampf geht weiter. Hier ein Beispiel: Obwohl die Vereinigten Staaten vor der Weltöffentlichkeit behaupten, ihr Arsenal chemischer und biologischer Waffen zu zerstören, haben sie erst kürzlich solche Waffen nach Kuba gebracht.« Die Kamera schwenkte auf die Artilleriegranate, die neben dem Podium auf einem Tisch lag. »Das ist ein amerikanisches Artilleriegeschoss, bestückt mit Anthrax, einer der tödlichsten Krankheiten, die wir kennen. Diese Granate wurde in einem Lagerhaus aufbewahrt, das auf dem Gelände der amerikanischen Marinebasis in Guantánamo steht, also auf geheiligtem kubanischem Boden. Die Amerikaner wollten ihren giftigen Dreck nicht in ihrem eigenen Land aufbewahren, also haben sie ihn zu uns gebracht. Ich habe heute die Botschafter von fünf Nationen, die diplomatische Vertretungen in Havanna unterhalten, gebeten, diesen Gefechtskopf von ihren Militärattaches prüfen zu lassen. Das hier ist ihre Versicherung an Eides statt, die bestätigt, dass es sich tatsächlich um einen biologischen Gefechtskopf handelt.« Er wedelte mit einem Dokument herum und hielt es schließlich vor das Objektiv der Kamera, damit sie es der Welt in Großaufnahme zeigen konnte. »Die Enthüllung dieses perfiden Plans der Vereinigten Staaten -410-
wird die Banditen im Norden unseres Landes zweifellos zu einer Reaktion veranlassen. Fidel hat immer gewusst, dass der Tag kommen wird, an dem wir uns gegen einen Angriff der Amerikaner zur Wehr setzen müssen. Deshalb hat er veranlasst, dass zu unserem Schutz und unserer Verteidigung eine Phalanx von Mittelstreckenraketen auf kubanischem Boden bereitsteht. Diese Raketen stehen bereit, abgeschossen zu werden, um unser geheiligtes Stück Erde zu verteidigen. Seid versichert, meine kubanischen Mitbürger, dass wir die amerikanische Aggression nicht tatenlos hinnehmen und Kuba gegen diejenigen verteidigen werden, die unser Land zerstören wollen. Wir werden den nachfolgenden Generationen ein starkes Kuba hinterlassen. Danke.« Im Vergleich zu Fidels mehrstündigen, mit blumigen Metaphern und heftiger Polemik überladenen Tiraden nahm sich Alejo Vargas' kurze Ansprache geradezu spartanisch aus. Tatsächlich hatte er besonderen Wert darauf gelegt, sich in seiner Rhetorik möglichst weit von der Fidels zu entfernen. Als er sich später die Videoaufzeichnung der Rede ansah, fand er sie gut gelungen. »Sofort senden«, befahl er dem TV-Produzenten, bevor er sich in Fidels altes Büro zurückzog. Er wurde bereits von Alba und Delgado erwartet. Sie waren keineswegs überrascht, dass Alejo die Ermordung Raúls Hector Sedano in die Schuhe geschoben hatte; schon lange vor Vargas' Ansprache hatten sie beeidigte Zeugenaussagen unterschrieben, laut denen sie bei Raúls Ermordung durch Hector Sedano anwesend gewesen waren. Die Tatsache, dass Alejo Vargas wirklich die cojones besaß, diese ungeheuerliche Lüge der Öffentlichkeit aufzutischen, war für die beiden Männer von besonderer Bedeutung, denn sie hatten lange genug unter einem Diktator gelebt, um zu wissen, dass der Mann an der Spitze absolut rücksichtslos und skrupellos sein musste, wenn er überleben wollte. Fidel war bereit gewesen, seine Feinde auf -411-
jede erdenkliche Weise zu vernichten, und Vargas schien das gleiche Talent zu besitzen. Also hatte er vielleicht eine Chance. Sie schüttelten ihm die Hand. »Sagen Sie uns, Señor Presidente, was die Amerikaner als Nächstes tun werden.« »Ich habe sie offen mit unseren Raketen konfrontiert«, sagte Vargas. »Deshalb erwarte ich, dass sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen werden, um Sanktionen gegen uns zu fordern, vielleicht ein allgemeines, von der UNO beschlossenes Handelsembargo. Nachdem die Existenz der Raketen der Öffentlichkeit präsentiert worden ist, kann die amerikanische Regierung sie nicht mehr ignorieren, selbst wenn sie es wollte.« »Erwarten Sie einen militärischen Angriff?« »Eigentlich nicht, aber wir müssen Vorkehrungen treffen. Die Raketen sind in unterirdischen Silos stationiert, die gegen einen Angriff aus der Luft weitgehend geschützt sind. Es ist aber denkbar, dass die Amerikaner es mit einem Spezialkommando versuchen. Deshalb schlage ich vor, dass Sie einen Teil Ihrer Truppen dorthin verlagern. Sie sollen sich im Bereich der Silos eingraben.« »Und wenn wir die Amerikaner nicht davon abhalten können, die Silos zu erobern?« »Dann schlagen wir zurück und feuern die Raketen ab.« Alba grinste. Es war allgemein bekannt, wie sehr er die Yanquis hasste. »Wann erwarten Sie den Angriff der Amerikaner - falls er stattfindet?« »Sie werden es zuerst auf diplomatischem Weg versuchen. Erst wenn sie damit scheitern, ist mit eine m Militäreinsatz zu rechnen.« »Ich möchte die Truppenverschiebungen trotzdem so schnell wie möglich vornehmen.« »Auf jeden Fall«, erwiderte Vargas. »Das Fernsehen wird -412-
dabei sein und filmen, wie Ihre Leute Stellung beziehen, um ihre Heimat zu verteidigen.« »Und die Raketen? Werden wir auch die Raketen im Fernsehen zeigen?« »Selbstverständlich. Kuba ist heute eine Nation, deren Souveränität anerkannt wird. Seit der Krise von 1962 hat sich die Welt stark verändert. Wir haben das Recht, uns zu verteidigen, und das werden wir auch tun, falls es notwendig ist. Wenn die Amerikaner auch nur den kleinen Finger gegen uns erheben, wird sich das kubanische Volk geschlossen um uns scharen.« Während Vargas mit seinen Militärs sprach, beharrten die Berater des Präsidenten der Vereinigten Staaten darauf, diplomatische Schritte zu unternehmen, bevor militärische Optionen erwogen wurden. »Zuerst müssen wir die Vereinten Nationen anrufen«, erklärte die Außenministerin mit Nachdruck. »Und was ist, wenn sie uns nicht unterstützen?«, gab der Präsident zu bedenken. »Wir benötigen politische Rückendeckung«, erwiderte die Außenministerin hitzig. »Ein durchaus beachtlicher Teil der amerikanischen Bevölkerung hält Castro für eine Art Helden, einen Fürsprecher der Unterdrückten, dem wir unfairerweise Knüppel zwischen die Beine geworfen haben. Dass er ein absoluter Diktator ist, der sich einen Dreck um Menschenrechte schert, wird von der politischen Linken geflissentlich ignoriert. Und schließlich gibt es auch noch das Problem eigener Verluste - die Bürger werden es nicht tolerieren, wenn unsere Soldaten im Ausland für Ölfelder oder Firmenprofite das Leben verlieren.« »Bullshit!«, knurrte General Totten. »Ich bin es wirklich Leid, mir von Kriegsdienstverweigerern, die sich vor dem Vietnamkrieg gedrückt haben, anhören zu müssen, dass -413-
Amerikaner nicht den Mut haben, die Zivilisation zu verteidigen.« »Ich habe mich nicht gedrückt!«, schrie die Außenministerin mit vor Zorn gerötetem Gesicht. Ihre Wangen bebten. »Ich verlange augenblicklich eine formelle Entschuldigung!« »Halten Sie den Mund, Sie beide«, grollte der Präsident. »Ich entschuldige mich«, murmelte Totten. Es klang beinahe, als ob er es ernst meinte. Seit er darauf bestanden hatte, über das Problem der kubanischen Raketen zu diskutieren, bevor andere Aspekte der Krise auf den Tisch kamen, hatte sein Präsident angestrengt nachgedacht. Sechs Raketen, bestückt mit biologischen Sprengköpfen, die auf den Südosten der Vereinigten Staaten gerichtet waren - kubanische Raketen waren heute nicht weniger gefährlich als zur Amtszeit von John F. Kennedy. Sollten die Vereinten Nationen dem Antrag der amerikanischen Regierung nicht nachkommen, würde der Präsident schlechter als bei einem sofortigen, nicht sanktionierten Militärschlag dastehen. Auch das Labor und die Produktionsanlagen für biologische Kampfstoffe bereiteten ihm Sorgen. Wenn die Kubaner wirklich Polioviren produzieren und mit einem Treibgas kombinieren konnten, stellte jedes Flugzeug, das in der Lage war, die Meerenge von Florida zu überqueren, eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten dar. Nachdem die Fernsehansprache von Alejo Vargas übersetzt und dem Nationalen Sicherheitsrat vorgespielt worden war, bestand für den Präsidenten kaum noch ein Zweifel daran, dass die amerikanische Bevölkerung die Präsenz der Waffen auf kubanischem Territorium mit Empörung zur Kenntnis nehmen würde. Seine Bedenken wurden bereits durch die Reaktionen jener Kongressabgeordneten und Senatoren bestätigt, die die Ansprache gehört hatten. Er wandte sich wieder an General Totten. »Ich kriege schon -414-
das kalte Grausen, wenn ich nur über diese Sache nachdenke. Erzählen Sie mir, was wir tun können, um zu verhindern, dass die Kubaner diese Raketen abfeuern.« »Sir, der beste Weg ist der, gegen die Silos, das Labor und die Fertigungsanlagen vorzugehen, und zwar so schnell wie irgendwie möglich, bevor die Kubaner ihre Truppen zusammenziehen können, um die Angriffsziele zu verteidigen.« »Wann wäre das?« »Morgen Nacht, frühestens. Jeder Tag, den wir uns Zeit lassen, ermöglicht es uns, mehr Schlagkraft zu mobilisieren. Andererseits erhöht jeder Tag, den wir warten, das Risiko. Vargas könnte bereits morgen Streitkräfte zu den Zielorten schicken, die ihm heute noch nicht zur Verfügung stehen. Oder er könnte Wind von unseren Plänen bekommen und sich entscheiden, die Verbreitung von Polioviren über den Vereinigten Staaten anzudrohen. Per Flugzeug, per Rakete oder auch mit einer simplen Sprühbombe in einem Aktenkoffer, die Gott weiß wo losgeht.« »Also, warum schlagen wir dann nicht morgen Nacht zu?« »Wir müssen erst genügend Leute und Feuerkraft vor Ort schaffen, um den Job bewältigen zu können. Es ist eine nette kleine Rechenaufgabe.« »Wollen Sie, dass ich diese Entscheidung treffe?« »Ich kann Ihnen nur empfehlen, die Entscheidung Ihrem militärischen Experten vor Ort zu überlassen, Konteradmiral Jake Grafton. Er hat dreißig Jahre lang die Uniform getragen, um sich auf diesen Moment vorzubereiten.« Der Präsident murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. »In der kommenden Nacht werden wir zwei Aegis-Kreuzer in der Meerenge zwischen Kuba und Florida positionieren«, fuhr der Oberkommandierende der Streitkräfte fort. »Jake Grafton hat das auf eigene Initiative hin veranlasse Guter Mann. Die -415-
Kreuzer verfügen über die nötigen Waffensysteme, um die von Kuba aus startenden Raketen aus der Luft zu holen.« »Wissen die Kubaner das auch?« »Das können wir nicht ausschließen - derartige Informationen sind eigentlich jedermann zugänglich -, aber ich bezweifle, dass Alejo Vargas detaillierte Kenntnisse über die Möglichkeiten der US-Navy besitzt.« »Das hoffen Sie - falls es aber nicht so ist, dann könnten die Kubaner die Raketen abfeuern, bevor die Kreuzer auf Position sind.« Totten nickte. »Dieser Grafton… Mir ist zu Ohren gekommen, dass er ziemlich eigensinnig sein soll. Führt Befehle nicht aus, ist kein guter Teamspieler.« »Ich weiß nicht, wer das verbreitet hat. Grafton ist der beste Mann, den wir haben. Krieg ist sein Beruf. Gegen ihn ist Alejo Vargas ein blutiger Amateur, der Krieg spielen will, und das ist ein großer Unterschied.« »Grafton hat Feinde.« »Wer hat die nicht?« »Was ist, wenn die Kubaner ihre Raketen abfeuern und die Kreuzer sie nicht erwischen?« »Dann fliegt die Scheiße in den Ventilator, Mr. President. Amerikaner würden sterben, viele vermutlich. Sie müssten sich dann entscheiden, wie viel Sie von Kuba noch übrig lassen wollen.« »Wir werden eine Pressekonferenz abhalten, als Reaktion auf Vargas' Ansprache.« »Ich würde das Thema biologische Waffen nicht ansprechen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre«, riet Totten. »Lassen Sie die Öffentlichkeit ruhig in dem Glauben, dass die kubanischen Raketen noch immer mit atomaren Gefechtsköpfen bestückt -416-
sind. Vor Viren haben die Leute mehr Angst als vor Bomben, vielleicht weil man sie nicht sehen kann. Außerdem haben wir fünfzig Jahre mit der Bombe gelebt. Sollte das mit den Viren publik werden, würde es zu einer Massenpanik kommen, wobei Übergriffe auf die Latinobevölkerung nicht auszuschließen sind.« Der Präsident schürzte nachdenklich die Lippen. Autrey James, Petty Officer Third Class der US-Navy, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, von seinem Posten aus durch die Kabinentür des Hubschraubers die Meeresoberfläche zu beobachten. Es erfüllte ihn mit einem gewissen Stolz, dass er auf diese Weise einmal zwei Fischern das Leben gerettet hatte, deren Boot vor Long Island gekentert war. Diese Tat hatte ihm eine Auszeichnung eingebracht, und außerdem waren sein Foto und sein Name in allen möglichen Zeitungen aufgetaucht. Doch am bemerkenswertesten war für ihn die Reaktion seiner Großmutter gewesen, als sie davon gelesen hatte. »Du rettest Menschen das Leben, Autrey. Was für ein toller Beruf!« Großmutters Kommentar hatte dazu geführt, dass er seither ständig die Augen offen hielt, sobald der Kopter abhob. Vielleicht würde der Tag kommen, an dem er wieder jemandem das Leben rettete. So kam es, dass Autrey die Piloten über den internen Bordfunk auf das winzige Objekt aufmerksam machte, das auf der Meeresoberfläche trieb. »Yo, Mr. P. - ich sehe einen Menschen im Wasser, auf zehn Uhr, Entfernung zwei Meilen«, meldete Autrey James. »Wollen Sie mich verarschen, James? Auf die Entfernung können Sie so was unmöglich erkennen!« »Es sieht wie ein Mensch aus, Sir. Aber natürlich kann ich mich irren.« »Gut, wir machen einen Schwenk und schauen uns die Sache -417-
mal aus der Nähe an.« Der Helikopter war eine SH-60B Seahawk und gehörte zum Inventar der USS Hue City, einem der beiden Aegis-Kreuzer, die Jake Grafton im Eiltempo Richtung Nordwest geschickt hatte. Derzeit rasten die beiden Schiffe rund fünfundzwanzig Meilen östlich von der derzeitigen Position der Seahawk Bug an Bug in einer Meile Abstand zueinander mit einer Geschwindigkeit von zweiunddreißig Knoten auf ihr Ziel zu. Die Seahawk war auf Befehl des Kommandanten der Hue City aufgestiegen, einerseits um der Mannschaft Flugzeit zu verschaffen, andererseits um zu beobachten, was sich hinter dem Horizont tat, außerhalb der Reichweite des Oberflächenradars der Schiffe. »Ich pisse mir freiwillig in die Stiefel, James, wenn das nicht ein Schiffbrüchiger ist. Was meinen Sie, lebt er noch?« »Der Kopf ist noch über Wasser, Mr. P. Wenn Sie mich ranfliegen, kann ich den Korb runterlassen.« Der Korb war genau das, was die Bezeichnung suggerierte: ein Drahtkorb, der mit der Seilwinde heruntergelassen werden konnte. Der Schiffbrüchige musste nur aus eigener Kraft hineinklettern, um von James an Bord gezogen zu werden. Doch der Mann machte keine Anstalten, das zu tun, als der Korb direkt vor ihm dicht über der Wasseroberfläche hin und her pendelte. »Mr. R, er kriecht nicht rein«, meldete Autrey dem Piloten. Er hatte sich weit aus der Tür gelehnt, um den Schiffbrüchigen im Auge behalten zu können. »Vielleicht ist er tot.« »Das glaube ich nicht. Hält den Kopf schö n über Wasser. Tote tun das nicht.« »Wollen Sie abspringen, um ihm zu helfen?« »Sofort, wenn's nach mir geht«, sagte Autrey. Der Pilot ließ -418-
die Maschine sinken, bis sie knapp über der Wasseroberfläche schwebte. James sprang ins Wasser. Ein Blick in das Gesicht des Mannes verriet ihm, dass er an der Schwelle des Todes stand und zu schwach war, aus eigener Kraft in den rettenden Korb zu klettern. James zerrte eine Weile an ihm herum und schaffte es schließlich, den Schiffbrüchigen in den Käfig zu bugsieren. Sein Kamerad betätigte die Winde, um den Korb hochzuziehen und anschließend noch einmal herunterzulassen. Als James wieder in der Kabine saß und den Helm aufgesetzt hatte, informierte er den Piloten. »Mr. R, wir müssen sofort zurückfliegen. Der Typ hier ist in einer verdammt schlechten Verfassung, seine Augen starren bereits ins Leere.« »Geben Sie ihm Wasser.« »Ich versuch's, aber er braucht dringend einen Arzt.« Autrey James beugte sich über den Schiffbrüchigen, dessen Haut sich eiskalt anfühlte. Er musste brüllen, um den Lärm der Maschine zu übertönen. »Hey, Mann, du bist ein echter Glückspilz, weißt du das? Halt nur noch ein paar Minuten durch, dann hast du es geschafft!« »Decken!«, rief er seinem Kameraden zu. Gemeinsam packten den Schiffbrüchigen warm ein. »Gracias«, krächzte Ocho Sedano und versuchte zu lächeln. Dann übermannte ihn die Erschöpfung, und er wurde ohnmächtig. Der Schlachtverband des Flugzeugträgers ging im Morgengrauen auf Kurs. Die Kearsarge blieb in der Bucht von Guantánamo, um die Marineinfanteristen aufzunehmen, die das Lagerhaus Nummer neun bewacht hatten. Am Nachmittag würde man die letzten Gefechtsköpfe an Bord des Frachtschiffs bringen, und die Kearsarge sollte zum selben Zeitpunkt ablegen, -419-
an Bord alle 1.900 Marines. Die Schiffe entfernten sich von Guantánamo in südlicher Richtung; ungefähr eine Stunde lang konnte man vom Deck aus die südlichen Hügel Kubas sehen, dann sanken sie unter den Horizont. Danach gab es in allen Himmelsrichtungen nur noch das endlose Meer, ständig in Bewegung und doch immer gleich. Eine E-2 Hawkeye verließ das Flugdeck des Trägers, um mit ihrem Radar auf eine Höhe von 20.000 Fuß zu steigen. Alles, was ihr Frühwarnsystem aufzeichnete, wurde an die Bordcomputer des Flugzeugträgers weitergeleitet, wo die Spezialisten der Luftaufklärung die taktische Lage analysierten. Toad Tarkington nahm Jake zur Seite, um ihm die letzte Mitteilung des Nationalen Sicherheitsrates zu zeigen. Man erteilte ihm den Befehl, die Viren im Labor der Universität von Havanna zu vernichten, die Fertigungsanlagen für die biologischen Gefechtsköpfe ausfindig und unbrauchbar zu machen, die Raketen aufzuspüren und nach Demontage der Gefechtsköpfe in ihren Silos zu zerstören. »Mehr konnte ihnen wohl nicht einfallen, was?«, kommentierte Toad, während Jake die Mitteilung durchlas. »Wo, zum Teufel, ist die Fertigungsanlage?«, knurrte Jake. Er suchte William Henry Chance, um ihm dieselbe Frage zu stellen. Schließlich fand er ihn in der Messe, wo Chance mit Tommy Carmellini Kaffee trank. Um zehn Uhr vormittags war die Messe bis auf die beiden Agenten menschenleer. »Wissen Sie vielleicht, wo wir diese Anlage zur Herstellung biologischer Gefechtsköpfe finden können?«, erkundigte sich Jake. »Setzen Sie sich doch, Admiral. Ich spendiere Ihnen auch eine Tasse Navy-Kaffee.« Jake setzte sich und wiederholte seine Frage, während Carmellini ihm eine Tasse Kaffee besorgte. »Die Anlage muss irgendwo zwischen dem -420-
Forschungsgebäude und den Silos liegen«, vermutete Chance. »So verrückt kann eigentlich niemand sein, dass er das Zeug meilenweit durch die Gegend karren will. Schließlich besteht immer das Risiko eines Verkehrsunfalls…« Jake Graftons Brauen zogen sich zusammen. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Angenommen, Sie wollten Polioviren transportieren, welchen Fahrzeugtyp würden Sie verwenden?« Chance zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, gestand er. »Ich denke schon seit fünf Stunden darüber nach, und ich glaube, ich habe eine Idee. Wir lassen die Daten gerade durch die Computer der Aufklärung laufen. Mal sehen, was dabei herumkommt.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Wären Sie bereit, mich an Ihrem Geistesblitz teilhaben zu lassen?« »Ich würde Milchtransporter verwenden - sauber, steril und hermetisch abgedichtet. Eine Molkerei besitzt genau die sterile Umgebung, in der man die Viren mit einem Trägermaterial binden kann, womit man dann die Gefechtsköpfe bestückt.« Jake machte kehrt und verließ gerade die Messe, als Carmellini mit einer frischen Tasse Kaffee zurückkam. »Der ist aber nicht lange geblieben.« »Nein«, brummte Chance und nippte an dem Kaffee, den Carmellini aus dem Thermosbehälter am anderen Ende des Raumes geholt hatte. »Glauben Sie, dass Grafton dieser Aufgabe gewachsen ist?«, fragte Carmellini. »Ja. Ich denke, das ist er.« Es gab drei Molkereien, die nach Jakes Theorie in Frage kamen. Sie lagen zwischen Havanna und dem ersten Raketensilo auf einer gedachten Linie, die vierzig Meilen östlich von -421-
Havanna begann und nach Osten verlief. Die Entfernung der Silos zu dieser Linie betrug rund fünfzehn Meilen. »Kühe. Sehen Sie nach, ob es Kühe in der Nähe gibt.« »Wann?« »Auf dem aktuellsten Satellitenfoto. Wann immer es angefertigt wurde.« Bei zwei der Molkereien fanden sich auf den angrenzenden Weiden keine Viehherden, also strich man die verbleibende Molkerei von der Liste. Die beiden anderen wurden von den Nachrichtendienstlern des Flugzeugträgers und den Spezialisten der NSA in Maryland genauestens anhand der Satellitenfotos analysiert und die Erkenntnisse über verschlüsselte, satellitengestützte Telefonverbindungen ausgetauscht. Schließlich kamen die Experten einhellig zu der Ansicht, dass beide Molkereien als potenzielle Fertigungsanlage für die Gefechtsköpfe in Frage kamen. »Nehmen wir halt beide aufs Korn«, schlug Jake Grafton vor. Gegen drei Uhr nachmittags hatten der Stab und die Flugleitung bereits eine Mannschaftsliste erstellt. Aus militärischer Sicht handelte es sich bei der Zerstörung der acht Ziele um eine recht einfache Aufgabe. Das Labor und die Molkereien konnten ohne Probleme aus der Ferne mit Tomahawk-Raketen ausgeschaltet werden. Dasselbe galt mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Raketensilos, deren betonierte Struktur noch aus jenen Tagen stammte, als derartige Anlagen in erster Linie vor Luftangriffen mit abgeworfenen Bomben geschützt werden mussten. Mit ihrer enormen Wendigkeit und der Fähigkeit, drei bis vier Meter dicke Stahlbetonwände zu durchdringen, waren die Tomahawks die idealen Waffen für einen solchen Einsatz. Trotzdem schieden sie für diesen Auftrag aus. Der Präsident hatte es strikt abgelehnt, die Verantwortung für einen Angriff auf die Silos zu übernehmen, bei dem auch nur die minimale -422-
Wahrscheinlichkeit bestand, dass Polioviren in die Atmosphäre gelangen und vielleicht Zehntausende Kubaner im Schlaf töten könnten. Ein solcher Zwischenfall barg politischen Zündstoff, dessen Konsequenzen kaum abzuschätzen waren. Nein, sagten die Politiker. Amerikanische Truppen würden ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, um auszuschließen, dass es zu einer solchen Katastrophe kam. Und wie Jake Grafton genau wusste, würde es tatsächlich darauf hinauslaufen, dass einige dieser Soldaten ihr Leben verloren. Er hatte die Maschinerie bereits in Gang gesetzt. Schon im Vorfeld waren Mitteilungen an andere militärische Kommandoeinheiten ergangen, in denen er sie um die von ihm als erforderlich erachtete Rückendeckung bat. Die involvierten Stäbe mussten zwar noch Tausende von Details ausarbeiten, aber die Maschinerie war angelaufen. Für Jake bestand die Hauptaufgabe jetzt darin, den exakten Zeitpunkt festzulegen, an dem der Schlag erfolgen sollte. Noch hatten sein Team und er keine endgültige Entscheidung gefällt. Jake stand in der Einsatzplanungszentrale und studierte die an der Wand befestigten Karten von Kuba. Captain Gil Pascal, der Chief of Staff, vertrat die Ansicht, dass sie noch warten sollten, bis sie die aktuelle Lage einschließlich etwaiger Truppenverschiebungen anhand der von ihren U-2Aufklärungsflugzeugen geschossenen Fotos beurteilen konnten. »Vargas hat heute eine Ansprache gehalten«, erwiderte Jake. Die Rede war bereits einige Male sowohl im Original als auch in Übersetzung ausgestrahlt worden; bei einer der Sendungen hatte Jake sogar die Arbeit unterbrochen, um sich die Ansprache anzusehen. »Die Hue City und die Guilford Courthouse sind mit voller Kraft auf dem Weg zur Straße von Florida«, sagte Toad Tarkington. »Genau wie unser Verband. Wenn die Kubaner von diesen Schiffsbewegungen Wind bekommen, müssen sie nur eins und eins zusammenzählen und losschlagen. Vermutlich -423-
können sie die vie rundzwanzig Stunden Vorsprung besser nutzen als wir.« »Das ist der Haken, nicht wahr?«, kommentierte Jack, während er die Karten betrachtete und darüber nachdachte, was in diesem Fall geschehen konnte. Natürlich würde es Pannen geben. Leute, die die falschen Ruffrequenzen benutzten, sich an den falschen Ort begaben, oder sonst etwas falsch machten. Trotzdem war es letztlich eine einfache Mission. Das eigentliche Problem, dachte Jake, liegt in dem, was danach kommt. Was soll ich tun, wenn meine Truppen mehr Probleme bekommen, als sie bewältigen können? Wie soll ich sie da rausholen? Wie willst du das Ziel dann zerstören? Er ließ sich über das Satellitentelefon mit dem Pentagon verbinden. Von dort aus wurde das Gespräch über Land an General Totten im Weißen Haus weitergeleitet. »Da wären noch zwei Punkte, Sir«, sagte Jake nach den üblichen Begrüßungsfloskeln. »Zunächst geht es um den Vorschlag, die Aktion so lange zurückzustellen, bis wir einige Patriot-SAM-Batterien nach Südflorida verlegt haben. Wenn wir eine der kubanischen Raketen über Südflorida abschießen, wäre es denkbar, dass die Viren Richtung Tampa oder Miami geweht werden. Deshalb glaube ich nicht, dass wir etwas gewinnen, wenn wir erst auf die Patriots warten.« »Wir sind hier zu derselben Ansicht gelangt, es war eine ziemlich vehemente Debatte darüber in Gang. Was ist mit dem zweiten Punkt?« »Meiner Ansicht nach hängt der Erfolg der Mission primär davon ab, ob wir wirklich den festen Willen haben, alles zu tun, was erforderlich ist, um diese Mission zu einem Erfolg zu führen.« »Der Präsident hört mit. Erläutern Sie das genauer.« -424-
»Wie ich es sehe, General, haben wir entweder die Wahl zu warten, bis wir überzeugt sind, die Sache durchziehen zu können, oder wir schlagen sofort zu, bevor die Kubaner ihre Truppen bei den Silos stationiert haben. Das Labor in Havanna ist weitaus problematischer als die anderen Ziele. Also sollten wir es uns erst vornehmen, nachdem die Raketen zerstört worden sind.« »Okay.« »Wenn unsere Truppen bei den Silos auf mehr Widerstand stoßen als erwartet, müssen wir sie entweder rausholen oder Verstärkung schicken. Wenn wir sie rausholen, haben wir das Problem mit den Silos nicht gelöst und zudem den Kubanern einen Sieg in einem Konflikt beschert, den wir unter keinen Umständen verlieren dürfen.« »Was schlagen Sie vor?« »Wir können nicht einfach später noch einmal mit mehr Truppen wiederkommen, denn wir haben nur einen Versuch. Ich schlage vor, dass Sie mich autorisieren, jedes mir angemessen erscheinende Mittel einzusetzen, mit Ausnahme nuklearer Waffen natürlich.« »Ich werde weder ihm noch sonst irgendjemandem einen Freibrief für Aktionen geben, die das Risiko einer katastrophalen Freisetzung toxischer Substanzen nach sich ziehen könnten«, hörte Jake die laute Stimme des Präsidenten im Hintergrund. »Auf keinen Fall.« »Wir rufen später zurück«, sagte General Totten und trennte die Verbindung. Mercedes blieb bei Doña Maria Vieuda de Sedano, um für sie zu kochen, zu waschen und zu erledigen, was sonst notwendig war. Sie hatte schon mehrmals einige Zeit bei ihrer Schwiegermutter verbracht, nachdem ihr Mann Jorge gestorben war; glücklicherweise verband eine tiefe Zuneigung die beiden -425-
Frauen. Zusammen mit Doña Maria nahm sie das Mittagessen auf der Veranda des kleinen Hauses ein, wo eine angenehm kühle Brise vom Meer herüberwehte. Heute war der Wind recht stark, bewegte die Palmenblätter und ließ das Zuckerrohr rascheln. Schäfchenwolken jagten über den Himmel und warfen dabei bedrohliche Schatten. Doña Maria hatte sich für ein Nickerchen ins Haus zurückgezogen, und Mercedes nähte eine Bluse zusammen, als sie eine schwere Limousine bemerkte, die am Straßenrand anhielt. Maximo sprang aus dem Wagen und lief den kurzen Gehweg entlang, blieb vor der Treppe und musterte Mercedes. »Ich habe mir gedacht, dass ich dich hier finden würde«, sagte er. »Mima schläft.« »Ich wollte dich sehen.« Sie nickte, ohne ihre Näharbeit zu unterbrechen. Maximo blieb auf dem von struppigem Gras bewachsenen Vorplatz und ging um die Veranda herum, so dass das Geländer zwischen ihnen war. »Vargas hat heute Morgen eine Rede gehalten. Sie wurde im Fernsehen übertragen.« »Hmm«, machte Mercedes. Doña Maria besaß keinen Fernseher, wie Maximo genau wusste. »Er ist jetzt der Präsident.« »Ich hab es gehört.« »Hat er tatsächlich Fidel umgebracht?« »Nein.« Der Faden riss. Mercedes nahm die Spule aus dem Korb und fädelte das Ende des Zwirns erneut in die Öse ein. »Hättest du es mir gesagt, wenn er ihn getötet hätte?« -426-
»Warum bist du gekommen, Maximo?« »Ich brauche deine Hilfe.« Sie verknotete den Faden und machte sich daran, den nächsten Saum zu nähen. »Du hast keine hohe Meinung von mir, nicht wahr?« »Ich habe überhaupt keine Meinung von dir.« Er lehnte sich auf das Geländer und verschränkte die Arme. »Wo hat Fidel das Gold versteckt?« »Ich wusste gar nicht, dass er Gold hatte«, sagte sie, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu nehmen. »Er hatte nicht mal Goldfüllungen in den Zähnen, soweit ich weiß.« »Ich spreche von den Goldpesos, die die Regierung nach der Revolution eingesammelt hat - von dem Gold.« »Ich habe keine Ahnung.« »Das nehme ich dir nicht ab. Ich glaube, dass Fidel es dir gesagt hat.« »Glaub, was immer du willst.« »Ich glaube nicht, dass er ein solches Geheimnis mit ins Grab genommen haben soll.« »Maximo, sieh mich an. Wenn ich die Taschen voller Gold hätte, würde ich dann hier am Rande der Straße nach Varadero hocken, auf der Veranda einer kleinen, fünfundneunzig Jahre alten Hütte mit löchriger Decke, um mir eine Bluse zu nähen?« »Ich glaube ja nicht, dass du es hast… nur, dass du weißt, wo es ist.« Sie rümpfte verächtlich die Nase und widmete sich wieder Nadel und Faden. »Ich weiß, dass du das Gold nicht für dich willst. Aber ich brauche es. Nicht alles, nur ein bisschen davon. Ich muss Kuba verlassen.« Eine Haarsträhne fiel Mercedes ins Gesicht. Sie strich sie -427-
zurück. »Wir könnten zusammen weggehen, Mercedes, wenn wir etwas von dem Gold hätten. Du könntest gehen, wo immer du hinwillst, ohne dir Sorgen machen zu müssen, ohne Angst, ohne Not, für den Rest deines Lebens. Denk mal darüber nach. Ein neues Leben, ein neuer Anfang. Wie lange willst du den Dreck, die Hitze und die Armut denn noch ertragen?« »Vergiss das Gold, Maximo. Falls es wirklich existiert, ist es nicht für dich bestimmt.« Er zog sich von der Veranda zurück und ließ den Seewind mit seinem Haar spielen. »Lass es dir einmal durch den Kopf gehen«, sagte er. »Vargas ist kein Narr, er hat es ebenfalls auf das Gold abgesehen. Eines Tages wird er Santana zu dir schicken, um dich danach zu fragen. Überleg dir genau, was du ihm sagst, wenn er kommt.« Er kehrte zu der wartenden Limousine zurück. Der Fahrer wendete den Wagen und fuhr in Richtung Havanna davon. Jake wartete auf die Rückmeldung des Oberbefehlshabers der Streitkräfte aus dem Weißen Haus. Außer ihm war nur Toad Tarkington anwesend. »Was wollen Sie von ihm, Admiral?« »Ich möchte die Genehmigung, alle notwendigen Schritte zur Zerstörung der Viren unternehmen zu dürfen«, erklärte Jake Grafton. »Wenn das große Schießen beginnt, müssen wir als Sieger daraus hervorgehen.« »Und was gedenken Sie zu tun, falls Ihnen der Präsident diese Genehmigung nicht erteilt?« »Das ist sein gutes Recht. Wir werden in jedem Fall unser Bestes geben, und wenn wir sehen, dass es ohne Tomahawks oder lasergestützte Waffen nicht geht, werden wir ihn davon in Kenntnis setzen.« -428-
»Wo liegt eigentlich das Problem?«, fragte Toad Tarkington. »Wenn ein Giftstoff freigelassen wird, kann man ihn dafür nicht verantwortlich machen. Fidel Castro und Alejo Vargas sind die bösen Buben. Es ist schließlich ihr Land.« Jake schüttelte den Kopf. »Sollten Toxine über Amerika freigesetzt werden, muss er nachweisen können, dass er alles nur Menschenmögliche getan hat, um diese Gefahr abzuwenden. Wenn die Bombe dagegen über Kuba hochgeht, dann… nun dann muss er der Welt ze igen, dass er alles getan hat, was in seiner Macht stand, um es zu verhindern und gleichzeitig die Bedrohung von den Vereinigten Staaten abzuwenden. Der springende Punkt ist die Abwehr der Bedrohung, und ich hoffe, dass die in Washington das kapieren.« Er schlug mit der Hand gegen die Wand. »Verdammt, wir bekommen nur eine Chance, gegen diese Viren vorzugehen.« »Ich frage mich, ob irgendjemand in Washington an die Schweinebucht denkt«, murmelte Toad. »Damals ist es zum Debakel gekommen, weil Kennedy nicht bereit war, genügend Ressourcen zu mobilisieren.« »Ich habe schon darüber nachgedacht«, sagte Jake Grafton. Das Telefon klingelte. General Totten meldete sich. »Admiral, lassen Sie es mich so formulieren: Ihre Mission besteht darin, die Gefahr zu eliminieren, die den Vereinigten Staaten droht. Zur Durchführung dieser Mission erhalten Sie die Weisung, alles zu tun, was in Ihrer Macht steht, um zu verhindern, dass Toxine über Kuba freigesetzt werden. Sie erhalten die Erlaubnis, dabei alle verfügbaren Waffensysteme einzusetzen, mit Ausnahme nuklearer oder CBW-Waffen. Des Weiteren können Sie Unterstützung von allen Truppenteilen der amerikanischen Streitkräfte anfordern.« »Ja, Sir.« »Sie erhalten diese Mitteilung so schnell wie möglich in schriftlicher Form.« -429-
»Ja, Sir. Ich danke Ihnen und dem Präsidenten. Wir werden unser Bestes tun.« »Das weiß ich, Seemann. Wann werden Sie losschlagen?« »Morgen Nacht, Sir. Unter Berücksichtigung aller abzuwägenden Faktoren erscheint mir das der geeignetste Zeitpunkt zu sein.«
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18 Die Wolkendecke über Kuba war typisch für diese Jahreszeit. Nach Sonnenaufgang ließen die vorherrschenden Westwinde Kumuluswolken über den sich erwärmenden Landmassen entstehen. Je länger sich diese Wolken über dem Land hielten, desto größer wurden sie. In der Gegend östlich von Havanna, wo die Amerikaner die Raketensilos und die Fertigungsanlage für die Biowaffen vermuteten, bedeckten die Wolken um zehn Uhr morgens durchschnittlich bereits vierzig bis fünfzig Prozent des Himmels, genug also, um Luftaufnahmen dieser Gegend durch Satelliten oder U-2-Flugzeuge zu vereiteln. Dies galt allerdings nicht für Infrarotfotografie und auch nicht für die gebündelte Radarabtastung durch E-3 Sentry AWACS der Airforce. General Alba wusste nichts von der erhöhten Aufmerksamkeit, die die Amerikaner der Insel zukommen ließen, als er sich an diesem Morgen mit Alejo Vargas traf und anschließend Truppen und Panzer bei den Silos Stellung beziehen ließ. Von den acht Silos waren nur noch sechs in Betrieb, da man zwei der Raketen im Laufe der Jahre ausgeschlachtet hatte, um Ersatzteile für die anderen zur Hand zu haben. Wenn Vargas und Alba gewusst hätten, was auf sie zukam, wären sie vielleicht auf die Idee gekommen, alle acht Silos bewachen zu lassen, um so die Kräfte der Amerikaner stärker aufzuspalten. Doch wie die Dinge standen, dachten sie nicht einmal daran. Die Sonne stand gerade erst zwei Stunden am Himmel, als zwei C-130 Hercules auf dem Marineflugplatz in Key West, Florida, landeten. Von dem für Zivilisten zugänglichen Teil des -431-
Flugplatzes aus beobachtete eine Reihe von Leuten, wie die »Hercs« am Ende des Rollfeldes abgestellt wurden. Kurz darauf tauchte Navy-Personal auf, um die beiden Flugzeuge zu entladen. Die Zivilisten wussten nicht, was die Paletten und Kanister enthielten, so dass sie bald das Interesse verloren und sich zerstreuten. Vier Marineinfanteristen in voller Kampfmontur bezogen Stellung, um den Abtransport zu überwachen. Unter anderem bestand die Fracht aus 20-MillimeterMunition für Kleingeschütze, Hellfire-Marschflugkörpern, Flammenwerfern und 2,75-Zoll- Raketen, aber auch aus Werkzeug und Ersatzteilen für die AHIW-Super-Cobras des Marine Corps. Zwei Stunden nach der Landung der Hercs trafen die ersten beiden Super-Cobras auf dem militärischen Teil des Flughafens ein, und gegen Mittag standen insgesamt sechzehn der mit gefleckten, grünen Tarnanstrichen versehenen Maschinen am Ende des Rollfeldes. Die aus jeweils zwei Marines bestehenden Besatzungen verließen die Basis nicht, sondern begaben sich zu einer Besprechung, die in einem ziemlich heruntergekommenen, stillgelegten Hangar stattfand. Gut eine Stunde später trafen zwei weitere C-130 ein, die ebenfalls die Kennung der Navy trugen. Sie wurden in der Nähe der beiden anderen Maschinen abgestellt. Während sie betankt wurden, stieg ein voll ausgerüsteter Trupp Marines aus. Einige von ihnen entfernten sich, um in sicherem Abstand von den Tankwagen eine Zigarette zu rauchen; bald darauf wurden sie mit warmem Essen versorgt. Gegen Mittag kam es in Kuba zu verstärkten Bewegungen von Truppen, Panzern und Transportern, wobei Straßen blockiert und Verkehrsstaus verursacht wurden. Am frühen Nachmittag hatten die Besatzungen der Aufklärungsflugzeuge -432-
