Mehr von Tina Uebel finden Sie im Knaur Taschenbuch Verlag unter anderem in folgenden Anthologien : Sugar & Spice – Schnelle Geschichten für harte Frauen Herz & Schmerz – Geschichten für Regentage Samtnächte – Geschichten von Liebe und Kerzenschein Übernachtung mit Frühstück – Erotische Geschichten Mehr von Dierk Hagedorn finden Sie im Knaur Taschenbuch Verlag in der Anthologie Erdbeerküsse – Geschichten von Sommer, Sonne und Liebe Bitte beachten Sie außerdem den Verbraucherhinweis auf Seite 135. TINA UEBEL – Autorin, freie Journalistin, Grafikdesignerin. Gründungsmitglied des No-Budget-Verlags Edition 406, der Literaturfusion Macht und des Hamburger Poetry Slam. Ihr erster Roman Ich bin Duke ist soeben erschienen. DIERK HAGEDORN – ist jemand anders. GADA KODSI – geboren in Paris, Studium Illustration und Kommunikationsdesign in Hamburg, zwischendurch Schreinerei und Portugiesisch, seitdem Archivierung unzuverlässiger Bilder und Gründung von Lassoland : www. lassoland.de
Tina Uebel
FRAU SCHRÖDINGER BEWÄLTIGT DIE WELT Kurze Geschichten Mit 13 Fotografien aus dem »Archiv unzuverlässiger Bilder« von Galia Kodsi
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Neuausgabe 2002 Copyright © 1999 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. »Eine Geschichte aus Hamburg« © 1998 bei Dierk Hagedorn. Innenillustrationen © 2002 bei Galia Kodsi Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Umschlaggestaltung : ZERO Werbeagentur, München Umschlagfoto : Artwork by ZERO Satz : Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung : Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-426-61S29-0 54321
FRAU SCHRÖDINGER VERSCHAFFT SICH ÜBERSICHT
Frau Schrödinger sucht Zerstreuung . . . . . . . 7 Frau Schrödinger ohne Katze . . . . . . . . . . . . . 9 Frau Schrödinger frühstückt nicht . . . . . . . . . 11 Frau Schrödinger mit Katze . . . . . . . . . . . . . 12 Frau Schrödinger steht zwischen zwei Männer . . 15 Frau Schrödinger fängt keine Maus . . . . . . . . . 18 Frau Schrödinger zwischen Bramfeld und Barmbek 21 Frau Schrödingers abgründigste Geheimnisse . . . 22 Frau Schrödinger fängt doch eine Maus . . . . . . 23 Frau Schrödinger bricht sich das Herz . . . . . . . 28 Frau Schrödinger zweifelt . . . . . . . . . . . . . . 29 Frau Schrödinger zwischen Farmsen und Berne . . 30 Frau Schrödinger rettet die Welt nicht . . . . . . . 31 Frau Schrödinger läßt sich nicht beirren . . . . . . 34 Frau Schrödinger bestattet auf See . . . . . . . . . .35 Frau Schrödinger bestattet auf See – Epilog . . . . 45 Frau Schrödinger erwirbt sich einen Heimheiland 47 Frau Schrödinger erinnert sich nicht. . . . . . . . . 52 Frau Schrödinger geht nicht ins Kino. . . . . . . . 54 Frau Schrödinger zwischen Sasel und Poppenbüttel 58 Frau Schrödinger versöhnt sich . . . . . . . . . . . 59 Frau Schrödinger flüchtet zu Fuß – Teil I . . . . . 62 Frau Schrödinger flüchtet zu Fuß – Teil II . . . . . 65
Frau Schrödinger begehrt nicht . . . . . . . . . . . 71 Frau Schrödinger begehrt doch . . . . . . . . . . . 73 Dierk Hagedorn : Eine Geschichte aus Hamburg . . . . . . . . . . . . 76 Ein neuer Anfang oder Frau Schrödinger trifft Herrn Bdrian nicht . . . . . . . . . . . . . 84 Frau Schrödinger trifft Herrn Bdrian nicht – Teil II . 90 Frau Schrödinger schlägt sich tapfer. . . . . . . . . 91 Frau Schrödinger hat eine gute Zeit . . . . . . . . . 98 Frau Schrödinger kauft keine Single . . . . . . . . 101 Frau Schrödinger zwischen Wimmersbüll und Süderlügum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Frau Schrödinger verdient sich kein Geld . . . . . 106 Frau Schrödinger verdient sich ihr Geld doch . 110 Frau Schrödinger macht und tut. . . . . . . . . . . 117 Frau Schrödinger kocht nicht. . . . . . . . . . . . . 120 Frau Schrödinger sieht fern. . . . . . . . . . . . . . 123 Frau Schrödinger wirft ein Auge . . . . . . . . . . 125 Frau Schrödinger besieht Bilder . . . . . . . . . . . 127 Frau Schrödinger kommt schon klar . . . . . . . . 130 Jenseits von Frau Schrödinger . . . . . . . . . . . . 134
FRAU SCHRÖDINGER SUCHT ZERSTREUUNG
Frau Schrödinger, die sich – trotz einer gewissen allgemeinen Verwirrung, die sie dem Leben gegenüber fühlte, und ungeachtet verschiedenster Lieblingssorgen, die sie sich immer mal wieder hingebungsvoll machte – als ein grundlegend heiteres Gemüt zu betrachten pflegte, sah die Suche nach angemessener Zerstreuung als eine ebenso ehrenhafte wie sinnstiftende Angelegenheit an, der sie sich gern und ausgiebig widmete. Ereignislose Perioden ihres Lebens erachtete Frau Schrödinger als unschön, und es befriedigte sie stets aufs außerordentlichste, fand sie eine Beschäftigung, die ihr zuvor noch nicht untergekommen war. Wenngleich sportliche Betätigungen ihr von Geburt an wesensfremd waren ; Handarbeiten und langwierige Lernprozesse an Frau Schrödingers größter Untugend, der Ungeduld, scheiterten ; sie Vereine, Männer und ehrliche Arbeit als leicht beklemmend empfand ; ihre musikalischen Ambitionen gottlob bereits in zartem Alter mit dem Austritt aus ihrer Blockflötengruppe begraben worden waren (zeitgleich mit der unerfreulichen Episode des Ballettunterrichts, in dem sich Frau Schrödin7
ger als Tanzmaus nicht qualifizieren konnte) ; und sie eine generelle Abneigung gegen modische Aktivitäten hegte, die Anglizismen wie -clubbing oder -climbing im Namen führen (und bei denen sie, wie Frau Schrödinger fand, eher komisch anmutete) – so fand sie doch trotz allem noch ausreichend Dinge, die sie erfreuten und auf Trab hielten. Frau Schrödinger wußte die stillen und schönen Momente des Lebens zu schätzen – das schmeichelnde Geräusch, das Dackel und andere kurzbeinige Hunde auf Linoleum machen, den Anblick majestätischer Frachtschiffe auf majestätischen Flüssen, den Geruch von Basilikum, das Gefühl von Geld auf der Haut sowie die Wirkung von Alkohol – und die eher spektakulären Augenblicke wie Erfolge, Exzesse und Fernreisen zu genießen. Im Laufe der Jahre hatte Frau Schrödinger eine beachtliche Findigkeit im Aufspüren mehr oder weniger abwegiger Aktivitäten entwickelt, und so war ihr, wie sie zufrieden behauptete, selten langweilig; und wenn, so Frau Schrödinger, ihr eines Tages nichts mehr einfallen sollte, dann könne sie ja immer noch etwas Vernünftiges machen, was sie schließlich auch noch nie getan hatte, und was insofern vielleicht durchaus ganz amüsant sein könnte.
FRAU SCHRÖDINGER OHNE KATZE
Frau Schrödinger, die ihren Namen aus keinem anderen Grunde trug, als daß ihr Vater schon so geheißen hatte und dessen Vater und daß ihre Mutter so einsichtig gewesen war, darauf zu verzichten, nach ihrer Hochzeit auf dem Namen Schrödinger-Wieselhütter zu bestehen (was ihre Tochter mit tiefer Dankbarkeit erfüllte, allein schon deshalb, weil sie sich durch einen derartigen Doppelnamen eventuell genötigt gefühlt hätte, ein politisches Amt zu ergreifen), wurde recht häufig von neuen Bekanntschaften – sofern diese der intellektuelleren Szene zuzurechnen waren – auf ihre Katze angesprochen (man beachte »Jenseits von Frau Schrödinger« am Ende dieses Buchs). Natürlich hatte Frau Schrödinger keine Katze, hatte auch nie eine besessen und wäre auch kaum auf die Idee gekommen, sich je eine anzuschaffen, teils, weil es ihr der Zeit ermangelte, sich gewissenhaft einem Haustier zu widmen, teils, weil sie unter einer heftigen Katzenallergie zu leiden hatte. Nichtsdestotrotz wurde sie regelmäßig von Leuten, denen sie sich vorstellte, mit immer neuen, origi9
nellen Bemerkungen über ihre Katze bedacht. Dies hatte zur Folge, daß Frau Schrödinger tatsächlich mit dem Gedanken zu spielen begann, sich eine Katze zuzulegen, was sie sicherlich mit einiger Genugtuung erfüllt hätte. Andererseits widerstrebte es ihr, auch wenn sie sich nicht unbedingt als ausgesprochene Tiernärrin bezeichnete, eine wehrlose Kreatur einfach so in einen kleinen Kasten zu sperren. Auch wenn es wohl höchst originell wäre, konnte man das doch einfach nicht als artgerechte Haltung bezeichnen.
FRAU SCHRÖDINGER FRÜHSTÜCKT NICHT
Eines Morgens erhob sich Frau Schrödinger erst recht spät und in ziemlich schlechter Verfassung. Mit Mühe begab sie sich, lauthals auf ewig dem Alkohol abschwörend, in die Küche, wo sich schon einige andere junge Menschen eingefunden hatten, die teils mit Frau Schrödinger die Wohnung teilten, teils nicht, und die teils ebenfalls in ziemlich schlechter Verfassung waren. Frau Schrödinger gesellte sich dazu, zündete sich ihre erste Schachtel Zigaretten an, und alsbald entspann sich ein lebhaftes Gespräch über verschiedenste Operationen – vorzugsweise solche, die nur unter lokaler Betäubung durchgeführt werden, so daß man sich auch als Betroffener, wenngleich eher passiv Teilnehmender ein unmittelbares Bild von der Sache machen kann. Einer der Anwesenden hatte erst neulich mehrere langwierige Knieoperationen hinter sich gebracht, und auch Frau Schrödinger konnte durchaus mithalten, immerhin war bei einer ihrer ambulanten Operationen sogar die Sprechstundenhilfe bewußtlos geworden. Zum Schluß gab eine junge Frau noch eine farbenfro11
he Schilderung der Sterilisation ihres Ex-Freundes zum besten, der beizuwohnen sie das Vergnügen gehabt hatte, und die so schmerzlos wohl doch nicht gewesen war. Später ergab es sich, daß eigentlich keiner aus der Runde so rechten Frühstückshunger verspürte, was auch sehr günstig war, da sich schon seit Tagen nichts Eßbares mehr im Hause befand, und auch der Kaffee war am Vortage ausgegangen, so daß man sich damit begnügen mußte, einen Nierenund-Blasen-Tee aufzubrühen, den eine vormalige Hausgenossin Frau Schrödingers bei ihrem Auszug zurückgelassen hatte.
FRAU SCHRÖDINGER MIT KATZE
Eines Tages, auf einer kleinen Feier, die bei ihr gegeben wurde, bekam Frau Schrödinger tatsächlich von Herrn O., einem guten Freund, eine Katze geschenkt, eine Tat, die nicht ganz so selbstlos war, wie sie scheinen mochte, da des Freundes eigene Katze – ein etwas schäbiges Tier, das auf den Namen Karstadt hörte und seinem Besitzer allenfalls reservierte Mißbilligung entgegenbrachte – vor kurzem mit neun etwas schäbigen Jungen niedergekommen war, was ebenjenen Herrn zunächst etwas in Bedrängnis brachte. Das erste der Kleinen wurde allerdings, kaum daß es die ersten tapsigen Schritte in die Welt getan hatte, von einem spätnachts trunken nach Hause kommenden Mitbewohner Herrn O.s versehentlich zertreten, und die übrigen Geschwister konnte Herr O. gewinnbringend für 50,– DM das Stück an den Pharmakonzern verkaufen, bei dem er vorletzte Semesterferien gejobbt hatte. Bis auf die eine, die er nun mit einem gewitzten Lächeln Frau Schrödinger überreichte, ein hintergründiger kleiner Scherz, der von denen, die die Anspielung verstanden, mit wohl13
wollendem Gelächter quittiert wurde, und von denen, die es nicht begriffen, natürlich erst recht. Frau Schrödinger, nur mäßig erheitert, fügte sich dem Unvermeidlichen und tat, was von ihr erwartet wurde, packte die Katze in einen Kasten, genauer gesagt, in einen leeren Birkenstock-Schuhkarton, und stellte ihn in ihr Bücherregal. Nach etwa fünf Tagen machte sich jedoch in ihrem Zimmer ein eigentümlicher Geruch bemerkbar, der nach weiteren drei Tagen so aufdringlich wurde, daß Frau Schrödinger nach Einbruch der Dunkelheit kurzerhand Kasten samt Inhalt vom Balkon warf. Ihr schien, als wäre damit irgendwas bewiesen, aber was, war ihr auch nicht so ganz klar.
FRAU SCHRÖDINGER STEHT ZWISCHEN ZWEI MÄNNERN
Frau Schrödinger stand zwischen zwei Männern. Das war ihr auch früher schon passiert, aber dieses Mal war es gottlob nur in der S-Bahn, zwischen Sülldorf und Iserbrook, und die beiden sahen noch nicht einmal besonders gut aus.
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FRAU SCHRÖDINGER FÄNGT KEINE MAUS
Vergangenen Winter bekam Frau Schrödinger, die gemeinsam mit einigen anderen netten jungen Leuten eine sehr atmosphärische Altbauwohnung bewohnte, ein arges Mäuseproblem. Es begann damit, daß die Mäuse, die sich bis dato, wie es Gästen geziemt, scheu, freundlich und unauffällig verhalten hatten, Anfang November in einem Handstreich die Speisekammer in ihre Gewalt brachten. Das alleine wirkte sich noch nicht besonders störend aus, da diese lediglich ein bis zwei Kubikmeter Plastiktüten beherbergte, ferner zwei Wackersteine und den Staubsauger, der aber sowieso kaputt war, sowie ein Päckchen kalifornischen Reis, den eine Freundin Frau Schrödingers ihr vor sechs Jahren aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. Es kostete Frau Schrödinger und ihre Genossen also wenig Entbehrungen, diesen Teil der Wohnung kampflos aufzugeben, auch wenn es Frau Schrödinger etwas unbehaglich zumute war, seit sie einmal gedankenlos die Tür geöffnet hatte, im Begriff, eine Plastiktüte zu holen, um sich daraufhin unversehens von rund 18
200 zornigen Augenpaaren empört angestarrt zu finden. Seitdem benutzte sie zum Einkaufen Jutebeutel, was ja auch viel umweltverträglicher ist. Mitte November allerdings brach dann die Zeit der großen Partys in der Zwischendecke an. Allnächtlich ging es hoch her – Galas, politische Zusammenkünfte, Fackelzüge, einmal, so hätte Frau Schrödinger schwören mögen, sogar ein Rockkonzert. In jedem Falle ein Heidenlärm. Als dann Anfang Dezember die ersten Stoßtrupps in der Küche gesichtet wurden, befand man im Hause Schrödinger, daß die Grenze nun doch wohl wirklich überschritten sei und daß dem gegnerischen Treiben schleunigst Einhalt geboten werden müsse. Der Vermieter Frau Schrödingers, den man als Alliierten zu gewinnen suchte, schickte seine Tochter an die Front, die mit einem großen Korb durchs Haus zog und an jeder Türe Mausefallen feilbot, heimtückische, unscheinbare Dinger, die jedes arme, hungrige Mäuschen, das sich ihnen arglos näherte, auf der Stelle gnadenlos guillotinierten. Das wurde von Frau Schrödinger und Freunden natürlich ebenso entsetzt wie unisono abgelehnt, schließlich war man Humanist. So wurden denn, aus eigener Tasche und zum fünffachen Preis einer herkömmlichen Exekutionsfalle, zwei abstruse Gebilde gekauft, die, wie man sich vom Verkäufer auf Ehre und Gewissen 19
versichern ließ, eine jede Maus zwar fangen, ihr aber kein Härchen krümmen würden. Diese wurden dann von einem mutigen Freiwilligen, der zuvor durch Streichhölzchenziehen bestimmt worden war, in den Stützpunkt des Feindes, die Speisekammer, geschmuggelt. In den folgenden Tagen herrschte im unbesetzten Teil der Wohnung fieberhafte Erregung, die aber bald in tiefe Niedergeschlagenheit umschlug, als die Tatsache nicht länger zu ignorieren war, daß sich die Mäuse von dieser Maßnahme gänzlich unbeeindruckt zeigten, allenfalls, daß sich ab und an mal eine kranklachte. So blieb Frau Schrödinger und ihren Verbündeten nichts anderes übrig, als die Küche zu räumen, im Flur einen Propankocher zu installieren und auf bessere Zeiten zu warten.
