Foltertrommeln der Venus von Rog Phillips (M’bong-Ah) Aus dem Amerikanischen übersetzt von Fritzheinz van Doornick
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Foltertrommeln der Venus von Rog Phillips (M’bong-Ah) Aus dem Amerikanischen übersetzt von Fritzheinz van Doornick
„M’bong-Ah …“ Das Wort erhob sich über dem Murmeln der Stimmen und übertönte die vielfältigen Geräusche, das Lärmen der Musicbox und das surrende Geräusch des alten Ventilators. Wer auch immer das Wort gesprochen haben mochte, er hatte seine Stimme nur in diesem Augenblick und für diesen einen Ausdruck erhoben, denn nachdem er gefallen war, blieben nur mehr die anderen Geräusche bestehen – in das eingeblendet, was irgendein Schriftsteller einmal die schwingende und stimmhafte Atmosphäre genannt hatte, jene so eigentümlich klingende Atmosphäre nämlich, die auf dem Warteraum eines Raumhafens zu lagern pflegte – mit einer Bar, der großen und gekrümmten Theke, den Speisetischen und einer bunten Ansammlung von Menschen. Der alte Mann, der halb schlafend vor einem Glas schalen Bieres saß, öffnete beim Klang dieses Wortes seine müden Augen und hob den Kopf. Sein wirrer Bart und sein tabakbefleckter Schnurrbart paßten ihrem Aussehen nach gut zu seinem verschwitzten und beschmutzten Anzug sowie den abgetragenen Schuhen. Er hob das halbleere Glas und trank langsam die abgestandene Flüssigkeit. Glänzende Tropfen hingen an seinem Schnurrbart, nachdem er das Glas wieder abgesetzt hatte. 3
Seine trüben Augen musterten den Spiegel, der die ganze Hinterwand der Bar einnahm. Langsam, prüfend überblickte er auf diese Weise den riesigen Warteraum, als ob es möglich sei, auf diese Weise den Ursprung des Lautes und seines Sprechers zu entdecken. Im Warteraum saß zunächst einmal die übliche Auswahl von Touristen: wohlhabende Männer und ihre Familien, reiche Fabrikanten und ihre Sekretärinnen und schließlich weniger bemittelte Urlauber, die vielleicht jahrelang gespart hatten, um jetzt eine Reise zum Mars, zur Venus oder auch nur zum Mond und zurück zu machen. Drüben, an der hinteren Wand, befand sich ein Tisch, an dem Männer in Uniformen saßen. Ihren Schulterklappen nach waren sie Kadetten, wahrscheinlich für das Leichterschiff der Armee bestimmt, das nach dem Flugplan um 5 Uhr – also in drei Stunden – starten sollte. Während der alte Mann die Kadetten beobachtete, wurde dieselbe Stimme noch einmal laut und übertönte die klingende Atmosphäre. Die Stimme gehörte zu einem fehlerlos geformten, sonnengebräunten Gesicht – dem Gesicht eines Kadetten, der sich an jenem Tisch befand. Der alte Mann glitt langsam von seinem Hocker und schob sich durch die Tischreihen auf die jungen Leute zu. Als er in ihre Hörweite gekommen war, blieb er stehen. Seine Augen schienen abwesend durch die Glaswand auf den Flugplatz zu starren, aber seine Ohren lauschten aufmerksam durch den Wald ungeschnittenen, weißen und schmutzigen Haares. „Es wird für mich eine richtige Chance sein, um die Theorie zu erproben, die ich für meine Abschlußprüfung als Hauptarbeit entwickelte. Es geht dabei um die die Auswirkung ununterbrochener Tonreihen und Geräuscheffekte als Hypnose. Das Departement ist der Meinung, daß ich vielleicht etwas ausfindig machen kann, wodurch sich erklären läßt, weshalb es auf ein4
zelnen Raumschiffen eine größere Zahl von Raumwahnsinnigen gibt als auf anderen. Meine Theorie weicht jedenfalls von den bis jetzt bekannten Vermutungen erheblich ab.“ „Folglich sind Sie der Meinung“, sagte ein anderer junger Kadett, „daß bereits die gewöhnlichen Geräusche auf einem Raumschiff zum Irrsinn führen können?“ „Nicht die Geräusche an sich“, verbesserte der erste junge Mann. „Ich will versuchen, die Dinge an einem praktischen Beispiel darzustellen: Alles, was in Ihre Gedanken eindringt, ist mit etwas Konkretem verbunden – größtenteils allerdings unbewußt. Nehmen wir einmal an, daß sich, als Sie vier Jahre alt waren, etwas für Sie sehr Unangenehmes ereignete. Während dieses Geschehnisses spielte in irgendeinem nahegelegenen Hause eine Frau auf dem Klavier. Bewußt haben Sie überhaupt nichts von ihrem Klavierspiel vernommen. Ihre Gedanken konzentrierten sich ganz auf das schreckliche Ereignis, was immer es auch gewesen sein mag, während Ihr ganzes Wesen von Furcht erfüllt war. Und nun übt Klaviermusik für den Rest Ihres Lebens eine höchst seltsame Wirkung auf Sie aus, denn sie erweckt in Ihnen eine unbegründete, ganz unverständliche Angst. Sie können die Töne des Klaviers ganz einfach nicht mehr ertragen … Würde nun, da Sie erwachsen sind, plötzlich dieselbe Musik gespielt werden, die Sie damals vernahmen, würde sie überraschend an Ihr Ohr dringen, dann kann es durchaus möglich sein, daß Sie Ihr geistiges Gleichgewicht verlieren.“ „Ich verstehe“, nickte der zweite junge Mann erregt. „Sie glauben, daß es auf den Schiffen Geräusche gibt, die in den Leuten bestimmte Ereignisse der Vergangenheit wieder wach werden lassen.“ „Das stimmt nur zum Teil“, entgegnete der erste Kadett, „und ist zudem eine allgemein bekannte psychologische Tatsa5
che. Ich jedoch interessiere mich in erster Linie für das Problem, Geräusche zu entdecken, die in sich selbst hypnotisch wirken. Ich behaupte nämlich, daß es gewisse Geräusche gibt, die – wenn sie sich zu einer gewissen Zeit tagelang fortsetzen – einen Menschen wahnsinnig machen können, daß es daneben noch andere Geräusche gibt, die – sofern sie unausgesetzt erklingen – auch andersgeartete psychologische Wirkungen haben können. Ich gliedere sie ein in die Reihe der rein hypnotischen Klänge und …“ Seine Augen richteten sich von selbst auf den alten Mann, der in seiner Nähe stand. Der alte Mann blickte ihn nun offen an. Die erste Reaktion des Ekels, die durch die ungepflegte Erscheinung des Alten hervorgerufen wurde, wurde in dem Kadetten bald durch Neugier ersetzt. Der alte Mann, der bemerkte, daß er die Aufmerksamkeit des angehenden Offiziers auf sich gelenkt hatte, schien sich zurückziehen zu wollen. Aber dann, in ein plötzlich entstandenes Schweigen hinein, trat er näher an den Tisch. „Ihre Unterhaltung interessiert mich“, sagte er, und seine Stimme kam in leisen, entschuldigenden Tönen durch seinen befleckten und streifigen Bart. „Ach, tut Sie das?“ meinte der junge Mann ironisch und blinzelte seine Gefährten belustigt an. „Darf ich fragen, warum?“ Er ahnte einen Spaß, der ihnen vielleicht die Zeit bis zum Abflug vertreiben konnte. „Setzen Sie sich auf jeden Fall zu uns, Herr“, sagte der junge Kadett. „Setzen Sie sich und erzählen Sie uns, warum meine Worte Sie interessieren. Ich werde Ihnen ein Glas Bier bestellen.“ Durch seine letzten Worte gehorchte er einem Impuls, der ihm von seinen besseren Gefühlen eingegeben wurde. „Danke, junger Mann“, entgegnete der Alte, und seine Stimme klang überrascht. Schüchtern blickte er von einen zum anderen, 6
und etwas glitzerte in seinen trüben Augen auf. War es Bedauern, ein seelischer Hunger nach menschlicher Gesellschaft und Anerkennung? Man hätte es nicht zu sagen vermocht. Auf einen Wink des jungen Mannes erschien der Kellner und ging wieder, um die bestellte Flasche Bier zu holen. Der junge Kadett machte seinen Gefährten ein Zeichen. „Sie sprachen von Geräuschen oder Klängen als einem Mittel der Hypnose“, begann der alte Mann zögernd. „Ihr Gespräch ließ mich vermuten, daß Sie ein eigenes Erlebnis vielleicht interessieren könne.“ Er machte eine Bewegung, die fast wirkte, als ob er die ganze Bedeutung seines Lebens ausstreichen wolle. „Sehr wichtig ist es ja nicht“, fuhr er fort. „Fast möchte ich bezweifeln, daß jemand überhaupt daran interessiert ist. Aber Sie suchen etwas, und es ist möglich, daß ich Ihnen durch meine Geschichte behilflich sein kann, es zu finden.“ „Nur immer loserzählt“, sagte der Kadett grinsend. „Wir werden auf unserer Reise monatelang nur unsere eigenen Stimmen zu hören bekommen. Vielleicht wird es uns da eine Erleichterung sein, die Erinnerung an Ihre Stimme mitzunehmen – besonders in Augenblicken der Verzweiflung.“ Der Kellner brachte die Flasche Bier, und der alte Mann füllte mit zitternden Händen sein Glas. Er tat einen großen Schluck und stellte den Becher dann wieder zurück. „Sie werden es vielleicht nicht glauben“, begann er dann, „aber einst, vor langer Zeit, als ich so jung war wie Sie es jetzt sind, saß ich an diesem gleichen Tisch – dort, wo Sie jetzt sitzen.“ Er deutete auf einen Kadetten, der seinen Stuhl zurückgeschoben und ein Bein auf den Tisch gelegt hatte. „Doch meine Uniform unterschied sich von der Ihrigen, und auch das Raumschiff, auf das ich wartete, war anders.“ Der alte Mann unterbrach sich, und seine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Aus der dunklen Reichweite seiner Erinnerung stieg ein Summen auf, ein Summen, das aufzu7
steigen schien von einem See gebeugter, indigohäutiger, nackter Menschen, die summten und summten – Mmmmm … In die Monotonie ihres leisen Summens der Anbetung erklang plötzlich das Geräusch von Hunderten von Tempelgongs, die alle im gleichen Augenblick geschlagen wurden, um dann, auf das Zeichen irgendeines unsichtbaren Unterpriesters hin, zum Schweigen gebracht zu werden. Und als das donnernde „Bong!“ zu einem plötzlichen Ende kam, erhob sich das Meer der Stimmen zu einem Seufzen, das wie ein Seufzen von tausend Winden war. Und wieder erblickte er den dreieinhalb Meter hohen, indigohäutigen Monarchen, der steif aufgerichtet auf der Estrade vor seinem juwelengeschmückten Thron stand, wo er beim Geräusch der Gongs plötzlich aufgetaucht war – hochmütig, königlich in der Haltung und wild dazu, mit den bebenden Nasenflügeln eines Löwen. Sein kahler, stolz erhobener Kopf blitzte auf in den Sonnenstrahlen, als diese über den hohen Gipfeln der Sierra Corscatch aufstrahlten, aber – gedämpft durch die über der Venus lagernde ewige Wolkendecke – nur schwach leuchteten. In seinen Gedanken sah er das Bild wieder. Er allein von allen Völkern der Erde hatte es bis jetzt gesehen, und auch nur ein einziges Mal. Aber das Geräusch selbst kroch durch den Dschungel der Venus und war zum sagenhaften Entsetzen geworden. Viele hatten es vernommen und erschauerten, wenn es erstarb, um in den krachenden und dröhnenden Lauten des Dschungels aufzugehen. „M’bong-Ah …“ Der junge Mann berührte seine Schulter. „He, alter Mann, wachen Sie auf! Sie haben uns für das Bier eine Geschichte versprochen! Oder trinken Sie wenigstens das Bier aus, ehe Sie einschlafen!“ 8
Bier? Geschichte? Der Alte schaute verständnislos auf die ihn umgebenden jungen Gesichter. Dann sprach er, aber mit so leiser Stimme, daß die jungen Raumkadetten sich näher und näher beugen mußten, um zu hören, was er sagte, so nahe an ihn heran, daß vielleicht auch sie es vernahmen, das ewige Geräusch der venusianischen Foltertrommel – schwach, sehr schwach, aber unablässig in seinen Gedanken fortlebend. * „Halt einen Augenblick ein, Ben! Wo gehst du denn in solcher Eile hin?“ Bei dem Geräusch der Stimme wandte Ben sich um. Er erblickte Fred Larkins, der, mit einem breiten Grinsen auf seinem gebräunten Gesicht, lange Schritte machte, um ihn einzuholen. „Guten Morgen, Fred“, grüßte Ben freundlich. „Ich muß hinüber ins Hauptquartier. Der alte Herr sagte mir, daß ich ihm heute für eine besondere Aufgabe zur Verfügung stehen müsse.“ „Wann hat er dir das gesagt?“ fragte Fred und schloß sich Ben an. „In der vergangenen Nacht. Jean und ich waren tanzen. Als ich sie heimbrachte, war ihr Vater noch immer auf und arbeitete an irgendwelchen Rapporten.“ „Nun“, Fred kicherte trocken, „da du hinter des alten Herrn Tochter her bist und auch das Zeug in dir hast, sie zu gewinnen, kannst du sicher sein, daß er dir einen Auftrag erteilen wird, der dich schließlich in seinen eigenen Arbeitsbereich hineinführt.“ „Geh’, du bist nur eifersüchtig“, lachte Ben. „Jedenfalls weißt du so gut wie ich, daß hier draußen jedermann alles für sie tun würde – und das wäre auch der Fall, wenn sie die Tochter eines Kolonialwarenhändlers wäre.“ 9
„Leider ist es die Wahrheit“, seufzte Fred. „Wie ein so ausgetrockneter alter Knacker zum Vater eines so reizenden und liebenswerten jungen Mädchens werden konnte, ist jedenfalls mehr, als man in den Büchern über Erbforschung erfahren kann.“ Schweigend gingen die Männer weiter. Sie waren Angehörige eines neuartigen Zweiges der UN-Armee. Nach der erfolgreichen Rückkehr des ersten zur Venus entsandten Raumschiffes vor einem Jahr, hatten alle Nationen der Welt ihre Hilfsquellen zusammengelegt, um eine Raumarmada zu schaffen. Die Vereinten Nationen waren von den einzelnen Staaten ermächtigt worden, nicht nur die Raumflotte zu erbauen, sondern auch eine Sondergruppe zur Ausbildung von Menschen zu schaffen, die für den Raumflug geeignet waren. Alles das war das Resultat eines einzigen Fluges zur Venus. Benjamin Arnold und Frederick Larkins waren nur zwei der mehr als zwanzigtausend Offiziere, die vor sechs Monaten zu der neuen Abteilung versetzt worden waren. In diesen sechs Monaten hatte man sie mit den wichtigsten Grundsätzen der Raumschiffahrt vertraut gemacht, sie kannten die grundlegenden Elemente der Astronomie und dazu Hunderte kleiner Handfertigkeiten, die von den oberen Stellen als wichtig für die Ausbildung von Raumfahrern angesehen wurden. Auch hatte man Andeutungen gemacht, daß die Männer nach der sechs Monate dauernden Grundausbildung in Sondergruppen aufgeteilt würden, und jede Abteilung sich auf einen bestimmten Teil des Spitzengeheimnisses zu spezialisieren habe. Man war so ziemlich sicher, daß das ganze Ausbildungsprogramm mit dem Plan zusammenhing, zur Venus zurückzukehren. Warum es jedoch zu diesem Zweck einer Gesamtheit von zwanzigtausend Offizieren und anderthalb Millionen Mannschaften bedurfte, war eine Frage, die keiner laut zu stellen wagte. 10
Nun befand sich Ben auf dem Wege, einen Sonderauftrag zu bekommen. Er verließ Fred am Eingang des großen Stabsgebäudes und versprach, ihm nach seiner Rückkehr alles zu berichten, sofern man ihn nicht auf Geheimhaltung vereidigen sollte. Seine Absätze klapperten lärmend auf dem Marmorboden in der riesigen Vorhalle des Stabsgebäudes. Er ging die breiten Stufen hinauf, die zu den Büros des Hauptquartiers führten, und entdeckte dort mühelos die rechte, bronzene Tür, durch die man in die schmaleren Gänge kam, an denen die einzelnen Dienststellen des Stabes zu finden waren. Vor der Tür mit der Aufschrift „General G. H. Green“ zögerte er kurz, um dann entschlossen zu öffnen und einzutreten. Eine schmucke Heereshelferin nahm seine Meldung entgegen und bat ihn, Platz zu nehmen. Steif setzte er sich und wartete. Eine Stunde verstrich, in der viele Leute kamen und gingen, ohne ihn zu beachten. Ab und zu blickte die Heereshelferin ihn neugierig an, aber die erlassenen Vorschriften waren sehr streng, und sie dachte nicht daran, sich mit ihm in eine Unterhaltung einzulassen. Auch Ben betrachtete sie von Zeit zu Zeit und bewunderte ihr hübsches Gesicht und das schöne, blonde Haar. Seinem Gewissen redete er ein, daß er dies nur tue, um die Zeit zu verbringen; außerdem war Jean in jeder Beziehung begehrenswerter als diese Frau. Schließlich lächelte sie ihn an und forderte ihn auf, einzutreten. Jeans Vater, General Green, kam ihm entgegen, um ihm die Hand zu drücken, als er das innere Büro betrat. Ben war erstaunt über den liebenswürdigen Empfang. Es mußte demnach etwas Ungewohntes geschehen sein. Seine Vermutung erwies sich als richtig. Eine halbe Stunde später hatte er Dinge erfahren, die zu kennen die Welt dort draußen vermutlich viel gegeben hätte. Zuerst vernahm er, daß 11
sich hier auf der Erde ein echter Venusmensch befand – eine Frau von der Venus, besser gesagt, ein Mädchen. Man wußte nicht, wie alt sie war, denn die Venusianer pflegten die Zeit nicht zu zählen und besaßen auch kein Zeitmaß. Auf ihrer letzten Expedition hatten sie das Venusmädchen überrascht und gefangengenommen. Bis vor kurzer Zeit hatte jeder Versuch, ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zu gewinnen, nicht den geringsten Fortschritt gemacht. Die Einsamkeit hatte sie schließlich gezwungen, zugänglicher zu werden. Man kam voran beim Erlernen ihrer Sprache. Die Wissenschaftler nahmen ihre Stimme auf Tonband auf, das man dann benutzen wollte, um die Sprache einer Gruppe von ausgesuchten Männern beizubringen. Ben gehörte zu den wenigen, die dieser Gruppe zugeteilt worden waren. General Green wies ihn auf die Notwendigkeit hin, seine Ausführungen streng geheim zu halten. Wenn die Welt auch nur andeutungsweise erfahren sollte, daß sich ein lebender Venusmensch auf der Erde befand, würde nicht einmal die gesamte UN-Armee sie hindern können, das Mädchen zu betrachten. Das aber würde in ihr die wilde, störrische Natur erneut erwecken und jeden Fortschritt erschweren. Sollte die Hoffnung, sich mit den venusianischen Wilden zu befreunden, jemals verwirklicht werden können, dann war hierzu erforderlich, daß es eine Gruppe gab, die ihre Sprache beherrschte. Ben verließ das Büro und freute sich ungemein über sein Glück. Der erste Teil des erhaltenen Befehls bestand darin, einen Technicolorfilm der Venuslandschaft zu studieren und mehrere geheime Aufnahmen des Venusmädchens zu betrachten, die von verborgenen Kameras am Ort ihrer Gefangennahme gemacht worden waren. Die Filmvorführung sollte um 2 Uhr beginnen, und es war erst 11 Uhr, als er General Greens Büro verließ. 12
Fred erwartete ihn vor dem Stabsgebäude. „Nach deinem Blick zu urteilen, muß eine Frau im Spiele sein“, sagte er anzüglich. „Es tut mir leid, Fred“, antwortete Ben, „aber es handelt sich um ein Staatsgeheimnis. Ich darf nicht einmal eine Andeutung machen.“ „Das ist gewöhnlich so“, brummte Fred. „Und wie wäre es mit einem Drink?“ „Nur einen ganz kleinen“, meinte Ben. „Ich habe einen anstrengenden Nachmittag vor mir.“ * Die Lichter in dem kleinen Saal erloschen, und die Leinwand erhellte sich. Das erste aufleuchtende Bild war eine Aufnahme der Venus selbst. Die Stimme des einstweilen noch unsichtbaren Sprechers erklärte dazu, daß die Aufnahme aus einer Entfernung von 22 500 Kilometern gemacht worden sei. Das Bild war farbig, bemerkenswert deutlich und in allen Einzelheiten klar. Man konnte die langsame Bewegung der Wolkendecke erkennen – rote, weiße und blaue Wolken, die auf stratosphärische Strömungen schließen ließen. Dann erblickte man einen dunkleren Flecken, der sich langsam über die Oberfläche des Planeten dahinbewegte. „Dies“, sagte der Sprecher, „ist keine physische oder greifbare Erscheinung, wie die Astronomen auf Grund ihrer früheren Beobachtungen angenommen hatten, sondern ein gewaltiger Wirbelwind. Seine Zentrifugalkraft reißt die hellgefärbten Dämpfe und Wolken aus ihrem Mittelpunkt heraus, so daß scheinbar jene dunkle Öffnung entstand, die auf den irdischen Teleskopen dann wirkte, wie ein sich langsam bewegender Auswuchs. Wiederholt hatte man diese dunklen Flecken beobachtet und 13
deren Bewegungen vermessen. Man hatte schließlich geglaubt, auf diese Weise die Rotationsperiode errechnen zu können, doch nach mehreren solcher Vermessungen mußte man sich zu der Erkenntnis bekehren, daß die Abweichungen in den einzelnen errechneten Resultaten zu großen waren.“ Das Bild von der Venus entschwand von der Leinwand; an ihrer Stelle tauchte ein Mann auf, der vor einer großen Karte stand, die einen schematischen Durchschnitt der Venusatmosphäre zeigte. Die Zeichnung teilte die Atmosphäre in Streifen auf. Da waren gekrümmte Pfeile, um die Richtung und Geschwindigkeit der Windströmungen anzuzeigen, und ein dickes, blaues Band stellte die Wolkendecke dar. Auf der Sonnenseite erstreckte sich die Wolkendecke bis dicht an die Oberfläche. Der Mann deutete mit seinem Zeigestock auf das blaue Band. „Auf der der Sonne zugewandten Seite“, sagte er, „schicken die evaporierenden Ozeane Wolken von Dampf hinauf in die Stratosphäre. Hier beginnt der Kondensationsprozeß, und die Wolken kehren als Regen auf die Venusoberfläche zurück. Bevor aber die Regentropfen die Oberfläche erreichen können, werden sie von der schrecklichen. Hitze erneut in Dampf verwandelt. Dadurch entsteht über der Sonnenseite der Planetenoberfläche ein dauerndes Aufwühlen der Atmosphäre.“ Sein Zeigestock deutete auf einen großen Kreis in der Zeichnung. „Hier ist, grob gesehen, der Beginn des heißen Gebietes“, erklärte er. „Kalte Luft aus den dunklen Gebieten kommt nach hier, wird erhitzt und mit den verdampfenden Wassern in die Stratosphäre gehoben. Das ununterbrochene Nachströmen kalter Luftmassen führt zu einem Tiefdruckgebiet hinter der Wolkenwand. Die hinaufstrebende erhitzte Luft und der Dampf breiten sich aus und ziehen um den Planeten, um sich von der Sonne zu entfernen und auf die kühlere Seite zu begeben.“ Nun wurde das schematische Diagramm der Venus durch ei14
nen Globus mit plastischer Oberfläche für Gebirge und Land ersetzt. Auf der Leinwand drehte sich der Globus sehr langsam, während der Kommentator seinen Zeigestock benutzte, um die Gebiete zu zeigen, über die er sprach. Der größte Teil der Oberfläche war blau und deutete Ozeane an. Drei große Landteile waren braun gefärbt; eine vierte Stelle war weiß. Der Zeigestock deutete auf das weiße Gebiet. „Das ist der Eiskontinent“, sagte der Sprecher dazu. „Es ist das Gebiet, gegen das die Luftströmungen der Venus ziehen. Sein höchster Gipfel ist fast 8000 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Genau wie die irdischen Gletscher ist auch dieser Kontinent in dauernder Bewegung; er fließt und breitet sich in alle Richtungen aus. An seinen äußeren Grenzen lösen sich riesige Eisberge, um auf dem Meer zur Sonnenseite zu treiben. Es ist umstritten, daß sich unter diesem Eis ein Landgebiet befindet, über das sich der Ozean erstrecken würde, sofern das Eis schmelzen sollte. Seetiere, die unseren Robben und Walrossen ähnlich sind, tummeln sich an den Küsten, finden ihre Nahrung aber eher im Wasser des Ozeans als auf dem Eis. Auf diesem Kontinent waren keine Vögel zu sehen.“ Der Zeigestock deutete nun auf den größten der Landkontinente. „Dieser Kontinent heißt Ataata Winkum; die beiden anderen sind Blinkum und Nod. Aber Winkum ist der größte, auch für das Leben am günstigsten eingerichtete Kontinent. Er wird durchzogen von einer großen Gebirgskette, die Sierra Corscatch heißt. Diese Gebirgskette läuft gegen den Rand der Sonnenseite und schützt das darunterliegende Gebiet vor den Sonnenstrahlen. Blinkum und Nod besitzen keine hohen Berge, und deshalb sind dort die Niederschläge stärker. Stürme überziehen diese Gebiete und die Sonnenhitze verhindert eine entsprechende Entwicklung der auf der Venus natürlichen Lebensformen. Von unserem Standpunkt aus ist das unerfreulich.“ 15