vom Typ E-3 Sentry die NSA alarmiert. Diese gab die Information sofort an die USS United States weiter. Jake Grafton begab sich in das Nachrichtenzentrum des Flugzeugträgers, um zu sehen, was die Computer an neuen Daten gesammelt hatten. Zunächst ließ er sich eine mündliche Zusammenfassung geben, die er mit einem gemurmelten »Verdammt!«, kommentierte. Dann überflog er die Ausdrucke und fragte: »Wie viel Schlagkraft haben sie mobilisiert, und wann werden sie am Zielort eintreffen?« In New York stattete die UNO-Botschafterin der Vereinigten Staaten dem kubanischen Botschafter einen Besuch ab. »Meine Regierung hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass wir einen Angriff auf die Vereinigten Staaten mit Biotoxinen in welcher Form auch immer mit massiven Vergeltungsschlägen erwidern werden«, sagte die Amerikanerin nach Austausch einiger Höflichkeiten unverblümt. »›Massive Vergeltungsschläge‹?« Die Augen des Kubaners weiteten sich. »Was habe ich darunter zu verstehen?« »Sir, ich wurde beauftragt, Ihnen diese Information zu übermitteln, und nicht, sie zu erläutern. Hier steht es noch einmal schwarz auf weiß.« Sie händigte dem Kubaner ein Dokument aus und ließ ihn damit allein. Am Nachmittag hatte die USS Hue City bereits die Hälfte der Strecke von Kuba nach Key West zurückgelegt und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von zehn Knoten voran. Als Ocho am Nachmittag aus einem tiefen Schlaf erwachte, fand er sich in einem kleinen Krankenzimmer wieder. Zwei Infusoren versorgten seinen Blutkreislauf mit Medikamenten, doch er konnte nicht richtig sehen, alles wirkte unscharf. -433-
Ein Arzt bemerkte, dass der Schiffbrüchige erwacht war, und trat an sein Bett. Kurz darauf gesellte sich ein Soldat zu ihm, der Spanisch sprach und deshalb als Dolmetscher fungierte. »Ihren Augen ist das Salzwasser nicht gut bekommen, aber das wird sich bald wieder geben. Können Sie uns Ihren Namen sagen, Señor?« »Juan Sedano«, flüsterte Ocho, da er noch nicht die Kraft hatte, laut zu sprechen. »Ich werde El Ocho genannt.« »Und wo kommen Sie her?« »Kuba.« »Wie lange waren Sie im Meer?« »Zwei Tage und zwei Nächte, glaube ich. Bin mir nicht sicher. Vielleicht länger.« Der Arzt verabreichte ihm Augentropfen, während die Befragung weiterging. Nachdem Ocho einige Male kräftig geblinzelt hatte, konnte er etwas besser sehen. Der Arzt begutachtete seine Finger und die Hornhaut. Er entfernte ein abgestorbenes Stück Haut. Dann lächelte er Ocho an. »Sie haben sehr viel Glück gehabt.« Der Soldat übersetzte. »Wo bin ich?«, wollte Ocho wissen. »Auf der Hue City, einem Schiff der US-Navy. Man hat Sie mit einem Hubschrauber gerettet. Der Mann, der Sie im Wasser entdeckt hat, möchte Ihnen die Hand schütteln, sobald Sie aufwachen. Sie verdanken ihm Ihr Leben. Soll ich ihn holen?« »Ich würde ihn gerne kennen lernen.« Es war sehr angenehm, hier zu liegen, die wolkigen Betten zu sehen, die verschwommenen Leute, die ihn untersuchten. So ganz anders als auf der Angel del Mar, als draußen im Meer. Vielleicht war er tot. Er hatte diese Möglichkeit eine Weile in Betracht gezogen, aber mittlerweile war er sich sicher, dass er noch lebte. Schließlich war das hier nicht der Himmel, wie er -434-
ihn sich immer vorgestellt hatte. Außerdem war er hungrig. Er sagte es dem Übersetzer, und der wiederum sagte es dem Arzt. Sie brachten das Essen ungefähr zur gleichen Zeit, als Autrey James die Krankenstation in Begleitung eines Freundes betrat, der eine Kamera dabei hatte. James war ein freundlicher Bursche mit einem breiten Grinsen - Ocho konnte von seinem Gesicht eigentlich nur die weißen Zähne erkennen. Er ließ sich neben Ochos Bett nieder und warf sich in Positur, und sein Freund machte eine Menge Fotos. Dann kam noch jemand mit einer Kamera, anscheinend eine Art Fernsehkamera, und James schüttelte Ocho noch einmal die Hand. Hinter dem Kameramann standen einige in Khaki gekleidete Gestalten, die das Geschehen schweigend beobachteten. Der Übersetzer bombardierte ihn mit Fragen, die von James und dem Kameramann kamen. Wann haben Sie Kuba verlassen? Wie hieß das Boot? Wie viele Menschen waren an Bord? »Vierundachtzig Menschen.« »Vierundachtzig?«, fragte der Übersetzer ungläubig. »Vierundachtzig«, flüsterte Ocho. »Was ist mit dem Boot passiert?« »Es ist gesunken.« »Und die Menschen?« »Sie waren im Wasser… die Haie.« »Haie?« »In der ersten Nacht auf See hat es einen Sturm gegeben, bei dem einige über Bord gegangen sind. Diego Coca hat den Kapitän erschossen, und einige sind verdurstet… Diego ist ins Meer gesprungen. Die Kinder sind vor Erschöpfung und Hunger gestorben, glaube ich… es ist schwer zu sagen, woran. Wir hatten nichts zu essen, keine Wasservorräte… nur das Regenwasser, das wir auffangen konnten. Als das Boot gesunken ist, sind die anderen von den Haien getötet worden. -435-
Oder sie sind ertrunken. Ich hoffe, dass Dora ertrunken ist. Der alte Fischer und ich waren die Einzigen, die überlebt haben. Haben Sie ihn gefunden? Den alten Fischer? Haben Sie ihn dort draußen nicht gesehen?« Ocho streckte eine Hand aus, und Autrey James wich zurück. »Nein«, sagte der Übersetzer, »Sie waren der Einzige.« Dann gingen sie alle, ließen ihn mit seinem Essen allein. Er starrte an die Decke und versuchte zu begreifen, dass er lebte und alle anderen tot waren. Die anderen waren tot. Er lebte. Was hatte das zu bedeuten? War Gott verrückt? Warum ich? Er dachte immer noch darüber nach, als ihm wieder irgendjemand ein Mittel in die Augen tröpfelte. Diesmal musste er weinen. Ocho schluchzte eine Minute lang vor sich hin, vielleicht auch zwei. Dann streikte sein Körper, und er schlief ein. »Warum hast du das Gold nicht in einem Bankschließfach deponiert?«, hatte Mercedes Fidel gefragt. Das war vor mehreren Jahren gewesen, nachdem er ihr zum ersten Mal von dem Gold erzählt hatte. Jetzt, als sie auf der Veranda des Hauses ihrer Schwiegermutter saß, fiel ihr die Frage wieder ein, und auch das, was Fidel darauf geantwortet hatte. »Wenn wir das Gold in einer Bank aufbewahren würden, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis es andere Banker wüssten und als Sicherheit für unsere Darlehen beanspruchen würden. Ein Hurrikan oder ein Einbruch auf dem internationalen Zuckermarkt, und das Gold wäre fort.« »Aber das Gold allein hilft Kuba nicht! Was haben wir davon, wenn wir es lediglich besitzen?« -436-
»Das Gold gehört uns«, hatte er störrisch gesagt. »Wenn es verschwinden würde, wäre es auch für das kubanische Volk verloren.« »Aber solange du es versteckt hältst, ist es doch auch für die Kubaner verloren!« »Nein. Du und ich, wir wissen doch, wo es sich befindet. Und solange es dort ist, befindet es sich im Besitz des kubanischen Volkes.« Sie hatte ihn nicht umstimmen können, denn er war wie ein Bauer in seinem Drang, sich ein geheimes Versteck anzulegen, dem instinktiven Trieb, eine Kassette mit Geld zu verbuddeln oder in einer Matratze zu verstecken, als Sicherheitsreserve für alle Fälle. Egal wie schlimm es sonst stehen mochte, das Geld war ja da, gut versteckt. Ein Geheimvorrat, auf den man zurückgreifen konnte, um nicht verhungern zu müssen oder bei einer Katastrophe gewappnet zu sein. Sein nächster Satz hatte verraten, dass er genau in diesen Bahnen dachte. »Wenn ich mitten in der Nacht aufwache, weil ich vor Sorgen nicht mehr schlafen kann, dann erinnere ich mich daran, dass wir das Gold haben.« Aus diesem Grund hatte es Fidel versteckt, gemeinsam mit Che Guevara. Für Kuba. Guevara war in Bolivien getötet worden und hatte das Geheimnis mit ins Grab genommen. Aber Fidel wollte nicht, dass es ihm ebenso erging also hatte er das Geheimnis an die einzige Person auf der Welt weitergegeben, der er vertraute. Mercedes wünschte sich, niemals davon erfahren zu haben. Während sie an der letzten Naht der Bluse arbeitete, dachte sie über das große Geheimnis nach und fragte sich, was sie tun sollte. Sie hatte sich niemandem anvertraut, hatte nichts darüber zu Papier gebracht. Jetzt, da Fidel tot war, konnte es leicht passieren, dass das Gold für immer verschwand. Sie musste -437-
etwas tun, aber was? Fidel war ein Mensch voller Widersprüche gewesen. Sie hatte sich mit ihm gestritten, hatte den Macho in ihm herausgefordert. Und tatsächlich hatte er einige seiner Schlappen eingestanden, was für ihn schon außergewöhnlich gewesen war. Nicht all seine Fehleinschätzungen, aber immerhin einige. »Ich bin der einzige Kommunist in Kuba«, hatte er lachend gesagt. »Es war ein Fehler, Kommunist zu werden natürlich werde ich das nie in der Öffentlichkeit zugeben. Wir mussten uns von den amerikanischen Finanziers und Konsortien lossagen. Erst nach langen Jahren hat sich herausgestellt, dass das russische Rennpferd den Parcours gar nicht durchstehen konnte. Bedauerlich, aber das heißt ja nicht gleich, dass wir uns auf ganzer Linie geirrt haben«, hatte er mit einem Achselzucken hinzugefügt. Er hatte die erstaunliche Haltung des typischen Latinos besessen, selbst die härtesten Schicksalsschläge mit Mut und Würde hinzunehmen. »Das Beste am Kommunismus war zweifellos die Diktatur, der ökonomische Konflikt hatte dagegen keinerlei Bedeutung. Jemand musste dem kubanischen Volk zeigen, dass es auf eigenen Füßen stehen kann, dass es seine Seele nicht an die Amerikaner oder die katholische Kirche verkaufen muss.« Dabei hatte er gelächelt und auf den Himmel gedeutet. »Die Wahrheit ist, dass wir viel zu arm waren, um uns die Amerikaner oder die Kirche leisten zu können.« Wenn Santana oder Vargas sie folterten, würde sie ihnen von dem Gold erzählen. Für ein Geheimnis zu leiden oder gar zu sterben, das einem unlogisch erschien, war nicht nur dumm - es war eine Sünde. Hatte Fidel jemals darüber nachgedacht, was sie tun würde, sollte sie sich eines Tages in einer solchen Lage befinden? Mercedes hatte den letzten Saum fertig genäht, schüttelte die -438-
Bluse aus und hielt sie gege n das Licht, um sie zu betrachten. Hatte sich Fidel ihr anvertraut, weil es seiner Ansicht nach das Beste für Kuba war? Oder hatte er es in dem Bewusstsein getan, dass er sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen konnte? Maximo Sedano wollte die Frage nicht mehr aus dem Kopf gehen: Wo war das Gold? Seit vierzig Jahren kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte, aber bisher war nicht einmal ein Krümel des edlen Metalls aufgetaucht. Einige Männer hatten geschworen, dass sie dabei gewesen waren, als die Münzen im Keller des Finanzministeriums eingeschmolzen und zu Barren gegossen worden waren. Aber niemand wusste, wo sich diese Barren jetzt befanden. Alejo Vargas hatte zwanzig Jahre lang die Geheimpolizei geleitet, zehn Jahre lang als Innenminister fungiert und vermutlich neunzehn Jahre lang nach dem Gold gesucht, aber nichts gefunden. Zumindest nahm Maximo das an. In vierzig Jahren hatte niemand auch nur die kleinste Spur des Goldschatzes entdeckt… also mussten alle Spuren gründlich verwischt worden sein. Daraus hatte Maximo geschlossen, dass das Geheimnis nur sehr wenigen Menschen bekannt sein konnte. Fidel, seinem Bruder Raúl, vielleicht auch Che. Vielleicht gab es heute noch ein paar andere, die diesen drei Männern sehr nahe gestanden hatten. Was es jedenfalls nicht gab, waren alte Arbeiter, die nicht den Mund halten konnten, wenn sie zu viel Rum getrunken hatten, denn sonst hätte Vargas sie bereits vor Jahren aufgespürt. Aus dem Gold waren auch keine Statuen gegossen worden, kein Fußboden oder Fundament, keine Ziegel, aus denen man ein staatliches Gebäude errichtet hatte, und es lag ebenfalls nicht unter dem Bretterboden einer insektenverseuchten Bauernhütte. Nein. Diese Möglichkeiten kamen nicht in Frage, weil es sonst zwangsläufig jemanden gegeben haben müsste, der Fidel dabei -439-
geholfen hatte, das Gold zu verstecken, einen Helfer, der im Verlauf von vierzig Jahren garantiert irgendwann geplaudert hätte. Sollte es geheime Aufzeichnungen oder Lagepläne in irgendwelchen Bankschließfächern geben, würde Maximo sie niemals in die Hände bekommen. Alles, was er zur Verfügung hatte, war sein Verstand. Da Fidel tot und Alejo Vargas sein Nachfolger geworden war, blieb Maximo jetzt nichts anderes übrig, als seinen Verstand zu gebrauchen, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Auf der Suche nach einer Eingebung durchwanderte er die Straßen Havannas auf dem Weg zum Museum der Revolution. Wie so viele Revolutionäre, die im Laufe der Geschichte zumindest vorübergehend einen Sieg errungen hatten, hatte auch Fidel nicht der Versuchung widerstehen können, sich als Held der Nation verewigen zu lassen, um seine Position dauerhaft zu festigen. Natürlich misst sich die Größe eines Revolutionärs an der seiner Feinde, so dass Fidel ein Monument errichten ließ, das der Verlogenheit und Bösartigkeit seiner Gegner gerecht wurde. Erstaunlicherweise passte all das Gute, Böse und Großartige unter ein einziges Dach, nämlich den Palast des Präsidenten, vormals die Residenz von Fulgencio Batista. Maximo eilte an den Ausstellungsstücken vorbei, die Batistas korruptem Regime galten. Was er suchte, war hier garantiert nicht zu finden. Es dauerte nicht lange, bis er sein Ziel erreicht hatte. Fidel der Retter, El Lider Maximo, Porträts, Büsten, Erinnerungsstücke, Schnappschüsse, heroische Gemälde und sorgfältig inszenierte Fotos - mehr als genug, um jedem, der den Mann gekannt hatte, den Magen umzudrehen, wie Maximo fand. Denn das Idol Fidel war aus einem sehr schlechten Holz geschnitzt: größenwahnsinnig, beseelt vom Glauben an seine höhere Bestimmung, unsensibel, uneinsichtig, dickschädelig, -440-
unerträglich, von Vorurteilen geprägt, peinlich geschwätzig und sehr häufig mit seinen Ansichten und Plänen meilenweit von der Wirklichkeit entfernt. Welch eine Tragödie, dass dieser lebendige Heiland von Gott auf eine vollkommen unbedeutende Insel der Dritten Welt gesandt worden war statt nach Moskau oder Washington, wo er seine Qualitäten als Erlöser der Menschheit hätte beweisen können. Maximo schluckte seine Verachtung hinunter und konzentrierte sich auf die Schaukästen. Fidel und Che Guevara, Camilo Cienfuegos, die anderen Unsterblichen… Die Universität, die Moncada-Kaserne, der Prozess, die Inhaftierung, handgeschriebene Briefe, Exil, die Zeit als Guerillakämpfer… Er betrachtete alles sehr ausgiebig, bevor er einen Ausstellungsraum betrat, der der Eroberung Havannas gewidmet war. Fidel, wie er auf einem Panzer in die Stadt fuhr, ekstatische Kinder. Dann Fidel der Regent, Fidel der Baseballspieler, Fidel und Che beim Angeln im Golfstrom, Fidel mit Hemingway, Richard Nixon, Chruschtschow und Kossygin, den Berühmten und den Berüchtigten, in diesem schrecklichen grünen Drillich, Dutzende von Fotos, auf denen Fidel vor den Massen sprach… Gott, wie hatte dieser Mann die Massen begeistern können! Im nächsten Raum betrachtete Maximo Fotos, auf denen Fidel mit Schulkindern Reis und Bohnen aß, als ihm plötzlich bewusst wurde, wie unpassend das Foto, auf dem Fidel und Che beim Fischen zu sehen waren, gewirkt hatte. Wirklich seltsam. Er lief zurück, um es sich noch einmal anzusehen. Die beiden Männer befanden sich auf einer Art Fischerboot, saßen in Anglerstühlen und hielten kräftige Ruten in den Händen. Vermutlich wollten sie Merlane angeln. Moment mal… Der Yachthafen, in dem sein eigenes Boot lag… Als er das erste Mal dort angekommen war, hatte der Hafenmeister ihm erzählt, dass Fidel oft von dort aus zum -441-
Angeln fuhr. Jetzt erinnerte er sich. Ja. Der alte Mann hatte gesagt, dass Fidel und Che alle paar Tage allein zum Angeln rausfahren und die Nacht häufig vor Anker im Yachthafen verbringen würden. Nach rund einem Jahr, hatte der Alte etwas traurig erzählt, war ihnen wohl die Lust vergangen, und sie waren nie wieder gekommen. Das Boot hatte ursprünglich einem Amerikaner gehört und war von der kubanischen Marine beschlagnahmt worden. Später hatte man es zu einem Kanonenboot umgerüstet. Jetzt sah Maximo den Alten wieder vor seinem geistigen Auge, wie der Wind mit seinem weißen Haar spielte, als er auf dem Dock stand und über Fidel sprach, seinen Helden. Über die Momente, in denen sich ihre Lebenswege gekreuzt hatten. Der Hafenmeister war schon seit Jahren tot und sein Nachfolger viel zu jung, um sich daran zu erinnern. Konnte es sein, dass das Gold auf dem Grund des Hafens von Havanna lag? Angenommen, Fidel und Che hätten jede Nacht unbeobachtet einige hundert Kilo Gold über Bord gehen lassen. Im Laufe der Zeit wäre einiges zusammengekommen… So hätte das Gold unbemerkt aus dem Finanzministerium verschwinden können. Wenn Fidel und Che es allein fortgeschafft hatten, gab es auch niemanden, der sie hätte verraten können. Natürlich war Maximo klar, dass es in diesem Fall gewisse logistische Probleme geben würde, wenn auch keine unüberwindbaren. Tief in Gedanken versunken, verließ er das Museum. »Die AWACS berichten, dass das kubanische Militär sich auf die Standorte der Silos zu bewegt, Admiral«, meldete der kommandierende Offizier der Luftaufklärung aus dem Stab des Flugzeugträgers. -442-
»Ausgangspunkt der Truppenbewegungen sind die Kasernen in der Umgebung von Havanna. Wir können Panzer und Lastwagen sehen, vermutlich Transporter für die Mannschaften und die Versorgung. Die Konvois bewegen sich langsam, etwa acht bis zehn Meilen pro Stunde. Soeben sind kubanische Truppen am Silo Nummer eins eingetroffen, jetzt ebenfalls an den Silos zwei und drei. Wir gehen davon aus, dass die Silos vier bis sechs erst nach dem Morgengrauen erreicht werden.« »Warum so langsam?«, fragte Jake Grafton. »Sie verwenden alte Panzer vom Typ T-5 4. Wir vermuten, dass sie so das Risiko von Ausfällen minimieren wollen. Insgesamt gehen wir davon aus, dass die Kubaner keinen Grund zur völligen Mobilmachung sehen.« »Okay«, sagte Jake Grafton. Es gab nichts weiter hinzuzufügen, denn jetzt wurden die Karten von den Göttern des Krieges ausgeteilt. Der Nachrichtenoffizier gab weitere Erkenntnisse der Aufklärungseinheiten durch, erwähnte Brücken, Kreuzungen und andere strategisch wichtige Punkte. Jake versuchte sich zu konzentrieren, doch es fiel ihm nicht leicht. Als das Briefing beendet war, entließ er seinen Stab und starrte auf die an der Schiffswand befestigte Karte. Der Plan war gut: Das Wetter würde für die Jahreszeit typisch sein, er verfügte über genügend Truppen für den Einsatz, und die verstanden wirklich etwas von ihrem Job. Sollten die Kubaner jedoch ihre Raketen auf amerikanisches Territorium abfeuern, würde er ihnen außer den beiden Aegis-Kreuzern nichts entgegensetzen können. Wäre es vielleicht nicht doch besser gewesen, die Aktion erst dann durchzuführen, wenn Florida durch die Verschiebung entsprechender Abwehrstellungen selbst mit den Raketen fertig werden konnte? Jede weitere Verzögerung bedeutete, dass mehr -443-
amerikanische Soldaten beim Angriff auf die Silos ihr Leben lassen würden. Andererseits war gar nicht auszudenken, welche Folgen es hatte, wenn die Raketen das amerikanische Festland erreichten. Wieder ging er den Plan durch - das Timing, die verschiedenen Einheiten. Biologische Waffen. Polio-Erreger. Natürlich hätte er noch mehr Leute gebrauchen können. Eines der primären Ziele des Krieges - manche sagten auch, das einzige Ziel - war es, den Feind mit möglichst großer Schlagkraft an seinem neuralgischen Punkt zu treffen. Oder, wie Bedford Forrest es formuliert hatte: »So früh wie möglich und so massiv wie möglich.« Bei den Silos eins und zwei begannen die Kubaner bereits damit, sich zu verschanzen. Was würde geschehen, wenn die von ihm befehligten Truppen es nicht schafften, die Stellungen auszuschalten? Jake Grafton fühlte sich wie ein Handwerker, der nicht wusste, ob er einen größeren Hammer einsetzen sollte. Oder wie David mit seiner Steinschleuder. Vielleicht benötigte er doch mehr Aegis-Kreuzer, einige Patriot-Batterien, mehr CruiseMissiles, mehr Truppen, Ospreys, Flugzeuge. Wenn auch nur eine der Raketen durchkam… Er zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich das Gesicht ab. Sein Magen rebellierte. Seit Vietnam hatte er nichts Vergleichbares mehr gefühlt. Seit den alten Zeiten, als er für nichts außer seinem eigenen, jämmerlichen Leben und dem seines Bordschützen verantwortlich gewesen war. Trotz aller Gefahren hatte er die Belastung damals als relativ leicht empfunden. Die Belastung… Das hättest du dir denken können, Jake Grafton. All die Jahre -444-
hast du dir von der Navy Zucker in den Arsch blasen lassen, deinen Sold kassiert, bist fett und träge geworden. Und jetzt wird es Zeit, dafür zu bezahlen. Am Nachmittag ging Toad Tarkington in den Funkraum, um mit seiner Frau zu sprechen. Er hatte dazu schon einige Male die geschwaderinternen Kanäle benutzt, was eigentlich nicht erlaubt war. Aber der Unteroffizier vom Dienst drückte beide Augen zu, solange die Verbindungen nicht für offizielle Zwecke ausgelastet waren. Toad fragte, ob er einen kodierten Kanal verwenden könne, aber die waren derzeit alle besetzt. Stattdessen gab man ihm das Headset für einen unkodierten Kanal. Toad baute eine Verbindung zur Kearsarge auf und hinterließ eine Nachricht für seine Frau. Zehn Minuten später meldete sie sich. »Hallo, Toad-Man!« »Hey, heiße Frau!« Er wusste, dass sie heute Nacht eine V-22 Osprey fliegen würde, um Truppen zum Raketensilo drei zu schaffen. »Wollte nur deine Stimme hören«, sagte er so sachlich, wie er nur konnte. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie sich die Funksignale weit ausbreiteten und dabei von anderen Schiffen des Flottenverbandes, aber möglicherweise auch von kubanischen Abhörstationen aufgefangen wurden. Er hatte nicht vor, irgendwelche geheimen Informationen preiszugeben, und er wollte auch nicht den Clown für potenzielle Mithörer spielen. Rita verhielt sich ebenso unverbindlich. »Habe einen Brief von Tyler erhalten. Selbstverständlich mit Na-Nas Hilfe geschrieben.« »Und, was macht Ty-Guy so?« »Er hat eine Freundin, das Mädchen der Goldmanns von -445-
gegenüber.« »Das ist mein Sohn«, erwiderte Toad. »Hat also schon eine kleine Freundin. Na, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.« Auf der Kearsarge umklammerte Rita das Headset. Sie liebte das Leben, ihren Sohn, ihren Mann, ihren Beruf, ihre Kollegen… jede noch so unbedeutende Kleinigkeit. Oh, es gab natürlich Tage, an denen der Stress und die Probleme sie zu überwältigen drohten, aber irgendwie kam sie letztlich immer ganz gut zurecht. Frühmorgens, wenn sie Zeit hatte, um darüber nachzudenken, wusste sie genau, dass sie nichts an ihrem Leben ändern würde. Nicht die geringste Kleinigkeit. Erst jetzt bemerkte sie, dass Toad schon eine Weile nichts mehr gesagt hatte. »Ich würde nichts ändern wollen, selbst wenn ich es könnte«, sagte sie. »Dasselbe habe ich auch gedacht«, erwiderte er. »Vom ersten Tag an.« »Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Wow!« »Als wir noch in Whidbey waren, war ich der Meinung, du würdest mich hassen« »Und ich habe gedacht, du würdest mich nicht mögen.« »Gott sei Dank hast du irgendwann den Mut gehabt, mich zu küssen.« »Wäre schö n, wenn ich es jetzt wieder tun könnte«, gab Toad zurück. Rita spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie wollte ihm sagen, wie viel er ihr über all die Jahre bedeutet hatte, wie dankbar sie dafür war, mit ihm zusammen zu leben, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Sie deckte das Mikro mit einer Hand ab; er sollte nicht hören, dass sie weinte. -446-
»Wenn wir das nächste Mal zusammen sind, solltest du besser keinen Lippenstift auftragen«, sagte er. »Ich verwende nie Lippenstift«, presste sie mit einer Stimme hervor, die ihr nicht mehr richtig gehorchen wollte. »Und das ist auch gut so,« erwiderte er rau. Langes Schweigen. »Jetzt muss ich aber langsam Schluss machen«, sagte Toad schließlich. »Die Jungs brauchen den Kanal, um sich Filmchen zu schicken oder so was.« »Yeah.« »Vaya con dios, Baby!« »Du auch, Toad-Man.« Toad fand Jake Grafton in der Gefechtszentrale mit dem Chief of Staff, Gil Pascal. Er hörte der Unterhaltung eine Weile zu und erkannte, dass der Admiral sich Sorgen machte, ob die Schlagkraft ausreichte, um aus dem bevorstehenden Angriff als Sieger hervorzugehen. Heute Nacht! Nach einer Weile wandte sich Jake an Toad. »Jetzt würde ich gerne Ihre Meinung hören«, sagte er. »Wenn wir irgendetwas brauchen, Sir, dann sind es größere Reserven. Wir haben drei V-22 mit je vierundzwanzig Marines, die wir dahin schicken können, wo sie am dringendsten benötigt werden. Vor einiger Zeit hat der Kommandant der Marines von der United States gefragt, ob er und seine Leute auch mitmischen dürfen. Auf der Kearsarge hat er eine überzählige Osprey ausfindig gemacht. Gehört eigentlich zur Reserve der ersten Angriffsfront, aber wenn die Maschine nicht gebraucht wird, steht sie uns zur Verfügung.« Gil Pascal legte die Stirn in Falten. »Die Marines des Flugzeugträgers sind nicht über den Einsatz informiert worden.« Jake warf Toad einen Seitenblick zu und hob eine Braue. -447-
»Sir, ich hatte gehofft, Sie würden mich mit den Jungs losziehen lassen«, erwiderte Tarkington fröhlich. »Informierter als ich kann man gar nicht sein.« Was eine Untertreibung war, da Tarkington als Mitglied des Planungsstabes den Angriffsplan erstellt hatte. »Sie haben offenbar den ganzen Tag darauf gewartet, mich damit zu überraschen, was?« »Ich könnte ein Satellitentelefon mitnehmen, Sie jederzeit über die Operation auf dem Laufenden halten und Sie wissen lassen, wenn es Probleme gibt.« »Stammt diese grandiose Idee von Ihnen, oder hat Sie der Kommandant der Marines dazu beschwatzt?« Toad starrte mit einem Unschuldsblick die Decke an. »Ein Offizier, den ich zufälligerweise sehr gut kenne, würde dazu sagen: ›Sie kennen mich doch.‹« »Ich glaube, den kenne ich auch«, sagte Jake schmunzelnd. »Ach, verdammt - Erlaubnis erteilt! Gehen Sie! Gil und ich werden das Fort auch ohne Sie halten. Wenn die Osprey nicht benötigt wird, gehört sie Ihnen. Sagen Sie den Knurrhähnen Bescheid, sie sollen ihre Seepferdchen satteln.« Der spanisch sprechende Matrose, der als Dolmetscher fungierte, rüttelte Ocho Sedano wach. »Ocho«, sagte er, »Ocho, wir müssen Sie etwas fragen. Sind Sie mit Hector Sedano verwandt?« Ocho öffnete die Augen und versuchte, den Übersetzer zu erkennen. Es klappte schon ganz gut, seine Augen hatten sich erholt, sehr gut erholt. Er richtete sich auf und bemerkte erst jetzt, dass er sich immer noch in der Krankenstation befand. »Willkommen im Reich der Lebenden«, sagte der amerikanische Matrose. »Ist wirklich gut, lebendig zu sein«, flüsterte Ocho. -448-
»Hatten Sie die Hoffnung aufgegeben?« »Ich denke schon. Ich habe gedacht, dass ich sterben würde, und ich hatte mich darauf vorbereitet. Aber es war nicht so, dass ich wirklich sterben wollte.« Der Matrose grinste. Er war der erste Amerikaner, den Ocho kennen gelernt hatte, und er fand das Grinsen des Matrosen sympathisch. »Die Offiziere möchten wissen, ob Sie mit Hector Sedano verwandt sind«, sagte der Matrose. »Er ist mein Bruder.« »Ich werde es ihnen sagen.« Ocho nickte, kratzte sich am Kopf und räkelte sich. Er war hungrig und durstig. Auf dem Rolltisch neben seinem Bett stand ein Glas mit Wasser. Er leerte es in einem Zug. »Kann ich was zu essen haben?« »Ich bringe Ihnen was.« Ocho sah den Matrosen an. »Ich will zurück nach Kuba. Ich hätte niemals fortgehen sollen.« »Ich werde es ausrichten«, versprach der Matrose und ließ ihn allein. William Henry Chance und Tommy Carmellini waren mit Toad in einen heftigen Streit verwickelt. Es ging darum, wie viele Marines mit ihnen in voller CBW-Montur die Fertigungsanlage stürmen sollten. »Nur Tommy und ich«, beharrte Chance. »Je mehr Leute mitkommen, desto eher müssen wir mit einer Panne rechnen.« »Wie wollen Sie Ihre Ausrüstung da rein bekommen?« »Erst eines, dann das andere. Nimmt zwar mehr Zeit in Anspruch, aber mit nur zwei Mann ist das Ganze sicherer.« »Und was ist, wenn die kubanische Armee Sie bei der Arbeit -449-
stört?« »Die Marines können uns verteidigen, bis der Bau in die Luft fliegt.« Sie saßen im Instruktionsraum unterhalb des Flugdecks in der Nähe des Fernsehers, über den ständig aktuelle Informationen der Luftaufklärung liefen. Funkmeldungen, Missionsdokumente, Zeittafeln, Rufzeichen und Wettermeldungen - von jedem etwas. Carmellini konzentrierte sich vorwiegend auf die Meidungen, während Chance sich mit Toad stritt. »Und damit es klar ist: Ich werde weder ein Gewehr noch Handgranaten, noch Notrationen oder irgendwelchen anderen Soldaten-Scheiß mitnehmen.« »Eine Pistole zumindest?« »Ich hab schon eine.« »Warum sind Sie so dickköpfig, Mr. Chance?« Chance ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Liegt vermutlich daran, dass ich ein mieses Gefühl bei diesem ganzen Sondereinsatz-Kram habe«, sagte er. »Einfach da reinstürmen wie Captain America, mit dem Gewehr in der Hand, da dreht sich mir der Magen um. Wenn man es so macht, fliegen einem sofort die Kugeln um die Ohren. Und wenn ich dann an die Viren in ihren keineswegs kugelfesten Behältern denke…« Er erschauderte. »Wenn wir da in Zivil reinschleichen… nun, das bin ich gewohnt. Aber diese Militäraktionen machen mir Angst.« »Es dürfte ziemlich lustig aussehen, wenn Sie im feinsten Zwirn die Molkerei betreten und von kubanischen Truppen begrüßt werden, die aufpassen, dass niemand die Kühe klaut.« »Ich weiß.« Chance zuckte mit den Achseln. »Das wird ein ziemliches Abenteuer«, bemerkte Tommy Carmellini. »Sie sind große Jungs«, sagte Toad Tarkington. »Ich werde Ihnen keine Vorschriften machen. Aber trotzdem ist das hier -450-
kein Spiel - es kann jede Menge Leute das Leben kosten. Wenn Sie den Job versieben und wir Ihren Mist ausbügeln müssen, sollten Sie besser tot sein oder mir jedenfalls nicht wieder in die Quere kommen.« Toad sprach ganz ruhig und sachlich, als ginge es um Fragen der Besoldung. Plötzlich kam sich Chance ganz klein vor. »Okay«, gab er nach. »Außer uns noch zwei Mann in CBWAnzügen. Aber ich habe das Kommando. Und falls es mich erwischt, übernimmt Tommy.« »Fein«, sagte Toad Tarkington und machte sich auf die Suche nach einer verschlüsselten Telefonleitung. Allein mit Terror würde sich Alejo Vargas nicht lange in Amt und Würden halten können, das wusste er genau. Er konnte den kleinen Hurensöhnen da draußen Angst und Schrecken einjagen, aber wenn er auf lange Sicht sorglos in Fidels Haus wohnen wollte, musste er das Land regieren. Dem Volk hin und wieder einen Brocken vorwerfen und was sonst dazu gehörte. Er war darauf vorbereitet - schließlich hatte er sein gesamtes Leben als Erwachsener damit verbracht zuzusehen, wie Fidel diese Menschen manipulierte. Heute saß er in seinem Büro im Innenministerium - aus Zeitmangel war er noch nicht in den Regierungspalast umgezogen - und empfing die Mitglieder des Staatsrates, dessen Vorsitzender er war. »Señor Ferrara, ich freue mich sehr, Sie wieder einmal begrüßen zu dürfen.« Ferrara war klein, fett und keuchte, wenn er sich bewegen musste. Er war Mitglied des Staatsrates und besetzte das Amt des Energieministers. Nun ließ er sich auf den Stuhl vor Vargas Schreibtisch fallen und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. -451-
»Guten Tag, Señor Presidente.« Colonel Santana reichte Vargas die eidesstattliche Versicherung, die Ferrara mitgebracht hatte. Vargas schielte nur auf die Unterschrift und legte das Dokument zu den anderen in die rechte, obere Schublade seines Schreibtischs. Er musste es nicht lesen, um zu wissen, was es enthielt - einen von Gefühlsduseleien triefenden Bericht über den von Hector Sedano begangenen Mord an Raúl Castro. Vargas und Santana hatten diesen Text erst heute Morgen aufgesetzt. Sobald ein Mitglied des Staatsrates auftauchte, ließ Santana es zuerst die eidesstattliche Versicherung unterzeichnen, bevor der Betreffende zu Vargas vorgelassen wurde. Die meisten von ihnen kamen instinktiv von selbst darauf, dass die Unterschrift obligatorisch war. Die Verbleibenden wurden von Santana mit den harten Fakten des Lebens vertraut gemacht. Bisher hatte sich niemand geweigert, zu unterschreiben. »Ich bedanke mich für Ihre Unterstützung in dieser Sache, Ferrara.« »Ich will offen zu Ihnen sein, Vargas. Dieses Dokument ist wertlos.« Der Energieminister deutete auf die Schreibtischschublade. »Knallen Sie ruhig kräftig mit der Peitsche, aber das wird nichts daran ändern, dass die Menschen dort draußen Sie nicht anerkennen. Sie wollen, dass Hector Sedano in den Regierungspalast einzieht.« »Sie werden in ihren Herzen einen Platz für mich finden.« »Fidel Castro konnte sich über vierzig Jahre an der Spitze halten, weil das Volk ihn unterstützt hat. Die Mitglieder der Nationalversammlung, des Staatsrates und die Minister konnten nichts gegen ihn unternehmen, weil es niemanden gab, der sich hinter sie gestellt hätte. Es war nicht das Amt für Staatssicherheit, das die Menschen kontrollierte - es war Fidel selbst.« -452-
»Er hat keine Opposition geduldet. Genau wie ich.« Ferrara schwieg. Da war doch irgendetwas mit Ferrara - es hatte in den Akten gestanden, aber die hatte Vargas schon seit Jahren nicht mehr eingesehen, und jetzt existierten sie nicht mehr. »War da nicht mal etwas mit Ihrer Tochter?« Ferraras Gesicht wurde maskenhaft starr. »Ihre Tochter… irgendetwas mit Ihrer Tochter, ja.« Vargas starrte dem dicken Mann in die Augen. »Helfen Sie mir ein bisschen.« Sogar das Schnaufen vo n Ferraras Atem war verstummt. »Vielleicht fällt es mir wieder ein.« Vargas lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Oder vielleicht vergesse ich es komplett.« Santana kam herein und überreichte ihm ein Blatt Papier. »Unser UN-Botschafter hat das hier von der amerikanischen UN-Botschafterin bekommen.« »Es war nett von Ihnen, mich zu besuchen, Ferrara. Ich erwarte, dass Sie zu Ihrer eidesstattlichen Versicherung stehen. Ich würde mich freuen, bald wieder mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Auf Wiedersehen.« Ferrara verließ wortlos das Büro. Vargas überflog das Schreiben. »Irgendwelche Stellungnahmen von Seiten der Amerikaner zu meiner Ansprache oder der ihres Präsidenten?« »Ja, Sir. Wie wir erwartet haben, unterstützen die amerikanischen Meinungsbildner ihren Präsidenten. Auf der anderen Seite gibt es allerdings viele, die der Meinung sind, die Vereinigten Staaten hätten durch ihre Sanktionen gegen Castro selbst dazu beigetragen, dass Kuba sich in ein militärisches Abenteuer stürzt. Diese Ansicht ist in Europa weit verbreitet. Auch im Rest der Welt denken viele, dass Kuba von Amerika zu -453-
lange unterdrückt worden ist.« Vargas nickte. Die Welt schlug sich immer auf die Seite des Prügelknaben. »Der amerikanische Flugzeugträgerverband, der in Guantánamo war, befindet sich nun südlich der Insel Pines. Nur ein kleiner Teil der Flugzeuge ist in der Luft.« »Und General Alba? Beziehen seine Truppen um die Silos herum Stellung?« »Ja, Señor Presidente.« »Sorgen Sie dafür, dass die Luftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt wird, außerdem die Infanterie, die Marine, die Flugabwehrstellungen, einfach alles. Sollten die Amerikaner kommen, verpassen wir ihnen eine blutige Nase. Wenn das nichts hilft, müssen wir auch den Einsatz einer Rakete in Erwägung ziehen. Eine einzige Rakete dürfte ausreichen, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Sie sind noch nie mit einem solchen Virus konfrontiert worden, das werden sie nicht verkraften. Deshalb werden sie erkennen müssen, dass sie einen Fehler begangen haben.« »Sie glauben also nicht an ihre ›massive Vergeltung‹?« »Das ist lachhaft!«, schnaubte Vargas abfällig. »Kein amerikanischer Präsident würde jemals den Befehl geben, Massenvernichtungswaffen einzusetzen, nicht einmal zu einem Vergeltungsschlag. Die Amerikaner haben schon vor Jahren aufgehört, Kriege zu führen - sie gehen zwar gegen ›böse‹ Regierungen vor, vermeiden es jedoch, die Zivilbevölkerung zu gefährden. Die neue Moral der Amerikaner basiert auf Schuldgefühlen. Es wäre unerträglich für sie, wenn die hungernden Massen durch ihre Militäreinsätze zu Schaden kommen würden.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und wurde dann plötzlich sehr ernst. »Trotzdem dürfen wir nicht ausschließen, dass die Yanquis mit extremer Gewalt gegen unsere Truppen vorgehen werden. Sollte das passieren, wird uns -454-
das Volk mit Massenkundgebungen seine Solidarität bekunden, und wir werden die Ehre unserer Nation heroisch verteidigen. Und dabei Raketen einsetzen, um den Amerikanern zu zeigen, dass sie uns unterschätzt haben.« »Kubaner sind Patrioten«, bestätigte Santana. »Die Schweinebucht hat Castro zum Präsidenten auf Lebenszeit gemacht.« »Ein Mann kann alles erreichen, wenn er nur die richtigen Feinde hat«, erklärte Vargas lächelnd.