FRAU SCHRÖDINGER ZWISCHEN BRAMFELD UND BARMBEK
Frau Schrödinger, die für kurze Zeit Katzenbesitzerin gewesen war, jetzt aber wiederum keinerlei Haustiere besaß, was ihr von ihrem Hausarzt wegen ihrer vielfältigen Allergien auch aufs energischste angeraten worden war, kam neulich mit ihrem Auto, irgendwo zwischen Bramfeld und Barmbek, an einem großen, prachtvollen, mehrstöckigen Gebäude vorbei, an dem, weithin sichtbar, in enormen Leuchtbuchstaben »Erlebnismarkt für Heimtiernahrung« geschrieben stand. Da wurde Frau Schrödinger nun doch ein wenig traurig, daß sie selbst kein Heimtier mehr hatte, denn erleben tat sie immer mal wieder gerne etwas.
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FRAU SCHRÖDINGERS ABGRÜNDIGSTE GEHEIMNISSE
Frau Schrödinger pflegte einige ausgesprochen absonderliche Angewohnheiten. Über diese aber wußte sie striktes Stillschweigen zu wahren, und hätte sie jemand daraufhin angesprochen, er hätte nur ein leises, kleines Lächeln geerntet.
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FRAU SCHRÖDINGER FÄNGT DOCH EINE MAUS
Eines Nachts wurde Frau Schrödinger von einem wilden Triumphgeschrei aus dem Schlafe gerissen, dessen Urheber, wie sich herausstellte, der gerade eben nach Hause kommende Elektriker war (»Elektriker« übrigens nicht von Profession, sondern aus Berufung, und gemeinhin so genannt, weil es ihn stets ärgerte, obwohl er sich dann später noch den Beinamen Ingo erwarb, aber das ist eine andere Geschichte). Wie auch immer, selbiger Elektriker sprang nun um drei Uhr in der Frühe jauchzend den Flur auf und ab, was ihm zunächst allgemeine Mißbilligung einbrachte, besonders von Herrn Kaiser – der von der Volksfürsorge, nicht der von der Hamburg-Mannheimer –, da dieser ehrlicher Arbeit nachging und so gezwungen war, in aller Herrgottsfrühe dort anzutreten – in der Volksfürsorge, nicht in der Hamburg-Mannheimer. Der Elektriker aber lächelte trotz aller Proteste nur durchtrieben und bedeutete den Schlaftrunkenen mit Verschwörermiene und heftiger Gestikulation, ihm zur Speisekammer zu folgen. Dort bot sich in der Tat ein verblüffender Anblick : In ei23
ner von Frau Schrödingers sündhaft teuren humanistischen Kleintierfallen lag, fett und vollgefressen und ob der plötzlichen Störung arg vergrätzt – eine Maus. Sofort verwandelte sich die allgemeine Mißlaunigkeit in allgemeine, unbändige Freude, ausführliches gegenseitiges Händeschütteln und anerkennendes Schulterklopfen. Dieses allerdings schlug wiederum alsbald in ein ratloses Sich-Anstarren um, als nach der anfänglichen Euphorie die unvermeidliche Frage auftauchte, wie denn nun mit der Maus des Anstoßes zu verfahren sei. Sie des Hauses zu verweisen, kam natürlich gar nicht in Frage, schließlich war es sowohl mitten im Winter als auch mitten in der Nacht, und zudem ein Wetter, wo man keinen Hund hätte vor die Tür jagen mögen, geschweige denn eine Maus. Wo hätte sie denn auch hingehen sollen, jetzt, um halb vier in der Frühe ? Außerdem hatte sie ja wahrscheinlich hier im Hause ihre Familie, vielleicht Kinder ! Kurz wurde das Tierheim als mögliche Lösung in Erwägung gezogen, dann aber wieder verworfen, da keiner der Beteiligten mit Sicherheit hätte sagen können, ob selbiges über eine nächtliche Notaufnahme verfügte, und im Grunde hatte auch niemand so recht Lust, sich zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch durch die halbe Stadt zu quälen. So kam man ziemlich schnell über ein, das einzig 24
Mögliche zu tun, sich höflich zu entschuldigen und die Maus umgehend auf freien Fuß zu setzen. Seit jener Nacht ging man im Hause Schrödinger dazu über, den Käse gleich ohne Falle drumherum in die Speisekammer zu legen, was die Dinge wesentlich vereinfachte, sowohl für Menschen
wie für Mäuse.
FRAU SCHRÖDINGER BRICHT SICH DAS HERZ
Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände hatte Frau Schrödinger sich das Herz gebrochen, eine ziemlich scheußliche Angelegenheit. Als die Situation schier unerträglich für sie wurde, sprach Frau Schrödinger zu sich selbst »Es reicht !« und beschloß, auf der Stelle etwas zu unternehmen. So raffte sie sich auf, verließ ihr Bett und kaufte sich eine ganz schreckliche Vase aus pastellfarbenem Porzellan, in der Form eines abgebrochenen Baumstammes, vor dem sich, auf einem Stückchen Wiese, drei possierliche Kätzchen tummelten. Diese Vase besah Frau Schrödinger sich von nun an stets, wenn ihr das gebrochene Herz arg zu schaffen machte, und die Einsicht, daß es immer noch etwas Schlimmeres gibt, verschaffte ihr eine gewisse Erleichterung.
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FRAU SCHRÖDINGER ZWEIFELT
Frau Schrödinger, die ihre Eitelkeit nicht leugnete, litt ein wenig darunter, daß sie gezwungen war, eine Brille zu tragen. Besah sie sich im Spiegel, fand sich Frau Schrödinger so eigentlich recht ansehnlich. Setzte sie dann aber ihre Brille auf, schmälerte diese ihre äußere Erscheinung doch beträchtlich. Eines Tages jedoch kam Frau Schrödinger der furchtbare Verdacht, daß der Grund dieses Phänomens der sein könnte, daß, blickte sie ohne Brille in den Spiegel, sie sich schlicht und einfach nicht so deutlich erkennen konnte.
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FRAU SCHRÖDINGER ZWISCHEN FARMSEN UND BERNE
Frau Schrödinger, in deren Leben schon immer eine gewisse, nicht unbeträchtliche Konfusion herrschte, kam neulich mit ihrem Auto, irgendwo zwischen Farmsen und Berne, an einer großen, langgestreckten Fabrikhalle vorbei, vor der, weithin sichtbar, auf einer hohen Reklametafel »W. Boehrich – Wir Verwirklichen Gesamtlösungen – In Allen Farben« geschrieben stand. Da wurde Frau Schrödinger ganz aufgeregt, denn wenn sie etwas wirklich nötig hatte, dann war das eine Gesamtlösung. Noch dazu eine in Bunt !
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FRAU SCHRÖDINGER RETTET DIE WELT NICHT
Eines Tages befand Frau Schrödinger, daß es höchste Zeit sei, die Welt, mit der ihrer Meinung nach einiges im argen lag, zu retten. Sie hatte das eigentlich schon länger vorgehabt, aber bisher war ihr immer etwas dazwischengekommen. Nun aber gab es keinen Aufschub mehr, es galt, die Dinge in Angriff zu nehmen. Anfangen würde sie, so beschloß Frau Schrödinger, mit einer Mahnwache vor einem Asylantenheim, das, wie man in der lokalen politischen Subkultur wußte, am nächsten Samstage von einer marodierenden Bande Unholde dem Erdboden gleichgemacht werden sollte – ein Vorhaben, das Frau Schrödinger zutiefst mißbilligte. Also erhob sie sich, als der Tag gekommen war, zu früher Stunde, ein Opfer, das sie im Dienste der Sache gern erbrachte, und zog aus, die Welt zu retten. Außer ihr, so konnte sie gerührt feststellen, hatten sich schon Heerscharen anderer mahnender Wächter und wachender Mahner eingefunden, vielerlei verschiedenste Gruppierungen junger und älterer Menschen, die sich, gleich Frau Schrödin31
ger, die Rettung der Welt zum Ziele gesetzt hatten. Frau Schrödinger war hoch erfreut und zutiefst erleichtert, hatte sie doch bisweilen befürchtet, dieser Aufgabe ganz allein vielleicht nicht gewachsen zu sein. So gesellte sie sich frohen Herzens dazu. Als aber nach drei Stunden noch keine Anzeichen des nahenden Feindes zu erkennen waren, breitete sich in der Versammlung eine gewisse Unruhe aus, und nach einer weiteren Stunde fing eine GrünÖkologische Gruppierung an, sich lauthals über die Trotzkisten zu mokieren, deren mitgeführte Sperrholzschilder diverse Slogans trugen, die so offensichtlich nicht konsensfähig waren. Die Trotzkisten reagierten spontan, indem sie die inkriminierten Schilder den Marxisten über die Köpfe hauten, was die Marxisten wiederum veranlaßte, auf die Leninisten einzudreschen, die ihrerseits dazu übergingen, endlich ihre strategischen Differenzen mit den Jusos zu klären, indem sie ihnen gehörig aufs Maul gaben. Die Maoisten schlugen sich mit den Taoisten, die Spartakisten mit den Anarchisten, und die Stalinisten trampelten auf der Autonomen Krabbelgruppe herum, die sich dafür rächte, indem sie jeden wahllos in die Waden biß. Frau Schrödinger betrachtete die Szenerie mit Erstaunen. Dann entschied sie, auf dieser Welt sei nichts mehr zu retten und sie würde sich statt dessen ernsthaft der Trunksucht ergeben (das war auch 32
etwas, was sie schon länger vorgehabt hatte), und dann mußte sie noch ziemlich lange suchen, bis sie eine Kneipe fand, die um diese Tageszeit schon geöffnet hatte.
FRAU SCHRÖDINGER LÄSST SICH NICHT BEIRREN
Eines Tages, als Frau Schrödinger sich gerade in einer Drogerie eine Zahnbürste kaufte, folgte sie einer spontanen Laune und erwarb eine Familienpackung 4711-Erfrischungstücher, schon etwas eingestaubt, aber ungemein preisgünstig. Fortan pflegte sie stets einige Päckchen davon bei sich zu tragen. Auch wenn die Tüchlein kaum irgendeinen praktischen Nutzen zeigten, riefen sie in Frau Schrödinger doch nostalgische Bilder wach, von ondulierten Müttern, die auf Autobahnraststätten und in rotgepolsterten Zugabteilen schokoladenverschmierte, klebrige Kinder säuberten, und dann fühlte sich Frau Schrödinger als letzte Bewahrerin einer beinahe untergegangenen Tradition. Wegen dieser kleinen Marotte wurde Frau Schrödinger des öfteren Zielscheibe des Gespötts, aber davon ließ sie sich nicht beirren, denn im Grunde verfügte sie weitaus lieber über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Erfrischungstüchern als über eine elektrische Apfelsinenpresse oder einen Bausparvertrag, und außerdem konnte man damit immerhin seine Brille putzen, wenn auch nicht besonders gut. 34
FRAU SCHRÖDINGER BESTATTET AUF SEE
Frau Schrödinger, die darauf bedacht war, sich nur selten Sentimentalitäten zu gestatten, hegte kein besonders inniges Verhältnis zu leiblicher Verwandtschaft. Nichtsdestotrotz besaß sie eine. Darunter auch, wie gemeinhin üblich, zwei Großmütter, von denen eine sich bester Gesundheit und fortgeschrittener geistiger Senilität erfreute und die andere vor vier Monaten gestorben war. Dieses Ereignis hatte Frau Schrödinger nicht in besonders tiefe emotionale Krisen gestürzt, war besagte Großmutter doch schon hochbetagt gewesen und hatte Frau Schrödinger zeitlebens nicht überaus nahe gestanden (weit härter hatte es sie getroffen, im großmütterlichen Testament keine Erwähnung zu finden). Strenggenommen besäße Frau Schrödinger nunmehr also nur noch eine Großmutter, wenn, ja, wenn nicht die Verblichene immer noch auf ihre Beisetzung gewartet hätte. Das mag sich ekelhafter anhören, als es tatsächlich war, denn Großmutter hatte verfügt, nach ihrem Tode erst eingeäschert und dann auf See versenkt zu werden. Teil 1, die 35
Einäscherung, war bereits plangemäß vonstatten gegangen ; und die letzten Monate hatte Frau Schrödingers Großmutter geruchsneutral und platzsparend in einer Urne verbracht und geduldig auf Teil 2, die letzte Ruhe, gewartet. Das allerdings gestaltete sich weitaus schwieriger, bereits elfmal hatte man einen Termin angesetzt und ihn ein jedes Mal wieder verwerfen müssen, sei es aus technischen Gründen, wie Hochwasser oder Sturmwarnung, oder aus persönlichen, wie Geschäftsreisen, Grippeerkrankungen oder Friseurterminen der Schrödingerschen Verwandtschaft. Schließlich neigte das Jahr sich dem Ende zu, und auch wenn es eigentlich keinerlei Eile bedurfte, befand man bei Schrödingers, Oma müsse nun wirklich mal versenkt werden, jedenfalls noch vor Weihnachten, Sturm hin, Termine her, wer nicht wolle, solle halt zu Hause bleiben. So fand sich nur eine sehr reduzierte Trauergemeinde zusammen, bestehend aus Schrödinger sen., dem Vater Frau Schrödingers, ihr selbst, ihrer Tante und einem Herrn, dessen Verwandtschaftsgrad ungeklärt blieb, der aber Heinz hieß. Man kam überein, Frau Schrödinger am Morgen des Stichtages abzuholen, günstigerweise paßten ja alle Beteiligten in ein Auto. Omas letzte Station vor dem Seemannsgrab würde Büsum sein. Frau Schrödinger, die – falls sie es nicht zum 36
Musketier bringen sollte – von Kindesbeinen an hatte Pirat werden wollen, rühmte sich eigentlich einer bemerkenswerten Seefestigkeit. Als sie sich jedoch am besagten Morgen nach 1 ¾ Stunden sehr mittelmäßigen Schlafes und vorausgegangenem ungeheuerlichen Saufgelage mit einem ihrer Volkshochschulkurse erhob, wurde sie schon beim Betreten des Badezimmers seekrank. In größter Hast – Schrödinger sen., vor ihrer Türe mit laufendem Motor wartend, rief im Fünf-Minuten-Takt bei ihr an, um sie zur Eile zu gemahnen – und nur bedingt bei Bewußtsein, bekleidete Frau Schrödinger sich wärmstmöglich, nahm fünf Aspirin, fluchte lauthals auf Autotelefone, Alkohol, Großmütter und Volkshochschulkurse, überlegte, sich zu erbrechen, verwarf es wieder, nachdem ihr Vater sie telefonisch belehrt hatte, dazu sei keine Zeit, man würde die Tide verpassen, zerrte minutenlang an der Wohnungstür, bevor ihr der Gedanke kam, aufzuschließen, und erreichte schließlich mit letzter Kraft den väterlichen Wagen. Dort wurde sie ob ihres jämmerlichen Allgemeinzustandes mit unverhohlenem Hohn und Spott empfangen, nur ihre Tante drückte ihr mitfühlend eine große Wurstsemmel in die zittrigen Hände. Frau Schrödinger fand das gar nicht komisch. Die nächsten zwei Stunden verbrachte sie damit zu verdursten. Dann war man in Büsum. Frau Schrödinger versorgte sich mit drei 37
Flaschen Mineralwasser und einigen Erfrischungstüchern, für alle Fälle, und ging an Bord. Auf dem Schiff, einem schmucken kleinen Seelenverkäufer mit Namen »Pythagoras« oder »Polyester« oder so, der sogar über einen kleinen Salon verfügte – mit zwei Sitzbänken, drei Tischen, auf denen geschmackvolle Blumengestecke in Steinguttöpfchen standen, farblich abgestimmt auf ein größeres Gesteck in einer Bodenvase, und einem schwarzen Lappen oder Wappen mit eingesticktem Goldkreuz an der Wand –, wurden die Schrödingers von Kapitän Hein und seiner rechten Hand Fiete (die natürlich nicht wirklich Hein und Fiete hießen, aber haargenau so aussahen und vor allem so redeten – Frau Schrödinger verstand nämlich kein Wort –, und deren Nachnamen tatsächlich beide auf »-sen« endeten) aufs herzlichste begrüßt. Frau Schrödinger entzog sich diesen gesellschaftlichen Verpflichtungen schnellstmöglich, beschloß, sich, wenn auch nicht die letzte, so doch wenigstens eine kleine Ruhe zu gönnen, legte sich auf eine der Bänke und war noch vor dem Ankerlichten in einen tiefen Schlaf gesunken, der allerdings nur knapp 20 Minuten währen sollte, dann hatte das Schiff mit seiner sechsköpfigen Besatzung Hafenbecken und Schleusen hinter sich gelassen und die offene See erreicht. Die Temperaturen waren eisig, die Sturmböen peitschten mit 7 bis 8 Windstärken die Gischt 38
