Früchte einer stürmischen Ernte
Lilian Peake
Kirsten ist seit kurzer Zeit Lehrerin in einem kleinen englischen Dorf. ...
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Früchte einer stürmischen Ernte
Lilian Peake
Kirsten ist seit kurzer Zeit Lehrerin in einem kleinen englischen Dorf. Voller Empörung hört sie eines Tages, daß der Abgeordnete des Bildungsausschusses, Miles Moran, die Schließung der Schule fordert. Mit großem Mut nimmt Kirsten den Kampf mit Miles auf, aber immer wieder ist es sie, die zu verlieren scheint. Zu allem Überfluß muß sie sich eines Tages eingestehen, daß sie sich in ihren gutaussehenden Gegner verliebt hat… © by Lilian Peake Unter dem Originaltitel: „Rebel in Love“ erschienen bei Mills & Boon Limited, London © DeutscheAusgabel979byCORAVERLAGGmbH&Co,Berlin Alle Rechte vorbehalten. BIANCARomane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Satz: Axel Springer Verlag AG, Hamburg Druck: Druckerei Ernst Klett, Stuttgart Printed in Western Germany
1. KAPITEL Mit seiner offenen und ernsten Ansprache zog das Mädchen die Zuhörer in seinen Bann. Sie schätzten das ehrliche Gesicht dieser jungen Frau und bewunderten ihren hübschen Mund, aus dem makellos weiße Zähne blitzten, wenn sie lächelte. Sie beneideten sie um ihr langes, rotgoldenes Haar, das sanft auf ihre Schultern fiel. Die Frauen – viele waren älter als sie selbst – stellten fest, daß ihre Kleidung ausgezeichnet zu der Farbe ihrer Haare paßte. Die Männer bewunderten eher ihren Pullover, der ihre schöne Figur zur Geltung brachte. Fast alle Zuhörer waren begeistert. „Komme, was wolle, wir werden gewinnen!“ rief sie herausfordernd. „Die Behörden können zum Schlimmsten greifen. Sie können kommen und das Gebäude niederreißen, wenn sie wollen, aber ich versprechen Ihnen, daß Rob Bowes und ich Ihre Kinder selbst noch im Schutt unterrichten werden.“ Sie hielt einen Moment inne, bis sich der Beifall wieder gelegt hatte. „Wir werden gemeinsam kämpfen“, schloß sie, „gemeinsam werden wir unsere Schule retten!“ Sie setzte sich und erhob sich sofort wieder, um den überwältigenden Applaus entgegenzunehmen. Ein untersetzter, weißhaariger Mann in der vordersten Reihe zwinkerte ihr begeistert zu. Dann wandte er sich den Zuhörern zu, als wolle er sagen: Ist sie nicht ein feines Mädchen, meine Enkelin? Ihren Kampfgeist muß man einfach bewundern! „Sie wird gewinnen, seien Sie unbesorgt“, sagte er zu seinem Nachbarn. „Kirsten wird es verhindern, daß sie die Schule schließen.“ Kirsten bedankte sich und hoffte, daß niemand ihre Nervosität bemerkt hatte. Ihr Blick wanderte über das Publikum. Sie schwor sich, diesen Kampf mit Robs Hilfe durchzustehen. Diese Menschen durfte sie nicht im Stich lassen, denn sie waren die Eltern und Großeltern der Kinder, die ihrer und Robs Obhut anvertraut waren. Die alten Leute erinnerten sich bestimmt an ihre Kindheit, als sie selbst diese Dorfschule besucht hatten, und sie waren sicherlich überzeugt, daß ihre Enkel weiterhin das Recht haben sollten, diese Schule zu besuchen, wie alt sie auch immer sein mochte. Ein Mann, Mitte dreißig vermutete sie, saß allein in der hinteren Reihe. Etwas an ihm unterschied ihn völlig von den anderen. Er schien so losgelöst, so entfernt zu sein und dennoch alles bis ins kleinste Detail zu registrieren. Kirsten fröstelte. Er war der einzige, der sich nicht an dem Applaus beteiligt hatte. Alle Stühle in seiner Nähe waren leer. Offensichtlich hatte er sich bewußt von der „Masse“ abgesondert. Kirsten war überzeugt, daß er für die anderen Zuhörer kaum Sympathie hegte. Er saß in schräger Haltung auf seinem Platz. Es schien, als müßte er seine große Gestalt geradezu in den engen Sitz hineinpressen. Obwohl die gesamte Länge des Saales zwischen ihnen lag, konnte Kirsten dennoch seinen bohrenden Blick, seine eigenwillige Mundpartie und das markante, willensstarke Kinn erkennen. Überrascht stellte sie fest, daß in den wenigen Momenten, in denen sie ihn beobachtet hatte, das Gemurmel im Saal verstummt war. Es schien, als wären nur noch zwei Menschen anwesend – sie selbst und der dunkelhaarige Mann in der hintersten Reihe. Kirsten errötete, denn der Mann hatte ihre eingehende Prüfung nicht nur bemerkt, sondern amüsierte sich sogar über sie. Nein, er sollte nicht den Eindruck bekommen, daß er sie auch nur im entferntesten interessieren könnte. Darum wandte sie sich abrupt ab und ging erhobenen Hauptes und entschiedenen Schritte zu Rob Bowes hinüber. Dieser sammelte gerade sein Manuskript zusammen, denn auch er hatte eine Rede
gehalten, und er lächelte herzlich, als Kirsten sich ihm näherte.
„Das haben Sie gut gemacht“, lobte er sie. „Sie haben sie alle überzeugt.“
„Sie auch, Rob.“
„Ja, aber“, sein Lächeln wurde noch herzlicher, „ich bin schließlich keine Frau und
besitze auch nicht Ihren Charme, ganz zu schweigen von diesem rotgoldenen
Haar.“
Sie lachte und drehte verlegen die Blätter in ihrer Hand.
„Kirsten, mein Liebes“, ihr Großvater sprang behende auf das Podium, „du warst
großartig.“ Er legte die Hand auf ihren Arm. „Du wirst bestimmt gewinnen. Jeder
hier unterstützt dich.“ Er wies auf die Menge, die langsam den Saal verließ. „Du
kannst einfach nicht verlieren.“
Kirstens Blick folgte dem ihres Großvaters – und fiel erneut auf den Mann am
Ende des Saales. Er war aufgestanden, und sie sah, daß er tatsächlich sehr groß
war. Er überragte alle anderen Männer bei weitem, sein Anzug war besser
geschnitten, und sein Äußeres strahlte Autorität und Willenskraft aus. Die Männer
im Saal reichten ihm im wahrsten Sinne des Wortes höchstens bis an die
Schultern.
„Grandpa“, murmelte Kirsten in sein Ohr, „in der Nähe des Ausgangs steht ein
Mann, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Irgendwie, ja… also er scheint nicht
hierher zu passen. Ich habe das Gefühl, daß er nicht allem zustimmt, was wir
heute abend diskutiert haben. Es fiel mir auf, daß er sich nicht an dem Applaus
der anderen beteiligt hat.“
Ihr Großvater drehte sich um und musterte die kleiner werdende Schar. Nach
einem kurzen Blick auf den Mann wandte er sich ihr wieder zu.
„Du kannst nicht erwarten, daß er dir zustimmt, Liebes. Das ist Moran, der…“
„… der Feind“, unterbrach ihn Rob Bowes mit gepreßter Stimme. „Er ist also
zurück.“
„Vorsitzender des Kulturausschusses“, erklärte ihr Großvater.
„Mit anderen Worten, der Mann, der tatsächlich die Entscheidungen fällt“, fuhr
Rob fort, „weil der Rest des Ausschusses grundsätzlich seinem Rat folgt.“
„Aber warum habe ich ihn früher nicht gesehen?“ fragte Kirsten erstaunt.
„Er war geschäftlich im Ausland“, antwortete ihr Großvater. „Er ist ein
bedeutender Mann, besitzt mehrere Fabriken und fährt einen RollsRoyce“,
flüsterte er. „Er braucht also wirklich nicht jeden Pfennig umzudrehen.“
„Bisher“, erklärte Rob, „haben wir mit seinem Stellvertreter verhandelt.“
„Ah, nun verstehe ich“, erwiderte Kirsten, „deshalb wollte niemand eine
Entscheidung fällen. Sie haben alle auf den Mann gewartet, der das Sagen hat.
Jedenfalls, was das Schulwesen in diesem Bezirk betrifft.“
„Richtig“, antwortete Rob.
„So, dann liegt es also bei ihm“, fuhr Kirsten fort, „ob unsere Schule überlebt,
nicht wahr? Das bedeutet, daß er die Trümpfe in der Hand hält.“
Die Warnung ihres Großvaters kam zu spät.
„So ist es, Miss Hume.“
Woher kannte er ihren Namen? Ach ja, der stand ja auf dem Plakat, das diese
Diskussion angekündigt hatte.
Dieser einflußreiche Mann, dieser unsympathische Zuschauer, der sich geweigert
hatte, ihr zu applaudieren, hatte sich zu ihnen gesellt. Er hatte das Podium so
leise betreten, daß alle seine Anwesenheit zu spät bemerkt hatten.