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19 Während Alejo Vargas und Colonel Santana in Havanna ihr Gespräch führten, eröffneten die Amerikaner das Feuer. Drei Zerstörer der Spruance-Klasse, die bei Sonnenaufgang Mayport verlassen hatten, befanden sich jetzt fünfzig Meilen südlich der Küste von Florida, weitab der üblichen Schifffahrtswege. Sie begannen, von den vor der Schiffbrücke eingelassenen Lafetten Tomahawks abzuschießen. Obwohl jedes der Schiffe über insgesamt achtundvierzig dieser Marschflugkörper verfügte, wurden davon nur je zwanzig abgefeuert. Auf der Brücke der USS Comte de Grasse beobachtete der Kommandant mit einem Feldstecher, wie die Raketen am Scheitelpunkt ihrer Flugbahn in die Horizontale schwenkten und im Dunst verschwanden. Eine stürzte ins Meer, ohne zu detonieren. »Drei Millionen zum Teufel«, murmelte er. Als die Startsequenz beendet war, nahm er über die Rufanlage Kontakt mit der Feuerleitzentrale auf. »Wie viele sind jetzt in der Luft?« »Neunzehn, Sir.« »Und bei den anderen Schiffen?« »Zwanzig und achtzehn, Sir.« »Flugdauer?« »Eine Stunde zwanzig Minuten, Sir.« »Sehr gut. Geben Sie den Bericht weiter.« Nicht schlecht, dachte er. Gott stehe den Kubanern bei. Dann wandte er sich dem Navigator zu, um mit ihm den Kurs zur Straße von Florida zu besprechen, wo die USS Comte de Grasse und ihre Schwesterschiffe auf die beiden Aegis-Kreuzer treffen -456-
würden. Auf der USS United States saß Jake Grafton in der Gefechtszentrale auf dem Kommandosessel und beobachtete die Bildschirme der Computer. Gil Pascal, der Chief of Staff, war ebenfalls anwesend, außerdem der Flugstaffelkommandant des Flugzeugträgers, der Leiter der Gefechtszentrale und die Mitglieder seines Stabs. Jake beugte sich zu Pascal hinüber. »Könnten Sie mir bitte ein Aspirin besorgen?«, flüsterte er. »Ja, Sir.« Er betrachtete den Plan und das Display, auf dem der zivile Luftverkehr von und nach José Marti, dem Internationen Flughafen Havannas dargestellt wurde, als der Unteroffizier vom Dienst ihm ein Satellitentelefon mit Verschlüsselungsvorrichtung brachte. »Admiral Grafton, Sir.« »Hier ist der Präsident, Admiral. Wie verläuft der Krieg?« »Die Tomahawks sind in der Luft, Sir. Aber es dauert noch rund eine Stunde, bis die Kubaner bemerken werden, was da auf sie zukommt.« »Wir schwitzen hier in Washington Blut und Wasser«, fuhr der Präsident fort. »Kriegen allmählich kalte Füße. Wie sieht es aus, könnten wir die Tomahawks ins Meer stürzen lassen, falls wir die Aktion abblasen müssen?« Jake Grafton sog hörbar die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus, bevor er antwortete. »Ja, Sir. Das lässt sich machen.« »Dann lassen Sie sich diese Option offen. Neben mir sitzen General Totten und der Ausschuss der Kongressabgeordneten. Ich möchte Ihre Meinung hören: Sollten wir die ganze Show um einen oder zwei Tage verschieben? Oder bis auf Weiteres? Was -457-
meinen Sie dazu?« Jake Grafton leckte sich über die Lippen. In Gedanken sah er, wie die Raketen auf Feuersäulen aus den Silos hochstiegen, sah die Beobachter der Aegis-Kreuzer vor ihren Radarschirmen und Tastaturen, genau wie die Besatzungsmitglieder des Flugzeugträgers, die hier in der Gefechtszentrale vor ihren Computern saßen. »Mr. President, ich habe über die Risiken nachgedacht. Ich kann Ihnen nur versprechen, dass wir unser Bestes geben werden. Garantieren können wir für nichts. Aber unter Berücksichtigung aller militärischen Risiken kann ich nur vorschlagen, den Angriff wie geplant fortzuführen.« »Danke, Admiral«, sagte der Präsident. »Jake, hier Totten.« »Guten Abend, Sir.« »Ich wollte Ihnen nur viel Glück wünschen«, sagte der General, dann brach die Verbindung ab. Jake Grafton gab dem Unteroffizier den Hörer zurück. »Hier ist Ihr Aspirin, Admiral.« Gil Pascal reichte ihm drei kleine weiße Pillen und ein Glas Wasser. Die vier EA-6B Prowlers waren erst vor einer Stunde auf dem Rollfeld der NAS Key West gelandet. Während sich die Tankfahrzeuge wieder entfernten, standen die Crews vor ihren Maschinen und unterhielten sich mit den Besatzungen der beiden C-130 Hercs, studierten Karten und Wetterberichte. Als die bis an die Zähne bewaffneten Marines an Bord gegangen waren, begaben sich die Besatzungen in die Cockpits und begannen mit der Startprozedur. Zwei der Prowlers waren auf der Außenseite mit drei pilzähnlichen Störantennen versehen und trugen je zwei HARM-Raketen. Diese Abkürzung stand für high speed antiradiation missile - Hochgeschwindigkeits-Anti-458-
Radar-Rakete. Die anderen beiden Prowlers trugen nur je eine mitten auf dem Rumpf angebrachte Störantenne, dafür aber vier HARMs. Nachdem die Triebwerke angelaufen waren, schlossen die Piloten die Cockpits der Prowlers und folgten den Hercs auf das Rollfeld. Der Funkverkehr blieb stumm. Das Flugdeck der USS United States erwachte zum Leben. Während die Besatzungen in ihre Maschinen stiegen, wieselte das Deckpersonal in grellen Hemden hin und her. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen in einem flachen Winkel wie Scheinwerfer auf die See, ließen die über das Meer treibenden Kumuluswolken leuchten. Wer nach Westen blickte, musste die Augen gegen das gleißende Licht abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Kurz darauf hoben die Rettungshubschrauber ab, und die ersten Jets rollten in Richtung Bug zu ihren Startkatapulten. Auf den beiden Aegis-Kreuzern USS Hue City und USS Guilford Courthouse war der Nachmittag ziemlich hektisch verlaufen. Fünfundzwanzig Meilen waren die Schiffe voneinander entfernt, dabei jedoch elektronisch so vernetzt, als lägen sie nebeneinander am Pier. Während die Hercs und die EA-6Bs in Key West auf die Starterlaubnis warteten und die United States den Abflug ihrer Fliegerstaffel vorbereitete, wurden an Bord der Kreuzer erneut die Trägheitsnavigationssysteme und die GPS-Daten überprüft und anschließend der Feuerbefehl erteilt. Die ersten Tomahawks stiegen senkrecht auf einer Feuersäule in die Höhe, fuhren die Leitwerke aus und kippten nach Süden weg, um im Abendhimmel zu verschwinden. Die erste Salve war gerade noch zu sehen, als bereits die zweite mit Donnergetöse die Startrampen verließ. Beide Schiffe feuerten sechzehn Raketen ab, bevor sie beidrehten und wieder -459-
den Rundkurs einschlugen, auf dem sie bis jetzt patrouilliert hatten. Im Gefechtsstand der USS United States spürte Jake Grafton die Erschütterung, als das erste Katapult ausgelöst wurde. Sein Blick fiel auf den Monitor, der das Bild von einer in den Aufbauten des Schiffes montierten Videokamera zeigte. Weitere Katapultschläge folgten, jeder spürbar bis in den letzten Winkel des Flugzeugträgers. Als nur noch ein halbes Dutzend Jets auf dem Flugdeck des Trägers auf den Start warteten, begannen die Kreuzer ihre Tomahawk-Marschflugkörper abzufeuern. Der Kameramann zoomte an die Schiffe heran, um das Feuerwerk festzuhalten. Einen Moment lang waren alle auf dem Gefechtsstand von dem Anblick gebannt, ignorierten ihre Aufgaben und verfolgten die Raketen, die auf einem rötlich gelben Feuerstrahl ritten, fast zu gleißend, um hineinzusehen. Nachdem die letzte Rakete verschwunden war, schwenkte die Kamera wieder zu den startenden Jets zurück. »Es wird gut gehen, Admiral«, sagte Gil Pascal zu Jake. Jake nickte und nippte an seinem Wasser. Heute lässt sich die Sonne aber verdammt viel Zeit mit dem Untergehen, dachte Lieutenant Commander Marcus Gillispie. Er saß am Steuerknüppel einer EA-6B, die soeben von der United States gestartet war und sich um die bis zu 10.000 Fuß hoch aufragenden Wolkentürme in die Höhe geschraubt hatte. Jetzt flog er über ihnen und betrachtete den Abendhimmel. Das letzte, rötliche Sonnenlicht fiel auf die Oberseiten der Wolken, während sich die tiefen Täler dazwischen bereits violett oder grauschwarz färbten. Gillispie ließ die Maschine weiter steigen, was den Sonnenuntergang noch einige Minuten verzögern würde. Dann verblasste auch der letzte Goldschimmer -460-
auf der Wolkendecke unter ihm. Als die Maschine eine Höhe von 30.000 Fuß erreicht hatte, wies nur noch eine sehr hoch stehende Zirruswolkenschicht eine leichte Rottönung auf. Aus der dunklen Tiefe schossen zwei F/A-18 Hornets empor und gesellten sich zu der EA-6B. »Seid ihr bereit?«, fragte Gillispie seine dreiköpfige Crew. Die drei bestätigten nacheinander. Die Prowler war eine Spezialmaschine für elektronische Kriegsführung, die auf der Rumpfkonstruktion der alten F-6 Intruder basierte. Während sie ihrer Vorläuferin äußerlich sehr ähnlich sah, unterschied sich ihre elektronische Ausstattung grundlegend von der ihrer älteren Schwester, da die Maschine nicht als Bomber, sondern zur Führung des modernen elektronischen Luftkriegs konstruiert worden war. Zudem war ihr Rumpf um einiges länger als der des Basismodells A-6, denn die modifizierte Maschine beherbergte vier Menschen und ein Arsenal von computergestützten Sichtgeräten. Die Besatzung saß in Zweierreihen auf Schleudersitzen. Der vordere linke Sitz war der des Piloten, die anderen wurden von Spezialisten für die elektronische Kriegsführung eingenommen. Gillispies Crew bestand nicht nur aus Männern. Hinter ihm saß eine junge Frau im Rang eines Junior-Lieutenants, die heute ihren ersten Einsatz flog. Gillispie sah auf die Uhr, aktivierte sein Mikrofon und wartete ab, bis die Kodierung des Sprechkanals mit dem des Schiffes synchronisiert war. »Strike, hier spricht Nighthawk One«, sagte er. »Ich habe meine Vögel eingesammelt und werde den Orbit verlassen. Bitte um Erlaubnis, dem Papagei den Hals umdrehen zu dürfen.« »Roger, Nighthawk One. Guten Flug.« »Wilco.« Marcus Gillispie zog die Maschine herum und nahm Kurs auf -461-
Havanna, bevor er den Autopiloten aktivierte. Anschließend ließ er sämtliche Außenlichter aufblitzen und schaltete sie anschließend ab, bis auf die winzigen Positionslichter am Rumpf oberhalb des Flügelansatzes. Zuletzt griff er nach unten und schaltete den Radartransponder, im Fliegerjargon »Papagei« genannt, ab. Die Prowler und die beiden Hornets seiner Begleiter strahlten jetzt keinerlei Radaremissionen mehr aus. Er sah zu den Hornets hinüber, die sich an die Flügelspitzen seiner Maschine gehängt hatten und mit ihr durch den Himmel rasten. Wie bei der Prowler, waren auch ihre Lafetten mit HARMs bestückt, außerdem hing bei ihnen unter jedem Tragflächenende eine Luft/Luft-Rakete vom Typ Sidewinder mit Hitzesensoren. Nur für den Fall der Fälle. Die Displays der Prowler zeigten bereits die ersten eingehenden Daten an. Neben Gillispie saß der ECMO, der Offizier für elektronische Abwehrmaßnahmen und der eigentliche taktische Kommandant des Flugzeugs. Im Zusammenwirken mit den Ausrüstungen der beiden Offiziere auf den hinteren Sitze n gaben seine Geräte einen Überblick auf die komplette strategische Lage. Die Sensoren der Computer waren zum Teil in der Außenhaut der Prowler untergebracht, erhielten aber auch Daten von den beiden HARMs, die bereits online waren. Marcus Gillispies ECMO war Commander Schuyler Coleridge, der das Geschwader befehligte. Da bei seiner Abschlussprüfung auf der Navy Academy ein geringfügiger Sehfehler festgestellt worden war, saß er jetzt auf dem Platz neben dem Piloten, statt selbst eine Maschine zu fliegen. Tatsächlich fand er, dass er den besseren Job erwischt hatte. Piloten sind lediglich bessere Chauffeure, pflegte er zu sagen der Krieg wurde dagegen von den ECMOs ausgefochten. Heute Nacht würde er den Beweis für seine Behauptung antreten können. Die Kubaner werden ziemlich verärgert sein, wenn die Tomahawks hochgehen und das Feuerwerk beginnt, -462-
dachte er. Gegenwärtig war Coleridge noch damit beschäftigt, seine Geräte zu checken. Bislang funktionierte alles wie gewohnt. Seiner Ansicht nach war die reibungslose Routine einer der größten Vorteile der modernen Kriegsführung. Als er noch jünger gewesen war, hatte er ständig eine Menge an schwerem Gerät, das alles andere als zuverlässig gearbeitet hatte, mit sich herumschleppen müssen. Obwohl es im Cockpit nicht gerade warm war, schwitzte er. Aber er wusste, dass es seinen Kameraden nicht anders erging. Es war für alle der erste richtige Kriegseinsatz. Es wird schon glatt gehen, dachte er. Nach der Anspannung des Nachmittags hatte er den Start mit dem Katapult wirklich als Erleichterung empfunden. Macht schon, ich will es hinter mich bringen! Alle vier EA-6Bs der Flugstaffel waren mittlerweile in der Luft und jede hatte ihre beiden Hornets als Begleitschutz dabei. Als Coleridge die Radarsignale über dem kubanischen Himmel beobachtete, fragte er sich besorgt, ob sie mit MiGs rechnen mussten. »Okay, Leute«, sagte er zu seiner Crew. »Machen wir uns an die Arbeit.« Das Signal eines Suchradars an der kubanischen Südküste erregte seine Aufmerksamkeit. Es wurde von den HARMSensoren empfangen, die es an den Computer der Prowler weiterleiteten, der es wiederum auf dem taktischen Monitor darstellte. Coleridge warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Kann jede Sekunde losgehen«, knurrte er. Die Kubaner hatten ihre Radarkapazität in mehrere Sektoren unterteilt, die jeweils die Funktionen für die Kontrolle des -463-
zivilen Luftverkehrs (ATC) und die militärische Frühwarnung übernahmen, wobei die letztere Sektion auch für die militärische Bodenkontrolle (GCI) zuständig war. In zivilisierten Ländern waren die ATCs nur in Ausnahmefällen so ausgerichtet, dass sie neben den aktiven Flugzeugtranspondern auch passive Radartastungen verwerteten. Da das Radarsystem in Kuba jedoch zwei Herren zu dienen hatte, führte es auch regelmäßig Suchumläufe nach passiven Radarzielen durch. So kam es, dass einer der Radarbeobachter in Havanna ein Geschwader von nicht identifizierbaren Flugzeugen bemerkte, das die Insel von Süden her anflog. Kurz nach seiner Meldung traf eine zweite ein, die von einem anderen Beobachter stammte, der den Luftverkehr auf der NordSüd-Achse kontrollierte. Der Schichtführer stand reglos hinter einem der Beobachter und starrte auf dessen Radarschirm. Seit Alejo Vargas' Ansprache hatte er so etwas eigentlich erwartet. Aber auf seine Frage, ob man mit einem Angriff der Amerikaner rechnen müsste, hatte der Stationsleiter nur gelacht. »Seit der Schweinebucht hat sich einiges geändert, Pedro. Beruhige dich, es gibt keinen Grund zur Panik.« Die Antwort hatte den Schichtführer zutiefst beleidigt. Jetzt griff er nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer des Stationsleiters. »Sie sollten sich das besser mal ansehen«, sagte er mit einem scharfen Unterton. »Kommen Sie schnell.« Der Stationsleiter stand hinter ihm und sah ihm über die Schulter auf den Monitor, als die erste Tomahawk in die Hauptradarschüssel an der Südküste einschlug. In den folgenden Sekunden gingen drei weitere Radarantennen offline. Wie betäubt wandten die Männer ihre Aufmerksamkeit der Nordküste zu, gerade noch rechtzeitig um mitzubekommen, wie der Blip einer von der Hue City abgefeuerten Tomahawk in den Kegel der Radarerfassung einflog und auch diese Antennen -464-
ausschaltete. Der Schichtführer drehte sich zu dem Stationsleiter um. »Da haben Sie den Krieg, der Ihrer Ansicht nach niemals stattfinden wird«, sagte er ruhig. Der Stationsleiter sah hilflos, wie die Amerikaner eine Radarantenne nach der anderen zerstörten. »Es heißt, dass die Amerikaner keine halben Sachen machen«, fuhr der Schichtleiter fort. »Ich wette fünfzig Pesos, dass dieses Gebäude ebenfalls das Ziel einer Cruise-Missile sein wird. Wenn die Herren mich entschuldigen wollen, ich muss heute früher nach Hause.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. »Alle raus!«, brüllte der Leiter der Station. »Raus! Alle raus!« Die Männer an den Bildschirmen benötigten keine zweite Aufforderung. Sie sprangen sofort auf und rannten los. Der Schichtleiter war bereits draußen und eilte zur Bushaltestelle, als er das Geräusch einer Tomahawk hörte. Er ließ sich zu Boden fallen und bedeckte die Ohren mit den Händen, nur Sekundenbruchteile bevor die Tomahawk in das Dach des Flugüberwachungsgebäudes einschlug und der 350Kilo-Gefechtskopf mit einem Donnerschlag detonierte. In den nächsten fünfzehn Sekunden schlugen zwei weitere Raketen in das Gebäude ein. Nachdem er sicherheitshalber eine Minute lang liegen geblieben war, stand der Schichtleiter auf und sah sich den Schaden an. Ein künstlicher Nebel aus feinem Staub hatte sich über die Station gelegt, der von den aus den Überresten des Gebäudes schlagenden Flammen erhellt wurde. Ein durchdringender Gestank nach verbranntem Sprengstoff und Rauch erfüllte die Luft.
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Insgesamt rasten 150 Raketen durch den kubanischen Luftraum, manche von Nord nach Süd, die anderen in umgekehrter Richtung. Die Auswahl der Ziele war sehr schnell erfolgt, beruhte jedoch auf elektronischen und fotografischen Daten, die über einen sehr langen Zeitraum von Satelliten und Beobachtungsflugzeugen gesammelt worden waren. Vier Dutzend Tomahawks fiel die Aufgabe zu, sämtliche Radarstationen im Umkreis der Raketensilos auszuschalten Suchradar, Luftradar, Anti-Raketen-Radar, Artillerie-Radar, das ganze Paket, zwei Raketen für jede Antenne. Weitere fünfzig Tomahawks flogen sämtliche Basen der kubanischen Luftwaffe an, die sich über die gesamte Breite der Insel verteilten. Einige der Tomahawks waren mit Streubomben statt mit hochexplosiven Gefechtsköpfen bestückt. Der von ihnen ausgelöste Hagel kleiner Bomben war gegen die am Ende der Rollfelder geparkten MiGs gerichtet, von denen einige beschädigt und manche durch Feuer zerstört wurden. Andere Cruise-Missiles bohrten sich in Hangars, Waffenlager und Treibstoffdepots. Die Luftabwehr-Bodenstellungen wurden mit je zwei oder drei Tomahawks ausgeschaltet. Alejo Vargas erfuhr von der Offensive, als das Telefonat, das er gerade führte, jäh unterbrochen wurde. Er verzog verärgert das Gesicht, hämmerte einige Male auf die Gabel und legte schließlich den Hörer auf. Erst da erreichte ihn der dumpfe Knall des explodierenden Gefechtskopfs der Tomahawk, die direkt in das Dach der Telefonzentrale von Havanna eingeschlagen war. Der ersten Explosion folgten zwei weitere, als noch einmal zwei Tomahawks in die Telefonzentrale stürzten. Eines der taktischen Probleme der Cruise-Missiles lag in der Tatsache begründet, dass es unmöglich war, aus der Ferne das Ausmaß des Schadens zu übersehen. Deshalb schickte man in kurzen Abständen mehrere Tomahawks los, um ein akzeptables Ausmaß an Zerstörung zu erzielen. -466-
Alejo Vargas kam gar nicht erst auf die Idee, dass der Regierungspalast ebenfalls ein Primärziel der amerikanischen Raketenangriffe sein könnte. Er ging zum Fenster und hörte das Heulen und Zischen der Tomahawks, die auf dem Weg zu einer Radareinrichtung oder einer der Raketen- oder GranatenFlugabwehrstellungen in der Nähe des Flughafens José Marti über die Stadt hinwegjagten. In der Dunkelheit waren die 500 Knoten schnell fliegenden Raketen nicht zu sehen, aber man konnte sie unmöglich überhören. Dann verstummte der Raketenlärm, und Vargas bemerkte das Feuer einer Flugabwehrstellung irgendwo in der Nähe des Hafens, die Leuchtspurmunition verschoss. Die Leuchtspuren durchschnitten die Dunkelheit wie ein harmloses Feuerwerk, untermalt vom Hämmern der Geschosse, das in den Straßen Havannas widerhallte. Colonel Santana betrat das Büro und ging zu Vargas ans Fenster. »Das Telefonnetz in der ganzen Stadt ist zusammengebrochen.« »Wahrscheinlich sogar in ganz Kuba«, erwiderte Vargas. »Die Amerikaner greifen weit früher an, als Sie vermutet haben.« »Das spielt keine Rolle, denn das Resultat wird dasselbe sein. Besorgen Sie einen Wagen, der uns zur Sendezentrale von Radio Havanna bringt. Ich werde eine Ansprache an die Nation halten.« »Die Amerikaner könnten Raketen auf die Radiostation oder die Kraftwerke abfeuern.« »Möglich, aber das bezweifle ich. Besorgen Sie einen Wagen.« Santana ging, während Vargas überlegte, was er sagen würde, um den Patriotismus im Herzen eines jeden Kubaners am besten anzufachen. -467-
Die beiden C-130 Hercs und die vier EA-6B Prowlers aus Key West passierten die Nordküste Kubas in einer Höhe von 10.000 Fuß. Dabei hatten die C-130 die Positionslichter an den Flügelspitzen eingeschaltet, um den Piloten der Prowlers die Einhaltung der Formation zu erleichtern. Die Navigation zu den Raketensilos erfolgte durch das Globale-Positionierungs-System (GPS) der Hercs. Die Crews der Prowlers behielten die Displays der Computer im Auge und hörten die Detektoren für akustische Emissionen ab. Sie warteten darauf, dass die Kubaner ein Radarsystem aktivierten, irgendein Radarsystem, aber die Nacht blieb still. Offenbar hatten die Tomahawks ganze Arbeit geleistet. Als die Hercs die erste der Molkereien überflogen, sprangen aus jeder Maschine zwei Mann ab. Vierzig Sekunden später wiederholte sich das Manöver über der zweiten potenziellen Laboranlage. Dann führten die Hercs eine sanfte Kehre aus, um sich der Angriffsfront auf die Raketensilos anzuschließen. Die Luftabwehrstellungen des Flughafens José Marti lagen nur dreißig Meilen westlich, doch war von ihnen kein Laut zu hören. Falls die Tomahawks tatsächlich nicht alle Radarstationen ausgeschaltet hatten, schienen sich die kubanischen Beobachter noch nicht genug vom ersten Schock erholt zu haben, um ihre Arbeit wieder aufzunehmen, wofür die Crews der Hercs dankbar waren. Die Besatzungen der Prowlers dagegen schienen etwas enttäuscht, da sie nur zu gern ihre HARMs ausprobiert hätten; nach all der Mühe wäre ihnen ein bisschen mehr Action nur recht gewesen. An Bord der USS United States wurden die Daten der E-3 Sentry-AWACS ausgewertet. Auf dem José Marti-Flughafen von Havanna war das Chaos ausgebrochen, weil der zivile Luftverkehr mangels Radarbeobachtung nicht ordnungsgemäß zur Landung eingewiesen werden konnte. Einige der Maschinen -468-
waren bereits umgeleitet worden und flogen nun die USA, Jamaica oder die Cayman-Inseln an. Andere entschieden sich für eine Sichtlandung in Havanna. Jake Grafton drückte ihnen die Daumen, als er das Durcheinander auf dem Bildschirm verfolgte. Er wollte wirklich nicht für den Absturz eines zivilen Verkehrsflugzeugs verantwortlich sein. Trotzdem konnte die Angriffswelle nicht einfach unterbrochen werden, bis sich der Flughafenbetrieb möglicherweise wieder beruhigt hatte. Als die erste Hercules über Raketensilo Nummer eins eintraf, sprangen zwei Mann aus der geöffneten Heckklappe. Sekunden später folgten ihnen zwei Mann aus der nächsten Maschine. Die Springer stürzten wie Steine in die Tiefe. Dieselbe Prozedur spielte sich auch bei den anderen Silos ab, bis die Teams bei allen sechs Standorten abgesetzt worden waren. Die Hercs drehten ab und flogen Richtung Norden auf das Meer zu. Die Prowlers folgten ihnen wie Pilotfische. Im diesem Moment wurde das Radarsystem einer Luftabwehrstellung in der Nähe von Silo Nummer zwei aktiviert. Sofort registrierten die Prowlers das Signal, und zwei von ihnen kippten über die Längsachse weg, um das neue Ziel anzufliegen. Vierzig Meilen südlich von Silo Nummer zwei hatte auch Schuyler Coleridge das Radarsignal aufgefangen, das die unverkennbare Handschrift einer alten sowjetischen FansongAnlage trug. Er loggte die HARMs in das Signal ein, während sein Pilot Marcus Gillispie den Kurs der Maschine um zehn Grad korrigierte, bis sie genau auf die Radaranlage zuflogen. Obwohl die neuen Raketen auch aus einem sehr stark abweichenden Winkel ihr Ziel erreichen würden, brachte eine Kurskorrektur des abfeuernden Flugzeuges einen Zeitvorteil von einigen Sekunden. »Feuer!«, befahl Coleridge. Gillispie drückte den entsprechenden Kopf, und die HARM löste sich mit einem -469-
grellen Feuerstoß von der Lafette. Coleridge schaltete das Funkgerät ein. »Fox Three«, sagte er, womit das Geschwader darüber informiert war, dass einer der Radarsucher abgefeuert worden war. Die HARM loggte auf eine der seitlichen Abstrahlkeulen des Fansong-Radars ein, während dessen Mannschaft versuchte, eine Herc auf dem Schirm zu behalten, um sie mit einer SA-2 herunterzuholen. Der Radartechniker sollte nie erfahren, dass sich eine Antiradar-Rakete seiner Stellung näherte. Die Rakete bohrte sich mit Mach 3 in die Rückseite der Radarschüssel und flog noch mehrere Meter weiter, bevor der Gefechtskopf explodierte. Der Gefechtskopf enthielt Tausende von Würfeln mit einer Kantenlänge von einem halben Millimeter aus einer TungstenLegierung, die fast dreimal so hart wie Stahl ist. Die Explosion schleuderte die Würfel in alle Richtungen. Sie zerfetzten die Radarantenne, den Radarkopf, zersiebten den Trailer, auf dem die Antenne montiert war und atomisierten die empfindliche Elektronik. Die winzigen Projektile töteten den Radarbeobachter und fügten den drei anderen Männern im Trailer schwere Verletzungen zu. Sechs Sekunden später traf eine zweite, von einer der F/A-18 Hornets abgefeuerte HARM ein. Sie krachte in einen Baum, der nur wenige Meter neben den schwelenden Trümmern des Trailers stand. Obwohl das Radarziel nach dem Einschlag der ersten Rakete nicht mehr existierte, ermöglichte das Trägheitsnavigationssystem der Rakete dem Computer, die HARM weiter in das von ihm abgespeicherte Ziel zu fliegen. Die Explosion zerfetzte den Baum und tötete einen der drei verletzten Männer. Major Carlos Corrado schlief gerade seinen Rausch aus, als ihn der Lärm einer Tomahawk weckte, die über seinen Kopf -470-
hinwegzischte. Er öffnete die Augen, hörte das Stakkato explodierender Streubomben, wusste aber nicht, dass sie von einer Tomahawk stammten. Stattdessen glaubte er, dass es sich um einen Bomber handelte. Corrado war völlig groggy, wie zerschlagen, und ihm war speiübel. Er klammerte sich an einem Schränkchen fest, als die zweite Tomahawk über ihn hinwegjagte. Zehn Sekunden später drangen die Explosionen der Streubomben, die gewaltige Schäden unter den am Ende des Rollfeldes abgestellten Flugzeugen anrichteten, in sein alkoholumnebeltes Bewusstsein. Dann ertönte ein gewaltiger Knall, der seine Baracke erbeben ließ, als eines der Flugzeuge detonierte. Corrado stolperte ins Freie und starrte auf das Rollfeld, wo mindestens drei Maschinen lichterloh brannten. »Heilige Mutter Gottes!« Schlagartig ernüchtert, eilte Corrado in seine Baracke zurück, streifte seine Fliegermontur über und zwängte seine Füße in die Stiefel. Als er auf das Rollfeld zurannte, warf gerade eine dritte Tomahawk ihre Bomben ab und raste danach auf den Horizont zu. Corrado umrundete die Ecke der Baracke und sah, wie eine der Cruise-Missiles, die kleine Streubomben verteilt hatte, in einem Hangar verschwand. Es gab keine großartige Explosion, aber Sekunden später stand der aus Holz gebaute Hangar hell in Flammen. Seine MiG-29 Fulcrum stand zwischen dem brennenden und einem zweiten Hangar, der vermutlich als Nächster auf der Abschussliste der Tomahawks stand. Die Wartungstechniker hatten sich um die Maschine gekümmert, weshalb sie nicht wie üblich auf dem Rollfeld abgestellt war. Einige Leute vom Bodenpersonal halfen ihm, den Jet aus dem Gefahrenbereich zu schieben. Die Wand des brennenden -471-
Hangars konnte jeden Moment einstürzen und die Maschine unter sich begraben. »Die Maschine ist nicht betankt!«, rief ihm irgendjemand zu. »Schafft einen Tankwagen her!«, keuchte Corrado. »Und Munition für die Bordgeschütze.« Er hatte kaum ausgesprochen, als auch schon eine Tomahawk in den zweiten Hangar raste. Corrado schäumte vor ohnmächtiger Wut, während die Bodenmannschaft seinen Jet betankte und die Waffensysteme bereit machte. In der Abfertigungsbaracke versuchte er, telefonisch jemanden vom Waffenlager zu erreichen, als er sah, dass ein mit Raketen beladener Lastwagen mit qualmenden Reifen neben seiner MiG zum Stehen kam. Also wählte er die Nummer des militärischen Radarzentrums an. Er hörte eine Weile dem Freizeichen zu, aber niemand hob ab. Der Major steckte sich eine Zigarre in den Mund, ohne sie anzuzünden, und stürzte wieder zu seinem Jet. »Passt auf, ihr Idioten! Macht es bloß richtig. Ich habe keine Lust, wegen euch draufzugehen.« Er sah zu, wie die Männer das letzte 30-Millimeter-Geschoss ins Magazin schoben, als ein Oberst aus der Kommandantur von Havanna auftauchte. »Sie wollen doch nicht wirklich in der Kiste da losfliegen, Corrado?« »Nein, lieber Colonel, das machen wir nur zum Spaß. Jeden Samstag, wenn die Amerikaner angreifen, machen wir die MiG gefechtsfertig. Und am Sonntag nehmen wir die Munition dann wieder raus.« »Machen Sie sich nicht lustig über mich, Major! Ich dulde keine derartigen Unverschämtheiten!« »Sie aufgeblasener Schlappschwanz! Suchen Sie sich irgendwo eine Hure, und lassen Sie die echten Männer Krieg -472-
führen.« »Beleidigen Sie mich nicht! Sie stinken nach Rum und Erbrochenem! Waschen Sie sich gefälligst!« »Warum sollte ich? Ihre hässliche Fresse beleidigt Sie jeden Tag!« Der Colonel war so wütend, dass er Speichel verspritzte. »Ich verbiete Ihnen ausdrücklich, Ihre Maschine ohne schriftlichen Befehl aus Havanna zu bewegen!« »Dann bringen Sie mich doch vors Kriegsgericht!« »Die Amerikaner werden diese Maschine zerstören, sobald Sie abgehoben haben. Also begehen Sie Sabotage, ein schweres Verbrechen gegen den Staat. Ich werde von der Schusswaffe Gebrauch machen, sollten Sie es versuchen!« Der Colonel zog seine Dienstwaffe und richtete sie auf Corrado. Corrado würdigte die Pistole keines Blickes. »Sie sind ein Verräter!«, fauchte er. »Sie wollen, dass die Amerikaner siegen. Defätist! Feigling!« »Ich werde jeden erschießen, der Ihnen hilft, dieses Flugzeug zu verwenden!«, schrie der Offizier. Er schwenkte die Waffe herum und zielte auf die Leute von der Bodenmannschaft, die gerade die Wartungsklappen der MiG schlossen. »Konterrevolutionäre! Saboteure!« Corrado hämmerte dem Colonel die Faust ins Gesicht, dann ein Schlag aufs Ohr. Der Offizier sackte auf die Knie, kippte vornüber und blieb reglos liegen. Einer der Mechaniker nahm dem Bewusstlosen die Waffe ab. Corrado massierte seine Fingerknöchel. Sie taten höllisch weh, aber gebrochen hatte er sich anscheinend nichts. Eigentlich war er alles andere als ein Held. Vor einigen Jahren hatte er seine Frau und sein Kind verlassen. Er wusste nicht, wie es ihnen ging und wo sie waren, da er keine Lust hatte, für die beiden aufzukommen. Und er hatte kein Geld für sie übrig, da er -473-
alles versoff. Schon seit einiger Zeit verkaufte er sogar heimlich militärisches Zubehör, um seine Sucht zu finanzieren. Das einzig Nennenswerte, was er in seinen sechsunddreißig Lebensjahren zustande gebracht hatte, war die Pilotenausbildung. Und jetzt, unerwartet und wie ein Wunder, hatte sich eine Gelegenheit ergeben, wenigstens auf diesem Gebiet zu beweisen, dass er doch zu etwas taugte. Und diese Gelegenheit würde er sich nicht von einem uniformierten Gockel zunichte machen lassen. Carlos Corrado scheuchte seine Männer auf. »Klemmt endlich die Raketen an, ihr faulen Bastarde!«, brüllte er. »Wir haben Krieg!« Richard Merriweather manövrierte seinen Lenkfallschirm in ein Maisfeld. Zumindest ging er davon aus, dass es Mais war mannshohe Pflanzen mit zähen Blättern. Nachdem er gelandet war, tastete er sich schnell ab. Abschürfungen und Schrammen, offensichtlich hatte er sich nichts gebrochen. Er zog den Fallschirm zu sich heran und grub mit den Händen ein Loch in die Erde, um ihn darin zu verstecken. Gerade als er damit fertig war, bemerkte er eine Bewegung hinter sich. »Sergeant?« »Yo. Bist du okay?« »Ja«, sagte Kirb Handy. »Dann wirf mal das GPS an. Ich will wissen, wo exakt wir runtergekommen sind.« Merriweather setzte seine Nachtsichtbrille auf und sah sich vorsichtig um. So weit er es beurteilen konnte, waren sie ziemlich genau in der Mitte des Feldes gelandet. Er setzte sich auf den Boden, direkt neben Handy, der ebenfalls Nachtsichtgläser trug, mit dem GPS-Receiver herumhantierte und eine Taste drückte. -474-
»Das Ding behauptet, wir sind anderthalb Meilen südwestlich vom Zielort.« »Wird wohl stimmen.« »Eine halbe Meile außerhalb der Landezone.« »Gar nicht mal so schlecht.« Merriweather überprüfte seine Waffe. Dann stand er auf. »Die anderen beiden müssten irgendwo in der Nähe sein«, murmelte Handy. »Das möchte ich ihnen auch raten. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Sie zogen noch einmal den GPS-Empfänger zu Rate und machten sich dann auf den Weg Richtung Nordosten, wo sich Raketensilo Nummer sechs befand. Nach hundert Metern standen sie plötzlich am Ufer eines Flusses. Eines verdammt breiten Flusses. »Was, zum Henker, ist das?« Merriweather zog eine Landkarte hervor und kauerte sich mit Handy hinter einen Baum. »Heilige Scheiße!«, fluchte Handy. »Wir sind an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Fast vier Meilen von dem verdammten Silo entfernt. Schau es dir an.« Er deutete auf die Karte. »Das muss der Fluss da vor uns sein.« »Und wo ist die andere Hälfte des Teams?« »Weiter da drüben, näher am Silo.« »Rufen wir sie an und geben wir ihnen Bescheid.« »O Mann«, stöhnte Handy leise. »Das ist echt nicht gut.« Das auf Silo Nummer zwei angesetzte vierköpfige Team arbeitete sich durch einen Entwässerungsgraben voran, der mehr oder weniger in die richtige Richtung führte. Zum Glück waren die Uferböschungen halbwegs trocken, auch wenn das Wasser in -475-
dem Graben ein paar Zentimeter hoch stand und der Untergrund ziemlich aufgeweicht war. Ungefähr fünfzig Meter vor der Scheune, in der sie das Silo vermuteten, blieben sie liegen. Sie waren völlig von Soldaten der kubanischen Armee eingekreist. Vor der Scheune standen zwei Panzer, weiter hinten bei einer Baumgruppe mehrere Lastwagen. In der Nähe eines Brunnens bauten die Soldaten gerade eine Feldküche auf. Andere befanden sich links in einem Wäldchen, wo sie vermutlich eine Latrine aushoben. »Müssen ein paar Hundert sein«, flüsterte Asel Tyvek seinem Kameraden Jamail Ali zu, der neben ihm im Graben lag. »Wir können hier nicht liegen bleiben«, raunte Ali zurück. »Ist nur eine Frage der Zeit, bis ir gendjemand auf die Idee kommt, seine Taschenlampe in diesen Graben zu richten.« »Das Silo muss in der Scheune sein, geht gar nicht anders. Wenn wir weiter durch den Graben kriechen, kommen wir bis auf dreißig Meter ran.« »Teilen wir uns auf, fünfzig Meter Abstand zwischen jedem Mann«, schlug Ali vor. »Wenn die Burschen einen von uns schnappen, kommen wenigstens die anderen durch.« Asel nickte. Ali erklärte den anderen beiden, was sie beschlossen hatten, dann tauchten sie getrennt in der Dunkelheit unter. Tyvek drückte die Sprechtaste seines Helmfunkgeräts. Sekunden später war er mit einer Funkbeobachterin auf der USS United States verbunden und informierte sie über die Lage vor Ort. »Zwölf Minuten«, sagte die Frauenstimme in seinem Ohr. »Zwölf Minuten.« »Roger, Battlestar. Zwölf Minuten.« Norman Tillman und die drei anderen Männer seines Spähtrupps standen bis fast zu den Knien in Kuhscheiße. Sie -476-
wateten durch den Hof und scheuchten die Kühe aus dem Weg, um zu der Scheunentür vorrücken zu können, hinter der sie eine Produktionsstätte für Biowaffen vermuteten. »Ich dachte, es gäbe hier keine verdammten Kühe«, knurrte Tillmans Nummer zwei verärgert. Tillman zog seine Nachtbrille ab, nahm die Taschenlampe in die eine und das Gewehr in die andere Hand. Er nickte Nummer zwei zu, der vorsichtig das Scheunentor aufstieß, was wenig nutzte, da die rostigen Angeln einen Heidenlärm verursachten. Mit einem Sprung verschwand Tillmann in der dunklen Öffnung, glitt aus, fiel flach auf den Bauch und rutschte ein paar Meter über den Boden. Das Zeug, in dem er lag, ließ sich zu seinem Unwillen problemlos am Geruch identifizieren. Er richtete sich auf und ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe wandern. Die Scheune war ein hölzerner Kuhstall, der zweifellos seit einigen Wochen nic ht mehr ausgemistet worden war. Zwei Kühe drehten sich zu ihm um und glotzten in das Licht. Sie waren nervös, als wollten sie jeden Augenblick losrennen, und begannen zu muhen. Norman Tillman fluchte leise und machte sich daran, den Rest der Scheune zu inspizieren. Fünf Minuten später kam er aus dem Stall heraus und drückte die Sprechtaste seines Helmfunkgeräts. »Battlestar, hier ist Team eins. Resultat negativ. Nichts hier außer Kühen.«. »Roger, Team eins. Wir holen euch jetzt raus.« »Team eins, verstanden. Out.« »Ich dachte, es gäbe hier überhaupt keine Kühe«, sagte einer der Männer. »Yeah, aber die Kühe wussten anscheinend nicht, dass sie im Urlaub sein sollten.« »Oder wir sind auf der falschen Farm gelandet.« -477-
Tillman dachte darüber nach. Nein, das wäre ein zu dicker Hund. Er vermutete eher, dass die Kühe sich auf einem benachbarten Feld aufgehalten hatten, als die Luftaufnahmen geschossen worden waren. »Sarge, da kommt jemand!« Die Männer warfen sich sofort zu Boden, mitten in das stinkende Gemisch aus Kuhmist und Matsch. Kurz darauf sahen sie einen Mann, einen Farmarbeiter in Zivil. Die Marines hoben ihre Waffen und deuteten ihm an, sich mit dem Rücken an die Wand des Viehstalls zu setzen, verzichteten aber darauf, ihm die Hände zu fesseln. Zuerst war der Kubaner völlig verängstigt, entspannte sich jedoch, als ihm einer der Marines eine Zigarette anbot. Tillman kletterte über einen Zaun, raus aus dem Dreck, lehnte sich an einen Baumstamm und wartete auf den Hubschrauber. Einer seiner Männer bewachte den Kubaner, die anderen hielten die Augen offen.