über das Deck, und das kleine Boot kämpfte sich tapfer durch die, wenn auch nicht haus-, so doch immerhin bungalowhohen Wogen. Eine Situation, bei der Frau Schrödinger normalerweise die Seefahrerromantik gepackt hätte. Nun aber fiel ihr erst mal der Tischdekorationsblumenkübel ins Kreuz, was ihr das Schlafen etwas erschwerte, da er, der Kübel, dies mit einer ziemlich penetranten Regelmäßigkeit tat, und zwar ungefähr bei jeder siebten Welle. Frau Schrödinger stellte ihn jedesmal im Halbschlaf wieder zurück, das erschien ihr wesentlich weniger anstrengend, als aufzustehen und ihn über Bord zu werfen ; außerdem hätte der Kapitän dies vielleicht nicht so gerne gesehen. Im übrigen, so fand Frau Schrödinger, gewöhne man sich mit der Zeit an alles. Nur einmal erwachte Frau Schrödinger richtig, als Schrödinger sen. von draußen die Kajüte betrat, einen Schwall Wasser und einen kalten Luftzug im Gefolge. Trotz Schlaftrunkenheit arg verwundert, was jemand auf dem Achterdeck zu suchen hätte, wo es inzwischen ob der einsetzenden sintflutartigen Regenfälle reichlich unwirtlich geworden war, hob sie den Kopf und fragte, was zum Teufel er da draußen getrieben habe. »Heinz festgebunden«, konstatierte Schrödinger sen. »Ach«, sagte Frau Schrödinger, entfernte den Blumentopf von ihrer Bauchdecke, stellte ihn wieder auf den Tisch und schlief weiter. 39
Nach etwa drei Stunden, man hatte gerade die Drei-Meilen-Zone hinter sich gelassen und somit das Ziel erreicht, wurde Frau Schrödinger von ihrer Tante, die mittlerweile in etwas gekleidet war, das entfernt an einen Eisbären erinnerte, mit den Worten »Los, aufstehen, du verpaßt ja das Beste !« geweckt. Verwirrt umherblinzelnd, fielen Frau Schrödinger drei Dinge ins Auge, 1. die Tatsache, daß ihr Vater sich auch dieses Jahr keine neue Jacke gekauft hatte und somit den Mantel, den schon sein Vater damals vor Stalingrad trug, genau 25 Jahre besaß ; 2. Käpt’n Hein, der sich umgezogen hatte und jetzt in der Uniform eines napoleonischen Konteradmirals auftrat ; 3. die Abwesenheit von Heinz. »Heinz ist weg«, merkte Frau Schrödinger weise an. Nein, der sei nur draußen, wurde sie aufgeklärt. In der Tat, durchs Bullauge konnte man am Heck eine Gestalt erkennen, wenn auch nur schemenhaft, da jede Minute riesige Brecher auf das Deck niedergingen. Und siehe, die Gestalt war tatsächlich angebunden, mit einem grünen Ankertau, das ihm um die Hüften geschlungen und am anderen Ende mittschiffs befestigt war. »Was tut er denn da ?« begehrte Frau Schrödinger, ernstlich verwundert, zu wissen. »Er kotzt«, sagte Schrödinger sen., »und nun laßt uns endlich anfangen.« In diesem Moment geschahen drei (wieder mal) Dinge gleichzeitig. 1. brachte Frau Schrödinger ih40
ren Körper in eine senkrechte Position, 2. stoppte das Schiff seine Maschinen und verfiel von einer gleichmäßig stampfenden Bewegung in eine erbärmlich schlingernde und 3. läutete der Admiral eine kleine Glocke und begann, eine Rede zu halten. Peinlicherweise bildeten Punkt 1 und 2, was Frau Schrödinger betraf, eine äußerst unheilvolle Allianz. Ihr wurde nämlich unglaublich schlecht. Inzwischen hatte sich eine gewisse, weihevolle Atmosphäre eingestellt, Frau Schrödingers Tante standen die Tränen in den Augen, Schrödinger sen. verkniff sich aus unerfindlichen Gründen ein breites Grinsen, was ihm nicht besonders überzeugend gelang, und Käpt’n Hein entquoll ein Sermon, der sich für Frau Schrödinger anhörte wie die Zeitansage auf portugiesisch, außer, daß des öfteren der Name »Theodor Storm« herauszuhören war, aus welchem Grund auch immer. Aber das war Frau Schrödingers kleinstes Problem. Wie, wie nur sollte man in einer solchen Situation unter Wahrung von Anstand und Pietät kotzen, und vor allem, wohin ? Blitzschnell ging sie gedanklich alle nur denkbaren Möglichkeiten durch, was aber nur zur Folge hatte, daß sie nebst Wurstsemmel und Resten des vergangenen Abends nun auch noch ein unbändiges Gelächter niederzuringen hatte. Eisern die Zähne zusammenbeißend, konzentrierte sie sich darauf, im Geiste sämtliche 41
ihr bekannten Zubereitungsarten für Kartoffeln zu memorieren, und kotzte nicht. Endlich bedeutete der Käpt’n den versammelten Schrödingers, an Deck zu gehen. Er selbst folgte ihnen stehenden Fußes, und er brachte, zum Erstaunen aller, die Bodenvase mit, die, wie ziemlich schnell klar wurde, gar keine Bodenvase war, sondern Oma. Man schmiß sie über Bord und ging zurück in die Kajüte. Heinz, wie Frau Schrödinger draußen aus der Nähe hatte feststellen können, kotzte tatsächlich. Als man es sich bei einem Kaffee mit Rum gemütlich gemacht, auf Oma angestoßen und Frau Schrödingers Tante die abschließenden Worte »Mami haßte kaltes Wasser« gesprochen hatte, das Schiff Kurs auf den heimatlichen Hafen nahm und die Dämmerung hereinbrach, erinnerte man sich plötzlich Heinzens wieder. Frau Schrödingers Tante bestand darauf, man solle ihn reinholen, schließlich sei er nicht mehr der Jüngste, und außerdem, wovon man sich während der Beisetzung hatte überzeugen können, völlig durchnäßt, und das schon seit vier Stunden. Und da die Tante eine sehr energische Person war, setzte sie entgegen der Proteste seitens Schrödinger sen. (»Da muß er durch«), Frau Schrödingers (»Nicht, daß er hier alles vollreihert«) und des Käpt’ns (»Also, das müßten Sie 42
dann schon selbst aufwischen«) ihr Ansinnen durch. Ein nicht ganz einfaches Vorhaben übrigens, war Heinz doch, wie sich herausstellte, in eine Art prämortale Leichenstarre verfallen ; man mußte ihm die Finger, mit denen er die Reling umklammert hielt, gewaltsam aufbiegen (insofern wäre das Seil kaum nötig gewesen, ihn vor dem Fortgespültwerden zu bewahren), und es war ziemlich haarig, ihn durch die enge Kajütentür zu bugsieren. Eigentlich wäre es am praktischsten gewesen, ihn gleich mit zu bestatten, fand Frau Schrödinger, man würde sich ersparen, den ganzen Aufwand zu wiederholen, und kostengünstiger wäre es auch. Am meisten frappierte sie seine Gesichtsfarbe, ein matt glänzendes Anthrazit mit asymmetrischen, purpurnen Flecken. Sie würde sich in diesem Ton einen Pullover stricken, beschloß Frau Schrödinger, tat sich eine Prise Kaffee in ihren Rum und verbrachte den Rest der Fahrt damit, in Ermangelung eines Fernsehers auf den Radarschirm zu starren. Nach Büsum zurückgekehrt, gingen die Schrödingers ausgiebig Fisch essen. Heinz hatte man auf dem Rückweg in der Wärme des Maschinenraums gelagert, so war er halbwegs getrocknet, bis auf die Schuhe, die mußte er in der Hand tragen, damit wenigstens seine Socken nicht wieder naß wurden, aber es war auch gar kein allzu weiter Weg bis zum Restaurant. 43
Die Schrödinger-Sippe befand sich in gehobener Stimmung, selbst Heinz taute langsam auf, und man war sich einig, wie schön es gewesen sei, wie schade es sei, daß man sich so selten sehe, wieviel Spaß man gehabt habe und daß man so was in Zukunft öfter mal machen müsse. Auf der Heimfahrt mußte man dann in Süderbüll noch mal umkehren, weil Heinz seine Schuhe im Restaurant vergessen hatte.
FRAU SCHRÖDINGER BESTATTET AUF SEE – EPILOG
Frau Schrödinger, die (wie sich der eine oder andere erinnern mag) unlängst die sterblichen Überreste ihrer Großmutter in der Nordsee versenkt hatte, erhielt kurz darauf mit der Post, in einem geschmackvollen Kuvert, eine Urkunde, in der ihr, auf geschmackvoll imitiertem Büttenpapier, die Teilnahme an der »erfolgreichen Seebestattung von Frau Ilse Gertrude Schrödinger« bestätigt wurde. Frau Schrödinger fand dies zwar etwas seltsam, aber wirklich hübsch gemacht, die Urkunde umfaßte immerhin vier Seiten, und wenn man sie aufklappte, fand man innen ein Hochglanzfarbfoto der stolzen »MS Prostata« (oder »Paläontologe« oder so) sowie die derzeitige exakte geographische Länge und Breite von Frau Schrödingers Oma. Auf der Vorderseite war ein blauer Anker gedruckt, und darüber stand in anmutig verschnörkelter Schrift das Wort »Urkunde«. Es sah fast genauso aus wie auf den Urkunden, die man früher bei den Bundesjugendspielen erhielt. Nur daß Frau Schrödinger, wie sie sich schmerzlich erinnern mußte, niemals eine solche hatte erkämpfen können, da 45
ihre Begabungen definitiv auf sportlichem Gebiet nicht gelegen hatten – die Zeiten, die sie auf 50 Meter lief, liefen ihre Klassenkameraden recht mühelos auf 100 – und Frau Schrödinger hatte dies nie wirklich verwunden, hatten doch nur zwei Mädchen aus ihrem Jahrgang nie die begehrte Urkunde erlangt, und die andere war immerhin zuckerkrank gewesen und hatte ein steifes Bein gehabt. Nun aber durchfuhr es Frau Schrödinger freudig, umgehend rahmte sie das Dokument in einem rahmenlosen Bilderhalter, in dem zuvor ein Röntgenbild ihres Kiefers mit 14 Jahren und zwei ihrer markerschütterndsten Kontoauszüge einen Ehrenplatz gehabt hatten, hängte es, mit dem Anker nach vorn, über ihr Bett und fühlte sich irgendwie ziemlich stolz und zufrieden.
FRAU SCHRÖDINGER ERWIRBT SICH EINEN HEIMHEILAND
Frau Schrödinger, die eigentlich keinerlei religiöse Ambitionen hatte und die nach ihrer – übrigens sehr einträglichen – Konfirmation aus der Kirche ausgetreten war, entdeckte eines Tages in einer etwas abseitigen Gegend ein etwas abseitiges kleines Lädchen, in dessen Schaufenster, neben allerlei etwas abseitigen anderen Dingen, Jesusfiguren aufgereiht waren, in drei Größen, zu 19,95 DM, 39,95 DM und 79,95 DM, augenscheinlich aus Keramik und in allen Preislagen mit blauen Augen. So ein Schnäppchen konnte sich Frau Schrödinger kaum entgehen lassen, also betrat sie den Laden und bestellte bei dem herbeieilenden Inhaber, einem greisenhaften muselmanischen Zwerg mit einem ockerfarbenen Käppchen auf dem Hinterkopf, »einen mittelgroßen Heiland, bitte«. Zunächst auf Unverständnis stoßend, gelang es Frau Schrödinger erst unter Zuhilfenahme weitschweifiger Gesten, Gezappel und eines herzhaften »Yüsüs Crüstüz ! Yüsüs Crüstüz !«, ihr Anliegen zu verdeutlichen. Der würdige Greis scheuchte mit einer Handbewegung einen bis da47
hin mit der Teebereitung beschäftigten minderjährigen Knaben ins Hinterzimmer und begann, um Frau Schrödinger bei Laune zu halten, zu loben und zu preisen, Allah im allgemeinen und seine Sonderangebote im speziellen. Überschwenglich entriß er dem herbeieilenden Kind den Jesus, einen mittelgroßen, etwa 35 cm hoch, wiegte ihn an seiner Brust, informierte Frau Schrödinger : »Sein gutt Heiland ! Hartgummi ! Nix gehn kaputt !« und schmetterte mit einem für sein Alter erstaunlich kräftigen Baseballwurf den Heiland zu Boden. Dieser vollführte in der Tat vier Hopser, einen großen und drei kleinere, und blieb völlig unversehrt. Frau Schrödinger schien dies eine Szene von stiller, anrührender Schönheit, prallten hier doch nicht nur Hartgummi auf Linoleum, sondern gewissermaßen ebenso zwei Kulturen aufeinander, ohne Schaden zu nehmen, und natürlich war ein stoß- und schlagfester Heiland auch viel praktischer als einer aus Keramik. So trennte man sich sehr zufrieden, nachdem der Händler Frau Schrödinger noch mit einem Tee bewirtet und ihr zusätzlich zwei echte persische Teppichläufer für Stück 9,95 DM und eine goldene Rolex-Armbanduhr für 14,95 DM verkauft hatte. Frau Schrödinger ging, gut gelaunt, die Teppiche über der Schulter und mit dem Heiland übermütig dribbelnd, nach Hause und stellte ihn 48
in ihr Bücherregal, wo er seither steht und noch kein bißchen beschädigt ist.
FRAU SCHRÖDINGER ERINNERT SICH NICHT
Frau Schrödinger, die zu ihrem Leidwesen nur über ein sehr unzureichendes Gedächtnis verfügte, sammelte eine Vielzahl von Dingen, von denen ein nicht unbeträchtlicher Teil ihr als Erinnerungsstücke galten. Leider erinnerte sich Frau Schrödinger nur sehr selten, an was sie das jeweilige Stück nun erinnern sollte, was zum Teil natürlich an ihrem schlechten Gedächtnis lag, zusätzlich aber erschwert wurde durch die Tatsache, daß Frau Schrödingers Auswahlkriterien in bezug auf Erinnerungsstücke reichlich undurchsichtig schienen, sogar ihr selbst. So bewahrte sie, um sich eine Erinnerung zu bewahren, meist etwas auf, was damit in keinem direkten oder indirekten Zusammenhang stand, oder bewahrte etwas auf, das keinerlei Erinnerung beinhaltete oder wachrief, nur weil es ihr gefiel, oder wenn es ihr nicht gefiel, einfach nur so. Manche Dinge erinnerten sie vage an etwas, auch wenn sie sich nicht erinnerte, an was, oder an was wenigstens ungefähr. Ganz besonders war Frau Schrödinger Stücken zugetan, die sie an gar nichts erinnerten und 52
deren Sinn und Zweck ihr völlig rätselhaft waren. Die sammelte sie auch. So füllten sich Frau Schrödingers Räumlichkeiten zusehends, vor allem ihr Bücherregal, weil sie sich nicht so recht traute, irgendwas wegzuschmeißen, es könnte ja immer etwas gewesen sein, an dem eine kostbare Erinnerung hing, die sie völlig vergessen hatte.
FRAU SCHRÖDINGER GEHT NICHT INS KINO
Frau Schrödinger, die sich, kaum daß sie von ihrem eigenen gebrochenen Herzen genesen war (siehe auch : »Frau Schrödinger bricht sich das Herz«), erneut in eine Herzensangelegenheit hatte verwickeln lassen, geriet kurz darauf in die unangenehme Situation, jemand anderem das Herz zu brechen, was, wie sie nicht umhin kam festzustellen, noch viel, viel (und das war, so fand sie, noch stark untertrieben) schlimmer war, als selbst ein gebrochenes Herz zu haben. Also entschied sie, das Naheliegendste zu tun, sich ins Bett zu legen und voller Schuldgefühle, tiefer Selbstzweifel und depressiv zu sein, was sie auch tat, bis ihr am späten Nachmittag des dritten Tages die Idee kam, sie könne eigentlich, statt mit Schuldgefühlen, tiefen Selbstzweifeln und Depressionen herumzuliegen, genausogut mit Schuldgefühlen, tiefen Selbstzweifeln und Depressionen abwaschen. Wo sie gerade dabei war, putzte sie dann noch den Fußboden, den Herd, den Kühlschrank und die Fenster. Danach hatte sich ihr Zustand zwar keineswegs verbessert, der der Küche aber ungemein, 54
und Frau Schrödinger beschloß, schuldbewußt, tief selbstverzweifelt und depressiv ins Kino zu gehen, der Abwechslung wegen. Leider aber war, als sie dort ankam, die Vorstellung bereits ausverkauft, und so setzte sich Frau Schrödinger ins nächste Café, um sich bei einem Cappuccino zu überlegen, wie sie sich am besten den angebrochenen Abend verderben könne.
FRAU SCHRÖDINGER ZWISCHEN SASEL UND POPPENBÜTTEL
Frau Schrödinger, deren Sehnsucht nach universeller Harmonie der Dinge seit jeher ebenso unerfüllt wie beträchtlich gewesen ist, und die in schwachen Momenten sogar ab und an unüberzeugt mit dem Gedanken spielte, sich eine Religion zuzulegen, kam neulich mit ihrem Auto, irgendwo zwischen Sasel und Poppenbüttel, an einem kleinen, weißen Lieferwagen vorbei, auf dem, kaum erkennbar, in grüner, schwungvoller Schrift »Weinhaus Gröhl« geschrieben stand. Da wurde Frau Schrödinger ganz leicht ums Herz, denn solche erhabenen Momente waren es, die sie doch auf die Existenz eines Gottes hoffen ließen, und sie fühlte sich fast so glücklich wie damals, als ihr die »Klempnerei Rumohr« erschienen war.