Er senkte den Zeigestock und blickte von der Leinwand aus die Zuschauer scharf an. „Der Rest dieses Filmes“, führte er aus, „wird den Szenen auf der Oberfläche gewidmet sein, die von den Filmkameras aufgenommen wurden, die von der ersten hier gelandeten Expedition benutzt wurden. Sie werden Venusbewohner sehen, die von Versteck zu Versteck eilen; Sie werden auch eine große Zahl dieser Eingeborenen beobachten, wie sie einen schweren Angriff auf das Raumschiff durchführen. Dann werden Sie der Gefangennahme einer Venusbewohnerin beiwohnen. Dabei verloren zwei unserer Männer ihr Leben. Sie gaben ihr Leben, um den Rückzug ihrer Kameraden zu decken, die das Mädchen gefangen hatten. Ich will hinzufügen, daß bei dieser Gelegenheit auch der Kameramann verwundet wurde.“ Der Sprecher verschwand, doch seine Stimme erzählte weiter. Auf der Leinwand tauchte jetzt eine Dschungelszene auf. „Diese Bilder sind viel klarer und heller als die Wirklichkeit auf der Venus. Sie wurden mit infraroten Farbfilmen aufgenommen.“ Die Dschungelvegetation war von größter Mannigfaltigkeit. Ununterbrochen tropfte es feucht über die Blätter und Stämme der größeren Bäume. Hier und dort standen Pflanzen mit roten Blättern; dann wieder sah man solche von hellem Gelb. Und dann tauchte das erste menschliche Lebewesen auf der Bildfläche auf. Es war ein Mann. Er stand am Eingang zum Dschungel – groß, breitschultrig und schmal in den Hüften. Im Vergleich zu seinem Körper waren seine Beine bemerkenswert lang. Seine Haut glänzte dunkel; der Schweiß oder die Feuchtigkeit der Luft gab ihr einen fast strahlenden Glanz. Als Ben dieses Bild sah, glaubte er zunächst, daß der Farbfilm fehlerhaft sei. Dann aber merkte er, daß die Dinge doch ihre Richtigkeit hatten. Dieser Mann von der Venus hatte eine blaue Hautfarbe – 16
Nach der ersten Überraschung betrachtete Ben die Züge des Mannes mit maßlosem Interesse. Der Venusianer hatte über den etwas zu großen Augen eine erstaunlich hohe Stirn, die etwas zurückzuweichen schien. Die Nase ragte stark hervor, war breit und ließ große, bebende Nüstern erkennen. Ihr Anblick erinnerte Ben an einen feurigen Hengst. Das Gesicht war vollkommen bartlos, wie er überhaupt nicht die geringste Spur von Haaren an sich trug. Auch die Augen schienen wimpernlos zu sein, und er besaß auch keine Augenbrauen. Vollkommen bewegungslos stand er da und starrte volle zehn Sekunden in die Kamera. Dann drehte er sich plötzlich um und verschwand im Dschungel. Dann erst bewegten sich Männer vom Erdenschiff erstmals über die moosige Oberfläche des Planeten. Es waren sechs. Einer trug eine kleine Filmkamera; die anderen waren mit den modernsten Maschinenpistolen bewaffnet. Der Mann mit der Kamera entfernte sich etwas von den anderen, und damit änderte sich auch das Blickfeld. Die die Leinwand beobachtenden Männer blickten nun durch das Objektiv der kleinen Filmkamera. Plötzlich blitzte es vor ihnen indigofarben auf. Das Leuchten kam aus einem nahe gelegenen Dickicht, dessen Blattwerk leicht beiseite geschoben wurde. Was sich dahinter befinden mochte, war im Augenblick noch nicht zu erkennen, wurde aber von den Angehörigen der Expedition gesehen. Zwei der Männer ließen ihre Waffen fallen und stürzten in das Dickicht. Sekunden später tauchten sie wieder auf und zerrten eine wild um sich schlagende Gestalt mit sich – einen weiblichen Venusbewohner. Sie eilten nun auf das Raumschiff zu, das auf einer Seite der Leinwand zu sehen war. Plötzlich aber tauchten weitere Eingeborene aus dem 17
Dschungel auf, die schützend ihre großen Schilde vor sich hielten. Über einem Schild blitzte etwas funkelnd auf, eine Hand wurde sichtbar, und dann wurde ein Messer geworfen. Offenbar hatten die Eingeborenen die Möglichkeit, den Gegner durch eine Schildlücke zu beobachten, auf ihn zu zielen und auch die Waffen zu werfen, während ihre eigenen Körper geschützt blieben. Der Angriff hatte ein verhängnisvolles Ergebnis, denn zwei Erdenmenschen brachen zusammen, ehe der dritte seine Maschinenpistole hätte heben können. Als die aus Bronzeschilden bestehende Mauer durch die Kugeln der Erdenmenschen gesprengt wurde, flog noch einmal ein Messer direkt auf die Kameralinse zu. Es war ein bemerkenswert geschickter Wurf. Das Bild begann hin- und herzuschwanken, wurde dann aber durch eine vom Schiff aus gemachte Aufnahme ersetzt. Dieselbe zeigte, daß der Kameramann verwundet taumelte, und ein Messer in seiner Schulter steckte. Doch die Maschinenpistole hatte gute Arbeit verrichtet. Kein einziger der Krieger war unversehrt geblieben. Das Venusmädchen, das sich noch immer wehrte und kämpfte, wurde näher an das Schiff gebracht. Aus dem verdunkelten Zuschauerraum wurden Rufe der Ehrfurcht und des Staunens laut, als sie jetzt bewegungslos stehenblieb. Ihre Gestalt war wunderbar geformt – mit schlankem Körper und edlen Gliedern. Das Gesicht war sehr weiblich und zeichnete sich durch unvorstellbare Schönheit aus. Sie war stehengeblieben, eine Riesin von seltsamer Schönheit, und die beiden Menschen schienen unfähig zu sein, sie in das Raumschiff zu bringen. Aber dann brach sie ohnmächtig zusammen, und jetzt erst bemerkte man, daß sie verwundet war. Sie hatte eine Wunde an der Seite, aus der eine dunkle Flüssigkeit langsam hervorquoll. 18
Das Bild auf der Leinwand verschwand, und in dem Raum wurde es hell. Die Zuschauer ließen deutlich ihr Bedauern über das Ende der Vorstellung erkennen. „Das ist alles“, rief eine Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. „Sie haben sich morgen früh um 8 Uhr hier zu melden. Dann werden Sie beginnen, die Sprache dieser seltsamen und eigenartigen Rasse zu erlernen.“ Schweigend, aber etwas betäubt über das, was sie in so kurzer Zeit gesehen und erlebt hatten, verließen die Männer den Raum. * Die Muschelbucht war überfüllt. Es schien, als ob jeder der anderthalb Millionen Männer, die sich in den nächsten Tagen an Bord der Raumschiffflotte einschiffen sollten, sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht habe, um hier seine letzte Freizeit mit seiner Freundin zu verbringen. Als sie die Mahlzeit beendet und eine Stunde getanzt hatten, setzten Ben und Jean sich in den Wagen und fuhren hinauf in die Berge, die die Bucht umgaben. Es war Jeans Wagen, der von Ben gefahren wurde. Er wußte genau, wohin er wollte. Schließlich hatten sie den höchsten Punkt der Straße auf dem Gipfel eines Berges erreicht. Von hier aus konnte man gut den Ozean überblicken. Am Himmel war nicht die kleinste Wolke zu sehen. Der Mond war erfüllt von edler Majestät und webte einen silbernen Teppich über den Horizont. Millionen Sterne übersäten den Himmel und schienen in dieser Nacht näher zu sein als jemals zuvor. Eine Weile saßen Jean und Ben schweigend da und nahmen die Schönheiten der Nacht in sich auf. Sie waren früher schon oftmals hiergewesen. Es war Ben, der das Schweigen brach. „Jean?“ sagte er leise. 19
„Bitte“, antwortete sie. „Ich – ich habe heute einen Ring gekauft.“ „Ja?“ fragte sie mit freudiger Stimme. „Es – es ist ein Verlobungsring. Ein Diamant – Weißt du, so einer von den Diamanten, die man in den Venusmuscheln findet –“ Sein Lachen klang gezwungen und unnatürlich. Doch Jean verstand ihn und fiel ihm in die Arme. „Ben“, flüsterte sie leise, „ich wünschte, du hättest mich schon früher gefragt. Wir hätten dann noch vor dem Start heiraten können. Natürlich werden wir heiraten, wenn du wiederkommst.“ „Ach“, meinte er später und mit tiefem Bedauern in der Stimme, „ich hatte solche Angst, daß du nein sagen könntest. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß ein normales Mädel mich heiraten würde – vor allem aber ein Mädchen wie du. Du bist so schön, so wunderbar. Du hättest viel bessere Männer als mich finden können – und deshalb bezweifelte ich, daß du mich nehmen würdest.“ Nach einer Weile setzte er hinzu: „Ich würde es vorziehen, nicht zur Venus zu reisen, um immer bei dir bleiben zu können.“ „Nun“, meinte Jean kichernd. „Vater sagte einmal, der einzige Weg, dich dazu zu bringen, dich zu erklären, bestände darin, dich auf die Venus zu schicken. Dann hättest du wahrscheinlich Mut genug, gerade kurz vor deiner Abreise mit mir zu sprechen. Ich hoffe nur, daß dir nichts geschieht und du unversehrt zu mir zurückkommst.“ „Was kann schon geschehen?“ fragte Ben. „Wir werden so sicher sein, als ob wir die Erde niemals verlassen hätten, und in weniger als einem Jahr werden wir zurückkehren.“ „Dann können wir heiraten“, ergänzte sie, „und können eine eigene Wohnung im Offiziersheim verlangen. Komm nur zurück, Ben“, drängte sie, „komm bald zurück, was auch immer geschehen mag.“ „Natürlich komme ich zurück“, versicherte Ben laut. 20
* Die Raumschiffflotte war startbereit. Die Schiffe unterschieden sich wesentlich von dem ersten, das die Reise durch den Raum gemacht hatte. Ohne Hilfe konnten sie den Boden nicht verlassen und wurden bis in die Stratosphäre gebracht. Danach war es ihre Aufgabe, den eigenen Weg allein fortzusetzen, nachdem sie von dem ersten wirklichen Raumschiff hinauf in das All gebracht worden waren. Bei diesem Raumschiff handelte es sich um jenes Fahrzeug, das bereits einmal die Reise zur Venus gemacht hatte und nun als Mutterschiff der Flotte galt. Fast dreieinhalb Kilometer lang und im Mittelpunkt nahezu 500 Meter breit, hatte das Mutterschiff für seinen Bau und die Fahrt zuviel von den irdischen Beständen an Atomkräften und wertvollen Metallegierungen gebraucht, die die Außenhülle zu einer nahtlosen Einheit machten. Es war zu kostbar, noch einmal nachgeahmt zu werden, und noch weniger wäre es möglich gewesen, viele solcher Raumschiffe herzustellen. Dieses Riesenschiff würde die kleineren Fahrzeuge nach oben bringen, bis auch das letzte von ihnen sich auf dem. Wege zur Venus befand. Dann würde es folgen und den Planeten umkreisen, bis es Zeit war, die Flotte dort wieder abzuholen, damit sie auf die Erde zurückkehren konnte. Die Kückenflotte, wie man sie genannt hatte, konnte ohne Hilfe auf einem Planeten landen, zumal die Schiffe mit einziehbaren Flügeln ausgestattet waren und einen Rumpf besaßen, der nach menschlichem Ermessen als stoßfest galt. Jedes Schiff also konnte nach Belieben durch das All steuern und die Venus anfliegen, oder von ihr zurückkehren; nur die Startmöglichkeit von einem Planeten fehlte ihnen. Am Morgen nach seiner letzten Zusammenkunft mit Jean 21
studierte Ben gründlich seinen Einsatzbefehl. Dabei kam Fred Larkins auf ihn zu und hielt ein ähnliches Papier in der Hand. „Auf welchem Schiff bist du, Ben?“ fragte er. „Auf Kücken 1“, antwortete Ben. „Ich auch“, nickte Fred. „Das ist wirklich fein. Wie hat es denn gestern mit Jean geklappt? Ich habe dich zufällig gesehen, und du würdest mich auch erkannt haben, wenn du für etwas anderes als deine Begleiterin Augen gehabt hättest.“ „Es tut mir leid, Fred“, antwortete Ben entschuldigend, „doch ich habe dich wirklich nicht gesehen. Du kannst mir aber gratulieren. Ich habe schließlich doch noch den Mut aufgebracht, und wir heiraten, wenn das alles hinter uns liegt.“ „Das ist wunderbar für dich“, rief Fred überrascht aus. „Ich gratuliere dir. Und vergiß nicht, ihr jeden Tag zu schreiben. Frauen ihrer Art verlangen so etwas.“ „Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, gab Ben zu und seufzte. „Fast ein Jahr lang werde ich sie weder sehen noch einen Brief von ihr bekommen.“ „Das sollte dir eigentlich eine Erleichterung sein“, grinste Fred. „Das blonde Mädchen, mit dem ich letzte Nacht aus war, tat alles, um mich zu angeln, aber – bei mir ist nichts zu machen. Wenn das alles vorbei ist, bin ich ein Held und kann damit bedeutend höhere Ansprüche stellen.“ Lahm meinte Ben: „Reden wir nicht mehr davon. Ich fühle mich fast wie ein Gefangener, den man zur Zwangsarbeit verurteilte. Aber man gewöhnt sich auch hieran“, fügte er trocken hinzu. „Weißt du“, flüsterte er geheimnisvoll grinsend, „ich bin nämlich schon dreimal zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden, und als man mich das dritte Mal lebenslang nach Rock schickte, fragte mich der Kapitän des Gefängnisbootes von San Franzisko: ‚Wo ist der Fünfer, den ich dir bei der letzten Fahrt geliehen habe?’ Worauf ich entgegnete …“ 22
„Wie kann ich mich nur von dir Narren befreien?“ lachte Fred verzweifelt. „Gewöhnen Sie sich daran, mein Sohn“, unterbrach ihn eine neue Stimme. „Das ist alles, was Sie in den nächsten zehn Monaten normal erhalten kann.“ Ben und Fred wandten sich dem Ankömmling zu und nahmen Haltung an. Es war Georges Ley, der kommandierende Offizier von Kücken 1 und Veteran der Jungfernfahrt zur Venus. „Rühren“, sagte er grinsend. „Ich habe gehört, daß Sie auf meinem Kücken mitreisen wollen.“ „Jawohl, Sir!“ antworteten Ben und Fred gleichzeitig. „Nun, nehmt die Dinge, wie sie kommen“, meinte jener. „Eines werden Sie schon merken, wenn wir erst gestartet sind: daß wir alle da draußen menschliche Wesen und nicht Teile eines militärischen Apparates sind. Das einzige, was ich unter meinem Kommando nicht haben will, sind Fatzken. Nun gehen Sie und machen Sie sich an die Arbeit. Vor der Stunde Null haben wir noch viel zu tun.“ „Jawohl, Sir!“ antworteten Fred und Ben, grüßten, wandten sich um und hasteten davon. Georges Ley beobachtete sie mit einem befriedigten Lächeln auf seinem charaktervollen Gesicht. Die würden schon in Ordnung sein. * „In Ordnung! Weitergehen! Macht Platz für die anderen Burschen!“ Die Stimme des Verschiffungsoffiziers klang sehr gelassen, als ob er Touristen auf einer Eisenbahnstation nach irgendwohin dirigiere. Fred und Ben schritten weiter, wobei sie ihre Ausweise 23
krampfhaft in den Händen hielten, Ordonnanzen folgten ihnen mit dem wichtigsten Gepäck. Der Bus, den sie besteigen sollten, wartete draußen an der Kurve. „Sieh dir das einmal an“, sagte Fred verwundert. „Heereshelferinnen!“ „Kommen denn auch Frauen mit?“ rief Ben aus. „Ich hoffe es aufrichtig“, entgegnete Fred ehrlich. „Ich habe zwar nichts gegen die Venusfrauen, doch wenn ich mich an ihr Aussehen erinnere, ziehe ich doch die daheim gewachsenen Weiblichkeiten vor. Ich müßte schon hübsch blau sein, um mit einem dieser eingeborenen Mädchen anzubinden,“ Er lachte hohl über seinen eigenen Scherz. Ben sah ihn prüfend an. „Ich möchte bezweifeln, daß dir ein eingeborenes Mädchen überhaupt einen zweiten Blick zuwirft. Schau dich doch nur einmal an, du bist ja behaart –“ Er erschauerte in gutgespieltem Entsetzen. Die beiden Männer bestiegen den fast besetzten Bus und fanden hinten noch zwei Plätze. Sie sahen sich neugierig um und erkannten die meisten Passagiere als alte Bekannte. Die Heereshelferinnen wurden von ihnen sorgsam gemieden. Es waren vier; zwei amerikanische Mädchen, eine Chinesin und eine Russin. Die im Zusammenhang mit diesen Frauen erlassenen Befehle waren sehr streng, denn mehr als ein Mann hatte seine Laufbahn in der Armee ruiniert, weil er mit einer solchen Frau anders als dienstlich gesprochen hatte. Hierüber gab es übrigens besondere Vorschriften: Sollte nämlich die Expedition zur Venus mit einem Fiasko enden, so daß eine Rettung unmöglich war, dann sollte es Aufgabe der Überlebenden sein, auf der Venus eine Erdkolonie zu errichten. Das war der eigentliche Grund für die Anwesenheit der Frauen. Doch so lange nicht ein solches ernsthaftes Unglück geschah, mußten die erlassenen Anordnungen genau beachtet werden. Der Bus erreichte die Anfahrt zum Raumhafen. Die Passagiere 24
stiegen aus und begaben sich zu zweit oder zu dritt in den Warteraum. Dort befand sich eine riesige Bar, hinter der ein ebenso großer Spiegel angebracht war. Auch gab es eine lange Speisetheke. Überall standen Tische und Stühle. An einer Wand war eine Musicbox neuester Art befestigt, die fast so groß wie ein Zirkus und ebenso eindrucksvoll schien. Ein Ventilator sorgte für frische Luft. „Was möchtet ihr denn haben, Leute?“ fragte ein Barkeeper und grinste breit. „Heute haben wir alles im Haus.“ Fred und Ben ergriffen ihre Bierflaschen und gingen durch den Raum bis an einen Tisch an einer entfernten Wand. Eine Kellnerin nahm diensteifrig die Bestellung entgegen, ihnen belegte Brötchen zu bringen. Dann machten sie es sich bequem. Soviel sie wußten, war es das letztemal, daß sie sich in der Zivilisation bewegten. Wenn sie erst diesen Raum verließen, würden sie sich sofort an Bord ihres Schiffes begeben und dort bleiben müssen. „Warum können wir eigentlich nicht auf der Erde bleiben?“ fragte Ben bedauernd. „Besitzt die Venus denn etwas, das unser Planet nicht hat?“ Er seufzte, lehnte seinen Stuhl zurück an die Wand und legte die Füße auf den Tisch. Etwa eine Stunde später, als die Leute im Warteraum bereits wie die Sardinen aufeinander saßen, kam Georges Ley vorbei. Gleich darauf gab ein Lautsprecher bekannt, daß das Personal von Kücken 1 sich an Bord zu begeben habe. Jetzt war es soweit. Ausgang 3, aber auch jeder der anderen sieben Ausgänge zum Flugfeld, öffnete sich auf das wahrscheinlich großartigste Bild, das jemals von Menschen erblickt worden war. In zwei gleichen Reihen ausgerichtet, standen die Raumschiffe startbereit und sahen mit ihren noch angelegten Flügeln wie riesige Stopfnadeln aus. In zwei Reihen standen 150 Raumschiffe, und jedes von ih25
nen war fast so groß wie ein Ozeandampfer. Ein großer Höcker am vorderen Teil eines jeden Raumschiffes enthielt die einziehbaren Flügel, die mit einer schweren Panzerung bedeckt waren. Im Heck des Schiffes, an seinen Seiten wie auch vor und unter dem Flügelhöcker waren Raketendüsen zum Steuern und zum Wechseln der Geschwindigkeit angebracht. Unweit der Steuerung waren Platten eingebaut worden, die vor der Landung des Fahrzeugs auf einem Planeten mit Atmosphäre in letzter Minute herausgeschwungen werden konnten, um als Schwanzflossen und zur Ausnutzung des Luftwiderstandes zu dienen. Mit ihrer Hilfe würde das Schiff sicher und ausgeglichen landen können. Trotzdem hatte man die Vorsichtsmaßnahmen ungeheuer weit getrieben. So hatte man den Stoßdämpfermechanismus so eingerichtet, daß das Schiff mit einer Geschwindigkeit von 200 Kilometern selbst in eine Bergwand hineinrennen konnte, ohne daß ein Angehöriger der Mannschaft bei dem Aufprall sein Leben verlor. Außerdem mußten sie sich vor der Landung auf sogenannten Schockbetten anschnallen. Jedes Raumschiff hatte 10 000 Personen und 30 000 Tonnen Fracht zu transportieren. Beladen würde ein jedes Fahrzeug 83 000 Tonnen wiegen – und es waren 150 solcher Schiffe vorhanden. Es war die vollendete Arbeitsleistung einer Welt, die mit sich selbst im Frieden lebte, eine Leistung, an der alle mitgearbeitet hatten. Das behaupteten die Zeitungen, und sie hatten auch recht. Die Streitereien würden erst später kommen, wenn jede Nation nach einer beherrschenden Position auf einem der drei bewohnbaren Kontinente der Venus streben würde. Ben und Fred waren die ersten, die den Bus verließen, der sie über den Flugplatz zum Kücken 1 gebracht hatte. Überall sah man schnellfahrende Autobusse und Transportwagen. Der größte Teil der Fracht war bereits verladen worden. Doch es 26
blieben noch anderthalb Millionen Menschen zu verschiffen – eine ungeheure Aufgabe, die in zwei Tagen bewältigt werden sollte. Im Kontrollabteil befanden sich zwei Heereshelferinnen, die die automatischen Registrierapparate bedienten. Die beiden Männer gaben ihre Ausweise ab. Diese wurden vor ihren Augen in den Apparat gesteckt, und im Bruchteil einer Sekunde wurde den Wartenden das für sie bestimmte Resultat übergeben. So lernten sie die Abteilung kennen, der sie zugeteilt waren, ihre Pflichten und Aufgaben, bekamen Verzeichnisse und andere Papiere ausgehändigt. Die Männer wurden schnell durch einen Schacht geschleust und dann von Angehörigen der ständigen Schiffsbesatzung in ihre Unterkünfte gebracht. Ben legte seine Sachen auf eines der Betten in seiner Kabine und ging dann mit Fred weiter zu dessen Unterkunft. „Was mag das bedeuten?“ fragte er dabei und deutete auf eine Anzahl Buchstaben, die auf seiner Karte hinter den übrigen Angaben standen. „Hm“, meinte Fred nachdenklich, „S. D. oder S. B. Es kann entweder Spezialeinheit oder Sondereinsatz an Bord des Schiffes bedeuten. Was es heißt, weiß ich auch nicht genau. Vielleicht handelt es sich um eine ganz neuartige Ausdrucksweise, die nur hier gebräuchlich ist.“ Er grinste. „Wahrscheinlich werden sie dich einsetzen, die entwässerten Kartoffeln wieder mit Wasser zu versehen. Aber warte mal einen Augenblick; ich habe etwas übersehen. Dahinter steht noch R. P. T. bei KM 0:000. Das kenne ich, und es bedeutet, daß du dich sofort beim Kommandanten zu melden hast!“ „Wo werde ich ihn finden?“ fragte Ben nervös. „Das kannst du wahrscheinlich in unserem Instruktionsbuch nachlesen.“ Die beiden Männer durchblätterten hastig ihre Taschenführer. Sie hatten nicht lange zu suchen. Ein schematischer Bau des 27
Schiffes, der auf dem Umschlag wiedergegeben war, zeigte ihnen den gesuchten Ort. Bald hatte Ben sein Ziel erreicht und klopfte. Die Tür wurde von einer Ordonnanz geöffnet, die zur Seite trat und ihn bat, in die Kabine einzutreten. „Sie sind also Benjamin Arnold“, begrüßte ihn Ley. „Nun, um so besser. Obgleich Gretta nur wenig Sinn für Humor hat, werden Sie es schon fertigbringen, mit ihr auszukommen.“ „Jawohl, Sir!“ nickte Ben und grüßte höflich. Sein Gesicht ließ deutlich seine Neugier erkennen, doch er beherrschte sich. Ley sah ihn eine Weile spöttisch an. „Sind Sie denn gar nicht neugierig?“ fragte er lächelnd. „Doch, Sir“, gab Ben zu und meinte: „Aber ich habe vor langer Zeit gelernt, daß es in der Armee eigentlich nur eine Möglichkeit gibt, schnell etwas herauszufinden. Man muß den Mund halten und auf seine Vorgesetzten hören.“ „Das ist ein zwar langweiliges, aber erfolgversprechendes Unternehmen“, grinste Ley. „Nun, ich will Ihre Neugier befriedigen. Gretta ist der Name, den wir dem Venusmädchen gegeben haben. Sie aber haben das zweifelhafte Vergnügen, ihre Bekanntschaft zu machen und sollen auf der Reise zur Venus versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen.“ Georges hob eine Hand zum Gesicht, um ein Lächeln zu verbergen. „Wir haben beschlossen, Ihnen in dieser Beziehung vollkommen freie Hand zu lassen“, fuhr er fort. „Wenn Sie es versuchen, wird es schon gehen, und wenn Sie es fertigbringen; daß sie sich in Sie verliebt, ist es noch besser. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist es nur wünschenswert, festzustellen, ob die beiden Rassen überhaupt zueinander passen. Doch in dieser Hinsicht geben wir Ihnen begreiflicherweise keine Befehle. Lassen Sie sich also ganz von der Vernunft leiten.“ 28