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20 »Die Silos eins und zwei werden von mehreren hundert Soldaten bewacht, Admiral, außerdem haben sie vier Panzer in Stellung gebracht. Bei Silo drei sind es eine Schwadron Soldaten und mindestens zwei Panzer. Silos vier und fünf werden nicht bewacht, wie es aussieht. Der Spähtrupp für Silo sechs wurde versehentlich am falschen Ort abgesetzt - nur zwei Mann haben sich bislang gemeldet, und die schätzen, dass sie mindestens drei Meilen vom Zielort entfernt sind. Wir haben erfolglos versucht, Kontakt zu den anderen beiden aufzunehmen.« Der Nachrichtenoffizier hatte bei seinen Ausführungen die entsprechenden Standorte auf der Wandkarte mit dem Laserpointer hervorgehoben. Jake Grafton nahm die Karte kaum wahr, da er sie ohnehin im Kopf hatte. Er verglich seine Uhr mit der an der Wand. »Das bei Punkt Alpha vermutete Labor hat sich als Kuhstall entpuppt. Der Spähtrupp für Punkt Bravo hat den Jackpot geknackt - Soldaten, aber nicht allzu viele, höchstens ein Dutzend. Noch zehn Minuten, dann dürfte die Osprey dort eintreffen.« Der Admiral stand auf, streckte sich und massierte sich den Nacken. Es klappte besser, als er gehofft hatte. Bis jetzt zumindest. Kein Abschuss, und nur ein verloren gegangener Erkundungstrupp… »Wir überwachen doch auch die kubanischen Radio- und Fernsehsender, oder?« »Ja, Sir. Das hat die NSA übernommen.« »Hmmm…« -479-
»Was machen wir jetzt mit Silo Nummer sechs, Admiral?«, wollte Gil Pascal wissen. »Gar nichts. Wir können nichts machen. Die Jungs von der Kommandogruppe müssen blind reingehen.« »Und wenn die Kubaner sie bereits erwarten?« »Damit müssen wir rechnen«, erwiderte Jake Grafton. Er setzte das Headset auf und schaltete die Funkkanäle durch. Für das Abhören der taktischen Meldekanäle der Airforce musste er nur einen Schalter umlegen. Die neuen Kommunikationseinrichtungen erlaubten sogar die Überwachung aller Gespräche, die über die Helmfunkgeräte der Marines und Navy-Kommandanten geführt wurden. Die Signale wurden zudem an einen Satelliten geschickt und von dort aus in den Besprechungsraum des Weißen Hauses weitergeleitet. Jake Grafton befürchtete nach wie vor, dass einer der Politiker oder der führenden Militärs in die Aktion eingreifen würde. Obwohl die Leute in Washington sich nicht selbst in das Kommunikationsnetz einschalten konnten, war es kein Problem für sie, in kürzester Zeit jemanden zu kontaktieren, der die Lücke für sie überbrückte. Und ein Befehl blieb ein Befehl, selbst wenn er schlecht durchdacht war. Jake beschloss, erst wieder an die Politiker zu denken, wenn sie sich in die Operation einmischten. Doll Hanna war der Leiter des Erkundungstrupps bei der Molkerei Bravo. Er hatte eine Fertigungsanlage für biologische Gefechtsköpfe gefunden, das war ihm absolut klar. Weit und breit waren keine Kühe zu sehen, nur zwei blitzsaubere Milchtransporter, die direkt vor dem Eingang der Scheune parkten. Hanna hörte das Brummen der Klimaanlage. Die Scheune wurde von kubanischen Soldaten bewacht. Von seinem Versteck aus konnte er zwei davon sehen, die vor dem -480-
Eingang der Scheune standen. Sie trugen Filzkappen und waren mit Gewehren bewaffnet. Hanna wusste, dass auch der Hintereingang bewacht wurde und weitere Soldaten in dem nahe gelegenen alten, mit Stroh gedeckten Farmhaus postiert waren. Doll Hanna drückte die Sprechtaste seines Helmfunkgerätes. »Willie, du kümmerst dich um die beiden auf der Nordseite. Fred, du übernimmst das Farmhaus und Goose die beiden hier am Eingang.« Die drei Männer bestätigten den Befehl. Da er seine Nachtsichtgläser trug, konnte Doll Hanna sehen, wie Goose zu den Milchtransportern robbte, unter ihnen hinwegkroch und sich weiter zum Eingang vorarbeitete. Es war schon ein wenig unheimlich anzusehen, wie sich Goose im Schutz der Dunkelheit an die ahnungslosen Posten heranschleiche n konnte. Schwieriger würde es allerdings sein, die beiden Männer so schnell auszuschalten, dass sie keinen Alarm mehr schlagen konnten. Goose ging so langsam vor, als ob er die ganze Nacht Zeit hätte. Aber das war nicht der Fall, wie Doll Hanna wusste. Die Osprey kreiste irgendwo über ihren Köpfen und würde nicht landen, bevor er meldete, dass das Ziel bereinigt war. Andererseits war der Treibstoffvorrat des Flugzeugs begrenzt, und die Kubaner würden nicht ewig stillhalten. Abgesehen davon mussten sie damit rechnen, dass jede Sekunde weitere kubanische Soldaten eintreffen konnten. Sobald die Marines aus der Osprey eintrafen, mussten sie die nähere Umgebung abriegeln. »Doll, hier ist Fred. Ich mache jetzt ein paar Geräusche, ja?« »Okay.« Goose und Willie hatten diese Meldung natürlich mitgehört. -481-
Die Geräusche sollten die Soldaten ablenken. Notfalls würden Goose und Willie sie einfach niederschießen. Hanna hörte aus der Ferne, wie jemand am Farmhaus eine Tür zuknallte. Die beiden Posten sprangen auf, sahen sich an und begannen, auf das Haus zuzulaufen. Dann forderte der eine seinen Kameraden auf, die Stellung zu halten, hob sein Gewehr an die Schulter und ging auf einen der Milchtransporter zu. Als er auf der anderen Seite des Fahrzeugs aus dem Blickfeld seines Kameraden verschwand, erledigte Goose ihn mit dem Messer. Dann wartete er. Der andere Posten rief nach seinem Kameraden. Stille. Der Kubaner wirkte beunruhigt. Er rief noch einmal, lauschte, näherte sich dem Transporter, blieb aber nach sieben oder acht Schritten wieder stehen. Er legte den Kopf schief, versuchte, über das Summen der Klimaanlage hinweg etwas zu hören und starrte unsicher in die Dunkelheit. Goose trat lautlos hinter dem Transporter hervor und warf sein Messer. Der Posten ließ das Gewehr fallen und brach zusammen. Hanna stand auf und lief zum Tor der Scheune, vorbei an Goose, der sich über den zweiten Posten gebeugt hatte, um sich zu vergewissern, dass der Mann auch wirklich tot war. Vorsichtig öffnete Hanna das Scheunentor eine Hand breit und spähte hinein. Er sah einen transparenten Plastikvorhang, der eine Barriere zum Innenbereich des Labors bildete. Dahinter bewegten sich Menschen in Schutzanzügen; wie Astronauten wanderten sie zwischen Reihen voller Petrischalen und Labortischen hin und her. Sie konnten nichts gehört haben, weil das unablässige laute -482-
Summen der Klimaanlage alle anderen Geräusche übertönte. Doll zog sich zurück. Um die Leute in dem Labor würden sich die Experten kümmern. Major Carlos Corrado lief mitten über das Rollfeld der Luftwaffenbasis Cienfuegos. Die Befeuerung am Rande der Startbahn war ausgefallen, und es gab keine Lichtquelle außer den Flammen, die aus den beiden Hangars und den getroffenen Flugzeugen schlugen. Er konnte Menschen schreien hören und einzelne Worte und Satzfetzen verstehen, die sich um Feuer, Wasser, Raketen und darum drehten, in Deckung zu bleiben. Undeutlich hörte er hoch über sich im nachtschwarzen Himmel die Geräusche von Flugzeugen und Marschflugkörpern. Natürlich amerikanische Maschinen, denn in der kubanischen Luftwaffe, der Fuerza Aerea Revolucionaria, herrschte aus Kostengründen strengstes Nachtflugverbot. Was war hier nur los? Wo fand der Krieg statt? Carlos Corrado gab sich keinen Illusionen über den Ausgang seines bevorstehenden Kampfes gegen die amerikanische Luftstreitmacht hin. Seine MiG-29 war die abgespeckte Exportvariante des russischen Jets, sie verfügte lediglich über die notwendigsten elektronischen Peilsysteme. Und seine Bodenkontrollstation befand sich momentan vermutlich im selben Zustand wie die brennenden Hangars hinter ihm. Natürlich konnte er sein Radarsystem abschalten, so dass er nicht mehr als Ortungsecho auf den Aktivsystemen der Amerikaner erscheinen würde. Aber dann wäre er elektronisch blind. Eine weitere Cruise-Missile tauchte am Himmel auf und raste in den einzigen noch intakten Hangar. Mehr als 350 Kilogramm Sprengstoff detonierten mit einem gewaltigen Schlag, der den Hangar bereits wie ein Kartenhaus zerlegte, noch bevor der weiß glühende Feuerball der Explosion auf seine volle Größe -483-
angewachsen war. Wenn die Amerikaner Cienfuegos beschossen, mussten sie den Internationalen Flughafen José Marti in Havanna geradezu pulverisieren. Havanna. Der eigentliche Krieg spielte sich in Havanna ab. Also würde er dorthin fliegen. Die doppelmotorige V-22 Osprey war durch ihre schwenkbaren Rotoren die ultimative Flugmaschine, sowohl als Kampfflugzeug wie als Transporter. Zumindest hatte Rita Moravia das ihrem Mann Toad Tarkington gegenüber oft genug behauptet. Die Osprey konnte schweben wie ein Helikopter und fliegen wie ein Flugzeug, war für den Start auf einem Schiff geeignet und konnte ihre Fähigkeiten am besten ausspielen, wenn es so dunkel war wie jetzt. Rita saß auf dem Pilotensitz und hatte Kurs auf die zentralkubanische Provinz Matanzas genommen, wo sich eins der Raketensilos befand; hinter ihr warteten vierundzwanzig bis an die Zähne bewaffnete Marines auf ihren Einsatz. Nach dem Senkrechtstart von der Kearsarge flog sie in einer Höhe von 2000 Fuß mit einer Geschwindigkeit von 250 Knoten über die Insel. Die Navigation wurde vom GPS gesteuert, und zur Nachtsicht war das Flugzeug mit dem FLIR-Infrarotsystem ausgerüstet, das die kubanische Landschaft so hell darstellte wie an einem wolkenlosen Sonnentag. Ihr Copilot war Captain »Crash« Wade, USMC, der seinen Spitznamen nicht etwa Flugzeugabstürzen verdankte, sondern einer Reihe unglücklicher Skiunfälle. Wade konzentrierte sich voll auf das Multifunktionsdisplay (MFD), das alle flugrelevanten Daten anzeigte. Rita dagegen war mit dem Funkgerät beschäftigt, über das Asel Tyvek, der kommandierende Offizier des MarineSpähtrupps bei Silo Nummer zwei, seine Meldungen durchgab. -484-
Seinen richtigen Namen kannte Rita nicht, nur sein Rufzeichen Blue One. »Old Rover, hier ist Blue One. Ich möchte, dass ihr noch fünf Minuten da oben bleibt, damit wir hier unten ein paar Geschütze in Stellung bringen können. Die Landezone ist brandheiß.« »Old Rover, Roger.« Rita drückte die Taste des cockpitinternen Sprechkanals. »Okay, Crash, wir bleiben in Warteposition.« »Wieso haben wir eigentlich das heiße Ziel?«, wollte Crash wissen. »Reine Glückssache, schätze ich«, erwiderte Rita und wählte den Kanal, der sie mit dem Lieutenant der im Frachtraum sitzenden Marines verband. Asel Tyvek und Jamail Ali lagen nebeneinander in dem Entwässerungsgraben, dreißig Meter von der Scheune entfernt; die beiden anderen Mitglieder des Teams hatten sich links und rechts von ihnen postiert. »Wir müssen in die Scheune«, flüsterte Ali. »Für den Fall, dass die Kubaner da ebenfalls rein wollen.« »Mann, du glaubst doch nicht, dass die dünnen Planken gegen irgendeine Waffe Schutz bieten? Bleib lieber hier in diesem verdammten Graben und halt dich bereit, falls die Kubaner uns entdecken.« »Hörst du das? Da kommen unsere Jungs!« Tyvek lauschte angestrengt. Yep, es war einwandfrei das Knattern von Rotorblättern. »Snake One, Blue One«, flüsterte er in sein Funkgerät. »Die Scheune ist von kubanischen Soldaten umstellt. Mindestens zwei Panzer, acht oder neun Lastwagen, ein paar hundert Mann. Wir liegen in einem Graben in der Nähe der Scheune.« -485-
»Habt ihr genug Deckung?« »Ja.« Der Lärm der Hubschrauber war deutlich lauter geworden. Tyvek hob seine Waffe, legte den Finger an die Sicherung. Bald würden die Kubaner Deckung suchen, und er hatte keine Lust, den Graben mit ihnen zu teilen. Dann tauchten die Super-Cobras knapp über den Baumwipfeln auf. Sie schienen sich kaum zu bewegen. Tyvek zog den Kopf ein, da er wusste, was jetzt kommen würde. Er hörte das Fauchen, mit dem die Hellfire-Raketen auf die Panzer zuschossen, die Explosionen, als sie ihre Ziele trafen. Er hob kurz den Kopf, um einen schnellen Blick über die Böschung des Entwässerungskanals zu werfen. Die Panzer waren nur noch rauchende Trümmer; gerade rasten weitere Hellfires in die Lastwagen. Nirgendwo stand noch jemand auf seinen Beinen. Alle Kubaner lagen flach auf dem Boden, versuchten, sich kriechend in Sicherheit zu bringen, oder bewegten sich gar nicht. Die zwei Super-Cobras kamen näher heran. Der Lärm, den ihre Motoren machten, war beachtlich. Die dreiläufigen 20Millimeter-Geschütze eröffneten das Feuer. Gleichzeitig lösten sich die unter den Stummelflügeln montierten Raketen. Die Soldaten im Hof erkannten, dass sie nicht bleiben konnten, wo sie waren, sie lagen im Zentrum des feindlichen Feuers. Einige sprangen auf und versuchten, sich in den Graben zu retten. Glücklicherweise schienen nur wenige bewaffnet zu sein, da sie von dem Angriff überrascht worden waren. »Sie kommen!«, rief Tyvek und eröffnete das Feuer auf die vorderste Linie der Flüchtenden. Es waren zu viele, er konnte sie allein nicht schnell genug ausschalten. Die Männer rannten auf den Graben zu, während Tyvek, Ali und die beiden anderen sie mit Dauerfeuer eindeckten und die Super-Cobras das Gelände mit ihren Bordgeschützen bestrichen. -486-
»Wir brauchen dringend Hilfe, Old Rover!«, rief Tyvek in das sprachaktivierte Mikro seines Helmfunkgerätes. »So schnell es geht!« Irgendetwas Schweres landete auf seinen Beinen. Er ruckte herum und feuerte im gleichen Moment, aber der Mann war bereits tot - Ali hatte ihn erschossen. »Sie wollen in die Scheune!«, schrie Ali und leerte ein ganzes Magazin auf drei Soldaten, die versuchten, durch das Scheunentor zu gelangen. Einer schaffte es mit knapper Not hinein. Jamail Ali kletterte aus dem Graben und rannte auf die Scheune zu, während Tyvek in sein Helmmikro brüllte und die Schützen in den Super-Cobras aufforderte, nicht auf Ali zu schießen. »Snake One Four, hier ist Orange One.« Richard Merriweather ließ die Sprechtaste los und wartete auf die Antwort der Super-Cobras, die sich auf Silo Nummer sechs zubewegten. »Orange One, hier Snake One Four.« »Leute, wir sind auf der falschen Seite von diesem Fluss oder Bach, etwa drei Meilen südlich von der Landezone. Wie wär's, wenn ihr versucht, uns zu finden?« »Habt ihr euch verschanzt?« »Wir sind klar und deutlich zu sehen.« Merriweather und sein Partner Kirb Handy lösten sich aus der Baumgruppe. Mit ihren Nachtsichtgläsern hatten die Besatzungen der Super-Cobras keine Schwierigkeiten, die beiden Männer auf dem offenen Gelände zu erkennen. Kurz darauf landeten die beiden Hubschrauber, und die Marines liefen auf sie zu. Der Pilot der führenden Maschine öffnete die Cockpithaube. -487-
»Wo stecken die anderen Typen?«, fragte er Merriweather. »Nichts von ihnen gehört oder gesehen. Keine Ahnung.« »Und was ist mit den bösen Jungs?« »Auch nichts. Was haltet ihr von einem Ausflug zu der Scheune da drüben? Könnt ihr uns mitnehmen?« »Setzt euch auf die Räder und haltet euch gut fest. Bei Feindberührung springt ihr sofort ab, ist das klar?« Merriweather hob den Daumen und umklammerte das eine Rad, Handy das andere. Die Maschine hob ab, senkte die Nase und flog los. Merriweather hielt sich eisern am Fahrwerk fest, während der Luftstrom des Rotors an seinem Helm und seiner Kleidung zerrte und ihm fast die Nachtsichtgläser wegriss. Was für eine dämliche Idee! Wie, in aller Welt, hatten sie nur vier Meilen südlich von der gottverdammten Landezone herunterkommen können? Falls er den Hurensohn, der die Herc geflogen hatte, jemals wieder zu Gesicht bekam, würde er ihm kräftig in den Arsch treten. Bryne und McCormick - was war mit den beiden nur passiert? Wenn bei ihnen alles okay gewesen wäre, hätten sie sich auf jeden Fall über Funk gemeldet. Vielleicht hatten sich ihre Fallschirme nicht geöffnet. Vielleicht waren sie im Fluss gelandet. Vielleicht hatten die Kubaner sie geschnappt. Vielleicht, vielleicht, vielleicht… Jetzt konnte er die Scheune sehen. Der Hubschrauber flog dicht über ein Wäldchen, direkt auf den Vorhof der Scheune zu. Der andere stand über den Bäumen und hielt einen Abstand von dreihundert oder vierhundert Metern ein. Nahe, aber nicht zu nahe. Bei der Scheune war niemand zu sehen, keine Menschenseele. Merriweather sprang ab, als der Hubschrauber noch knapp einen Meter über dem Boden schwebte. Er legte sich lang hin, -488-
sprang wieder auf und lief geduckt aus dem Rotorbereich heraus. Handy tauchte rechts von ihm auf. Das Glühen einer Zigarette, direkt im Scheunentor. Da saß irgendjemand! Merriweather verharrte auf der Stelle und brachte die M-16 in Anschlag. Es war ein Marine, der rauchend in dem offenen Tor hockte, Gesicht und Hals mit grüner und brauner Tarnfarbe beschmiert. Sein Helm und die Nachtsichtgläser lagen neben ihm im Dreck. Merriweather ging auf den Mann zu. »Keiner da«, sagte der Marine. »Wo ist Bryne?« McCormick deutete mit dem Kinn in Richtung Osten. »Da drüben, etwa hundert Meter von hier. Fallschirm hat sich verheddert, der Reserveschirm ist nicht aufgegangen.« »Und dein Funkgerät?« »Irgendein Defekt. Das von Bryne ist zertrümmert.« McCormick stand auf, zog noch einmal an seiner Zigarette und schnippte die Kippe weg. »Habe hier gehockt und auf euch gewartet. Ist verdammt still hier. Wie auf einem Friedhof.« »Tut mir Leid wegen Bryne.« »Er hinterlässt zwei kleine Kinder. Scheiße ist das.« Das Innere der Scheune war so gut wie leer. Merriweather leuchtete mit der Taschenlampe in alle Winkel, inspizierte Decke, Wände, den Boden, jede Ecke und jedes Loch. »Schafft die Osprey in die Landezone«, sagte er in sein Mikrofon. »Wir müssen die Gegend weiträumig absichern.« Durch ihre Nachtsichtgläser konnte Rita Moravia den Landebereich um das Silo Nummer zwei sowie die beiden darüber schwebenden Super-Cobras klar und deutlich wie am -489-
helllichten Tag sehen. Überall lagen Leichen herum, die noch infrarote Hitzewellen abstrahlten, genau wie die Lebenden dort unten. Sie ging in den Sinkflug über und ließ die Osprey zwischen den beiden Hubschraubern zu Boden gehen. Die Rotoren rissen schon weit über dem Boden eine solche Staubwolke hoch, das sie nichts mehr sah und beim Landen auf das Radarsystem zurückgreifen musste. Sie teilte dem Lieutenant über Funk mit, dass er sich bereithalten sollte. Als die Landeräder aufsetzten, stürmten die Marines sofort aus dem Frachtraum und ließen sich nach fünfzig Metern auf den Bauch fallen, die Waffen im Anschlag. Rita wartete den Rest des Spektakels nicht ab. Als der Crew Chief durchsagte, dass der letzte Marine den Frachtraum verlassen hatte, zog sie die Osprey sofort wieder nach oben und aus der Staubwolke heraus, bevor sie die Triebwerke für den Tragflächenflug in die Horizontale schwenkte. Der Name des Marine-Lieutenants lautete Charlie Herren. Er hatte seine Befehle; seine Hauptaufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Rakete das Silo nie verlassen würde. Als er den Boden unter seinen Füßen spürte, ließ er sich sofort flach auf den Bauch fallen, während die Osprey wieder abhob. Er wartete, bis sich die Staubwolke so weit gelegt hatte, dass er die Scheune sehen konnte, und rannte los. Überall lagen Leichen und abgetrennte Gliedmaßen herum; die Überlebenden saßen auf der Erde und hatten die Hände zum Himmel gestreckt. »Feuer einstellen! Feuer einstellen!«, brüllte er in sein Mikrofon. »Sie ergeben sich!« In der Scheune traf er Asel Tyvek an, der vor einem toten Kubaner stand. »Hierher, Lieutenant! Hier ist eine Tür!« -490-
Tyvek und Herron öffneten die primitive Holztür und fanden eine moderne Stahltür mit einem Kombinationsschloss auf der anderen Seite. »Glauben Sie, dass da irgendjemand drin ist?«, fragte Herron, schließlich war Tyvek schon eine Weile länger als er hier. »Keine Ahnung, Sir.« »Wir müssen auf jeden Fall da rein. Sprengen wir das Ding auf!« Es dauerte weniger als eine Minute, die Ladung C-4 anzubringen. Die beiden Männe r zogen sich in die Deckung eines Holzverschlags zurück. Die Explosion war nicht besonders laut, klang aber scharf und metallisch. Der Plastiksprengstoff hatte das Schloss säuberlich herausgetrennt und die Tür verbogen, sie stießen sie auf. Eine von nackten Glühbirnen erhellte Treppe führte nach unten. Tyvek und Herron nahmen ihre Nachtsichtgläser ab, dann übernahm Herron die Führung. Mit vorgehaltener Waffe stiegen sie die Treppe hinunter. Auf der USS United States erhielt Jake Grafton in rascher Abfolge die Meldungen von den einzelnen Einsatzorten. Nachrichtenoffiziere aktualisierten ständig die Karten und versorgten ihn mit neuen Informationen über die Lage an den Silos. »Schwere Feuergefechte an den Silos eins und zwei.« »Kein Widerstand bei den Zielen vier, fünf und sechs.« »Ospreys sind bei zwei, drei und vier gelandet.« »Sea-Cobra getroffen bei Ziel eins. Scheint Probleme zu haben.« »Teamführer in Silo zwei eingedrungen.« -491-
»Spähtrupp jetzt in Silo sechs.« Jeder Bericht wurde in eine Checkliste eingetragen. Insgesamt gab es acht Listen - eine für jedes Silo und zwei für die Molkereien. First Lieutenant Charlie Herron und Asel Tyvek brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass der Kontrollraum von Silo zwei nicht besetzt war. Über eine Reihe von Treppen, die durch Stahltüren voneinander getrennt waren, erreichten sie den untersten Bereich der Betonkonstruktion. Die Türen waren nicht mal verschlossen. Als sie die letzte öffneten, stand die Rakete direkt vor ihnen. Die lackierte, schimmernde Oberfläche produzierte im Schein der an den Wänden angebrachten nackten Glühbirnen kleine, grelle Reflexionen. Unter der Rakete befand sich eine tiefe Grube, die mit einem Stahlgitter abgedeckt war - die Flammengrube, durch die der Treibstrahl der Rakete beim Start abgeleitet wurde. Eine stählerne Wendeltreppe führte zu einem hoch über ihnen angebrachten Laufsteg, von dem aus der Gefechtskopf der Rakete und die Kontrollen zugänglich waren. Herron steckte seine Pistole ins Holster und drehte sich zu Sergeant Tyvek um. »Sehen Sie nach, ob Sie eine Möglichkeit finden, die Rakete so zu sichern, dass sie nicht von Havanna aus ferngezündet werden kann, während ich daran arbeite.« »Lieutenant, ich habe leider nicht die leiseste Ahnung von Marschflugkörpern.« »Sie wollen aber verdammt sicher auch nicht hier im Silo mit den Händen in den Hosentaschen herumstehen, wenn das Ding zündet. Also, gehen Sie los und suchen Sie irgendwo nach einem Schalter oder so was.« »Ja, Sir«, sagte Tyvek und verzog sich Richtung Treppe. Herron nahm zwei Stufen auf einmal. Er hoffte, dass er das vorfinden würde, was er erwartete, wenn er den Laufsteg -492-
erreichte, obwohl er annahm, dass der größte Teil der Erklärungen des alten russischen Ingenieurs völliger Unsinn gewesen war. Irgendjemand hatte einen Ingenie ur in Russland aufgetrieben, der behauptete, an der Entwicklung dieser Raketen beteiligt gewesen zu sein. Der Typ war bereits über achtzig Jahre alt. Eine Stunde dauerte das Video, in dem er erklärte, wie man das gefährliche Ende dieser Rakete zerlegen musste. Der Ingenieur sprach kein Wort Englisch, weshalb ein Übersetzer die Erklärung übernommen hatte. Entweder hatte der Alte ein phänomenales Gedächtnis, oder er war der begabteste Lügner, der Herron je untergekommen war. Aber das würde er jetzt gleich herausfinden. »Typische Russenware«, hatte der amerikanische Experte ihm erklärt. »Alles was Sie brauchen, sind ein paar Kneifzangen und Schraubenschlüssel. Wir Amerikaner könnten eine Menge von den russischen Ingenieuren lernen, die ihre Geräte so konstruieren, dass sie einfach zu warten sind.« Jeder Offizier, der in die Nähe einer der gesuchten Raketen kommen konnte, hatte einen kleinen Werkzeugbeutel ausgehändigt bekommen. Herron musterte die Abdeckklappe, ein verrundetes Blech, fünfzehn Zentimeter im Quadrat, dessen Krümmung genau der Außenhülle der Rakete folgte. Die Befestigungsmuttern sahen auf den ersten Blick aus wie Dzus-Bolzen, aber es waren nur ganz simple Muttern. Er löste sie nacheinander und steckte sie in seine Hemdtasche: genau ein Dutzend Muttern, wie der alte Russe gesagt hatte. So weit, so gut. Schweiß tropfte ihm von der Nasenspitze, lief ihm in die Augen. Herron wischte sich die Hände an seiner Tarnhose und das Gesicht mit dem Ärmel ab, bevor er den Schraubenschlüssel erneut ansetzte. Er arbeitete so schnell wie möglich und hatte bald auch die letzte Mutter gelöst. Vorsichtig, als hätte er ein rohes Ei vor sich, entfernte er die -493-
Wartungsklappe und legte sie auf das Bodengitter des Laufstegs. Dann kramte er eine kleine Taschenlampe hervor und begutachtete das Innenleben hinter der Klappe. Er entdeckte eine ganze Menge Drähte und eine Kugel aus Edelstahl, ungefähr von der Größe eines Basketballs. Das, so entschied er, musste der biologische Gefechtskopf sein. Eigentlich war die Rakete als Träge r für nukleare Gefechtsköpfe entwickelt worden, die zylindrisch geformt waren. Nun saß an seiner Stelle der biologische Kopf, der aber unmöglich durch die kleine Wartungsluke entfernt werden konnte. Charlie Herron steckte einen Arm weit in die Öffnung hine in und tastete nach oben, die Wange auf die kühle Außenhaut der Rakete gelegt. Ja, jetzt konnte er den Hebel fühlen. Er legte ihn um. Abwärts mit der Hand, da musste noch einer sein… nach rechts, dann nach links. Nachdem er die letzte Verriegelung geöffnet hatte, zog er an der Metallplatte, in deren Öffnung sein Arm steckte. Sie ließ sich leicht entfernen, und jetzt betrug die Kantenlänge der Öffnung gut einen halben Meter. Der Ingenieur hatte also tatsächlich die Wahrheit gesagt. Herron drehte sich vorsichtig zur Seite, um die Platte auf den Laufsteg zu legen, aber sie rutschte ihm aus der Hand und fiel in die Tiefe, streifte die gewölbte Wandung der Rakete und landete schließlich mit einem scheppernden, blechernen Geräusch auf dem Gitter über der Feuergrube. Der Lieutenant umklammerte das Geländer des Laufstegs, um nicht ebenfalls in die Tiefe zu stürzen. Er wischte sich zum wiederholten Mal das Gesicht mit dem Ärmel ab und trocknete die verschwitzten Handflächen am Stoff seiner Hose. Dann begann er, mit dem Seitenschneider die Drähte durchzuknipsen, um sich freie Sicht auf die Befestigung des Gefechtskopfs zu verschaffen.
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William Henry Chance und Tommy Carmellini trugen bereits ihre CBW-Schutzanzüge, als sie die Osprey verließen, genau wie die Marines, die ihnen folgten. Beide hatten einen Zylinder von 13 Zentimeter Durchmesser und 1,80 Meter Länge geschultert. Doll Hanna erwartete sie am Haupteingang. »Im geschützten Bereich habe ich fünf Personen gezählt«, sagte er. »Sie wissen noch nicht, dass wir hier sind. Die Klimaanlage ist richtig schön laut.« Chance ging zu dem einen Spalt weit geöffneten Tor, spähte hindurch und zählte die Menschen, die dort hinten nichtsahnend arbeiteten. Hanna hatte Recht - es waren fünf. Er hatte lange über diesen Augenblick nachgedacht, seit er von Jake Grafton gebeten worden war, diese Fertigungsanlage auszuschalten. Wenn sich irgendwo ein Leck bildete, bevor das Feuer genug Hitze entwickelt hatte, um alle Viren zu vernichten, war es gut möglich, dass einige der Erreger ins Freie gelangten. Dasselbe galt natürlich auch, wenn eine der vielen Petrischalen zerbrach, egal ob absichtlich oder versehentlich… Was hieß einige Erreger? Wer konnte das sagen? Er drehte sich zu Doll Hanna um, sah die beiden Marines an, die immer noch die Zylinder auf den Schultern trugen. Es war verdammt riskant. Höllisch riskant. Einen Moment lang wünschte sich William Henry Chance, wieder zu Hause in New York zu sein. Vielleicht in einem netten Restaurant zu Abend zu essen, eine Gerichtsverhandlung vorzubereiten, oder einfach bei seiner Frau zu sein, mit der er seit zehn Jahren zusammenlebte. Egal was und wo, Hauptsache weg von hier. »Geben Sie mir das Gewehr«, bat er Hanna, der ihm kommentarlos die M-16 aushändigte. »Ist sie geladen?« -495-
»Voll. Auf Einzelschuss eingestellt. Hier ist die Sicherung.« Hanna berührte sie mit einem Finger. »Okay«, sagte William Henry Chance. Er wandte sich Carmellini zu. »Sollte es zum Schlimmsten kommen, wissen Sie, was zu tun ist.« Carmellini sagte kein Wort. Der dämliche Scheißkerl würde in diesem Moment sicher liebend gern in einem schönen, gemütlichen Bundesgefängnis sitzen, dachte Chance. Er richtete den Lauf des Gewehrs auf den Boden, öffnete langsam das Tor und schlüpfte hindurch. Niemand auf der anderen Seite der Absperrung bemerkte ihn. Die Leute konzentrierten sich auf irgendetwas in einem versiegelten Behälter, an dem sie mit ferngesteuerten Roboterarmen herumhantierten. Irgendwo plärrte ein Radio laut vor sich hin. Chance betrat die Luftschleuse, blieb stehen und beobachtete die Menschen auf der anderen Seite, während er darauf wartete, dass sich die Außentür automatisch verriegelte. Jetzt erkannte er die Stimme aus dem Radio: Alejo Vargas. Die raue, unmodulierte Art zu sprechen war unverkennbar. »Meine kubanischen Mitbürger, die Stunde ist gekommen, in der ich euch zur Verteidigung unseres heiligen Landes aufrufen muss. Heute Nacht, in diesem Moment, während ich zu euch spreche, werden wir von den Amerikanern attackiert, die ihre gesamte, erdrückende militärische Übermacht mobilisiert haben, um uns, ein friedliches Volk von elf Millionen Menschen, anzugreifen.« Zehn Sekunden verstrichen, fünfzehn, zwanzig. Erst nach einer halben Minute wurde die Innentür mit einem sanften Klicken entriegelt. Chance drückte sie ganz auf und betrat das Labor. Neben den Arbeitstischen standen Regale, von denen jedes acht oder zehn Petrischalen enthielt. Chance hob das Gewehr, -496-
legte den Sicherungshebel um und ging dabei auf die konzentriert arbeitenden Menschen zu, die ihm ausnahmslos den Rücken zuwandten. Auf den Tischen lagen Werkzeuge, Glasbehälter, Spezialinstrumente. »Lasst uns vereint die Mächte des Teufels bekämpfen, die Mächte des Kapitalismus, lasst uns dafür sorgen, dass die Yanquis niemals das kubanische Volk ausbeuten, nur um noch mehr Dollar zu produzieren…« Einer der Arbeiter, der etwa drei Meter von Chance entfernt war, drehte sich zufällig um und bemerkte ihn. Chance richtete das Gewehr auf ihn, forderte ihn und seine Kollegen mit einer Geste auf, die Hände zu heben. Sie gehorchten ausnahmslos. Ich sollte sie einfach erschießen, dachte er, als er an die Virenkulturen denken musste, die neben ihm und den anderen in Ellbogenhöhe auf den Tischen standen. Vielleicht ist es nicht notwendig. Er stellte sich zwischen zwei Tische und bewegte den Kopf ruckartig zur Seite, um den Laboranten klar zu machen, dass sie zur Luftschleuse gehen sollten; dann deutete er mit dem Gewehr in dieselbe Richtung. »Die Stunde unseres Ruhmes ist angebrochen!«, donnerte Alejo Vargas' Stimme aus dem Radio. »Eine Stunde, die in den Geschichtsbüchern unseres Volkes für alle Zeiten als der glorreichste Moment dieser Nation verewigt werden wird, weil unser bescheidenes Volk gegen diese Sklaventreiber und Unterdrücker zurückgeschlagen hat, um für immer unsere Freiheit…« Einer der Männer setzte sich in Bewegung, schob sich mit erhobenen Händen an Chance vorbei, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und ging weiter. Dann folgte der zweite Mann. Der dritte… -497-
Chance wollte sich nach dem vierten Mann umdrehen, als dieser mit einer Hand den Lauf des Gewehrs packte und mit der anderen irgendetwas in den Solarplexus des Agenten rammte. William Henry Chance sah an sich herab. Aus seinem Bauch ragte ein Griff hervor. Ein Schraubenzieher! Der Mann hatte ihn mit einem Schraubenzieher angegriffen! Und jetzt wollte er ihm das Gewehr entreißen! Ein Schuss peitschte auf. Chance hörte den Knall durch das laute Summen der Belüftungsanlage. Der Mann, der ihm den Schraubenzieher in den Bauch gestoßen hatte, brach zusammen. Weitere Schüsse. Chance ging zu Boden. Seine Beine gaben nach, er bekam keine Luft mehr. »Tötet die amerikanischen Sklavenhalter, wo immer ihr sie findet, wo immer sie gerade versuchen, ihren kapitalistischen Unrat über einem friedlichen sozialistischen Volk auszugießen!«, dröhnte Vargas' Stimme aus dem Radio. »Unser geliebtes Kuba, unser aller Mutter, braucht unsere starken Arme.« Vor William Henry Chances Augen verengte sich die Welt zu winzigen Lichtflecken, während er um Luft rang. Er spürte, wie ihn jemand auf den Rücken drehte. Hinter der transparenten Sichtscheibe des Schutzanzugs erahnte er Carmellinis Gesichtszüge. »Sie hätten sie abknallen sollen!«, schrie Carmellini. »Sie blöder Bastard hätten sie direkt über den Haufen schießen sollen!« Chance versuchte verzweifelt, genug Luft in seine Lungen zu pumpen, um antworten zu können, als sein Herz aussetzte. Carmellini und die beiden Marines brachten die Metallzylinder aus dem Osprey in das Labor. Die Zeit drängte. -498-
Einige der Kugeln hatten die Körper der Toten auf dem Boden durchschlagen und die transparente Plastikwand der Anlage durchlöchert. Die beiden Marines schafften weitere Zylinder heran, während Carmellini Benzinkanister durch die Luftschleuse schleppte. Er hatte keine Zeit, jedes Mal die gesamte automatische Prozedur über sich ergehen zu lassen, also klemmte er die Tür einfach fest, so dass sie sich nicht immer wieder selbsttätig schließen konnte. Bitte, Gott - mach, dass die Viren nicht entweichen! Nachdem sechs Zylinder und zehn Gallonen Benzin auf dem Boden neben den Kulturen standen, war Carmellini bereit. Die Leichen der fünf Kubaner lagen immer noch dort, wo sie im Kugelhagel zu Boden gegangen waren, genau wie Chance. Carmellini versuchte, die Toten zu ignorieren. Es gab nichts mehr für ihn zu tun. Er schickte die Marines mit einer Handbewegung aus dem Labor und beugte sich über den ersten Zylinder. Es handelte sich um Magnesiumbrandsätze, die eigentlich dazu gedacht waren, aus einem Flugzeug abgeworfen zu werden. An der Seite war ein kleiner Stahlring mit Klebeband fixiert. Carmellini löste ihn und zog ihn so weit heraus, wie es ging, ungefähr dreißig Zentimeter. Dann riss er mit einem kräftigen Ruck daran und hielt den Ring samt Draht in der Hand. Er legte den Zylinder auf den Holzboden und lief in die Luftschleuse, wobei er die Sperre entfernte, so dass sich die Tür hinter ihm schloss. Da ihm noch einige Sekunden Zeit blieben, ließ er die Absaugprozedur über sich ergehen, um Staub und etwaige Viren von seinem CBW-Schutzanzug zu entfernen. Doch dann wurde die Zeit knapp. Carmellini hieb auf den Notfallschalter und verließ die Luftschleuse durch die Außentür, durchquerte die Scheune mit -499-
schnellen Schritten und lief zu der wartenden Osprey. Doll Hanna erwartete ihn auf halbem Weg, mit dem Gewehr in den Händen. »Lassen Sie uns die Männer…«, begann Carmellini und verstummte, als der Magnesiumbrandsatz zündete. Einige hundert Millionen Candela drangen durch die Ritzen und das Tor der Scheune und machten die Nacht zum Tag. »Verschwinden wir von hier, bevor der ganze Laden in die Luft fliegt!«, schrie Carmellini und rannte auf die Osprey zu. Drei Minuten später hatte das Flugzeug mit allen Männern an Bord abgehoben. Carmellini betrat das Cockpit und blickte zurück. Das Feuer war so hell wie die Flamme eines Schweißgeräts, so grell, dass es ihm in den Augen schmerzte. Die Hitze der ersten Fackel hatte die zweite entfacht und so fort, bis alle sechs brannten. Wahrscheinlich waren die Benzinkanister schon vorher explodiert und hatten durch den rasanten Temperaturanstieg dazu beigetragen, die Magnesiumbrand sätze noch schneller zu entzünden. »Glauben Sie, dass das Feuer sämtliche Viren vernichten wird?«, fragte der Pilot. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Carmellini düster und ging zurück zu seinem Platz. Er hatte keine Kraft me hr und deshalb nicht die geringste Lust, sich um die Sorgen der anderen zu kümmern.