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FRAU SCHRÖDINGER VERSÖHNT SICH
Frau Schrödinger, die vor geraumer Zeit eine recht dauerhafte Liaison mit einem Herrn Bogardt beendet hatte – »Bogardt« übrigens mit »dt«, was ihn ebenso von dem bekannteren Humphrey dieses Namens (allerdings mit »t« ohne »d«) unterschied, wie die Tatsache, daß er, Bogardt mit »dt«, knapp 1,90 Meter maß und somit nicht hätte auf eine Kiste steigen müssen, um Lauren Bacall zu küssen oder Ingrid Bergman, dies auch beim Küssen Frau Schrödingers niemals nötig gehabt hatte, erfreulicherweise, wie ebenjene fand, wäre es ihr doch sehr lästig gewesen, ständig eine Kiste bei sich zu tragen –, schien es eines Tages an der Zeit, sich zu versöhnen. Nicht unbedingt mit der Welt, obwohl auch das durchaus eines Tages angeraten sein mochte, sondern zunächst mit selbigem Herrn Bogardt. Die Folgezeit nach der Trennung Frau Schrödingers von Herrn Bogardt hatte ein buntes Potpourri all jener unerfreulichen und entwürdigend dämlichen Verhaltensweisen, die Menschen, vor allem die Getrenntwerdenden, in so einem Falle üblicher59
weise an den Tag legen, mit sich gebracht ; wie etwa Mord- und Selbstmorddrohungen, sowohl schriftlich mit in Herzensblut getunkter Feder als auch telefonisch nach drei Uhr morgens ; das Springen vor U- und S-Bahnen oder wahlweise von Brücken und/oder höheren Gebäuden ; das Deponieren von toten Ratten im gegnerischen Briefkasten ; das nächtliche, tränenüberströmte Campieren auf der Türschwelle ; das Beziehen eines Zweitwohnsitzes auf dem Baukran direkt vor Frau Schrödingers Fenster ; und, selbstverständlich, das Ergeben in hoffnungslose Trunksucht. All dieses hatte das ungezwungen-freundschaftliche Verhältnis Frau Schrödingers zu Herrn Bogardt natürlich etwas überschattet, war aber im Laufe der Zeit abgeklungen, weshalb sich Frau Schrödinger nun, trotz leiser Bedenken, nach Halbjahresfrist wieder mit Herrn Bogardt verabredet hatte. Sie suchte Herrn Bogardt in seinem Hause auf, brachte ihm ein Überraschungsei mit, küßte ihn liebevoll auf die Wange, wozu sie gottlob keine wie auch immer geartete Kiste benötigte, es reichte vollkommen, wenn sie sich ein bißchen auf die Zehenspitzen stellte, und man verbrachte einen gemütlichen Nachmittag, trank gemeinsam Leitungswasser aus einem großen Humpen, rauchte gemeinsam einige Schachteln von Frau Schrödingers Zigaretten, plauderte über gemeinsame verstorbene Be60
kannte und schaute sich schließlich noch in Herrn Bogardts »Pschyrembels klinischem Wörterbuch«, dem »am weitesten verbreiteten klinischen Nachschlagewerk, erläutert alle wichtigen Körperfunktionen und Krankheitsbilder«, seinem Lieblingsbuch, die Bilder an. Zum Abschied schenkte Herr Bogardt Frau Schrödinger ein Foto von einem Jeansshop, das er selbst aufgenommen hatte, und gab ihr einen liebevollen Kuß auf die Wange, wobei er sich nur leicht bücken mußte, und man kam überein, demnächst mal einen trinken zu gehen. Und obwohl Frau Schrödinger dann ärgerlicherweise ihren Bus verpaßte und zu Fuß gehen mußte, war sie froh gestimmt und sehr erleichtert, daß 1. fast alles immer gar nicht so schlimm ist und 2. man zu guter Letzt doch noch gute Freunde geworden war.
FRAU SCHRÖDINGER FLÜCHTET ZU FUSS – TEIL I
Frau Schrödinger, an deren Umweltbewußtsein sicherlich mancherlei zu kritisieren wäre, besaß nicht nur ein Auto, sondern pflegte damit auch häufig herumzufahren, so auch eines Nachts in Begleitung einiger Freunde, die ihrerseits ebenfalls recht häufig in Frau Schrödingers Auto herumgefahren zu werden pflegten, wobei sich besagte Nacht von den vielen vorhergegangenen hauptsächlich dadurch unterschied, daß Frau Schrödinger ihren Wagen gänzlich zuschanden fuhr. Dies geschah vollkommen undramatisch, weder überhöhte Geschwindigkeit, noch jugendlicher Leichtsinn waren die Ursache – obwohl Frau Schrödinger beidem prinzipiell nicht abgeneigt war – und selbst Alkoholeinfluß spielte eine höchstens untergeordnete Rolle. Frau Schrödinger war zum Zeitpunkt des Geschehens gerade gleichzeitig damit beschäftigt a) eine neue Kassette in den Recorder zu legen ; b) sich eine Zigarette zu drehen ; c) in eine angeregte Diskussion über Kulturpolitik mit den drei hinteren Wageninsassen verwickelt zu sein ; d) sich mit dem 62
Beifahrer über seine mangelhaften Ortskenntnisse zu streiten und e) den Wagen auf der Fahrbahn zu halten ; wobei sie die Punkte a) bis d) mit Bravour zu meistern verstand, unter Punkt c) sogar mit einigen sehr interessanten neuen Aspekten aufzuwarten hatte – lediglich Punkt e) geriet darob etwas ins Hintertreffen, und zeitgleich geriet daher das rechte Vorderrad über die Fahrbahnbegrenzung hinaus. Frau Schrödinger verlagerte ihre Prioritäten flugs auf Punkt e), mußte aber nach wenigen Metern feststellen, daß die Fahreigenschaften ihres Autos nunmehr etwas zu wünschen übrigließen ; nicht verwunderlich, bedenkt man die Tatsache, daß – wie man feststellen mußte – die vordere Achse entzwei war und sich das rechte Rad nach seinem kleinen Ausflug in den Grünstreifen recht eigenwillig quer zur Fahrtrichtung gestellt hatte. Bedrückt war Frau Schrödinger deswegen eigentlich weniger, hatte sie das Auto doch nie so richtig leiden mögen, und reichlich schmuddelig war es auch schon gewesen. Ein weitaus größeres Ärgernis schien ihr, daß es für öffentliche Verkehrsmittel längst zu spät und bis nach Hause für sie noch ein gutes Stück Wegs war. So ging man dann notgedrungen zu Fuß – nachdem mit vereinten Kräften noch der Wagen säuberlich von der Straße getragen worden war ; ein ziemlich mühseliges Unterfangen, Frau Schrödin63
ger war wirklich froh, daß sie nur einen Kleinwagen fuhr, oder vielmehr gefahren hatte – und unterwegs kehrte man noch in einer behaglichen Kneipe ein, wo sich Frau Schrödinger nach Herzenslust einen Schwips antrank ; denn schließlich, so sagte sie, müsse sie ja nicht mehr fahren.
FRAU SCHRÖDINGER FLÜCHTET ZU FUSS – TEIL II
Frau Schrödinger, die, obwohl es, wie gesagt, an ihrem ökologischen Bewußtsein einiges zu bemängeln gäbe, es trotzdem nicht für angemessen erachtete, ein Auto einfach so in der Gegend herumliegen zu lassen, jedenfalls nicht, solange man nicht Fahrgestell-, Serien- und Zulassungsnummer sorgfältig entfernt hatte, kehrte an dem auf die Nacht, in der sie ihren Wagen um die Ecke gebracht hatte (wie sich der aufmerksame Leser erinnere), folgenden Tage um die Mittagszeit an den Ort des Geschehens zurück, um auf den eigens bestellten Abschleppwagen zu warten, der ihr Ex-Auto zu seiner letzten Ruhestätte befördern sollte. Es bot sich ihr dort ein erstaunliches Bild, und zwar nicht nur in bezug auf ihren Wagen – der sich allerdings weitaus erstaunlicher verformt hatte, als es des Nachts erkennbar gewesen war. Nein, das eigentlich Verwunderliche war der Tatort selbst, der mittlerweile zu einem solchen avanciert schien, da der Boden in einem Kreise von etwa 20 Metern Durchmesser, dessen Mittelpunkt der Auto65
kadaver bildete, bedeckt war mit unzähligen kleinen Kreidekreisen, die untereinander mit kleinen Kreidestrichen verbunden waren, die wiederum von kleinen Kreidepfeilen und kleinen Kreidehieroglyphen begleitet wurden. Um es anschaulicher zu beschreiben : Wäre ein geistig verwirrter, desperater Amokläufer zufällig an einer Gruppe unschuldiger Borkenkäfer – wahlweise auch Küchenschaben – vorbeigekommen, und hätte mit einer – zum Beispiel – Heckler & Koch in diese arglose Versammlung hinein das Feuer eröffnet ; hätte er dann in der einsetzenden Panik ungehindert einige Dutzend Borkenkäfer niedergeknallt, bevor es den Scharfschützen der herbeigerufenen Sondereinheit mit einem finalen Rettungsschuß gelungen wäre, ihn unschädlich zu machen ; hätte dann die Polizei, nachdem das Gelände weiträumig abgesperrt würde, die Leichen, von denen einige nur noch aufgrund ihrer mitgeführten Personalpapiere oder ihrer Gebißabdrücke zu identifizieren gewesen wären, von Feuerwehr und Ambulanz abtransportieren lassen, nicht ohne vorher noch die Umrisse der Körper auf dem nassen Asphalt mit Kreide zu markieren – dann hätte der Schauplatz dieser gräßlichen Bluttat in etwa so ausgesehen wie die Umgebung von Frau Schrödingers Auto. Außer, daß da natürlich kein Blut war. Wem das jetzt zu anschaulich beschrieben ist, der begnüge sich mit 66
der ersten Schilderung. Jedenfalls : Unmengen winziger Kreidekreise um keine erkennbaren oder nicht mehr erkennbare Ursachen drumrum. Verbunden mit Pfeilen und so weiter. Frau Schrödinger betrachtete dieses mit Erstaunen, hatte aber auch schon Merkwürdigeres in ihrem Leben gesehen, und begann, nach fünfminütigem, fruchtlosem Sich-Wundern, aus ihrem Wagenwrack die verbliebenen Wertsachen zu bergen ; Falk-Falt-Stadtplan, Tomahawk und den Reisepack Erfrischungstücher aus dem Handschuhfach, das Radkreuz, den Verbandskasten, den sie, wie sie feststellen mußte, ordnungswidrigerweise gar nicht besaß, einen Shell-Atlas von 1972 und weiteres. Außerdem steckte sie den Zigarettenanzünder ein, um sich wenigstens eine kleine Erinnerung an ihr treues Auto zu bewahren. So sich ihrer melancholischen Stimmung hingebend und in ihre Beschäftigung versunken, tippten ihr plötzlich strenge Finger von hinten auf die Schulter, und eine rüde Stimme erkundigte sich nach ihrem Treiben. Sowohl Finger wie Stimme gehörten, wie Frau Schrödinger nach dem der Situation angemessenen Erschrocken-Hochfahren feststellen konnte, einem älteren Mann, der ungeachtet jedes unerfreulichen Klischees ausgerechnet einen grauen Trenchcoat trug, und der sich als der zuständige Einsatzleiter, der des Morgens den Ein67
satz der zwölfköpfigen Sonderkommission ebendort geleitet hatte, vorstellte. Zunächst schien es Frau Schrödinger nur als ihr übliches Pech, daß sich ausgerechnet um ihr Auto herum ein größeres Borkenkäfermassaker hatte ereignen müssen, oder was immer es nun gewesen sein mochte, aber da lag sie vollkommen falsch, wie ihr der Herr im Trench, mit Dienstmarke und Handschellen lüstern klimpernd, versicherte. Sie, Frau Schrödinger höchstselbst, sei es, der man habhaft zu werden suchte. Sie wäre der Fahrerflucht beschuldigt. Das war nun selbst für Frau Schrödinger, die so einiges gewohnt war, des Guten zuviel. Schließlich könne man kaum Fahrerflucht begehen, wenn man gar nichts mehr zum Fahren hätte, und sie sei auch nicht geflüchtet, sondern gemächlich spaziert ; überhaupt, wäre sie auf der Flucht gewesen, hätte sie ja wohl nicht ihr Auto unverhohlen dort stehenlassen, ohne zuvor sorgfältig Fahrgestell-, Serien- und Zulassungsnummer zu entfernen ; und wenn schon, dies sei immer noch ein freies Land, und sie könne ihre Autos kaputtfahren, wie es ihr in den Sinn komme, nicht wahr ! Solcherart sich aufs schönste ereifernd, wollte Frau Schrödinger just damit beginnen, auf und ab zu hüpfen, unflätig zu gestikulieren und zur Untermalung wüst zu schimpfen, wurde darin allerdings 68
von dem Trenchgecoateten kalt unterbrochen, das nütze ihr gar nichts (was Frau Schrödinger schade fand, war sie doch gerade so schön in Fahrt gekommen), sie hätte unter Zuhilfenahme ihres Wagens einen Baum gestreift, und der gehöre ihr nicht, und das würde unschöne Folgen nach sich ziehen ! Leugnen sei zwecklos, man hätte unwiderlegbare Indizien, jede mikroskopisch kleine Rindenfaser sei aufs genaueste dokumentiert, die Spurensicherung hätte genetische Fingerabdrücke genommen, ihr Fahndungsfoto hinge in allen Polizeidienststellen und sie solle sich augenblicklich ergeben. In der Tat, mußte Frau Schrödinger niedergeschmettert feststellen, fehlte einem Straßenrandbaum ein Eckchen Rinde, nicht auf den ersten Blick erkennbar, auf den dritten aber nicht mehr zu leugnen. Auch wenn der Baum nicht sonderlich davon gestört schien, der Trenchcoat war es um so mehr. Obwohl es gar nicht sein Baum war. Frau Schrödinger, die bis dato gar nicht gewußt hatte, daß Bäume jemandem gehören, sondern immer dachte, die würden einfach so in der Gegend herumstehen, befand, die nunmehr wirklich prekäre Lage erfordere eine blitzschnelle Kurskorrektur, änderte dementsprechend sofort ihre Taktik, brach zusammen, gestand alles, warf sich weinend dem Auge des Gesetzes zu Füßen und flehte um Gnade (was sie auch ganz gut konnte, ihrem Faib69
le für amerikanische Geschworenengerichtsfilme sei Dank). So ließ man denn, nachdem sie diese kleine Vorführung in leicht abgewandelten Varianten vier demütigende Tage lang bei diversen Obrigkeitsvertretern wiederholt hatte, in ihrem Fall schließlich Gnade vor Recht ergehen ; die Akte Schrödinger wurde geschlossen, nur daß Frau Schrödinger drei Wochen später noch vom städtischen Gartenbauamt 1 Rchng. üb. 1 Baum erhielt, den sie bezahlen mußte, und der im übrigen unheimlich teuer war, und sie durfte ihn dann noch nicht einmal behalten.
FRAU SCHRÖDINGER BEGEHRT NICHT
Frau Schrödinger, die – wie wohl die meisten anderen Leute auch – bisweilen etwas betrübt war über das Leben im allgemeinen und das ihre im besonderen, pflegte in einem solchen Falle gern die nächste U- oder S-Bahn oder wahlweise auch einen beliebigen Autobus zu besteigen und damit ein wenig herumzufahren. Während der Fahrt betrachtete sie stets ihre Umgebung und die sie umgebenden Mitmenschen aufs genaueste, und jedesmal wieder bemerkte sie erfreut viele Dinge, die sie ganz und gar nicht begehrte. Berufe und Gelegenheiten, die sie niemals hätte ergreifen wollen ; Menschen, die sie nie hätte kennenlernen mögen, geschweige denn, mit ihnen auch nur zu reden ; Neu- und Gebrauchtwagen, Plüschtiere und riesenhafte Tüten mit schaumig-waffeligem Zuckerzeug vom örtlichen Jahrmarkt, die sie nicht besitzen wollte, oder gar essen ; auf großen Reklametafeln gepriesene Orte, wo sie nicht hinwollte ; und unzählige Dinge, die sie nicht sein wollte : wie zum Beispiel wasserstoffblond, fett oder schwanger ; Besitzerin von Hunden, Kindern, Ferienhäu71
sern, Besteckgarnituren oder geblümten Radlerhosen. Oder Turnschuhen mit aufblasbarem Hydraulikmechanismus. Oder einer Vorliebe für Steve Martin. Nach einer gewissen Zeit stellte sich so bei Frau Schrödinger unweigerlich eine ganz leichte Zufriedenheit ein, vielleicht nicht besonders überschwenglich, aber immerhin keiner jener sechs oder sieben Arten von Zufriedenheit zugehörig, auf die Frau Schrödinger ebensowenig Wert legte wie auf Darmkrankheiten und Markenunterwäsche.
FRAU SCHRÖDINGER BEGEHRT DOCH
Frau Schrödinger, die, wie bereits erwähnt, sehr vieles ganz und gar nicht haben oder tun wollte, kam natürlich trotzdem des öfteren in die Lage, Dinge zu begehren, wobei es sich dann meist um völlig unverhältnismäßig überteuerte Kleidungsstücke, augenfällig gutgebaute Männer mit Dreitagebart und trockenem Humor oder soziale Gerechtigkeit handelte, was sie sich aber, das eine wie das andere, mit ziemlicher Regelmäßigkeit nicht leisten konnte, weshalb es fast müßig ist, derlei hier überhaupt zu erwähnen, und auch Frau Schrödingers Gram darüber hielt sich eigentlich in Grenzen.