„Ich bitte“, rief Ben erregt, „halten Sie mich aus dieser Angelegenheit heraus! Ganz abgesehen von vielen anderen Gründen bin ich mit der Tochter General Greens verlobt. Wir werden heiraten, sobald ich zurückkehre.“ Kapitän Ley ging an einen Likörschrank aus Mahagoniholz und öffnete ihn, wobei er Ben den Rücken zudrehte. „Wissen Sie“, sagte er, „daß ich Sie wegen Ihrer letzten Bemerkung erschießen lassen könnte? Ich bin der Meinung, daß die erlassenen Befehle eindeutig und klar sind. Es ist Ihre Aufgabe, mit allen erdenklichen Mitteln zu versuchen, Grettas Freundschaft zu gewinnen. Wie Sie es tun, ist allein Ihre Sache. Aber wenn wir die Venus erreicht haben, muß sie Ihnen aus der Hand essen, verstanden?“ „Wird sie denn wenigstens Kleider tragen?“ fragte Ben, und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. „Ja, sie ist bekleidet“, nickte Kapitän Ley, „obgleich sie an solchen Dingen nur wenig interessiert ist. Sie ist hübsch, wenn man es so nennen kann, und empfindet einen instinktiven Ekel vor allem, was schmutzig ist. Sie werden sich jedesmal, bevor Sie sie sehen, gründlich rasieren müssen. Doch die Haare auf dem Kopf brauchen Sie sich ihretwegen nicht abscheren zu lassen. Sie hat inzwischen begriffen, daß die Kopfhaare ein Körperteil der Erdenmenschen sind.“ Er drehte sich wieder um und bot Ben einen Drink an. „Zwei Gründe waren ausschlaggebend, gerade Sie mit dieser Aufgabe, zu betrauen. Einerseits sind Sie mit der venusianischen Sprache besser vertraut als jeder andere, und dann sind Sie über 1,90 Meter groß und damit fast so groß wie sie. Sie haben demnach alle Aussicht, ihre Freundschaft zu gewinnen.“ „Aber was ist denn mit den Leuten, die ihr seit ihrer Gefangennahme Gesellschaft leisteten?“ fragte Ben verzweifelt. „Sie mag keinen von ihnen“, erwiderte Kapitän Ley verächtlich. „Ich will nicht verschweigen, daß ich auch zu denen ge29
hörte, die versuchten, ihre Freundschaft zu gewinnen, ohne daß es mir gelang. Sie duldet mich gerade noch, und das ist alles. Aus diesem Grunde erhielt ich auch das Kommando auf Kücken 1. Ich bin der einzige, den sie duldet, und den sie anhören wird.“ „Nun“, Ben drehte nervös sein Glas zwischen den Fingern hin und her, „ich nehme an, daß Befehle ausgeführt werden müssen. Ich werde mein Bestes tun, um Grettas Freundschaft zu erlangen, weil ich einsehe, daß Frieden und Krieg zwischen uns und den Venusbewohnern davon abhängen kann.“ „Trinken Sie Ihr Glas aus; danach werde ich Sie ihr vorstellen. Sie bewohnt den Raum neben dem meinen.“ „So plötzlich“, murmelte Ben und leerte sein Glas auf einen Zug. Er folgte Kapitän Ley an eine in die Seite des Raumes eingelassene Tür. Nachdem der Kapitän diese aufgeschlossen und geöffnet hatte, betraten sie einen ebenso luxuriös eingerichteten Raum. Die Person, die sich aus ihrem tiefen Sessel hob, um sie zu begrüßen, war in der gebräuchlichen Umgangssprache kaum zu beschreiben. Sie war eine gutproportionierte Frau von etwas mehr als zwei Meter Länge, vollkommen haarlos, ohne Augenbrauen und Wimpern. Sie hatte ein weiblich schönes Gesicht, sofern man die breite Nase mit den weiten, bebenden Nüstern nicht beachtete, besaß einen schöngeformten Mund, warme, große Augen und dazu einen Körper, um den Miß Amerika sie hätte beneiden können. Die Frau steckte in einer eigens für sie angefertigten Uniform für Heereshelferinnen. In diesen Minuten der Vorstellung fühlte Ben, daß er bereits bei dieser ersten Zusammenkunft etwas von ihren Sympathien gewonnen hatte. Sie schien leicht kokett zu sein, mehr als ein wenig selbstbewußt, und ihre Gesichtsmuskeln stellten eine leicht verständliche, universelle Ausdruckssprache dar. Ihr Lächeln ist sehr schön, dachte er, und ihre Stimme klingt 30
viel angenehmer, als ich sie von den Tonbandaufnahmen in Erinnerung hatte. Ganz gegen seinen Willen fühlte sich Ben innerlich irgendwie gelöst und freute sich über diese Zusammenkunft. Er ertappte sich sogar bei dem Gedanken, daß die Erledigung dieser Sonderaufgabe nicht einmal so unangenehm sein dürfte. Gretta war von vollkommener Weiblichkeit. Ihre Sprache, die er sich nach den Tonbändern in so mühevoller Arbeit beigebracht hatte, begann in seinen Gedanken zu leben, als ob er sie benutzte und sie von Gretta gesprochen hörte. Ihm fiel gar nicht auf, daß Georges Ley den Raum verlassen hatte; dann aber überkam es ihn wie ein Schock, als er begriff, daß er sich mit dem Venusmädchen so sehr beschäftigt hatte, daß ihm Georges Weggang nicht einmal aufgefallen war. Ben zwang sich jetzt, seine Gedanken nicht mehr weiterschweifen zu lassen, sondern konzentrierte sich auf Grettas Nase. Dabei versuchte er, sich einzureden, daß sie kein Mensch im eigentlichen Sinne des Wortes sei. Zumindest war sie nicht das, was er sich unter einem Menschen vorstellte. Von dieser ersten Zusammenkunft kehrte er sehr vergnügt und zugleich erfreut zurück, ohne ein Gefühl der Enttäuschung zu verspüren, Doch als Kapitän Ley ihn befragte, konnte er sich zu seiner Verlegenheit keines einzigen Themas entsinnen, über das er mit Gretta gesprochen hatte. Er erinnerte sich lediglich an ihren dynamischen, lebenden Körper, die interessierten Augen und an den ausdrucksvollen Mund – alles in allem eine Sinfonie in Indigo. Was aber kann eine Frau sonst sein, wenn nicht eine Melodie, eine Sinfonie des Ausdrucks und der Formen? * Es kam die Stunde Null. Alle an Bord verspürten die ersten Bewegungen, als Kücken 1 auf den Rumpf des gigantischen 31
Mutterschiffes gebracht und nach oben geschoben wurde. Sie hörten deutlich die Geräusche, als die Klammern gegen die Außenwand schlugen und ihr Fahrzeug dann verankert wurde. Als das Raumschiff sie dann nach oben und hinauf in den Raum trug, verspürten sie deutlich die Steigerung ihres Gewichtes. Sie waren gestartet –! Sehen konnten sie allerdings nichts. Nur Kapitän Ley und seine Offiziere hatten die Möglichkeit, auf dieser Reise durch das All ins Freie zu blicken. Dennoch war der Gedanke, daß sie in ein oder zwei Stunden weit von der Erde entfernt und bereit sein würden, vom Mutterschiff abgeschossen zu werden, um ohne Hilfe einen eigenen Weg durch das All zu suchen und zur Venus zu fliegen, für die Leute an Bord ungemein aufregend. Sie konnten sich jeden einzelnen Abschnitt ihres Fluges bildhaft vorstellen, denn während ihrer Ausbildungszeit waren sie mit den einzelnen Phasen der Expedition vertraut gemacht worden. Auch hatte man ihnen die Dinge auf Bildern und Karten sowie durch Filme dargestellt; zudem hatte jeder von ihnen das Mutterschiff das eine oder andere Mal richtig gesehen. Heute wußten sie, daß das Mutterschiff unbedingt so gewaltig groß sein mußte, Wie es erbaut worden war, weil sonst das Prinzip des Dahinfliegens gestört worden wäre. Für einen Raumflug waren Beispielsweise viele Millionen elektrostatischer Voltströme erforderlich, die die Flugbasen mit dem notwendigen Druck versahen. Es hätte folgenschwere Abweichungen in der Navigation gegeben, wenn man das Schiff kleiner erbaut hätte. Doch keiner der Insassen hätte sagen können, wann sie von dem riesigen Schiff ausgeschossen worden waren, so sanft ging der eigentliche Start vor sich. Als die melodiöse Raumschiffglocke zu läuten begann und damit anzeigte, daß sie sich jetzt auf dem Weg befanden und durch eigene Kraft flogen, wurden 32
viele Rufe des Unglaubens laut. Wie war es denn möglich, daß sie bereits unterwegs waren? Es war nicht die geringste Bewegung zu verspüren, und es hatte weder Stoß noch Druck gegeben, als sie aus dem Mutterschiff ausgeschossen worden waren, um allein in den Raum vorzudringen. Erst, wenn man in die Nähe der Wände der verschiedenen Abteilungen kam, fühlte man, daß die normale Erdanziehung verschwunden war. Hier überkam einem ein Gefühl der Leichtigkeit und des Schwindels. „Bis jetzt ging es ganz gut“, meinte Fred. „Wir sind bereits eine Woche unterwegs und haben noch kein Leck in der Hülle.“ Er blickte Ben an, der verträumt zu Boden starrte und offenbar von den Worten des anderen nichts gehört hatte. „Was ist los mit dir, Ben?“ fragte er ärgerlich. „Du bist in der letzten Zeit richtig verschroben geworden. Sage mir nur jetzt nicht, daß du dich in diese unzivilisierte Venusdame verliebt hast! Ich glaube nicht, daß Jean hierüber begeistert wäre.“ „Behalte deine Bemerkungen freundlichst für dich“, antwortete Ben brummig. „Wenn es zu einer Kraftprobe kommen sollte, dann hätten die Venusianer wahrscheinlich eher das Recht, sich auf das Wort zivilisiert zu berufen als wir. Aufrichtig gesprochen, gefällt mir dieser mächtige Angriff auf den Planeten in keiner Weise. Ich bin der festen Meinung, daß wir unser Ziel viel leichter erreichen würden, wenn wir mit einer kleinen Gruppe erschienen, die in Frieden und Freundschaft vorgeht.“ „Gehen wir denn nicht in Freundschaft vor?“ fragte Fred, und seine Stimme drückte maßloses Erstaunen aus. „Quatsch“, brummte Ben böse. „Warum müssen es dann anderthalb Millionen Leute sein – in voller Kampfausrüstung? Merk’ dir mal, was ich dir jetzt sage: Freundschaftliche Beziehungen knüpfen wir erst an, wenn wir auf dem Planeten festen Fuß gefaßt haben, und keine Minute früher.“ „Das ist nur zu natürlich“, meinte Fred. „Das entspricht doch 33
dem logischen Menschenverstand. Die Venusianer bestehen nur aus wandernden Banden von Wilden. Sie besitzen keine Zentralregierung, mit der wir verhandeln könnten. Wir können ganz einfach nicht anders vorgehen, sondern müssen uns erst einmal Stützpunkte sichern. Anschließend werden wir versuchen, sie als Freunde zu gewinnen.“ „Durch ein solches Vorgehen wird nichts anderes als Ärger entstehen“, sagte Ben mißmutig. „Die Venusianer besitzen eine Zentralregierung. Natürlich ist dieselbe eine rein religiöse Macht, aber sie verfügt über die absolute Gewalt. Solange wir nicht deren Freundschaft gewonnen haben, werden wir auch mit den einzelnen Stämmen nicht weiterkommen. Das wirst auch du bald feststellen, warte nur ab!“ „Sag’ mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?“ fragte Fred spaßhaft. „Auf der unseren natürlich“, entgegnete Ben ernst, „aber das bedeutet keineswegs, daß ich mit allem einverstanden bin, was wir unternehmen. Hast du jemals etwas über die Geschichte der Erde gelesen? Ich denke an den Weg, den die weiße Rasse beschritt, wobei sie alles Wertvolle an Kulturgütern zerstörte, ehe sie begann, diese Kultur zu studieren. So ist es bei uns immer noch gewesen. Zuerst gehen wir hin und übernehmen die Herrschaft, wobei wir die Gegner töten. Dann schicken wir Geschäftsleute und Missionare aus, um das Land zu industrialisieren und zu bekehren. Anschließend, wenn es dort aussieht wie auf einem Hinterhof von Bronx (Stadtteil von New York), marschieren die Forscher und anderen Gelehrten auf und fahren in ihren Wagen spazieren, um schließlich ein Buch über das Land und seine Kultur, geschichtliche Überbleibsel und seine Religion zu veröffentlichen. Genau dasselbe wird sich auch jetzt ereignen, diesmal allerdings mit einem ganzen Planeten.“ „Nun“ meinte der praktisch denkende Fred, „dagegen läßt sich wohl nichts tun. Wir müssen den Befehlen gehorchen, und 34
deshalb höre jetzt auf, dir den Kopf zu zerbrechen: Auch ich habe meine Anordnungen bekommen und habe die Absicht, sie buchstabengetreu zu befolgen. Mich jedenfalls wirst du nicht wegen Hochverrats am Galgen sehen – nur ein paar blauer Nasen wegen, haha –!“ Er blickte auf Bens sorgenvolles Gesicht. „Wenn man sich die Dinge richtig überlegt, mag manches nicht so sein, Wie wir es wünschen“, fügte er lahm hinzu, um in einem etwas freundlicherem Tonfall fortzufahren: „Schau, Ben, warum verzichtest du nicht darauf, die Probleme der Venus auf deine Schultern zu nehmen? Schreib’ deine Rapporte, erfülle deine offiziellen Aufgaben und mach’ dir keine Sorgen.“ „O. k., Fred“, nickte Ben. „Jedenfalls werde ich dich mit meinen Sorgen nicht mehr belästigen.“ Ben und Fred grinsten sich an, als das Schiff plötzlich heftig zu taumeln begann und ein so starker Stoß das Fahrzeug erschütterte, daß beide schwer zu Boden fielen. „Was war das?“ rief Fred und suchte nach einem Halt. Drei weitere, ungemein starke Stöße folgten, die sie gegen eine Wand schleuderten. Von überall ertönten schrille Pfiffe, während über den Lautsprecher bekanntgegeben wurde, daß die Abteilungen G und N havariert waren. Ben richtete sich vorsichtig auf und beugte sich über Fred, der bei dem letzten Anprall die Besinnung verloren hatte. Er schlug die Augen auf, als Ben eben versuchte, ihn auf ein Bett zu tragen. Im Lautsprecher begann es zu knattern, und dann kündete eine ruhige Stimme an: „Die Abteilungen G und N sind leck. Sucht die Rettungsstationen auf! Das Schiff hat vielleicht noch weitere Lecks erhalten. Wir durchqueren ein ungenau berechnetes Asteroidengebiet. Alles auf Rettungsstationen!“ 35
Dann, sofort danach, sagte die Stimme: „Leutnant Arnold meldet sich zum Rapport beim Kapitän.“ „Ich muß gehen“, sagte Ben hastig. „Kann ich dich allein lassen?“ „Sicher“, antwortete Fred mit schwacher Stimme. „Es war nur ein Schlag auf den Kopf. In einer Minute fühle ich mich wieder besser. Geh’ nur!“ Ben eilte schnell aus der Kabine und rannte vorwärts. Als er den Wohnraum des Kapitäns betrat, deutete Georges Ley nur wortlos auf Grettas Tür, um sich dann schweigend wieder seinem Schreibtisch und dem Telefon zuzuwenden. Er kaute nervös an einer Zigarre, während er den aus der Kanzel kommenden Meldungen über die Asteroiden lauschte. Ben verschwendete keine Zeit. Er öffnete die Tür zu Grettas Wohnraum und erwartete, die blaue Venus in hysterischen Angstzuständen vorzufinden. Statt dessen aber kam sie ihm mit einem frohen Gesichtsausdruck entgegen. „Sind wir schon auf der Venus?“ fragte sie. „Diese Stöße – bedeuten sie, daß wir gelandet sind?“ „Nein, Gretta“, antwortete Ben und war erleichtert, als er ihre Ruhe sah. „Wir sind nur von einigen Meteorbrocken gestreift worden. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, ehe du zu Hause bist.“ Sie zuckte resigniert ihre schönen Schultern. „Es ist mir gleichgültig. Solange ich dich als meinen Gefährten habe, macht es mir nichts aus, wann ich heimkomme.“ Sie warf ihm einen warmen, liebevollen Blick zu und schaute dann scheu fort. In der Woche, die seit ihrer Bekanntschaft vergangen war, hatte Gretta sich sehr verändert Sie war in mehr als einer Hinsicht fast so etwas wie eine Erdenfrau geworden und zeigte sich ihm gegenüber von seltsam scheuem Wesen. Kapitän Ley hatte ihr viele Bilder von Erdenfrauen zeigen müssen, weil sie von 36
ihnen erlernen wollte, wie sie sich benahmen, wie sie sich anzogen und so fort. Stundenlang hatte sie geübt, um das nachzuahmen, was sie auf den Bildern gesehen hatte. Die vielen Kleider, die man eigens für sie geschneidert, und die sie zuvor absichtlich übersehen hatte, zog sie jetzt begeistert an. Ben verspürte ein leichtes Pressen in seiner Kehle, als sie jetzt ihre Blicke von ihm abwandte. Er haßte sich selbst, weil er es gleichgültig zugelassen hatte, daß Gretta sich in ihn verliebte, er haßte Kapitän Ley, weil dieser ihn in diese Rolle hineingezwungen hatte, und mußte doch ehrlich zugeben, daß auch er begann, Gretta mit den Augen eines Verliebten zu betrachten. Das früher erfolgreiche Schutzmittel, nämlich ein langer Blick auf Grettas fremde Nase und den kahlen Kopf, genügte nicht mehr; für ihn sah ihre Nase nun schön aus, und das Fehlen von Haar schien nicht länger eine Unzulänglichkeit zu sein, sondern diente dazu, die schönen Umrisse ihres gutgeformten Kopfes zu betonen. Impulsiv streckte sie ihre Hand aus, ergriff die seine und führte ihn an einen Stuhl. „Wir wollen miteinander ein wenig Schach spielen, Ben“, sagte sie. „Ich weiß, daß es nicht deine gewohnte Zeit ist, bei mir zu sein. Wahrscheinlich glaubte Kapitän Ley, daß ich Angst habe, und er schickte dich, um mich zu beruhigen. Wenn meine Vermutung richtig ist und der Kapitän hereinkommen sollte, dann kannst du ihm sagen, daß eine Partie Schach mich beruhigen kann.“ „Wenn du keine Angst hast, ist es vielleicht besser, ich gehe wieder und schaue zu, ob ich an Bord nicht helfen kann“, meinte Ben mit unsicherer Stimme. „Wenn du das tust, werde ich ganz laut schreien, und dann wird Ley dir befehlen, bei mir zu bleiben“, kündete Gretta an. „Da sich 10 000 Mann an Bord befinden, wirst du als einzelner gewiß nicht benötigt.“ 37
Sie schob ihn spielerisch in den Stuhl, beugte sich über ihn und küßte ihn. Er war zu überrascht, um mehr zu tun, als sie anzublicken. Dann richtete sie sich wieder auf und sah ihn an. „Das war hübsch, nicht wahr?“ fragte sie. „Ich habe das heute früh durch einen Film gelernt. Das tun Erdenmädchen, wenn …“ Sie wandte sich plötzlich ab, ging an eine Schublade und holte das Schachbrett sowie einen Kasten mit Figuren hervor. „Sei doch etwas freundlicher, Ben“, sagte sie, als sie zurückkehrte. „In jüngster Zeit machst du immer so ein komisches Gesicht. Hör’ einmal“, fuhr sie munter fort, „wenn du mich im Spiel schlagen kannst, werde ich für dich tanzen. Erdenmädchen tanzen gern, und das tun wir auch auf der Venus. Würde dir das gefallen?“ Sie blickte ihn versonnen an. „Natürlich, Gretta“, antwortete Ben und bemühte sich, ein Lächeln zu zeigen. „Dann werde ich auch nicht warten, bis du mich im Schach geschlagen hast“, sagte Gretta schnell. „Du hast noch nicht gesehen, wie wir auf der Venus tanzen können, und das werde ich dir jetzt zeigen.“ „Hier …“ Sie eilte in einen Nebenraum und kehrte mit einer Trommel zurück, die die Form einer etwa 90 Zentimeter langen und nicht allzu breiten Röhre hatte, und aus dünnen Leder gefertigt war. „Ich habe Kapitän Ley überreden können, mir das Material zu beschaffen. Die Trommel habe ich mir selbst angefertigt“, erklärte sie. „Du mußt sie folgendermaßen erklingen lassen …“ Sie schlug einen leisen, bestimmten Rhythmus, und Ben, froh, etwas zu tun zu bekommen, ahmte den Rhythmus nach einigen Versuchen richtig nach. Gretta hörte ihm eine Weile kritisch zu. Dann schien sie mit seinen Künsten zufrieden zu sein. Sie begann ihren Tanz. Er bestand aus einer langsamen, rhythmischen Bewegung in kurzen Schritten. 38
„Das ist der Tanz von M’bong-Ah“, erklärte sie, „der Tanz der Tempelmädchen für die Venusgötter. Wir alle müssen ihn erlernen, solange wir noch jung sind, denn wir wissen nicht, wer von uns und wann wir ausgewählt werden, in einem der Tempel zu tanzen. Deshalb müssen wir immer bereit sein.“ Gretta wechselte jetzt den Schritt. „Das ist der Tanz für den großen Eisgott, der im Mittelpunkt der Gewässer wohnt“, erzählte sie weiter. „Jeder Priester muß in einem Boot die Pilgerfahrt zum Sitz des Eisgottes machen. Wenn er nicht zurückkehrt – und viele kommen nicht wieder –, dann schließt man daraus, daß er dem Gott mißfiel.“ Sie bewegte sich langsam weiter, um dann in einen raschen Tanz mit anmutigen, schnellen Bewegungen überzugehen. „Das ist der Tanz für den Gott der Hitze, der in seinem Tempel unter der Sonne wohnt“, erläuterte sie. „Er ist der mächtigste aller Götter auf der Venus. Keiner kann sich ihm nähern, obgleich viele es schon versucht haben.“ Ben beobachtete die Wendungen und Drehungen des schlanken Körpers und war fasziniert. Er hatte aufgehört, die Trommel zu schlagen, aber irgendwie schienen die letzten Töne noch in der Luft zu hängen. Er sah nichts mehr außer diesem indigofarbenen Körper, war förmlich hypnotisiert von dessen Bewegungen, und sein Herz schlug überaus heftig – seltsamerweise im Takt der Trommel. Bum – bumbumbum – bum – Große Schweißperlen senkten sich von seiner Stirn auf die Augen und schienen ihn zu blenden. Mit dem Handrücken wischte er den Schweiß ab. Seine Hände schlugen die Trommel, schlugen sie von selbst, als ob sie nicht mehr zu seinem Leib gehörten. Grettas indigofarbener Körper spann eine Sinfonie der Bewegung über den Teppich des reich ausgestatteten Raumes. Der Tanz endete. Gretta schloß ihn mit einer erregenden Pi39
rouette ab und fiel auf die Knie. Dabei zeigte sie eine Pose von ehrfürchtiger Verehrung. Eine volle Minute blieb sie unbewegt. Dann erhob sie sich hastig und verlegen, um sich zögernd vorwärts zu bewegen. Ihre Lippen zitterten und Tränen strömten aus ihren sanften, braunen Augen, um ihre indigofarbenen Wangen zu befeuchten. Etwas in Bens Gedanken begann zu flüstern: Ein guter Chirurg könnte ein Stück Knorpel in ihre Nase einsetzen und die Nasenlöcher so verändern, daß sie vollkommen menschlich wären. Auch müssen Tausende von Frauen Perücken tragen. Plötzlich fiel Gretta vor ihm auf die Knie und vergrub ihren Kopf in Bens Schoß. Sie schluchzte unbeherrscht, und ihre Hände krallten sich an ihm fest. „Oh, Ben“, weinte sie. „Ich liebe dich, und es ist doch so hoffnungslos. Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden.“ Ben streckte den Arm aus und schob eine Hand unter ihr Kinn. Dann hob er ihr Gesicht, bis er in ihre Augen blicken konnte. In seinem Kopf wütete ein heftiger Sturm. Halb furchtsam sah sie ihn an. In ihren Augen leuchteten die Tränen, und doch drückten ihre Züge schwache, ganz leichte Hoffnung aus. „Gretta“, stammelte er. „Ja, Ben“, entgegnete sie atemlos. „Ich – ich sollte lieber hinausgehen und nachsehen, wie groß der am Schiff entstandene Schaden ist“, flüsterte er und erhob sich schnell. Mit ihm stand auch sie auf. Mehrere Sekunden lang blickten sie sich in die Augen, und dann riß er sie wie ein Wahnsinniger in seine Arme. Ihr fremdes, indigofarbenes Gesicht mit den bebenden Nüstern, ihr haarloser Kopf und die ausdrucksvollen Augen verschwammen zu einer traumhaften, wunderbaren Wirklichkeit. 40
Er fand sich vor der Tür zu Grettas Wohnung wieder und lehnte sich an die Wand. Er konnte sich nicht entsinnen, wie er hierhergekommen war. Sein Atem ging schwer und heiß. Er fühlte sich erregt und irgendwie unendlich fern von allen Dingen. „Ich muß nachdenken“, sagte er laut zu sich selbst. Er mußte das Geräusch seiner Stimme hören, um zu wissen, daß er wirklich und ein Lebender war. Kapitän Ley saß an seinem Schreibtisch und war in seine Papiere vertieft. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, daß Ben Grettas Wohnung verlassen hatte. Mit unverkennbarer Anstrengung zwang Ben sich, ruhiger zu atmen und ein alltägliches Gesicht zu zeigen. Dann ging er gleichgültig hinüber an Leys Schreibtisch. Georges sah ihn mit einem sorgenvollen Lächeln an. „Hallo, Ben!“ rief er abwesend. „Wie groß ist der entstandene Schaden, Sir?“ fragte Ben. „Es ist schlimm“, antwortete Kapitän Ley. Er stopfte seine Pfeife und zündete sie schweigend an. Dann fuhr er fort: „Es wurden nicht nur zwei Abteilungsstaffeln des Schiffes beschädigt, sondern auch die Leit- und Führungsschienen an der Außenwand und den Hauptdüsen an drei Stellen verbogen. Das bedeutet eine mögliche Kopf- und damit Bruchlandung, die das Schiff vernichten kann.“ Er kaute auf seiner Pfeife. „Bei dem Unfall von vorhin hat es 40 Tote und 73 Verwundete gegeben.“ Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Der Kommandant des Fahrzeugs griff nach dem Hörer und lauschte etwa zwei Minuten lang den Worten des Sprechers. „Sie haben alles zu unternehmen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen“, sagte er dann in den Apparat. „Lassen Sie vorerst alle anderen Arbeiten einstellen, bis der Schaden behoben ist.“ Dann lauschte er wieder. „Sie müssen eben etwas Material von den Außenhüllen ab41