Der Neuankömmling streckte seine Hand aus. „Wie geht es Ihnen, Thomas?“
„Gut, Sie wieder unter uns zu sehen, Mr. Moran.“ Thomas Hume erwiderte den
Händedruck betont herzlich, als ob er das auch meinte. „Mir geht es gut, danke.“
Kirsten erstarrte. Ihr Großvater war freundlich zum Feind? Wie konnte er die
Hand dieses Mannes schütteln, der die Macht besaß, die Tore dieser Schule für immer zu schließen? „Wie ich sehe“, erklärte der Mann, indem er Kirsten einen leicht ironischen Blick zuwarf, „hat das Dorf während meiner Abwesenheit wenigstens einen neuen Einwohner gewonnen.“ Thomas kam der versteckten Aufforderung des Mannes, ihm Kirsten vorzustellen, schnell nach. „Meine Enkelin Kirsten, Mr. Moran. Sie ist die neue Lehrerin“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. „Das entnahm ich schon ihrer Rede“, antwortete Miles Moran. Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miss Hume.“ Wollte er sie zwingen, freundlich zu sein? Gut, sie würde seine Hand schütteln, aber nur, weil es die Höflichkeit erforderte. Nicht einmal die Andeutung eines Lächelns verzauberte dabei ihren weichen Mund. Miles Moran lächelte, doch die harten, vollen Lippen offenbarten nur wenig Wärme. „Mein Kompliment für Ihre Enkelin, Thomas. Eine Kämpferin, wie es scheint, so unnachgiebig, wie sie attraktiv ist.“ Dieses Kompliment ließ Kirsten erröten, doch ihr Großvater lachte. „Ich will Ihnen nicht widersprechen, Mr. Moran. Ich bin froh, daß sie für eine Weile bei mir bleibt. Mein Sohn und seine Frau leben weit oben im Norden. Kirsten sieht ihrer Mutter, meiner Schwiegertochter, ähnlich. Nur in einem ist sie wie ihr Vater, sie ist offen.“ Er lachte wieder. „Sie macht keinen Hehl aus ihrer Meinung, das versichere ich Ihnen.“ „Dann haben die beiden das von Ihnen geerbt, Thomas“, meinte Miles Moran lächelnd. „Sie nehmen auch kein Blatt vor den Mund. Es scheint also“, wieder wanderte sein Blick zu dem Mädchen, das trotzig seinen Kopf hochwarf, „daß wir noch eine typische Hume unter uns haben. Und noch einen Kämpfer.“ Widerspenstig unterdrückte Kirsten ein Lächeln. „Sollten Sie nicht treffender Unruhestifter gesagt haben, Mr. Moran?“ „Soll das eine Herausforderung sein, Miss Hume?“ Er runzelte die dunklen, wohlgeformten Augenbrauen. „Ich nehme sie gern an. Ja, wenn Sie so wollen, nennen wir es Unruhestifter. Ich habe mich mit vielen auseinandergesetzt, seit ich dieses Amt versehe.“ „Mir schaudert’s, wenn ich mir vorstelle, wie Sie mit den Sorgenkindern fertig werden, Mr. Moran.“ Sie lächelte ihn provozierend an und bemerkte mit Genugtuung, wie sich die Lippen ihres Gegners zusammenpreßten. „Nun ja“, mischte sich nun auch Rob Bowes ein. „Ich bin ganz sicher, Kirsten, daß Mr. Moran als Vorsitzender des Kulturausschusses zum besten Nutzen der Gemeinde handeln wird, nicht wahr, Mr. Moran?“ „Ob Sie es glauben oder nicht, Mr. Bowes, ich werde wie bisher mein Bestes tun. Miss Hume wird das wahrscheinlich nicht wissen, da sie neu ist. Aber ihr Großvater wird sie sicherlich aufklären.“ Thomas Hume lachte. „Aber wir waren nicht immer einer Meinung, nicht wahr, Mr. Moran?“ „Bedeutet das, daß Sie nicht nur Gutes über mich berichten wollen?“ Miles Moran lachte kurz und betrachtete Kirsten eingehend. „Dem Gesichtsausdruck Ihrer Enkelin nach zu urteilen, zweifle ich daran, ob Sie ihr die Vorurteile, die sie gegen mich hegt, noch ausreden können.“ Sein Blick wanderte zu den Plakaten an den Wänden. „Retten Sie unsere Schule“, las er laut. „Schützen Sie die Zukunft unserer Kinder. Jeder Gemeinde ihre eigene Schule.“ Seine ironische Stimme brachte Kirsten auf, und wütend erwiderte sie: „Wie können Sie so zynisch über derart wichtige Dinge reden? Offensichtlich besitzen Sie keine eigenen Kinder, Mr. Moran.“ In ihrem Ärger übersah sie Robs
aufgeregte Handzeichen und das Erstarren ihres Großvaters* „Wenn Sie welche hätten, dann würden Sie den Plakattexten zustimmen. Und Sie hätten am Ende der Diskussion Beifall geklatscht, wie jeder andere auch!“ „Kirsten, Liebes“, versuchte ihr Großvater sie zu beschwichtigen. „Ich glaube, du solltest doch ein wenig…“ Er rang um das passende Wort. „Zurückhaltender ist wohl das Wort, das Ihr Großvater sucht, Miss Hume.“ Zu Thomas gewandt, erklärte er: „Machen Sie sich nichts daraus. Lassen Sie sie reden. Ich bin für die Redefreiheit. Außerdem haben Sie mich gewarnt, daß sie nicht zimperlich mit Worten ist. Ich bewundere ihre Offenheit, aber das ist auch alles.“ Bei dieser Beleidigung vertiefte sich die Röte auf Kirstens Gesicht. Doch in ihren Zorn über seine beißende Ironie mischte sich etwas, das nach Gewissensbissen aussah. War sie zu weit gegangen mit ihrer Behauptung, daß er keine Familie habe? Vielleicht war er sogar verheiratet und hatte sechs Kinder. „Es tut mir leid“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme Aufrichtigkeit zu verleihen. „Ich habe kein Recht…“ „Sparen Sie sich Ihre Entschuldigung, Miss Hume. Zufälligerweise haben Sie recht. Ich habe keine Familie. Ich bin nicht einmal verheiratet. Allerdings habe ich mich weder ironisch über die Plakate geäußert, noch habe ich Ihnen inhaltlich widersprochen. Ich denke nur, daß Sie Ihre Zeit verschwenden.“ Kirsten blickte ihn an. „Wir kämpfen, um zu gewinnen, Mr. Moran.“ „Zum Kampf gehört ein Feind. Darf ich fragen, wer das ist?“ Sie ahnte, daß sie ihre Antwort sorgfältig abwägen mußte. „Die verantwortliche Behörde.“ „Meinten Sie nicht den Kulturausschuß, oder genauer gesagt, mich als dessen Vorsitzenden?“ Er lächelte sie herausfordernd an. „Nun, was ist mit Ihrer Offenheit?“ Er blickte auf seine Uhr. „Ich muß gehen. Wir werden uns sicherlich wiedertreffen, Miss Hume, ich freue mich darauf. Ich liebe die geistige Auseinandersetzung, besonders mit einer engagierten und selbstbewußten jungen Frau. Und vergessen Sie nicht, daß ich die Trümpfe in der Hand halte, wenn Sie sich zum Angriff auf die Behörden rüsten. Sie haben das schon selbst erkannt, Miss Hume.“ Mit einem kurzen, lächelnden Gruß ging er fort. „In Ordnung“, meinte Kirsten, sobald er den Saal verlassen hatte, „ich habe Unrecht gehabt. Ich war impulsiv, hitzköpfig, taktlos und indiskret.“ Ihre Wangen glühten. „Ich habe es für euch gesagt, denn irgend jemand mußte diesen Mann in seine Schranken weisen.“ „Sie haben nicht nur sich selbst einen Feind geschaffen, sondern auch unserer Aktion einen schlechten Dienst erwiesen, Kirsten“, erwiderte Rob. Tränen traten ihr in die Augen. Sie wußte, daß er recht hatte, dennoch wallte ein Gefühl des Selbstmitleids in ihr auf. „Gut, ich hätte taktvoller sein können, und sei es nur im Interesse unseres Kampfes. Aber ich kann Kriecherei nun einmal nicht ausstehen, und sei der Mann noch so mächtig.“ „Aber Kirsten“, wandte Rob ein, „es gibt Momente, in denen man seine Prinzipien zurückstellen muß, und das war heute abend der Fall. Wir alle wollen die Schließung dieser Schule verhindern. Was macht es aus, etwas von seinen Grundsätzen aufzugeben und sogar zu kriechen, wie Sie es nannten, solange wir Erfolg haben? Wenn wir erst einmal gewonnen haben, kann alles wieder zum Normalen zurückkehren.“ Heftig schüttelte Kirsten den Kopf. „Wenn Sie einmal Ihre Selbstachtung verloren haben, dann haben Sie sie für immer verloren. Sie werden niemals den Grund und auch nicht die Person, die Sie dazu gebracht hat, vergessen.“