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DIERK HAGEDORN : EINE GESCHICHTE AUS HAMBURG
Herr Bdrian hatte die vergangene Nacht außer Haus geschlafen und es war St. Pauli gewesen, wo ein Freund ihm nach langem Feiern Unterkunft gewährt hatte. Als er erwachte, fand er seinen Bekannten nicht mehr vor, so daß er wortlos seine siebzehn Sachen packte und ging. Herr Bdrian war noch recht vertorft und fand sich nur schwer in der Wirklichkeit zurecht, als er auf die Straße trat. Es war einer jener Tage, kurz nach Frühlingsanfang, die sich nicht recht entscheiden können, ob sie sich noch dem lausig kalten Winter zugehörig fühlen oder schon den wärmeren Jahreszeiten. – Es war eine Tageszeit zwischen sehr früh morgens und vormittags, und die Straßen waren noch nicht übermäßig verstopft. Über der Stadt lag nicht mehr das unerfreuliche diffuse Winterlicht, welches keine Schatten wirft, sondern ein ganz vorsichtiges sonniges Gold, das noch nicht sehr wärmte. Es war eine von Herrn Bdrians Lieblingszeiten, die etwas von der angenehmen Leere des Sonntages hatte – man hatte Platz und konnte seiner Trägheit und Müdigkeit freien Lauf lassen, 76
mußte nicht Gefahr laufen, jeden Augenblick überfahren zu werden ; man konnte weit sehen, der Blick wurde nicht durch die vielen bunten Automobile abgelenkt –, die jedoch der unangenehmen Leere, dieses O-mein-Gott-es-ist-Sonntag-was-soll-ichbloß-tun-Gefühles, entbehrte. Auf seinem Heimweg passierte Herr Bdrian den Stephansplatz, wo eine rote Ampel ihn zum Warten zwang. Dort kam, trotz des roten Lichtes – viel Verkehr war ja, wie erwähnt, sowieso nicht -, eine wunderschöne junge Dame auf ihn zu. Wie jedermann wußte, der Herrn Bdrian kannte, war Herrn Bdrians Pech bei den Frauen schon ein sprichwörtliches, so daß er sich dann und wann fragte, wie das bloß angehen könne, was um alles in der Welt er wohl verkehrt mache und ob das Ganze nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit sei. Es kam ihm mitunter vor, als habe ihm jemand, wie damals zu Schülerstreichzeiten, ein Schild auf den Rücken geheftet, worauf solche Sinnsprüche zu lesen waren wie »Ich bin doof«, »Schlag mich !« oder »Hier kommt der übelste Frauenhasser der Stadt !« Auch ein für ihn unsichtbares Kainsmal auf der Stirn, welches vor dem Umgange mit ihm warne, halluzinierte er hin und wieder. Herr Bdrian stand also an der Ampel, als diese wunderschöne Frau sich ihm geradewegs näherte (dabei stand doch noch ein weiterer Herr, im mo77
dischen Mantel, mit lederner Aktentasche, direkt neben ihm). Hätte er mehr Zeit gehabt, Herr Bdrian hätte sich umgeblickt, ob möglicherweise noch jemand hinter ihm stehe. Doch da wurde schon das Wort an ihn gerichtet : »Entschuldigung, weißt du, wo die Dammtorstraße ist ?« Herr Bdrian war aus zwei Gründen verwirrt : 1. : »Eine Frau, eine wunderschöne, hat mich angesprochen, mich !« und 2. : »Dammtorstraße ? Gute Güte, wo war doch gleich die Dammtorstraße ?« Um Zeit zu gewinnen, sprach er zu seinem Gegenüber : »Je nun, schwer zu sagen, die heißen hier ja alle gleich, die Straßen : Dammtordamm … Dammtorstraße … Dammtorwall … Dammtortor …« Bevor er so richtig ins Faseln geraten konnte, unterbrach ihn die junge Frau mit der Bemerkung, daß ihr das auch schon aufgefallen sei und sie sich deshalb hilfesuchend an ihn gewandt habe. Herr Bdrian warf diverse Blicke in die Umgebung, alle Straßenschilder abtastend, die er sehen konnte. Er stand unmittelbar neben einem Pfahl, dessen eines Schild hinter ihn wies und die Aufschrift »Stephansplatz« trug, das nach rechts zeigende verkündete »Esplanade«. Linker Hand, das wußte er, von dort war er gekommen, befand sich der Gorch-Fock-Wall ; geradeaus lag der Dammtordamm. Verblüffend ! Wo war die Dammtorstraße geblieben ? Gemeinsam wunderte man sich ein wenig. 78
»Ich muß nämlich zum Arzt«, erläuterte die strahlende Schönheit, »und man hat mir dies mitgegeben.« »Dies« war ein kleiner Zettel, wie ihn Ärzte an ihre Kollegen auszuteilen pflegen, auf daß eventuell zu überweisende Patienten mittels darauf befindlichen Lageplanes die aufzusuchende Praxis ohne Schwierigkeiten zu finden vermögen. Das war jedoch in diesem Falle diffiziler als vermutet. Denn trotz einiger markanter Wiedererkennungspunkte, wie der Alster rechts, dem Dammtorbahnhof links oben und dem Gänsemarkt unten in der Mitte, konnte man sich anfangs nicht recht einigen, wie herum der Zettel nun zu halten sei, zumal der Maßstab ein ebenso willkürlicher wie wechselhafter zu sein schien und die Benennung der eingezeichneten Straßen auch nicht sehr aufschlußreich war. Als Herr Bdrian und die schöne junge Dame sich auf eine Nord-Süd-Richtung geeinigt hatten, stellten sie fest, daß der als »Stephansplatz« gekennzeichnete Straßenzug in Wirklichkeit »Esplanade« hieß. Seltsam ! Doch so schnell gab sich Herr Bdrian nicht geschlagen. »Halt das !« sagte er, als er den Zettel zurückreichte und aus seinem Rucksack einen Stadtplan hervorholte. »Jetzt wird uns Weisheit zuteil werden.« Herr Bdrian schlug den Plan auf, und die junge 79
Frau rückte nah an ihn heran, um dem Geschehen besser folgen zu können ; und nah hieß in der Tat ganz nah, was wiederum hieß, daß Herr Bdrian ihre wunderschöne Anatomie an seiner Seite spürte. Das gab ihm Anlaß, sich ein weiteres Mal an diesem Morgen zu wundern. Schließlich stellte er fest, daß a) auf der Zeichnung des Arztes mit ›Stephansplatz‹ lediglich die gleichnamige U-Bahn-Station gemeint war, daß b) die Dammtorstraße die gleiche sei, die weiter geradeaus Dammtordamm heiße, und daß lediglich das kleine Stück Straße, auf dem sie gerade stünden, Stephansplatz heiße, so daß c) sie sich bloß in der gleichen Richtung fortbewegen müsse, aus der sie gekommen sei. Zum Abschied drückte ihm die Schönheit noch einmal den Arm und bedankte sich mit einem leuchtenden Lächeln. Herr Bdrian behauptete, daß es ihm ein Vergnügen gewesen sei. Und weg war sie. Allmählich begann Herr Bdrian wach zu werden und sein Geist wieder die Arbeit aufzunehmen. Fast wollte er sich einen Narren und Toren schelten, daß er nicht mit dem einen oder anderen Witzwort eine vertrautere Atmosphäre geschaffen hatte, auf der aufbauend er eventuell eine Einladung zum Tee (zum Beispiel) hätte herausschlagen können. Er mußte an seinen Kumpel Schulzke denken, dem mit seinem unvergleichlichen Charme gewiß 80
mehr eingefallen wäre, als beispielsweise ›Halt mal‹ zu sagen. Naja, man hat’s nicht leicht. »Hallo !« hörte Herr Bdrian jemand hinter sich rufen, als er voller schwerer Gedanken den Stadtplan wieder verstaute. Aber nein, es waren lediglich zwei Handwerker, die einander begrüßt hatten, er war nicht gemeint gewesen. »Hallo !« Nein, dachte Herr Bdrian, noch einmal lasse ich mich nicht foppen, schnallte seinen Rucksack auf und schickte sich an zu gehen. Doch da stand eine blondgelockte Frau vor ihm, die ihn fragte, ob er nicht wisse, wo die Dammtorstraße sei. »Da lang«, Herr Bdrian zeigte hinter sich und ging seiner Wege.
EIN NEUER ANFANG ODER
FRAU SCHRÖDINGER TRIFFT HERRN BDRIAN NICHT
Frau Schrödinger, die sich für die frühen Morgenstunden noch nie so richtig hatte erwärmen können und die es eigentlich aus Prinzip ablehnte, zu einstelligen Uhrzeiten aufzustehen, sah sich nichtsdestotrotz bisweilen eben dazu gezwungen. So hatte sie sich eines Morgens bei Tagesanbruch erhoben, nicht ohne Schwierigkeiten ; wichtige Fragen wie »Wo bin ich ?«, »Wer bin ich ?«, »Was will ich eigentlich ?« und »Warum ist kein Kaffee mehr im Haus ?« konnte sie stets erst nach den ersten drei Tassen starken Kaffees klären, und sie hatte arge Mühe, zur Dusche zu finden, da sie auch keinen traf, den sie hätte nach dem Weg fragen können. Selten hatte ihr das Wort »Morgengrauen« derart vor Augen gestanden. Nach einem kärglichen Frühstück aus Käserinden ohne Toast fühlte sich Frau Schrödinger nicht gewappnet, den Tag in Angriff zu nehmen, tat es aber, schaudernd, trotzdem. Ihr blieb keine 84
andere Wahl, war ihr doch am Vortage auf mysteriöse Weise ihre Handtasche abhanden gekommen, die sie statt eines Gedächtnisses bei sich zu tragen pflegte (man erinnere sich – oder nicht – an »Frau Schrödinger erinnert sich nicht«), ein Desaster, denn ohne ihren Terminkalender, ihre Notizbücher, Adreßbücher, Merkhefte, Scheckhefte, Straßen-, Visiten- und Kreditkarten, die sich nebst vielerlei anderen mehr oder minder nützlichen Dingen in der Tasche befunden hatten, war sie über Nacht quasi zur Frau ohne Eigenschaften geworden. Nun befand sie sich also in aller Frühe auf dem Weg zum Fundbüro, das, wie die meisten Ämter und Behörden, undurchschaubare Öffnungszeiten hatte, vormittags von 7.19 bis 8.34 Uhr an ungeraden Tagen, wenn der Saturn im Schützen steht, nachmittags nur in Monaten, die auf ›R‹ enden ; das aber wenigstens in der Nähe von Frau Schrödingers Wohnsitz lag, nämlich in der Dammtorstraße. Dort verbrachte sie eine abwechslungsreiche Zeit, wurde in etwa einem Dutzend verschiedenen Zimmern bei etwa zwei Dutzend verschiedenen Leuten vorstellig, füllte eine Unmenge von Formularen aus – problematisch, da Frau Schrödinger dazu neigte, persönliche Daten zu vergessen, und nunmehr nichts besaß, wo sie hätte nachgucken können –, bis man ihr mitteilte, sie solle am folgenden Don85
nerstag zwischen 9.16 und 9.54 Uhr oder 14.48 und 15.00 Uhr wiederkommen oder bei Neumond. Inzwischen hatte sich Frau Schrödingers Stimmung gehoben. Immerhin hatte sie nun keinerlei Termine mehr, was bedeutete, daß sie in nächster Zeit oft und lange würde ausschlafen können, ja, im Grunde böte sich hier eine Chance, ein völlig neues Leben zu beginnen. So schlenderte sie beschwingt bis zur nächsten Straßenecke, wo ihr einfiel, daß sie nicht wußte, was tun. Alle Möglichkeiten standen ihr offen, sie war frei wie ein Vogel, die Luft war mild, und die Stadt lag wie frisch gewaschen vor ihr. Frau Schrödinger beschloß, spontan eine Zigarette zu rauchen und darüber nachzudenken. Sie schaute sich um. Ihr erster Blick fiel auf einen recht ansehnlichen jungen Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Frau Schrödinger hatte seit jeher, was Männer anging, kein besonders glückliches Händchen gehabt. Kriegte sie keine, war das ein Problem, und hatte sie welche, dann machten sie ihr Probleme. Aber vielleicht würde auch das jetzt anders werden. Sie entschied, sie würde den sympathischen Herrn einfach ansprechen. Ihr zweiter Blick allerdings fiel auf eine geradezu widerlich bildschöne Frau, die sich in Begleitung besagten Herrns befand. Das war eines der 86
Probleme, die Frau Schrödinger immer mit Männern hatte. Gerade war sie im Begriff, sich abzuwenden, als die markerschütternde Schönheit von dannen schwebte. Allein. Der Mann blieb stehen und sah nicht glücklich aus. Frau Schrödinger fackelte nicht lange, rief : »Hallo !«, eilte über die Straße, setzte an, um Feuer zu bitten, entsann sich rechtzeitig der brennenden Zigarette in ihrer Hand, disponierte um und fragte, mit dem strahlendsten ihr zu Verfügung stehenden Lächeln, nach der erstbesten Straße, die ihr in den Sinn kam. »Da lang«, sagte der Kerl roh, drehte sich um und ging. Frau Schrödinger stand da und war nicht glücklich. Ihr neues Leben war offensichtlich auch nicht besser als das alte. Früher hätte sie jetzt zumindest ein Erfrischungstuch gehabt. Oder Kopfschmerztabletten. Oder wenigstens irgendeinen Termin.
FRAU SCHRÖDINGER TRIFFT HERRN BDRIAN NICHT – TEIL II
Frau Schrödinger stand an einem Zebrastreifen und wartete auf Grün. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und tat dasselbe. Beide überquerten die Straße. Sie begegneten einander in der Mitte. Den kenn ich doch irgendwie ! dachte Frau Schrödinger. Hab ich die nicht schon mal irgendwo gesehen ? dachte zeitgleich ihr Gegenüber. Dann gingen sie ihrer Wege.
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FRAU SCHRÖDINGER SCHLÄGT SICH TAPFER
Frau Schrödinger, die – man erinnere sich – eine eifrige Sammlerin allerlei Dinge war, verfügte unter anderem über eine stattliche Anzahl verschiedenster Hieb- und Stichwaffen, auf die sie ungeheuer stolz war. Auch wenn Frau Schrödinger selbige kaum je verwendete – nicht, daß sie dem Rauben, Morden, Plündern und Brandschatzen abgeneigt gewesen wäre, sie verfügte lediglich in dieser Hinsicht über eine wahrhaft eiserne Selbstbeherrschung, man kann es auch Feigheit nennen –, hingen ihre diversen Degen, Duellpistolen, Säbel und Florette stets einsatzbereit und gut sichtbar in Frau Schrödingers Räumlichkeiten. Der Grund dafür lag in einem alten Kindheitswunsch Frau Schrödingers ; schon im zarten Alter hatte sie beschlossen, entweder Musketier oder Pirat zu werden, wenn sie groß wäre, und dieses Ziel hatte sie auch nach wie vor nicht aus den Augen verloren. Vielen Besuchern und Bekannten erschien Frau Schrödinger darob etwas absonderlich, aber davon ließ sie sich nicht beirren, außerdem war sie das gewohnt. 91
Um so erfreulicher für Frau Schrödinger, als sie eines Tages – durch eine Verkettung glücklicher, aber zutiefst uninteressanter Umstände – die Bekanntschaft eines schmucken jungen Mannes machte, der nicht nur diese ihre Vorliebe teilte, sondern sogar meisterhaft zu fechten vermochte und obendrein eine eigene Rüstung besaß. Man tauschte gegenseitig Erinnerungen an vergangene Schlachten und Duelle aus, Herr Bdrian, so der Name dieses Herrn, stellte Frau Schrödinger sein Schwert Thywaffogollofod, so dessen Name, vor, was Frau Schrödinger schwer beeindruckte, vor allem, weil sie das niemals hätte schreiben können, und man verabredete sich für das kommende Wochenende zum gemeinsamen Betrachten diverser Musketiere, die sich, auf Videobändern, in Frau Schrödingers Besitz befanden, womit sie nun wiederum Herrn Bdrian schwer beeindrucken konnte. So erschien Herr Bdrian an vereinbartem Tage um Punkt 18.17 Uhr, in Mantel, ohne Degen, und man lagerte sich gemütlich, nahm den einen oder anderen schottischen Whisky zu sich – Herr Bdrian plante nämlich, sollte es mit dem Musketiertum nicht so recht klappen, ein Dasein als explizit schottischer Ritter, darauf legte er Wert – und erfreute sich am Treiben der ersten drei Musketiere und D’Artagnans, der bekanntlich erst ge92
gen Ende des ersten Teils zu einem vollwertigen Musketier wird, weshalb Teil zwei von vier Musketieren handelt, Teil eins aber nur von deren drei, und man hatte der Ordnung halber mit Teil eins angefangen. (Über Teil drei wollten übrigens weder Frau Schrödinger noch Herr Bdrian ein weiteres Wort verlieren, höchstens ein kleines »jämmerlich«, nicht mehr.) Also feuerten die beiden aus Leibeskräften Athos, Porthos, Aramis und D’Artagnan an, buhten den Kardinal aus, Herr Bdrian machte während D’Artagnans Reise nach England, auf dem Bett sitzend, komische kleine Reiterbewegungen, obwohl er gar nicht reiten konnte, was Frau Schrödinger dagegen geradezu virtuos beherrschte, und man gönnte sich nur eine kleine Pause, als – sämtliche Musketiere hielten gerade, nachdem sie es den Schergen des Kardinals so richtig gegeben hatten, ein großes Gelage – man einen gewissen Hunger zu verspüren begann, worauf man sich beim allerbesten Pizzaservice am Platze größere Mengen Nudeln bestellte. Nach Ende der ersten drei Musketiere ergriff Herr Bdrian Frau Schrödingers Florett, diese riß mit Schwung einen Degen von der Wand, der, gekreuzt mit einem weiteren, in einem hölzernen Familienwappen (wenn auch leider nicht dem Schrödingerschen) gesteckt hatte, und die beiden stürz93
ten sich mit einem herzhaften »En Garde !« von Herrn Bdrian und einem triumphierenden »Stirb, Schurke ! Wicht, elender !« schrödingerseits aufeinander, um die Klingen zu kreuzen. Auch wenn Frau Schrödingers Fechtkünste denen Herrn Bdrians deutlich unterlegen waren – vor allem an ihrer Deckung würde sie noch hart arbeiten müssen –, bemühte sie sich redlich, mangelnde Technik durch Elan und Begeisterung wettzumachen, und schlug sich, wie sie fand, ganz tapfer. Herrn Bdrians gelinde Überheblichkeit wies sie mit der Bemerkung in die Schranken, ein zu Fuß gehender Ritter wäre ja auch ein eher klägliches Bild. Es ärgerte sie ein bißchen, daß keine Pferde zur Hand waren. Der Zweikampf endete also eher unentschieden, man klopfte sich brüderlich auf die Schultern, trank, erhitzt vom Kampfe, einen Whisky und einigte sich darauf, sich unbedingt öfter mal zu duellieren. Dann widmeten sich Herr Bdrian und Frau Schrödinger den nächsten vier Musketieren. Als krönenden Abschluß des Abends warf man zur Bekräftigung der Waffenbrüderschaft gemeinsam unter dem Ausruf »Einer für alle – alle für einen !« Frau Schrödingers Palme vom Balkon, die versucht hatte, ebenso wie der Wäscheschrank, sich während des Duells zwischen die beiden Kontrahenten zu stellen. Das war ihr schlecht bekommen, 94
man hatte ihr einstimmig im Namen der Königin den Garaus gemacht. Frau Schrödinger und Herr Bdrian, beide sehr erfreut und sehr betrunken wegen des erbaulichen Abends, verabschiedeten sich herzlichst, und Frau Schrödinger beschloß, ihn in Bälde zu einem gemeinsamen »Highlander« einzuladen, auch wenn sie sich da vorher natürlich noch ein Schwert zulegen mußte. Aber das hatte sie sowieso vorgehabt.