schweißen, um die beschädigten Teile abzudichten“, erklärte er fast erbittert, um dann erneut zu lauschen. „Es ist mir gleichgültig“, schrie er in die Muschel. „Wenn wir nicht rechtzeitig fertig werden, werden sie so oder so verloren sein. Das wissen Sie doch so gut wie ich selbst!“ Wütend hing er ab. Seine Augen blickten auf Ben, während er dicke Rauchwolken ausstieß. „Die Heckanlage ist schwer beschädigt worden“, sagte er düster. „Wenn die Reparatur nicht durchgeführt wurde, ehe wir die Venusatmosphäre erreichen, werden wir unseren Flug nicht abbremsen können. Da zudem die Gleitschienen verbogen sind, können wir uns auch nicht richtig auf die Stoßdämpfer verlassen.“ „Und wenn wir nicht landen können“, setzte Ben hinzu, „werden wir schließlich in die Venus stürzen, weil wir nicht genügend Kraft haben, eine andere Richtung einzuschlagen. Und wenn wir genügend Treibstoff mitführten, würde es uns an Chemikalien zur Erneuerung des Sauerstoffs fehlen, um die Venus zu umfliegen und anschließend wieder auf der Erde zu landen.“ „Das stimmt“, nickte Georges. „Wir können nicht einmal erwarten, daß das Mutterschiff uns auffängt, ehe wir die Venus erreicht haben. Ich glaube, daß das Mutterschiff noch nicht einmal alle Kücken von der Erde aus gestartet hat.“ Auf seinen Zügen zeigte sich ein verzerrtes Lächeln. „Ebensogut wie später kann ich es Ihnen auch jetzt mitteilen“, fuhr er fort. „Die Mathematiker haben errechnet, daß zwei der Kücken auf dem Flug zur Venus zerstört werden. Es sieht ganz so aus, als ob wir eines dieser Kücken sein sollten.“ „Sie glauben also“, fragte Ben, „daß wir erledigt sind, wenn wir die Reparatur am Heck nicht vornehmen können?“ „Das will ich nicht unbedingt behaupten“, meinte Georges beinahe fröhlich. „Wir können immer noch in die Venusatmosphäre eintauchen und können mit dem beschädigten Heck die Venus so 42
lange umkreisen, bis sich unsere Geschwindigkeit etwas vermindert hat. Dann aber werden wir landen müssen, gleichgültig, wo wir uns gerade befinden – ob im Ozean, auf dem Eiskontinent oder inmitten der Hitze. Vielleicht aber haben wir Glück.“ Ben verließ die Kabine des Kapitäns und begab sich zu Fred. Dieser war eingeschlafen, und Ben setzte sich auf sein Bett, um das Erwachen seines Freundes abzuwarten. In der Abteilung war es vollkommen ruhig. Jeder, der nach hier gehörte, schien ausgeflogen zu sein. Ben schloß die Augen und versuchte, sich über seine Lage klar zu werden. Er konnte nichts anderes tun, als sein Schicksal verfluchen – ein Schicksal, daß ihn dazu gebracht hatte, sich in eine Frau seiner eigenen Rasse zu verlieben, um dann auf eine Reise geschickt zu werden, durch die er sie wahrscheinlich für immer verlieren würde. Dieses gleiche Schicksal hatte ihn dazu gebracht, eine blauhäutige, über zwei Meter hohe Riesin von der Venus in sein Herz zu schließen, eine Frau also, die die Nase eines Tieres, in der Brust aber das Herz des besten Menschen der Erde trug, und die ausgestattet war mit einem wunderschön geformten Körper. Er ertappte sich dabei, daß er in der Venussprache nachzudenken begann, statt in Englisch, und verfluchte sich deshalb. Er liebte diese Sprache; irgendwie war sie ausdrucksvoller und natürlicher als jedes andere, ihm bekannte irdische Idiom. Das Venusianische war vor allem eine natürliche Sprache, die schwer zu sprechen, aber leicht zu verstehen war, wenn man sie mit englischen Worten mischte, wie es geschehen mußte, wenn man Dinge erwähnte, die auf der Venus unbekannt waren wie beispielsweise Kleider. Es hörte sich dann beinahe an wie ein Wellensalat im Rundfunk, wenn zwei Sender über die gleiche Welle sprachen. Er kicherte bei diesem Vergleich und bemerkte, daß Fred ihn beobachtete. 43
„Nun, wieder aufgewacht?“ fragte er. „Ja“ antwortete sein Freund müde. „Wie spät ist es?“ „Noch eine halbe Stunde bis zum Essen.“ „Dann kann ich auch jetzt aufstehen und mich rasieren“, meinte Fred verschlafen. „Auf diese Weise erspare ich dem Leichenbestatter wenigstens einige Arbeit.“ Er hob die Füße über die Bettkante und streckte und dehnte sich faul. Dann erhob er sich und ging hinüber an das metallene Waschbecken. Während er sich rasierte, summte er leise vor sich hin. Ben saß ruhig da und sah ihm zu. Als Fred sich angekleidet hatte, verließen die beiden ihre Kabine und gingen zur Messe. Dort winkte Fred ihm später spöttisch zu, grinste ihn an und ging. Und mit demselben Grinsen begrüßte er Ben vier Stunden später im Spital, wo Ben ihn auf seinen Wunsch eiligst aufgesucht hatte. Während des Fluges hatte Fred freiwillig mit dem Ausbesserungskommando am Heck außerhalb des Fahrzeugs gearbeitet, und die kosmischen Strahlen waren stärker gewesen, als man angenommen hatte. Die Männer sollten eine Stunde bei der Arbeit, und dann eine Stunde in der Beobachtungsstation des Lazaretts verbringen. Es zeigte sich aber, daß eine halbe Stunde Arbeit und zwei Wochen Spitalaufenthalt bedeutend besser waren, doch um das herauszufinden, hatte man Menschenleben opfern müssen. Ben stand neben Freds Bett. Krankenschwestern huschten eilig herum und beugten sich über die bewegungslose Gestalt. Während Ben gequält zuschaute, straffte sich Freds Körper. Der Schweiß drang durch seine Hautporen und zeigte sich in Form winziger Perlen auf seiner Stirn. Das dauerte etwa eine Minute. Dann sank Fred mit einem Seufzer in sich zusammen. „Wirklich fein“, sagte er zu Ben. „Ein Mann wird geboren, 44
wächst auf, lebt ein wenig, liebt ein wenig – und das alles verliert er dann in knapp einstündiger Arbeit.“ Eine in fleckenloses Weiß gehüllte Krankenschwester ergriff Freds Handgelenk. Ein abwesender Blick kam in seine hellen, blauen Augen. Er starrte die Decke an. „Welch ein Unsinn“, flüsterte er, „welch eine Verschwendung.“ So blieb er liegen. Sein teilweise geöffneter Mund ließ seine weißen Zähne erkennen, während sein Blick auf der Decke ruhte. Die Krankenschwester war verzweifelt, weil sie seinen Puls nicht mehr verspürte. „Lebe wohl, Fred“, sagte Ben leise und verließ den Raum. Draußen im Gang blieb er lange Zeit stehen, bis er sich schließlich entschloß, und zur Kapitänskabine ging. Georges war nicht anwesend. Er überschritt den dicken Teppich und öffnete Grettas Tür. Sie kam ihm entgegen und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Fred ist tot“, sagte Ben einfach. Dann legte er seinen Kopf an Grettas Schulter und zog sie an sich. „Ich muß mich heute noch rasieren“, hatte Fred gesagt. „Damit erspare ich dem Leichenbestatter die Arbeit –“ Heiter war das alles, unsäglich heiter – * An den folgenden Tagen verbrachte Ben immer längere Zeit bei Gretta. War er nicht bei ihr, dann saß er still und in sich gekehrt und sonderte sich von den anderen ab. Sein verändertes Wesen fiel Kapitän Ley auf, und er bat den Schiffspsychologen, Ben unauffällig zu beobachten. Die Reparaturarbeiten am Heck machten nur langsame Fortschritte, und die Hoffnung, daß dieser Schiffsteil beim Eindrin45
gen in die Venusatmosphäre wieder brauchbar sein würde, wurde immer schwächer. Man hatte die Verbindung mit einem er anderen Kücken, mit dem Mutterschiff und auch der Erde herstellen können, aber es gab nichts, das Kücken 1 noch zeitig genug hätte erreichen können, um es zu retten. Sofern es ihnen allerdings gelingen würde, sich lange genug in der Luft zu halten, wollte Kücken 2 sich bemühen, sie ausfindig zu machen, in ihrer Nähe zu bleiben, und bei der unvermeidlichen Bruchlandung versuchen, die Verwundeten zu schützen und vor den Wilden zu verteidigen. Die Venus kam täglich näher. Das in der Pilotenkabine befindliche, eigens für das Raumschiff angefertigte Teleskop, ließ den Planeten bereits so deutlich erkennen, daß man gelegentlich auch Einzelheiten der stratosphärischen Stürme beobachten konnte. Der durch die Asteroiden leicht veränderte Kurs des Fahrzeugs wurde korrigiert, und dieser Kurs sollte sie mit einer Tangente (gerade Linie, die einen Kreis nur in einem Punkt berührt) in die Atmosphäre der Venus bringen. Dort wollten sie versuchen, eine Richtung einzuschlagen, die ihnen ein Überfliegen der heißen Gebiete ersparte. Mit dem Näherkommen des Landetages erhöhte sich auch die Spannung der Expeditionsteilnehmer. Ben suchte nach einem irdischen Vergleich für ihre gegenwärtige Lage und fand denselben, wenn er an eine Kettenfähre dachte. Ihm war beinahe, als ob er die Stimme des Fährmannes höre, der mahnend sagte: „Halten Sie bitte Ihre Hüte fest; bleiben Sie auf Ihren Sitzen.“ Auch das würden sie tun müssen. Jeder Mann an Bord würde sich auf den Prellsitz schnallen, das Gesicht nach hinten und den Körper in eine Plastikmasse gepreßt, die sich den Körperformen anpaßte. Ben wußte, daß Kapitän Ley ihnen keine großen Chancen gab. Die Havarie war nur unvollkommen ausgebessert worden, 46
und sie würden sich also allein auf die vorderen Flügel verlassen müssen. Eine Steuerung des Fahrzeugs war praktisch unmöglich; man mußte es einfach dahinrasen lassen und versuchen, es auf einem Fleck der Venus zur Landung zu bringen, der nicht zu hart aussah. Der Bordfunker hatte genaue Beschreibungen der Havarie den übrigen Schiffen und auch der Erde bekanntgegeben. Dort würde man dabei sein, die Aufbauten der im Bau befindlichen Schiffe zu ändern, was Kücken 1 allerdings nicht mehr viel nützen konnte. Auch Gretta schien die gefährliche Lage, in der sie sich befanden, zu verstehen. Ben hatte sie über alle Einzelheiten unterrichtet, und als die letzten. Stunden vor der Landung anbrachen, verbrachte er fast die ganze Zeit bei ihr. Oft ertönte das Geräusch der Trommel durch die Wände in Georges Leys Ohren, wenn er, über Rapporte und Zeichnungen gebeugt, an seinem Schreibtisch saß und sich bemühte, einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden. * Dann kam die fatale Stunde, die Minute, die Sekunde heran. Jeder lag angeschnallt auf seinem Platz, und Georges drückte auf einen Knopf, der die erste der Bremsraketen in Betrieb setzte. Man hörte ein dumpfes Dröhnen und dann eine schleifende Bewegung, die von weiteren Geräuschen begleitet war. Doch es gab keine Zeit, darauf zu achten, denn jetzt begannen die Düsen 2 und 3 zu fauchen. Das Schiff taumelte. Ein anfänglich kaum zu vernehmendes Kreischen steigerte sich zu ohrenbetäubendem Lärm, als die Atmosphäre an ihnen vorbeibrauste. Die zusammenklappbaren Flügel wurden geöffnet – gerade rechtzeitig genug. Eine Atmosphäre, die so dünn war, daß sich in jedem Kubikfuß nur ein 47
Atom Luft befand, hämmerte mit festen Schlägen gegen die Flügel, so daß das Schwanken und Taumeln des Schiffes immer stärker wurde. Mehrere Bremsstöße verminderten ihre Geschwindigkeit, doch ohne die Heckflügel und -bremsen, die das Fahrzeug im Gleichgewicht halten konnten, stürzte der Riesenrumpf geradezu nach unten und war so etwas wie ein gewaltiger Gegenstand, der der Luft Widerstand leistete. Das Fahrzeug bäumte sich auf und fiel dann wieder nach vorn, um sofort erneut von den Luftschlägen getroffen zu werden. Doch der Steuerraum antwortete nach wie vor auf alle Anfragen. Dort wurde noch immer gearbeitet, und man gab bekannt, daß der Planet bereits einmal umkreist worden war, und man ihn jetzt ein zweites Mal umflog. Ihre Geschwindigkeit hatte sich auf 1500 Stundenkilometer gesenkt und verminderte sich unablässig. Dann prallten sie auf – – – Der vordere Teil des Schiffes rannte seitlich gegen eine Bergkante, während die hintere Hälfte heftig gegen den Berg schlug – genau wie der riesige, steife Schwanz eines Papierdrachens. Ein fürchterlicher Anprall – und der Heckteil wurde abgetrennt. 2000 Menschenleiber wurden in alle Richtungen davongeschleudert. Von den unversehrt gebliebenen Flügeln angetrieben, drehte sich der Bugteil des Fahrzeugs unablässig um sich selbst, und so war es denn ein Wunder, daß dieser Teil des Schiffes sich schließlich mit der Nase in den weichen Boden einer riesigen, auf der Sierra Corscatch gelegenen Hochebene bohrte. Es war ein zweites Wunder, daß der Schiffszylinder dann sanft auf den Gleitschienen dahinrutschte, womit Schock und Anprall soweit gedämpft wurden, daß viele Insassen nicht einmal das Bewußtsein verloren. 48
Bereits 20 Minuten später hatte man ein Funksignal aufgestellt und es mit Blinkzeichen verbunden. Doch noch ehe diese Arbeit völlig beendet war, tauchte Kücken 2 aus dem Nebel auf und landete ohne den geringsten Kratzer auf der Venus. Die Landungsräder wurden ausgefahren, und als das Raumschiff niedergegangen war, rollte es aus eigener Kraft bis an die äußerste Kante der Hochebene. Von da an tauchte alle zwei Stunden ein neues Kücken jeweils dunkel im Nebel auf, verwandelte sich in eine großen, auf Rädern laufenden Gegenstand, und bewegte (sich geschäftig bis in die Nähe des Abhangs. Es war beinahe, als ob Automobile auf dem Parkplatz eines Theaters Aufstellung nahmen. Es war ein gewaltiges, beeindruckendes, fast geisterhaftes Bild. Durch den dichten Nebel löste sich die Wirklichkeit bereits nach einigen Metern auf, und man gewann die Illusion, daß der ganze Kosmos unendlich klein war. Durch den Unfall waren die Kücken auf den idealsten und passendsten Landeplatz niedergegangen. Hier, weit oben in der Sierra Corscatch, konnte man einen Stützpunkt und damit Ausgangspunkt für künftige Operationen errichten; von hier aus konnte man Pfadfinder, Flugzeuge und Truppen ausschicken, bis sie ihre Macht auf der ganzen Venus verbreitet hatten. Sie befanden sich hier oben in einer fast uneinnehmbaren Festung. Keine Macht konnte sich diesem Fleck nähern, ohne sich selbst der Vernichtung auszusetzen. Es war sogar zweifelhaft, daß die Eingeborenen diesen Fleck finden würden. Auch die Temperatur war ideal und lag bei einem angenehmen Durchschnitt von plus 20 Grad Celsius. Am wundervollsten aber war die Tatsache, daß das gigantische Mutterschiff leicht auf die Hochebene gelangen und von dort die Kücken wieder aufnehmen konnte. Ein allgemeiner Arbeitsrausch überkam die Leute. Hohe Offiziere trafen zusammen, um die Pläne für die nächsten Wochen 49
zu diskutieren, und selbst die höchsten Dienstgrade waren ebenso begeistert wie die einfachen Leute, weil sie nach ihrer Reise durch den Weltraum endlich wieder festen Boden unter den Füßen verspürten. Man errechnete eine ständige Atmosphärenbewegung von etwa 5 Kilometer in der Stunde. Dieselbe kam von der dunklen Seite des Planeten und überquerte die Berge, bis sie in Gegenden kam, da die Luftfeuchtigkeit unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen erhitzt und wieder verdampft wurde. Forschungsexpeditionen wurden ausgeschickt, um die nächstgelegenen Berge zu durchsuchen und nach Rohstoffen Ausschau zu halten. Am dringendsten benötigt wurde Zement, weil es für die Errichtung der geplanten Gebäude unentbehrlich war. Zement nämlich hatte man nicht mitgebracht, weil man glaubte, das entsprechende Rohmaterial auf der Venus zu finden. Allen, die irgendwelche Spezialisten waren, stellten sich große Aufgaben, gleichgültig, ob sie nun Meteorologen oder Physiker, Biologen oder Chemiker waren. Vor allem den Biologen bot sich eine Fülle an Studienmöglichkeiten. Die Hochebene war von einem moosigen Teppich bedeckt, der aus Hunderten der verschiedenartigsten Pflanzen gewebt schien. Auch wimmelte es von Insekten, und gelegentlich fing man auch einen lebenden Warmblütler. In der Mitte dieses Hin und Hers und der Aufregung bewegte Gretta, die geborene Venusianerin, sich schweigend, beobachtete mit weitgeöffneten Augen und wurde dauernd von Ben begleitet. Wenn Ben sich an ihrer Seite befand, war sie bereit, den anderen Lernbegierigen stundenlangen Unterricht in der venusianischen Sprache zu erteilen. Auch erzählte sie viele Geschichten über Leben und Religion, über die Speisen und anderen Gewohnheiten ihres Volkes. Es bestand der Plan, Gretta und Ben zusammen mit einigen anderen Männern, die ebenfalls die venusianische Sprache be50
herrschten, zu einer friedlichen Expedition in die unteren Gebiete zu entsenden. Wenn sie mit den nahewohnenden Stämmen in Berührung kommen würden, und dieselben von den friedlichen Absichten der Erdinvasoren überzeugen könnten, dann würden diese Eingeborenen die Nachricht verbreiten und den Ankömmlingen die Dinge ungemein erleichtern – besonders zu jener Zeit, da weitere Erdenbewohner eintreffen würden, und die systematische Kolonisation der Venus beginnen sollte. So vergingen drei Monate. Eine Zementfabrik war errichtet worden und arbeitete auf Hochtouren. Überall entstanden feste Häuser. Massive Maschinen veränderten das Gesicht der Natur und verwandelten das Land in eine zivilisierte Gegend mit Straßen und widerstandsfähigen Gebäuden. Trotz des Nebels war die Sonne ziemlich kräftig, und man hoffte, daß hier genügend irdische Gemüsesorten gedeihen würden, um die erste Kolonie ernährungsmäßig von der Erde unabhängig zu machen. Und dann kam der Tag, da Gretta und Ben ihren Weg hinab in die Ebene antraten, begleitet von einer kleinen Soldatentruppe, deren Offiziere venusianisch sprachen. Die Soldaten waren aufbruchbereit und warteten auf den Marschbefehl. Die Flagge der Vereinten Nationen – ein weißer Untergrund, in dessen Mitte eine goldene Sonne schwebte, die von zehn verschiedenfarbigen Kreisen umgeben war – flatterte an der Spitze des Expeditionskorps. Georges Ley unterhielt sich mit Ben, während Gretta furchtsam nach Bens Hand gegriffen hatte. Unsicher blickten ihre Augen über die vielen tausend Köpfe der sie umgebenden Menschen. „Seien Sie vorsichtig, Ben“, sagte Georges soeben. „Die Eingeborenen sind wild und hitzig. Sie werden wahrscheinlich kämpfen; daran besteht für mich jedenfalls kein Zweifel. Die erste Gruppe, mit der Sie zusammenstoßen, werden Sie überwältigen müssen; anschließend ist es Ihre Aufgabe, die Überlebenden 51
zu überzeugen, daß ihre einzige Chance darin besteht, mit uns zusammenzuarbeiten. Gretta wird als Beispiel dafür dienen, wie wir diejenigen Eingeborenen behandeln, die sich auf unsere Seite stellen. Sie soll alle ihre schönen Kleider mitnehmen.“ Er wandte sich Gretta zu. „Wir hoffen, daß deine hübschen Kleider auch deinem Volke gefallen werden, und daß es sich unseren Leuten gegenüber freundlich benimmt. Glaubst du, daß sie das tun werden?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Gretta. „Sie werden sich wahrscheinlich vor mir fürchten, wenn ich Kleider trage, ja, vielleicht werden sie sogar bezweifeln, daß ich zu ihnen gehöre. Da sie nicht wissen, was Kleider sind, werden sie diese vielleicht für Körperteile halten, wie ich es tat, als ich gefangen wurde. Es kann sein, daß wir alle getötet werden, denn man hat die Gewohnheit, unseren Kriegern beizubringen, immer erst zu töten, und danach zu untersuchen. Venusianische Krieger aber sind größer und mächtiger als diese kleinen Erdenmenschen. Ihr wißt auch nicht, wie sich die Krieger am Boden und hinter Bäumen tarnen können, so daß man sie nicht erblickt. Warum begnügt ihr euch nicht, hier oben in den Bergen zu bleiben? Wenn ihr euch hinabbegebt in das Land, scheinen Aufregungen und Unstimmigkeiten unvermeidlich. Jeder Stamm hat sein eigenes Gebiet, das ihm durch Erbrecht von Anbeginn der Zeiten gehört hat. Nur der Hohepriester aller Stämme hat das Recht, eine Änderung herbeizuführen.“ Georges zuckte die Achseln. „Wir müssen uns hinab in das Land begeben, weil uns der Hohepriester der kleinen Erdenmenschen die entsprechenden Befehle erteilt hat“, entgegnete er. „Wir wagen es nicht, gegen seine Wünsche zu handeln.“ „Dann müßt ihr Trommeln mitnehmen“, sagte Gretta ernst. „Ihr müßt viele Trommeln mitnehmen und sie für den Frieden schlagen.“ 52
„Was ist denn das?“ fragte Georges überrascht. Er wandte sich an Ben. „Was hat es mit dieser Trommelei auf sich? Ich hatte Sie doch gebeten, herauszufinden, wie man sich den Wilden am besten nähern kann?“ „Von diesen Dingen hat sie nie zu mir gesprochen“, antwortete Ben verlegen. „Ja, Trommeln“, wiederholte Gretta hastig. „Wenn ein Stamm in das Gebiet des anderen eindringt, schlägt er die Trommeln im Friedensrhythmus. So etwa – Bom-bababa – Bom-bababa –“ Georges gab rasch einen Befehl. Ein Trommler aus dem Musikkorps wurde herbeigeholt. Schnell hatte er den Rhythmus für den Friedensschlag erlernt und erhielt den Auftrag, die Truppe zu begleiten. Es war eine geisterhafte Prozession, die sich die Hänge der Hochebene hinabbewegte Schon nach eineinhalb Kilometer befanden sie sich im unerforschten Gebiet, und alle 200 Meter stellte man ein Mal auf, damit man später den Weg zurückfinden konnte. Nach weiteren 1500 Metern Marsch waren sie um etwa 300 Meter tiefer gekommen. Es begann zu regnen, die Vegetation veränderte ihr Aussehen und wandelte sich zu sehr dichtstehenden, blaßgefärbten Gräsern. Über diesen Teppich marschierten die Männer, Gretta an der Spitze, begleitet von Ben, der – die Lippen aufeinandergepreßt – mit kalten und bewegungslosen Augen nach vorn blickte. Von Zeit zu Zeit sah Gretta ihn angstvoll an, ohne sich aber auch nur im geringsten von seiner Seite zu entfernen. Im Gänsemarsch folgten ihnen die anderen – eine Handvoll Menschen in einer vollkommen fremden Welt, ein jeder mit seinen Gedanken für sich allein. Aus dem Nebel kamen sie auf einen Bergvorsprung, von wo aus sie ein tiefes Tal überblicken konnten. 53
Dampfender Urwald dehnte sich in etwa 600 Meter Tiefe wie ein seltsamer Teppich vor ihnen aus. Sie hatten die Regenzone hinter sich gelassen. Der Nebel zeigte sich nun in einem sanften Grau und zugleich als Himmel – als ein Himmel, der bereits wenige Fuß über ihren Köpfen begann und sich in alle Richtungen zu bewegen schien. Hier und da schienen blaugraue, in den Wolken treibende Schleier in die Tiefe zu dringen. Die Wolkendecke, die blauen Schleier und der vielfarbige Teppich des Urwaldes wurden von einem starken Leuchten durchdrungen, das von der Sonne kam. Vor ihnen ging es einen steilen Abhang nach unten, der von unschönen Bächen durchbrochen war, in denen das von dem unablässigen Regen gespeiste Wasser wild dahinschoß. Doch der Boden wurde nicht in die Tiefe gewaschen, denn in ihn klammerten sich die hartnäckigen und tiefverwurzelten Gräser, die jeden Zentimeter dieser Erde für sich beanspruchten. Es wurde eine einstündige Marschpause eingeschaltet, in der man ein Funksignal aufstellte und eine Mahlzeit einnahm. Dann ging es weiter die Hügel hinab. Hier und dort war es möglich, schnell und sicher zu schreiten; dann aber stellten sich ihnen Klippen und Felsen in den Weg, die Umschriften werden mußten. Oft gab es für sie keine andere Möglichkeit, als einen 30 bis 40 Meter tiefen Abhang einfach hinabzurutschen. Einmal kam es zu einem mörderischen Wolkenbruch, der die ganze Gesellschaft ungewollt in einen schäumenden Bach trieb. Einsam stehende Bäume unterbrachen die Monotonie der Landschaft. Die Bäume ähnelten dem irdischen Ahorn und wären gewiß in diese Baumgruppe gerechnet worden, wenn sie sich auf der Erde befunden hätten. Die Bäume besaßen jedoch dicke Blätter, wie man sie gemeinhin auf der Erde nicht fand. Ihre Farbe war blaßgrün, dazu waren sie fast durchsichtig. Einer der Männer ergriff ein Blatt und betastete es. Sofort schlug Gretta es ihm aus der Hand. Dann nahm sie ein Messer 54