Rob warf sein Manuskript in die Aktentasche. „Ich stimme Ihnen nicht zu, und ich bin sicher, daß viele in diesem Fall…“ Thomas Hume bemerkte die Zornfalten im Gesicht seiner Enkelin. „Es hat keinen Zweck, Rob, Sie werden sie nicht gegen ihren Willen überzeugen. Sie lernt wie ihr Vater nur durch Erfahrung, und sei sie noch so bitter.“ Die Tatsache, daß ihr Großvater nicht zu ihr hielt, enttäuschte sie. „Grandpa, habe ich nicht alles für unsere Kampagne heute abend getan, um alle Eltern zur Aktivität anzuspornen?“ „Ja, Liebes“, seufzte ihr Großvater, „nimm dir doch nicht alles so zu Herzen. Ich wollte dich nicht kritisieren, sondern nur die Wahrheit sagen. Es gibt Dinge im Leben, die müssen wir einfach hinnehmen, so unangenehm sie auch sein mögen.“ „Und dazu gehört, vermute ich, wenn es sich lohnt, einer verabscheuungswürdigen, unangenehmen Kreatur wie Miles Moran hinterherzulaufen, nur weil er alle Trümpfe in der Hand hält.“ Rob nickte. „Es gibt keine andere Alternative, Kirsten. Ihr Großvater hat recht.“ „Ich habe mehr von Ihnen erwartet, Rob“, erwiderte Kirsten. „Ich weiß, Sie sind der Leiter dieser Schule, aber verkaufen Sie nicht Ihre Seele, nur um Ihre Stellung nicht zu verlieren?“ Abrupt drehte sie sich um und kletterte von dem Podium hinunter. Sie fühlte, daß es unfair war, so mit Rob zu sprechen, aber sie konnte nicht anders. Es war, als ob sich jeder gegen sie verschworen hatte, sogar ihre Freunde. „Sie wird sich wieder beruhigen, Rob“, hörte sie ihren Großvater flüstern. „Aus irgendeinem Grunde hat Mr. Moran sie aufgebracht. Anscheinend ist ihr der Mann vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen. Wenn ich nur wüßte, warum.“ Kaum hatte Kirsten das Schulgebäude betreten, als ein Kind aufgeregt hinter ihr herlief. „Miss Hume“, rief das Mädchen, „Mr Bowes möchte Sie sehen. Es sei dringend, sagte er.“ Es rannte fort, bevor Kirsten sich bedanken konnte. Im Lehrerzimmer hängte sie ihre Jacke auf einen Haken. Der Raum war kaum größer als ein Kleiderschrank mit Fenstern. Die Schule war über hundert Jahre alt, was sich an allen Ecken und Enden offenbarte. Früher hatte sie kaum die vielen Kinder der Dorfbewohner aufnehmen können, die die Felder bewirtschaftet und vielleicht für den Gutshof gearbeitet hatten. Heute existierten nur noch zwei Klassen, und das Kollegium bestand lediglich aus zwei Lehrern, sie selbst und Rob Bowes. Er war der Schulleiter und gab auch Unterricht. Die Schule war klein, mußte Kirsten zugeben, natürlich war sie klein. Aber solange es Kinder in der Gemeinde gab, hatte die Schule ihre Existenzberechtigung und die Kinder ein Anrecht darauf, sie zu besuchen. Kirsten öffnet die Tür zum winzigen Dienstzimmer, das Rob Bowes großzügigerweise als Studio bezeichnete. Er erhob sich, als sie eintrat, bot ihr einen Platz an und setzte sich sofort wieder. Er schien ein wenig aufgeregt zu sein, denn er fuhr ständig mit der Hand über sein hellbraunes Haar. Er war schlank und verhältnismäßig groß, dennoch mußte er, erinnerte sich Kirsten, zu Miles Moran hinauf schauen. „Ich habe soeben einen Anruf vom Kultusministerium bekommen“, sagte er ohne Umschweife. „Wir werden heute morgen inspiziert.“ Ein flaues Gefühl machte sich in Kirstens Magen bemerkbar. Ihr Puls beschleunigte sich, als ahnte sie ein Unheil. „Mit solch kurzer Ankündigung? Das ist nicht fair.“ Draußen auf dem Korridor wurde es unruhig. Kinder liefen vorbei, und die Lautstärke schwoll an. „Wer kommt?“ fragte sie unruhig. „Ein
Schulinspektor?“ „Nein. Können Sie es sich nicht denken?“ „Etwa…“ ihr Mund wurde trocken, „etwa der Vorsitzende des Kulturausschusses?“ „Genau der. Mr. Moran, so lautet die Nachricht, wird der Volksschule heute morgen einen Besuch abstatten. Keine Zeitabsprache erforderlich.“ Kirsten wurde blaß und war unfähig sitzenzubleiben, als sie diese Nachricht hörte. „Warum kommt gerade er? Um den großen Knüppel zu schwingen? Um uns zu zeigen, daß die Zukunft der Schule in seinen Händen liegt? Als ob wir das nicht schon wüßten!“ „Wer weiß?“ erwiderte Rob. „Vielleicht ist es nur Neugierde, vielleicht will er aber auch selbst sehen, worum es bei der Kampagne eigentlich geht.“ Der Lärm draußen wurde stärker, und Kirsten zögerte mit der Antwort. Eigentlich hätte sie jetzt auf den Korridor gehen müssen, um die herumtollenden Kinder zur Ruhe zu bringen, doch das Verlangen, die Situation zu diskutieren, hielt sie zurück. „Was erwartet er?“ fragte sie verbittert. „Sollen wir rote Teppiche auslegen?“ Rob lachte. „Er kann sich glücklich schätzen, wenn er eine Fußmatte bekommt, um sich die Schuhe abzuputzen. Die alte ist durchgescheuert, und für die neue haben wir lange genüg knausern müssen.“ Kirsten mußte ihre wütende Stimme heben, um das Geschrei der Kinder zu übertönen: „Ich wünschte, er würde sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und uns das machen lassen, wofür wir bezahlt werden. Wir sind die Lehrer, wir machen die Erfahrungen. Er mag ein bedeutender Mann in der Wirtschaft sein, aber in Sachen Erziehung ist er nur ein Amateur.“ Kirsten bemerkte, daß Rob ihr nicht seine gesamte Aufmerksamkeit widmete, aber sie fuhr fort: „Was weiß er schon über die Führung einer Dorfschule. Das erfordert Spezialkenntnisse. Warum schwingt er sich so auf das hohe Roß? Wir wissen, was wir tun, dennoch glaubt er, uns seine Meinung aufzwingen zu müssen. Er will uns sagen, wie wir unseren eigenen Verantwortungsbereich zu leiten haben, oder will er uns sogar jegliche Eignung absprechen?“ Je mehr sie sich ereiferte, desto aufgebrachter wurde ihre Stimme. Sie wünschte nur, Rob würde sie anschauen und nicht dauernd auf seinen Schreibtisch starren. „Was?“ fragte sie unwirsch, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, „was weiß ein Behördenmensch schon über Erziehung? Denken Sie doch nur daran, was sie waren, bevor sie in den Ausschuß berufen wurden. Bäcker, Fleischer…“ „Kerzenmacher?“ Die kalte Stimme von der Tür wirkte auf Kirsten wie ein tödlicher Schock und brachte sie schnell von ihrem Höhenflug zurück. Jetzt verstand Kirsten den Grund für Robs seltsames Verhalten. Sie stand mit dem Rücken zur Tür. Er jedoch hatte gewußt, daß ihr Besucher eingetroffen war. Nichts Böses ahnend, hatte sie daher ihrer Meinung über diesen in der Gemeinde hochgeachteten Mann freien Lauf gelassen. Rob Bowes erhob sich und streckte die Hand aus. Er war kaum imstande, seine Verlegenheit über Kirstens Ausbruch zu verbergen. „Mr. Moran, wir haben Sie erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz.“ Im Studio des Schulleiters befand sich allerdings nur ein Stuhl, und in den war Kirsten zurückgefallen, um sich von ihrer Überraschung und dem Schrecken zu erholen. Der Besucher rieb sich am Kinn. Offensichtlich schien er sich die Sache zu überlegen. Sollte er, den Regeln der Höflichkeit folgend, die junge Dame bitten, sitzenzubleiben, oder seinen Anspruch auf den Stuhl als offizieller Besucher geltend machen? Er blickte kurz zu Kirsten hinüber. Anscheinend war er zu einer Entscheidung gekommen.