FRAU SCHRÖDINGER HAT EINE GUTE ZEIT
Frau Schrödinger, die sich Amüsement selten abgeneigt zeigte, besuchte des öfteren kleine und größere Festivitäten, so auch neulich im Hause der ihr bekannten Herren Bdrian und Schulzke. Der Anlaß dieser Feier war ihr etwas unklar geblieben, aber sie hatte vorsichtshalber zwei große Pakete Erfrischungstücher als Gastgeschenk mitgebracht, sowie eine Flasche ihres favorisierten Getränkes, die sie unverzüglich zu leeren begann, bevor jemand anders daran Interesse zeigen konnte. Außer ihr standen noch sehr viele weitere junge Leute herum, eigentlich überall, und wirklich ziemlich viele, im Hinblick auf die vorhandenen Quadratmeter Wohnfläche, und betranken sich, gleich, Frau Schrödinger, langsam, aber kontinuierlich, wie es bei solchen Partys von jungen Leuten gemeinhin üblich ist. Zu vorgerückter Stunde ging man dazu über, in sich zusammenzusinken, in zunehmender Lautstärke über ausgemachten Unsinn zu schwadronieren und zwischendurch Salzgebäck zu sich zu nehmen. Ein Gast verlor seine Hosen, was Frau 98
Schrödinger etwas befremdete, aber wohl hauptsächlich deshalb, weil es sich um keinen der männlichen Anwesenden handelte, bei denen sie einen eventuellen Hosenverlust durchaus mit Wohlwollen betrachtet hätte, und ein weiterer Gast machte sich erbötig, sich vor Frau Schrödinger der Hose freiwillig zu entledigen, was diese dankend ablehnte, worauf er sich auf sie stürzte, allerdings weniger dem Triebe als der Schwerkraft folgend, und ihr beinahe das Wadenbein brach. Im weiteren Verlaufe des Abends, oder eher der frühen Morgenstunden, tauchte dann vermehrt die Frage nach 1. dem Sinn des Lebens und 2. weiteren alkoholischen Getränken auf, wobei Frau Schrödinger für sich persönlich beide Antworten vereint in einer Flasche Oppenheimer Krötenbrunnen gefunden hatte, mit der sie, in eine Ecke zurückgezogen, eine wirklich gute Zeit verbrachte. Schließlich gab sie ziemlich zeitgleich mit ihrem Krötenbrunnen den Geist auf, nicht ohne sich zu erheben und die üblichen letzten Worte »Ich-mußnochfahrn« zu verkünden, bevor sie kollabierte und sich problemlos beiseite räumen ließ. Am nächsten Morgen frühstückte man inmitten der herumliegenden Flaschen, Dosen, Hosen und Kippen eine Handvoll Aspirin, Kaffee und etwas übriggebliebenes Salzgebäck, und alsdann fuhr Frau Schrödinger heimwärts, um den Tag mit ge99
ruhsamem Jammern und Klagen und einigen Alka Seltzer zu verbringen, obwohl sie noch nie so recht wußte, wie man Alka Seltzer eigentlich schreibt.
FRAU SCHRÖDINGER KAUFT KEINE SINGLE
Frau Schrödinger, die mit Vorliebe Dinge tat, die sie noch nie zuvor getan hatte, und die stets neue Dinge ersann, mit denen sie sich die Zeit vertreiben konnte, überkam eines Tages unbändige Lust, irgend etwas vollkommen unglaublich Anachronistisches zu tun. Ihr Herz hatte schon immer für verlorene Sachen und zum Scheitern verurteilte Helden geschlagen, und so begab sie sich nach kurzem Überlegen zu der Innenstadt größter und modernster – tja, wie sagt man ? Musikalienhandlung ? Tonträgergeschäft ? Zu Frau Schrödingers Zeiten hatte so etwas schlicht Plattenladen geheißen, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Jedenfalls dorthin, in die Welt Der Musik, begab sie sich, kämpfte sich ihren Weg durch die labyrinthisch angelegten Gänge, und fand schließlich, umringt von kopfhörerbewehrten Jugendlichen, einen sonnengebräunten Jüngling, dessen spärliches Haupthaar ihm wie eine Art Spülschwamm auf dem Kopfe saß, dessen T-Shirt das Emblem einer jener Musikgruppen zierte, deren Alben Frau Schrödinger meist einen Vorgeschmack auf Armaged101
don gaben, und der sich durch seine Position hinter einer gläsernen, acht- oder neuneckigen Theke als zuständig auswies. Erhobenen Hauptes schritt Frau Schrödinger durch die Menge, trat vor den Tresen hin, erhob die Stimme und sprach : »Ich will eine Single kaufen.« Schweigen legte sich über den Verkaufsraum. Der Technoknabe starrte Frau Schrödinger an, als sei sie soeben dem Mesozoikum entkrochen. Frau Schrödinger aber wankte nicht. Schließlich senkte er die Augen und murmelte : »Sie meinen vielleicht eine Maxichart-singleversion auf CD ?« »Nein !« sagte Frau Schrödinger. Sie fühlte sich ungeheuer erhaben, wie sie da stand, allein im blauen Neonlicht, in der Meute der sie um Haupteslänge überragenden, kurzgeschorenen, baseballbemützten jugendlichen Ungeheuer, stolz, aufrecht, mit wehendem Haar und zornigem Blick, die letzte Heldin in einer Zeit, in der Helden keinen Platz mehr haben. »Nein !« wiederholte sie mit fester Stimme und blickte funkelnd in die Runde. »Vinyl !« Ihrem Gegenüber traten Schweißperlen auf die Stirn. Beschämt stammelte er, er hätte hinten im Lager noch zwei oder drei Platten, die nächste Woche erst abgeholt würden, aber Frau Schrödinger unterbrach ihn kalt. »Nein. Keine Platte. Eine Single.« 102
Und von hundert fassungslosen Augenpaaren begleitet, drehte sie sich um und ging, und mit ihr, das fühlte sie, ging eine ganze Ära dahin. Sie besuchte an diesem Tage noch drei weitere Geschäfte und versuchte, dort eine Single zu kaufen, nicht, weil sie geglaubt hätte, damit Erfolg zu haben, sondern lediglich, weil es ihr eine große Genugtuung bereitete, und vielleicht, so hoffte Frau Schrödinger, gelänge es ihr auf diese Weise, den Funken der Rebellion in die Herzen der Jugend zu pflanzen, zumindest bei denen ohne Kopfhörer. Den Nachmittag verbrachte Frau Schrödinger damit, sich zu Hause auf ihrer alten Rolling-StonesPlatte immer und immer wieder den großen Kratzer auf der B-Seite, mitten im Refrain von »Little Red Rooster« anzuhören, und sie genoß es ungemein.
FRAU SCHRÖDINGER ZWISCHEN WIMMERSBÜLL UND SÜDERLÜGUM
Frau Schrödinger, die sich mit Fug und Recht, so meinte sie, als »Leseratte« bezeichnete, und die ein gutes Buch auch gern zwei- oder dreimal las, verfügte über ein beeindruckendes Bücherregal, das schon des öfteren Erwähnung fand, und in dem sich, nebst vielerlei anderem Zeugs, auch – was bislang noch nicht erwähnt wurde – Bücher aufhielten. Besonders gerne las Frau Schrödinger ShellAtlas, und ihr Lieblingskapitel war ganz zweifelsohne Schleswig-Holstein. Viele frohe Stunden hatte sie schon bei dieser Lektüre verbracht, und nie wurde es ihr langweilig, das friedliche Nebeneinander der Nachbardörfer Kaltenhörn und Warmhörn zu betrachten, die Präzision der Namensgebung von Nordermitteldeich und Friedrichsanbau zu bewundern, ihr Auge wohlwollend über Witzwort und Klappholz gleiten zu lassen, anerkennend die geradezu newyorkerisch-londoner Weltgewandtheit von Soholm mit dem Kopf zu benicken, herzhaft und Birzhaft über Schülp und Frömp zu kichern, bei Gammelby zu entspannen, 104
Hünding zu tätscheln und zu Strübbel. Freienwill hielt sich wie stets wacker, wenn nicht Wackerballig, oder gar Langballig ; und Welt erachtete sie für ganz besonders Schlichting und schön. Vergnügt las sich Frau Schrödinger so durch Nordfriesland, sang leise »Schuby, Hüsby, SchnarupThumby« vor sich hin und beschloß, demnächst mal in Grundlos Urlaub zu machen, das lag nämlich auch sehr günstig direkt an der A7.
FRAU SCHRÖDINGER VERDIENT SICH KEIN GELD
Frau Schrödinger, die – obgleich übertriebenem Luxus prinzipiell durchaus wohlgesonnen – einen eher unauffälligen Lebensstil zu führen pflegte (man vergleiche »Frau Schrödinger begehrt nicht« oder »… doch«), sah sich nichtsdestoweniger bisweilen in der eher unschönen Situation, sich ihr Geld verdienen zu müssen, was sie jedesmal mit der beschämenden Einsicht konfrontierte, daß sie eigentlich nichts konnte, oder nichts konnte, wofür man ihr Geld bezahlen würde ; ihre verschiedensten Fähigkeiten, so mußte sich Frau Schrödinger eingestehen, einte deren aufsehenerregende Nutzlosigkeit. So vermochte Frau Schrödinger fehlerfrei den »Taucher« auswendig aufzusagen, Origami-Kraniche aus Papier zu falten, eine Sicherung mit Kaugummistanniol zu überbrücken (was sie sich bei Mac-Gyver abgeguckt hatte) und wußte, was »Rigipsplatte« und »Tierpräparator« auf englisch heißt ; hatte aber bislang noch kein Berufsbild gefunden, das diese ihre Talente und Neigungen in einer hübschen Gesamtlösung friedlich und produktiv vereinte. Gelegentlich überkam Frau 106
Schrödinger ob dieses Zustandes ein nagendes Gefühl der Nichtsnutzigkeit, das sie zu kompensieren suchte, indem sie ab und an hektisch Dinge zu studieren begann, vorzugsweise in Fachgebieten, denen es fundamental an Zukunft gebrach ; so daß es Frau Schrödinger dann auch gar nicht weiter schwer fiel, das jeweilige sinkende Schiff nach kurzer Zeit wieder zu verlassen und statt dessen lieber versandzupacken ; was sie meistens, in den beschriebenen, finanziell prekären Zeiten sowieso von vornherein tat, ohne sich deswegen existentiellere Sorgen zu machen, und gottlob hatte zudem die Vorsehung in Gestalt ihrer Bank ihr in einem Anfall von Übermut einen Dispositionskredit beschert, der sie zu Tränen rührte.