und zerschnitt das Blatt der Länge nach. Damit brachte sie Würmer an die Oberfläche, die sich zwischen den Blattfasern bewegten. Würde man diese Blätter verzehren, erzählte sie, dann würden sie sich durch die Magenwände bis in die Muskeln der Menschen durchfressen. Nun wurden die Angehörigen der Expedition ungemein vorsichtig und mißtrauisch, und Gretta konnte die vielen an sie gerichteten Fragen kaum beantworten. Dabei wurde sie von Ben unablässig beobachtet, denn er kannte sie gut und verstand ihr etwas eigenartiges Benehmen. Ohne auf jede der an sie gerichteten Fragen einzugehen, wandte sich ihr Kopf immer wieder dem unten liegenden Urwald zu, wobei sie schnüffelte, als ob sie eine Gefahr wittere. Einmal brachte der Wind das Geräusch weit entfernter Trommeln mit sich. Sie lauschte, sagte aber nichts. Ben war der vernommene Rhythmus neuartig, und er konnte ihm keine Bedeutung beimessen. Schließlich war es Zeit geworden, für die „Nacht“ ein Lager aufzuschlagen. Sie waren jetzt 12 Stunden unterwegs und hatten eine Strecke zurückgelegt, für die sie auf dem Rückweg gewiß zwei Tage benötigen würden, sofern sie überhaupt einmal lebend zurückkehren sollten. Gretta verschwand in ihrem Zelt, als es aufgestellt war, während Ben sich an den Rand des Lagers begab, von wo aus er den letzten Teil des abfallenden Berges überblicken konnte bis an die vielen Bäume, die eine scharfe Grenze zwischen Berg und Ebene bildeten. Und diese Baumgruppe war kaum mehr 700 Meter von ihnen entfernt – – In Ben zitterte weder die Erwartung, noch verspürte er Neugier, die kommenden Ereignisse kennenzulernen. Er verspürte nichts als bitteren Zynismus, denn er hatte die Blicke in den Männeraugen gesehen, als Gretta besitzerstolz seine Hand er55
griff. Und als sie dann an seiner Seite schritt und bei ihm blieb, hatte er deutlich, die Zurückhaltung und Verachtung seiner Kameraden empfunden. Wie alle Frauen es unvermeidlicherweise tun, hatte auch Gretta gezeigt, daß sie ganz und ohne Vorbehalt zu Ben gehörte. Schämte er sich eigentlich? Ganz kühl stellte er sich die Frage, als er mit bitteren Blicken und nüchtern den Abhang hinabsah. Die Antwort kam sofort und lautete verneinend, denn er schämte sich wirklich nicht. Er bedauerte nur die Feindschaft und Verachtung derjenigen, die glaubten, daß er sich an jemand angeschlossen habe, der weniger wert war als ein Mensch. Sie hatten ihn nicht angeblickt, wie man einen Weißen ansieht, der sich mit einer Negerin, einer Chinesin oder einer anderen Angehörigen einer farbigen Rasse abgibt. Nein, denn dieser Blick war auch in den Augen der Farbigen gewesen, die der Expedition angehörten, der Chinesen, der Mongolen, der Hindus und der Mischlinge. Da war beispielsweise Joe Banks, der Neger-G.I. aus Chikago, der eben mithalf, die Zelte aufzustellen. Jeder wußte, daß er in Ludwiga Kratowitsch, die russische Heereshelferin, verliebt war, und sie in ihn. Aber keiner hatte etwas dagegen zu sagen. In seinen und ihren Augen hatte sich derselbe Blick der Verachtung gezeigt, als sie ihn und Gretta Hand in Hand gesehen hatten. Er fühlte, daß jemand neben ihn trat, und sah sich um. Es war Gretta, die ihr Lager verlassen hatte, um bei ihm zu sein. „Warum stehst du so allein?“ fragte sie. „Du machst ein so trauriges Gesicht. Bedauerst du –?“ „Nein, Gretta“, unterbrach Ben sie zärtlich. „Ich bin nur traurig, weil wir binnen weniger Stunden dein Volk treffen werden, womit die Sorgen beginnen dürften.“ „Es wird keine Schwierigkeiten geben“, behauptete Gretta, und ein seltsamer Ton klang aus ihrer Stimme. „Dein Volk ist 56
ein kleines Volk, und seine Angehörigen hegen auch kleine Gedanken – – sie alle, außer dir! Sie glauben, daß ihre mächtigen Schiffe unsere Krieger so entsetzen, daß sie sich euch in Furcht und Ergebenheit unterwerfen.“ „Das mag sein“, nickte Ben vorsichtig. „Wenn aber eure Krieger die ganze Angelegenheit mit unseren Anführern in unseren Beratungsräumen besprechen werden, dann sind Drohungen, Hinweise auf mächtige Schiffe und Blutvergießen vielleicht gar nicht erforderlich.“ „Du verstehst mich nicht“, antwortete Gretta. „Und ich frage mich, ob du es überhaupt jemals fertigbringst. Schau, es werden nicht die Krieger sein, die gegen euch sind, und es ist auch nicht das Volk. Es sind die Götter der Venus, die niemals erlauben werden, daß ihr hier Fuß faßt! Wir, die Bewohner der Venus, werden von Jugend an gelehrt, den Befehlen der Götter zu gehorchen, die diese uns durch den Mund der Priester zukommen lassen. Schon jetzt machen die Geister der kleinen weißen Menschen unseren Göttern viel zu schaffen. Ich kann es fühlen, Ben, kann es richtig verspüren. Die Geister jener weißen Männer, die bei ihrem ersten Besuch auf unserem Planeten getötet wurden, haben es fertiggebracht, die ihnen von unseren Priestern gestellten Fallen zu umgehen. Und jetzt haben sie sich mit den Geistern jener weißen Toten verbündet, die bei der Landung ums Leben kamen. Es sind viele tausend Geister, die unsere Götter bekämpfen und einen Stachel in ihrem Fleisch darstellen.“ „Unsinn“, lachte Ben gezwungen. „Solche Dinge gibt es nicht.“ „Aber es ist so, Ben“, behauptete Gretta ernst. „Glaube es mir.“ „Ich glaube lediglich“, entgegnete Ben langsam, „daß eure Hohepriester ihre Macht allein durch solche Märchen bewahren können. Auch auf der Erde haben in einer zurückliegenden Vergangenheit Priester nur durch das Aufstellen ähnlicher Be57
hauptungen ihre Herrschaft ausüben können. Erst, als man die Priester überwältigte und Völker belehrte, daß sie an jenen Glauben nicht gebunden waren, schwand auch die Stärke und Macht dieser Priester. Vielleicht wird es hier einmal ebenso werden wie auf der Erde.“ „Horch“, flüsterte Gretta und legte eine Hand auf Bens Arm. Aus dem Dschungel kam das Geräusch von Trommeln und drang über den Abhang herauf in ihre Ohren. Es waren jeweils drei langsame Schläge, denen sich eine Unterbrechung anschloß; dann wieder drei langsame Schläge und eine erneute Pause. Der letzte Schlag war jeweils etwas lauter als die beiden vorhergehenden. „Was bedeutet das?“ fragte Ben neugierig. „Es ist das Kriegszeichen“, entgegnete Gretta. „Befiehl deinem Trommler, das Friedenszeichen zu geben. Es wird zwar nicht viel nützen, kann aber ihre Gemüter vielleicht so weit besänftigen, daß sie mit dir sprechen, ehe sie den Kampf beginnen.“ „Die Männer müssen sich erst ausschlafen, und auch du solltest dich hinlegen, Gretta“, entschied Ben. „Und was ist mit dir?“ „Ich kann nicht schlafen“, erklärte Ben, „Ich habe über zu viele Dinge nachzudenken.“ „Ich weiß es“, stimmte Gretta leise zu. Eine Weile stand sie schweigend neben ihm. Im gleichmäßigen Rhythmus kam das Geräusch der Trommeln näher, stieg den Berg herauf – eine seelenlose Stimme aus einem fremden Urwald. Schließlich brach sie das Schweigen. „Es gibt noch einen anderen Weg, Ben.“ „Welchen?“ fragte er rasch. „Wir beide können den Kriegern allein entgegengehen“, schlug sie vor. „Ja“, rief Ben aus, „das ist eine gute Idee. Wenn nur du und ich kommen, werden sie uns gefangennehmen und anhören. 58
Werden wir aber von der ganzen Truppe begleitet, dann dürfte ein Kampf unvermeidlich sein, und er würde eine Menge Leben kosten. Vielleicht können wir zwischen Venus und Erde den Frieden sichern, ohne dabei ein Menschenleben zu verlieren.“ Ben ging zurück ins Lager und eröffnete den anderen Offizieren seinen Plan. Sie waren wie er selbst der Meinung, daß dieser zumindest einen Versuch wert war. „Lassen Sie mir 48 Stunden Zeit“, bat Ben. „In zwei Tagen bieten sich mir Möglichkeiten genug. Wenn ich bis dahin nicht zurückgekehrt bin, dann bereiten Sie sich für den Kampf vor. Ich brauche Sie hoffentlich nicht darauf aufmerksam zu machen, daß diese Burschen geborene Dschungelkämpfer sind.“ Er ließ sich die Trommel geben und schlug den Friedensrhythmus – vier leichte, scharfe Schläge, denen ein lauter Wirbel in schneller Kadenz folgte – und das alles wurde pausenlos, ununterbrochen und sehr rasch wiederholt, aber war es gar nicht einfach und ziemlich ermüdend, unablässig den Rhythmus zu schlagen. Als er bereit war, aufzubrechen, hatten sich die restlichen Mitglieder der Expedition zusammengefunden, um seinem Abmarsch beizuwohnen. Sein Herz war bedeutend leichter, denn jetzt konnte er wenigstens etwas unternehmen. Die Truppe nahm Haltung an und grüßte, als er vorbeiging, aber die Augen der Leute blickten an ihm vorbei ins Leere. Umsonst suchte er nach einem Anzeichen von Freundlichkeit bei den Männern; sie strahlten nichts als eisige Kälte aus. Gretta schritt neben ihm, und sie ging leicht und anmutig. Ihren königlichen Kopf hielt sie aufrecht, und ihre Nüstern bebten in der Erwartung, endlich mit Menschen ihrer eigenen Rasse zusammenzutreffen. Als der letzte Soldat aus ihrem Blickfeld verschwunden war und sie nur mehr den vor dem dunklen Urwald sich erstreckenden Grasstreifen sahen, war es ihm plötzlich, als ob sich vor 59
ihm Jeans Gesicht zeigte – mit einem Lächeln auf den roten Lippen. Noch einmal hörte er ihr Flüstern: „Ich werde auf dich warten, Ben!“ Seine Augen trübten sich von den Tränen des Bedauerns, während seine Hände fester auf das Trommelfell schlugen. Bumbumbumbum – buuum – Gretta hielt sich an seiner Seite. Ihre langen, gutgeformten und indigoblauen Beine schritten voller Anmut dahin, und auf ihrem schönen Gesicht lag ein Lächeln der Freude über die Rückkehr in die Heimat. Sie trug kremefarbene Shorts und darüber einen offenen Rock sowie eine Bluse. Es war die letzte Schöpfung eines führenden New Yorker Modesalons und eigens für sie vor der Reise zur Venus geschneidert. Als sie sich ihrem Ziel näherten, tauchten vor den Bäumen indigofarbene Riesen auf. Sie trugen große, bronzefarbene Scheiben von zweieinhalb Meter Durchmesser, die gleichzeitig als Schild und als Trommel benützt werden konnten. Neugier zeichnete sich auf ihren Zügen ab, als sie sahen, wie sich ihnen eine Freu ihrer eigenen Rasse mit einem seltsamen Zwerg näherte. Jeder Schritt, der die beiden diesem historischen Treffen näher brachte, ließ weitere Krieger aus dem Urwald auftauchen, bis sich vor den Bäumen eine ganze Wand blauer Männer aufgestellt hatte. Als sie von den Männern nur mehr drei Meter entfernt waren, blieb Gretta stehen. Ben stellte sich neben sie, schlug aber weiter auf die Trommel ein, Sie berührte seinen Arm und schüttelte den Kopf, worauf er seine ermüdeten Hände sinken ließ. Ein Krieger trat einen Schritt vor und sprach: „Das alles ist sehr seltsam. Ich glaube, du solltest sofort eine gute Erklärung abgeben, oder ich werde dich töten müssen.“ Dabei warf er Gretta einen durchdringenden Blick zu. „Die Erklärung ist sehr langwierig“, erwiderte Gretta, „und sie ist schwer zu glauben.“ 60
„Ich weiß über dich Bescheid“, erklärte der Krieger. „Du bist diejenige, die sich von dem seltsamen kleinen Volk fangen ließ, von diesen Menschen mit den spitzen Nasen und den eigenartigen Auswüchsen auf dem Körper. Jetzt trägst du auch solche Dinge an dir.“ Wortlos legte Gretta ihre Kleider ab und überreichte sie dem Krieger. Bei dem Anblick wich er furchtsam zurück, während die hinter ihm stehenden Männer erstaunt aufschrien. Da jener fühlte, daß der Ruf seiner Tapferkeit auf dem Spiele stand, nahm er schließlich zögernd die Kleider entgegen und bewegte sie mit seinen Händen ungeschickt hin und her. Dann aber geriet er aus einem unerklärlichen Grund in Wut, warf die Kleider zu Boden und sprang auf ihnen herum. Die restlichen Krieger eilten herbei und umringten Gretta und Ben. Mit gezogenen Messern zwangen sie die beiden, den Anführern zu folgen, und trieben sie in den Dschungel. „Was, zum Teufel, soll das bedeuten?“ rief Ben auf englisch aus. „Sie bringen uns zum Priester“, erklärte Gretta. „Sie haben Angst, uns freundlich zu behandeln, solange der Priester es ihnen nicht erlaubt hat. Sie könnten sonst nämlich in Schwierigkeiten geraten.“ Diese Erklärung heiterte Ben ein wenig auf. Er schlug einen leichten Trab an, um mit den weitausholenden Eingeborenen Schritt zu halten. Die meisten von ihnen waren zweieinhalb Meter groß, hatten lange Beine und waren stark gebaut. Sie folgten einem Pfad, der sich in vielen Krümmungen durch den Urwald zog und mitunter fast wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte, wenn riesige Baumstämme umgangen werden mußten. Affenähnliche Tiere kletterten auf den Ästen und schnatterten ärgerlich; Vögel aller Art umgaben sie und schilpten, piepsten und schimpften ebenso laut über die Störung wie die „Affen“. 61
Während die Krieger rasch dahinschritten, schlugen sie auf ihre großen Schilde, vielleicht, um auf diese Weise ihre Ankunft bekanntzugeben. Eine Schlange, deren Körper mindestens zwei Fuß dick und so lang war, daß sie sich oben in den Bäumen verlor, senkte neugierig den Kopf, um sich die Dahineilenden anzuschauen. Sie machte keinerlei Angriffsbewegung, obgleich mehrere Krieger ihr beim Vorbeigehen gegen das Maul stießen. Ihre gesprenkelte grüne Haut war weich und schien ungeschuppt zu sein, worin sie sich von den irdischen Schlangen unterschied. Fast eine Stunde war vergangen, als sie endlich das mit hölzernen Palisaden umgebene Dorf erreichten. Ohne anzuhalten, traten die Krieger durch das große Tor und durchschritten mehrere Reihen strohmattenähnlich bedeckter Hütten, bis an einen größeren, in der Mitte des Dorfes gelegenen Bau. Ihre Geschwindigkeit verminderte sich dabei nicht. Sie erinnerten Ben an Ameisen, die instinktiv die kompliziertesten Arbeiten verrichten, ohne die Fähigkeit zu besitzen, die Bedeutung dieser Arbeit zu verstehen. Gretta und Ben wurden nach vorn geschoben, während die Krieger eine feste Mauer vor dem dunklen Eingang des großen Gebäudes bildeten. Erst, als auch der letzte Mann seinen Platz in dem Glied eingenommen hatte, endete das Schlagen auf die Bronzeschilde. Dann, wie auf ein gegebenes Zeichen, wurde es still. Neugierig versuchte Ben, das Dunkel der Hütte zu durchdringen, konnte in ihr aber nichts erkennen. Minuten vergingen. Gretta stand teilnahmslos, dort, wohin man sie geschoben hatte. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, hatte aber den Rücken nicht gebeugt. Ben beobachtete sie und versuchte, ihren Blick aufzufangen. Eine trockene, kreischende Stimme ertönte durch die Türöffnung. 62
„Das seltsame Tier von einer anderen Welt bewundert also die Schönheit des Weibes unseres Planeten“, sagte sie. Ben wandte seinen Kopf dem Eingang zu. Dort stand ein richtiges Ungeheuer. Über drei Meter hoch war die eingeschrumpfte, skelettartige Gestalt mit ihrer blauschwarzen, pergamentartigen Haut, die viele Falten und Flecken aufwies – ein Bild von unbeschreiblicher Häßlichkeit. Der große Kopf ruhte auf einem schmächtigen Hals, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und eines von ihnen war von einem häßlichen Gelb, ohne Iris. Die Krieger fielen auf ihre Gesichter und begannen, leise Worte zu murmeln. Gretta ließ sich anmutig auf die Knie sinken und verneigte sich. „Ich komme in friedlicher Absicht“, sagte Ben., Er fühlte sich hilflos und wagte nicht, mehr zu sagen, so lange er nicht die Reaktion des anderen erkannt hatte. „Wenn du im Frieden kommst“, erwiderte der Priester trocken, „dann gehe auch wieder im Frieden und nimm alle Menschen deiner Art mit. Im Frieden kannst du nicht hierbleiben, solange wir dich nicht eingeladen haben, und dazu wird es niemals kommen.“ „In unserer Welt“, sprach Ben, jedes seiner Worte vorsichtig abwägend, „sind die Priester mächtig, wie du es hier bist. Ich bin nur ihr Sklave und muß gehorchen. Es ist ihr Befehl, daß ich mit dir über den Frieden spreche, weil sie kommen werden, ob du es willst oder nicht. Aber sie würden es vorziehen, im Frieden zu kommen.“ Der Priester ging auf Gretta zu und berührte ihre Seite mit seiner Sandale. „Erhebe dich, mein Kind“, sagte er. „Bist du auf jener Welt gewesen, von der diese Kreatur kommt?“ „Ja“, antwortete sie. „Findest du diese Kreatur angenehm?“ fuhr der Priester fort. 63
„Er ist mein Gatte“, erwähnte Gretta einfach. „Ich wählte ihn nach meinem Willen.“ Sofort begannen die anderen zu murmeln; das Murmeln steigerte sich, und schließlich war ein wahres Donnern empörter Stimmen zu vernehmen. Der Priester hob die Hand, um Schweigen zu gebieten. Als die anderen verstummt waren, wandte er sich Ben zu und blickte ihn durchdringend an. „Sind die Hohepriester deiner Welt mit dieser Vermählung einverstanden?“ fragte er. „Das sind sie“, antwortete Ben. „Sie möchten erfahren, ob das Blut der beiden Welten sich mischen kann.“ Er blickte den Priester offen ins Auge und versuchte, durch eine große Willensanstrengung jeden eigenen Gedanken auszuschließen. Er wartete auf diesen Blick, den er bereits in den Augen seiner eigenen Rasse gesehen hatte, und wußte genau, daß er kommen würde. Diese Rasse hatte in vieler Hinsicht mehr Grund, auf ihr Erbe stolz zu sein, als jede andere auf der Erde. Der Priester stieß einen seltsamen Laut aus. Sofort wurde Ben von hinten gepackt und festgehalten. Der alte Mann kam näher und zog eines der Messer, von denen er viele an sich hängen hatte. Entsetzt sah Ben, wie er mit der Messerspitze in seinen Unterarm fuhr und einen leichten Schnitt machte. Durch den Schrecken verspürte er im Augenblick nicht den geringsten Schmerz. Der Priester öffnete nun einen kleinen, an seiner Seite hängenden Lederbeutel und entnahm ihm einen kleinen Gegenstand, der Ähnlichkeit mit einer Eichel hatte. Diesen Gegenstand drückte er ihm auf das offenliegende Fleisch und schob dann die Haut wieder zurück auf ihren Platz. Das alles geschah so schnell und mit so großer Selbstverständlichkeit, daß Ben seinen Sinnen nicht trauen wollte. Nun erschien ein Mann und brachte in seiner Hand etwas, das aussah wie Lehm. Der Priester nahm es entgegen und legte es auf die 64
Wunde. Dann gab man ihm einen langen Streifen dünnen Leders, das er um Bens Arm wickelte, um den Verband hierauf mit Gräsern zu befestigen. Bens Blicke trübten sich. Er schaute sich um und bemerkte unklar, wie Gretta am Boden kauerte, während ihre Schultern vom Schluchzen geschüttelt wurden. Eine Betäubung ging durch seinen Arm und gewann dann den ganzen Körper. Seine Augenkräfte ließen nach, und als die Erstarrung sich ausbreitete, schien sein Geist sich in vollkommener Wachheit von seinem Körper zu lösen. Es war, als ob sein Geist neben seinem Körper stehe, unfähig, zu sehen und zu empfinden, aber übernatürlich wach und angespannt. Er schien irgend etwas zu erwarten und wunderte sich dabei über seine Geduld. Dann begannen die Dinge Form anzunehmen. Er befand sich an Bord des Raumschiffes, und ein Offizier war am Sprechen. „In Ordnung, Leute“, sagte der Offizier soeben. „Wenn eure Ohren brausen, dann bleibt nicht mehr Zeit zum Überlegen. Öffnet dann weit den Mund. Die ersten Anzeichen für einen Treffer bekommt ihr durch das Sausen in den Ohren, und um Bruchteile einer Sekunde später werdet ihr das Geräusch vernehmen, durch das das Loch in die Wand geschlagen wurde. Und wenn ihr dann nicht euren Mund öffnet, werden euch die Trommelfelle zerspringen. Eure Stirnhöhlen werden platzen, und ihr werdet an den plötzlich ausbrechenden Blutströmen ersticken. Ihr müßt also eure Reaktionen auf Zehntelsekunden genau berechnen. Wir werden es wieder und wieder üben, bis es klappt.“ Erneut wartete er, allein im Kosmos und ohne Neugier. Wolken umgaben ihn und nahmen schließlich Gestalt an. Riesige Straßenbaumaschinen bahnten sich einen Weg durch den Urwald. Sie türmten die Bäume aufeinander zu Bündeln, die haushoch waren. Sie pflügten die Erde und dränierten sie. Sie be65
wegten sich langsam und mit Sicherheit vorwärts, alle Unebenheiten einfach zur Seite schiebend. Ihnen folgten spinnengleiche Fahrzeuge, die mit Truppen beladen waren, denen sich wiederum Lastkraftwagen anschlossen. Eine Gruppe venusianischer Krieger brach aus dem Urwald hervor und warf sich in einem verzweifelten Angriff auf die Fremden. Junge Männer in braunen Hosen und Hemden schossen mit flüssigem Feuer auf sie, worauf die Krieger schreiend in den Dschungel zurückkehrten, verunstaltet durch schreckliche, braungelbe Flecke, die sich immer tiefer in die Haut einfraßen. Plötzlich trat eine Änderung ein. Ben schien in der Luft über der Hochebene zu schweben, auf der die Kücken aufgestellt waren, und konnte die ganze Bergseite hinabblicken. Die Nebel waren verschwunden. Teile der Hügelabhänge schienen sich vorwärtszuschieben. Er strengte seine Augen an und erkannte, daß es venusianische Krieger waren, die sich mit Gräsern und Gesträuch bedeckt hatten und einen Überraschungsangriff planten. Nun wurden sie von den im Lager befindlichen Erdbewohnern entdeckt. Ohne jede Eile schoben die Männer einige Maschinengewehre an den Rand der Hochebene und warteten dann auf das Näherkommen der Krieger. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, begannen sie zu würfeln. Hin und wieder warfen sie Blicke in die Tiefe, um zu sehen, wie weit die Krieger gekommen waren. Plötzlich warfen die Venusianer die Grasdecke von den Rücken. Sie erhoben sich und hielten die Bronzeschilde vor sich hin, um auf denselben heftig ein Kriegslied zu trommeln. „Nehmt sie euch, Jungens“, sagte einer der Männer, der eben den Würfel hielt. Ein anderer begab sich an das Maschinengewehr und schickte tötendes Blei in die Reihen der andringenden Krieger. Sie fielen und bildeten einen Wall von Toten, über den 66
die ihnen nachdrängenden Kämpfer stolperten und fielen, ehe sie selbst getötet wurden. Der Mann, der das Maschinengewehr bedient hatte, begab sich wieder zu den Würfelspielern. „Es wird Zeit“, sagte jemand zu ihm. „Warum hat es überhaupt so lange gedauert? Da, spiel!“ Und er drückte die Würfel in die Hand des Mannes, der soeben die 2000 Venusianer getötet hatte. Ben schien sich der Hochebene zu nähern, und sein Suchen galt offenbar einem bestimmten Ziel, denn er schaute nach Kapitän Ley aus. Er fand ihn in einem großen Raum, zusammen mit einigen anderen Offizieren, die Generalsuniformen trugen. Sie hatten sich um einen in der Mitte des Raumes stehenden, massiven Tisch geschart. Einer der Generale hatte ein Bein auf den Tisch gelegt und wackelte mit seinem Stuhl hin und her. „Immer noch keine Meldung von Ben Arnold und seiner Expedition?“ fragte er knurrig. „Ich hasse diese Warterei. Warum ziehen wir nicht einfach los und überfallen sie? Früher oder später müssen wir diese blauen Jungens ja doch auslöschen; warum soll es da nicht gleich geschehen?“ „Wir setzen unsere Hoffnungen auf Ben“, antwortete Georges Ley. „Armer Junge – er ist in dieser ganzen Angelegenheit wirklich sehr mitgenommen worden, aber es mußte sein. Wenn sie ihn als einen der ihren anerkennen, können wir sie durch ihn beeinflussen, bis wir uns in einer Stellung befinden, in der wir ohne Blutvergießen unsere Bedingungen diktieren können. Die öffentliche Meinung bei uns daheim würde gewiß nichts von einer Massenschlächterei halten, wie sie etwa noch vor einigen Jahrhunderten Gewohnheit war. Ich selbst bin auch dagegen. Ich bin der Meinung, daß wir einfach wieder nach Hause zurückkehren, und die ganze Venus vergessen sollten, wenn es uns nicht gelingt, die Leute in Freundschaft für uns zu gewinnen.“ „Ha“, empörte sich ein anderer Offizier, „glauben Sie vielleicht, daß die menschliche Rasse auf einen anderen Planeten 67