„Miss Hume? Wenn Sie so freundlich sein würden, den Besucherstuhl freizumachen, und mir zu erlauben…“ „Kirsten?“ Rob räusperte sich. „Würden Sie…?“ Wilder Zorn erfüllte sie über Miles Morans kaum verhüllte Andeutung, daß sie nur eine untergeordnete Rolle spielte und sich unhöflich gegenüber einem Besucher verhielt. Sie hätte sich vor Wut ohrfeigen können, daß sie Robs Aufforderung nicht zuvorgekommen war. Mit tief rotem Gesicht sprang sie auf und riß dabei den Stuhl um. Miles Moran, der gar nicht daran dachte, ihr behilflich zu sein, schaute amüsiert zu, wie Kirsten sich bückte, um den Stuhl wieder aufzustellen. Mit einer wiederstrebenden Geste deutete sie an, daß er sich nun setzen könnte. Mit einem kurzen Nicken ließ er sich nieder und schlug die Beine übereinander. Nicht ein Wort des Dankes, dachte Kirsten böse, als der Besucher sich an Rob wandte. „Ich nehme an, man hat Sie über meinen Besuch unterrichtet? Ich hatte darum gebeten.“ „Ja, das ist geschehen, Mr. Moran. Ich…“ Rob hielt inne und bedeutete Kirsten zu gehen. Es lag anscheinend nicht in Miles Morans Absicht, Kirstens Gefühle zu schonen. Sie Blick ließ sie zur Größe eines Kreidestückchens zusammenschrumpfen, das in zwei Hälften zerbrochen war. „Verzeihen Sie, Miss Hume, wenn ich Sie so unverblümt frage, wofür Sie sicherlich Verständnis haben, aber ist es nicht Zeit, zu den Kindern zurückzugehen? Dafür werden Sie schließlich bezahlt. Dem Lärm nach zu urteilen, den die Meute draußen veranstaltet, werden Ihre Dienste dringendst jenseits dieser Tür benötigt.“ „Ich bin mir meiner Pflichten bestens bewußt“, reagierte Kirsten trotzig. Sie hielt inne und atmete tief ein. Nein, Rob zuliebe und im Interesse der Schule durfte sie dem Mann nicht die Antwort geben, die er eigentlich verdient hätte. Sie holte noch einmal tief Luft und öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen. Doch da bemerkte sie das spöttische Glitzern in seinen Augen, und sie preßte fest ihre Lippen zusammen. Diesmal hatte er gewonnen, und das wußte er. Die Empörung über ihren offenen Hinauswurf wich nur langsam. Sie warf die Tür hinter sich zu und versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich ihr inneres Gleichgewicht wieder eingependelt hatte. Mit ihrem jugendlichen Elan setzte sie sich schnell durch und beendete den betäubenden Lärm der herumtollenden Kinder. Unmittelbar vor der langen Pause, gerade als sich die Energien der Kinder einem Punkt näherten, an dem sie sich explosionsartig zu entladen drohten, öffnete sich die Tür zum Klassenraum. Noch bevor Kirsten sich nach dem Neuankömmling umschaute, wußte sie, wer er war. Seine Ankunft ließ ihr keine Zeit mehr, über ihre Gefühle nachzudenken. Sie merkte nur noch, daß ihr Herz zu pochen begann, ihr Atem schneller ging und ihre Wangen heiß wurden. So mußte sich früher ein Soldat gefühlt haben, wenn das Signal zum Angriff gegeben wurde, dachte sie verwirrt. So sehr es sie auch irritieren mochte, sie hatte an ihrem Platz vor der Klasse zu bleiben und ihrem „Feind“ höflich und zurückhaltend zu begegnen, so wie es einem Besucher zukam. Miles Moran schloß die Tür und nickte ihr kühl zu. Trotz aller Anstrengung gelang es ihr nicht, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und harrte der Dinge. Endlich erinnerte sich Kirsten ihrer Aufgabe als Lehrerin und wandte sich den neun oder zehn Kindern zu. Sie mußte ihre Pflicht tun, so sehr es sie auch
verdroß. „Kinder, bitte aufstehen“, befahl sie mit schulmeisterlichem Ton. Langsam und geräuschvoll kamen die Schüler ihrer Aufforderung nach. „Heute besucht uns eine sehr bedeutende Persönlichkeit.“ Ihr Lächeln war gekünstelt, als sie zum Miles Moran hinüberschaute. Hätte sie ihn mit dieser Geste provozieren wollen, so wurde sie enttäuscht, denn in seinem Ausdruck lag nicht einmal ein Anflug von Unwillen. Für einen kurzen Moment verzogen sich seine Lippen zu einem amüsierten Lächeln, dann nahm sein Gesicht wieder den undurchdringlichen, aufmerksamen Ausdruck an. „Nun sagt guten Morgen“, forderte sie die Kinder auf. „Guten Morgen, Mr. Moran“, klang es vielstimmig. Als Kirsten den Gruß hörte, fiel ihr plötzlich ein, daß sie ganz vergessen hatte, seinen Namen zu nennen. Woher kannten sie ihn? Einige Kinder lächelten ihn an, und es war klar, daß er ihnen nicht fremd war. Wenn er sogar den kleinsten Zöglingen der Dorfgemeinde bekannt war, dachte Kirsten ironisch, dann mußte er seine Wohltaten wahrhaft großzügig ausgeteilt haben. Eine Gnade, die an vergangene Zeiten erinnerte. Die Kinder setzten sich überraschend leise wieder hin und schienen ihn ohne Frage zu akzeptieren. Keiner spürte das Verlangen, sich dem Besucher gegenüber in den Vordergrund zu drängen. Der Grund war einfach der, überlegte Kirsten, daß die Schüler Mr. Moran kannten. Aber selbst das, flüsterte ihr eine innere Stimme zu, würde nicht ausreichen, wenn, ja wenn sie ihn nicht auch mochten. Dieser Gedanke allerdings verwirrte sie noch mehr. Selbst ihre scharfe Stimme konnte ihre Verwirrung nicht verbergen, als sie laut an der Tafel rechnete. Zwei Fehler unterliefen ihr, die ein oder zwei der älteren Schüler sofort bemerkten, denn ihre Hände schossen triumphierend in die Höhe.
2. KAPITEL Als das Zeichen zur Pause ertönte, war Kirsten beinahe am Ende ihrer Kräfte. Ihre Wangen waren tief gerötet, und ihr Herz pochte heftig. Nun hatte sie ihrem Besucher, der sich nicht von seinem Platz gerührt hatte, den besten Vorwand geliefert, um ihre Unfähigkeit als Lehrerin zu beweisen. Die Kinder drängten sich aufgeregt zur Tür, wobei jedes versuchte, sich als erstes hinauszuzwängen. Miles Moran rührte sich nicht von der Stelle. Auch Kirsten wäre am liebsten sofort wie die Kinder hinausgeeilt, um so schnell wie möglich aus dem Blickfeld dieses Mannes zu gelangen. Doch mußte sie ihre Ungeduld verbergen, bis das letzte Kind gegangen war. Als sie zu ihm sagte: „Bitte entschuldigen Sie mich“, hielt er sie am Arm fest. Seine Berührung wirkte wie ein rieselnder Schauer auf ihrer Haut. Sie wünschte nichts sehnlicher, als sich zu befreien. Doch um ihrer Ziele willen duldete sie die Hand auf ihrem Arm, zumal sie auch davon überzeugt war, daß er sie unerbittlich festhalten würde, wenn sie versuchte, davonzulaufen. „Warten Sie einen Moment, Miss Hume.“ Seine Augen schauten kalt und unbeeindruckt, aber er ließ sie nicht los. Hatte er ihr Mißfallen über seine Berührung gespürt, und wollte er sie ärgern, indem er sich ihr in den Weg stellte? „Haben Sie immer nur neun Kinder in Ihrer Klasse, oder fehlten welche?“ „Nein, sie waren alle hier.“ Wenn ihre Antworten kurz und präzise blieben, würde er sie vielleicht schneller gehen lassen… „ Aber es ist nicht meine Klasse. Rob – Mr. Bowes und ich
teilen uns die beiden Klassen. Jeder unterrichtet verschiedene Fächer.“ Er lächelte, und Kirsten fühlte sich unbehaglich. „Und Mathematik ist nicht Ihre starke Seite?“ Also hatte sie richtig vermutet, daß er ihr ihre Fehler vorhalten würde. „Sonst unterlaufen mir beim Addieren keine Fehler“, meinte sie schnippisch. „Sie sollten meine Lehrbefähigung nicht an dem messen, was Sie heute gesehen und gehört haben. Sie waren…“ Sie blickte zu ihm auf und sah zum erstenmal sein Gesicht in allen Einzelheiten. Sie las darin Entschlußkraft, Ausdauer und den Willen, niemals eine Niederlage zuzugeben. All diese Eigenschaften konnte sie in seinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Aber es war der herausfordernde, unverblümte Blick in seinen Augen, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Sein überlegenes Verhalten und seine Berührung erweckten in ihr eine unerklärliche Abneigung. Doch sie war auf seine Unterstützung angewiesen, denn er verfügte über beträchtlichen Einfluß, so daß sie ihre wahren Gefühle ihm gegenüber verbergen mußte. „Bitte fahren Sie fort“, forderte er sie auf und lächelte leicht. Es war ein Lächeln, dem Kirsten sofort mißtraute. „Sie waren es“, platzte es aus ihr heraus, unfähig, ihren Zorn zu bändigen. „Sie standen dort und haben alles peinlich genau registriert, was ich sagte und tat.“ Endlich ließ er sie los. „Vielen Dank für diese Information, Miss Hume“, erwiderte er und lächelte noch mehr. „Nun weiß ich, daß meinen Erscheinen genügt, um Sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dieses Wissen kann sich eines Tages noch als sehr nützlich erweisen.“ Er ging auf den Korridor hinaus. „Lassen Sie sich nicht aufhalten. Dem Geschrei von draußen nach zu urteilen, wird Ihr besänftigender Einfluß auf die Kinderhorden offensichtlich dringend gebraucht.“ Zum drittenmal an diesem Morgen hatte er sie darauf hingewiesen, daß sie ihrer Rolle als Lehrerin nur unzureichend gerecht wurde. Sie wandte sich abrupt von ihm ab und eilte auf den Schulhof. Es war Mitte Juni, aber der Himmel war bewölkt, und Kirsten fröstelte. Die Kinder