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21 Es waren einfach zu viele kubanische Truppen am Silo eins. Die beiden Super-Cobras, die diesem Ziel zugeteilt waren, jagten ihre Hellfire-Raketen auf die Panzer und Lastwagen ab und pflügten das Gelände dann mit 20-Millimeter-Bordgeschützen um. Die von ihnen flankierten Kampfhubschrauber verschossen rund 1.500 Stück 20-Millimeter-Munition. Als die ersten beiden Kampfhubschrauber abdrehten, um in der Nachschubstation aufzutanken und neue Munition aufzunehmen, leitete Battlestar Control an Bord der United States andere Super-Cobras zu diesem Angriffsziel um. Das Problem war, dass die Truppen sich einigermaßen gut eingegraben hatten. Fast tausend Mann waren am frühen Morgen unter der Führung eines energischen jungen Kommandanten hier eingetroffen. Der Offizier hatte ihnen befohlen, Schützengräben auszuheben und die Maschinengewehre in Erdlöchern und hinter aus Baumstämmen errichteten Barrikaden in Stellung zu bringen; zwei kleine Planierraupen hatten bei den Aushubarbeiten geholfen. Die Maschinengewehrnester waren mittlerweile ausgeschaltet, den Hellfire-Raketen zum Opfer gefallen, aber die Truppen in den Gräben ließen sich nur sehr schwer erledigen. Zum Glück für die Kubaner verliefen die Gräben nicht gerade, sondern im Zickzack um Bäume, Felsen und andere natürliche Hindernisse herum. Der junge kubanische Kommandant war tot, von einer einzelnen Kugel aus den Bordgeschützen der Helikopter getötet, die ihm den nur ganz kurz über den Erdwall eines Schützengrabens hinausragenden Kopf weggerissen hatte; die meisten seiner Offiziere lebten ebenfalls nicht mehr. Zwei der -501-
Super-Cobras waren außer Gefecht gesetzt worden, eine durch Maschinengewehrfeuer, die andere durch einen Kubaner mit einer AK-47, der den Piloten durch einen Glückstreffer in den Hals getötet hatte. Der erste Helikopter hatte eine automatische Notlandung zustande gebracht, und seine Besatzung war aus der havarierten Maschine in einen leeren Schützengraben gesprungen. Der Copilot der zweiten Maschine hatte die Cobra aus dem Schlachtgetümmel geflogen und einen Nachschubposten angesteuert, den die Marines in einem Zuckerrohrfeld zwischen den Silos Nummer drei und vier errichtet hatten, wo der Hubschrauber aufgetankt und neu bewaffnet wurde. Die Super-Cobras vor Ort hatten ebenfalls kaum noch Munition und flogen die Nachschubstation an, um ihre Treibstofftanks und Waffenmagazine aus den Beständen aufzufüllen, die Ospreys von der Kearsarge brachten, danach kehrten sie sofort in die Schlacht zurück. Der Lärm von acht Kampfhubschraubern, die um die Scheune herum in der Luft schwebten, erfüllte seinen Zweck. Einer nach dem anderen warfen die Kubaner ihre Waffen weg und kletterten mit über die Köpfe gehobenen Händen aus den Schützengräben. Mehrere Super-Cobras schalteten die Landescheinwerfer an und flogen über der Scheune hin und her. Ihre Lichtkegel glitten über die Männer, die tot oder lebendig auf dem Boden lagen. Minuten später landete eine Osprey nur rund hundert Meter vom Eingang der Scheune entfernt. Der letzte Mann, der aus der Maschine sprang, war Toad Tarkington. Er hatte kaum drei Meter zurückgelegt und rannte wie verrückt weiter, als die V-22 auch schon wieder abhob, die nächste ihre Position einnahm und Marines mit schussbereiten Gewehren aus ihr hervorquollen. Mit laufenden Triebwerken und geschlossener Cockpitkanzel -502-
ließ Major Carlos Corrado seine MiG-29 auf die Startbahn rollen. Zwei Männer mit Besen in den Händen gingen ihm voraus und fegten Schrapnellsplitter und scharfkantige Gesteinsbrocken aus dem Weg, damit die Reifen der Jagdmaschine nicht beschädigt wurden. Sie mussten sich keine Sorgen machen, dass etwas davon in die Turbinen geraten könnte. Am Boden bezogen die Turbinen der MiG-29 ihren Sauerstoff durch Lüftungsschlitze oben am Rumpf, während die Hauptansaugöffnungen in den Düsentriebwerken geschlossen blieben. Corrado beobachtete die Anzeigen der elektronischen Warnsysteme seines Jägers. Wie nicht anders von ihm erwartet, hatten die Amerikaner heute Nacht eine Menge Radarquellen am Himmel, von großen Suchradargeräten bis zu den Ortungssystemen ihrer Kampfjäger. Er entdeckte sofort die charakteristische Radarsignatur der F-14 Tomcat, die er vor rund einer Woche über der Karibischen See gesehen hatte. Ja, sie waren da oben, und sobald er abgehoben hatte, würden sie versuchen, ihn abzuschießen. Ein Mann kann nur einmal sterben, dachte Corrado. Eine Tatsache, die sich die Kirche kaum zu Nutze machte, doch manchmal war es ein tröstlicher Gedanke. Jeder musste sterben, aber eben nur einmal. Carlos Corrado steuerte seine MiG-29 auf die Startbahn, schob die Zwillingsgashebel vor in die Haltestellung und dann in den Nachbrennermodus. Die Maschine schoss los wie eine Rakete. Nachdem sie abgehoben hatte, fuhr Corrado das Fahrwerk ein und schaltete den Nachbrenner ab. Er überschritt die 400 Knoten-Marke, reduzierte den Steigflug, nahm Gas weg und zog die MiG in eine weite Kurve, bis der schlanke russische Kampfjäger Kurs auf Havanna genommen hatte. Toad Tarkington, der die Scheune von Silo Nummer eins als -503-
erster Amerikaner betreten hatte, erfasste das Gemetzel im Inneren mit einem schnellen Blick. Die Bordgeschütze und Schrapnellsplitter der HellfireRaketenköpfe hatten das Holzgerüst der Scheune durchsiebt. Überall lage n zerfetzte Planken und Balken herum. Durch die in den Wänden klaffenden Löcher konnte Toad die Landescheinwerfer der Helikopter sehen und die Stimmen der Soldaten hören. Offenbar hatten ein paar Dutzend Kubaner Zuflucht in der Scheune gesucht. Ihre blutigen Leichen lagen dort, wo sie von Kugeln, Schrapnellen oder Holzsplittern durchbohrt worden waren; Boden und Wände waren mit Blutspritzern besudelt. Toad fand die Holztür, öffnete sie und untersuchte die dahinter liegende Stahltür im Lichtkegel seiner Taschenlampe. Dann brachte er drei C-4-Sprengladungen um das Kombinationsschloss herum an und ging in Deckung. Der Plastiksprengstoff riss das Schloss aus der Tür und verbog sie dabei so stark, dass sie klemmte. Toad zerrte mit all seiner Kraft daran, doch erst mit Hilfe von zwei Marines, die nach ihm die Scheune betreten hatten, gelang es ihm schließlich, die Tür zu öffnen. Die Treppe auf der anderen Seite lag in völliger Dunkelheit. Die Taschenlampe in der linken, die Pistole in der rechten Hand, stieg Toad al ngsam die Stufen hinab. Über ihm an der Decke waren Glühbirnen angebracht, die jedoch nicht brannten. Er entdeckte einen Schalter und betätigte ihn mehrmals. Kein Strom. Am Ende der Treppe schloss sich ein größerer Raum an. Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte über eine Schalttafel und eine Instrumentenkonsole. Ein Gesicht… Toad richtete die Taschenlampe direkt auf das Gesicht. Bleiche Haut, die Augen im hellen Licht zusammengekniffen. Ein alter, magerer Mann mit kurzem, weißem Haar, der reglos -504-
mit erhobenen Händen dastand. Der Radarspezialist in der E-3 Sentry AWACS über Key West war der Erste, der den Start der MiG-29 in Cienfuegos bemerkte. Er meldete die Sichtung seinem Vorgesetzten, der die Ortung per Computer verifizierte und Battlestar Control informierte. Die Crew der AWACS stufte die MiG als unbekanntes Flugzeug ein und verpasste ihr eine Kennnummer. Sobald der Pilot sein Radar aktivierte, würde man den Flugzeugtyp feststellen können. Unglücklicherweise tat ihnen Carlos Corrado nicht den Gefallen. Er ließ das Radar ausgeschaltet; außerdem blieb er im Tiefflug, jagte nur ein paar hundert Meter über den Baumwipfeln dahin. Es gibt kaum etwas Einsameres als das Cockpit eines von feindlichen Maschinen umringten Ein-Mann-Flugzeugs in der Nacht. Corrado spürte diese Einsamkeit überdeutlich; er kam sich wie der letzte Überlebende des Raumschiffs Erde vor. Das rote Glühen der Instrumentenkonsole spendete wenigstens etwas Trost. Die MiG war wirklich das einzige Zuhause, das er jemals gehabt hatte. Die Lichter Havannas waren heute Nacht besonders auffällig obwohl er kaum 1000 Fuß über Meereshöhe flog, konnte er das Leuchten sogar noch aus einer Entfernung von fünfzig Meilen sehen. Er stieg etwas höher und entdeckte ein gewaltiges, ziemlich helles Feuer. Carlos Corrado nahm Kurs auf den Brandherd. Vielleicht würde er dort ein paar Luftziele finden. Er legte den Schalter um, der bisher die Bordgeschütze blockiert hatte, und machte die Infrarotraketen scharf.
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Der E-2 Controller schickte die Daten über das unbekannte Flugzeug an die Crew der F-14, die in 30.000 Fuß Höhe über Zentralkuba patrouillierte. Eigentlich hätten es zwei F-14 sein sollen, aber da eine Maschine bereits vor dem Start mechanische Probleme gehabt hatte, war jetzt nur ein Kampfjäger über diesem Gebiet unterwegs. Das unbekannte Flugzeug erschien auf dem Abfangradarschirm des Offiziers auf dem Rücksitz der Tomcat. Er bündelte den Abtastbereich des Radars und versuchte, das Ziel, das lediglich ein blinkender Punkt vor dem Durcheinander der vom Boden ausgehenden Störimpulse war, permanent zu erfassen. »Was, zur Hölle, ist das?«, fragte der Pilot. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sein Partner, und genau darin bestand das Problem. Ohne eine positive Identifizierung der unbekannten Maschine - auf optischer oder elektronischer Basis - verboten die Regeln der Kriegsführung dem amerikanischen Piloten, seine Waffen abzufeuern. Es flogen einfach zu viele amerikanische Flugzeuge und Hubschrauber in dem dunklen Luftraum über Kuba herum, als dass man ein unident ifiziertes Ziel unter Beschuss hätte nehmen dürfen. In der Dunkelheit unter der F-14 schimmerten die Lichter von Städten, Dörfern, Gehöften und Fahrzeugen. Hier und da stocherten leuchtende Garben von Flugzeugabwehrstellungen Flaks - blindlings im Himmel herum. Zum Glück konnten die Schützen kein Radar benutzen, um ihre Ziele ausfindig zu machen, denn sonst hätten sie sofort eine HARM von einer der EA-6Bs oder F/A-18 auf sich gezogen, die in den ihnen zugeteilten Luftkorridoren kreisten und nur auf die verräterischen Emissionen warteten. Der Pilot der F-14, der Wallace P. »Stiff« Hardwick hieß, meldete sich per Funk bei Battlestar Control. »Battlestar, Showtime One Oh Nine, erbitte Genehmigung, diese -506-
unbekannte Maschine näher untersuchen zu dürfen.« »Warten Sie.« Stiff hatte mit dieser Antwort gerechnet. Ein Kampfpilot zu sein war heute etwas ganz anderes als in den guten alten Zeiten, als man sich seinen Gegner noch selbst hatte aussuchen können. Nicht, dass er damals schon dabei gewesen war, aber er hatte selbstverständlich davon gehört. »Dieser gottverdammte Kubaner wird noch irgendeinen von unseren Vögel runterholen, während sich die Leute da unten auf dem Boot am Arsch kratzen«, sagte Stiff zu seinem Beobachter, »Boots« VonRauenzahn. »Yeah«, erwiderte Boots, der Stiffs Nörgeleien nie sonderlich ernst nahm. Carlos Corrado entdeckte ein ganz außerordentlich heftig brennendes Gebäude. Er hatte noch nie zuvor ein derart heißes Feuer gesehen und vermutete, dass das Gebäude von einer Rakete oder einer Bombe getroffen worden war. Sofort sah er sich nach Spuren eines anderen Flugzeugs in der Nähe um. Er flog direkt über die V-22 Osprey hinweg, die mit Tommy Carmellini und Doll Hanna auf dem Rückweg zum Flugzeugträger war, ohne sie zu bemerken. Da von den Außenbezirken Havannas jede Menge Flakgeschosse aufstiegen, drehte Corrado nach Osten ab. Vor ihm in der samtigen Schwärze sah er Lichter und hielt mit einer Geschwindigkeit von 500 Knoten auf sie zu. Die Landescheinwerfer von Helikoptern, die über einer brennenden Scheune hin und her tanzten! Es mussten Amerikaner sein - mit Sicherheit waren es keine Kubaner. Soweit er wusste, war er heute Nacht der einzige Kubaner in der Luft. Corrado flog an dem Gebiet vorbei - jetzt mit nur noch 400 -507-
Knoten -, vollführte eine Vierteldrehung nach links und dann eine Dreivierteldrehung nach rechts. Er kehrte auf gleicher Flughöhe und gleichem Kurs zurück und nahm von beiden Triebwerken Schub weg. 300 Knoten… Als er die Landescheinwerfer eines seltsam anmutenden ZwillingsrotorHelikopters ausmachte, drückte er die Nase der MiG ein wenig nach unten, bis er den merkwürdigen Hubschrauber genau im Visier hatte. Dann betätigte er den Feuerknopf auf dem Steuerknüppel. Die Kugeln aus dem 30-Millimeter-Maschinengewehr schlugen mit verheerender Wirkung in Rita Moravias Osprey ein. Sie befand sich gerade mitten in der Übergangsphase vom Tragflächen- zum Rotorflug und hatte die Motoren in einem 70Grad-Winkel nach oben geschwenkt. Die Rotoren trugen den größten Teil des Gewichts der zwanzig To nnen schweren Maschine. Als die Kugeln den rechten Motor durchsiebten und ausschalteten, sackte die V-22 rasend schnell ab. Der unbeschädigte Motor schaltete auf Notfallmodus und übertrug einen Teil seiner Leistung über eine Kurbelwelle, die beide Rotorgetriebe miteinander verband. Rita spürte, wie die rechte Tragfläche durchsackte, während harte Einschläge das Flugzeug erschütterten und die Warnleuchten aufflackerten. Einige der Kugeln mussten das rechte Rotorgetriebe beschädigt haben. Der Boden schoss auf sie zu, und noch immer wurde die Maschine von Kugeln getroffen. Sie zog den Steuerhebel zurück und riss ihn nach links, um dem rechten Rotor mehr Leistung zu geben. Dann schlug die Maschine auf, und der Aufprall schleuderte Rita gegen das Armaturenbrett.
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Toad Tarkington hielt seine Taschenlampe auf den alten Mann gerichtet, während er eine Kerze und ein Streichholz aus der Tasche zog. Er riss das Streichholz an und hielt es an den Kerzendocht. Das Licht der Kerze reichte gerade aus, um den Raum notdürftig zu erhellen. Toad schaltete die Taschenlampe aus und betrachtete den alten Mann. Von oben erklangen gedämpfte Schüsse, hallten durch den Treppengang, aber niemand kam die Stufen herunter. Auch in Toads Kopfhörern herrschte Funkstille. Vermutlich störten die Erd- und Gesteinsschichten den Empfang. »Sprechen Sie Englisch?«, fragte Toad den weißhaarigen Alten. Der Mann schüttelte den Kopf. »Espanol?« »Si, señor.« »Schön, ich leider nicht.« Toad durchsuchte den alten Mann, der keine sichtbaren Waffen trug. Wie jeder Marine hatte auch Toad ein paar Plastikbänder dabei, die dazu dienten, einen Gefangenen bei Bedarf an Händen und Füßen zu fesseln. Er schlang eins der Bänder um die Handgelenke des Alten. Der Mann wehrte sich nicht, blieb einfach mit einem maskenhaft starren Gesicht, das keinerlei Gefühlsregungen verriet, vor der Instrumenkonsole sitzen. »Kubaner?«, fragte Toad. »Njet.« »Russki?« Ein kurzes Nicken des weißhaarigen Kopfes, das war alles. Toad untersuchte die Konsole und die Instrumente im Licht seiner Taschenlampe. Er konnte sehen, dass die Konstruktion alt -509-
war. Nur mechanische Komponenten, keine digitalen Anzeigen, keine Computerdisplays. Die Konsole erinnerte Toad an das Armaturenbrett eines Autos aus den Fünfzigern, runde Ziffernblätter, Messskalen mit Zeigern… Nun, ohne Strom war es müßig, Spekulationen anzustellen. Sein Auftrag bestand darin, den verdammten Gefechtskopf aus der Rakete zu entfernen und dann Sprengladungen zu legen, um die gesamte Anlage zu zerstören, die Rakete, den Kontrollraum und alles andere. Er ließ den Russen vor der Konsole zurück und öffnete die druckfeste Tür, die der Treppe gegenüberlag. Noch eine Treppe, die in die Tiefe führte. Toad stieg die Stufen so schnell hinab, wie er es wagte, die Taschenlampe in der einen, die Pis tole in der anderen Hand. Er durchquerte eine weitere Stahltür… und da war die Rakete, ragte weiß, kompakt und irgendwie unwirklich im schwachen Lichtstrahl der Taschenlampe vor ihm auf. Auf den Funkfrequenzen des Luftverkehrs brach das Chaos aus, als Ritas Flugzeug abgeschossen wurde und alle versuchten, gleichzeitig zu reden. Schließlich gelang es Battlestar Control, sich inmitten des Stimmengewirrs verständlich zu machen und Stiff Hardwick einen Befehl zu übermitteln. »Gehen Sie runter und sehen Sie nach, was da los ist. Eventueller Abschuss einer Osprey durch feindliches Feuer.« Stiff musste nicht erst überredet werden. Er zog die Tomcat in eine Kehrtwende, fuhr die Bremsklappen aus und ging in den Sinkflug. »Silo eins!«, rief Boots. »Die unbekannte Maschine flitzt da unten wie eine gottverdammte Fledermaus rum, schlängelt sich zwischen den Super-Cobras und Ospreys durch. Pass auf, dass -510-
du nicht unsere eigenen Leute abschießt.« »Spar dir den Scheiß«, erwiderte Stiff. Er war sich absolut sicher, es mit jedem kubanischen Jägerpiloten aufnehmen zu können. Dieser Typ da unten war fällig, er wusste es nur noch nicht. Carlos Corrado zog die MiG hoch, stieg auf 3.000 Fuß und flog acht oder neun Meilen geradeaus weiter, bevor er den Jäger scharf herumriss. Er hatte Helikopter über der Scheune ausgemacht, mindestens zwei. Es wurde Zeit, das Radar einzusetzen. Während er auf Zielanflug ging, schaltete er das Radar auf »Sendung«. Dann drückte er den Knopf für bewegliche Ziele, und wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte das Impuls-Doppler-Radar in der Nase der MiG innerhalb weniger Sekunden gleich drei Objekte erfasst. Der Rest war kinderleicht. Corrado wählte eine Aphid-Rakete aus, richtete sie auf ein Ziel und feuerte sie ab. Ohne eine Sekunde zu verlieren, aktivierte er eine zweite Rakete, visierte das nächste Ziel an und feuerte wieder. Er musste die Ziele weiter in der Radarerfassung halten, solange die Aphids in der Luft waren, und so flog er weiter auf das Silo zu. Eine der Super-Cobras explodierte, als die Aphid einen Volltreffer landete. Die zweite Rakete traf den Heckrotor eines Hubschraubers, der sich mit Wucht in den Boden fräste und Feuer fing. Carlos Corrado jagte über die Scheune hinweg und hielt eine Weile den Kurs, bevor er wendete, um den nächsten Angriff zu fliegen. Toad Tarkington betrat die stählerne Wendeltreppe, die zum Raketensilo hinaufführte, und machte sich an den Aufstieg. -511-
Er erreichte den ringförmigen Laufsteg, ging um die Rakete herum und untersuchte die Außenhülle. An einer Stelle entdeckte er die kleine quadratische Wartungsluke mit rund fünfzehn Zentimetern Seitenlänge, die von einem Dutzend Schrauben gesichert war. Das musste es sein, wonach er gesucht hatte. Toad klemmte sich die Taschenlampe unter die linke Achsel und zog einen Schraubenschlüssel aus dem Werkzeugbeutel. Er hatte gerade drei Muttern entfernt, als die Taschenlampe unter seinem Arm hervorrutschte. Sie fiel auf den Laufsteg, prallte ab und stürzte in die Tiefe, wo sie auf dem Gitter über der Feuergrube zerschellte. Die Dunkelheit im Silo war vollkommen. Mit einem gemurmelten Fluch wandte sich Toad wieder den Muttern zu. Er arbeitete rein nach Gefühl. Jede Minute musste irgendjemand mit einer Taschenlampe kommen. Wenn nicht, würde er sich eben eine neue besorgen. Worauf es jetzt ankam, war, den Schraubenschlüssel festzuhalten. Er hatte nur diesen einen, und wenn er ihn fallen ließ, würde das Ding durch die Maschen des Gitters rutschen. Über ihm klangen gedämpfte Geräusche auf, die er jedoch nicht identifizieren konnte; vermutlich spielte es ohnehin keine Rolle. Seine vordringliche Aufgabe bestand darin, den Gefechtskopf zu entfernen. Vorsichtig löste er eine Mutter nach der anderen. Als er die letzte herausgedreht hatte, zog er an der Abdeckklappe, die sich problemlos entfernen ließ. Er legte sie auf den Laufsteg neben seine Füße. So weit, so gut. Toad verstaute den Schraubenschlüssel in seinem Werkzeugbeutel und wischte sich den Schweiß von der Stirn und den Handflächen. Okay. -512-
Er griff durch die Öffnung und tastete nach dem Riegel, von dem der alte russische Ingenieur auf dem Videoband gesprochen hatte. Gott allein wusste, wie es der CIA gelungen war, den Typen aufzutreiben! Ja, da war der Riegel. Toad drehte ihn herum. Jetzt den auf der linken Seite. Er mühte sich gerade damit ab, als die Beleuchtung im Silo aufflammte. Der grelle Schein aus zwanzig Glühbirnen vertrieb die undurchdringliche Finsternis. Tarkington zog den Arm aus der Rakete, bedeckte die Augen mit den Händen und blinzelte, damit sich seine Pupillen auf das helle Licht einstellen konnten. Er hörte ein Summen. Vermutlich ein Ventilator oder ein Gebläse. Nein, das Summen kam aus der Rakete, gerade einmal einen halben Meter von seinem Kopf entfernt. Irgendetwas lief dort an. Das Geräusch wurde schnell schriller. Ein Kreiselkompass? Was ging hier vor? Toad lief die Wendeltreppe hinab, so schnell ihn seine Füße trugen, um den Kontrollraum zu erreichen und herauszufinden, was, zur Hölle, passiert war. Über ihm klang ein lautes, dumpfes Knirschen auf. Er warf einen Blick nach oben. Die Abdeckung des Silos öffnete sich. Heilige… Wenn es ihm gelang, auch noch die größere Klappe in der Rakete zu entfernen und die Steuerkabel zu durchtrennen, die Drähte, die den Gefechtskopf kontrollierten… -513-
Toad Tarkington machte kehrt und hastete wieder die Stufen hinauf. Die fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter durchmessende Wartungsöffnung gähnte vor ihm. Er schob einen Arm hinein und versuchte, die restlichen Riegel zu lösen, um die größere Zugangsplatte herauszunehmen. Ein Riegel drehte sich zur Seite. Der Kreisel hatte aufgehört zu beschleunigen und lief jetzt mit konstant bleibender Geschwindigkeit, ein gleichmäßiges helles Jaulen. Heilige Scheiße! Die Zeit lief Toad davon, die Flammenzungen der Raketentriebwerke würden ihn zu einem Häuflein Asche verbrennen. Er hörte, wie die Vorstufe zündete, ein trockenes Knattern wie bei den Turbinen eines Düsenjets. Die Raketentriebwerke erwachten mit einem gewaltigen Fauchen zum Leben. Toad klammerte sich mit beiden Händen verzweifelt am Rand der Wartungsöffnung fest, als die Rakete auf einer Feuersäule in die Höhe zu steigen begann. Der Lärm war mehr als ohrenbetäubend, lauter als alles, was Toad jemals zuvor gehört hatte, ein unglaubliches Brüllen, das jede Zelle seines Körpers in Schwingungen ve rsetzte und seine Zähne vibrieren ließ. Die Rakete zog Toad, der sich mit aller Kraft an der Luke festhielt, mit sich. Sie verließ das Silo, kletterte über den Boden der Scheune, beschleunigte und stieg unaufhaltsam weiter und weiter… Ihre Spitze durchbrach das verrottete Scheunendach und schleuderte Holzsplitter in alle Richtungen. Toad winkelte den Körper an, stemmte die Füße gegen den Rumpf der Rakete, ließ den Rand der Wartungsöffnung los und -514-
stieß sich ab. Er segelte durch die Dunkelheit, prallte von dem zusammenbrechenden Dach ab, spürte einen Schwall Höllenhitze, als der Flammenschweif der Rakete ihn knapp verfehlte, und dann fiel er und fiel… Stiff Hardwick traute seinen Augen nicht. Er flog mit seiner F-14 Tomcat in 4.000 Fuß Höhe, fast zehn Meilen von Silo Nummer eins entfernt, und wartete ungeduldig darauf, dass Boots die feindliche Maschine inmitten der anderen Flugzeuge identifizierte, als er die Rakete auf einem weiß glühenden Feuerstrahl in den Nachthimmel steigen sah. »Jesus Christus!«, fluchte er in sein Funkgerät. »Die Bastarde haben eine Rakete gestartet! Boots, Zielerfassung der Rakete!«, brüllte er weiter in das Mikro, ohne sich bewusst zu sein, dass er nicht nur über die interne Bordsprechanlage, sondern auch im Funknetz zu hören war. »Wir feuern eine AMRAAM ab!« Das Kürzel stand für »advanced mediumrange air-to-air missile«, eine Luft-Luft-Mittelstreckenrakete der neuesten Generation. Boots gab sein Bestes. Das Problem bestand darin, dass die Scud in Relation zur Erdoberfläche fast stationär war. Natürlich beschleunigte sie vertikal, aber noch war ihre Eigengeschwindigkeit vernachlässigbar gering. Die Konstrukteure der Waffensysteme einer F-14 hatten nicht eingeplant, dass die Crew eine nahezu unbewegliche Rakete würde abschießen wollen, was Boots arge Schwierigkeiten bereitete. »Geh auf Hitzestrahlung, gottverdammt!«, fauchte er Stiff an. »Schieß eine Sidewinder auf das Raketentriebwerk ab!« »Eine Winder würde dem beschissenen Ding nicht mal eine Delle verpassen«, erwiderte Stiff mit zwingender Logik. Er hatte mittlerweile auf den bordinternen Kanal umgeschaltet. »Wir fliegen direkt unter die Rakete und schießen ihr ins Triebwerk.« -515-
»Okay! Okay!« Stiff drückte die Nase der Tomcat nach unten, schaltete die Nachbrenner auf Vollschub und jagte auf die Scheune zu. Dann zog er die F-14 wieder hoch und richtete sie genau auf die beschleunigende Rakete aus. Diesmal konnte Boots das Ziel mit dem Radar erfassen. Die Symbolleiste des Zielerfassungsmonitors erwachte zum Leben, zeigte das Objekt, Kursvektor, Abweichwinkel… Stiff Hardwick krümmte den Daumen, um die erste AMRAAM abzufeuern. Bevor er den Knopf drücken konnte, bohrte sich eine Infrarot-Rakete aus Carlos Corrados MiG-29 in das Heck der F-14 und riss ihr das rechte Höhenruder ab. Jake Grafton hatte den gesamten Funkverkehr mitgehört. »Eine Rakete ist gestartet!«, dröhnte es aus den Lautsprechern. »Hat gerade aus Silo eins abgehoben!« Der Admiral griff nach dem roten Telefon, das über Satellit direkt mit dem Weißen Haus verbunden war. »Mr. President, ich weiß nicht, was passiert ist, aber offensichtlich haben die Kubaner eine ihrer Raketen abgeschossen.« Der Präsident musste die Meldung bereits wie Jake über das Funknetz gehört haben. »Was ist das Ziel?«, fragte er knapp. Jake hatte sich die Zielkoordinaten eingeprägt. »Die Rakete kam aus Silo eins, Sir. Ihr Ziel ist Atlanta.« »Danke, Admiral«, sagte der Präsident mechanisch und legte auf. Stille umgab Toad Tarkington, als er wieder zu sich kam. Er lag auf der kühlen Erde, der Himmel über ihm war dunkel… und vor ihm stand ein Marine, dessen Mund sich bewegte. Ich bin taub, dachte Toad. Ich habe mein Gehör verloren. -516-
Er setzte sich auf, kippte um und stemmte sich wieder hoch. Jede Muskelfaser seines Körpers schmerzte, jede Sehne protestierte gegen die Bewegung. Aber er lebte. Toad kam schwankend auf die Beine, der Marine stützte ihn. Unmittelbar neben ihm ragte die Wand der Scheune auf. Er zog seine Pistole und stolperte auf den Eingang zu. Das Innere der Scheune war ein einziges Trümmerfeld, der Gestank der vom Feuerschweif der Rakete verbrannten Leichen beinahe unerträglich. Toad stieß verkohlte Holzbretter zur Seite, um sich einen Weg zu der Stahltür zu bahnen, hinter der die Treppe zum Kontrollraum lag. Die Beleuchtung brannte noch. Toad stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und stieg mit wackligen Knien die Stufen hinab. Der alte Mann hockte nach wie vor an der Konsole, die Handgelenke gefesselt. Er sah Toad ohne erkennbare Gemütsregung an. »Du Bastard!«, krächzte Toad. Er konnte seine eigenen Worte kaum hören. »Du ekelhafter, bösartiger alter Mann!« Der junge Marine, der Toad gefolgt war, packte den weißhaarigen Alten und stieß ihn auf die Treppe zu. »Beweg dich, alter Sack! Los, rauf da, rauf!« Tarkington sank auf die Knie und streckte sich auf dem Boden aus. Er war müde, so müde… »Boots« VonRauenzahn riss den Auslösgriff herunter. Im Abstand weniger Sekundenbruchteile wurden er und Stiff Hardwick aus dem Cockpit der Showtime One Oh Nine geschleudert. Stiff fand die Orientierung wieder, als er in seinem -517-
Fallschirmgurt durch die Nacht schwebte. Er konnte die über ihm in den dunklen Himmel beschleunigende Rakete sehen, jetzt ein heller Lichtpunkt inmitten der Sterne, und er sah das brennende Wrack seiner Tomcat, die zu Boden trudelte. Was er nicht sah, war die MiG-29, die ihn abgeschossen hatte. Aber er hörte sie, ein Grollen, das das leiser werdende Dröhnen der Rakete übertönte. Er konnte nicht wissen, dass Carlos Corrado nach einem Blick auf die Treibstoffanzeige zu der Überzeugung gelangt war, dass er heute Nacht keine Amerikaner mehr würde abschießen können. Corrado befand sich bereits auf dem Rückflug nach Cienfuegos. Mit ausgeschaltetem Radar. Das SPY-1 B-Radar auf der Hue City erfasste die über den Horizont steigende Rakete und überspielte die Informationen per Datenleitung an die Guilford Courthouse, die die Rakete Sekunden später auf ihrem eigenen Radarschirm hatte. Der Offizier für taktische Operationen (TAO) in der Einsatzkontrollzentrale der Hue City - in diesem Fall eine weibliche Army-Angehörige - drückte auf die Taste der Gegensprechanlage, die sie mit der Kommandobrücke verband, und benachrichtigte den Kapitän. »Sir, wir haben eine mögliche ATBM-Bedrohung, Flugvektor 175 Grad.« Eine ATBM war eine antitactical ballistic missile, also keine taktische, sondern eine strategische Rakete. Die Kommandanten beider Schiffe befahlen, allgemeinen Alarm auszulösen. »Mannschaftsquartiere, Mannschaftsquartiere, alle Besatzungsmitglieder begeben sich sofort auf ihre Kampfstationen…« Die Daten des SPY-1 B-Radars wurden in die AegisWaffensysteme überspielt, die das Radar zur Steuerung von SM2-Abfangraketen benutzten. Die TAO wartete darauf, dass der Computer genaue Angaben über die Flugbahn des Zielobjekts -518-
ausspuckte. Sie hatte Befehl, alle von Kub a abgefeuerten Raketen über der Straße von Florida abzuschießen. Dazu würde sie die aktuellste Version der SM-2 einsetzen, von denen acht auf ihrem Schiff stationiert waren. Die Guilford Courthouse hatte ebenfalls acht dieser Raketen, die sich durch eine außergewöhnlich große Reichweite auszeichneten, an Bord. Sie konnten 300 nautische Meilen weit fliegen und dabei eine Höhe von 400.000 Fuß, also rund sechsundsechzig nautischen Meilen erreichen. Die feindliche Rakete war immer noch im Steigflug begriffen und beschleunigte weiter. Jetzt kam es darauf an, sie über der Straße von Florida abzuschießen, bevor sie außer Reichweite der SM-2 geriet. Der Kapitän meldete sich über die Gegensprechanlage. »Sie haben sofortige Feuerfreigabe.« Die TAO war Lieutenant (junior grade) Melinda Robinson. Nach dem Wunsch ihrer Mutter hätte sie Tänzerin werden sollen, ihr Vater hatte gewollt, dass sie wie er eine juristische Laufbahn einschlug, aber sie hatte sich für die Navy entschieden und damit beide Elternteile in tiefste Verwirrung gestürzt. Sie blickte konzentriert auf die Computerdarstellungen in der großen Intrumentenkonsole mit einem Meter Kantenlänge vor ihr. »Zwei Abfangraketen«, sagte sie. Sie war versucht, gleich vier abzuschießen, aber da die Kubaner möglicherweise mehr Raketen starten würden, konnte sie es nicht riskieren, dass ihr die Munition ausging. »Nummer eins abfeuern!«, befahl sie. Die SM-2 Tactical Aegis LEAP (lightweight exoatmospheric projectile, also ein leichtes extraatmosphärisches Projektil) schoss fauchend auf einem lodernden Feuerstrahl aus der vertikalen Lafette vor der Kommandobrücke. -519-
Zwei Sekunden später folgte ihr die zweite. Auch die Guilford Courthouse feuerte zwei SM-2 ab. Die Triebwerke der dreistufigen Feststoffraketen hoben jede SM-2 durch die dichten Schichten der Atmosphäre, bevor die ersten Stufen in einer Höhe von 187.000 Fuß abgesprengt wurden. Dann zündeten die zweiten Stufen, und die Abfangraketen stiegen höher und höher. 300.000 Fuß über dem Meeresspiegel kippten die zweiten Stufen weg und gaben die konisch geformten Geschosse mit ihren Infrarotsensoren frei. Die Triebwerke brannten noch sechzehn Sekunden weiter, steigerten die Geschwindigkeit und Flughöhe der mit kinetischer Energie aufgeladenen Gefechtsköpfe. In 370.000 Fuß Höhe wurden die Projektile mittels ihrer GPS-unterstützten Trägheitsnavigationssysteme ausgerichtet und aus den Trägerraketen ausgestoßen. Mit einer Geschwindigkeit von 6000 Meilen pro Stunde nahmen sie in 375.000 Fuß Höhe Kurs auf die kubanische Mittelstreckenrakete. Der erste Kopf traf sein Ziel. Der zweite verfehlte die Rakete um rund hundert Fuß, der dritte erwischte ein Trümmerstück, und der vierte schoss sieben Fuß entfernt an den Überresten vorbei. »Admiral Grafton, die Hue City meldet die Zerstörung der Rakete über der Straße von Florida.« Jake ergriff das Telefon mit der Direktverbindung zum Weißen Haus und wartete, bis sich jemand am anderen Ende meldete. »Die Hue City, ein Kreuzer der Aegis-Klasse, berichtet, dass die kubanische Rakete über der Straße von Florida zerstört wurde, Sir.« Der Präsident schwieg, aber Jake konnte die Erleichterung des -520-
Politikers regelrecht spüren. Als sich der Präsident schließlich zu Wort meldete, klang seine Stimme müde. »Wie viele Gefechtsköpfe stecken noch in diesen Raketen?« »Nur noch einer, Sir. Nummer vier. Es sind keine Kubaner vor Ort, aber die Marines haben Schwierigkeiten bei der Entfernung des Gefechtskopfs.« »Zerstören Sie die Raketen, nachdem sie sauber sind?« »Ja, Sir. Ein Magnesiumbrandsatz wird in der Nähe der Raketenspitze deponiert. Die Hitze lässt die Außenhülle schmelzen, entzündet den Festtreibstoff der Rakete und verursacht dadurch eine Explosion im Silo.« »Sie haben die Fertigungsanlage für die Gefechtsköpfe zerstört?« »Ja, Sir.« »Dann ist jetzt nur noch das Labor in der Nähe der Universität übrig?« »Das ist korrekt.« »Ich möchte, dass es ebenfalls zerstört wird, Admiral.« »Es wird Verluste geben, Sir, sowohl auf amerikanischer als auch auf kubanischer Seite. Das Labor befindet sich mitten im Zentrum von Havanna.« »Das ist mir bewusst. Zerstören Sie es trotzdem.« »Wir werden den Auftrag morgen Nacht erledigen, Sir«, sagte Jake Grafton. Als Toad Tarkington bei Rita eintraf, legte sie gerade ihrem Copiloten Crash Wade, der beim Aufprall der Osprey mit dem Gesicht in die Instrumentenkonsole geschleudert worden war, einen Verband an. Die Hälfte der Marines an Bord war verletzt worden, aber wie durch ein Wunder hatte es nur zwei Tote gegeben. Die Osprey selbst war ein Totalverlust. -521-
Toad legte Rita die Hände auf die Schultern. Sie drehte sich zu ihm um, und er entdeckte eine Prellung von der Größe eines Gänseeis auf ihrer Stirn, die sich bereits tiefrot verfärbte; eins ihrer Augen war dunkelblau angelaufen und leicht zugeschwollen. Er kniete sich neben sie. »Wie geht es deinem Kopf?« »Ich bin okay. Habe nicht mal das Bewusstsein verloren.« »Und Crash?« »Das Fleisch um die blutende Wunde herum fühlt sich matschig an - ich denke, er hat einen Schädelbruch erlitten. Er scheint weder mich noch sonst jemanden zu erkennen. « Nachdem sie Wades Wunden verbunden hatte, gingen sie und Toad zu einem Baum und setzten sich ins Gras. »Irgendjemand hat gesagt, wir wären von einer MiG abgeschossen worden, Toad. Das ganze rechte Motorgehäuse ist mit Einschusslöchern übersät. Ich konnte die Osprey nicht halten.« Rita war völlig erschöpft. Als Toad sich mit dem Rücken an den Baumstamm lehnte, bettete Rita den Kopf in seinen Schoß.