verzichtet; nur weil die dort lebenden Eingeborenen nicht wünschen, daß wir bei ihnen landen? Stellen Sie sich bitte vor, Kolumbus wäre zur spanischen Königin mit dem Bericht zurückgekehrt, daß er in der Neuen Welt keinen Platz für eine Niederlassung gefunden habe!“ Die Generale, die um den großen Tisch saßen, begannen zu lachen. Das Lachen verstummte, und wieder einmal befand Ben sich allein. Er wartete und kümmerte sich um nichts. Die Zeit verstrich, bis sie ihre Bedeutung verloren hatte. Ein Jahrhundert oder mehr schien von Unwichtigkeit zu sein. Ein Planet konnte geboren werden, konnte seine Myriaden Kreaturen tragen und sich wieder zu einer luft- und leblosen Welt entwickeln; auf der anderen Seite konnte ein nur Minuten lebendes Insekt seine Flügel für den Bruchteil eines Augenblicks heben, und keiner würde dann sagen können, welche Zeit nun die längere war. Der Urwald war erfüllt von schrecklichen weißen, krankhaft grünen, gelben und roten Flecken, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Etwa hundert Meter von hier entfernt leuchteten lange, blaue Beine rasch auf. Eine anmutige venusianische Frau lief einen Pfad entlang. Neben ihr bewegte sich in einem komischen Galopp ein seltsames Kind mit langen Gliedern, haarlos, bedeckt von einer krankhaft weißen Haut, auf der sich komische blaue Flecke zeigten. Seine Nase war nur ein riesiger Schnabel; sein Mund war nur schwach ausgebildet und verdrossen verzogen. Die venusianische Frau war Gretta. Sie kam in ein Dorf, Frauen stürzten sich auf sie und trieben sie mit Stockhieben davon. Rasch kehrte sie in den Urwald zurück, blutend aus vielen erhaltenen Wunden, und ihr Kind stolperte wimmernd neben ihr her. Sie kamen an ein festes Gebäude im Urwald. Wankend vor Schwäche, kroch sie an die Tür und klopfte. 68
Heereshelferinnen kamen heraus und stießen sie fort. Gretta stolperte und fiel. Da nahmen die weißen Mädchen Stöcke und Steine und warfen sie nach ihr, bis sie im Dschungel verschwunden war. Dort fiel sie hin, und die gefleckte Kreatur, die ihr Sohn war, säugte an ihrer Brust wie ein junges Tier. Ben betrachtete das Bild und wunderte sich, keine Gefühle zu empfinden. Er versuchte, sich einzureden, daß diese Kreatur sein Sohn war, aber die Worte hatten keine Bedeutung für ihn. Die Szene wurde blaß und verschwand. * Mit der Gewalt einer Explosion drang das Geräusch in seine Ohren, während blendendes Dicht vor seinen Augen erstrahlte. Tausend Gefühle in seinem Körper sagten ihm, daß er wieder er selbst geworden war. Der dampfende Geruch des Urwaldes stieg in seine Nase, und die Melodie der Dschungelvielfalt bildete eine Geräuschkulisse, auf der sich andere und wichtigere Laute aufbauten. Ben öffnete die Augen. Er lag auf dem Boden, und vor ihm erhob sich eine etwa zwei Fuß hohe Plattform aus Stein. Er drehte den Kopf und sah an jeder Seite der steinernen Estrade eine lange Reihe von Kriegern stehen, von denen jeder seinen Schild hinter sich hielt, so daß das alles ein seltsames Bild abgab, in dem er selbst den Mittelpunkt darstellte. Hinter ihm wurde ein murmelndes Summen laut. Er wandte den Kopf, so weit es möglich war, und sah auf die ersten Reihen einer großen Menge am Boden liegender, indigofarbener Menschen. Sie hatten die Gesichter nach unten gebeugt und hielten die Arme ausgestreckt. Ein lautes Geräusch tönte auf, das ihn zwang, den Kopf wieder der Plattform zuzuwenden. Hunderte von Schlägen wurden gleichzeitig auf die Bronze69
schilde getan, doch ebenso plötzlich verstummten die Töne. Die kniende Menge stieß Seufzer der Verehrung aus, während über Bens Lippen ein leiser Ruf der Verwunderung kam. Auf der steinernen Plattform stand plötzlich ein Mann, ein wahrhaft vollkommen gebauter Mann mit einer Haut, die aussah wie blitzender, blauer Marmor. Er war mindestens dreieinhalb Meter hoch und trug auf dem Kopf eine juwelengeschmückte, mit Rubinen besetzte Tiara, und jeder Rubin schien ein lebendes rotes Auge zu sein. Der Mund dieses Riesen war wohlwollend und fest. Über eine seiner Wangen zog sich eine Narbe. Seine Augen waren lebhaft und schienen vergnügt zu zwinkern. Hinter Ben bewegte sich etwas. Mehrere Gestalten sprangen an ihm vorbei und eilten auf den auf der Estrade stehenden Mann zu. Einer von ihnen war der runzlige alte Priester, zu dem Ben zuvor von den Kriegern geführt worden war. Die vorwärtseilenden Priester sangen zu einer seltsamen Melodie ein Gebet. „O fleischgewordener Gott der Hitze und des Lichtes; o Lenker des Himmels und der Länder der Venus! Wir haben dich gerufen, damit du uns in unserer heutigen Not beraten mögest. Sprich, und wir werden gehorchen.“ Das wiederholten sie unablässig, während die Riesengestalt unbewegt blieb. Jedesmal, wenn die Sengenden neu begannen, näherten sie sich etwas mehr der Plattform. Schließlich schwiegen sie und blieben stehen. Der Riese wartete und schien den von ihm geschaffenen Augenblick dramatischer Spannung zu genießen. Dann sprach er sanft, aber mit einer Stimme, die bis in die weitesten Fernen zu dringen schien, ohne daß sie erhoben wurde: „Wenn die Riesenschlange von den schnellen und scharfzahnigen Baumaffen speisen will, dann verfolgt sie die Tiere nicht durch die Baumwipfel. Sie kann schnell zuschlagen, kann sich 70
ebenso flink bewegen wie jene, aber warum sollte sie die Tiere verfolgen, da sie sich doch in ein anscheinend bequemes und behagliches Nest verwandeln kann, in das die Baumaffen sich zum Schlafe betten? Solltet ihr nicht so weise sein wie die Riesenschlange?“ Aus den Reihen der knienden Priester wurde erregtes Murmeln laut, aber sie erhoben sich nicht. Als die Stimmen verstummt waren, begann der Riese wieder zu sprechen: „Wenn die Kannibalen-Ameisen ein Nest anderer Ameisen verschlingen wollen, dann verfolgen sie nicht eine nach der anderen, um sie zu überwältigen. Sie gehen zu ihnen, leben mit ihnen und umgeben die Ahnungslosen mit Fallen. Dann warten sie geduldig auf den Tag, an dem sie alle anderen ohne Mühe überwältigen können. Auf diese Weise kann eine Handvoll schwacher Kannibalen-Ameisen ohne Gefahr für sich selbst zahlreiche starke und bedrohliche Ameisen vernichten. Könnt ihr nicht daraus Nutzen ziehen und von dem lernen, was euch eure Augen im Urwald zeigen? Warum kommt ihr zu mir und stört meine göttliche Wonne durch das Fehlen jeglicher Vernunft? Geht lieber zu der Ameise und der Schlange und fragt sie, was ihr tun sollt.“ „Aber wie sollen wir das tun?“ fragte flüsternd ein Priester. „Ja, wie nur …“ spottete der Riese. „Macht das hier liegende, gebundene Tier, das euer Blut geschändet hat, zu eurem König!“ Er lachte vernichtend auf, wandte sich um und war plötzlich im Dschungel verschwunden. Sofort erhoben sich zahlreiche Stimmen, und die Priester sowie die Versammelten besprachen, was eben gesagt worden war. Die Priester steckten die Köpfe zusammen und redeten aufeinander ein. Schließlich sprang einer von ihnen auf die steinerne Plattform und hob die Arme. Es wurde still. „Hört mich an!“ rief einer der Priester. „Es ist befohlen wor71
den, und wir müssen gehorchen. Das weiße Tier muß unser König sein! Es ist ein heiliger Befehl.“ In den Augen des Priesters glühte Triumph und Heiterkeit. Das Volk blickte ihn an und stimmte laut zu. Viele Hände machten sich an Bens Rücken zu schaffen. Man band ihn los, stellte ihn auf die Füße und führte ihn zur Plattform. Er wurde hinaufgehoben und stand nun schwankend da, mit schmerzenden Gliedern, in denen langsam das Blut zu zirkulieren begann. Von irgendwo wurde eine Krone gereicht, die derjenigen des Riesen ähnelte, und wurde auf Bens Haupt gestülpt. Dann stand er allein. Die Priester und das Volk sahen ihn an mit denselben Blicken, mit denen sie den Riesen gemustert hatten. „O König der Venus“, sangen die Priester, „befiehl, und wir werden gehorchen!“ Ben starrte ungläubig vor sich hin. Das war phantastischer, als die wildesten Träume des Wahnsinns. Dann kam ihm ein Gedanke. Er wollte sich diesem Spiel leihen und tun, als ob er ihnen glaube. Dann würde er ihnen einen Befehl erteilen, dem sie unweigerlich nicht gehorchen konnten, und das würde dem ganzen Unsinn ein Ende machen. „Tötet zunächst diesen Priester hier“, befahl er majestätisch, „diesen Mann, der es wagte, mich zu berühren.“ Er deutete auf den dürren Priester mit dem gelben Auge. „Gnade, o König!“ stöhnte entsetzt der alte Mann. „Tötet ihn!“ rief Ben. Er war überzeugt, daß sie seinem Befehl niemals nachkommen, würden, denn er glaubte, ihre Absichten zu durchschauen. Dann aber erstarrte er. Drei der anderen Priester wandten sich dem Mann zu, den zu töten Ben befohlen hatte. Etwas blitzte auf, und jener lag sterbend am Boden – drei Messer bis an das Heft im Körper. Gleich darauf war er tot. *
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Der Priesterrat war bedeutend größer, als er erwartet hatte. Anscheinend waren Boten in alle Teile des Kontinents ausgeschickt worden und hatten die Priester aller Stämme herbeigeholt. Es waren Tausende. Als Ben erschien, knieten sie nieder und sangen ein Ritual, das ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sein mußte, da sie alle gemeinsam und gleichzeitig sangen. Er wartete, bis sie geendet hatten, und kam sich dabei ein wenig komisch vor. Schließlich war das Lied beendet, die Priester ließen sich etwas zurücksinken, und Ben begann, sich über sich selbst zu freuen. Soweit es sich erkennen ließ, so unwahrscheinlich es auch schien, die Leute schienen es mit seiner Ernennung zum König ernst zu meinen. Er beschloß, die Dinge so schnell wie nur möglich vorwärtszutreiben, und so begann er, den Versammelten von seinem Plan zu erzählen, mit den Erdenmenschen einen Vertrag abzuschließen. Sie lauschten ernst, während er ihnen ein Bild von den Vorteilen entwarf, die ihnen durch die irdische Zivilisation gebracht werden konnten. Als er dann geendet hatte, erhob sich ein Priester und schlug vor, eine Gruppe zu bilden, die über den Vertrag mit der Erde beraten sollte. * Georges Ley studierte eine Abschrift des von den Venusianern entworfenen Vertrages. Derselbe war von der Expedition, die etwa 700 Meter vor dem Dschungelrand lag, durch Funk an den Hauptstützpunkt weitergegeben worden. Irgendwie kam ihm die Botschaft recht eigenartig vor, obwohl der Vertrag inhaltlich seinen Wünschen entsprach. So stimmte der Priesterausschuß beispielsweise zu, daß die Erdenmenschen bestimmte Gebiete besetzen und bearbeiten durften, die ihnen von den Priestern zugewiesen wurden. Dafür aber sollte es andere Ge73
genden geben, die für die Menschen tabu blieben. Alle Erdenmenschen, die in einem solchen Gebiet angetroffen würden, sollten mit dem Tode bestraft werden. Das war ein wenig schwerwiegend, aber Georges wußte, daß nach vollzogener Besetzung der Venus durch die Erdenmenschen solche Vertragsklauseln durch die Zeit von selbst aufgehoben würden. An einem Punkt konnte Georges deutlich Bens Hand erkennen: Er hatte nämlich festlegen lassen, daß alle Bestrafungen von Erdenmenschen nur durch das Militärgericht der Vereinten Nationen vorgenommen werden durften, während Verhandlungen gegen Venusianer unter der Leitung von Priestern stattzufinden hatten. Dabei war es den Erdenmenschen durchaus möglich, gegen ausgesprochene Urteile Berufung einzulegen und eine neue Verhandlung zu verlangen. Nur ein wirklich erstaunlicher Punkt befand sich in dem von den Venusianern entworfenen Vertrag, und dieser betraf Ben Arnold selbst. Die Erdenmenschen waren verpflichtet, Ben offiziell als den König der Venus anzuerkennen, und es sollte im Vertrag festgelegt werden, daß Ben für den Rest seines Lebens keinem Gesetz unterworfen war – weder demjenigen der Erde noch jenem der Venus. Man durfte ihn vor keinen Gerichtshof stellen, weder auf der Venus noch auf der Erde, und konnte ihn für kein irgendwie geartetes Verbrechen verantwortlich machen. Selbst wenn es zu einem Krieg zwischen Venusianern und Erdenmenschen kommen sollte, hatte Ben immer über dem Gesetz zu stehen. Georges kaute an seiner Pfeife und dachte nach. Der von den Venusianern vorgeschlagene Vertrag war hochanständig, war sogar mehr als das, denn er enthielt nur jene Lücken, die von einem geschickten Diplomaten mühelos zu stopfen waren. Soldaten, die man in den Tabugebieten fand, sollten hingerichtet, zuvor aber von einem irdischen Kriegsgericht verurteilt werden, und das machte es möglich, die Vorschrift zu umgehen. Gut gelaunt unterzeichnete Georges Ley das Dokument. 74
* Die Besetzung des Kontinents durch die Erdinvasoren machte langsame Fortschritte. Die riesigen Straßenbaumaschinen hatten die Hochebene verlassen, noch bevor die ratifizierte Urkunde von der Erde zurückgekommen war, wohin das Mutterschiff sie gebracht hatte. Die irdischen Mächte hielten fest zusammen. Niemals würden die Eingeborenen eine Chance haben, sich den Eindringlingen entgegenzustellen und sie zu vernichten. Die Hauptquartiere blieben auf der Hochebene, und waren nur über die Straße zu erreichen, die Tag und Nacht bewacht wurde. An der Straße erbaute man Kasernen und Forts und besetzte sie mit vielen Männern; diese hielten sich bereit, sofern es doch einmal Schwierigkeiten geben sollte. Doch es gab keine Schwierigkeiten, und die Gemüter beruhigten sich. Man erbaute Häuser und gründete Städte. Die irdischen Truppen zogen in die Häuser ein und stellten die sich eifrig um Arbeit bemühenden Eingeborenen als Diener an. Bens Interesse ging von den vorwärtseilenden Bauobjekten auf das Studium der Tabugebiete und der EingeborenenReligion über. Er allein von allen Erdenmenschen hatte die Erlaubnis erhalten, nach Lust und Liebe frei herumzuwandern. Lange Unterredungen mit seinen ehemaligen Offizieren in der Armee hatten ihn überzeugt, daß seine Aufgabe dieser Welt und den Venusianern gegenüber wichtiger war, als sein Privatleben. Er legte schriftlich fest, was er über das venusianische Leben und die Gebräuche der Eingeborenen erfuhr. Die Notizen wuchsen an, und wenn sich die Erde wieder einmal der Venus nähern würde, so daß die Kückenraumschiffe die Rückreise antreten konnten, würde er das erste epochale Werk über Venusgeschichte, Gebräuche und Religion dieser neuen Welt geschrieben haben. 75
Der interessanteste Teil seines Studiums wurde ihm von der Venusreligion gegeben. Zahllose Generationen lang waren die Priester auch die Führer, Wissenschaftler und Lehrer ihres Volkes gewesen. Ben war weit davon entfernt, ein Naturwissenschaftler zu sein, aber er hatte viele Bücher gelesen, die ihm die notwendige Wissensgrundlage vermittelten. Ben lernte Dinge kennen, die von den Venusianern als elementar betrachtet wurden, von denen er aber wußte, daß sie auf der Erde eben erst entdeckt worden waren. – Dinge, die mit der Gedankenwelt und dem Gehirn, mit deren Macht und Möglichkeiten zusammenhingen. Er befand sich jetzt auf dem Wege zu einer solchen Unterrichtsstunde, als er den Dschungelpfad entlangging. Der Pfad endete am Rande einer großen Lichtung im Herzen der Tabugebiete. Die Lichtung war die einzige, von Ben bis jetzt entdeckte Stelle, auf der die Eingeborenen Pflanzen anbauten, denn die Pflanzen, die sie für ihre Nahrung benötigten, wuchsen wild in der Natur. Bauernhöfe und Gärten waren für die Venus nicht erforderlich. Aber hier, auf dem großen Grundstück, blühte ein wohlgepflegter Garten von Blumen und wunderbaren Bäumen. In geraden Linien und anmutigen Kurven zogen sich die Pfade durch die Blumenbeete. Soweit Ben bis heute festgestellt hatte, war keines der hier gedeihenden Gewächs anderswo im Urwald zu finden. Es war ein seltsamer, geheimnisvoller Fleck, der Ben faszinierte. Die hier tätigen Priester waren nach seiner Feststellung die einzigen Eingeborenen der Venus, die Kleider trugen – lange Kleider aus Wolle, die von einem schafähnlichen Tier stammte, das man gelegentlich auf den im Dschungel befindlichen Wiesen weiden sehen konnte. *
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Der Hohepriester wurde Ung genannt, doch Ben wußte nicht, ob es sein Name oder sein Titel war. Auf der blühenden Lichtung befand sich so etwas wie ein Kloster, und das Leben in ihm schien sich nur um Ung zu drehen. Die unteren Priester verbrachten den größten Teil ihres Lebens auf den Knien, Stets in Hörweite des Priesters Ung, um seiner Befehle gewärtig zu sein. Sobald Ung sich entfernte, erhoben sie sich etwas und rutschten ihm nach, so daß man fast glauben konnte, sie würden sich überhaupt nicht bewegen. In Ungs Gegenwart zeigten sie weder ihre Gesichter noch pflegten sie zu sprechen. Obwohl stets sehr viele Priester anwesend waren, wenn Ben hier auftauchte, so hatte man doch den Eindruck, als ob es nur Ung, Ben und jenen namenlosen Priester gäbe, der zu Bens Schatten geworden war, und der sich gleichfalls zu Boden warf, sobald Ung sich in seiner Nähe sehen ließ. Als Ben die Lichtung erreichte, sah er Ung langsam über einen Pfad gehen. Ung erblickte ihn sofort und winkte ihm grüßend zu. Er blieb stehen und wartete, bis Ben ihn erreicht hatte, und bewunderte dabei eine große, orchideenähnliche Blume, die er gepflückt hatte. „Guten Morgen, Ben“, begrüßte ihn Ung. „Dein entschlossenes Aussehen verrät mir, daß du heute etwas Besonderes vor hast. Aber das kann warten. Erst muß ich meine Pflichten der Natur gegenüber erfüllen und die Geschenke annehmen, die durch mich den Göttern der Venus überreicht werden sollen.“ Ung setzte seinen Spaziergang fort und blieb gelegentlich stehen, um eine Blume zu betrachten. Wenn dieselbe sein kritisches Auge befriedigte, dann pflückte er sie. Als er ein Dutzend verschiedener Blumen gebrochen hatte, wandte er sich dem Gebäude zu. Schweigend ging Ben neben ihm her. „Die Natur verehrt die Götter in derselben Weise, in der es die Menschen tun“, sagte Ung, als sie sich dem Gebäude näherten. 77
„Sie tut es nur irgendwie zurückhaltender und vollkommener, denn der Mensch bietet nur das Unvollendete, während die Natur geduldig Millionen Dinge schafft, bis sie etwas Vollendetes bieten kann.“ Sie betraten das Gebäude und durchschritten den großen Raum – den einzigen, den Ben jemals gesehen hatte. „Begleite mich“, sagte Ung. „Du sollst heute an der Zeremonie teilnehmen, durch die den Göttern die Geschenke der Natur überreicht werden sollen.“ Sie verließen den großen Raum und kamen in eine etwas kleinere Halle, und hier konnte Ben einen Ruf der Überraschung nicht unterdrücken. In den vier Ecken der Halle standen vier riesige Götterbilder. Sie waren keine primitiven Statuen, wie man sie an ähnlichen Orten der Erde gewöhnlich vorfand, sondern im Gegenteil, so vollendet, daß man sie für eingefrorene lebende Gestalten hätte halten können. Jedes Standbild stellte einen Venusianer von dreieinhalb Meter Größe dar; jeder trug eine goldene Krone, die mit großen Rubinen verziert war. Aber nur zwei von ihnen besaßen die dunkle Indigofarbe der Venusianer; die dritte war aus reinem Gold gestaltet und hellglänzend, und den vierten hatte man aus sprunglosem, weißen Material geschaffen, das den Schimmer edler Perlen hatte. Jede der vier Gestalten war von einer Aura umgeben, die sie fast lebendig erscheinen ließ. Ben blickte die Statuen näher an. Nur eine der Gestalten war in leichter Weise unvollkommen, und zwar das Bild eines indigofarbenen Gottes. Derselbe trug so etwas wie eine Narbe auf der Wange. Es schwamm Ben vor den Augen. Wenn er nicht den Verstand verloren hatte, war dies eine genaue Nachahmung jenes Riesen, der auf der Plattform erschienen war und befohlen hatte, ihn zum König der Venus zu machen. 78
Fast furchtsam blickte er in das götterähnliche Antlitz der vollkommenen Gestalt. Die Augen des Bildes schienen ihn ironisch anzusehen und sich über seine verworrenen Gedanken zu belustigen. Es dauerte eine Weile, bis Ben sich von der Gestalt abwenden und dem Beginnen Ungs zuschauen konnte. Ung stand vor einem gemeißelten Tisch in der Mitte des Raumes, der aussah, als ob man ihn ursprünglich dazu bestimmt hatte, als Brunnen zu dienen. Doch nicht Wasser quoll aus ihm hervor, sondern es schwebte eine blasse, blaue Flamme über ihm. Die Flamme mußte von irgendwo gespeist werden, aber Ben konnte keinerlei Öffnung erkennen. Auch schien sie sich niemals allzu tief gegen den Mittelpunkt der großen Schale zu senken, aus der sie lebte. Sorgfältig sah Ben sich die Flamme an. Sie war geformt wie eine Träne, breit und rund am unteren Rand, um sich zu einer Spitze zu verjüngen. Die Umrisse waren vollkommen scharf; sie schwankte leicht und schien rasch zu vibrieren. Auch war sie fast durchsichtig – von einem farblosen Blau. Ben gewann schließlich die Überzeugung, eine Gasflamme vor sich zu sehen und vermutete, daß das Gas durch eine winzige, von hier aus nicht erkennbare Öffnung nach oben stieg. Ung nahm eine seiner mitgebrachten Blumen und schob sie langsam in die Flamme, von der sie stückweise verzehrt wurde, bis das Gewächs und selbst der Stengel verschwunden waren. Die Blume löste sich dabei vollkommen auf und hinterließ keinerlei Asche. Während des Verbrennungsprozesses verfärbte sich die Flamme leicht, um danach sofort wieder ihre helle blaue Farbe anzunehmen. Eine Blume nach der anderen wurde von Ung der Flamme übergeben, und alle verschwanden auf dieselbe Weise. Als das letzte Stückchen Stengel von der Flamme verschluckt wurde, begann irgendwo im Freien eine Trommel zu dröhnen – oder 79
hatte sie bereits die ganze Zeit geschlagen, um erst jetzt, da die letzte Blume verschwunden war, mit ihrem Klang in sein Bewußtsein einzudringen? Ben wußte es nicht. Mit ausdruckslosem Gesicht drehte Ung sich um und ging auf die Tür zu, durch die sie eingetreten waren. Ben warf einen letzten Blick um sich. Die vier Idole blickten ihn an, gottähnlich und würdevoll, jung, aber doch unvorstellbar alt, und ihre Züge wirkten irgendwie sehr lebendig. Die lebende Flamme schwebte über dem Becken, ebenso lebendig wie die vier Statuen. Das Geräusch der Trommel schien in der Luft zu stehen und ein Teil des Baumes zu sein. Und da hatte Ben das seltsame Gefühl, daß er die Hände ausstrecken und dieses Geräusch in die Arme nehmen könnte, worauf es Gewicht und Festigkeit haben würde wie ein Gegenstand. Er schritt hastig an dem wartenden Ung vorüber in den äußeren Raum und begab sich an den steinernen Sitz, auf dem er Platz zu nehmen pflegte, wenn er den Worten des Priesters lauschte. Ung setzte sich ihm gegenüber, und seine Augen ruhten auf den Zügen des Erdenmenschen. Er begann zu sprechen – mit leiser, hypnotisch-eindringlicher Stimme. „Der Kosmos ist eines“, begann er, „aber seltsamerweise gibt es eine Vielzahl möglicher Kosmen – und einer von ihnen stand einem unüberwindlichen Problem gegenüber. Es war sein Schicksal, das Ganze und alles in sich aufzunehmen. Aber wie konnte das eine, das ist, alles in sich aufnehmen, das nicht ist?“ Ung schwieg. Langsam, mit geschlossenen Augen, beugte er sich nach vorn und richtete sich dann wieder auf. Er schien entweder auf eine Antwort von Ben zu warten oder hatte überhaupt vergessen, daß er gesprochen hatte. Ben versuchte, herauszufinden, was der Fall sein mochte. Er wollte eben das Wort ergreifen, als Ung weitersprach: „Die Antwort ist einfach, obgleich man unendlich lange Zeit 80