spielten ruhig. Konnte sie schnell ins Lehrerzimmer eilen, um ihre Jacke zu holen? In wenigen Augenblicken war die Entscheidung gefällt und ausgeführt. Die Jacke lag auf einem Stuhl. Sie ergriff sie und zog sie beim Hinausgehen über. Als sie wieder auf den Hof hinaustrat, wurde sie von Schreien und Rufen aufgeregter Jungenstimmen empfangen. Sie sah Fäuste fliegen. Zu ihrem Entsetzen erkannte sie, daß sich aus dem Frieden, den sie soeben verlassen hatte, ein Kampf entwickelt hatte, und daß ein großer, resolut aussehender. Mann auf die Jungen zueilte. Seine Jacke war trotz der kühlen Witterung aufgeknöpft, und sein Schlips flatterte im Wind. Dann bemerkte er sie. „Miss Hume“, rief er, „anscheinend machen Sie nicht nur mathematische Fehler und verwirren junge, unbedarfte Gemüter, sondern vernachlässigen auch Ihre Aufsichtspflicht auf dem Schulhof. Entweder Sie bringen dieses kleine Knäuel mit Ihrem weiblichen Einfühlungsvermögen und Ihrer Überredungskunst auseinander, oder ich tue es für Sie mit männlich brutaler Gewalt. Wenn Sie sich nicht beeilen, reißen sie sich gegenseitig die Haare aus!“ Sie hatte keine Zeit mehr, ihm zu erklären, daß sie sich für höchstens zwei Minuten entfernt hatte, um sich ihre Jacke zu holen. Sie rannte auf die beiden Jungen zu, die wie zwei Hirsche ineinander verkeilt waren und verzweifelt miteinander rangen. Sie stürzte sich in den Kreis, der sich um die kleinen Raufhähne gebildet hatte, und packte die beiden am Arm. Einer der beiden Jungen trug eine Brille, die zu ihrer Überraschung noch nicht zerbrochen war. Keuchend trennten sich die Jungen. Ihre Gesichter waren erhitzt, während ihre Blicke weiterhin den Kampf austrugen, der aufgrund höherer Gewalt ein vorläufiges, aber nicht endgültiges Ende gefunden hatte. Der Junge mit der Brille war jedoch so erzürnt über den Verlust seines sicher geglaubten Sieges, daß er sich wütend auf seine Lehrerin stürzte und sie mit Händen und Füßen traktierte. Kirsten war fassungslos über diesen entfesselten Ansturm. Zuerst wollte sie zurückschlagen, aber das Kind, das ihr so sehr zusetzte, lag in ihrer Verantwortung. Wahrscheinlich erkannte der Junge in seiner Rage überhaupt nicht, was er tat. So beherrschte sie sich und versuchte, der Situation nur mit ihrer Stimme Herr zu werden. Vielleicht würde ihn das wieder zur Vernunft bringen. Die Flut der auf sie einprasselnden Fäuste brach so plötzlich ab, wie sie begonnen hatte. Aber weder ihre verbalen Proteste, noch ihr Appell an das Gute in dem Kind hatten es vermocht, von seiner Attacke abzulassen. Irgend jemand hatte den Jungen von ihr weggezogen. Miles Moran hatte ihn an der Schulter ergriffen und ihn an Rob Bowes übergeben, der hinausgeeilt war, um der Ursache des Lärms auf den Grund zu gehen. Dann wandte sich Miles Moran wieder Kirsten zu, die zitternd und hilflos dastand. Sie war wie betäubt, doch wollte sie sich nichts anmerken lassen und zum Schulgebäude zurückgehen. Aber ihre Beine spielten nicht mit. Sie taumelte. Miles Moran sprang ihr zur Seite, um sie zu stützen: „Es ist ein Schock“, sagte er, wartete einen Moment und fragte dann: „Wird es besser?“ Sie nickte und wünschte, sie könnte dem Druck seiner Hand entgehen. Zum zweitenmal an diesem Morgen ließ seine Berührung sie erzittern. Warum konnte sich dieser Mann nicht aus ihrem Leben entfernen und sie allein lassen? Er richtete sich auf, legte die Hände unter ihre Achselhöhlen und hob sie hoch. Bevor sie wußte, was geschah, lag sie in seinen Armen und wurde quer über den Schulhof zum Gebäude getragen. Es war ihr klar, daß sie ihm zu danken hatte, aber alles, was sie herausbrachte, war: „Sie haben eine gute Tat vollbracht, Mr. Moran. Bitte, lassen Sie mich herunter, mir geht es wieder besser.“
Ihr Dank klang selbst in ihren eigenen Ohren recht säuerlich, doch er ignorierte ihre Worte völlig und sah sich suchend um. „Gibt es einen Ruheraum in dieser primitiven Hütte? Haben Sie hier irgendeine Möglichkeit, um sich zu erholen?“ Wenn sie doch nur ihren Kopf aufrecht halten könnte, der an seine Schulter gesunken war. Wenn sich doch nur nicht sein Rücken unter ihrer Hand so fest und stark und verläßlich anfühlen würde! „Lassen Sie mich runter“, flüsterte sie. Immer noch bemühte sie sich vergeblich, ihren Kopf von seiner Schulter zu lösen. „Dann können Sie auf mir herumtrampeln, soviel Sie wollen.“ Der verräterische Kopf fiel wieder an die schützende Schulter zurück. „Hier muß doch ein Stuhl sein“, hörte sie ihn murmeln. Er ließ sie zu Boden, hielt aber den Arm um ihre Hüfte. Plötzlich war ein jämmerliches Weinen zu vernehmen. Kirsten erschrak und starrte in die verdutzten Augen des Mannes neben ihr. „Das ist Andy Brown. Rob bestraft ihn!“ „Das verdient er auch, der kleine.“ Kirsten riß sich von seinem Arm los und rannte zur Tür. „Was zum Teufel machen Sie, Miss Hume?“ rief ihr Mr. Moran verständnislos hinterher. Seine eisige Stimme hielt sie nicht zurück. „Er darf das nicht“, rief sie, „er darf das auf keinen Fäll!“ „Das können Sie sicher dem Schulleiter überlassen. Er wird wissen, was er tut.“ Kirsten schüttelte heftig den Kopf. „Sie kennen nicht das Zuhause des Jungen. Seine Eltern leben getrennt, und keiner will ihn haben. Er lebt bei einer Tante, die ihn aber auch nicht liebt.“ Ohne auf ihre von den Fußtritten schmerzenden Beine zu achten, rannte sie den Korridor hinunter und platzte in Rob Bowes’ Zimmer hinein. Andy Brown stand da, hielt die Hände vor den Augen und weinte herzzerreißend, während Rob an seinem Schreibtisch saß. „Haben Sie ihn geschlagen?“ rief Kirsten. Rob streckte ihr die Hände entgegen. „Damit? Nein. Aber ich hoffe, ich habe ihm erfolgreich verständlich gemacht, daß er nicht stärker als eine Maus ist. Das Kind hat völlig die Kontrolle über sich verloren, und was er Ihnen angetan hat…“ „Entschuldige dich bei Miss Hume, Andy Brown“, herrschte ihn eine Stimme von der Tür her an. „Sag, daß es dir leid tut, oder ich werde dich persönlich…“ Kirsten drehte sich blitzschnell herum, ihre Augen glühten wie Feuer. „Das werden Sie nicht!“ Es war ihr gleichgültig, daß sie so respektlos mit einem hochangesehenen Mitglied des Kulturausschusses sprach. Doch Miles Moran eilte zu dem Jungen hinüber und richtete sich in voller Größe vor ihm auf. „Sag, daß es dir leid tut, oder…“ Der Junge fing wieder an zu weinen. Kirsten eilte ihm zur Seite, um ihn zu schützen. Sie stellte sich zwischen den Mann und den Jungen, stemmte beide Hände gegen Miles Morans Brust und versuchte, ihn wegzuschieben. Sie achtete nicht auf das warnende Aufleuchten in seinen kalten, grauen Augen. Dann beugte sie sich nieder, legte die Arme um das weinende Kind und zog es an sich. Kirsten fühlte die Tränen auf ihrer Schulter. „Es… es tut mir leid, Miss Hume“, flüsterte die aufgelöste Stimme. „Ich…ich wollte Ihnen nicht weh tun.“ „Schon gut, ist schon gut“, beruhigte sie ihn, strich über sein Haar und trocknete seine Augen mit einem Taschentuch. Seine Brille war auf den Boden gefallen, und sie hob sie auf und setzte sie ihm wieder auf die Nase. „Jetzt besser?“ Er nickte langsam. „Dann ab mit dir.“
Die Brille gab dem Jungen ein eulenhaftes Aussehen, als er verunsichert von einem zum anderen blickte. Dann stellte er fest, daß sich das Unwetter offenbar verzogen hatte, und sprang zur Tür, um nach draußen zu verschwinden. Das Lachen und die Rufe der Kinder, die noch immer auf dem Schulhof spielten, brachen das Schweigen im Raum. Erst jetzt bekam Kirsten ein ungutes Gefühl, als ob sie ein ungenanntes Verbrechen begangen hatte. Langsam hob sie den Kopf und sah zuerst Rob und dann ihren Gast an. Würden sie es wagen, sie wegen ihres menschlichen Versagens zu kritisieren? Miles Morans Gesichtsausdruck war undurchdringlich, und sie zitterte vor Aufregung über ihre Kühnheit, ihn beiseite geschoben, nein, ihn überhaupt berührt zu haben. Wenn sie sich nicht entschuldigte, würde er sie dann bedrohen, wie er es mit Andy Brown gemacht hatte? Zu ihrer großen Verwunderung und Erleichterung lächelte er plötzlich. Zwar ironisch, aber immerhin war es ein Lächeln. „Wenn ich mich auf Sie stürze und Sie wie Andy Brown traktiere, würden Sie mich dann auch in Ihre Arme nehmen, Miss Hume, und mich trösten?“ Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, obwohl sie der Gedanke, Miles Moran in den Armen zu halten, sehr verwirrte. Er rief in ihr Gefühle wach, die sie bis zu diesem Tag nicht gekannt hatte. Plötzlich überkam sie eine Schwäche und alles drehte sich vor ihren Augen. Sie legte die Hand vor die Stirn und schloß die Augen. „Setzen Sie sich“, drängte sie Rob. „Das hat Sie mehr mitgenommen, als Sie wahrhaben wollen.“ Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und half ihr auf den Stuhl. Nach einigen Sekunden fragte Miles Moran: „Können Sie sie für den Rest des Tages entbehren, Mr. Bowes?“ „Ich verlasse die Schule nicht.“ Kirsten nahm die Hand vom Kopf. „Es ist alles in Ordnung mit mir. Ich kann Rob nicht allein lassen.“ „Mit achtundzwanzig Kindern, Kirsten? Es gibt Lehrer, die haben Klassen von vierzig Schülern zu unterrichten. Ich werde doch wohl mit unseren Kindern fertig, ohne…“ „Rob!“ Er hatte versucht, ihr zu helfen, aber seine Worte lieferten dem Besucher – dem Feind – genau die Argumente, die er gesucht hatte. Doch ihr Gast, der ohne Zweifel zwischen den Zeilen oder sogar zwischen den Wörtern zu lesen verstand, hatte wahrscheinlich auch ohne ihre Warnung alles gehört, was er wissen wollte. „Kommen Sie, Miss Hume“, forderte Miles Moran sie auf und wies zur Tür. „Ich gehe nicht nach Hause, Mr. Moran. Ich weigere mich, meinen Großvater mit einigen lächerlichen Prellungen zu behelligen.“ Sein Gesicht wurde hart. „In diesem Fall, Miss Hume, schlage ich vor, daß Sie in Ihre Klasse zurückkehren. Wenn Ihre Verletzungen so gering sind, wie Sie sagen, dann können Sie auch beide Klassen übernehmen, während ich mein Gespräch mit dem Schulleiter fortsetze.“ Ungläubig starrte Kirsten ihn an. Er mußte wissen, daß die Verletzungen, die ihr Andy Brown zugefügt hatte, zwar nicht ernsthaft, aber doch sehr schmerzhaft waren. Die Aussicht, zwischen den Klassenräumen hin und herzupendeln, um beide Klassen unter Kontrolle zu halten, versetzte sie in Angst. „Aber, Mr. Moran, meine…“ Meine Verletzungen pochen wie wahnsinnig, wollte sie sagen. Doch das bedeutete, daß sie sich selbst widersprochen hätte. Es lag ihr fern, an das Mitleid dieses harten Mannes zu appellieren, falls er überhaupt zu Mitgefühl fähig war, dachte sie verbittert. Sie biß die Zähne zusammen, erhob sich und humpelte zur Tür.