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22 Bei Tagesanbruch hatte Jake Grafton fünf biologische Gefechtsköpfe sicher an Bord der United States verstaut. Fünf ballistische Mittelstreckenraketen waren in ihren Silos zerstört und eingeschmolzen worden, sämtliche Amerikaner in Uniform und alle noch flugfähigen Maschinen hatten Kuba verlassen. Alles in allem war die Operation erfolgreich verlaufen. Über die Hälfte der Super-Cobras hatten nicht mehr genug Treibstoff, um über die Straße von Florida nach Key West zurückzukehren, und an Deck der amerikanischen Schiffe vor der kubanischen Küste war kein Platz mehr für sie. Zusätzlicher Treibstoff in flexiblen Tanks musste von der Kearsarge angefordert werden; dort wurden die Hubschrauber aufgetankt, ehe sie sich auf den Weg nach Key West machten. Vier SuperCobras waren abgeschossen worden, eine hatte so schwere Schäden aus dem Kampf davongetragen, dass sie nicht mehr sicher zu fliegen war und zerstört werden musste. Prowlers und Hornets, bewaffnet mit HARM-Raketen, setzten die Patrouillenflüge über Kuba die ganze Nacht hindurch fort, bereit, jedes Radar anzugreifen, das auf Sendung ging, während über ihnen F-14 Kampfflugzeuge kreuzten, um sich sofort auf jeden Flieger zu stürzen, der es wagte, vom Boden abzuheben. Mehrere Einheiten der kubanischen Armee tasteten sich eher zögerlich zu den Marines vor, die das Gelände um die Silos herum bewachten und sich auf den Rückzug vorbereiteten, aber gelegentliches Maschinengewehrfeuer und ein paar Granaten reichten aus, um die Kubaner zu entmutigen. Schließlich lösten die Marines ihre Stellungen auf und zogen unbehelligt ab. Als Major Carlos Corrado mit seiner MiG-29 in Cienfugos landete, musste er feststellen, dass er seine Maschine nicht -523-
auftanken konnte. Zwei Cruise-Missiles hatten die elektrische Pumpstation zerstört, so dass die MiG manuell hätte betankt werden müssen, ein langwieriger und mühseliger Prozess. Verärgert machte sich Corrado auf den Weg zur nächsten Bar der Stadt, in der er Stammgast war, und ließ sich voll laufen, wie er es jeden Abend tat. Bis zur Morgendämmerung lag er volltrunken in seiner Koje in der Kaserne und schlief seinen Rausch aus. Am nächsten Morgen beorderte Alejo Vargas in Havanna die ranghöchsten Offiziere der kubanischen Landstreitkräfte, der Kriegsmarine und der Luftwaffe zu sich in den Präsidentenpalast, wo sie sich ihre verbale Prügel abholen durften. »Feiglinge, Idioten, Verräter!«, tobte er, vor Zorn bebend. »Wir hatten sie schon in der Hand, wir hätten nur noch die Finger krümmen und eine Faust machen müssen. Diese amerikanischen Piraten auf frischer Tat zu schnappen - das hätte dem kubanischen Volk auf der ganzen Welt Beifall und Respekt eingebracht. Man hätte uns sofort geglaubt, wenn wir ein ganzes Rudel amerikanischer Gefangenen in Uniform hätten vorweisen können. Das war unsere Chance!« »Señor Presidente, die Truppen haben unseren Befehlen nicht Folge geleistet. Sie haben sich geweigert anzugreifen. Wenn sich die Männer direkten Befehlen verweigern, was sollen wir dann Ihrer Meinung nach tun?« »Erschießen Sie ein paar Generäle!«, fauchte Vargas. »Oder ein paar Colonels. Männer, die Angst haben, kämpfen umso besser.« »Wenn wir Generäle und Colonels erschießen, werden die Männer auf uns schießen«, widersprach General Alba, und er meinte es ernst. »Die Amerikaner waren zu gut ausgerüstet, zu gut ausgebildet und zu gut bewaffnet. Ihre Feuerkraft ist -524-
überwältigend. Ihnen Mann gegen Mann gegenüberzutreten wäre reiner Selbstmord gewesen, und die Männer wussten das.« Albas Logik war zwingend. Es war ebenso unlogisch wie albern, sich über etwas zu beklagen, das die kubanische Marine, das Heer und die Luftwaffe gar nicht hätten tun können, wie Vargas selbst wusste. Keine Militärmacht der Welt konnte die Amerikaner im direkten Kampf besiegen. Aus genau diesem Grund hatte er schließlich die letzten drei Jahre damit zugebracht, Möglichkeiten zur biologischen Kriegsführung zu entwickeln. Wutausbrüche werden mich auch nicht weiterbringen, ermahnte sich Vargas, während er sich mühsam wieder in den Griff bekam. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und forderte seine Besucher mit einer Geste auf, ebenfalls Platz zu nehmen. »Meine Herren, wir müssen uns auf die Zukunft konzentrieren. Sie haben mein vollstes Vertrauen, und ich hoffe, ich genieße das Ihre ebenso. Sie haben natürlich Recht - wir können die Amerikaner nicht mit militärischen Mitteln bezwingen. Wir müssen sie austricksen, wenn wir dieses Spiel gewinnen wollen, und mit Ihrer Hilfe können wir das immer noch schaffen.« Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihn. »Das Labor, in dem der biologische Kampfstoff für die Gefechtsköpfe entwickelt wurde, befindet sich in der Wissenschaftlichen Fakultät der Universität von Havanna. Letzte Nacht haben die Amerikaner unsere sechs funktionstüchtigen Raketen und die Fabrik, in der die Gefechtsköpfe hergestellt worden sind, zerstört. Sämtliche amerikanischen Marschflugkörper, Kampfflugzeuge und Einsatztruppen waren ausschließlich mit dieser Mission beschäftigt. Heute werden die Amerikaner versuchen, auch das Labor zu zerstören.« »Warum haben sie das Labor nicht schon in der letzten Nacht -525-
angegriffen?«, fragte Alba. »Sie sind der Militärexperte - sagen Sie es mir. Vielleicht hatten sie nicht genug Reserven, vielleicht fehlte ihnen die politische Rückendeckung aus Washington, um ein solches Massaker unter der kubanischen Bevölkerung anzurichten oder ihre eigenen Leute in Gefahr zu bringen - ich weiß es nicht. Ich kann nur vermuten, dass sie die Folgen fürchten, sollten sie bei einem Angriff versehentlich den biologischen Kampfstoff freisetzen. Welche Gründe sie auch gehabt haben mögen, das Labor ist immer noch intakt und in der Lage, genug Polioviren für unser Biowaffenprogramm herzustellen. Die amerikanischen Militärstrategen werden dieses Labor ganz sicher nicht ignorieren.« »Also, was sollen wir tun, Señor Presidente?« Alejo Vargas lächelte. Dann beugte er sich vor und begann, seinen Plan zu erläutern. »Erklären Sie mir, was passiert ist«, sagte Jake Grafton, nachdem Toad Tarkington wieder an Bord des Flugzeugträgers war. Im Osten dämmerte es bereits, und Toad war schmutzig und hundemüde. Sanitäter aus dem Schiffslazarett hatten die Osprey, mit Krankentragen bewaffnet, auf dem Flugdeck empfangen und Rita und Crash Wade zur Untersuchung unter Deck gebracht. Toad erzählte seinem Boss alles, was Jake vermutlich über die Kampfhandlungen am Silo eins wissen wollte, darüber, wie die Rakete gestartet war, wie er sich an der winzigen Wartungsluke festgehalten und von der Außenhülle abgestoßen hatte, als die Scud durch das Scheunendach geflogen war, über seinen Sturz in die Tiefe… Was er Jake dagegen verschwieg, war seine Todesangst, und er verlor nicht ein Wort über das Wechselbad seiner Gefühle, als er erfahren hatte, dass Ritas Osprey direkt vor der Scheune -526-
abgeschossen worden war, und kurz darauf, dass sie noch lebte, mit Quetschungen und Prellungen übersät, aber am Leben. Er musste nicht darüber sprechen, denn Jake Grafton konnte es ihm am Gesicht ablesen. Der Admiral hörte ihm aufmerksam zu. Er wirkte müde und traurig, sagte kein Wort und nickte nur. Dann klopfte er Toad auf die Schulter, schickte ihn unter die Dusche und für ein paar Stunden Schlaf in die Koje. Der junge CIA-Agent, Tommy Carmellini, saß mit versteinertem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen in der Messe. Chance war tot, und er wollte offensichtlich nicht darüber reden. Doch als Jake Grafton ihn darauf ansprach, berichtete er von der Mission, beschrieb dem Admiral den Ablauf der Operation und versicherte ihm, dass sämtliche Virenkulturen in dem Gebäude vernichtet worden waren. »Das Problem ist, dass diese Dreckskerle an irgendeinem anderen Ort noch mehr Virenstämme versteckt haben könnten. Womöglich hat Vargas für alle Fälle einen Vorrat unter seinem Bett gehortet.« »Ja«, sagte Jake Grafton. »Ich verstehe.« Und das tat er. Um absolut sicherzugehen, dass sämtliche Poliomyelitisviren in Kuba ausgerottet waren, würde er die ganze Insel niederbrennen müssen. Jake zog sich in seine Einzelkabine zurück, um selbst ein paar Stunden zu schlafen. Doch so müde er auch war, er konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere, während seine Gedanken um den gerade beendeten Kampfeinsatz und um den nächsten kreisten, der ihnen noch bevorstand. Was hatte er aus den Vorgängen der letzten Nacht gelernt? Was konnte in der kommenden Nacht schief gehen? -527-
Nachdem er eine Stunde lang vergeblich versucht hatte, in den Schlaf zu finden, nahm er eine lange, heiße Dusche, und als er sich danach wieder in die Koje legte, döste er endlich ein. Zwei Stunden später war er schon wieder hellwach, schlüpfte in eine saubere Uniform und ging in sein Büro. Dort hielt Toad bereits Kriegsrat mit Gil Pascal. »Rita ist okay«, meldete er, als Jake eintrat. »Crash Wade hat es nicht geschafft. Schon erstaunlich, nicht wahr? Einer tot, der andere nur ein bisschen angeschlagen.« »Kann Rita heute Nacht wieder fliegen?«, fragte Jake. Tarkington schluckte schwer und nickte knapp. »Sie ist die beste Osprey-Pilotin, die wir haben«, erklärte Jake. »Ich teile sie ein für den Flug, wenn sie den Job übernehmen will.« »Sie würde mich umbringen, wenn ich Sie bitten würde, sie zu übergehen.« »Ja, das würde sie vermutlich, und dabei sind Sie doch so ein hübscher junger Hengst. Was wäre das für ein Verlust für die Menschheit.« »Die Osprey mit dem Schiffbrüchigen von der Hue City wird in zwanzig Minuten hier sein. Ich bringe ihn dann gleich in Ihre Kabine.« »Hector Sedanos Bruder?« »Richtig, Sir. Und in der Nachricht hieß es, dass er zurück nach Kuba will.« Maximo Sedano parkte seinen Wagen direkt am Kai, damit er seine Ausrüstung nicht allzu weit tragen musste. Tauchgerät, Taucheranzug, Schwimmflossen, den Gürtel mit den Tauchgewichten, Tauchmaske - er war voll ausgestattet. Entschlossen packte er das ganze Zeug auf das Boot, kontrollierte den Treibstoff und legte ab. -528-
Das Gold lag im Hafen von Havanna, davon war er mittlerweile absolut überzeugt. Er hatte eine Karte des Hafens durch ein Gitternetz in einzelne Felder unterteilt und jedes der Vierecke mit einer Zahl markiert, die der von ihm geschätzten Wahrscheinlichkeit für einen Fund entsprach. Das Gebiet direkt vor den Anlegestellen kam ihm nicht sonderlich vielversprechend vor, ebenso wenig die Gegend rund um den Fischereihafen, in der viel Verkehr herrschte. Die größten Hoffnungen setzte er auf den Bereich jenseits des Yachthafens, wo Fidels Boot stets vor Anker gelegen hatte. Genau dort würde er mit seiner Suche beginnen. Er steuerte das Boot in das Zentrum seines Zielgebietes und warf den Anker. Da er den neugierigen Blicken der Menschen an Land nicht entgehen konnte, hatte er jedem, den es interessierte, erzählt, er wolle alte Schiffswracks im Hafenbecken Havannas studieren. Auf diesem Gebiet kannte er sich gut genug aus, um die Ausrede plausibel klingen zu lassen - er wusste eine ganze Menge über das amerikanische Schlachtschiff Maine und über die drei mit Reichtümern beladenen Galeonen zu erzählen, die während eines Hurrikans im Hafen auf die Klippen geschleudert worden und gesunken waren. Sollte er fündig werden, würde er sich nichts anmerken lassen. Sollte er das Gold tatsächlich entdecken, würde er es genau da lassen, wo es war, bis er mit professionellen Tauchern und einer ordentlichen Ausrüstung zurückkommen konnte. Wenn er fündig wurde. Nun, überlegte er, jeder Mann braucht etwas, wovon er träumen kann, und das war nun einmal sein Traum. Besser einen Traum zu haben, als sein Leben bei der Verteidigung eines Raketensilos zu verlieren. Diese Idioten. Das Gold war nicht mehr weit, er wusste es. An Bord des Bootes konnte er seine Macht spüren. -529-
Zum Teufel mit dir, Fidel. Juan Sedano, genannt El Ocho, blickte sich staunend um, als er aus der Osprey stieg. Das Flugzeug, der Flugzeugträger, die Kampfjets, der Lärm und Hunderte von Fremden, von denen nur wenige seine Sprache beherrschten - das alles war ein bisschen viel für einen jungen Mann, der Kuba nie zuvor verlassen hatte. Er trug die Arbeitskleidung der Navy, ein weißes T-Shirt und eine Baseballkappe mit dem Schriftzug Hue City. Über seiner Schulter hing ein Kopfkissenbezug, gefüllt mit Kleidungsstücken, Unterwäsche, Toilettenartikeln und Souvenirs, die ihm die Männer und Frauen auf der Hue City geschenkt hatten, alles Mögliche - von Fotografien des Schiffes über CD's bis hin zu Playboy-Magazinen. Toad Tarkington holte ihn auf dem Flugdeck ab und führte den groß gewachsenen, breitschultrigen Mann die Treppe hinauf in die Kommandobrücke, wo Jake Grafton und ein Übersetzer, ein Lieutenant und Kampfpilot lateinamerikanischer Abstammung, ihn bereits erwarteten. Jake nahm Ocho und den Lieutenant mit in seine Kabine, und dort machten es sich die drei Männer bequem. »Wann haben Sie Kuba verlassen?«, erkundigte sich Jake, nachdem er und Ocho sich miteinander bekannt gemacht hatten. »Vor sechs oder sieben Tagen«, übersetzte der Lieutenant Ochos Antwort. »Er ist sich nicht ganz sicher. Während der Tage auf See hat er das Zeitgefühl verloren.« »Sagen Sie ihm, dass Fidel Castro tot ist und sein Bruder Hector im Gefängnis sitzt.« Ochos Reaktion überraschte die beiden Männer, denn Tränen rannen ihm über das Gesicht. »Er hat mich gebeten, Kuba nicht zu verlassen. Er muss gewusst haben, dass Fidel im Sterben liegt, dass irgendetwas passieren würde, und ich bin trotzdem gegangen.« Verlegen wischte er sich die Tränen fort. »Ich liebe -530-
meinen Bruder. Er ist mein Vorbild, ein ehrenhafter Mann, der an etwas Größeres als nur an sich selbst glaubt. Ich weine, weil ich mich meiner selbst schäme, für das, was ich getan habe. Hector hat mich gebeten, nicht zu gehen, und ich habe nicht auf ihn gehört.« »Erzählen Sie mir von Hector«, bat Jake Grafton sanft. Der Admiral hatte für das Gespräch mit dem jungen Mann etwa fünf Minuten angesetzt, aber aus den fünf Minuten wurden fünfzehn, dann eine halbe und schließlich eine ganze Stunde. Ocho erzählte von den Versammlungen, zu denen er Hector begleitet hatte, von den Ansprachen seines Bruders, von seinen vielen Freunden, davon, wie Hector die linientreuen Geistlichen und Bürokraten verärgerte, indem er die Botschaft von einer neuen Zukunft Kubas unter allen verbreitete, die bereit waren, ihm zuzuhören, und das waren nicht wenige. Jake widmete Ocho nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit, denn seine Gedanken kreisten immer noch um den geplanten Angriff auf das Labor in der Wissenschaftlichen Fakultät der Universität von Havanna. Als Ochos Redestrom allmählich versiegte, griff Jake zum Telefon und rief Toad an. »Ich bin in meiner Kabine«, sagte er. »Sorgen Sie dafür, dass die Fernsehstation das Band, das wir heute Morgen über den Satelliten runtergeladen haben, auf dem Fernseher in dieser Kabine abspielt. Nur auf diesem Gerät.« »Yessir.« Drei Minuten später rief Toad ihn zurück. »Kanal zwei, Admiral.« Jake schaltete den Fernseher ein. Nach wenigen Sekunden erschien Fidel Castro auf dem Bildschirm, ein sichtlich kranker Mann in einer grünen Drillichjacke, der hinter einem Schreibtisch saß. »Bürger von Kuba, ich spreche heute zum letzten Mal zu -531-
euch. Ich leide an einer tödlichen Erkrankung…« Der junge Lieutenant übersetzte. »Ich möchte ein paar Minuten darauf verwenden, euch allen von meinem Traum für Kuba zu erzählen, meinem Traum von der Zukunft unseres Landes. Es ist unabdingbar, dass wir uns aus unserer politischen Isolation lösen und als erwachsen gewordener Staat zu der großen Familie der anderen Nationen stoßen. Diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, wird große Veränderungen von unserer Seite und eine neue politische Vision erfordern…« Jake Grafton trat näher an den Fernseher heran, rückte seine Brille zurecht und betrachtete Fidel Castro aufmerksam. Der Mann schwitzte stark, offensichtlich hatte er Schmerzen, und er veränderte immer wieder seine Haltung, als suche er nach einer bequemeren Position. »Seit Jahren verfolge ich mit Bewunderung und Respekt«, fuhr Fidel fort, »wie sich Hector Sedano in unserem Volk bewegt, Freunde gewinnt und ihnen von seiner Vision für Kuba erzählt, sie auf die Veränderungen und Opfer vorbereitet, die in der Zukunft erforderlich sein werden.« Er zuckte zusammen, legte eine kurze Pause ein, trank einen Schluck Wasser aus einem Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand, und sprach dann weiter. »Unsere Nation muss nicht ihre revolutionäre Entschlossenheit aufgeben, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, um als vollwertiger Partner an der Weltwirtschaft teilzuhaben. Wir wären Verräter an den Helden der Revolution und an uns selbst, wenn wir das täten. In den vergangenen Jahren hat die Kirche, der so viele Kubaner angehören, eingesehen, dass niemand ein wahrer Christ sein kann, der sich nicht aktiv für die soziale Gerechtigkeit einsetzt, ein Anspruch, den jeder loyale Kubaner schon in die Wiege gelegt bekommen hat. Die Kirche hat sich verändert und ist auf uns zugegangen. -532-
Nun müssen auch wir uns verändern. Die Zeit ist gekommen, da diese Regierung dem Kommunismus abschwören und das private Unternehmertum fördern muss, in der sie dafür Sorge tragen muss, dass jeder Kubaner eine annehmbare Arbeitsstelle erhält, mit der er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, und dass jedes Unternehmen seine angemessenen Steuern entrichtet…« Nach weniger als einer Minute kam Fidel zum Schluss seiner Ansprache. »Hector Sedano ist der Mann, dem ich mehr als jedem anderen zutraue, unsere Nation auf den Weg in diese Zukunft zu führen.« Damit endete die Aufzeichnung völlig undramatisch. »Das reicht«, murmelte ein müder und abgespannter Fidel irgendjemandem außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera zu. Jake Grafton schaltete den Fernseher aus. Ocho war wie betäubt. »Ich dachte, Fidel wäre tot.« »Er ist tot. Dieses Band hat er kurz vor seinem Tod aufgenommen.« »Dann war das keine Live-Übertragung?« »Nein, ein Film. Eine Videoaufzeichnung.« »Und die befindet sich in Ihrem Besitz!« Ochos Augen waren vor Verblüffung weit aufgerissen. »Das Band muss im Fernsehen gelaufen sein, und Sie haben es kopiert. Aber wenn es in Havanna ausgestrahlt worden ist, warum sitzt Hector dann im Gefängnis?« »Die Ansprache ist nie im Fernsehen gezeigt worden«, sagte Jake. »Soweit ich weiß, sind Sie der erste Kubaner, der sie zu Gesicht bekommen hat.« Ocho starrte ihn an und versuchte zu begreifen, was er soeben erfahren hatte. »Was haben Sie damit vor?«, fragte er schließlich. -533-
»Ich habe mich gefragt, ob Sie das Band vielleicht der Dame zurückgeben könnten, die es uns zur Verfügung gestellt hat«, erwiderte Jake Grafton. »Ich glaube, sie ist eine Schwägerin von Ihnen. Sie heißt Mercedes Sedano.« »Mercedes!«, keuchte Ocho. »Sie war Fidels Geliebte. Warum hat sie Ihnen das Band gegeben?« »Das werden Sie sie selbst fragen müssen. Werden Sie es ihr zurückgeben?« »Natürlich. Wann soll ich das tun?« »Heute Abend, denke ich. Übrigens, haben Sie Hunger?« »O ja.« Jake und der Lieutenant führten Ocho zum Mittagessen in die Offiziersmesse. Ocho sprach über Baseball, über Kuba, über seinen Bruder Hector und über Hectors Träume von einem freien Kuba. Er plapperte sogar mit vollem Mund weiter, so dass der Lieutenant, der seine Worte übersetzen musste, kaum zum Essen kam. Jake Grafton ließ den jungen Kubaner einfach reden. Nach dem Essen erkundigte sich der Admiral nach Tommy Carmellini, woraufhin Toad Tarkington sich auf die Suche machte. Der Agent schlief, und er roch nach Schnaps, was Toad jedoch ignorierte - schließlich war der Mann kein Soldat, sondern Zivilist. Toad weckte ihn auf, brachte ihn in das Büro des Admirals und bat den Ersten Maat, Kaffee zu besorgen; dankbar schenkte Carmellini sich eine Tasse ein. »Ich habe über Ihre Bemerkung nachgedacht«, sagte Jake Grafton. »Meine Bemerkung?«, fragte Carmellini zwischen zwei Schlucken des heißen schwarzen Gebräus. »Darüber, dass Vargas vielleicht Virenstämme unter seinem Bett versteckt.« -534-
»Hmm…« Carmellini nippte an seinem Kaffee. Als er merkte, dass der Admiral eine ausführlichere Antwort von ihm erwartete, zuckte er mit den Achseln. »Das war nur eine unbedachte Äußerung. Tut mir Leid.« Jake Grafton kratzte sich am Kinn. »Ich fand, sie hat… in gewisser Weise ins Schwarze getroffen.« »Warum?« »Wir können kaum die ganze Insel niederbrennen.« »Das wäre in der Tat kaum machbar«, stimmte ihm Carmellini zu. »Sonst müssten wir hinterher elf Millionen Kubaner ernähren und unterbringen.« »Also, was bedeutet das für uns?« Tommy Carmellini betrachtete die Gesichter der Marineoffiziere. »Es gibt eine Anweisung des Präsidenten, die Attentate auf Staatsoberhäupter verbietet«, sagte er vorsichtig. »Ich habe von Verweisen auf eine derartige Direktive gehört«, erwiderte Jake Grafton, »obwohl ich das Ding selbst nie gelesen habe.« »Die Direktive existiert, vertrauen Sie mir.« »Ich glaube Ihnen, mein Freund. Das ist eine durchaus vernünftige Politik, und ich habe auch nichts dergleichen im Sinn. Unser Interesse gilt dem Labor und den Virenkulturen, und das ist schon mehr als genug Arbeit. Sie waren schon einmal dort und kennen die Anlage. Würden Sie uns heute Nacht noch einmal dorthin begleiten?« Tommy Carmellini nickte langsam. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich fragen, Admiral. Es wäre mir ein Vergnügen.« »Wir planen ein militärisches Kommandounternehmen. Wird vermutlich eine schlimme Geschichte werden. Wahrscheinlich lauert uns Vargas schon vor dem Ziel auf, oder er hat das Labor mit Sprengladungen gespickt, um es in die Luft zu jagen, sobald wir uns bis dorthin durchgekämpft haben. Oder auch beides.« -535-
»Würde zu ihm passen«, räumte Carmellini ein. »Hector Sedanos Bruder befindet sich an Bord der United States. Er wurde vor zwei Tagen nördlich von Kuba aus dem Meer gefischt, nachdem sein Boot gesunken war. Der Bursche ist entweder tatsächlich Hectors Bruder oder ein Lügner von Clintonschen Dimensionen. Die Leute nennen ihn El Ocho. Ich möchte, dass Sie mit ihm reden und sich selbst ein Bild von ihm machen. Mir kommt er wie ein ungemein tüchtiger, fähiger junger Mann vor. Sprechen Sie mit ihm und erzählen Sie mir dann, was Sie denken.« In der Zentrale der Luftaufklärung studierte Toad Tarkington die Satellitenbilder und Radaraufnahmen einer E-3 Sentry AWACS, die über der Straße von Florida kreiste. Mittelpunkt aller Bilder war das Gebäude der Wissenschaftlichen Fakultät der Universität von Hava nna. »Was geht in Havanna zurzeit vor?«, erkundigte sich Jake. »Die Straßen sind voller Menschen«, berichtete Toad. »Vor allem die rund um das Gefängnis La Cabana. Glauben Sie, die Leute haben sich dort versammelt, um Hector Sedano zu befreien?« »Sie sind dort, weil er dort ist«, murmelte Jake und griff nach einer Lupe, um seinerseits die Infrarotaufnahmen der wissenschaftlichen Fakultät zu studieren. Toad deutete mit einem Stift auf ein spezielles Bild. »Panzer«, sagte er. »Vargas wird uns mit durchgeladenen Waffen erwarten.« »Schafft er Virenkulturen aus dem Gebäude raus? Haben die Spezialisten aus Maryland dazu irgendetwas verlauten lassen?« »Sie haben nichts entdecken können. Außerdem wäre er ein Idiot, wenn er das Zeug mit gewöhnlichen Lastern durch Havanna kutschieren würde.« -536-
»Verzweifelte Menschen tun häufig idiotische Dinge«, konterte Jake Grafton und legte die Lupe zurück auf den Tisch. Gegen Abend erhielt Jake einen Anruf aus dem Weißen Haus. »Ich habe gerade das Band von Castro gesehen«, sagte der Präsident am anderen Ende der verschlüsselten Leitung. »Ziemlich beeindruckend. Wir werden es der Frau übergeben, die es uns zur Verfügung gestellt hat. Mal sehen, ob sie es heute Abend noch ins Fernsehen bringen kann.« »Das könnte seine Wirkung erzielen«, sagte der Präsident. »Die Amerikanische Interessensvertretung in Havanna meldet, dass die Menge vor dem Gefängnis ziemlich unruhig ist, aber es ist keine Polizei zu sehen.« Jake Grafton spürte eine Woge der Erleichterung. »Das sind die besten Neuigkeiten des heutigen Tages, Sir.« »Ich mache mir wirklich Sorgen wegen dieser Viren.« »Wir tun, was wir können, Sir.« »Aber was genau beabsichtigen Sie zu unternehmen, Admiral?« »Den Umständen entsprechend zu improvisieren. Wollen Sie wirklich alle Einzelheiten wissen?« »Ich schätze, nein«, sagte der Präsident bedrückt. Alejo Vargas hielt sich im Verwaltungstrakt gegenüber dem Labor in der Universität von Havanna auf, als General Alba gemeinsam mit dem alten General Rafael Zerquera, nominell Oberbefehlshaber der bewaffneten Streitkräfte Kubas und Generalstabschef, auf ihn zukam. General Zerquera war mindestens fünfundachtzig Jahre alt, vermutlich sogar noch älter, und benutzte einen Gehstock. Den beiden Militärs folgten mehrere Minister, unter ihnen Ferrara und der Bürgermeister von Havanna, eskortiert von sechs jungen Offizieren mit -537-
aufgepflanzten Seitengewehren. »Señor Presidente, begann General Zerquera und sah sich nach einem Stuhl um. Er entdeckte einen und ließ sich von seinem Adjutanten zu ihm führen, obwohl Vargas niemanden aufgefordert hatte, sich zu setzen. Zerquera blickte sich langsam um, prägte sich jedes Detail ein. Durch ein Fenster konnte er die Luftschleuse auf der anderen Seite des Korridors sehen, die zu dem versiegelten Labor führte. »Ich habe in Ihrem Büro angerufen, im Innenministerium niemand konnte mir sagen, wo Sie waren. Nur die Armee wusste es.« Vargas schwieg. »Ich habe letzte Nacht gesehen, wie eine Rakete gestartet ist jeder in Zentralkuba hat den Start gesehen oder gehört.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Waffen, um Städte zu zerstören und Millionen von Menschen umzubringen - Fidel wusste, dass die Yanquis versuchen würden, die Raketen zu zerstören, sollten sie je von ihnen erfahren. Er hatte Recht. Und er wusste, wenn die Raketen jemals gegen die Vereinigten Staaten gerichtet werden würden…« Zerquera legte den Kopf schief und musterte Vargas. »Also haben Sie mindestens eine auf den Weg gebracht, und die hat ihr Ziel nie erreicht.« »Ich habe keinen Befehl zum Abschuss erteilt«, zischte Vargas. »Nun, was geschehen ist, ist geschehen. Aber wie können Sie sicher sein, dass die Rakete ihr Ziel nicht erreicht hat?« »Weil wir immer noch am Leben sind«, antwortete Zerquera. »Wenn Sie glauben, die Yanquis würden in einem solchen Fall nicht zurückschlagen, sind Sie ein gefährlicher Narr.« Es fiel Vargas nicht leicht, sich zu beherrschen. Zerquera hatte viele Freunde; das Gerede wäre nicht aufzuhalten, sollte er hier, vor den Augen dieser jungen Offiziere, erschossen werden. -538-
»Und dann ist da noch dieses Labor«, fuhr Zerquera ungerührt fort und deutete auf die Fensterscheibe und das dahinter liegende Labor. »Hier stellen Sie das Gift her, mit dem Sie Kuba vernichten werden. Wenn Sie dieses Zeug gegen die Amerikaner einsetzen, werden sie zurückschlagen. Und sollte etwas davon entweichen, werden viele Kubaner eines grausamen Todes sterben.« Vargas atmete tief durch, ehe er antwortete. »Wir schaffen die Kulturen von hier weg.« »Weg? Wohin?« »An einen Ort, an dem sie sicher sein werden.« »Verzeihen Sie mein Unverständnis, Señor Presidente, aber welche andere Einrichtung in Kuba verfügt über eine isolierte Luftumwälzanlage, ein Alarmsystem für biologische Kampfstoffe und andere Sicherheitseinrichtungen, wie sie hier vorhanden sind?« »Es gibt keine.« »Also gibt es keinen sichereren Ort für die Viren als dieses Gebäude.« »Noch heute Nacht werden die Amerikaner dieses Gebäude vermutlich angreifen, um die Viren zu vernichten. Sie haben schon gestern Nacht mehrere Einrichtungen niedergebrannt, in denen wir Virenstämme verwahrt haben, und nun werden sie wahrscheinlich auch dieses Labor niederbrennen. Ich bin zwar kein Prophet, trotzdem kann ich diese Voraussage mit ziemlicher Sicherheit machen.« »Der Präsident der Vereinigten Staaten könnte dieses Gebäude und alles, was sich in ihm befindet, mit einem Telefonanruf zerstören lassen«, sagte General Zerquera leise. »Und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten. Meiner Ansicht nach sollten die Viren vernichtet werden, wenn es einen sicheren Weg gibt, das zu tun. Sollten die Polioviren aus was für einem Behältnis auch immer entweichen, werden unzählige -539-
Menschen aus unserem Volk sterben, es sei denn, diese Behälter befinden sich in einem Gebäude, das über so spezielle Sicherheitsvorrichtungen wie dieses Labor verfügt.« Vargas sah aus, als würde er jeden Moment einen Wutanfall erleiden. »Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, General. Wenn Sie…« Zerquera unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung. »Nein, nein, nein! Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, wenn Sie das kubanische Volk in Gefahr bringen, nur weil Sie Ihre persönlichen Ziele verfolgen.« »Kommen Sie mir nicht in die Quere, alter Mann«, knurrte Vargas. »Ich werde mich nicht in die Politik einmischen, Alejo. Das habe ich nie getan. Das kubanische Volk wird entscheiden, wen es zu seinem Präsidenten wählt - weder Sie noch die Exilanten, noch Fidel oder der Präsident der Vereinigten Staaten werden dem kubanischen Volk seine Entscheidung vorschreiben. Vierzig Jahre lang wollten die Menschen Fidel, einen geschwätzige n Exzentriker mit viel Charme und zu wenig Weisheit, meiner Meinung nach. Aber nun ist eine neue Zeit angebrochen.« Vargas deutete mit einer wütenden Geste auf die anderen Männer. »Diese Leute haben Ihnen offensichtlich Lügen über mich erzählt.« General Ra fael Zerquera stemmte sich hoch und stützte sich auf seinen Stock. Seine Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen und blieben schließlich an Vargas hängen. »Eine Nation reift heran wie ein Mensch. Die Jugend begeht viele Fehler, doch mit dem Alter und der Erfahrung kommt die Weisheit.« »Sie vergeuden unsere Zeit«, knirschte Vargas mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie werden die Virenkulturen nicht aus diesem Gebäude -540-
entfernen. Das Risiko für die Bevölkerung ist zu groß.« Alejo Vargas trat vor, um den alten Trottel zu ohrfeigen, doch einer der jungen Offiziere trat ihm in den Weg und zielte ihm mit seiner Pistole direkt ins Gesicht. »Noch einen Schritt, Señor Presidente«, sagte der junge Mann, »und Sie sind tot.« Zerquera machte kehrt und ging zur Tür, verließ den Vorraum des Labors und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf ins Erdgeschoss. Die Zivilisten folgten ihm, während Alba und seine jungen Offiziere zurückblieben. »Sie, Alba? Sie haben mich verraten?« »Ich gehorche nur meinem Gewissen«, entgegnete Alba und gab seinen Männern Anweisung, vor dem Labor Aufstellung zu nehmen. »Töten Sie jeden, der versucht, irgendetwas aus diesem Raum zu entfernen«, befahl er ihnen. Als das letzte Tageslicht verblasste, überquerte ein Helikopter von der USS United States die Südküste Kubas in Richtung Nordwesten. Der Helikopter hielt sich nahe am Boden, flog knapp über die Baumkronen hinweg. Sowohl Pilot als auch Copilot trugen Nachtsichtgläser. Hinter ihnen saßen Tommy Carmellini und Ocho Sedano in der kleinen Fluggastzelle. Der Lauf eines Maschinengewehrs Kaliber .50 ragte zu der offenen Tür hinaus. Der Schütze, ebenfalls mit Nachtsichtgläsern ausgestattet, hockte auf dem Notsitz und starrte angestrengt nach draußen. Zur gleichen Zeit überflogen EA-6B Prowlers und F/A-18 Hornets mit scharfen HARM-Raketen den Küstenstreifen. Sie hatten den Auftrag, sämtliche kubanischen Radarstationen zu zerstören, die in dieser Nacht aktiviert wurden. Bisher war alles ruhig, nur die F-14 Tomcats zogen noch über den Prowlers und -541-
Hornets auf ihren Patrouillenflügen vorbei. Einer der F-14-Piloten war Stiff Hardwick. Er und sein Beobachter waren in der vergangenen Nacht beinahe direkt über Silo eins mit den Schleudersitzen aus ihrer Maschine ausgestiegen und hatten den Heimweg in einer Osprey antreten müssen. Der Beobachter und Radaroffizier »Boots« VonRauenzahn hatte sich den linken Arm gebrochen, weshalb er nun einen Gipsverband trug und nicht fliegen konnte. Sailor Karnow, die jüngste Beobachterin und Radaroffizierin der Staffel, hatte den kurzen Strohhalm erwischt und saß jetzt auf dem Sitz hinter Stiff. Stiff hatte bereits einen höllisch schlechten Tag hinter sich. Erst war er von einem kubanischen Piloten abgeschossen worden, dann hatte er den ganzen Tag die Sticheleien und Schadenfreude seiner Kameraden über sich ergehen lassen müssen, und nun musste er auch noch mit Sailor fliegen, einer ruhigen Frau, die in dem Testosterongeschwängerten Bereitschaftsraum selten ein Wort verlor. Als sie an diesem Abend zum Flugzeug gegangen waren, hatte Boots seinem Freund Stiff den gesunden Arm um die Schultern gelegt. »Sailor wird schon gut auf dich aufpassen. Nur keine Sorge, Kumpel.« Stiff hatte irgendeine ziemlich unfreundliche Antwort geknurrt und war davongestapft. Er war das einzige Opfer der gesamten kubanischen Luftwaffe geworden - Kampfflieger pflegten Helikopterpiloten normalerweise zu ignorieren, daher tauchten die beiden Hubschrauber, die von dem MiG-Piloten abgeschossen worden waren, nicht auf Stiffs internem Radar auf. Von der Schmach der vergange nen Nacht würde er sich nie, nie wieder erholen. Seine Kameraden würden ihm vermutlich eine lästerliche Gedenkschrift auf den Arsch tätowieren, sobald er das nächste Mal betrunken war, aber vielleicht würden sie den Mist auch in -542-
seinen Grabstein gravieren. Sein Skipper hätte beinahe einen anderen an seiner Stelle für den heutigen Nachtflug eingeteilt Stiff war nichts als schamlose Bettelei übrig geblieben. »Sie müssen mich fliegen lassen«, hatte er gejammert, »geben Sie mir eine Chance, mich zu rehabilitieren.« »Sie werden da draußen doch keinen Unsinn anstellen, oder?«, hatte ihn der Skipper misstrauisch gefragt. »O nein, Sir«, hatte Stiff versichert. Und hier war er nun, unterwegs, um den Drachen zu töten, falls das Vieh aus seiner Höhle kam. Und der gottverdammte kubanische Pilot ließ sich vermutlich immer noch mit kostenlosem Bier freihalten, während er seine Geschichte über den verfluchten Yanqui zum Besten gab, der vor ihm aufgetaucht war und seinen Nachbrenner gezündet hatte. Tatsächlich hatte Carlos Corrade sich nicht allzu viele Gedanken über seinen Sieg im Luftkampf gemacht. Er war am frühen Nachmittag mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht und hatte seinen Kater auf die übliche Art bekämpft eine Tasse Kaffee, eine Zigarre und danach erst einmal kotzen. Gegen Abend fühlte er sich ein bisschen besser, beschloss aber, vorsichtshalber noch eine Weile auf feste Nahrung zu verzichten. Schließlich konnte er auch nach dem Flug noch etwas essen. Seine Vorgesetzten hatten an diesem Tag natürlich nicht auf dem Stützpunkt angerufen, da das Telefonnetz in vielen Bereichen immer noch außer Betrieb war, weshalb der zuständige Colonel mit dem Auto aus Havanna gekommen war. »Bitte bleiben Sie am Boden, Corrado. Ich könnte es Ihnen auch befehlen, aber so, wie ich Sie kenne, würden Sie den Befehl garantiert missachten. Darum bitte ich Sie, heute Nacht nicht zu fliegen. Lassen Sie nicht zu, dass Sie abgeschossen werden. Bitte, ersparen Sie sich und uns diese Schande.« -543-
Carlos Corrado hatte dem Colonel gesagt, wohin er sich scheren und was er dort mit sich anstellen sollte. Nun saß er auf dem Betonboden und lehnte an den vorderen Reifen seines Fliegers, der zwischen zwei ausgebrannten Hangars stand. Die Truppen hatten den ganzen Tag schwer geschuftet, um die MiG-29 aufzutanken, zu warten und zu bewaffnen. Sie war bereit. Jetzt musste Corrado nur noch in Erfahrung bringen, wo die Amerikaner waren und was sie vorhatten. Aber natürlich gab es niemanden, der ihm das hätte verraten können. Die Wände der beiden Hangars standen no ch und wirkten wie ein Verstärker für die Geräusche, die vom Himmel herabdrangen. Während er auf seinem Zigarrenstummel herumkaute, konnte Corrado die Jets hoch oben in der Luft hören, ein tiefes, gedämpftes Grollen. Es waren ohne Zweifel amerikanische Flugzeuge, und sie hatten scharfe Zähne. Wenn er einfach aufs Geratewohl losflog, würde sein Leben ein ebenso abruptes wie gewaltsames Ende finden. Wo wollten sie hin? Havanna? Er hatte schon in der vergangenen Nacht geglaubt, das wäre ihr Ziel, aber sie waren nicht einmal in die Nähe der Stadt geflogen. Natürlich wusste der Colonel aus dem Hauptquartier von nichts, zumindest hatte er nichts gesagt. Außer dass Corrado ein Idiot sei, denn nur ein Idiot würde ein amerikanisches Kampfflugzeug direkt angreifen. Corrado zog ein Streichholz hervor, zündete den Zigarrenstummel an, paffte, hustete und kaute auf dem feuchten Tabakbrei herum. Was soll's? Eigentlich sind wir doch alle Idioten. Spielt das vielleicht irgendeine Rolle? Und wenn ja, für wen? -544-
Rita Moravia landete die V-22 auf dem Flugdeck der United States und sah, wie Jake Grafton vom Oberdeck in ihre Richtung lief; Toad und ein Dutzend Marines mit Signalleuchten folgten ihm. Die Marines hatten ihre Gewehre um die Schultern geschlungen und trugen Kevlar-Helme. Im Licht der roten Lampen an den Aufbauten wirkte die schattenhafte Prozession wie aus einem Traum entsprungen, eine geradezu nebelhafte Vision. Aber sie konnte spüren, dass die Männer sehr real waren, als sie über die Rampe in den Bauch des Flugzeugs marschierten und sich die Vibrationen ihrer schweren Schritte durch den Rumpf bis zu ihr ins Cockpit ausbreiteten. Kurz darauf blickte Jake Grafton ihr über die Schulter. »Toad meint, Sie wären okay. Stimmt das?« »Ich bin okay, Admiral.« Sie drehte sich zu ihm um und ließ ein flüchtiges Grinsen aufblitzen. Der Bluterguss auf ihrer Stirn hatte sich mittlerweile gelb und blau verfärbt. »Wann immer Sie so weit sind«, sagte Jake und schnallte sich auf dem Sitz des Mannschaftsführers an.