gebrauchte, sie zu finden. Diese Antwort lautet: Der Geist! Nämlich der Geist, der ein Kosmos innerhalb des Kosmos ist – getrennt und von seinem Schöpfer unabhängig.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Ben gedankenvoll. „Lange Zeit hindurch haben die Philosophen der Erde überlegt, ob ein Kosmos überhaupt vorhanden sei. Das höchste, was sie schließlich erkannten, war die Tatsache, daß es möglich sei, seine Existenz zu beweisen, und daß jeder individuelle Geist sich die eigenen Voraussetzungen für das Vorhandensein des Kosmos schaffen muß.“ „Ja“, sagte Ung, „sogar auf der Erde erkennt man, daß der individuelle Geist ein Kosmos in sich selbst ist und in logischer Weise isoliert bleibt von dem Einen, der ihm das Sein gab. Alle Logik ist in der letzten analytischen Einführung zu finden, und jedes Gesetz in jenem analytischen Edelstein, den man Wahrheit nennt.“ Ben musterte ihn fragend. „Wenn man älter wird“, fuhr Ung fort, „erkennt man eine der fundamentalsten Wahrheiten der Metaphysik: das nämlich der Gegenstand eigentlich nicht vorhanden ist, sofern man ihn nicht sieht.“ „Hör mal, Ung“, wunderte sich Ben, „möchtest du mir einreden, daß du nicht mehr vorhanden bist, sobald ich dir den Rücken zugewandt habe und den Pfad entlanggehe, bis ich morgen zurückkehre und dich wieder sehe?“ „Du drückst das aus, was ich meine“, erwiderte Ung ernst. „Überlege bitte einmal“, bat Ben, der den Verdacht hegte, daß Ung sich über ihn lustig machen wollte. „Aber siehst du es denn nicht ein?“ fragte Ung traurig. „Ich weiß jedenfalls, daß du die Wahrheit erkennen würdest, wenn du ein Kind wärest. Warum ist es jetzt nicht der Fall?“ „Weil es einfach nicht wahr sein kann“; antwortete Ben verlegen. 81
„Ich verstehe“, nickte Ung. „Ich beginne, den Grundirrtum zu erkennen, auf dem die irdische Zivilisation beruht. Es ist zwar unbegreiflich, scheint aber doch Tatsache zu sein, daß viele Individuen durch ebenso viele Generationen hindurch auf einem Planeten, der so groß ist wie die Venus und in mancher Beziehung sogar begünstigter als dieser, wohl die feste Basis der Metaphysik erkennen konnten, ihr dann aber für den Rest des Lebens den Rücken zudrehten. Es ist, wie ich sagte, unglaublich, scheint aber doch der Fall zu sein.“ Gedankenvoll blickte er an Ben vorbei durch die Tür in den draußen befindlichen Garten. „Ich frage mich, ob die Tiere und Insekten auf deinem Planeten ebenso handeln.“ Er lächelte entschuldigend. „Verzeih die scheinbare Beleidigung deiner Rasse gegenüber, Ben. Abgesehen von der intelligentesten Lebensform der Erde, die durch euch vertreten ist, habe ich niemals ein lebendes Wesen eures Planeten gesehen. Hier auf der Venus befassen wir uns mit den Tieren und Insekten, erlernen ihre Philosophie und versuchen, sie zu begreifen. Tut ihr das bei euch auch?“ „Soviel ich weiß, haben die Tiere und Insekten der Erde niemals die Fähigkeit des Denkens besessen“, antwortete Ben. „Das ist nun wieder einmal dein Standpunkt“, lachte Ung. „Ihr legt einen zu großen Wert auf das Denken und benutzt es als Grundlage zu jener Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und Theorien aufzustellen.“ „Soll man das denn nicht?“ fragte Ben überrascht. „Natürlich nicht“, erwiderte Ung nachdrücklich. „Entweder hast du jetzt den Weg unserer ursprünglichen Unterhaltung so weit verlassen“, erwiderte ihm Ben nach einer Weile, „daß ich ihn nicht mehr erkennen kann, oder ich habe mich so weit von ihm entfernt, daß mir ein Folgen unmöglich ist. Welches von beiden ist richtig? Antworte nicht; ich weiß, was du denkst.“ 82
Ung warf den Kopf zurück und lachte herzlich. „Laß mich dir eine Frage stellen, die uns vielleicht wieder auf die Spur unserer Unterhaltung zurückführt.“ Und dann, auf Bens Nicken: „Gibt es etwas in deinem Geist, das dir dauernd bewußt ist? Laß mich ein Beispiel anführen und meine Frage erklären: Du glaubst, daß ich auch in der Zeit existiere, in der du mich nicht siehst. Du glaubst, daß sich meine Existenz ununterbrochen fortsetzt, von Tag zu Tag, obwohl du täglich nur zwei Stunden bei mir bist. Du könntest folglich hier sitzenbleiben, um mich unentwegt in deinem Blickfeld zu behalten. Gibt es in dir nun irgendeinen Gedanken oder eine Erinnerung, die in dieser Sphäre des Bemerkens ununterbrochen bestehen bleibt?“ „Nein“, antwortete Ben bestimmt, „wenn du damit andeuten willst, ob ich bewußt daran denke.“ „Das wollte ich nicht sagen“, meinte Ung. „Nimm beispielsweise das Geräusch der Trommeln, die du hörst.“ „Richtig“, rief Ben aus und begann langsam zu begreifen. „Die Trommel hat während der ganzen Zeit getönt, und ich habe es bemerkt, ohne daran zu denken. Sie begann zu schlagen, als wir uns in dem anderen Raum aufhielten, und setzt ihr Tönen seither unablässig fort. Doch ich habe mich so an das Trommeln gewöhnt, daß es mir erst zum Bewußtsein kam, als du meine Aufmerksamkeit darauf lenktest.“ „Wenn du erlaubst“, sagte Ung, „möchte ich gern etwas mit dir versuchen. Es wird eine Art Experiment sein und dir helfen, das zu verstehen, was ich andeuten möchte. Ich bezweifle nämlich, daß du fähig bist, die venusianische Wissenschaft zu begreifen, solange du nicht die ersten Marksteine hinter denen gelassen hast, die von deiner eigenen Zivilisation in eurer irdischen Gedankenwelt errichtet wurden.“ „Welches Experiment soll es denn sein?“ fragte Ben amüsiert. „Ich möchte das Geräusch dieser Trommel als einen gedank83
lichen Gegenstand in deinen Geist pflanzen“, erklärte Ung. „Das wird nicht allzu schwer sein, und wird uns eine Grundlage geben, auf der wir aufbauen können, um dann weiterzugehen. Du wirst dich an das Geräusch gewöhnen, wie du daran gewöhnt bist, einen Körper zu haben. Du bist intelligent, hast die Fähigkeit, die Dinge zu verstehen, die ich dich lehren muß, doch dir fehlt der Grundstoff, von dem wir ausgehen müssen.“ Einen Augenblick lang sah er Ben angestrengt an. „Ich lese aus deinem Geist, daß du versuchst, ein Buch zu schreiben, welches der Erde die Venus verständlich machen soll. Wenn du in der dir selbst gestellten Aufgabe Erfolg haben willst, mußt du erst einen echten Einblick in unsere Denkungsweise bekommen. Wenn du mir erlaubst, zu tun, wie ich es wünsche, werde ich dir in einer Art helfen, die überraschend und erfolgreich sein wird.“ „Ich will jetzt das beginnen, was ihr hypnotisieren nennt“, erklärte Ung. „Ich werde dich einschläfern.“ „Und du wirst auch nichts anderes mit mir anstellen, wenn du mich hypnotisiert hast?“ fragte Ben etwas mißtrauisch. „Nein“, versprach Ung. „Ich will dir nur das Geräusch der Trommeln einpflanzen, so, wie du es jetzt vernimmst. Dieses Geräusch wird in deinem bewußten Geist fortleben und für immer ein Teil deines Bewußtseins bleiben!“ Seine Stimme hatte sich plötzlich gesenkt, und seine Augen blickten angestrengt in die von Ben. „Es wird sich immer und immer wiederholen“, sprach er leise und eintönig, „wird unablässig vorhanden sein, stets dasselbe Geräusch. So wie du es jetzt vernimmst, wirst du die Töne immer hören, ununterbrochen hämmernd, dauernd in deinem Bewußtsein vorhanden. Es wird dir eine Grundlage deines Denkens sein und bleiben, ein ewiges Schlagen im gleichen Rhythmus, der sich niemals verändert. Du wirst es unterdrücken, wirst es im Mittelpunkt des Bewußtseins halten und dann an Stärke an84
schwellen lassen können, bis es betäubend wird, aber zerstören wirst du es niemals können. Es wird immer vorhanden sein!“ * Die Tage vergingen schnell, und es näherte sich die Zeit, da Venus und Erde einander so nahe kamen, daß die Kückenschiffe zurückkehren konnten. Ben war glücklich an der Seite Grettas, glücklicher, als er es jemals erträumt hatte. Sein täglicher Weg zu Ung und die Arbeit an seinem Manuskript nahmen den größten Teil seiner Zeit in Anspruch. Gelegentlich kam Georges Ley, um einige Stunden bei ihm zu verbringen. Er erzählte dann von den Dingen, die sich draußen bei der Truppe ereigneten, so daß Ben sich ein ungefähres Bild vom Stand der Entwicklung machen konnte. An mehreren Stellen hatte man reiche Mineralvorkommen entdeckt, und man war dabei, zwei große Ölfelder zu erschließen. Eine Raffinerie stellte mehr als genug Treibstoff für alle Fahrzeuge her. Man erbaute immer neue Dinge, die für Ewigkeiten bemessen schienen, und es sah aus, als ob die Venus binnen weniger Jahre sowohl für die Eingeborenen wie die Erdbewohner zu einem Paradies werden würde. Dann aber wachte Ben eines Morgens mit dem seltsamen Gefühl auf, daß etwas anders geworden sei. Er lag auf dem Bett und versuchte, herauszufinden, was eigentlich geschehen sein mochte. Er horchte auf die Geräusche des Dschungels, die immer vorhandenen Töne des Wachsens und Gedeihens, das gelegentliche Fallen eines Baumes, der in der Ferne gestürzt war, das Zwitschern der Vögel und die Schreie der Baumtiere in der unmittelbaren Umgebung des Dorfes. Alles war wie immer. Er stand auf und ging an die Tür seines „Palastes“, eines festen Gebäudes, das man für ihn erbaut hatte. Er fühlte sich seltsamerweise müde und erschöpft, obwohl er eine ruhige 85
Nacht verbracht hatte. Er konnte sich nicht einmal entsinnen, geträumt zu haben. Seine Augen waren ein wenig verschleiert, und er hob die Hand, um sie zu reiben. Doch auf seiner Hand befand sich ein Flecken, den er eingehender anblickte. Es war ein Flecken geronnenen Blutes. Er runzelte die Stirn und versuchte, sich über seine Empfindungen klarzuwerden. Vielleicht hatte er sich irgendwo verletzt? Er konnte aber keine Wunde entdecken. So ging er zurück zu Gretta; sie schlief, schien also in Ordnung zu sein. Gedankenvoll begab er sich an ein Waschbecken und wusch den dunklen Fleck ab. Er beschloß, keinem etwas davon zu erzählen, aber seine Beunruhigung blieb. War es denn möglich, daß man ihn zu einem Schlafwandler gemacht hatte? Seine Müdigkeit und das Gefühl, als habe er seit dem Zubettgehen eine ganze Tagesarbeit verrichtet, schienen diese Annahme zu bestätigen. Aber Blut – Blut – – – Er wünschte nun, daß er es doch nicht abgewaschen hätte, er hätte es dann analysieren lassen können, um festzustellen, ob es menschliches Blut war. Schnell durchsuchte er das Bett, in dem er geschlafen hatte, fand aber nicht den kleinsten Flecken. Offensichtlich war das Blut getrocknet, ehe er sich ins Bett begeben hatte. Gretta erwachte und drehte sich faul um. Sie gähnte, murmelte etwas, legte sich auf die Seite und schlief wieder ein. Ben blickte sie gedankenvoll an. Das war so gar nicht Grettas Art. Gewöhnlich war sie die erste, die frisch und lebendig aufwachte; jetzt aber tat sie, als ob sie ein Schlafmittel zu sich genommen habe. Er beschloß jedoch, sie nicht zu stören. Verwirrt ging er in das Speisezimmer und verzehrte das Frühstück, das ihm von eilfertigen Dienern aufgetischt wurde, die irgendwie zu einem Teil seines Haushalts geworden waren, ohne daß er wußte, wer sie waren und woher sie kamen. 86
Er hatte sein Mahl soeben beendet, als Georges Ley eintrat. Ihm folgte ein protestierender Diener, der darauf bestand, daß er zu warten habe, bis er richtig angemeldet worden war. „Guten Morgen, Georges.“ Ben begrüßte ihn mit einem Lächeln, das das in ihm aufsteigende Angstgefühl verbergen sollte. „Setzen Sie sich und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.“ Georges überlegte. „Ich glaube, daß ich sie gebrauchen kann“, antwortete er dann. Er setzte sich an den Tisch, und noch ehe er richtig Platz genommen hatte, stand der Kaffee vor ihm. Er schüttete die braune Flüssigkeit förmlich hinunter und stellte die Tasse dann so heftig zurück, daß sie beinahe zerbrochen wäre. „Ben“, sagte er erregt, „wir haben unseren ersten Ärger. Insgeheim war ich überzeugt, daß so etwas einmal kommen würde, hatte zugleich aber gehofft, daß ich mich irrte.“ „Was ist geschehen?“ fragte Ben tonlos. Er hielt die Augen halb geschlossen und schlürfte langsam den Kaffee, um die auf seinen Zügen zum Ausdruck kommende Erregung zu verbergen. „Erinnern Sie sich an die russische Heereshelferin auf Kücken 1? Ich meine jene Frau, von der wir mehr oder weniger genau wußten, daß sie sich in den Negersoldaten verliebt hatte.“ Ben nickte, und seine Kehle zog sich zusammen. „Vor ein paar Stunden wurde sie ermordet“, fuhr Ley bitter fort. „Es war der brutalste Mord, von dem ich jemals vernommen habe.“ „Folglich sind doch noch Schwierigkeiten eingetreten“, sprach Ben heiser. „Vielleicht besteht die Möglichkeit, den Fall geheimzuhalten, bis wir nähere Einzelheiten ausfindig gemacht haben?“ „Nicht die geringste Möglichkeit“, antwortete Georges. „Die Geschichte ist wie ein Lauffeuer durch das Lager gegangen. Noch ehe der Tag verstrichen ist, wird jeder auf der Venus, die Eingeborenen eingeschlossen, davon gehört haben.“ 87
Ben sah bestürzt auf seine Hände. Konnte er der Täter gewesen sein? Die Müdigkeit beim Erwachen, der Blutfleck auf seiner Hand – sie stellten für ihn so etwas wie eine Gewißheit dar. Aber war er stark genug, so etwas zu tun? Wie man es auch nahm, es war ein fürchterlicher Mord und jedenfalls nicht die Art eines Mordes, den ein Mann begehen würde, der seiner Sinne mächtig war. Hingegen konnte ein schlafender Nachtwandler ein solches Verbrechen begehen. Er konnte sich vielleicht einbilden, daß er ein streuendes Gewehr benutzte, konnte glauben, daß das Mädchen krank war und es keinen anderen Weg gebe, es zu heilen. Es konnte – ach, es konnte unendlich viele Motive geben, die einem schlummernden Geist sämtlich normal vorkamen, wenn die Tat im Traume begangen wurde. „Ich habe an eine Möglichkeit gedacht“, sagte Georges und unterbrach Bens Gedankengänge. „Angenommen, es war ein Soldat – er könnte in ihr Zimmer gegangen und zudringlich geworden sein. Sie wies ihn zurück, ohne daß es zu einem Kampf kam. Vollkommen unwahrscheinlich ist das nicht. Die Männer befinden sich schon seit nahezu ziehn Monaten auf der Venus, müssen sich aber nach wie vor der strengsten Disziplin unterwerfen. Nehmen wir nun weiter an, daß sie drohte, ihn zu melden – da beschloß er, sie zu töten. Um den Verdacht auf die Eingeborenen zu lenken, tat er das, was ihm in den Sinn kam, er handelte nämlich in einer Weise, in der kein einziger Weißer gehandelt haben würde. Mit anderen Worten: Er tat etwas, was den Verdacht von ihm und allen Kameraden ablenken mußte. Sehen Sie, dieses Verbrechen kommt mir fast vor wie die Tat eines Mannes, der nicht allzuviel Verstand besitzt und sich vorstellt, daß die Venusianer auf diese Weise handeln würden.“ „Das hat etwas Wahrscheinlichkeit für sich“, stimmte Ben zu. „Es wäre jedenfalls angebracht, in dieser Richtung Nachfor88
schungen anzustellen. Man könnte vielleicht die Unterkünfte sorgfältig nach Waffen und blutbefleckten Kleidern durchsuchen lassen. Ebenfalls müßten die Wäschereien ihren Betrieb einstellen, bis alle Uniformen geprüft sind. Obwohl ich mich mit dieser Lösung nicht so recht zufriedengeben mag. Irgendwie habe ich das Gefühl, das hinter dem Mord ein ganz normales Motiv steckt. Sie können es eine Ahnung nennen.“ „Was verstehen Sie unter einem normalen Motiv?“ fragte Georges. „Kann ein solches Verbrechen überhaupt von einem normaldenkenden Menschen begangen werden? Vielleicht von einem Eingeborenen“, setzte er hinzu, „der in seinen eigenen Augen ganz normal, für uns aber unverständlich handelte.“ „Ich wollte ausdrücken, daß ich das Gefühl habe, es müsse einen bestimmten Grund für die Durchführung des Verbrechens geben“, meinte Ben. „Natürlich hört es sich phantastisch an, aber trotzdem – Doch ich kann mir nicht vorstellen, wie der Grund gelautet haben mag.“ „Ich werde Ihre Anregungen jedenfalls nicht vergessen, Ben“, sagte Georges ernst. „Ich kehre jetzt zurück, um den Fall nach Ihren Hinweisen zu untersuchen, bin aber überzeugt, daß die Leute, die mit der Untersuchung betraut werden, schon jetzt der festen Meinung sind, daß der Mörder nur ein Eingeborener sein kann. Weshalb sie nicht allzu lange nach einem weißen Täter Ausschau halten werden.“ Er erhob sich, grüßte und ging. Als Georges ihn verlassen hatte, stand Ben eine ganze Weile unbewegt da und starrte auf die verschlossene Tür. Woher waren ihm die Vermutungen überhaupt gekommen? Vielleicht aus seinem Unterbewußtsein, in dem noch jede Einzelheit des Verbrechens lebte? Auf Ungs Zügen lag ein ruhiges Lächeln, als er Ben über den Dschungelpfad kommen sah, doch seine Mundwinkel waren grausam verzogen, und in seinen Augen funkelte es kalt und 89
fast belustigt. Er folgte Ben mit den Blicken, während er durch den Garten auf ihn zukam. „Guten Morgen“, sagte Ben fröhlich. Ung zögerte etwas und nickte dann grüßend zurück. „Macht dir irgend etwas Sorgen?“ fragte er. „Nein“, entgegnete Ben. „Überhaupt nichts. Ich fühle mich sehr wohl. Warum denn auch. Sehe ich denn sorgenvoll aus?“ „Du machst einen – einen unausgeruhten Eindruck“, erklärte Ung, und seine Augen blickten ihn durchbohrend an. „Ich habe nicht besonders gut geschlafen“, gab Ben zu. „Ich bin mehrmals aufgewacht. Vielleicht habe ich ein wenig unter dem Wetter zu leiden, aber sonst fühle ich mich ganz wohl.“ Ung zuckte unmerklich die Achseln und wandte sich dann den Steinspitzen zu, auf denen er und Ben während der Gespräche Platz zu nehmen pflegten. Gedankenvoll blickte Ben auf Ungs Rücken, während er ihm nachging. Er hatte beschlossen, Ung nichts von seinen Zweifeln zu sagen. Wenn tatsächlich etwas nicht in Ordnung war, und Ung darüber Bescheid wußte, würde er sich vielleicht selbst verraten, besonders, wenn Ben vorgab, daß nichts geschehen war. War seine Frage, ob Ben beunruhigt sei, vielleicht von dem Wissen diktiert, daß sich tatsächlich etwas ereignet hatte? Das war nicht ausgeschlossen. Ung nahm seinen gewohnten Platz ein, und Ben setzte sich ihm gegenüber und wartete, bis jener das Wort ergriff. „Du machst gute Fortschritte“, sagte Ung und begann damit, das Thema aufzugreifen, über das sie bereits seit Wochen diskutierten. * Mary Adams, eine Weiße, und Louella Browne, eine Farbige, bewohnten gemeinsam einen Baum. Beide stammten ursprünglich aus Chikago und lebten jetzt in einem, im zweiten Stock 90
eines großen Gebäudes gelegenen Wohnraum zu Chikago auf der Venus. Mary konnte nicht zu Bett gehen. Sie bildete sich ein, ein seltsames Rascheln zu vernehmen, das tief aus dem Boden zu kommen schien. „Leg dich doch endlich hin, Mary“, sagte Louella ärgerlich, „oder sei wenigstens ruhig, daß ich einschlafen kann.“ „Und ich sage dir noch mal“, rief Mary aus, „daß ich etwas höre. Es ist ein seltsames Rascheln, als ob Millionen Insekten auf Blättern herumkröchen.“ „Ich höre es ebenfalls, Mary“, stimmte Louella zu, „aber deshalb brauchen wir doch nicht auf unseren Schlaf zu verzichten.“ „Es erschreckt mich“, sprach Mary ängstlich. „Ich möchte gern wissen, was es ist.“ Sie erhob sich und drehte das Licht an, warf den Morgenmantel über die Schultern und ging ins Badezimmer. In allen Räumen befanden sich Fenster, aber das Tageslicht war nicht so stark, daß man auf elektrische Lampen verzichten konnte, selbst wenn die ewige Wolkendecke dünner wurde. Sie nahm das Trinkglas und wollte den Wasserhahn öffnen, doch plötzlich verharrte sie regungslos. Ihre entsetzten Augen blickten fasziniert auf den Abfluß. Der Abfluß war vollkommen gefüllt von einer kochenden, weißen Masse, und diese Masse drängte nach oben, lief über und entwickelte sich beim Überlaufen aus dem Becken in kleines, wurmähnliches Getier. Im Augenblick aber, da diese Würmer sich aus der Masse lösten, begannen ihre Füße zu wachsen. Zumindest sah es aus, als ob es Füße seien, obgleich es auch Fangärmchen sein konnten, die aus den Körpern kamen. Vielleicht auch waren es vollentwickelte Beine, die nach Belieben eingezogen und dann wieder ausgestoßen werden konnten. Die Tiere bildeten einen schrecklichen Teppich aus bewegli91
chem Weiß, überzogen den glänzenden Rand des Beckens und überkletterten denselben. Während sie sich bewegten, schienen sie auch Köpfe mit großen Kinnbacken zu bekommen. Als sie über den Rand des Waschbeckens fielen, waren sie zu weißen, termitenähnlichen Insekten geworden, und nicht mehr die kleinen Würmer, die sie gewesen waren, als sie sich aus der Masse lösten, die sich durch das Abflußrohr des Beckens nach oben schob. Mary schrie. Dann begann sie, wie wahnsinnig an ihrer Hand zu kauen und verließ langsam, rückwärtsgehend das Badezimmer. Louella sprang aus dem Bett und eilte auf sie zu, um einen Blick in den Baderaum zu werfen. „Wir müssen fliehen“, sagte sie hastig, schlüpfte in die Pantoffeln und hing ebenfalls einen Mantel um. Die beiden Mädchen öffneten die Tür zur Halle und begannen, schnell zu laufen. Sie wußten nicht, wohin sie eilten; sie hatten nur den einen Wunsch, sich möglichst weit von ihrem Badezimmer zu entfernen. Als sie auf der Treppe waren und diese teils hinabrasten, zum Teil hinunterfielen, hörten sie von oben einen entsetzlichen Schrei. Auf dem Korridor befanden sich bereits Tausende der kleinen, termitenähnlichen Tiere. Die beiden Mädchen eilten dem Haupteingang zu und bemühten sich, mit ihren Füßen möglichst wenig den Boden zu berühren. Unweit der großen Tür stürzte Louella und war sofort von einem weißen Teppich bedeckt, der ihre dunkle Haut befleckte. Sie schrie gellend auf und schlug mit den Armen um sich. Mary blieb an der Tür stehen und blickte zurück. Sie sah, wie Louella sich erhob. Ihre Augen waren von den weißen Geschöpfen überkrustet, so daß ihre Lider sich nicht mehr schlossen. Dann verspürte sie einen scharfen, nadelähnlichen Schmerz, als einige Tiere sich in ihren nackten Knöchel verbissen. 92
Die Schreie ihrer unglücklichen Kameradin klangen in ihre Ohren, als sie das Gebäude verließ. Draußen sah sie einen mächtigen, indigofarbenen Riesen. Ihre Augen erkannten staunend, daß er auf einem richtiggehenden Bett dieser weißen Geschöpfe zu stehen schien, ohne daß er von ihnen angegriffen wurde. Neben sich hielt er einen riesigen Bronzeschild, Mary war so an die Eingeborenen gewöhnt, und diese waren immer so unterwürfig und höflich gewesen, daß sie das ganze Bild fast unbewußt in sich aufnahm. Sie rannte auf ihn zu und schrie in Pidginenglisch: „Rette mich!“ Er lachte sie breit an. Am Rande ihres Blickfeldes bewegte sich etwas. Sie blieb stehen und sah in die seelenlosen Augen und das grinsende Gesicht des Eingeborenen. Nur instinktiv wurde ihr bewußt, daß er sie erdolchte. Beim Fallen verspürte sie einige Nadelstiche und hatte das Gefühl von rauher Wolle auf der Haut. Sie starb, während sie sich über diese Wolle wunderte, und wußte nicht, daß es die Beine der Insekten waren, die über sie hinwegkletterten. * Georges Ley saß schlafend in einem bequemen Sessel seines Schlafzimmers. Die erloschene Pfeife rutschte aus seiner Hand und fiel zu Boden. Das Geräusch weckte ihn. Er streckte die Hand aus und hob die Pfeife auf, nahm abwesend sein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sie wieder an. Als er an der Pfeife zu saugen begann, blieben seine Augen zufällig an der Tür zum Baderaum hängen. Durch den Türschlitz bewegte sich ein weißer Teppich in den Raum, kam vorwärts und breitete sich suchend aus. Georges schloß das Feuerzeug und sah sich schnell um. Die 93