„Kirsten…“ Robs unsichere, aber besorgte Stimme vermochte nicht, sie von ihrem würdevollen Abgang zurückzuhalten. Nachdem sie eine halbe Stunde lang versucht hatte, beide Klassen gemeinsam zu unterrichten, gab sie ihnen eine Reihe von Aufgaben und schleppte sich zum Lehrerzimmer. Die Schmerzen der blutenden Schürfwunde am Knie waren infolge der vielen Bewegungen stärker geworden. Da sie nicht viel unternehmen konnte, wollte sie die Wunde wenigstens kühlen. Am Waschbecken nahm sie ein Taschentuch, tränkte es in kaltes Wasser und wischte das geronnene Blut fort. „Nanu, seit wann behandelt sich ein kranker Patient selbst?“ Der beißende Ton ließ sie zusammenfahren. „Ich mache genau das, was ich so häufig für die Kinder zu tun habe.“ Ihre Stimme klang defensiv, was sie ärgerte, denn sie wäre diesem sonderbaren Mann viel lieber offensiv begegnet. Er schaute geringschätzig zu, wie sie das Taschentuch anfeuchtete und die Spuren auf ihren Knien entfernte. „Behandeln Sie die Wunden und Prellungen der Kinder immer so? Dann ist es ein Wunder, daß sie nicht schon alle an Blutvergiftung gestorben sind. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch eine bekommen.“ „Ich, Blutvergiftung? Wie?“ Er ging zum ErsteHilfeSchrank hinüber. „Indem Sie ein verseuchtes Taschentuch nehmen, um Ihre Wunden auszuwaschen, anstatt das dafür vorgesehene Zeug zu benutzen.“ Er öffnete die Klappe, die mit einem roten Kreuz versehen war, und holte hörbar Luft. „Leer.“ Er drehte sich um. „Nicht ein Verband, nicht einmal Pflaster oder Wundsalbe. Wer ist verantwortlich für den Nachschub? Das können doch nur Sie sein, das ist kaum Sache des Schulleiters.“ Sie wrang ihr Taschentuch aus und antwortete, ohne sich ihm zuzuwenden: „Ja, ich bin dafür verantwortlich, aber es ist nicht meine Schuld. Infolge der Sparmaßnahmen, die uns von der Gemeindebehörde aufgezwungen worden sind, haben wir einfach nicht genug Geld für solche Dinge.“ „Sie machen mich also dafür verantwortlich?“ Ohne ihre Worte weiter abzuwägen, antwortete sie: „Sie sind der Vorsitzende des Kulturausschusses, folglich tragen auch Sie einen Teil der Schuld.“ Ihren Worten folgte kurzes Schweigen, und sie blickte ihn trotzig an und bemerkte seine zusammengekniffenen Lippen. „Ihr Vorwurf ist an die falsche Adresse gerichtet, Miss Hume. Es ist meine Aufgabe, zusammen mit dem Ausschuß darauf zu achten, daß Erziehung und Bildung in diesem Bezirk ihr Geld wert sind. Es ist nicht mein Job, einen Erste HilfeKasten auszustatten. Das ist Ihre Aufgabe.“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ein besänftigender Kuß und eine Umarmung können einen jugendlichen Raufbold wie Andy Brown beruhigen, sie können aber weder Wunden heilen noch Bakterien töten. Selbst wenn ich Ihnen dieselbe Medizin verabreiche, die Sie ihm gegeben haben, so würde das nicht die Schmerzen lindern oder die Verletzungen heilen, die er Ihnen zugefügt hat.“ Sein Lächeln wurde wärmer, und Kirstens Verwirrung wuchs. „Während ich zu Rob Bowes hinübergehe und ihn bitte, dort zu übernehmen, wo Sie aufgehört haben, packen Sie Ihre Sachen zusammen. Und wenn Sie wieder Schwierigkeiten bereiten, trage ich Sie vor den Augen aller Schüler zu meinem Wagen. Das würde dem Dorf Gesprächsstoff liefern, wenn die Kinder, nach Hause kommen und es ihren Eltern erzählen, glauben Sie nicht auch?“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen. Kirsten nahm ihre Handtasche und Jacke
und humpelte zur Tür. Als er zurückkam, um sie zu holen, biß sie die Zähne
zusammen und versuchte verzweifelt, normal zu gehen. Lieber Schmerzen
erleiden, dachte sie, als zum zweiten Mal an diesem Morgen von ihm getragen zu
werden.
Miles Morans Wagen war vor dem Haupteingang abgestellt.
„Sind Sie schon einmal im RollsRoyce gefahren, Miss Hume?“ fragte er. „Nein?
Gut, dann sammeln Sie eine weitere Erfahrung in Ihrem Leben.“ Er öffnete die
Tür und half ihr hinein.
Kirsten wunderte sich, wo er sie hinbringen würde, hatte aber keinen Mut zu
fragen. Die Fahrt war äußerst angenehm und zu ihrer Enttäuschung nur kurz. Er
hielt vor der Dorfapotheke.
„Da der Arzt mit Sicherheit unterwegs sein wird, habe ich Sie zum nächstbesten
Ort gebracht“, erklärte Miles Moran.
„Die Apotheke? Aber sie behandeln hier doch keine Verletzungen. Sie verkaufen
Pflaster, Verbandszeug und so weiter, aber…“
„Hier, Miss Hume“, erwiderte er sanft, „tun die Leute alles für mich.“
Verwirrt stieg Kirsten aus dem Auto. Einige Passanten schauten interessiert zu
ihnen hinüber. Auch ohne die Geschichte von der Dorfschullehrerin, die von einer
höchst einflußreichen Persönlichkeit auf den Armen getragen wird, werden sich
die Mäuler bald heißreden, dachte Kirsten ein wenig ärgerlich.
Die Ladenglocke läutete, als Miles Moran die Tür öffnete und Kirsten
hineinhumpelte.
„Warten Sie nicht am Ladentisch“, befahl er, „sondern gehen Sie gleich nach
hinten.“
„Aber das ist hier nicht üblich.“
„Tun Sie bitte das, was ich Ihnen sage.“
Er hakte sie unter und half ihr in den Raum hinter dem Laden. Zwei junge Frauen
befanden sich dort, eine mit Brille und braunen Haaren, die andere groß, schlank
und blond. Beide waren Kirsten bekannt. Die eine mochte sie gern, die andere
tolerierte sie, weil sie keine andere Wahl besaß.
Das braunhaarige Mädchen lächelte. „Guten Morgen, Mr. Moran.“ Er nickte ihr zu.
„Haben Sie sich verletzt, Miss Hume?“ fragte sie mitfühlend. „Sind Sie in der
Schule gestürzt?“
„Oh, ja, Pat…“ begann Kirsten, aber Miles Moran unterbrach sie.
„Nein. Ein Junge hat sie getreten und geschlagen.“
Kirsten drehte sich um. „Sagen Sie…“
„Das Kind bleibt ungenannt.“ Miles Moran lächelte breit.