FRAU SCHRÖDINGER VERDIENT SICH IHR GELD DOCH
Frau Schrödinger – die, ungeachtet ihrer, wie sie fand, angemessen bescheidenen Ansprüche an das Leben im allgemeinen und an ihre Bank im besonderen, zuweilen aufs unmanierlichste von letzterer zur Räson gerufen wurde, was stets in durchweg unfruchtbaren Gesprächen mündete, in denen sich die Ansichten Frau Schrödingers, den prinzipiellen Wert ihres bloßen Daseins betreffend, mit denen der Bank als zutiefst unvereinbar erwiesen, und die mit schöner Regelmäßigkeit damit endeten, daß die Bank ihr unmißverständlich klarmachte, daß sie, Frau Schrödinger, sich hurtigst in Lohn und Brot begeben müsse, womit für Frau Schrödinger dann üblicherweise eine neue Versandpackerepisode ihres Lebens anbrach – stellte sich den Herausforderungen der Arbeitswelt nicht unbedingt mit überschwenglicher Begeisterung. Obschon sie mittlerweile die Versandpackerei durchaus zu ihren herausragenden Talenten zählte, erachtete Frau Schrödinger ihre Zeit eigentlich für kostbarer als zwölf Stundenmark und Arbeitsbeginne um sieben Uhr als einen Fall für Amnes110
ty. Aber da Heulen und Zähneklappern nicht half – ihre Bank zeigte sich davon eher unbeeindruckt, sie hatte es ausprobiert –, fügte sie sich brav in ihr Schicksal ; problematisch wurde es höchstens dann, wenn sich nichts zu packen und kein Versand zum Sich-Reinfügen fand, und Frau Schrödinger mit ihrem Mangel an rentablen Fähigkeiten konfrontiert wurde. Notgedrungen war Frau Schrödinger mit der Zeit recht gewieft geworden, was das Auffinden bezahlter Tätigkeiten betraf, die keinerlei Können oder Fachwissen voraussetzten – manchmal hatte sie schon überlegt, ob sich nicht allein mit deren gewieftem Auffinden irgendwie Geld machen lasse, aber vor dem Schritt in die Selbständigkeit schreckte Frau Schrödinger doch zurück, aus der Überzeugung, sowieso nie in der Lage zu sein, eigenhändig eine Steuererklärung zu verstehen. Frau Schrödingers favorisierter Arbeitsmarkt für ausgewiesene Nichtsnutze und Tagediebe war sicherlich die Filmindustrie, die es zudem vermochte, sich in beiläufigen Nebensätzen wie »ich bin beim Film« oder »heute am Set« so wohlklingend anzuhören ; sie blickte auf eine bewegte Komparsenkarriere zurück, deren Tiefpunkt das tagelange musikfreie Tanzen in einer jener Diskotheken, in denen man Frau Schrödinger im wirklichen Leben generell den Zutritt verwehrte, gewesen war, und 111
deren Höhepunkt in dem Satz »Schönes Wochenende, Herr Kommissar« gipfelte. Einmal hatte sie auch auf meterhohen Pfennigabsätzen durch das Großstadtrevier stöckeln müssen, war aber immer umgefallen, was sich auf dem Set großer Beliebtheit erfreut hatte. Obendrein wurde man als Komparse kostenfrei gefüttert, wenn auch nur mit dem, was die Schauspieler übrigließen, aber Futterneid verspürte Frau Schrödinger selten. Ungern hingegen verdingte sich Frau Schrödinger in Büros, da mußte man zum einen sein Essen selbst mitbringen, zum anderen fürchtete sich Frau Schrödinger vor den festangestellten Frauen, die gemeinhin ihre eigenen Bürotassen besaßen, vorzugsweise mit scherzhaften Sprüchen oder scherzhaften Bildchen oder scherzhaften Tierkreiszeichenzeichnungen, und diese verteidigten wie bengalische Tigerinnen ihr schutzloses Junges, so daß Frau Schrödinger bei Büroarbeiten ihren Kaffee meistens aus der hohlen Hand zu trinken gezwungen war, denn die Anschaffung einer eigenen Bürotasse war ihr zutiefst wesensfremd. Auch fing sie nach einer gewissen Zeitspanne an Schreibtischen unweigerlich an, sich zu mopsen, und hatte mehr als einmal bei solchen Gelegenheiten Zeitvertreibe ersonnen, die nicht immer auf Gegenliebe ihrer Vorgesetzten gestoßen waren ; so zum Beispiel als sie an einem regnerischen Nachmittag die 112
gesamte Terroristenfahndungsliste des BKA in die Kundenkartei eingegeben hatte, moderat vergnügt aus der Diddlmauskaffeetasse der Chefsekretärin Faber-Sekt schlürfend. Grundsätzlich schätzte Frau Schrödinger Arbeitsplätze, die neben ihrem Konto auch ihre Lebenserfahrungen bereicherten – so hatte sie im Waffen-und-Souvenir-Einzelhandel den schwer beeindruckenden Umgang mit Butterflymessern erlernt, eine weitere nutzlose Fähigkeit, die sie ihrem Repertoire mit großer Befriedigung einverleibt hatte – , und daher zögerte sie nicht weiter, als im Schlachthof um die Ecke Fleischpacker gesucht wurden; auch wenn ihr das eine gewisse Ächtung aus der Vegetarierecke einbringen würde – aber Frau Schrödinger hatte noch nie besonderen Wert auf Vegetarier gelegt, die ihrer Meinung nach meist sowieso den fatalen Hang zum Nichtrauchen, Kinderkriegen, Reiki und generellem Spaßverderben hatten ; und überhaupt, fühlte sie, war der Schritt vom Versand- zum Fleischpacken ein durchaus folgerichtiger. Also verbrachte Frau Schrödinger einige, wenngleich nicht unbedingt behaglich zu nennende, so doch inspirierende Winterwochen damit, von fünf Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags große, panierte Fleischlappen in große Fleischlappenverpackmaschinen zu packen, dabei beschwingt angemessene Musikstücke zu summen, vorzugswei113
se Strawinski, und des Nachts auf CNN Golfkrieg zu gucken. Es stimmte sie fast wehmütig, als sich diese stille Idylle dem Ende zuneigte, aber Frau Schrödingers Bank umschmeichelte sie inzwischen wieder wie ein sanftmütiges, minderjähriges Kätzchen, der Golfkrieg war alle, und Frau Schrödinger hatte sich gerade ein neues sinnloses, zeitraubendes Hobby zugelegt, so daß es ihres Verweilens in einem Arbeitsverhältnis nicht länger bedurfte. Zumindest ein Souvenir aber würde sie mitnehmen, beschloß Frau Schrödinger, die ja, wie man sich erinnere, Erinnerungsstücken überaus zugetan war, und entschied sich für einen Rinderschädel, der sich in ihrem Bücherregal schmuck machen und sie auch an die Kälbchen in den Transportlastern auf dem Parkplatz, die sie vor Arbeitsbeginn zu streicheln pflegte, wärmstens erinnern würde. Am Tage nach ihrem letzten Arbeitstag, frühmorgens, fragte sie sich an mehreren Metzgern entlang, bis sie schließlich an einen für Schädel Zuständigen geriet, der ihr wohlwollend erklärte, sie müsse am in der hintersten Ecke gelegenen, stählernen Fahrstuhl warten, bis eine neue Schädelladung heraufkomme, aus dem Keller, denn, so der Metzger, »im Keller sitzen die Frauen und pulen die Köpfe«. In Frau Schrödingers Augen entwarfen diese Metzgersworte ein Bild, bei dem es Hieronymus 114
Bosch ganz warm ums Herz geworden wäre. Im Geiste sah sie end- und lichtlose Gewölbe vor sich, nur teils und spärlich vom Schein der wenigen Fackeln erhellt, in denen bleiche, von der ewigen Dunkelheit augenlose Frauen an langen, niedrigen Eichenholztischen knieten und Köpfe pulten, begleitet vielleicht von einem monotonen Singsang, nur unterbrochen durch das mechanische Geräusch, das von der Ankunft des unbemannten Fahrstuhls kündete, dessen Türen sich wie von Geisterhand öffneten, um sich seine blutige Fracht einzuverleiben und sie in die fremden Oberwelten zu entführen, verfolgt von den halb sehnsüchtigen, halb furchtsamen Blicken der Frauen – auch wenn es sich natürlich strenggenommen ohne Augen schlecht blicken ließ, aber Frau Schrödinger sah das nicht so pingelig, bei schönen Szenarien mußte man auch mal fünfe gerade sein lassen. Nahezu ehrfürchtig erwartete sie den Fahrstuhl, der zu ihrer größten Zufriedenheit tatsächlich unbemannt war, und einen großen Alucontainer mit gepulten Köpfen enthielt. Frau Schrödinger klaubte sich aus den Schädeln einen besonders symphatischen heraus, legte ebenso kurzentschlossen wie ausgelassen noch einen Unterkiefer drauf, und zog, ein fröhliches Requiem pfeifend, von dannen. Zu Hause verbrachte sie mehrere Stunden damit, den Schädel im großen Spaghettitopf auszukochen, hochkant, denn der Topf 115
erwies sich als zum Rinderschädelauskochen nicht ausreichend bemessen, sie mußte zunächst die untere, dann die obere Hälfte auskochen ; was auch einen interessanten Geruch mit sich brachte, der übrigens von Frau Schrödingers Mitbewohnern mit geteilter Meinung, wenn nicht gar offener Mißbilligung aufgenommen wurde, als man sich im Laufe des Vormittags zum gemütlichen Frühstück in der Küche einfand. Nach längerer Debatte einigte man sich auf einen Kompromiß, Frau Schrödinger deponierte wehmütig ihren Schädel – den des Rindes, nicht ihren eigenen – auf den Abfallcontainern des Croque-Ladens an der Ecke, und behielt lediglich die Schneideund Backenzähne, aus denen sie sich ein hübsches Amulett bastelte, das seitdem in ihrem Bücherregal liegt und das sie nur zu wirklich besonderen Anläßen zu tragen sich hinreißen läßt.
FRAU SCHRÖDINGER MACHT UND TUT
Frau Schrödinger, die für ihre Umtriebigkeit bekannt war, und die ganz zweifelsohne die Neigung besaß, sich in vielfältige und bevorzugt obskure Projekte und Machenschaften verwickeln zu lassen – wobei sich das Adjektiv »obskur« strikt auf Sinngehalt, Zweck, Nutzen und Formschönheit selbiger Aktivitäten bezieht, keinesfalls auf deren Legalität, denn Frau Schrödinger war eine grundsätzlich ehrliche Haut –, konnte man fast ständig beim Machen und Tun beobachten ; manchmal, ob ihres stets engen Zeitplanes und der gebotenen Eile allerdings nur schemenhaft. So war Frau Schrödinger viel unterwegs, in wechselnden Missionen ; welche nun aber die gerade aktuelle sein mochte, blieb oft unklar, vor allem Frau Schrödinger selbst. Denn wenn man »Frau Schrödinger erinnert sich nicht« nicht vergessen hat, erinnere man sich, daß zu Frau Schrödingers natürlichen Gaben der Besitz eines Gedächtnisses nicht gehörte, ein Manko, das sie mit ausuferndem Elan nur bedingt auszugleichen in der Lage war. Nicht nur, daß Frau Schrödinger prinzipiell so zuverlässig zu spät kam, 117
daß man seine Uhr danach stellen konnte, sie hatte, wenn oder falls sie denn kam, dann auch fast immer die Hälfte vergessen, und die Hälfte, die sie dabeihaben mochte oder eben nicht, hatte zumeist mit der gerade anliegenden Angelegenheit nichts oder nur peripher zu tun. So ist es Frau Schrödinger zu verdanken, daß im Gegenentwurf zum »Mitbringsel« der Begriff des »Zuhauselassels« geprägt wurde ; und des öfteren sah man sie unvermutet zusammenzucken, aus dem Bewußtsein, sich überhaupt nicht mehr bewußt zu sein, was sie am oder im jeweiligen Ort oder Gespräch eigentlich zu suchen hatte. Als besonders unangenehm empfand Frau Schrödinger solche Situationen, wenn sie zum Beispiel plötzlich zu bemerken nicht umhinkam, daß sie ihre Mülltüte, die sie auf dem Wege von ihrer Wohnung nach unten zum Abfalleimer hatte mitnehmen wollen, bereits seit mehreren Stunden mit sich herumtrug, und damit bereits in mehreren sozialen Kontexten abwegig aufgefallen war. Aber wenngleich ihr derartige Vorfälle ausnahmslos im Höchstmaße peinlich waren, konnte sie doch verläßlichen Trost darin finden, daß sie die ganze Sache innerhalb weniger Stunden vergessen haben würde, und so blieb sie trotz allem grundsätzlich heiter und unbeschwert, wenn auch stets schwer beschäftigt.
FRAU SCHRÖDINGER KOCHT NICHT
Frau Schrödinger, die recht gerne als prinzipiell plietsch von sich zu denken pflegte, und die mühelos imstande war, ihr Auto einzuparken und Origami-Kraniche zu falten, die mit den Flügeln flatterten, wenn man sie am Schwanz zog, konnte dennoch nicht umhin, sprach man sie darauf an, zugeben zu müssen, daß sie zu kochen eigentlich überhaupt nicht vermochte. Sie schob diesen ihren Makel mit Vorliebe auf ihre Gene, was zum einen folgerichtig schien, war doch schon Mutter Schrödinger des Kochens nur bedingt mächtig gewesen, was Frau Schrödinger darin bestätigt hatte, daß der Mensch durchaus über einen längeren Zeitraum allein von Miracoli überleben kann, und was zum anderen schlecht zu widerlegen war. Nichtsdestotrotz mußte Frau Schrödinger sich, wenn auch widerwillig, eingestehen, fingen ihre kulinarischen Probleme schon damit an, daß sie nicht einkaufen konnte. An Wurst- und Käsetheke scheiterte sie regelmäßig, da ihr keine verbindlichen Maßeinheiten für Wurst und Käse geläufig waren, beziehungsweise sie unfähig war, abstrakte Begriffe 120
wie »ein Viertelpfund« in Wurstbatzen umgesetzt zu visualisieren. Am Gemüsestand schüchterte sie ein, daß sie die wenigsten Gemüse beim Namen kannte, nicht wußte, welches Ende das eßbare war und wie man Artischocken bediente ; außerdem waren die Gemüse meistens in der Überzahl. Die Fleischtheke mied sie, seit sie einst mit dem gewagten Vorhaben, sich irgendein Stück Fleisch irgendwie zuzubereiten, einem überheblichen Metzger auf die impertinente Frage »Was soll’s denn sein« mit »Fleisch« geantwortet, und, als auf Spezifikationen insistiert wurde, verschämt nach den Unterschieden gefragt hatte, was sie umgehend zum Gespött eines Rudels versierter Hausfrauen machte, so daß Frau Schrödinger ohne Fleisch von dannen zog, glücklicherweise wahrscheinlich, hätte sie doch gar nicht gewußt, was genau sie mit dem Fleisch hätte machen müssen, um es in einen genießbaren Aggregatzustand zu überführen. Und selbst wenn sie letztendlich ein paar benutzerfreundliche, eher defensive Lebensmittel in ihrem Einkaufswagen versammelt hatte, fürchtete sich Frau Schrödinger existentiell vor den entwürdigenden Minuten an der Supermarktkasse – vor allem, wenn es sich um eine derjenigen neueren Kassenkonstruktionen handelte, bei denen die Einkäufe, hurtig das Laufband entlanggleitend, an dessen Ende sich nicht etwa eine Art Rutsche hinab 121
in einem Einkaufsauffangbecken sammelten, sondern scheppernd, vom abrupt ins Leere mündenden Band über den Rand hinausgetragen, zu Boden fielen, wenn man es nicht schaffte, wieselflink das ganze Geraffel zurück in den Einkaufswagen zu packen, was allen anderen, so schien es, stets mühelos gelang, Frau Schrödinger jedoch nie, schon gar nicht, wenn die Kassiererin bereits barsch nach Geld verlangte, während sich Frau Schrödinger noch der verschiedensten Miracolipackungen und Saftpackungen und Quarkpackungen und Tragetüten und Milchtüten erwehrte, und die mitleidslosen Furien hinter ihr in der Schlange murrten, mit den Hinterläufen scharrten und sich zum Angriff bereit machten. Gelegentlich hatte Frau Schrödinger bereits im letzten Moment ihren beladenen Einkaufswagen in der unübersichtlichen Heimtierbedarfsecke des Supermarktes ausgesetzt und sich still und klammheimlich vom Acker gemacht, sich der drohenden Demütigung nicht gewachsen fühlend ; und selbst wenn sie es durch die Kasse schaffte, blieb doch immer ein gewisser Groll auf die erworbenen Lebensmittel zurück, denen Frau Schrödinger das Erlittene nachtrug, so daß sie größere Mengen davon immer in ihrem Kühlschrank schlecht werden ließ, um es ihnen heimzuzahlen.
FRAU SCHRÖDINGER SIEHT FERN
Frau Schrödinger, die zwar meistens sehr damit beschäftigt war, mit irgend etwas beschäftigt zu sein, oder zumindest damit, darüber zu klagen, wie beschäftigt sie sei, oder damit, sich neue Beschäftigungen zu ersinnen, kam gelegentlich auch durchaus in die Lage, mit sich und der Welt nun gar nichts anfangen zu können, mit dem Leben zu hadern und nicht die Bohne am fröhlichen Treiben des übrigen Universums teilhaben zu mögen ; und wie gemeinhin üblich, sah sie zu solchen Gelegenheiten fern. Man fand sie dann – oder hätte sie gefunden, wenn man die Mühe, die es selbstverständlich nicht wert gewesen wäre, nicht gescheut hätte, sich gewaltsam in ihre vier Wände Eintritt zu verschaffen ; denn, wie ebenfalls gemeinhin üblich, ging Frau Schrödinger, befand sich ihre Seele im Fernsehmodus, weder an Tür noch Telefon, noch aus dem Haus – auf ihrem Bette liegend, ihre Kuschelscholle an sich gedrückt und mit ihrer Fernsehfernbedienung schmusend. Der wohltuende Effekt dabei, so fand Frau Schrödinger, war zweifellos der, daß man nach nur we123
nigen Stunden und/oder Tagen immer weniger mit dem Leben und immer mehr mit dem Fernsehprogramm zu hadern begann. So haderte sie sich dann durch slowenische Sozialdramen, Mallorca-Reportagen, Flirtshows, Gameshows, Talkshows, vorzugsweise mit mukoviszidosekranken Minderjährigen, deren Lebenserwartung noch unter der von Frau Schrödingers Kühlschrankinhalt lag, rumänische Sozialdramen, die Lindenstraße, Ibiza-Reportagen, Alf und einmal sogar durch eine komplette Folge irgendeiner Hubschrauberpolizei ; und irgendwann stellte sich dann, wie ja allgemein üblich, bei Frau Schrödinger das harmonische Gefühl ein, daß sie zum einen im Leben, speziell dem ihren, wenig zu befürchten hatte, immerhin lief sie nicht Gefahr, Bill Cosby oder dem Kleinen Hunger über den Weg zu laufen, und daß es ihr zum zweiten vollkommen unmöglich war, die Handlungsstränge von »Melrose Place« jemals zu durchschauen ; und das eine wie das andere erfüllte sie mit einer inneren Stärke und Zuversicht, die sie Menschen ohne Kabelanschluß nur wünschen konnte.
FRAU SCHRÖDINGER WIRFT EIN AUGE
Frau Schrödinger, die zwar einerseits vor den Anstrengungen amouröser Verstrickungen zurückscheute, andererseits aber derart konsequent aus ihren Fehlern nicht lernte, daß sie sich schon darauf etwas einzubilden begann, sah man letzterdings häufiger in der Begleitung von Genzmer, einem ihr bekannten jungen Herrn, der ihr Herz gewitzt zu gewinnen gewußt hatte, indem er ihr zum ersten Rendezvous eine Ente mitbrachte, was Frau Schrödinger wesentlich mehr entgegenkam als, zum Beispiel, ein Strauß Blumen, da sie gemeinhin Enten im Design überzeugender fand als Blumen ; wenngleich, so sinnierte Frau Schrödinger, ein Strauß Enten noch romantischer gewesen wäre, aber sie befand sich inzwischen doch in einem Stadium innerer Reife, in dem sie sich bewußt war, daß weder Leben noch Männer übertriebenem Perfektionsanspruch standhielten, und so war sie ehrlich gerührt und zufrieden. Mit Genzmer verbanden Frau Schrödinger nicht nur die gemeinsamen Vorlieben für Kultur, Mozzarella, Erfrischungstücher, Ozeane und Schlipse, man er125
gänzte sich auch hervorragend, da Genzmer weder einparken noch Origami konnte, aber kochen, und es sich bei Frau Schrödinger bekannterweise genau umgekehrt verhielt. Zwar hatten Frau Schrödinger beim ersten Anblick Genzmers keinerlei geflügelte, bewaffnete, verfettete Engelchen umflattert, das war ihr aber durchaus ganz lieb so gewesen, sie hätte dies als eher lästig und dem sich anbahnenden Gespräche abträglich empfunden ; außerdem grauste es Frau Schrödinger vor Posaunen. Im weiteren Verlaufe dieser Liaison erwies sich Genzmer als schlau, blond, zuvorkommend ; Besitzer von Balsamico-Essig und trockenem Humor ; gutaussehend und warm im Winter, so daß Frau Schrödinger ihn durchweg als Bereicherung ihres Lebens betrachtete und beschloß, ihn vorerst zu behalten.