Insektenherde umgab ihn bereits. Eines der Tiere erkletterte seinen Schuh. Er bückte sich nieder, um es näher zu betrachten, und sofort stürzten weitere Tiere auf ihn zu. Eines von ihnen erreichte den oberen Schuhrand und schlug durch den Strumpf sofort seine Kinnbacken in die Haut. Er warf dem herandringenden weißen Teppich einen weiteren Blick zu und faßte einen schnellen Entschluß. Er schien Glück zu haben, denn die Wesen hatten noch nicht seinen in der Garage stehenden Wagen erreicht. Als er draußen sofort schnell zu fahren begann und der entfernten Sierra Corscatch zustrebte, fiel sein Auge auf Bilder schrecklicher Zerstörung. Er sah Hunderte von Menschen fallen und sofort von dem sich bewegenden Teppich bedeckt werden. Er sah grinsende Eingeborene unverletzt über den Teppich hinwegeilen, um irgendwo einen Menschen zu töten. Ein Eingeborener sprang auf den fahrenden Wagen; Georges schoß ihn durch den Kopf und fuhr weiter. Ein anderer Eingeborener schleuderte ihm ein Messer nach. Das Messer traf ihn an der Schulter, glitt aber zum Glück an einem Muskel ab und verletzte nur seine Haut. Seine Lippen bildeten einen grimmigen Strich, als er das Gaspedal niederdrückte und betete, daß ihm niemand in den Weg kommen möge. Einmal rannte eine Riesenkreatur gerade vor ihm über die Straße, und weiße Stellen befleckten ihre Haut. Er hörte sie beim Vorbeifahren jämmerlich aufstöhnen. Die Radreifen wurden feucht und glitschig, und in jeder Kurve geriet der Wagen in ein gefährliches Schleudern. Hinter ihm befand sich jetzt ein anderes Fahrzeug. Georges konnte den Fahrer nicht erkennen. Es konnte ein Erdenmensch sein, der glücklich genug war, zu entkommen, konnte aber auch ein Eingeborener sein, der ihn hindern wollte, zum Bergstützpunkt zu gelangen. Er wagte es nicht, anzuhalten oder langsamer zu fahren und nachzusehen. 94
Er ging in eine Kurve und sah, wie ein plötzlich vor ihm auftauchendes Auto umschlug. Sekundenlang erblickte er das Gesicht des Fahrers, ehe es von dem weißen Teppich bedeckt wurde. Es war ein naher Freund von Georges gewesen. Plötzlich endete der Urwald, und sofort stieg die Straße nach oben an. Das schneeige Weiß der Decke wandelte sich zu einer graugrünen Farbe und nahm dann den blaßgrünen Glanz der Hügelgräser an. Die von den Insekten drohende Gefahr lag hinter ihm. Georges hielt an und wartete auf den anderen Wagen; dabei hielt er eine Maschinenpistole schußbereit in der Hand. Wenn der Fahrer nicht von weißer Farbe sein sollte, würde er erst schießen und später seine Fragen stellen. Er wartete zehn Minuten lang, doch der andere Wagen kam nicht. Entweder war der Fahrer im letzten Augenblick von den Insekten überrascht worden, oder er war ein Eingeborener gewesen, dem es nicht zusagte, außerhalb des Dschungels anzugreifen. Schließlich fuhr Georges weiter den Berg hinauf. Er blickte zurück, ehe er in die Wolkendecke hineinfuhr. So weit das Auge sehen konnte, erstreckte sich unter ihm der Urwald, doch nur an den Rändern war die weiße Geißel zu sehen. Dort aber breitete das Weiß sich dicht aus. Aus der Entfernung wirkte es wie schmelzender Schnee, der einen ganzen Winter gelegen hatte und nun schmutzig und trübe geworden war. Er gab Gas. Eine Stunde später erreichte er das auf halbem Wege liegende Lager. Er schrie auf vor Erleichterung, als ihm von dort aus ein Erdenmensch entgegentrat, und der Mann war überrascht, als Georges seinen Dienstrang vergaß, aus dem Wagen sprang und ihn begrüßte wie einen lange verlorenen Bruder. * Georges Ley saß an einem Schreibtisch und las einen Bericht. Nach irdischer Berechnung waren drei Tage vergangen, seit er 95
den Insekten auf einer wilden Fahrt in das Bergland entkommen war. Jetzt studierte er den Rapport der Biologen über den folgenschweren Zwischenfall, und dieser lautete folgendermaßen: „Das in Frage kommende Insekt ist der irdischen Termite ähnlich, weicht von ihr aber doch in eigenartiger Weise ab. Der Boden der Venus besteht aus einer Oberschicht von toter, faulender Vegetation, in der viele Gruppen von kleinen pilzähnlichen Pflanzen unterirdisch wachsen. Von diesen unterirdischen Pflanzen hat man bis jetzt zwanzig verschiedene Arten entdecken und klassieren können. Die meisten von ihnen sind breiig und wolkenähnlich; einige andere haben eine schlangenähnliche Form und sind oft über fünfzig Meter lang. In dieser unterirdischen Pflanzenschicht ist nun ein kleines, larvenähnliches Insekt zu Hause, und zwar wurden an einzelnen Stellen bis zu tausend Stück pro Kubikmeter gezählt. Dieses Tier lebt von den Pilzen, rührt die Wurzeln der überirdischen Pflanzen aber nicht an. Es ist mit Sicherheit festgestellt worden, daß die Insekten, die den Schaden anrichteten, mit den vorgenannten Würmern identisch sind. Aus einem noch unbekannten Grunde verließen die Tiere das unterirdische Gebiet und tauchten auf dem Boden selbst auf, wo sie sich wandelten. Diese Metamorphose kommt dem Flügelwuchs einiger irdischer Insekten gleich. In diesem Falle bestand die Wandlung in der Entstehung von Beinen und scharfen Kaubacken sowie einer grundlegenden Änderung der Freßgewohnheit. Von pflanzlicher gingen sie auf tierische Nahrung über. Als sie sich über der Erde befanden, griffen sie nur Lebewesen an und ließen alle Pflanzen unberührt. Ungefähr 72 Erdenstunden nach der eingetretenen Wandlung, bei der sie Beine und Freßwerkzeuge bekommen hatten, warfen sie diese ab und wandelten sich erneut zu den Würmern, die von unterirdischen Pflanzen leben. Man nimmt an, daß dieser Dreitagezyklus etwas 96
mit der Vermehrung zu tun hat. Dies kann jedoch nicht mit Sicherheit behauptet werden, und es sind weitere Untersuchungen anzustellen, ehe endgültige Schlüsse gezogen werden dürfen.“ Zusätzliches war in einem weiteren Rapport zu lesen, den Georges schnell durchflog. Die Tatsachen schienen nun klar zu sein, denn auch auf der Erde fanden sich Präzedenzfälle für das venusianische Ereignis. Da gab es die Siebenjahresheuschrecken, die Lachsfliegen und viele andere Arten von Insekten, die auf geheimnisvolle Weise erschienen und verschwanden und die ihre eigenen Lebenszyklen hatten. Das Unheil, das fast die gesamte Erdmacht auf der Venus vernichtet hatte, war durch einen solchen, unvorhergesehenen Zyklus verursacht worden. Man würde Methoden finden müssen, um diese Insekten zu vernichten, wenn die Erde weiterhin bei ihrem Versuch bleiben wollte, die Venus zu zivilisieren. Vielleicht auch konnte man herausfinden, wann diese Dreitageperiode eintrat, damit die Kolonisten der Zukunft in die Berge flüchten konnten, bis die Gefahr vorüber war. Einige Tatsachen wurden nun aber deutlich: Die Venusianer kannten die Gefahr und wußten auch, wie sie sich gegen dieselbe schützen konnten. Sie hatten die Kolonisten nicht gewarnt, sondern die Expedition im Gegenteil mit offenen Armen aufgenommen und ihr geholfen, sich im Urwald niederzulassen – nur aus einem einzigen, heute offensichtlichen Grund: Sie hatten damit gerechnet, daß die Erdenmenschen von den Insekten vollkommen vernichtet würden! Wahrscheinlich hatten sie auch geglaubt, daß alle Stützpunkte auf der Hochebene verlassen sein würden, so daß es unter den Menschen keinen Überlebenden mehr gab. Vielleicht hätte man die Hochebene tatsächlich verlassen, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, die Kückenschiffe nach unten zu bringen. Doch diese hatten nicht die Kraft, allein aufzusteigen, und waren andererseits zu groß, die Abhänge hinabtransportiert zu werden. Und wäre Kücken 1 damals nicht der 97
Unfall zugestoßen, dann wären gewiß alle Fahrzeuge in der Ebene niedergegangen. Dann fiel ihm Ben Arnold ein. War Ben noch am Leben, oder hatten ihn die Eingeborenen gleichfalls von den Insekten vernichten lassen? König Ben – es war jetzt ein bitterer Scherz und wäre wahrscheinlich besser für ihn, gleichfalls sein Leben verloren zu haben. Sollte er noch am Leben sein, dann würde es für ihn zahlreiche Komplikationen geben. Und der Vertrag – Warum hatten die Eingeborenen so dringend darauf bestanden, daß der Vertrag eine Klausel enthielt, durch die Ben für immer über das Gesetz gestellt wurde? Man hatte die Klausel angenommen, gleichgültig, was auch immer sie begründet haben mochte. Die Vereinten Nationen hatten ein entsprechendes Gesetz verabschiedet und ihm die Unwiderruflichkeitsklausel zugefügt, so daß Ben, was auch in Zukunft geschehen mochte, über den Gesetzen der Venus und der Erde stand. Selbst im Falle eines Krieges gegen die Venus konnte dieses Gesetz nicht aufgehoben werden. In der ersten Begeisterung über die wundervolle Art, in der die Dinge sich auf der Venus entwickelten, war alles getan worden, um einen Fortbestand der freundschaftlichen Beziehungen zu sichern. Bestimmte Teile des Vertrages waren nur angenommen worden, um den Eingeborenen entgegenzukommen. Man hatte gedacht, daß ähnliche Klauseln wahrscheinlich erforderlich seien, um dem König das nötige Ansehen zu geben. Dabei hatten die irdischen Regierungen sich maßlos angestrengt, um dem König der Venus jene Bedeutung und jenes Ansehen einzuräumen, die die Venusianer sich immer wünschen konnten. Nun aber war dieser Vertrag von Anfang an als sinnlos betrachtet worden, zumindest von venusianischer Seite. Jeder der 98
Eingeborenen hatte seinen Wagen geführt oder eine andere Arbeit verrichtet – mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, denn die Leute wußten, daß in naher Zukunft die Zeit kommen mußte, da von den Eindringlingen nichts mehr übrigblieb, außer gebleichten Gebeinen und leeren Häusern. Es war anzunehmen, daß die Eingeborenen, die in der fürchterlichen Nacht die Menschen getötet hatten, auch in Zukunft alles bekämpfen würden, was sich hinab in die Ebene begab. Doch man war bereits dabei, Einheiten zusammenzustellen, die in den Dschungel vorstoßen sollten. Die für diesen Zweck vorgesehenen Panzer wurden soeben überholt und mit Treibstoff gefüllt. Georges Telefon läutete und unterbrach seinen Gedankengang. Uninteressiert hob er den Hörer ab. Er wurde von den Beobachtungsposten am Eingang des Dschungels angerufen. „Kapitän Ley?“ fragte eine erregte Stimme am anderen Ende des Drahtes, und fuhr dann fort, ohne auf Antwort zu warten: „Leutnant Arnold, ich wollte sagen, König Arnold ist hier mit einigen Eingeborenen. Er weigert sich, etwas zu sagen, aber einer der Eingeborenen erklärte, daß sie zu Ihnen kommen wollen, um mit Ihnen zu sprechen.“ „Holen Sie König Arnold an den Apparat“, befahl Georges. Es entstand eine Pause, und wieder wurde die Stimme des Soldaten laut: „Er lehnt es ab, zu sprechen“, sagte er. „Er benimmt sich sehr seltsam – fast, als ob er unter dem Einfluß eines Rauschgiftes stehe.“ „O. k. Dann ladet sie auf einen Lastwagen und bringt sie nach hier“, befahl Georges. Er ließ den Hörer sinken und stand auf. „So ist Ben also am Leben“, murmelte er. Er gab seinem Sekretär den Befehl, den Generalstab zu einer Besprechung einzuberufen, und verließ den Raum. *
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Die dreizehn Angehörigen des Stabes hatten an dem langen Tisch Platz genommen, sechs an jeder Seite von Kapitän Ley. Ihnen gegenüber standen zehn 2,50 Meter hohe Eingeborene, die sämtlich alt waren und runzlige Gesichter hatten. Von den anderen Eingeborenen, die Georges bis dahin kennengelernt hatte, unterschieden sie sich durch ein gesponnenes Wollgewand, das von ihren Schultern auf den Boden fiel. Einer der Venusianer stand zwei Schritte vor seinen Begleitern. Direkt hinter ihm, von zwei Eingeborenen bewacht, stand Ben – mit ausdruckslosem Gesicht und gleichgültigem Blick. Der an der Spitze stehende Eingeborene sprach: „Es tut uns leid, daß euer Volk von den Ameisen vernichtet wurde. Ich bin Ung, ein unterer Priester. Ich war eine Zeitlang der Lehrer dieses Mannes hier.“ Mit einem Ausdruck der Bitterkeit und des Hasses blickte er auf Ben. „Dieser Mann, den wir zu unserem König gemacht haben, wußte schon vorher von der Bedrohung. Wir waren überzeugt, daß er euch warnen würde!“ „Wie bitte –?“ Georges war so verwundert, daß er aufsprang. „Ist das die Wahrheit, Ben?“ „Es ist wahr“, nickte Ben automatisch. Seine Lippen bewegten sich langsam, aber der Spott auf seinem Gesicht war unverkennbar. „Als die Insekten kamen“, fuhr Ung fort, „waren wir maßlos überrascht, erkennen zu müssen, daß kein Angehöriger eures Volkes sich entfernt hatte. Es war unmöglich, die Menschen zu retten. So taten wir das, was allein uns übrigblieb: wir endeten mitleidsvoll ihre Schmerzen.“ „Denkst du jetzt an die vielen Leute, die ihr erdolcht und denen ihr die Kehlen durchgeschnitten habt?“ fragte Georges grimmig. „Ja!“ Ung verbeugte sich traurig. „Es war alles, was wir tun konnten. Es schützte nur vor Minuten fürchterlicher Qualen, aber es war erbarmungsvoll. Als alles vorbei war, begannen wir 100
uns zu wundern und zu fragen, warum ihr nicht in die Berge gegangen wart, bis die Gefahr verstrichen war. Wir fragten unseren – – König!“ Wieder wandte er sich um und warf Ben einen haßerfüllten Blick zu. „Er antwortete uns, daß er seine eigene Rasse hasse und es seine Absicht sei, sie zu vernichten, damit wir allein übrigblieben. Ihr dürft überzeugt sein, daß unser Volk maßlos entsetzt war. In der Zeit, die ihr hier verbracht habt, haben wir es gelernt, euch wie Brüder zu lieben. Wir möchten, daß ihr dies wißt, möchten, daß ihr erfahrt, daß wir nicht einverstanden waren mit dem wahnsinnigen Tun dieses Mannes, den wir zu unserem König machten.“ „Ist das wahr, was der Priester sagt, Ben?“ wandte Georges sich fragend an Ben. Ben schüttelte die Hände der ihn haltenden Eingeborenen von sich ab und schoß vorwärts. Der Spott in seinem Angesicht wandelte sich zu einem Ausdruck ungeheuren Hasses und der Verachtung. „Es ist Wahrheit!“ rief er aus. „Ihr seid nicht hier, um die Freunde dieses Volkes zu werden. Ihr werdet das tun, was die Engländer in jedem Land taten, das sie überrannten, werdet euch benehmen wie die ersten Kolonisten in Amerika, als sie die Indianer vernichteten.“ Er hob in dramatischer Geste die Arme und warf den Kopf wild zurück. „Das aber will ich nicht erleben. Ich werde meinen Untertanen befehlen, den Rest von euch durch die Folter zu töten. Verschwindet von diesem Planeten und bleibt dort, wo ihr hergekommen seid.“ Die beiden Eingeborenen schritten vorwärts, griffen nach Bens Arm und zogen ihn zurück. „Seht ihr“, sagte Ung traurig, „er ist wahnsinnig geworden. Wir sind ein freundliches Volk, und wollen tun, was immer wir können, um das euch zugefügte schreckliche Unrecht wiedergutzumachen. Wir werden für euch arbeiten und euch helfen, aufzubauen.“ 101
Der Mann, der neben Georges saß, überreichte ihm ein Notizblatt, das durch die ganze Reihe gegangen war. Hier hieß es: „Er steht unzweifelhaft unter dem Einfluß einer Droge oder wurde hypnotisiert. Ordnen Sie an, daß er festgehalten und unter Beobachtung gestellt wird, bis wir ihn genau kontrolliert haben.“ „Es ist gegenwärtig unser Beschluß“, sagte Georges laut, „euren König untersuchen zu lassen, damit wir feststellen können, ob er ohne Vernunft und wahnsinnig ist. Später werden wir die Besprechungen fortsetzen. Einstweilen wären wir euch dankbar, wenn ihr als unsere Gäste hierbleiben wolltet. Es Wird nicht länger als einige Stunden dauern.“ „Bevor wir eurem Wunsch zustimmen“, sagte Ung hastig, „möchten wir noch einmal versichern, daß wir nicht gegen den Vertrag verstoßen haben, abgesehen von dem Gnadentod, den wir den Unglücklichen brachten. Wir bedauern, daß unser König für seine schrecklichen Verbrechen nicht vor unserem Gesetz verantwortlich gemacht werden kann. Wir haben schon über ihn Gericht gehalten, soweit es möglich war. Er bleibt für den Rest seines Lebens unser König, aber wir haben ihm seine Macht genommen; so ist er nur mehr dem Namen nach König. Er kann hingehen, wo er will, aber keiner darf ihn berühren. Es ist unsere Entscheidung, daß er für immer geächtet werde, daß er ein Mann sei ohne Freund, ohne Land und ohne Rasse. Außerdem verlangen wir, daß ihr diese Entscheidung der Priester annehmt und sie zu der euren macht. Tut ihr das nicht, dann werden wir den Vertrag aufheben und kämpfen; nehmt ihr unseren Beschluß aber an, dann werden wir euch unterstützen. Ich bin auch sicher, daß ihr nicht von den Ameisen angegriffen werdet, wenn sie wiederkommen.“ Er lächelte seltsam und ging zurück, und sein hagerer Körper wurde in grotesker Weise sichtbar, als sein Gewand sich bei seinen Schritten öffnete und schloß. In seinen Augen war ein Leuchten, das Triumph sein konnte. 102
* „Keine Hypnose und keine Droge“, sagte der Psychiater zu Kapitän Ley. „Er bleibt bei seiner Geschichte, daß er uns hasse, und nach seinem eigenen Geständnis war es sein Plan gewesen, uns loszuwerden. Ebenso behauptet er, daß die Eingeborenen nichts mit der ganzen Angelegenheit zu tun hätten. Er befahl ihnen, zu schweigen und uns nicht vor den Ameisen zu warnen.“ „Das ist doch unmöglich!“ rief Georges aus. „Sind Sie sicher, daß es nicht doch Hypnose ist?“ „Unsere Teste sprechen dagegen“, meinte der Psychiater. „Natürlich können die eingeborenen Priester hypnotische Tricks kennen, die uns unbekannt sind. Wir haben ihn unsererseits unter Hypnose gesetzt, aber er bleibt bei seiner Geschichte. Auch haben wir Wahrheitsdrogen an ihm erprobt, und er behauptet nach wie vor dasselbe. Wenn das, was er sagte, auf posthypnotischer Suggestion beruht, möchte ich dieses Prinzip gar zu gern kennenlernen. Wir jedenfalls haben nicht die Möglichkeit, einen ständigen Gedankenblock zu errichten, der sowohl der Gegenhypnose wie auch dem Wahrheitsserum trotzt.“ „Haben Sie überhaupt etwas herausgefunden?“ fragte Georges. „Nichts außer der seltsamen Vorstellung, daß sein Geist eine Substanz aus Trommelschlägen enthalte, aus der er einen neuen Kosmos gestalten und den wirklichen nach seinem Willen zerstören kann. Meine Meinung geht dahin, daß er den Verstand verloren hat. Wenn er wirklich wahnsinnig ist, halte ich nicht für ausgeschlossen, daß er das alles plante, um uns zu vernichten.“ * Der alte Mann fühlte ein Ziehen am Ärmel, das ihn zurück in die Gegenwart rief. Er öffnete die Augen. 103
Der alte Ventilator ratterte immer noch. Das Geräusch der menschlichen Stimmen hing in der Luft um ihn herum, und aus großer Entfernung drang das Schlagen der Trommeln auf ihn ein – geduldig in ihrem Rhythmus. Die Gesichter der jungen Kadetten am Tisch waren gespannt und blaß. Der alte Mann hob sein Glas und leerte es auf einen Zug. Das Bier war warm und abgestanden. „Natürlich fand eine Verhandlung statt“, sagte er und wischte sich mit dem abgetragenen Ärmel den Schnurrbart ab. „Es war die größte Verhandlung, die jemals gewesen war oder sein wird. Die Hohenpriester der Venus waren anwesend. Der geringste Mann unter den Anwesenden war der Präsident eines südamerikanischen Staates. Die Priester hatten darauf bestanden, daß nur Staatsoberhäupter einen König richten dürften, auch wenn der König, gegen den verhandelt wurde, nicht von dem Gesetz bestraft werden konnte. Der Gerichtshof der Vereinten Nationen holte sich die besten Köpfe der Welt, um zu einem Urteil zu kommen, das der Weisheit Salomos entsprochen hätte, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Da nun gegen Ben Arnold selbst nicht verhandelt werden konnte, mußte das Urteil des Gerichtshofes so ausgelegt werden, als ob gegen die Völker der Venus und der Erde verhandelt worden wäre. Diese Völker wurden verurteilt, niemals wieder mit Ben Arnold zu sprechen oder sich für den Rest seines Lebens mit ihm in Verbindung zu setzen. Hohe Strafen wurden demjenigen angedroht, der gegen diese Bestimmung verstieß. So oder ähnlich jedenfalls muß das Urteil verfügt haben, denn ich hörte in diesem Sinne. Ich sammelte mir alle Zeitungen, die davon sprachen, und habe mir auf diese Weise die ganze Geschichte zusammengeholt, was nicht ganz einfach war. Ich vernahm nämlich erst ein Jahr nach dem gefällten Urteil von dieser Verhandlung und mußte deshalb von Bibliothek zu Bibliothek laufen, um mir die alten Blätter zu beschaffen.“ 104
„Aber, aber, aber“, versuchte einer der Kadetten ihn zu unterbrechen. „Die Gerichtsverhandlung war natürlich nichts anderes als ein schrecklicher Scherz – eine Schau, die von den Venuspriestern veranlaßt worden war, weil sie auf dieser Verhandlung bestanden und erst nach ihr zur Zusammenarbeit bereit waren. Georges Ley hätte natürlich die Möglichkeit gehabt, die ganze Hinterlist der Angelegenheit zu enthüllen; sogar ich hätte die Priester zu Narren machen und die Dinge klarstellen können, wenn ich der Verhandlung beigewohnt hätte.“ „Aber warten Sie doch“, versuchte der Kadett ihn erneut zu unterbrechen. „Sie entschieden, daß Ben Arnold eine genügend große Pension bekommen sollte, damit er sich am Leben erhalten konnte. Außerdem wurde ein Gesetz erlassen, das ihm verbot, sich länger als eine Woche an einem bestimmten Ort aufzuhalten, und dieses Gesetz wurde so ausgearbeitet, daß ihm ein längeres Verweilen an einer bestimmten Stelle tatsächlich unmöglich gemacht wurde. Sie drohten nämlich allen Hoteliers und Gaststättenbesitzern, die ihn länger als eine Woche aufnahmen, hohe Strafen an. Dann ließen sie ihn frei. Er konnte hingehen, wo er wollte – zur Erde, zur Venus, zum Mars –“ „Aber ich dachte“, sagte der Kadett laut. „Für die Zeitungen war er eine Goldmine, Ben Arnold, ein größerer Verräter als sein Namensvetter Benedikt Arnold (Verräter im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg). Ben Arnold, der größte Verräter aller Zeiten –“ „Aber nach Ihrer Geschichte dachte ich, Sie seien Ben Arnold“, brachte der junge Kadett endlich über die Lippen. „Ich bin es“, nickte der alte Mann. „Aber Sie erwähnten doch, daß Sie nicht der Verhandlung beiwohnten“, bemerkte der Kadett, „während die Geschichte das Gegenteil behauptet. Die Wochenschauen aus jener Zeit 105
zeigen ebenfalls, daß Sie während der Verhandlung anwesend waren.“ „Wir sprechen von zwei unterschiedlichen Dingen“, sagte der alte Mann. „Ich war dort, und war doch nicht anwesend.“ „Schauen Sie, alter Mann“, sprach der Kadett, der das Bier bestellt hatte und erhob sich halb, „wir haben nur mehr zwei Sekunden Zeit. Das letzte Glockenzeichen, an Bord zu gehen, ist bereits gegeben worden. Können Sie nicht in kurzen Worten mitteilen, was Sie andeuten wollen?“ „Ich war nicht dort“, wiederholte der alte Mann. „Meine Erinnerungen an die Zeit vor der Katastrophe erlöschen in jenem Augenblick, da ich auf einer Bank im Garten saß und den Worten Ungs lauschte. Dann stand ich vor der Flamme, und die vier Götter der Venus blickten mich aus ihrer riesigen Höhe an. Ich hatte irgendwie den Eindruck, daß ich seit Ewigkeiten auf die Flamme blickte, bin aber dieser Tatsache nicht sicher. Entweder bin ich wahnsinnig, und die Psychiater haben recht, oder es wurde mir die Seele aus dem Körper gerissen und eingepflanzt in den Leib des Gottes der Hitze und des Lichts, während dieser meinen Körper in Besitz nahm, um seine Rache zu vollenden. Ich …“ Ein schrilles Pfeifen ertönte. Alles mußte an Bord. Die Kadetten schoben ihre Stühle zurück und rannten auf die Türen zu. Der Ventilator summte immer noch sein eintöniges Lied. Das Schlagen der Trommeln näherte sich und ergriff von ihm Besitz. Ein Hauch ozonhaltiger Luft drang in den Wartesaal, als das Raumschiff, das die Kadetten trug, sich auf dem Flugfeld erhob. Ende
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