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23 Es war eine ausnehmend schöne Sommernacht, ein freier, klarer Himmel mit Sichtweiten von mehr als zwanzig Meilen. Früher am Abend waren einige Regenschauer über der Straße von Florida niedergegangen, hatten den Staub aus der Luft gewaschen und den Dunst aufgelöst. Major Jack O'Brian saß im Cockpit seiner F-117 und blickte auf die unter ihm vorbeiziehenden Städte hinab, als er an der Westküste Floridas Richtung Süden flog. Er hielt sich etwas abseits der Küste seewärts, um den allgemeinen Luftkorridor zu umgehen. O'Brian hatte einen Kanal des Funkgeräts auf die taktische Frequenz seiner Staffel eingestellt und hörte mit einem Ohr mit, nur für den Fall, dass die Mission in letzter Minute abgeblasen wurde. Auf dem anderen Kanal verfolgte er den Funkverkehr des Zentralflughafens von Miami, sprach aber nicht mit dem Fluglotsen. Sein Transponder war abgeschaltet; er flog in 36.500 Fuß Höhe, 500 Fuß über der Obergrenze des Luftkorridors, so dass keine Gefahr bestand, mit einer Linienmaschine zusammenzustoßen, die er nicht rechtzeitig bemerkte. Kein Flugzeug, das unter ihm flog, würde ihn sehen, denn O'Brian hatte die Positionslichter seiner mitternachtschwarzen Maschine ausgeschaltet. Der Tarnkappenjagdbomber war auch für die Flugüberwachung von Miami Center unsichtbar, deren Radar darauf konfiguriert war, die kodierten Signale der Transponder anderer Flugzeuge zu empfangen. Und selbst wenn ein Fluglotse den Himmel gezielt nach aktuellen Radarechos absuchte, würde er die F-117 nicht entdecken, die speziell zu dem Zweck konstruiert worden war, auf größere Entfernung für Radarortung unsichtbar zu sein. -546-
Diese Eigenschaft verhinderte auch, dass der Tarnkappenjagdbomber auf den Schirmen des amerikanischen Frühwarn-Radars erschien, deren Schüsseln den nächtlichen Luftraum nach nicht gemeldeten Flugzeugen durchforsteten, zum Beispiel nach denen von Drogenschmugglern. Und in wenigen Minuten würde sie die F-117 vor kubanischem Radar verbergen, das den Himmel über der Straße von Florida überwachte. Sofern es überhaupt welches gab. Völlig unsichtbar schoss Jack O'Brians Jagdbomber wie ein schwarzes Gespenst durch die Nacht, überquerte Tampa und näherte sich Key West. Er flog knapp unter Schallgeschwindigkeit, um Treibstoff zu sparen. Jack hatte über Tallahassee aufgetankt und würde das in zwei Stunden und wenigen Minuten in der Nähe von Tampa wieder tun. Aber zuvor stand eine kleine Spritztour nach Havanna auf seinem Programm. Die Navigation erfolgte über das Globale PositionierungsSystem, GPS. Jack hatte die Zielkoordinaten schon vor dem Anwerfen der Flugzeugmotoren in den Bordcomputer eingegeben, und jetzt erledigten der Computer und der Autopilot den Rest. Alles, was er nun zu tun hatte, war, die Systeme zu überwachen und sich zu vergewissern, dass alles so funktionierte, wie es funktionieren sollte. O'Brian atmete durch seine Sauerstoffmaske, zwängte eine Hand darunter, um sich an der Nase zu kratzen, rückte die Fliegerbrille zurecht und rutschte ungeduldig in seinem Sitz herum. Er war nervös - wer wäre das an seiner Stelle nicht gewesen? -, aber einigermaßen zuversichtlich. Schließlich bestand kaum eine Gefahr für ihn, solange nicht eins der Systeme versagte. Nachts war die Maschine im wahrsten Sinne des Worte unsichtbar. Natürlich strahlte sie eine gewisse Wärmemenge ab und konnte so von einem Feind aufgespürt werden, der den Himmel mit Infrarotsensoren absuchte, aber es -547-
gab keinen Grund zu der Vermutung, dass die Kubaner das heute Nacht tun würden. Sollte es nicht zu einem äußerst unwahrscheinlichen Unfall wie einem Zufallstreffer durch blindes Luftabwehrfeuer oder einem Zusammenstoß mit einem zivilen Flugzeug kommen, würden die Kubaner nie erfahren, dass die F-117 da gewesen war; jedenfalls würden sie sie nicht auf ihren Radarschirmen oder mit bloßem Auge sehen. Vielleicht würde sich das ändern, wenn er ein paar Bomben abwarf, aber selbst dann konnten sie nichts gegen ein unsichtbares Flugzeug ausrichten. Das größte Risiko, überlegte Jack O'Brian, bestand tatsächlich in einem Zusammenstoß mit einer der drei anderen F-117, die außer ihm durch die Nacht rasten. Das zweite Flugzeug flog zwanzig Meilen hinter und rund 1000 Fuß über ihm, die beiden anderen folgten im gleichen Abstand und hielten starr ihre jeweiligen Flughöhen. Jack warf einen kurzen Blick auf seinen Höhenmesser, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Key West kam planmäßig in Sicht, etwas links von ihm. Die Lichter der anderen Keys funkelten wie eine Hand voll in die Dunkelheit geschleuderter Perlen. Dann blieb Key West hinter ihm zurück, und alsbald tauchten am Horizont die Lichter Havannas auf. Jack O'Brian verringerte den Schub und ging in den Sinkflug. Angel One, der von der United States gestartete Hubschrauber, landete gegenüber von Doña Marias Haus auf der anderen Seite der Straße im Zuckerrohrfeld. Ocho sprang hinaus, überquerte die Straße und ging zum Haus seiner Mutter. Tommy Carmellini folgte ihm. Mercedes stand auf der Veranda, als Ocho die Treppe -548-
erreichte. Sie fielen einander in die Arme und drückten sich fest. Mercedes schenkte Carmellini, der Zivilkleidung trug, sich aber eine Pistole um die Hüften geschnallt hatte, nicht die geringste Beachtung. Ohne Ocho loszulassen, führte sie ihn ins Haus, wo seine Mutter in einem Sessel saß. Carmellini blieb draußen auf der Veranda und beobachtete die gelegentlich vorbeifahrenden Autos und Lastwagen. Vor dem Zuckerrohrfeld wurden die Fahrzeuge langsamer, ihre Insassen starrten zu dem Hubschrauber hinüber, aber niemand hielt an. Nach einer Weile kehrte Ocho mit Mercedes, die das Videoband in der Hand hielt, auf die Veranda zurück. Ocho stellte ihr Carmellini vor. »Wenn das Band seine maximale Wirkung entfalten soll, muss es nach Möglichkeit sofort ausgestrahlt werden«, erklärte Carmellini Mercedes, die die Videokassette fest umklammert hielt. »Wir werden Hector aus dem Gefängnis befreien«, fügte Ocho eifrig hinzu. »Wenn du willst, nehmen wir dich mit und setzen dich vor dem Fernsehsender in Havanna ab.« Mercedes nickte. Ocho legte ihr einen Arm um die Schultern und ging mit ihr zu dem wartenden Hubschrauber. Bevor er einstieg, drehte er sich noch einmal um und winkte Doña Maria zu, die in der Tür ihres Häuschens stand. Jake Grafton betrachtete die Straßen Havannas durch ein Infrarotfernglas. Er saß auf dem Copilotensitz der V-22 Osprey. Rita hatte die Maschine in eine Rechtskurve gelegt und zog Kreise um die Innenstadt. Havanna war hell erleuchtet, nicht ganz so hell wie eine amerikanische Stadt, aber annähernd. Das Stadtzentrum war dunkel, noch war die Stromversorgung unterbrochen. -549-
Die Gegend um die Universität herum wirkte verwaist. Keine Panzer, keine gepanzerten Mannschaftswagen, keine Barrikaden, offenbar nirgendwo Truppen. Es sah so aus, als wären die Straßen menschenleer. Merkwürdig. Oder vielleicht doch nicht. Vielleicht war das Labor bereits geräumt und die Viren Gott weiß wohin geschafft worden. Die gesamte Bevölkerung Kubas schien sich um das Gefängnis La Cabana herum versammelt zu haben. Jake schätzte die Menge auf mindestens 100.000 Menschen. Überall in den Straßen loderten Feuer, die das Infrarotsichtgerät als grelle Flecke wiedergab. Jake Grafton suchte nach den Flakgeschützen, die irgendwo dort unten waren, wie er wusste. Er entdeckte sie, konnte aus dieser Höhe aber nicht erkennen, ob sie bemannt waren. »Gehen Sie tiefer«, wies er Rita an. »Auf 2000 Fuß.« Ohne die Kreisbahn zu verlassen, drosselte Rita die Leistung der Motoren und ließ die Osprey absinken. Der Admiral wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gefängnis zu, einer Insel der Dunkelheit am Rande des Stadtzentrums. Das Haupttor war ein Durchbruch in der hohen Mauer, die die riesige alte Felsenfestung umgab. Es schien geschlossen zu sein, aber aus dieser Entfernung und dem ungünstigen Blickwinkel war das schwer zu beurteilen. Unmittelbar hinter dem Tor stand ein Panzer; Jake hatte genug dieser Silhouetten gesehen, um sich sicher zu sein. Weiter hinten im Hof entdeckte er noch einmal zwei Panzer… und einige Autos. Er erhöhte die Vergrößerung des Infrarotfernglases. Jetzt konnte er einzelne Personen sehen, die in Grüppchen herumstanden, über den Hof gingen, durch das Gitter mit den Leuten auf der anderen Seite sprachen. Ja, das Haupttor war geschlossen. Neben dem Gefängnis waren zwei Flak-Batterien aufgebaut, -550-
alte sowjetische ZUPs mit vier Läufen und optischer Zielerfassung - nutzlos gegen schnell fliegende Flugzeuge, aber höllisch gefährlich für Helikopter. Das Dach des Gefängnisses war flach und offensichtlich leer. Nein, nicht ganz. An den Ecken hatten Scharfschützen Position bezogen. Verdammt! Jake überprüfte das Funkgerät, um sicherzugehen, dass es auf die richtige Frequenz eingestellt war, und drückte auf die Sprechtaste. »Angel One, hier ist Battlestar One. Wo sind Sie?« »Angel One ist mit einem Passagier unterwegs zur Fernsehstation.« »Geben Sie Bescheid, sobald Sie ihn abgesetzt haben und wieder starten.« »Roger, Battlestar.« »Night Owl Four Two, geben Sie Ihre Position durch.« »Night Owl Four Two ist über Ihnen bei zehn Uhr«, erwiderte Jack O'Brian in seiner F-117. »Das La Cabana ist heute Nacht das Objekt, dem unser Hauptinteresse gilt, Four Two. Ich möchte einzelne Bomben, nur innerhalb der Festungsmauern. Können Sie das erledigen?« »Wir können es versuchen, Sir. Sie kennen die Grenzen meiner Möglichkeiten so gut wie ich.« »Tun Sie, was Sie können. Eine Menge Zivilisten außerhalb der Mauern. Das erste Ziel ist die Flugabwehrstellung auf der Nordseite innerhalb der Festung. Können Sie die Stellung sehen?« »Warten Sie.« Die Sekunden tickten dahin. »Erfasst.« »Das zweite Ziel ist die Flugabwehrbatterie auf der Südseite.« »Night Owl Four Four ist in Position auf 11.000 Fuß, Battlestar. Warum nimmt sich nicht jeder von uns ein Ziel vor? -551-
Ich nehme das im Norden.« Die beiden F-11 verständigten sich, und Jake gab ihnen sein Einverständnis. Jack O'Brian hatte mehrere Möglichkeiten, seine Bomben einzusetzen. Bei geschlossener Wolkendecke, bei Regen oder Schneefall konnte er die antriebslosen Waffen über einem Ziel ausklinken und sie mit Hilfe des GPS-Receivers, eines Computers und einer Reihe von Steuerrudern, die an der Spitze der Bomben angebracht waren, selbständig in das schon vorher vom GPS festgelegte Fadenkreuz steuern lassen. Da der Himmel heute Nacht aber sehr klar war, würde er das Ziel, während er es überflog, mit einem Laserstrahl erfassen und die Bomben den Strahl entlanglenken. Wenn es ihm gelang, den Laser lange genug auf das gewünschte Ziel auszurichten, konnte er es punktgenau treffen. Er überprüfte erneut gewissenhaft seine Ortungsanzeigen für die Identifizierung feindlicher Flugzeuge, aber alle Displays blieben dunkel. Die Kubaner behielten ihre Maschinen am Boden, was beruhigend war. O'Brian justierte den Erfassungsbereich der Infrarotkamera in der Nase seiner Maschine. Das Display erhellte sich langsam, die Darstellung veränderte sich ständig, je näher er dem Ziel kam und je steiler der Abtastwinkel wurde. Er konnte das Geschütz deutlich auf dem Bildschirm der Infrarotkamera sehen und korrigierte das Fadenkreuz ganz leicht nach, während sich seine Maschine, noch immer in 10.000 Fuß Höhe fliegend, den Zielkoordinaten näherte. Dann erst schaltete er die Laserzielerfassung ein, die starr mit dem Fadenkreuz gekoppelt war. Jack O'Brian warf einen Blick auf seine Uhr. »Night Owl Four Two ist dreißig Sekunden vor Abwurf.« »Four Four liegt eine Minute zurück.« -552-
»Aktivieren Sie Ihren Laser erst, wenn Sie mein Ei hochgehen sehen.« »Roger.« Waffenkontrolle auf Abwurf einer Bombe programmiert, Lasermodus aktiviert, Laserzielerfassung ein, Waffenkontrollschalter umgelegt, Direktanflug des Ziels, Autopilot in Betrieb, Fadenkreuz permanent auf Zielkoordinaten ausgerichtet, keine Abdrift, Systeme auf Angriffsstatus… In O'Brians Ohren klang ein charakteristisches akustisches Signal auf, das über die taktische Funkfrequenz übertragen wurde. Er wusste, dass etliche Leute auf dieses Signal gewartet hatten, einschließlich der Pilotin von F-117 Night Owl Four Four, Judy Kwiatkowski. Jack O'Brian achtete auf unplanmäßige Abdrift. Kaum vorhanden heute Nacht - das bisschen Wind würde die Bombe problemlos kompensieren können. Countdown, der Sekundenzeiger der Uhr im Armaturenbrett tickte… Die Nadel der Abwurfanzeige erreichte die NullMarkierung, und Jack spürte den schwachen Ruck, als sich der Bombenschacht öffnete. Fast ohne Zeitverzögerung klinkte die Bombe aus, der Signalton verstummte, und die Auswurfklappe schloss sich wieder. Nachdem die Bombe einmal in der Luft war, musste das Fadenkreuz der Laserpeilung unbedingt auf das Ziel ausgerichtet bleiben, da sich die Bombe selbständig an dem unsichtbaren Lichtstrahl entlang steuerte. Jack kontrollierte das Fadenkreuz manuell, brachte es genau mit dem Artilleriegeschütz neben der alten Festung in Deckung. Natürlich veränderte sich der Blickwinkel auf das Ziel ständig, während der Jagdbomber sich dem Ziel näherte und schließlich über es hinwegflog. Jetzt befand es sich hinter dem Flugzeug und immer noch genau im Fadenkreuz. Plötzlich verschwand die Flakstellung in einem Lichtblitz, als die 225-Kilo-Bombe das Flugabwehrgeschütz punktgenau traf. -553-
Dreißig Sekunden später schaltete Judy Kwiatkowskis Bombe das Geschütz auf der Südseite aus. »Sehr gut, Night Owls«, kommentierte Battlestar. »Nächstes Ziel ist der Panzer unmittelbar vor dem Haupttor. Ich denke, eine Bombe dürfte ausreichen, um die Panzerbesatzungen zu entmutigen. Four Four, ich möchte, dass Sie das Haupttor bombardieren. Sagen Sie mir, ob Sie es sehen.« »Four Four hat Ziel lokalisiert.« »Wie lange bis zum Einschlag der Bomben?« »Geben Sie uns zehn Minuten, um eine Schleife zu fliegen und erneut anzugreifen.« »Zehn Minuten sind in Ordnung«, sagte Jake Grafton und wandte sich Rita zu. »Landen Sie auf dem Dach, sobald die Bomben die Panzer und das Haupttor erwischt haben. Die Jungs da hinten werden ausschwärmen und sich um die Scharfschützen kümmern. Lassen Sie mich mit Toad sprechen.« Tarkington saß hinten bei den Marines. Jake schnallte sich los und stand auf. Sofort zwängte sich Lieutenant Colonel Eckhardt, der Kommandant der Marines, in den Sitz des Copiloten und klemmte sich hinter das Infrarotsichtgerät. »Sehen Sie die Scharfschützen?«, fragte der Admiral. »Ich möchte, dass Ihre Leute sie erschießen oder gefangen nehmen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« »Ja, Sir.« Der Colonel gab den Sitz frei. »Zehn Minuten, Rita. Lassen Sie die Uhr laufen.« »Aye, aye, Sir«, erwiderte Rita und überlegte sich, wie sie sich dem Gefängnis am besten nähern konnte. Ein Mann der Flugüberwachung erschien im Laufschritt bei Carlos Corrado, um ihm mitzuteilen, dass amerikanische -554-
Flugzeuge über Havanna aufgetaucht waren. Die Leute im Tower hatten die Neuigkeiten über Kurzwelle aus dem Hauptquartier erfahren. »Havanna.« Corrado warf den Zigarrenstummel weg und schlüpfte in seine Fliegermontur. Fünf Minuten später rollte er auf das Flugfeld hinaus. Er hielt nicht an, wie er es gewöhnlich tat, als er die Startbahn erreicht hatte, um die Bord-Systeme und Instrumente zu überprüfen, sondern gab sofort Gas und zündete die Nachbrenner. Die große Jagdmaschine reagierte wie ein heißblütiges Rennpferd und hob bereits nach einer kurzen Strecke ab. Natürlich flog Corrado wieder mit ausgeschaltetem Radar. Trotzdem fing die Besatzung der E-3 Sentry über der Isle de Pines fast sofort ein Radarecho der MiG auf. »Showtime One Oh Two, wir haben eine feindliche Maschine entdeckt, die in Cienfuegos gestartet ist. Sieht so aus, als wäre sie unterwegs nach Havanna. Versuchen Sie, sie abzufangen. Over.« Stiff Hardwick war seit einer Stunde und zehn Minuten in der Luft. In genau fünfunddreißig Minuten würde er auf der United States landen müssen. Die fremde Maschine flog mit einer Geschwindigkeit, die extrem viel Treibstoff kostete, und wenn Stiff aus 30.000 Fuß Höhe herabstieß, würde auch er gewaltige Mengen an Flugbenzin verbrauchen. Seine Reserven würden knapp werden, sehr knapp. Wenn er bis an die äußerste Leistungsgrenze ging, um diesen Vogel aus dem Himmel zu holen, würde er ein Tankflugzeug benötigen. »One Oh Two wird wahrscheinlich einen Tanker brauchen.« »Roger. Showtime One Oh Seven« - das war Stiffs Partnermaschine, die rund 1.000 Fuß über ihm kreiste -, »Sie halten die Stellung.« -555-
»One Oh Seven, aye.« »Showtime One Oh Two ist unterwegs«, benachrichtigte Stiff den Flugüberwacher der E-3. »Das ist der richtige Geist«, spöttelte Sailor Karnow auf dem Rücksitz. »Halten Sie den Mund, Babe. Machen Sie einfach Ihren Job und behalten Sie Ihre dämlichen Sprüche für sich.« »Worauf Sie sich verlassen können, Saftsack. Ich sitze Ihnen die ganze Zeit direkt im Nacken.« Der Hubschrauber landete auf der Straße vor der Fernsehstation, und Mercedes stieg aus. Ocho winkte ihr zu, als der Helikopter wieder abhob und sie allein mit wild wehendem Haar und flatterndem Kleid zurückblieb, die Videokassette in der Hand. El Ocho lebte und war gesund! Es erschien Mercedes wie ein richtiges Wunder. Sie hatte ihn für tot gehalten, auf See verschollen. »Ich habe das Band gesehen!«, hatte Ocho ihr durch den Motorenlärm auf dem Flug nach Havanna zugerufen. »Fidel wollte, dass Hector Kuba führt. Seine Meinung wird viele Menschen umstimmen.« Mercedes hatte nur genickt und gegen die Tränen angekämpft. »Warum hast du das Band den Amerikanern gegeben?« »Vargas hätte es mir abgeno mmen.« Ocho hatte ihr geglaubt, denn er wusste, dass sie Recht hatte. Dieses Band würde Alejo Vargas vernichten. »Bring die Leute dazu, das Band im Fernsehen zu zeigen. Wir werden Hector aus dem Gefängnis holen.« Ocho hatte breit gegrinst und dabei alle Zä hne aufblitzen lassen. Die Zukunft näherte sich mit Riesenschritten. -556-
Mercedes sah zu, wie der Hubschrauber im Nachthimmel verschwand, dann drehte sie sich um und betrat den Fernsehsender. Eine der schrecklichsten Bedrohungen für einen Soldaten besteht darin, von der Zieloptik einer modernen selbstlenkenden Waffe erfasst zu werden. Heute Nacht waren die Tarnkappenjagdbomber unterwegs und warfen ihre außerordentlich präzisen Waffen ab. Die Bomben näherten sich viel zu schnell, als dass das menschliche Auge sie hätte wahrnehmen können, besonders angesichts der derzeitigen Lichtverhältnisse in Havanna. Für die kubanischen Truppen, die das alte Gefängnis umstellt hatten, war es so, als schwebte ein gigantischer, unsichtbarer Scharfschütze, der Bomben auf sie herabschleuderte, irgendwo über ihnen in den Wolken. Die beiden Bomben, die die Flugabwehrgeschütze zerstörten, versetzten die Soldaten in Panik und machten die Menschenmenge vor der Festung nervös. Jake Grafton, der das Geschehen aus der Osprey beobachtete, befürchtete einen Moment lang, die Menge könnte in wilder Flucht losstürmen. Bei derart vielen Menschen, die die Straßen verstopften, würde es zwangsläufig zu einer Tragödie kommen. Trotzdem durfte er nicht riskieren, dass die Geschütze oder die Panzer den Hubschrauber und die Osprey unter Beschuss nahmen, wenn sie auf dem Gefängnisdach landeten. Durch das Infrarotsichtgerät konnte er sehen, wie sich die Soldaten instinktiv von den Panzern entfernten. Männer sprangen aus den Luken zu Boden und liefen davon. Auch auf der Straße wich die Menge zurück, legte einen größeren Abstand zwischen sich und die alte Festung. Mehrere Minuten verstrichen ereignislos. Die dicht zusammengedrängten Menschenmassen schienen sich zu entspannen und ein wenig auseinander zu rücken. -557-
Dann hörte Jake den Signalton, der den Abwurf der ersten Bombe ankündigte. Ein Offizier - zumindest nahm er an, dass es ein Offizier war - kletterte auf einen der Panzer und schwenkte die Arme. Der Signalton verstummte; die Bombe war unterwegs. Jetzt stemmte der Offizier auf dem Panzer die Hände in die Hüften. Rita hatte die Osprey auf 1.000 Fuß Höhe heruntergebracht, nur eine Meile von dem Gefängnis entfernt, und schaltete gerade auf Helikopter-Modus um. Jake konnte die Szenerie auf dem Hof der Festung so klar und deutlich beobachten, als sähe er sie auf einem Fernsehbildschirm. »Angel One, hier Battlestar. Beginnen Sie Landeanflug.« »Roger, Battlestar.« Der kubanische Offizier stand immer noch auf dem Panzer, als er von einer blendenden Explosion verschluckt wurde. In den Lautsprechern klang der Signalton der zweiten Bombe auf. Im Umkreis von gut dreißig Metern um den zerstörten Panzer, von dem nur winzige Bruchstücke übrig geblieben waren, bewegte sich niemand mehr. Die erste Bombe musste die Panzerung vor oder hinter dem Kommandoturm durchschlagen haben, vermutete Jake. Der Signalton der zweiten Bombe brach ab. Kubanische Soldaten hasteten durch das Haupttor des Gefängniskomplexes, das mittlerweile offen stand, wie Jake erkannte. Die Männer ließen ihre Waffen fallen, warfen ihre Helme weg und rannten, so schnell ihre Füße sie trugen. Genau in diesem Moment explodierte die 225-Kilo-Bombe der Night Owl Four Four in dem Tor, und die rennenden Männer verschwanden in einem Lichtblitz. »Setzen Sie uns auf dem Dach ab«, befahl Jake Grafton Rita Moravia.
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»Okay, ich habe den Typen«, meldete Sailor Karnow. »Er ist Phantom Nummer eins.« Das Symbol erschien direkt vor Stiff Hardwick auf dem oberen Display. »Ungefähr dreißig Meilen entfernt«, berichtete Sailor emotionslos. Wahrscheinlich würde sie auch dann gelangweilt klingen, wenn man ihr einen Oscar verlieh. Das war einer der Züge an ihr, die Stiff nicht mochte. Nun, um die Wahrheit zu sagen, hasste er ihre ganze Art, aber er hütete sich, das in der modernen, politisch korrekten, geschlechterneutralen Navy, der sie beide angehörten, laut auszusprechen. Ein paar nicht ganz stubenreine Bemerkungen gegenüber den Jungs konnten eine viel versprechende Karriere ruinieren. »Erfassen Sie den Hurensohn mit dem Zielradar«, befahl Stiff seiner Beobachterin. »Sie können den Burschen nicht abschießen«, erwiderte Sailor, immer noch in einem tödlich gelangweilten Tonfall. »Da unten flattern vier Tarnkappenjäger herum, drei Ospreys und ein Hubschrauber. Oder haben Sie während der Einsatzbesprechung gepennt? Sie dürfen ohne den Segen von Battlestar Strike nicht schießen, und den werden Sie kaum bekommen.« Noch fünfundzwanzig Meilen. Stiff ließ die F-14 mit Mach 1,7 in die Tiefe jagen, wie ein Anwalt, der sich auf einen hilflosen Klienten stürzt. Er schloss schnell zum Hinterteil der MiG auf. »Sitzen Sie nicht einfach mit den Daumen im Arsch da, Honey. Klemmen Sie sich an das gottverdammte Funkgerät.« »Battlestar Strike«, sagte Sailor mit schleppender Stimme in ihr Mikro. »Hier Showtime One Oh Two. Wir haben uns hier oben in eine interessante Situation gebracht.« Rita schaltete die Landescheinwerfer erst im letzten Moment -559-
an, nur Sekunden bevor die Osprey aufsetzte. Wie sich herausstellte, gab nur einer der demoralisierten Scharfschütze n auf dem Dach einen Schuss ab, einen wilden, ungezielten Schuss, der ein Loch in den Rumpf der Osprey stanzte, jedoch von einem Stahlträger aufgehalten wurde. Dann feuerten die Marines, die aus der Heckklappe der V-22 sprangen, eine Kugel über seinen Kopf, und der Scharfschütze warf sein Gewehr weg; seine Kameraden hatten schon vorher die Waffen gestreckt. Sekunden später schälte sich der Hubschrauber von der United States aus der Dunkelheit und setzte neben der V-22 auf. Tommy Carmellini und Ocho Sedano zwängten sich ins Freie. Für Ocho war das alles völlig neu. Er sah sich mit großen Augen um, ließ seinen Blick über die Osprey, die Marines, die Skyline Havannas, die in den Straßen lodernden Feuer und die Zehntausende dort versammelter Menschen wandern. Toad Tarkington erschien an Jake Graftons Seite. »Haben Sie einen Weg vom Dach nach unten gefunden?«, erkundigte sich Jake. »Ja, Sir. Gehen wir.« »Ah… Showtime One Oh Two, Schusserlaubnis negativ. Das heißt, Genehmigung verweigert, Waffen rot. Over.« »Strike, gottverdammt nochmal!«, brüllte Stiff Hardwick. »Wir hängen direkt am Heck einer gottverdammten MiG, die unterwegs nach Havanna ist, um unsere Leute abzuschießen. Ich habe den Hurensohn direkt im Visier!« »Showtime, es sind zu viele unserer eigenen Maschinen über Havanna. Waffen rot, Waffen rot. Over.« »Wie wäre es, wenn ich den Typen mit meinem Bordmaschinengewehr durchsiebe? Erbitte Waffenfreigabe für Maschinengewehr. Over.« »Warten Sie.« -560-
Stiff hatte den Schub gedrosselt, kroch gemächlich mit 400 Knoten in fünf Meilen Abstand hinter der feindlichen Maschine her. Natürlich wusste der andere Pilot nicht, dass er verfolgt wurde. Die kubanischen MiG-29 verfügten nur über ein äußerst primitives elektronisches Ortungssystem, das aus einer Warnleuchte auf der Instrumentenkonsole und einem Signalton in den Kopfhörern des Piloten bestand. Diese beiden Hilfsmittel verrieten Carlos Corrado zwar, dass er vom Radar eines amerikanischen Kampfjägers erfasst wurde, aber sie sagten ihm nicht, wo oder wie nahe die feindliche Maschine war, eben die Informationen, die er am dringendsten benötigte. Während er sich Havanna näherte, den Warnton hörte und das Kontrolllämpchen im Auge behielt, das nicht einmal flackerte, dachte er über die Ironie seiner Situation nach. Obwohl er wusste, dass irgendwo dort draußen amerikanische Jäger herumflogen, konnte er nichts dagegen unternehmen. Schaltete er sein Radar ein, war er wie ein Leuchtfeuer für die Amerikaner, die sich von allen Seiten auf ihn stürzen würden wie die Motten ins Licht. Seine einzige Chance bestand darin, ohne aktiviertes Radar zu fliegen. Sollten die Amerikaner eine Waffe auf ihn abfeuern, standen ihm ein paar Fackeln und Stanniolstreifen zur Verfügung, die er ausstoßen konnte, um die Detektoren der Raketen abzulenken. Es war nicht viel, aber vielleicht reichte es aus. Wenn nicht… nun, er hatte ein schönes Leben gehabt. Er sah nach rechts und links, als er die Außenbezirke Havannas überflog. Inmitten der Lichter entdeckte er einige Feuer, und das Zentrum der Stadt war dunkel, ohne Strom, aber im Großen und Ganzen wirkte Havanna normal. »Battlestar Strike, hier Showtime. Ich warte immer noch auf die Feuerfreigabe. Diese MiG posiert direkt vor mir herum und bettelt geradezu um ein paar Kugeln. Soll ich sie jetzt runterholen, oder was?« -561-
»Wir klären das immer noch mit der Air Force ab und versuchen herauszufinden, wo genau sich unsere Maschinen zurzeit aufhalten«, erwiderte Battlestar. »Schließlich wollen wir keinen Unfall provozieren, oder?« Stiff aktivierte die Bordsprechanlage. »Arschlöcher!«, brüllte er Sailor Karnow an. »Alles dämliche, beschissene Arschlöcher!« »Das habe ich auch schon gehört«, gab Sailor ungerührt zurück. Sie seufzte. »Das ist mir schon seit Jahren klar. Ich hätte wohl lieber in die WNBA eintreten sollen.« Toad Tarkington führte den kleinen Trupp durch die dunklen Gänge des Gefängnisses La Cabana. Offensichtlich war die Stromversorgung seit der Sprengung der Hochspannungsmasten noch nicht wiederhergestellt worden. Alle, die Toad folgten, hielten Taschenlampen in den Händen. Die Flure hallten wider von Rufen, Flüchen, zuschlagenden Türen, lauten Schreien und Schüssen. »Beeilung!«, rief Grafton und rannte in die Richtung, aus der der Lärm ertönte. Wie er erwartet hatte, war der Mob in die Festung eingedrungen. Als er und Toad eine Biegung umrundeten, fielen die Lichtkegel ihrer Taschenlampen auf eine solide Wand aus Menschen, die zwei uniformierte Wächter mit sich schleiften. Carmellini stieß einen Schrei aus, und die Wand aus Menschenleibern kam zum Stehen. »Das ist Ocho Sedano, Hectors Bruder!«, rief Carmellini. »Er ist hier, um Hector zu befreien!« »Wer bist du?«, wollte ein Mann wissen, der einen dicken Wächter am Uniformkragen gepackt hielt. Er war augenscheinlich betrunken und hielt die Pistole des Beamten in der Hand, hob sie aber nicht, um auf irgendjemanden zu zielen. -562-
Obwohl ihn die Taschenlampen teilweise blendeten, konnte er das Ende des Laufs von Toads M-16 sehen. »Wir sind auf El Ochos Bitte hier«, verkündete Carmellini lautstark. »Er hat uns gebeten, ihm zu helfen, seinen Bruder Hector zu befreien.« Der Mob rückte vor, vermutlich wegen der Leute, die von hinten nachdrängten. »Übergeben Sie uns die Wächter«, sagte Jake, »und wir holen Hector aus seiner Zelle.« Carmellini übersetzte die Worte des Admirals auf Spanisch. Der aufgebrachte Mob schien nicht gerade begeistert zu sein, aber er stand sechs Gewehren in einem engen, gemauerten Korridor gegenüber. Die Leute in der ersten Reihe ließen die Wächter los, drehten sich um und riefen den Menschen hinter sich etwas zu. Die Marines packten die beiden Uniformierten und stießen sie vor sich den Gang entlang. »Sie werden uns zu Hector bringen«, erklärte Carmellini Jake, nachdem er mit den Männern gesprochen hatte. »Colonel Santana ist vor einer Stunde hier eingetroffen. Er war bis vor wenigen Minuten bei dem Kommandanten von La Cabana.« »Schneller!«, drängte Jake Grafton. »Der Mob ist außer Kontrolle.« Er hatte die .357 Magnum aus seinem Hüftholster gezogen und hielt sie jetzt in der rechten Hand. »Showtime One Oh Two, hier Strike, die Air Force hat Schwierigkeiten, die genaue Position all ihrer Maschinen zu bestimmen.« »Strike, der Typ vor mir schaukelt hier gemütlich über die verdammte Stadt und sucht nach einem Ziel, das er wegpusten kann. Werden Sie beim Begräbnis heulen, nachdem er ein paar von unseren Leuten umgebracht hat?« -563-
Mit dieser Bemerkung überschritt er natürlich alle zulässigen Grenzen, denn Stiff Hardwick war lediglich Lieutenant ein O-3 , und die Entscheidungen von Strike wurden von Offizieren im Rang eines Commanders - O-5 - oder sogar eines Kapitäns – O-6 - getroffen. Er würde in argen Schwierigkeiten stecken, sobald er auf das Schiff zurückkehrte, aber das war ihm im Augenblick egal. Das Hauptziel im Krieg bestand darin, den Feind auszuschalten, und - bei Gott! - dieser Hurensohn flog direkt vor Stiffs Nase herum. Um seine Vorgesetzten würde sich Hardwick später kümmern. Wieder verstrich eine Minute. Mittlerweile befand sich die F14 über dem Herzen Havannas. Der ölig schwarze Strich des Hafens war deutlich zu sehen, genau wie Dutzende von Feuern, die jetzt um die Mauern der alten Festung La Cabana herum loderten. »Der Typ setzt zu einer Kehre an«, meldete Sailor, womit sie natürlich die MiG meinte. Eigentlich hätte Carlos Corrado den Nachthimmel über Havanna nach den Flugzeugen absuchen müssen, die sich dort herumtrieben, wie er genau wusste, aber er tat es nicht. Er war auch nur ein Mensch. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der roten Warnleuchte und dem Summen in seinen Ohren, den Signalen, die ihm verrieten, dass sein Flugzeug im Radar eines feindlichen Jägers lag. Seit fünf Minuten brannte das Lämpchen und ertönte das Summen ununterbrochen. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Fünf Minuten lang vor einem feindlichen amerikanischen Jägerpiloten herzufliegen reichten aus, um sechsmal zu sterben, und der Amerikaner hatte immer noch nicht geschossen. Carlos wusste nicht, woran das lag, aber wahrscheinlich hatte es etwas damit zu tun, dass sie direkt über den Dächern Havannas herumkurvten. -564-
Ocho Sedano und die Amerikaner rannten durch die Korridore La Cabanas, bis sie ein massives Stahlgitter erreichten. Es war geschlossen, aber nicht verriegelt. Sie benutzten den Schlüssel des Gefängniskommandanten, um es hinter sich abzuschließen. Der Zellenblock, den sie danach betraten, war mit Gefangenen bevölkert, die ihnen zubrüllten, sie freizulassen. Hunderte Arme reckten sich den Amerikanern durch die Gitterstäbe entgegen. Die Wachen führten sie zu Hector, der in einer Zelle in einem Gang abseits des Haupttraktes saß. »Sie haben keinen Schlüssel für diese Zelle«, sagte Carmellini. »Wir nehmen C-4«, entschied der Admiral. »Jagen Sie das Schloss in die Luft.« Hector streckte die Arme zwischen den Stäben hindurch und umklammerte Ocho. Die beiden Männer umarmten sich, während Tommy Carmellini im Licht von Jakes Taschenlampe die Sprengladung legte. »Haben Sie Santana gesehen?«, fragte Carmellini Hector. »Ja. Er war hier.« »Wo ist er jetzt?« »Er ist verschwunden, als er Sie gehört hat.« Nachdem der Plastiksprengstoff das Schloss in Stücke gerissen hatte, öffnete Ocho die Zellentür und fiel seinem Bruder in die Arme. »Es tut mir Leid, Hector«, sagte er. »Bitte verzeih mir.« Jake Grafton trennte die beiden Brüder. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit!«, rief er und schob sie in den Korridor. Der Lärm des Mobs, der an der Gitterabsperrung vor dem Zellentrakt rüttelte, übertönte noch die Schreie der Gefangenen in ihren Zellen. Toad führte seine Gruppe in die entgegengesetzte Richtung. -565-
Eine weitere Tür, kostbare Sekunden, die verloren gingen, während die Wachen mit dem Schlüsselbund herumhantierten, dann waren sie hindurch und stiegen eine Treppe hinauf. Noch eine Treppe, dahinter ein langer, dunkler Korridor. Als sie eine Biegung umrundeten, feuerte irgendjemand vor ihnen einen Schuss auf sie ab. Die Kugel prallte als Querschläger von einer Wand ab, traf aber wie durch ein Wunder niemanden. »Das ist Santana«, sagte Tommy Carmellini zu Jake, sich seiner plötzlich ganz sicher. »Gehen Sie weiter. Ich kaufe mir den Bastard.« »Wir haben keine Zeit für persönliche Rachefeldzüge«, zischte Jake Grafton. »Ich bin Zivilist, Grafton. Ich kann für mich selbst sorgen. Gehen Sie!« Jake führte seine Leute weiter. Als sie wieder aufs Dach kamen, entdeckten sie im Schein der Positionsleuchten und der blinkenden Antikollisionslichter der Osprey mindestens 300 Personen, die die V-22, den Helikopter und die Marines eingekreist hatten. Die Marines waren vor den Maschinen in Stellung gegangen und hielten die Kubaner mit ihren Gewehren auf Abstand. Die Piloten hatten die Motoren abgeschaltet, vermutlich um die vielen Menschen in unmittelbarer Nähe der Rotoren nicht zu gefährden. Lieutenant Colonel Eckhardt marschierte hinter seinen Männern auf und ab, eine beeindruckende Gestalt. Zum Glück war offenbar niemand in der Menschenmenge bewaffnet. Jake und Toad bahnten sich einen Weg durch die Massen. Es war Ocho, der die Situation entschärfte, als er sich vor den Menschen aufbaute und sie ansprach. »Das ist mein Bruder Hector, der zukünftige Präsident von Kuba.« Die Menge jubelte begeistert. -566-
»Ich bin El Ocho. Ich möchte eins von euch wissen: Liebt ihr Kuba?« »Si!«, brüllten die Menschen. »Glaubt ihr an Kuba?« »Si!« »Werdet ihr für Kuba kämpfen?« »Si!« »Werdet ihr mir folgen und Hector den Weg in den Präsidentenpalast bahnen?« »Si! Si! Si!« Die Menge schrie das Wort wieder und wieder und strömte um Ocho zusammen. »Kommen Sie«, sagte Jake Grafton und zog Hector auf die Osprey zu.