Pat kehrte in den Laden zurück. Die Blonde hatte ihre Arbeit nicht unterbrochen.
Sie zählte Pillen, überprüfte die Rezepte eines Arztes, füllte eine Flüssigkeit in
Flaschen und lächelte dabei die ganze Zeit. Ihr Name, erinnerte sich Kirsten, war
Lara Holland. Sie wußte, das Mädchen war eine ausgebildete Pharmazeutin und
hätte auf Grund ihrer Fähigkeiten sicherlich mehr erreichen können, wenn sie
gewollt hätte.
Miles Moran half Kirsten zum Stuhl und trat zu Lara Holland. Kirsten beobachtete,
daß sich Laras Körper sichtbar spannte und daß sie ihn keineswegs wie einen
Kunden anlächelte.
„Hallo, Miles“, sagte sie, und er erwiderte ihr Lächeln. „Was suchst du? Als ob
ich…“ Sie hielt inne, da sie sich offenbar erinnerte, daß sie nicht allein waren.
Jetzt wußte Kirsten, was Miles Moran gemeint hatte, als er sagte: „Hier tun die
Leute alles für mich.“
Der leichte Schmerz, der Kirsten bei diesem Gedanken plötzlich durchfuhr, war
ihr gänzlich unverständlich. Schon gut, sagte sie sich, diese beiden waren eben
sehr gute Freunde. Sie hatten ein Verhältnis und vielleicht sogar noch mehr miteinander… „Miss Hume ist von einem ihrer kleinen Engel tätlich angegriffen worden und hat dabei einige Verletzungen erlitten.“ Hatte er ihre Gedanken erahnt, und war seine Stimme absichtlich so laut, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? „Da ich deine behutsamen Hände kenne, ganz zu schweigen von deiner Fähigkeit, Wunden zu heilen, dachte ich mir, daß du deine Pillen für einen Moment beiseite legen könntest und dich statt dessen um ihre Verletzungen kümmerst.“ Das Mädchen ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. „Wie du willst, Miles“, antwortete sie. Während sie Kirstens Wunden reinigte, unterhielt sie sich mit Miles Moran, jedesmal wenn sie sich an Kirsten wenden mußte, sprach sie nur kurz angebunden und mit ausdruckslosem Gesicht. Beide Beine hatten durch Andy Browns Attacke gelitten. Als Lara Holland fertig war, erstreckte sich eine Reihe von Pflastern von den Knöcheln bis zu den Knien. „Halten Sie sie ein oder zwei Tage trocken“, sagte sie kalt, „dann sollte die Heilung soweit fortgeschritten sein, daß Sie die Pflaster abreißen können. Die Prellungen heilen von selbst.“ „Das war sehr freundlich von Ihnen“, antwortete Kirsten tonlos. „Ich weiß, es ist tatsächlich nicht Ihre Aufgabe.“ „Ich tat es für Mr. Moran“, unterbrach Lara sie und lächelte ihm zu. Er erwiderte ihr Lächeln. „Ja, als Mr. Moran mich hierher brachte“, bemerkte Kirsten bissig, „sagte er, daß Sie alles für ihn tun würden.“ Trotzig warf sie ihren Kopf hoch, als Miles Morans Augen einen harten Ausdruck annahmen. Doch sie lächelte süß. „Aber ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.“ Nun blickte noch ein zweites Augenpaar Kirsten kalt an, aber es wandte sich schnell von ihr ab. „Heute abend habe ich etwas zu tun, Miles, aber morgen abend bin ich…“ Miles schüttelte den Kopf. „Ich stecke bis zum Hals in Arbeit, Lara, ich bin zu lange weg gewesen.“ Deutlich war die Enttäuschung im Gesicht des Mädchens zu lesen. „Aber, Miles, ich…“ Ihre Stimme brach ab. Man konnte beinah Mitleid mit ihr haben, dachte Kirsten. Für eine Frau gab es nichts Dümmeres, als einen solchen Mann zu lieben, und Kirsten war sicher, daß sich Lara in ihn verliebt hatte. Sie jedenfalls hatte sich schon vor langer Zeit entschieden, nicht eines Mannes wegen ihrer Lebensaufgabe, den Lehrerberuf, untreu zu werden. Daher würden Männer wie Miles Moran sie niemals verletzen können. „Wo wohnen Sie, Miss Hume?“ Seine abrupte Frage erreichte zweierlei: Sie verwies Lara Holland auf ihren Platz und unterbrach ungleich das nachdenkliche, etwas selbstzufriedene Lächeln auf Kirstens Gesicht. Ohne sich eine Schwäche anmerken zu lassen, stand sie auf. Es war nicht leicht, aber sie schaffte es. „Ich gehe nicht nach Hause, Mr. Moran. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zur Schule zurückbringen würden.“ „Lara, wo wohnt Miss Hume? Du mußt Rezepte für sie oder für ihren Großvater gesehen haben.“ Mit bitterem Lächeln gab sie die gewünschte Auskunft. „Danke“, erwiderte er und eilte zu Kirsten hinüber. Zum zweiten Mal an diesem
Tag legte er die Arme um sie und führte sie zur Tür. Die Apotheke war voller
Kundschaft, die ihnen mit offenem Mund nachstarrte.
Zu Kirstens unbeschreiblichem Ärger blieb er plötzlich stehen, als ob er dieses
ganze Theater auf die Spitze treiben wollte. Aber sie beruhigte sich wieder, als er
nur kurz die verdutzten Leute aufklärte.
„Unsere hübsche, junge Schullehrerin hat sich während ihrer Arbeit verletzt,
wenn ich nicht aufpasse, wird mich ihr Großvater noch auf Schadenersatz
verklagen.“
Die Kunden lachten und nickten verständnisvoll. Bevor die Ladentür hinter ihnen
zufiel, sah Kirsten noch das aschfahle, eifersüchtige Gesicht des Mädchens, das
auf Miles Morans Bitten hin ihre Verletzungen versorgt hatte.
Der RollsRoyce glitt die Hauptstraße entlang. Nachdem Kirsten einen Moment
überlegt hatte, teilte sie Miles Moran mit, daß ohnehin niemand im Haus ihres
Großvaters wäre.
„Sie können mich also genausogut zur Schule zurückfahren.“ Sie konnte kaum
ein kleines Lächeln über ihren Sieg unterdrücken.
„In Ordnung.“
Das Steuerrad wurde herumgeschwungen, und der Wagen bog links ein. Als sie
aber einen Augenblick später die Straße, die zur Schule führte, verließen, schlug
ihre Zufriedenheit in Ärger und Furcht um.
„Ich sagte“, brachte sie in bestimmtem Ton hervor, „daß ich zurück zur Schule
will.“
Nun lächelte Miles Moran neben ihr. „Ich bin nicht Ihr Schüler, Miss Hume. Sie
können mich nicht herumkommandieren.“
„Wohin…“ Sie räusperte sich und ärgerte sich, daß ihre Stimme belegt klang.
„Wohin bringen Sie mich?“
„Nach Hause, Miss Hume“, antwortete er sanft. „Zu mir. Unter diesen Umständen
ist es besser so, zumal Sie in meinem Haus nicht allein sein werden.“
„Sie können mich nicht gegen meinen Willen dorthin bringen.“ Kirsten stemmte
sich vorwärts und erhob sich fast von dem Ledersitz. „Ich verlange…“
„Sparen Sie sich Ihre Worte. In zwei Minuten sind wir da.“
Sie bogen in eine kleine, baumbestandene Straße ein. „Aber das ist ja der Weg
nach Charton House.“
„Prüfung bestanden, Schulmeisterin.“
„Gut“, erwiderte sie leicht verärgert über seine spöttische Bemerkung, „Sie
mögen das älteste und imposanteste Anwesen in dieser Gegend erworben haben,
aber Sie können nicht behaupten, daß Sie hierher gehören.“ Sie warf einen
kurzen Blick auf sein Profil und bemerkte mit Genugtuung seine
zusammengepreßten Lippen. „Ich meine, es waren nicht Ihre Vorfahren, die das
Haus vor fast dreihundert Jahren gebaut und ihm sowie dem Dorf ihren Namen
gegeben haben.“
„So wie auch Sie nicht hierher gehören, Miss Hume“, antwortete er ruhig. „Nur,
ich lebe hier schon seit acht Jahren. Wie lange sind Sie jetzt hier? Fünf Monate?“
Für einen Moment schwieg sie. Dann hielten sie vor der Eingangstür des
schloßähnlichen Gebäudes.
„Ich habe noch nie solch ein Haus von innen gesehen“, gab sie ehrlich zu.
„Es gibt eine Reihe von Dingen, die Sie heute zum erstenmal erfahren, Miss
Hume. Dies ist nicht das ursprüngliche Haus“, klärte er sie auf, als er sie in die
Eingangshalle führte. „Das wurde leider durch Feuer zerstört. Was Sie hier sehen,
wurde vor ungefähr zweihundert Jahren durch die ChartonFamilie neu
aufgebaut. Es ist solide und einfach gehalten, ein anspruchsloses, kleines
Landhaus.“
„Klein?“ fragte Kirsten ungläubig und dachte an das Reihenhaus ihres Großvaters. Sie schaute sich um und bemerkte die getäfelte, reich verzierte Decke und die wertvollen Gemälde. Alles schien für ihn selbstverständlich zu sein, er bezeichnete diesen Platz sogar als anspruchslos. „Ihre Augen sind so ehrlich wie Ihre Worte“, sagte er lächelnd. „Bitte folgen Sie mir.“
3. KAPITEL Die Einfachheit seines Wohnzimmers überraschte sie. Doch der erste Eindruck
täuschte, denn bei näherem Hinsehen gab es keinen Zweifel an der Qualität der
Möbel, der Ledergarnituren und der wundervollen Intarsienarbeiten.