FRAU SCHRÖDINGER BESIEHT BILDER
Frau Schrödinger, die, man erinnere sich, stets ihrem Faible für weit hergeholte, zeitraubende und bevorzugt unrentable Beschäftigungen nachging, pflegte bei diesen ihren variantenreichen Zeitvertreiben des öfteren auf ihr artverwandte Personen zu treffen, was ihr stets Freude und Inspiration bedeutete, schien ihr die Welt dann doch umgehend ein weniger einsamer Ort, und konnte sie sich bisweilen sogar noch die eine oder andere Unart abgucken, auf die sie noch nicht selbst verfallen war. So ließ die zufällige Bekanntschaft mit einer Dame ihres Volkshochschulkurses, mit welcher sie nach Kursende grundlos in eine günstig gelegene Kneipe schlenderte, um dort mehrere günstig gelegene Biere zu trinken, Frau Schrödinger geradezu ehrerbietig erschauern, als die Dame nämlich einen mittelgroßen Folianten aus ihrem Handköfferchen holte, den sie, die Dame, als Lexikon unzuverlässiger Bilder bezeichnete, und ihr einen Einblick gestattete. Frau Schrödinger blickte und schauerte. Ergreifende Szenen von stiller Schönheit taten sich vor ihr auf, und stille Szenen 127
von ergreifender Häßlichkeit, und eine Menge Szenen mit ganz was anderem oder Katzen. Und über alledem schwebte eine gewisse, ganz und gar unzuverlässige Nutzlosigkeit, daß Frau Schrödinger kleine, zarte, minderjährige Schauer über den Rücken liefen. Die Dame beeindruckte zudem durch eine noble Wortkargheit, Trinkfreude und beneidenswert splißfreie Haare, und daß sie gen Ende des Abends beinahe auf dem Weg zur Toilette verlorenging, tat der sich anbahnenden Freundschaft kaum Abbruch, sah sich Frau Schrödinger schließlich dadurch in der Lage, die Verirrte aus den Kellergewölben zu erretten und orpheusartig zurück in die Oberwelt zu führen – allerdings gesangsfrei und durchaus erfolgreich – und sich somit für die bewegende Bildbeschau erkenntlich zu zeigen, was, so fand Frau Schrödinger, ja nun das mindeste gewesen sei ; auch beider Bierrechnung lappte übrigens ins Ergreifende.
FRAU SCHRÖDINGER KOMMT SCHON KLAR
Frau Schrödinger, die sich ein gewisses Mißtrauen gegenüber dem Leben im allgemeinen und Menschen und Versandhauskatalogen im besonderen vorbehielt, und die den Kosmos eher argwöhnisch beäugte, überfiel ungeachtet ihrer grundsätzlichen Skepsis bisweilen, meistens urplötzlich und in eher ungeeigneten Momenten, eine tiefe Zutraulichkeit und/oder beschwingte Liebe zum Dasein. Ohne daß es ihr jemals gelungen wäre, den Erreger dieses urplötzlichen Urvertrauens zu isolieren – es überkam sie sowohl bei strahlendem Sonnenschein wie bei strömendem Regen, sowohl am Meeresstrand wie an der Käsetheke –, genoß Frau Schrödinger diese erhabenen Augenblicke ungemein, flocht dann einige kleine Hopser in ihren gewohnten Gang, sang und jubilierte ausgelassen vor sich hin, verspürte das Bedürfnis, Enten zu füttern, Oden zu verfassen, nasse kleine Wölfchen zu frottieren, gutgebaute, dreitagebärtige Männer mit trockenem Humor zu küssen, mit Käsethekenfrauen zu plaudern, jungen Hunden auf die Welt zu helfen und älteren 130
Menschen, wenn sie sich nicht allzu arg wehrten, über die Straße. Dieser, von Frau Schrödingers Umwelt als nicht unanstrengend empfundene, aber wohlwollend tolerierte Zustand hielt zwar für gewöhnlich nicht über Gebühr lange an, und eigentlich war Frau Schrödinger auch um Dinge, über die sie sich Sorgen machen konnte, wenn sie wollte, nie verlegen, aber, wenn sie auch weit davon entfernt blieb, an Gott, Feng-Shui, die Ehe oder Versandhäuser zu glauben, hinterließ er doch bei Frau Schrödinger das erfreuliche Gefühl, sie käme schon klar.
JENSEITS VON
FRAU SCHRÖDINGER SCHRÖDINGERS KATZE ; KATZENPARADOXON :
Gedankenexperiment des Quantenphysikers Erwin Schrödinger, nachdem eine Katze, in eine Box gesperrt, zusammen mit einer giftgefüllten Glasflasche, die mit einer 50 %igen Wahrscheinlichkeit zerbricht oder nicht, so lange, bis jemand in den Kasten hineinschaut, also ein Beobachter auftritt, weder tot noch lebendig ist, sowohl lebendig als auch tot. Hängt mit kollabierenden Wahrscheinlichkeitswellen, Quantenmechanik, dem Doppelspaltexperiment und parallelen Realitäten zusammen, ist wahnwitzig wahnwitzig, hochinteressant, völlig daneben und hat mit Frau Schrödinger eigentlich überhaupt nix zu tun.
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DIE VERSTECKTEN BONUSTRACKS Frau Schrödinger zwischen Droemer und Knaur Frau Schrödinger, die sich über den Mangel an obskuren Gegebenheiten, zufälligen Zufällen und irritierenden Kausalketten in ihrem Leben selten zu beklagen Gelegenheit hatte und die mittlerweile mit einer gelassenen Verblüffung dem Dasein entgegentrat, kam neulich durch die Verkettung ausufernder Umstände, bei denen ihr Volkshochschulkurs, Holzleim, eine Aquaristik-Interessengruppe, eine entfernte Cousine, und, wahrscheinlich, Alkohol eine Rolle spielten, in die erfreuliche Situation, die Bekanntschaft eines hochgewachsenen, freundlichen Herrn namens Seltenhöfchen zu machen, der sich sowohl als Verlagslektor ausgab, und das mit Fug und Recht, als auch sich dazu hinreißen ließ, Frau Schrödinger das unwiderstehliche Angebot zu machen, ein kleines Bändchen mit »Hundert ganz, legalen Versandpackertricks« herauszugeben, so Frau Schrödinger ihm diese zu verraten geneigt wäre. Damit nicht genug : Zudem bot er an, mit echtem Geld zu bezahlen, eine Vorstellung, die Frau Schrödinger ganz schwach machte und sie zu einem umgehenden Getrinke mit der entfernten Cousine zwang. Von letzterem 136
kaum genesen, warf sich Frau Schrödinger mit der ihr eigenen Verve in die anstehende Aufgabe und mühte sich, ihren Erinnerungen gewitzte Versandverwicklungen zu entlocken, kein ganz schmerzloser Prozeß – ruft man sich die Schrödingersche Gedächtnisfreiheit in Erinnerung –, bei dem sie aber von Herrn Seltenhöfchen durch stetige Zusendung von Naschwerk tatkräftig unterstützt wurde. Auch kam diese Art der Tätigkeit ihren Neigungen natürlich entgegen, involvierte er doch keine Pfennigabsätze, Bürotassenbedarf oder einstelligen Tagesbeginn, und sie lernte nicht wenig dabei, zum Beispiel, daß sich Süßigkeiten auf Keksbasis wesentlich weniger zum postalischen Versand eignen als knautsch- und bröselresistente Nahrungsmittel wie, zum Beispiel, Gummibärchen. Ein Häuflein Krümel aus der linken Hand mummelnd, mit der rechten Versandinternes tippend, fühlte sich Frau Schrödinger ihrem Ziele wieder einen Schritt näher gekommen, nicht trotz, sondern wegen ihrer inhärenten Nutzlosigkeit ein Auskommen zu finden, und selbst die anschließende langwierige Reinigung ihrer Rechnertastatur mit Spiritus und wüsten Beschimpfungen vermochte ihr nicht wirklich die Laune zu verderben, sah sie doch im Geiste vor sich, wie sehr das zu erwartende Bändchen ihr Bücherregal zieren würde, auf einem dominanten Plätzchen gleich zwischen 137
Shell-Atlas und Trockenfisch, gleichsam die zu erwartende Zierde in ihrem Arbeitslebenslauf widerspiegelnd, vom Ziereffekt auf ihrem Kontoauszug mal ganz abgesehen. So prökelte Frau Schrödinger mit milder Mißbilligung Keksabraum unter den wichtigsten Vokalen ihrer Tastatur hervor und hatte schon wahrlich schlechtere Zeiten gesehen.
Frau Schrödinger beschädigt sich nicht
Frau Schrödinger, die, wie kaum zu verbrämen, sich ausufernden Feierlichkeiten selten abgeneigt zeigte und gerne mal über sich bietende Stränge zu schlagen bereit war – und im Zuge dessen auch vor überzeugter Unwürdigkeit nicht zurückschreckte –, geriet neulich mit einem kleinen Schwärm ihr bekannter Menschen ähnlicher Couleur und zu Zeiten zweifelhaften Lebenswandels in eine ebensolche, eine ausufernde Feierlichkeit nämlich, die von Herrn Winz, einem Mitglied von Frau Schrödingers Aquaristikzirkel, in welchem man sie in letzter Zeit des öfteren umtriebig und in Fischgespräche und -gerichte aufs vehementeste verwickelt gesehen hatte, aufgrund seiner, des Herrn Winzens, soeben vollzogener beruflicher Beförderung anberaumt worden war. Auch Frau Schrödinger war guter sowohl Dinge wie Laune und befand, sie hätte sich eine kleine Feierabendfeier durchaus verdient, konnte sie doch höchstselbst stolz auf ihr unlängst erschienenes Bändchen »100 ganz legale Versandpackertricks« – an dessen möglichem Nachfolger »Origami für Menschen, die nicht mehr als einen Kranich falten können möchten« und seiner geschickten Lancierung sie gerade 139
knobelte – anstoßen. Was man denn auch tat, und zwar durchaus ausführlich. Herr Winz hatte zur Ausschmückung seiner Festlichkeit ein kleines kulturelles Rahmenprogramm erarbeitet, bei dem Lieder gesungen, Fische getauscht, Vorträge vorgetragen und zu guter Letzt noch eine jugendliche Rockband engagiert wurde, die durch Lautstärke, Wohlgestaltheit und Rabaukentum zum Gelingen des Abends das ihre tat – Frau Schrödinger bereitete es zum Beispiel ehrliche Freude, daß der wohlgestalte Sänger seine letzten Lieder auf und im Kreise eines kleinen Grüppchens Aquaristikfreunde, zu dem auch sie zählte, liegend zum Besten gab, sie hatte immer schon eine gewisse Schwäche für singende Männer in gutsitzenden Hemden gehabt. Prompt tauschte sie eine Rabauken-CD gegen einen mittelgroßen Fisch, man signierte reziprok und trank noch ein, zwei Bier, um auf das erfolgreiche Geschäft anzustoßen ; ja, man hätte auch noch ein drittes Bier, ein viertes gar getrunken, hätte nicht das Clublokal, Ort des geselligen Beisammenseins, die gesamte launige Gesellschaft kurzerhand, unter nichtigen Argumenten, wie man im Schrödingerschen Kreise einvernehmlich befand, vor die Tür gesetzt, wovon man sich aber nicht weiter verdrießen ließ und mit Rabaukenrockern und Aquaristikern in die nächstgelegene Spelunke weiterzog, wo man sich getrost 140
fortgeschritten mißverhalten konnte, was dort nicht weiter auffiel, sondern sich nahtlos in das Lokalkolorit einfügte. Man fügte sich also nahtlos, wobei sich größere Lokalrunden Schnapses, von Herrn Winzens distinguierter Vorgesetzter eindringlichst eingefordert, als hilfreich erwiesen. Die Rockband, vorsorglich mitgenommen, zeigte sich auch im derangierteren Zustand noch höchst amüsant, Teile der Reisegruppe legten ein flottes Tanzbein aufs Parkett, und die weniger überlebensfähigen Mitglieder des Grüppchens, so die Vorgesetzte, wurden von den überlebensfähigeren, so die Aquaristiker, regelmäßig und gnadenlos an die Jukebox gescheucht, deren breites Spektrum von schrecklicher Musik zu ganz furchtbar schrecklicher reichte. Frau Schrödinger fühlte sich im Getümmel beschwingt geborgen, redete mit dem Nutztiermann über Tragödien, tanzte mit Posel zu fast ganz furchtbarer Musik und unterhielt sich viel, wobei das meiste von Fisch handelte. Zwischendurch wurde unter Zurücklassen der weniger Überlebensfähigen und Gesängen noch mal die Lokalität gewechselt, wofür es eigentlich keine Gründe gab außer Übermut, und man landete schlußendlich mit einer halben Rockband, Herrn Winz, dem Nutztiermann und irgendwem, über dessen Ursprung man sich im unklaren war, irgendwo an einer hübschen Theke, die Frau Schrödinger spontan weitere Geborgenheit 141
einflößte. Während sie damit begann, die Reste der Rockband unter die geborgenheiteinflößende Theke zu trinken und auf den Barmann einen schlechten Eindruck zu machen, stach den Nutztiermann und Herrn Winz der Hafer, weshalb sie sich kurz nach draußen verabschiedeten, um ein bißchen in aller Freundschaft zu raufen, wie sie sich ausdrückten, was von Frau Schrödinger wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde, die jungenhaften Eifer stets zu goutieren wußte, besonders, wenn dabei gutsitzende Hemden getragen wurden ; ja, sie war fast ein bißchen neidisch, auch sie selbst hätte durchaus in Erwägung gezogen, ihr eigenes Mütchen ein wenig durch eine gepflegte Rangelei zu kühlen, begnügte sich aber damit, nicht vom Barhocker zu fallen, was denn doch eine gewisse ihr eigene Würdegrenze unterschritten hätte. Kurze Zeit später kehrten die Rangen zurück, wobei Herr Winz aufs farbenprächtigste aus einer Kopfwunde blutete, dabei sehr heroisch aussah und auf den Barmann umgehend einen noch schlechteren Eindruck machte, als es Frau Schrödinger bisher gelungen war. Es stellte sich jedoch schnell heraus, das Winzens Wunde, die ihn erkennbar mit Stolz erfüllte, nicht aus einem heroischen Mann-gegen-Mann-Kampf resultierte, sondern eher einem Mann-gegen-Mauerzierat-Unglück entsprang, da Herr Winz schlicht umgefallen war, noch bevor 142
man sich ausgiebig ausgerauft hatte. Frau Schrödinger riet Winz, auf Nachfrage eine Haiattacke zu schildern, und bestellte noch Biere, mit denen die zwei zerrauften Helden und Frau Schrödinger anstießen, auf die Fische dieser Welt. Und auf die Helden. Und auf die Barmänner, die einen aus den Kneipen dieser Welt werfen, ja, auch und gerade auf die. Man ließ sich sodann in familiärer Eintracht aus dem Lokal werfen, ließ die Band dort liegen, wo sie halt liegengeblieben war, und krauchte nach Hause, mehrstimmig »Wir lagen vor Madagaskar« und »Ein Fisch wird kommen« singend, und daß der Nutztiermann dann im Laufe des Nachhausewegs von einer Kinderwippe fiel und sich diverse für die Mobilität nicht unwichtige Bänder riß, schien allen Beteiligten nur folgerichtig, wenngleich Frau Schrödinger, am nächsten Morgen eine Tasse Alka Seltzer mit Haferflocken frühstückend und über die Tatsache sinnierend, daß sie als einzige keinen Arzt nötig gehabt hatte, sich zugegebenermaßen ein wenig zu kurz gekommen fühlte.
DIE AUTORIN WIDMET DIESES BUCH
den Herren Bdrian, Winz, Seltenhöfchen und Bogardt, sowie dem Elektriker, Schulzke & Posel, dem Nutztiermann und natürlich der entfernten Cousine.
Haben Sie schon mal einen Heiland für daheim erworben? Wissen Sie, wie man bei gebrochenem Herzen Abhilfe schafft? Schätzen Sie das Geräusch von Dackeln auf Linoleum und das Gefühl von Geld auf der Haut? Nein? Frau Schrödinger hingegen kennt sich aus. Mal mehr, mal weniger.
TINA UEBEL FRAU SCHRÖDINGER BEWÄLTIGT DIE WELT KURZE GESCHICHTEN Frau Schrödinger bewältigt nicht nur die Welt, sondern auch allerlei andere absonderliche Situationen des täglichen Lebens – ganz egal ob sie zwischen zwei Männern steht, ihre Großmutter auf hoher See bestattet, zu Fuß flüchtet oder keine Maus fängt. Gnadenlose Short-Cuts über das, was passieren kann, und alles, was sonst noch zählt. Mit 13 Fotografien aus dem »Archiv unzuverlässiger Bilder« von Galia Kodsi.