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24 Während Jake Grafton und die anderen die Treppe zum Dach des Gefängnisses La Cabana hinaufstiegen, löschte Tommy Carmellini seine Taschenlampe und hielt sie in der linken Hand. Er verharrte in der Dunkelheit und wartete, bis sich seine Augen auf das Dämmerlicht eingestellt hatten. Die Marines an Bord des Flugzeugträgers hatten ihm eine 9mm-Pistole gegeben, die sich kühl und beruhigend anfühlte. Carmellini schloss die Augen und lauschte dem Jubel und den Schreien oben auf dem Dach, bis er hörte, wie die Osprey und der Hubschrauber abhoben. Schließlich senkte sich Stille über die Gänge der alten Festung. Santana steckte irgendwo in der Nähe. Jake Grafton hatte seinen Aufgabenbereich, und den füllte er kompromisslos aus. William Henry Chance hatte an einer anderen Front gekämpft und versucht, biologische und chemische Waffen in Ländern der Dritten Welt zu kontrollieren, und er war dabei gestorben. Tommy Carmellinis Spezialgebiet war es, Safes zu knacken. Sicher, jetzt tat er es für die CIA, anstatt reichen Matronen die Diamanten zu stehlen, aber irgendwie war das nicht genug. Irgendwann kommt ein Mann in seinem Leben zwangsläufig an den Punkt, an dem er Bilanz zieht. Als Carmellini erkannt hatte, dass sich Grafton nicht die Zeit nehmen würde, die Kakerlake Santana zu zertreten, war ihm klar geworden, dass er diese Aufgabe übernehmen musste. Er setzte sich in Bewegung, schlich in die Richtung, in die Santana laut Hectors Aussage verschwunden war. Carmellini ließ sich Zeit. Es gab gerade so viel Licht, dass er die Umrisse des Korridors mehr erahnen als sehen konnte. Er -568-
ging ein paar Schritte, blieb stehen und lauschte, ging weiter, lauschte wieder, arbeitete sich langsam bis zum Ende des Flurs vor und verharrte dort. Aus der Dunkelheit erklang ein Kratzen und Schaben, als versuchte irgendjemand, ein Schloss zu öffnen. Das Geräusch kam aus dem Gang zu seiner Rechten. Tommy Carmellini ging tief in die Knie und schob den Kopf dicht über dem Boden vorsichtig um die Ecke. Ja, jetzt war das Geräusch deutlicher. Ganz langsam schlich er um die Ecke herum, durchquerte den Korridor, drückte sich an die andere Seite und tastete sich durch die Dunkelheit auf das Geräusch zu. Das Kratzen brach ab. Carmellini erstarrte, schloss die Augen, um sich nur auf sein Gehör zu konzentrieren. Die Pistole lag schwer in seiner Hand. Das Kratzen klang erneut auf. Vorwärts, unendlich langsam, wie ein Gletscher, der sich unmerklich bewegt, lautlos, fließend… Der Mann befand sich dicht vor ihm. Hantierte an einem Schloss herum. Vermutlich an einem Schloss von einer dieser Stahltüren. Jetzt verstummte das Geräusch. Wieder erstarrte Carmellini, wagte nicht einmal mehr zu atmen. Santana war da, er konnte ihn regelrecht spüren. Aber wo? Die Zeit schien stillzustehen. Carmellini wusste, dass das leiseste Geräusch ihn verraten würde. Santana war… Plötzlich wusste es Carmellini. Genau… … da! Er schwenkte die Pistole herum und drückte den -569-
Abzug durch. Die Mündungsflamme erhellte die Dunkelheit, beleuchtete Santana, der sein Gewehr hochriss und den Kolben auf Carmellinis Kopf zurasen ließ. Carmellini versuchte auszuweichen, aber der Gewehrkolben erwischte ihn an der Schulter und schleuderte ihn zu Boden. Er hielt die Pistole fest umklammert, jagte zwei weitere Kugeln in die Dunkelheit. Die Schüsse dröhnten wie gigantische Donnerschläge und ließen ihn beinahe taub werden. Die Taschenlampe war seiner Hand entglitten. Seine linke Schulter brannte - dort, wo der Gewehrkolben ihn getroffen hatte - wie Feuer, sein Arm war völlig gefühllos. Er hörte, wie Santana davonrannte, das Schaben von Schuhsohlen auf Stein, das leiser wurde. Mit der rechten Hand tastete er nach der Taschenlampe, konnte sie nicht finden, verharrte einen Moment, lauschte in die Dunkelheit hinein und tastete weiter. Da! Er hob die Lampe auf, ohne die Pistole loszulassen. Dann klemmte er sich die Waffe zwischen die Beine und versuchte, die Taschenlampe anzuschalten. Sie funktionierte nicht mehr. Er legte sie neben sich und lauschte erneut. Leise Geräusche in der Ferne… dann nichts mehr. Tommy Carmellini richtete sich langsam auf, drehte sich um und schlich den Weg zurück, den er gekommen war, Santana hinterher. »Showtime One Oh Two, hier Battlestar Strike. Sie haben Erlaubnis, mit dem Bordgeschütz auf die feindliche Maschine zu feuern. Nur Freigabe für das Maschinengewehr. Bestätigen Sie!« »Nur Freigabe für Maschinengewehr, aye!«, wiederholte Stiff Hardwick und schob die Gashebel bis zum Anschlag vor. Die -570-
Turbinen heulten auf. Stiff zündete die Nachbrenner. Die Jagdmaschine machte einen Satz, und die Fünf-Meilen-Lücke zwischen der F-14 und der MiG-29 schrumpfte rapide zusammen. Carlos Corrado warf bestimmt zum hundertsten Mal einen Blick über die linke Schulter, ohne wirklich zu erwarten, irgendetwas zu sehen, doch diesmal entdeckte er hinter sich den Flammenschweif von Hardwicks Nachbrennern. Der Yanqui muss mir direkt am Arsch kleben! Genug! Corrado rammte die Gashebel vor, ließ die linke Tragfläche abkippen und riss seine Maschine mit einer Beschleunigung von sechs G steil hoch. Die MiG-29 demonstrierte, warum sie zu den beweglichsten Kampfjägern der Welt zählte - sie beschr ieb eine unglaublich enge Kurve. Während sie das Wendemanöver vollführte und Carlos Corrado gegen die Andruckkräfte ankämpfte, schaltete er das Radar auf Sendung. Als er nach der 180-Grad-Kehre wieder in den Horizontalflug ging, erwachte der Radarschirm zum Leben… und da war der Amerikaner. Nahe. Zu nahe! Bei allen Heiligen! Ohne die Zeit zu haben, das Problem auch nur flüchtig zu durchdenken, schickte Carlos Corrado eine Aphid-Rakete los, die ihre Halterung auf einem Feuerstrahl verließ und direkt auf die F-14 zujagte. Sailor Karnow sah, wie sich die MiG in eine Linkskurve legte, und erstattete Stiff Hardwick Meldung, der instinktiv die rechte Tragfläche herunterdrückte, um hinter der MiG zu bleiben. -571-
Worauf Stiff nicht vorbereitet war, war die unglaubliche Schnelligkeit, mit der die MiG-29 herumfegte und eine Rakete auf ihn abfeuerte. Der Anblick des feurigen Flammenschweifs der Aphid, die ihm aus elf Uhr entgegenschoss, und das Jaulen des elektronischen Warnsignals, das ihm verriet, dass er von dem Doppier-Impuls-Radar einer MiG-29 erfasst wurde, erreichte sein Gehirn im selben Augenblick. Bevor er auch nur reagieren konnte, jagte die Rakete wenige Zentimeter über der Pilotenkanzel der F-14 hinweg. Zum Glück für Sailor, Stiff und ihre ungeborenen Kinder war die Aphid noch nicht lange genug unterwegs gewesen, um scharf zu sein, und so raste sie an ihnen vorbei, ohne zu detonieren. »Heilige Scheiße!«, schrie Sailor in ihre Sauerstoffmaske. Stiff Hardwick hatte nicht umsonst vier Jahre Flugpraxis hinter sich gebracht. Seine Reflexe funktionierten tadellos. Er riss seinen Jäger herum, richtete ihn auf die ihm entgegenrasende MiG aus, die nur als abstraktes Symbol auf seinem Bildschirm zu sehen war, und betätigte den Feuerknopf auf seinem Steuerknüppel. Das sechsläufige 20-Millimeter M16-Maschinengewehr in der Nase der F-14 flammte wie ein Suchscheinwerfer auf, und eine Feuergarbe fräste durch die Dunkelheit. Carlos Corrado sah den Finger Gottes, der sich ihm entgegenreckte, riss den Steuerknüppel zurück und dann zur Seite. Die Nase der MiG stieg steil in die Höhe, die rechte Tragfläche sackte mit Schwindel erregender Geschwindigkeit weg, und die Maschine schoss aus der Flugbahn der glühenden Geschützsalve heraus. Nachdem er eine komplette Rolle absolviert hatte, drückte Corrado die MiG nach unten, hielt direkt auf die Stadt zu und beschleunigte mit eingeschalteten Nachbrennern, deren Flammen wie ein Leuchtfeuer für den Amerikaner sein mussten. -572-
Oder für die Amerikaner, falls ihm mehr als nur einer auf den Fersen war. Corrado fing die MiG dicht über den Dächern ab und raste über die Stadt hinweg. Er wusste nicht mehr, wo sein Feind steckte, da er ihn weder mit bloßem Auge noch auf dem Radar sehen konnte. Jetzt hätte er dringend die Unterstützung der Bodenkontrollstation benötigt, aber natürlich war die Besatzung längst nicht mehr sendebereit und entweder tot oder betrunken. Trotzdem appellierte das Duell an seinen Sportsgeist. Carlos Corrado beschloss, noch eine Rakete aus nächster Nähe abzufeuern, bevor er die Segel strich und sich eine Bar suchte. Obwohl sein Radar immer noch aktiviert war, blieb der Bildschirm leer. Ohne zu zögern, zog Corrado den Steuerknüppel zurück und ließ seinen Kampfjäger steigen. Die Beschleunigungskräfte zerrten an ihm, als die MiG einen unglaublich engen Kreis beschrieb. In Rückenlage, die Nase auf den Horizont ausgerichtet, vollführte er eine halbe Rolle um die Längsachse und brachte die MiG wieder in eine aufrechte Position. Die F-14 war links von ihm und schwenkte auf ihn zu. Corrado legte die Waffenkontrollschalter um, wählte eine Rakete mit Infrarotsuchkopf aus, visierte den Amerikaner an, bis ein Signalton in seinen Kopfhörern aufklang, und drückte auf die Feuertaste. Dann schaltete er das Radar ab, scherte hart um 90 Grad nach rechts weg und beendete den Luftkampf. »O nein!«, fluchte Stiff Hardwick, als er die Rakete aus zehn Uhr kommen sah. Er schaltete die Nachbrenner ein, ließ die rechte Tragfläche ein wenig abkippen und beschleunigte die Tomcat, um unter der Rakete wegzutauchen, während er gleichzeitig auf einen Knopf am rechten Gashebel drückte und Blendfackeln sowie Stanniolstreifen ausstieß. Die Rakete versuchte dem Schwenk zu folgen, schaffte es -573-
aber nicht. Vielleicht hatte der Infrarotsuchkopf in ihrer Spitze eine der Fackeln als vermeintliches Ziel angepeilt; jedenfalls ließ der Annäherungszünder den Gefechtskopf detonieren, als die Rakete am Leitwerk der Tomcat vorbeiraste, und schleuderte einen Hagel aus Schrapnellsplittern in die Luft, der keinen Schaden anrichtete. Die MiG-29 war verschwunden. »Wissen Sie, Saftsack«, sagte Sailor Karnow langsam, »ich glaube, Gott hat gerade versucht, uns irgendwas mitzuteilen.« Carlos Corrado wusste, dass er in dieser Nacht mehr als nur ein bisschen Glück gehabt hatte. Auch wenn er eine extrem manövrierfähige Maschine flog, hinkten die elektronischen Ortungs- und Gegenreaktionssysteme der MiG denen der F-14, die ihn die ganze Zeit verfolgt hatte, um Generationen hinterher. Warum der amerikanische Kampfjet ihn nicht abgeschossen hatte, blieb ihm schleierhaft, aber er war klug genug, um zu wissen, dass man sein Glück nicht überstrapazieren durfte. Er beschloss, die MiG zu landen, solange sie noch in einem Stück war. Zum Glück befand er sich ganz in der Nähe eines Flugplatzes. José Marti International, der Flughafen von Havanna, lag gleich dort drüben in der Mitte des großen, dunklen Gebiets. Da Krieg herrschte, hatte irgendjemand die Landebahnmarkierungen ausgeschaltet. Corrado drosselte den Schub, ging auf Landegeschwindigkeit herunter und fuhr das Fahrwerk aus. Bremsklappen raus, Trimmung korrigieren und auf den Punkt zuhalten, wo die Landebahn seiner Meinung nach beginnen musste. Erst im letzten Augenblick schaltete er die Landescheinwerfer an und suchte die Dunkelheit unter sich ab. Da! Beton. Die MiG setzte auf, und Carlos Corrado betätigte die Bremsen. -574-
Er ließ die Landescheinwerfer eingeschaltet, während er ausrollte. »Showtime One Oh Two, die MiG ist auf José Marti gelandet«, meldete der Flugbeobachter in der Sentry AWACS. Stiff Hardwick kle tterte gerade mit vollem Schub über 5.000 Fuß Höhe, als er den Funkspruch hörte. Glücklicherweise hatte er sich die Karte von Havanna eingeprägt, so dass er genau wusste, wo José Marti International lag. Er drosselte die Geschwindigkeit und drückte die Nase der F-14 nach unten. »Was, zur Hölle, haben Sie vor, Stiff?«, erkundigte sich Sailor. »Halten Sie die Klappe!« »Wir haben jetzt schon kaum genug Sprit, um es bis zum Tankflugzeug zu schaffen, Erbsenhirn. Wenn Sie noch ein paar Minuten länger hier herumgurken und diesen Kubaner anbetteln, Sie abzuschießen, werden wir nach Hause schwimmen müssen.« »Ich werde mir diesen kubanischen Hurensohn schnappen, ihn am Boden durchlöchern. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er toter als eine Mumie sein.« Sailor Karnow wusste, dass ihr Pilot es ernst meinte. Wenn sie jemals einen frustrierten Mann gesehen hatte, dann den, der direkt vor ihr saß. Sie versuchte, Stiff zur Vernunft zu rufen, als die Maschine auf das schwarze Loch hinabstieß: José Marti International. »Sie können den Typen nicht am Boden auf einem zivilen Flughafen abschießen. Es ist dunkel da unten. Sie könnten einen Haufen Zivilisten töten!« »Da ist er! Ich kann sehen, wie der Scheißtyp ausrollt! Er hat immer noch die Landescheinwerfer an! Da ist er!« Sailor verlor die Geduld. »Wenn Sie auf den Abzug drücken, wird Jake Grafton Ihnen die Eier abreißen, Sie dämlicher -575-
Hurensohn!« Stiff Hardwick wusste, dass die Würfel längst gefallen waren. Sailor hatte Recht… er hasste Frauen, die immer Recht hatten. Er hob eine Hand, drehte den Hauptwaffenschalter über seinem Kopf in die Sicherungsstellung, ließ die Tomcat aber weiter sinken. Während er tiefer und tiefer ging, schob er die Gashebel vor und flog direkt auf die MiG zu, an deren Landescheinwerfer er erkennen konnte, dass sie fast schon zum Stillstand gekommen war. Die Tachonadel der F-14 kroch über die Mach-1Markierung. Der Höhenmesser gab einen pfeifenden Warnton von sich, und noch immer brach Stiff den Sinkflug nicht ab… »Rammen Sie uns nicht in den Boden, Sie Idiot!«, zischte Sailor hinter ihm. Wahrscheinlich war es die Angst in ihrer Stimme, die ihnen beiden das Leben rettete. Stiff zog den Steuerknüppel unmerklich zurück, und die F-14 jagte nur wenige Meter über dem Boden wie eine Überschallrakete über Carlos Corrados ausrollende MiG-29 hinweg. Sie verfehlte das Höhenruder der russischen Maschine um kaum mehr als einen Meter, und die Schockwelle ließ deren Pilotenkanzel zerbersten. Endlich riss Stiff die Tomcat wieder in die Höhe, zündete die Nachbrenner und schoss wie ein Phantom in den Nachthimmel. »Sie sollten sich jetzt lieber ans Funkgerät klemmen und uns ein Tankflugzeug rufen, Baby, oder wir zwei haben heute Nacht ein Rendezvous im Rettungsfloß.« Sailor ließ es sich nicht nehmen, das letzte Wort zu behalten. »Bei Gott, Saftsack, Sie sollten mal ernsthaft darüber nachdenken, sich nach einem neuen Beruf umzusehen.« Tommy Carmellini fragte sich, ob es ihm gelungen war, -576-
Santana eine Kugel in den Leib zu jagen. Er konnte es nur hoffen. Andererseits… drei Schüsse aus einer Entfernung von höchstens zwei Metern… Mit etwas Glück… Ein Mann braucht Glück, um seinen Weg im Leben zu machen. Leben bedeutet, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, und das ist eine Kombination aus Erfahrung und Glück. Wie viel Erfahrung hatte Santana wohl im Laufe der Jahre darin gesammelt, durch dunkle Gänge zu schleichen? Was das betraf, hatte er Carmellini nicht beeindrucken können. Aber man konnte sich nie sicher sein. Carmellini tastete sich immer langsamer vor, lauschte mit geschlossenen Augen, konzentrierte sich. Er hörte… Atemgeräusche. Irgendwo in der Dunkelheit vor ihm. Eindeutig Atemgeräusche. Jake Grafton ließ Rita eine Weile über dem Hafen kreisen, während er mit den Besatzungen anderer Flugzeuge sprach, die er angefordert hatte. Ein paar Minuten später gab er Rita den Befehl, zur Universität zu fliegen. Durch das Infrarotsichtgerät konnte er sehen, dass die Straßen um die Universität herum verwaist waren. Nirgendwo fuhr oder parkte ein Auto, keine Lastwagen zu entdecken, keine Menschenseele. Aber Alejo Vargas war dort unten, garantiert. Jake verließ den Sitz des Copiloten und ging mit einem Spanisch sprechenden Marine nach hinten, um mit Hector Sedano zu reden, der neben Lieutenant Colonel Eckhardt in der Mannschaftskabine saß. »Wissen Sie von dem Labor für biologische Kriegsführung in der wissenschaftlichen Fakultät der Universität?« Nein, Hector wusste nichts davon. Jake nahm sich eine -577-
Minute Zeit, um ihn ins Bild zu setzen. »Meine Regierung hat mich mit dem Auftrag nach Havanna geschickt, die Polioviren in diesem Labor und die dazu gehörigen Anlagen zu vernichten. Haben Sie irgendwelche Einwände dagegen?« Die hatte Hector nicht, solange dabei nicht unnötigerweise Unschuldige ums Leben kamen. »Ich verspreche Ihnen, dass wir mit aller gebotenen Vorsicht vorgehen werden«, übersetzte der junge Marine, ein bulliger Sergeant, Jakes Worte mit lauter Stimme, um den Fluglärm der Osprey zu übertönen. »Es steht sehr viel auf dem Spiel, diese Viren müssen unbedingt vernichtet werden. Ich denke, wir können den Auftrag mit minimalen Verlusten an Menschenleben erledigen, wenn Sie mich in Ihrer Funktion als Repräsentant der neuen kubanischen Regierung bei dieser humanitären Aktion unterstützen.« »Erzählen Sie mir mehr von diesem Labor«, bat Hector Sedano. »Alles, was Sie darüber wissen, und wie es dazu gekommen ist.« Allmählich kehrte das Gefühl in Tommy Carmellinis linken Arm zurück, der jetzt höllisch schmerzte, als hätte jemand versucht, ihm mit einem stumpfen Messer ins Fleisch zu schneiden. Ignorier den Arm! Spitz die Ohren! Er erstarrte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass zu beiden Seiten des Ganges Zellen lagen, deren Türen offen standen. Santana musste in irgendeiner dieser Zellen stecken. Aber in welcher? Ein Laut wie ein Seufzen. Links von ihm! Vielleicht drei Meter entfernt. Carmellini stand reglos wie eine Skulptur da. Er atmete ganz -578-
flach und ließ sich alle Zeit der Welt. Minuten vergingen. Er hätte nicht sagen können, wie lange er wartete. Irgendwo in den Tiefen der Festung hörte er undeutlich das Murmeln des Mobs. Zweifellos hatten die Leute die Gefangenen befreit. Santana verhielt sich sehr still. Ganz außerordentlich still. Schließlich begann Carmellini sich wieder zu bewegen, zögernd, äußerst langsam, kaum merklich wie der Schatten der Sonne, der über einen Steinboden kroch. Und ungefähr genauso leise. Er schob sich durch die Zellentür, tastete sich vor… und stieß mit dem Fuß gegen irgendetwas, das dort eindeutig nicht hingehörte. Carmellini reagierte wie eine Katze, seine Pistole entlud sich schneller, als er denken konnte. Im Blitz des Mündungsfeuers sah er Santana ausgestreckt auf dem Rücken am Boden liegen, die geöffneten Augen starrten blicklos an die Decke. Der Bastard war tot. Jake Grafton beobachtete die Menschenmengen in den Straßen unter ihm durch die Glaskanzel des Cockpits. Rita flog die Osprey in 2.000 Fuß Höhe, und er konnte mit bloßem Auge sehen, wie die Menschen ausschwärmten, auch ohne das Infrarotsichtgerät zu benutzen, obwohl er hin und wieder kurz hindurchblickte, um Einzelheiten zu erkennen. Als Rita auf das Universitätsviertel zuschwenkte, machte Jake die wissenschaftliche Fakultät inmitten der anderen Gebäude aus. Die Massen strömten in das Viertel hinein, brandeten wie eine Woge auf das Institut zu. Jake benutzte erneut das Infrarotsichtgerät und erhöhte die Vergrößerung. Ja, in dem -579-
Menschenknäuel an der Spitze der Menge musste sich Ocho befinden. El Ocho, wie die Kubaner ihn nannten. Der Junge war furchtlos. Als Jake ihm heute Nachmittag erklärt hatte, dass die Soldaten sich möglicherweise weigern würden, auf Zivilisten zu schießen, sich vielleicht sogar direkten Befehlen ihrer Offiziere widersetzen könnten, hatte Ocho nur genickt. Vielleicht hatte die schwere Zeit auf dem Meer ihn abgehärtet, vielleicht aber war er schon immer so furchtlos gewesen. Jake wusste, dass Angst Menschen auf die unterschiedlichste Weise beeinflusste. Es ließ sich durch das Sichtgerät nur schwer erkennen, aber offensichtlich hatten sich einige Soldaten Ochos Marsch angeschlossen. Ursprünglich hatte Jake Hector mit Ocho gehen lassen wollen, sich dann aber aus guten Gründen dagegen entschieden. Ein einzelner Scharfschütze, ein verängstigter Soldat, und die beste Hoffnung, die Kuba hatte, könnte in den Straßen Havannas sterben. Und solange sich die Viren noch in dem Labor befanden, war das ein Risiko, das Jake Grafton nicht eingehen wollte, nicht eingehen durfte. Während er das Geschehen aus der Höhe verfolgte, wünschte er sich, Ocho begleiten zu können. Dieser Marsch musste ein einzigartiges Erlebnis sein. Ocho Sedano kannte eine Menge Leute, da er seinen Bruder jahrelang zu dessen Ansprachen begleitet, mit ihm Zusammenkünfte organisiert und ihm geholfen hatte, Löcher zu graben, um darin Waffen zu verstecken. Aber noch mehr Menschen kannten Ocho. Jedem Kubaner zwischen acht und achtzig Jahren war der Star-Pitcher ein Begriff, der die erstaunlichsten Fastballs warf und Homeruns schlug, wann immer er an der Reihe war. Viele Leute erkannten -580-
ihn, riefen ihm Grüße zu, schüttelten ihm die Hand und schlossen sich ihm dann an. Als der menschliche Strom auf den Boulevard einbog, der zur Universität führte, löste sich eine Gruppe von Soldaten aus dem Schutz eines Hauseingangs und näherte sich Ocho, der unbeirrt weiter die Straße entlangmarschierte. »Halt!«, rief der ranghöchste Offizier, ein Major. »Sie betreten militärisches Sperrgebiet! Sie dürfen nicht weiter gehen!« Ocho wurde nicht einmal langsamer. Die Soldaten mussten sich in den Zug einreihen, wenn sie nicht niedergetrampelt werden wollten. »Sie da! Halten Sie diese Leute auf! Dies ist laut Anordnung von Alejo Vargas eine Sicherheitszone!« »Wir werden nicht anhalten.« Ocho lachte. »Glauben Sie etwa, Sie könnten die Sonne davon abhalten aufzugehen?« Die Soldaten liefen neben ihm her und redeten auf ihn ein, ohne dass er seine Schritte verlangsamte. »Sind Sie El Ocho?«, fragte einer der jüngeren Soldaten. »Alejo Vargas' Tage sind vorüber, mein Freund«, erwiderte Ocho. »Legen Sie Ihre Waffe nieder und schließen Sie sich uns an.« Die bloße Zahl und der Druck der Menschen, die sich durch die Straße wälzten, jagten dem Major, der eine Pistole in der Hand hielt, Angst ein. Obwohl er sah, dass seine Untergebenen ihre Waffen den Zivilisten aushändigten, stellte er sich El Ocho in den Weg. »Ich befehle Ihnen, stehen zu bleiben, Sedano!«, schrie er und richtete die Pistole auf Ochos Kopf. »Wollen Sie mich etwa zu einem Märtyrer machen?«, fragte Ocho den Major, der jetzt versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Schauen Sie sich doch um, Mann! Niemand kann diese -581-
Menschen stoppen.« Der Major feuerte einen Schuss in die Luft. Sein Gesicht war verzerrt und blass, fast blutleer. »Bleiben Sie stehen, oder ich erschieße Sie, so wahr Gott mein Zeuge ist!« »Mi amigo«, sagte Ocho Sedano ruhig. »Tagelang war ich auf See bereit zu sterben; ich habe keine Angst mehr. Mein Herz ist frei von Furcht. Mein Tod wird diese Menschen nicht aufhalten; nichts kann die Welt daran hindern, sich zu drehen. Aber wenn Sie glauben, mich töten zu müssen, dann machen Sie Ihren Frieden mit Gott und schießen Sie.« Und dann lächelte er. In diesem Augenblick erkannte der Major, dass El Ocho ein Wahnsinniger war. Oder ein Heiliger. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und übergab ihm seine Waffe. Ocho reichte die Pistole an den nächsten Mann weiter und legte dem Major einen Arm um die Schultern. »Komm«, sagte er. »Lass uns gemeinsam ins gelobte Land gehen.« Wie eine Wand aus Wasser, die sich durch ein trockenes Flussbett ergießt, strömte die menschliche Flut den Boulevard entlang auf die Universität zu, während im Nachthimmel über ihr Flugzeugmotoren dröhnten. Selbst im Foyer des Wissenschaftsinstituts konnte Alejo Vargas die über Havanna kreisenden Flugzeuge hören. Er ließ den Blick über die Politiker und die jungen Soldaten wandern, die stumm hinter ihm warteten und die Türen zu den Treppen und dem Fahrstuhl blockierten. Seine Adjutanten starrten nervös zu den Fenstern hinaus und versuchten, sich ruhig zu verhalten. Wo steckte Santana? Der Colonel hätte längst hier sein sollen, er war der einzige loyale Freund, den Alejo Vargas hatte. Vargas ging auf und ab, blieb im Türdurchgang stehen und -582-
lauschte dem Dröhnen der Flugzeuge, fragte sich, ob die Truppen, die er in der Umgebung postiert hatte, zu ihm halten und kämpfen würden. Mehr als 2.000 bis an die Zähne bewaffnete Männer warteten auf die Ankunft der Amerikaner. Diesmal würden die Yanquís nicht davonkommen, diesmal würde er Gefangene machen und sie vor den Fernsehkameras aufmarschieren lassen, geschlagene Feinde, die vor ihm knieten, während ihm Kuba zujubelte. Diesmal… Ein Wagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem Gebäude, und ein Mann sprang heraus, ein uniformierter Colonel der Abteilung für Staatssicherheit. Er hastete die Stufen hinauf, entdeckte Vargas und eilte auf ihn zu. »Das Fernsehen…«, keuchte er. »Das Fernsehen zeigt ein Videoband von Fidel.« »Ja?«, fragte Vargas mit gerunzelter Stirn. »Fidel hat die Aufzeichnung kurz vor seinem Tod gemacht. Er möchte, dass Hector nach ihm Präsident wird.« »Was???« Vargas glaubte sich verhört zu haben. »Sie zeigen das Band, das ungefähr sechs Minuten lang ist, wieder und wieder.« »Das ist völlig unmöglich«, sagte Vargas und drehte sich zu den Politikern um, die näher gekommen waren. »Fidel hat keine solche Aufnahme vor seinem Tod gemacht. Er hatte vo r, eine Rede aufzuzeichnen, in der er mich zu seinem Nachfolger ernennen wollte, aber seine Krankheit hat das verhindert.« »Sie strahlen das Band im Fernsehen aus«, beteuerte der Colonel. »Fidel sagt, die Nation müsse sich verändern und Hector Sedano sei der Mann, der Kuba durch diese Veränderung führen kann.« »Das ist ein Trick!«, brüllte Vargas. »Die CIA der Yanquís kommt uns mit einem Trick!« Auf allen Gesichtern machte sich Zweifel breit. -583-
»Fidel ist tot! Begreift ihr das denn nicht?« Lauter werdendes Stimmengewirr drang durch die offene Tür. »Was ist das?« Vargas wirbelte herum. »Wo sind die Soldaten?« Er sah Köpfe über den Stufen auftauchen, viele Köpfe, dann wälzte sich eine Horde von Menschen in Zivil und Armeeuniformen durch die Tür, bahnte sich unaufhaltsam einen Weg in das Foyer, das schon bald völlig überfüllt war. Die Leute in der Tür machten einen Spalt frei, durch den zwei Männer Seite an Seite schritten, ein junger, schlanker Mann und ein anderer von mittlerer Größe, der in einen verblassten Gefängnis-Overall gekleidet war. Sie blieben vor Alejo Vargas stehen. Hector Sedanos Stimme war laut und deutlich noch im letzten Winkel des Raumes zu vernehmen. »Alejo Vargas«, sagte er. »Ich verhafte Sie im Namen des kubanischen Volkes wegen der Ermordung von Raúl Castro.« Vargas' Hand zuckte hoch. Er griff nach der Pistole unter seiner Jacke, aber bevor er sie hervorziehen konnte, wurde er von einem Dutzend Händen gepackt, die ihn zu Boden rissen und ihm die Waffe entwanden.
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25 Maximo Sedano verbrachte die Nacht an Bord seiner Yacht im Hafen von Havanna. Er hörte die Flugzeuge und die Explosionen der Bomben, die auf La Cabana fielen, aber er ging nicht an Land. Bis zum Einbruch der Nacht hatte er verbissen nach dem Gold gesucht, von dem er sicher war, dass es auf dem Grund des Hafens lag. Bisher hatte er jede Menge Schrott und Abfall gefunden, aber kein Gold. Während die Bomben fielen, trank er Rum, betrachtete die Skyline und dachte an das Gold. Siebenunddreißig Tonnen. Mein Gott, was ein Mann alles mit einem derartigen Vermögen anfangen konnte! Autos, Yachten, Frauen, all die guten Dinge des Lebens… Seine Haut war klebrig vom Dreck und Unrat des Hafens. Der Wassertank des Bootes war nicht sehr groß, und so beschränkte er sich darauf, sich mit einem nassen Schwamm zu säubern, so gut er konnte. Sobald er an Land zurückkehrte, würde er ausgiebig duschen. Am nächsten Morgen begann er gleich bei Sonnenaufgang zu tauchen. Boote kamen in den Hafen und fuhren wieder hinaus, und Maximo schuftete ununterbrochen. Einmal legte er eine kurze Pause ein, um die Pressluftflaschen zu wechseln. Die Arbeit machte ihn fast wahnsinnig. Das wahrscheinlichste Versteck für das Gold war der Ankerplatz des Yachthafens, wo Fidel und Che vermutlich die Nächte in ihrem Boot verbracht hatten. Hier mussten sie das Gold ins Wasser geworfen haben. Aber es lag nicht im Hafen. Maximo sagte sich, dass es mittlerweile vielleicht von Schlamm und anderen Ablagerungen überdeckt worden war, aber selbst als er im Schlick grub, wurde -585-
er nicht fündig. Ich gehe nicht systematisch genug vor, dachte er, als er erschöpft auf dem Deck seiner Yacht hockte. Seine gebrochenen Finger schmerzten wie faule Zähne. Er wusste, dass er heute nicht mehr weiterarbeiten konnte, also bestieg er das Beiboot und fuhr an Land, wo er die leeren Pressluftflaschen vom Hafenmeister auffüllen lassen wollte. Müde wie er war und durch die verletzte Hand behindert, benötigte er mehrere Minuten, um das kleine Boot zu vertäuen und die Pressluftflaschen auf das Dock zu hieven. Dann schleppte er sie zum Schuppen des Hafenmeisters. Der Mann saß in seiner schäbigen Behausung und las eine Zeitung. »Können Sie die Flaschen auffüllen?«, fragte Maximo. Der Hafenmeister sah hoch, und seine Miene erhellte sich, als er den Besucher erkannte. »Natürlich, Señor Sedano. Ich bin ja so froh, das von Ihrem Bruder zu hören. Meinen Glückwunsch!« »Was?« Offenbar hatte Maximos Gesichtsausdruck den Mann erschreckt. Er hielt die Zeitung in die Höhe. »Sie wissen doch bestimmt schon Bescheid. Ihr Bruder Hector ist der neue Präsident von Kuba.« Maximo nahm ihm die Zeitung aus der Hand, ließ sich auf den einzigen freien Stuhl fallen und las die Schlagzeilen. »Was für eine Nacht!«, rief der Hafenmeister und strahlte wie die aufgehende Sonne. »Wir erleben Geschichte mit. Hector und El Ocho, was für ein Team!« »Erstaunlich.« »Und sehen Sie da! Die Zeitung hat einen Brief von Ihrer Schwägerin Mercedes abgedruckt. Vor vierzig Jahren hat Fidel das Gold aus den eingeschmolzenen Pesos unter dem Fußboden des Präsidentenpalastes versteckt. Es ist immer noch da, jede -586-
einzelne Unze. Sechzig Tonnen Gold, die Kuba gehören, stellen Sie sich das vor! Ist das nicht erstaunlich?« Das graue Munitionsschiff der US-Navy warf in der Bucht Anker und ließ ein Landungsboot zu Wasser. Der Steuermann ging neben einer ausgefahrenen Gangway längsseits. Ein paar Minuten später klang der Pfiff einer Bootsmannspfeife auf, dann ertönte eine Reihe von Glockenschlägen aus dem Schiffslautsprecher. Eine Gruppe von Offizieren und Matrosen in weißen Uniformen kletterten die Gangway hinab und bestiegen das Landungsboot. Das kubanische Dorf Antilla schmorte unter der heißen Sonne. Das Ufer wurde von Fischerbooten gesäumt, nur zwei etwas größere Schiffe von rund 1.000 Bruttoregistertonnen lagen am Pier. Das La ndungsboot legte am Kai an, und Konteradmiral Jake Grafton ging an Land. Gil Pascal und Toad Tarkington folgten ihm. »Das da drüben ist das Lagerhaus«, erklärte Toad und deutete auf ein einfaches Gebäude. Jake nickte nur. Mehrere Kubaner näherten sich dem Pier. »Wo ist der Übersetzer?« »Hier, Sir«, sagte ein Seemann und trat neben Jake. Auch er trug seine beste weiße Uniform. Nach den üblichen diplomatischen Begrüßungsfloskeln gingen Jake, Gil Pascal und der Übersetzer mit den Kubanern zu dem Lagerhaus. Toad blieb allein am Kai zurück. Er schlenderte umher, die Arme hinter den Rücken gelegt, und ließ den Blick müßig wandern. Tarkington stand am Ende des Hafenbeckens, als er ein Geräusch hörte. Er trat bis an den Rand des Kais heran und blickte ins Wasser. -587-
Ein Mann in einem schwarzen Taucheranzug, der mit Schlamm und Schlick verschmiert war, zog gerade seine Ausrüstung unter der Kaimauer hervor. »Ich habe mich schon gefragt, wo ihr Burschen bleibt«, sagte Toad im Plauderton. »Einen Tag sind Sie die Taube, am nächsten die Statue«, erwiderte der Navy-SEAL. »Wir sind jetzt schon seit drei Tagen hier, hausen da unten wie die Hafenratten und beobachten dieses Lagerhaus rund um die Uhr. Während der ersten Nacht haben wir es durchsucht, Commander - die Gefechtsköpfe waren da. Und das sind sie immer noch, die Kabaner haben nicht einen einzigen weggeschafft.« »Wo ist Ihr Partner?« »Auf der anderen Seite von diesen Stegen. Er müsste gleich da sein. Meinen Sie, wir können uns jetzt auf das Schiff verziehen? Ich träume scho n lange von einer heißen Dusche, einem warmen Essen und einer sauberen Koje.« »Ich denke, das lässt sich einrichten.« Toad bückte sich und half dem Taucher, seine Ausrüstung auf den Kai zu ziehen. »Und wie fanden Sie Ihren Urlaub in Kuba?«, erkundigte er sich, als der SEAL vor Nässe triefend neben ihm stand. »Bei meinem nächsten Besuch erwarte ich eine bessere Unterkunft.« Wie der Präsident der Vereinigten Staaten befürchtet hatte, entwickelten sich die Nachwehen der zweiten KubaRaketenkrise, wie die Presse die Ereignisse nannte, zu einem politischen Desaster für Washington. Es gab jede Menge wütendes Geschrei von Seiten der Presse sowie Forderungen nach der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und dem Rücktritt aller politisch Verantwortlichen in der Re gierung durch verschreckte Senatoren und Kongressabgeordnete. Der Präsident verfolgte General Tottens Pensionierung aus -588-
der Ferne, nahm nicht an der kleinen Zeremonie im Pentagon teil und ließ die Gerüchteschmiede im Weißen Haus gewähren, die tuschelten, Totten wäre irgendwie teilweise für die Beinahekatastrophe verantwortlich. Totten, der spürte, dass er keinen Krieg der Gerüchte gewinnen konnte, hielt den Mund und nahm seinen Abschied mit Würde. Im Zuge der leidenschaftlichen großen Töne auf der einen und der öffentlichen Denunzierungen auf der anderen Seite, entschied auch der Direktor der CIA, dass er genug von Washington hatte. Er führte ein letztes Gespräch mit dem Präsidenten im Oval Office, nachdem er bereits seinen Rücktritt eingereicht hatte, aber noch bevor das Weiße Haus seinen Abschied bekannt gab. »Es tut mir Leid, dass Sie gehen«, murmelte der Präsident höflich, ohne ein Wort davon ernst zu meinen. Der Direktor nickte wissend. »Ich weiß nicht, ob die Untersuchung des Kongresses abgewendet werden kann oder nicht«, fuhr der Präsident fort und wich dabei dem Blick des Direktors aus. »Eine Menge dessen, was passiert ist, wird ohnehin für alle Zeiten unter Verschluss bleiben, weshalb ich wirklich nicht verstehe, was die Leute damit erreichen wollen, indem sie in der Asche herumstochern.« »Sie werden die Vorfälle trotzdem untersuchen«, prophezeite der Direktor düster. »Das ist es auch, worüber ich mit Ihnen reden will. Bei einem unserer Zusammenkünfte während der Krise haben Sie mich nach dem Namen unseres Spitzenagenten in Kuba gefragt, und ich habe ihn für Sie aufgeschrieben. Ich weiß nicht, ob Sie ihn jemals gelesen haben, aber es wäre eine absolute Katastrophe, wenn der Name dieser Person vor einem Untersuchungsausschuss des Kongresses enthüllt werden würde.« »Ich habe mir den Namen angesehen«, erwiderte der -589-
Präsident langsam. »Nicht während des Treffens, sondern erst später. Ich hatte nicht erwartet, ihn zu kennen, aber dann war ich erstaunt, als ich festgestellt habe, dass der Familienname der Person mit dem des Priesters identisch ist, der in Havanna im Gefängnis gesessen hat.« »Mercedes Sedano war Castros Geliebte und eine wahre Schatztruhe für den Geheimdienst. Sie hat uns von Drogengeschäften berichtet, von Vargas' Erpresserakten, von Castros ge heimen Bankkonten… Als sie wollte, dass wir dieses Videoband anfertigen, in dem Fidel Hector zu seinem Nachfolger ernennt, hatte sie keine Zeit mehr für die üblichen Umwege und Zwischenstationen, also ist sie direkt in die Amerikanische Interessenvertretung in der Schweizer Botschaft gegangen. Nichts davon darf an die Öffentlichkeit geraten, Mr. President. Wenn die Kubaner erfahren, dass sie uns heimlich Informationen übermittelt hat, könnte Hector Sedanos Regierung stürzen. Und Mercedes Sedano könnte das Leben verlieren.« »Dieses Stück Papier existiert nicht mehr«, sagte der Präsident. »Ich schlage vor, Sie vernichten auch die entsprechenden Akten.« Ein paar Minuten später, als der Direktor sich verabschieden wollte, wandte sich der Präsident noch einmal an ihn. »Ich habe Spione nie verstanden«, gestand er. »Warum hat diese Frau ihr Land verraten?« Der CIA-Direktor blinzelte eulenhaft. »Ich wüsste nicht, dass sie das getan hat«, sagte er und verließ das Oval Office zum letzten Mal. An einem Mittwochmorgen im November stellte Tommy Carmellini seinen Wagen in einer großen Parkgarage im Zentrum von Denver ab und holte seinen Rucksack aus dem Kofferraum. -590-
Das Wetter war herrlich, ein milder, sonniger Tag mit so klarer Luft, dass die Rockies zum Greifen nah schienen. Herbstlaub lag in den Rinnsteinen und wartete darauf, von einem Windstoß aufgewirbelt zu werden. Carmellini schlenderte zwei Häuserblocks weit zur Sixteenth Street. Während er auf den Stadtbus wartete, kaufte er eine Ausgabe der Denver Post. Wie so viele andere junge Leute trug er Tennisschuhe, ausgeblichene Jeans und einen gestrickten Pullover. Um die Hüften hatte er sich eine Windjacke mit offenem Reißverschluss geschlungen und seinen Rucksack über eine Schulter gehängt. Der Stadtbus hielt an jeder Straßenecke, um Passagiere ein- oder aussteigen zu lassen. Carmellini lehnte am Rückfenster, den Rucksack zwischen sich und die Scheibe geklemmt. Am westlichen Ende der Mall ließ er sich von dem Menschenstrom zu einer Überlandbushaltestelle tragen. Er bestie g einen Bus nach Boulder, steckte das Kleingeld für den Fahrpreis in den Münzschlitz und fand einen Fensterplatz fünf Reihen hinter dem Fahrer. Den Rucksack legte er vor sich auf den Schoß. Der Bus füllte sich schnell und setzte sich wenige Minuten später in Bewegung. Tommy Carmellini faltete die Zeitung auseinander und überflog die Titelseite. Alle US-Sanktionen, die Reisen und Handel mit Kuba betrafen, waren aufgehoben worden, und Amerika eröffnete eine Botschaft in Havanna. Ein Foto zeigte, wie sich der Präsident der Vereinigten Staaten und Hector Sedano während einer Pressekonferenz in Washington die Hände schüttelten. Carmellini blätterte die Zeitung durch. Auf Seite vier fand er eine kurze Meldung, laut der sich El Gato, ein Exilkubaner, der in Miami lebte, vor einer Grand Jury in Florida wegen des Verkaufs nicht näher bezeichneter Güter an die kubanische -591-
Regierung rechtfertigen musste, ein Verstoß gegen die damals noch existierenden Gesetze. Dem Zeitungsbericht nach war er der einzige Angeklagte. Nachdem er die Denver Post durchgelesen hatte, faltete Carmellini sie wieder zusammen und stopfte sie in die Tasche in der Rücklehne des Sitzes vor ihm. Es war lange her, dass er in Kuba gewesen war. Natürlich las er immer noch die Nachrichten und Geheimdienstberichte, er hörte, wie die Leute über Kuba und die Menschen redeten, die er dort kennen gelernt hatte. Microsoft und Intel errichteten große Fabriken in Havanna, und Phillip Morris kaufte einen der ältesten Zigarrenbetriebe des Landes für viel Geld auf. Konteradmiral Jake Grafton war jetzt der Assistent irgendeines hohen Tiers im Pentagon, Toad Tarkington hatte ihn als sein persönlicher Adjutant begleitet, und Toads Frau Rita Moravia, gerade zum Commander befördert, war leitender Offizier einer Jägerstaffel. Hector Sedano machte einen beneidenswert guten Job als Präsident von Kuba, und ein Kampfpilot namens Carlos Corrado, von dem niemand jemals zuvor etwas gehört hatte, war zum General befördert und zum Oberkommandanten der kubanischen Luftwaffe ernannt worden. Das Leben ging weiter. Nur rund die Hälfte der Sitzplätze waren besetzt. Die durch die Fenster scheinende Sonne und die schaukelnden Bewegungen des Busses sorgten für eine behagliche Atmosphäre. Viele der Passagiere dösten vor sich hin. Da der Platz neben Carmellini frei war, lockerte er seinen Griff um den Schulterriemen des Rucksacks und schloss die Augen. Als der Bus die Davidson Mesa durchquerte und mit fünfundsiebzig Meilen in der Stunde über die Landstraße nach Boulder jagte, war Carmellini wach. Er staunte über die steil aufragenden Felstafeln der Flatirons, die für ein beeindruckendes Panorama im Hintergrund der Stadt sorgten. -592-
Auf der Fahrt an der Universität vorbei Richtung Innenstadt stand Tommy Carmellini auf und stellte sich neben die Fahrertür. An der nächsten Haltestelle stieg er aus und betrachtete die roten Backsteingebäude der Universität, während der Bus eine Wolke Dieselqualm ausstieß und wieder beschleunigte. In Carmellinis Hosentasche steckte ein Stadtplan, aber er hatte ihn sich so gründlich eingeprägt, dass er ihn nicht mehr hervorziehen musste. Er schlenderte los, erkannte auf Anhieb das Haus des Studentenverbandes und ging weiter. Alle Gebäude waren nach dem gleichen Muster erbaut, und zusammen mit den Scharen von Studenten schien das Universitätsgelände im strahlenden Licht der Novembersonne ein Loblied auf das Streben der Menschheit nach mehr Wissen zu singen. Carmellini warf einen oder zwei Blicke auf seine Uhr und spazierte dann gemächlich weiter, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er fand das Gebäude, das er gesucht hatte, öffnete die Tür, trat ein und stieg die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf. In dem langen Gang reihte sich Tür an Tür. Carmellini ging langsam den Flur entlang. Auf jeder Tür stand der Name eines Mitglieds der Fakultät, und an den meisten war ein kleines Schildchen mit den Sprechstundenzeiten auf die kleinen Milchglasfenster geklebt. Carmellini entdeckte die richtige Tür und warf erneut einen Blick auf seine Uhr. Zehn Minuten zu früh. Er klopfte. Keine Antwort. Sollte er hier im Gang warten… oder vielleicht doch besser in der Bibliothek? Der Flur war menschenleer, aber das konnte sich jeden Moment ändern. -593-
Natürlich war es möglich, dass der Professor heute überhaupt nicht kam. Carmellini erinnerte sich noch gut an seine eigene Zeit auf dem College. Manchmal dauerte es Wochen, bis ein Student einen Professor mit Lehrstuhl in seinem Büro erwischte. Nun, sollte sein Plan nicht funktionieren, würde er sich eben etwas anderes einfallen lassen müssen. Nur was, das wusste er noch nicht. Er entschied sich für die Bibliothek, drehte sich um und marschierte los, aber er war gerade erst drei oder vier Schritte weit gegangen, als sich die Tür hinter ihm öffnete und ein Mann um die sechzig den Kopf in den Flur steckte. »Haben Sie geklopft?« »Ja.« »Haben Sie eine Uhr? Können Sie lesen? Die Sprechstunde beginnt erst in zehn Minuten.« »Ja, aber…« »Ach, was soll's, kommen Sie rein.« Carmellini zog die Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss. Das Büro war winzig, kaum mehr als ein Verschlag mit einem Schreibtisch, einem Computer und einem Besucherstuhl. Bücherregale bedeckten beide Seitenwände. Auf dem Fenstersims hinter dem Professor stapelte sich ein Wirrwarr aus losen Papierbögen, Manuskripten und Aktenordnern. Die Fensterscheibe sah so aus, als wäre sie schon seit Jahren nicht mehr geputzt worden. »Wenn es um Ihre Dissertation geht, dazu brauchen wir mehr Zeit, als mir heute zur Verfügung steht, deshalb…« »Sie sind Professor Svenson, richtig?« »Stimmt.« Der Professor hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Er sah zu Carmellini auf, rückte seine Brille zurecht und runzelte die Stirn. »Ihr Gesicht kommt mir nicht… Sie sind…?« -594-
»Ihr Name ist Olaf Svenson?« »Was wollen Sie?« Tommy Carmellini öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks, zog die Pistole mit dem Schalldämpfer hervor und löste die Sicherungssperre mit dem Daumen. Ein Ausdruck des Entsetzens huschte über Svensons Gesicht. »Die Regierung hat keine Beweise«, sprudelte er hastig hervor. »Die Staatsanwaltschaft hat entschieden, mich nicht anzuklagen. Sie…« Tommy Carmellini schoss Olaf Svenson aus knapp anderthalb Metern Entfernung mitten in die Stirn. Svenson brach in seinem Stuhl zusammen, der Kopf fiel nach hinten. Carmellini ging um den Schreibtisch herum, hielt die Mündung des Schalldämpfers gegen die Schläfe des Professors und drückte noch zweimal ab. Zwei kleine trockene Geräusche. Er bückte sich, hob die ausgeworfenen Patronenhülsen auf, steckte sie sich in die Tasche, sicherte die Pistole wieder und schob sie in den Rucksack zurück. Alles, was er berührt hatte, war der Türknauf. Er zog ein Taschentuch hervor, wischte den Knauf auf der Innenseite des Büros sorgfältig ab und öffnete die Tür. Dann drückte er den kleinen Knopf in dem Knauf, der das Schloss einschnappen ließ, trat auf den Flur hinaus, schloss die Tür hinter sich, wischte auch den Knauf auf der Außenseite ab und ging den Korridor entlang. Niemand würde jemals beweisen können, dass er hier gewesen war. Umgeben von jungen, lachenden Menschen, die über den von der Sonne beschienenen Rasen schlenderten oder gesellig beisammensaßen, überquerte Tommy Carmellini den Campus mit gesenktem Kopf, den Rucksack über die Schulter gehängt, und dachte an Kuba.
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Danksagung In der Theorie erfordert ein Abenteuerroman mit spekulativen Elementen zwar die gleiche Genauigkeit in Bezug auf die verwendete Technik wie beispielsweise eine Geschichte über Außerirdische, die im 30. Jahrhundert spielt, in der Praxis jedoch verlangen viele Leser, dass der Autor dieser Zeilen sich zumindest annähernd an die Realität hält. Für ihren Beitrag zur Stimmigkeit in technischen Fragen bedankt sich der Autor bei folgenden Personen: Michael R. Gaul, Captain Sam Sayers USN Ret., Mary Sayers, Captain Andrew Salkeld USMC und Colonel Emmett Willard USA Ret., sowie die V-22-Experten Colonel Nolan Schmidt USMC, Lieutenant Colonel Doug Isleih USMC und Donald L. Byrne Jr. Wie üblich hat sich der Autor im Interesse der Lesbarkeit und des Erzähltempos auf einigen technischen Gebieten gewisse Freiheiten herausgenommen. Ernestina Archilla Pabon de Pascal hat viele Stunden geopfert, um dem Autor dabei zu helfen, das besondere Flair Kubas einzufangen, und sich damit seine aufrichtige Dankbarkeit verdient. Ein ganz besonderes Dankeschön geht an Deborah Buell Coonts, die Frau des Autors, deren kluge Ratschläge, Anregungen zum Handlungsverlauf und endlose Stunden des Redigierens in unschätzbarem Maß zu der Qualität des vorliegenden Romans beigetragen haben.
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