„Mögen Sie trotz allem meinen Lebensstil, Miss Hume?“ amüsierte er sich. „Nun,
meine Stühle laden Sie zum Verweilen ein. Warum nicht ihre Einladung
annehmen?“
Kirsten humpelte über den dicken, weichen Teppich und sank in einen braunen
Ledersessel.
„Einen Drink?“ Sie schüttelte den Kopf. „Dann Kaffee?“
„Nein, danke.“
Er ging hinüber zu seinem Wandschrank, öffnete die Türen und bediente sich mit
einem Drink.
„Sie verweigern also meine Gastfreundschaft?“
„Ja.“
„Eine klare Antwort.“ Er ließ sich in dem anderen Sessel nieder, trank einen
Schluck und stellte sein Glas ab. Dann streckte er die Beine aus, lehnte sich nach
hinten und musterte seinen Gast von Kopf bis Fuß.
Wenn er glaubt, er könnte mich verunsichern, dann wird ihm das nicht gelingen,
dachte Kirsten. Ich will es nicht! Dennoch fühlte sie sich sehr unbehaglich. Der
nachdenkliche Blick ruhte mit unverhüllt männlichem Interesse auf ihrem Haar,
das sie sich energisch aus dem Gesicht strich. Sein Blick wanderte zu ihren
Lippen, die sie aufeinanderpreßte. Ohne jegliche Zurückhaltung musterte er ihre
Gestalt, die sie mit ihrer Jacke zu verdecken bemühte.
Irgend etwas schien ihn zu belustigen, vielleicht ihr Unbehagen, dachte sie
verstimmt. Er lächelte, wurde aber ernster und fragte:
„Was machen die Verletzungen?“
„Ganz gut, danke.“
„Tragen Sie dem Jungen sein schlechtes Benehmen nach?“
„Überhaupt nicht. Er fühlte, daß er sich gegen etwas wehren mußte, und ich
vermute, ich war ihm am nächsten. Das Leben hat ihn bisher ziemlich unsanft
behandelt, und er ist noch nicht einmal sieben.“
„Und wenn Ihre eigenen Kinder die Kontrolle über sich verlieren und andere
schlagen, werden Sie sie dann auch in Ihre Arme nehmen und sie an sich
drücken, wenn Sie zufällig dabeistehen?“
„Die Ehe gehört nicht zu meinen erklärten Lebenszielen.“
Miles Moran setzte sich aufrecht hin und erweckte dadurch den Eindruck
ehrlichen Interesses.
„Wirklich? Was wollen Sie denn machen? Einfach mit einem Mann leben? Wenn
das der Fall sein sollte, möchte ich Ihnen meine Karte überreichen.“ Er griff in
seine Jackentasche. „Meine Bank könnte Ihnen die besten Referenzen geben, die
Sie sich wünschen können. Freunde und Verwandte können bestätigen, daß ich
unverheiratet und ungebunden, aber leider nicht frei bin.“
Ein leichter Stich durchfuhr ihr Herz. Er war also nicht allein? Wer war die Frau?
Lara Holland, die Pharmazeutin?
Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen, kam zu ihr hinüber und
schaute auf sie herab. Um in seine Augen zu sehen, mußte sie den Kopf weit
nach hinten beugen. Ihr Blick glitt dabei über seine Hüften, seine breiten
Schultern, über seine ganze kräftige Gestalt. Aus ihr unerklärlichen Gründen
raste ihr Puls wie wild.
Plötzlich beugte er sich über sie, indem er sich mit den Händen auf den Lehnen
ihres Sessels abstützte. „Deshalb nicht frei, Miss Hume, weil ich mich für Sie interessiere. Für ihre Offenheit, ihre burschikose Art und Ihr Temperament. Nehmen Sie daher meine Karte, und wenn Sie die Begleitung eines männlichen Wesens wünschen, so rufen Sie mich zu jeder Tages und Nachtzeit an. Ich werde kommen.“ Seine Augen glänzten, und er reichte ihr die Karte, doch sie wandte den Kopf ab und wies sie zurück. Sofort hatte er den Ausschnitt ihres Kleides gefunden, den er ein wenig öffnete, um die Karte hineinzuschieben. Als sie die Berührung seiner Finger auf ihrer weichen, empfindsamen Haut spürte, schlug sie seine Hand zurück. Er erhob sich, als ob nichts geschehen wäre und beobachtete belustigt, wie sie mit zitternden Fingern nach der Karte langte und sie in kleine Stücke riß, die sie über den Teppich verstreute. Der Zorn in ihren Augen amüsierte ihn um so mehr. Er griff nach seinem Glas, leerte es und sagte: „Nun wissen wir genau, wie wir zueinander stehen. Was wollen Sie jetzt tun, nach Hause gehen oder in die Schule zurückkehren?“ Es war, als sei nichts geschehen, als hätten sie eine normale, alltägliche Unterhaltung geführt. Wenn er eine Frau liebt, und Kirsten war sicher, daß er das schon viele Male getan hatte, konnte er dann über solche Zwischenfälle auch so leicht hinweggehen wie eben? „Zur Schule zurück, bitte“, antwortete sie und ärgerte sich, daß ihre Stimme ein wenig zitterte. „Diese geliebte Schule von Ihnen. Trotz Ihrer Kampagne und Diskussionen ahnen Sie in Ihrem Herzen, was ihr Schicksal sein wird, nicht wahr?“ „Nein!“ schrie sie. „Wir geben nicht auf! Wie kann ich Ihnen das verständlich machen? Doch das schaffe ich nie. Sie leben so weit entfernt von den einfachen, gewöhnlichen Menschen.“ „Vielen Dank“, erwiderte er trocken. „Ich frage mich dann nur, warum diese einfachen, gewöhnlichen Menschen gerade mich gewählt haben.“ Natürlich hatte er recht, und sie entschuldigte sich widerstrebend. „Aber sehen Sie den nicht“, fuhr sie ernsthaft fort, „daß eine Dorfschule nicht einfach eine Schule ist? Für die Dorfbewohner ist sie das Zentrum der Gemeinschaft. Wenn Sie die Schule auflösen, dann ist das für sie, als wenn sie Ihnen die Kinder fortnehmen.“ Er stand da und schaute sie ungeduldig an. Es war ihr noch immer nicht gelungen, ihn zu überzeugen. Daher versuchte sie es erneut. „Neue Leute werden nicht hierher ziehen, um hier zu leben. Mr. Moran. Verstehen Sie das nicht? So wird sich die Ortschaft bald in ein Geisterdorf verwandeln. Wenn die Kinder erwachsen werden, fühlen sie sich nicht mit diesem Ort verwachsen, weil sie hier nicht zur Schule gingen. Sie finden, daß sie nicht hierher gehören und wandern in die Städte ab. Nur die Alten bleiben zurück.“ Er seufzte. „Dörfer sterben nicht, Miss Hume. Sie leben fort, so wie es auch früher geschehen ist.“ „Ohne ein Zentrum, ohne eine Schule werden sie es nicht. Wir brauchen etwas, wo die Mütter jeden Tag ihre Kinder hinbringen können und wissen, daß sie dort sicher aufgehoben sind und von Menschen beaufsichtigt werden, die sie kennen und denen sie vertrauen.“ Er schüttelte den Kopf, und ihre Verzweiflung wuchs. Sie sprang vom Sessel auf. „Merken Sie denn nicht, daß das Todesurteil für dieses Dorf im wahrsten Sinne des Wortes gefällt worden ist?“ Belustigt zog er die Augenbrauen hoch. „Und“, fuhr sie fort, „ich sage Ihnen, wer dafür verantwortlich ist. Ihre
wunderbare Kommunalbehörde. Sie hat den Bau von zehn Häusern, die ein
hiesiger Bauunternehmer am Nordrand des Dorfes errichten wollte,
abgeschmettert. Diese Stadtplaner, Mr. Moran, wissen genau, was sie tun. Sie
stellen sicher, daß keine weiteren Familien mit Kindern hierher ziehen, weil das
bedeuten würde, daß die Schule nicht abgerissen werden kann.“
„Sie unterstellen der Kommunalbehörde wirklich schlechte Absichten!“
„Warum sagen Sie nicht ,uns’, Mr. Moran?“ klagte sie ihn an. „Sie sind einer von
denen.“
„Selbst wenn wir die Dorf schule schließen, werden die Kinder nicht ihres
Unterrichts beraubt. Sie werden mit dem Bus zum nächsten Dorf gebracht, wo es
ebenfalls nur noch wenige Kinder gibt, und erreichen dadurch, daß zumindest
eine Schule für den weiteren Lehrbetrieb erhalten bleibt.“
„Kinder sind keine Schachfiguren, Mr. Moran“, entgegnete sie. „Wenn Sie eine
Familie besäßen…“
Seine Augen wurden schmaler. „Sie werden gefährlich persönlich.“
„Es tut mir leid, wenn ich das bin. Trotzdem, ich wiederhole, wenn Sie eine Frau
hätten und sahen ihre Besorgnis, wenn sie morgens Ihre Kinder zum Schulbus
bringt, der sie zum nächsten Dorf oder zur nächsten Stadt fährt, dann würden
Sie auf unserer Seite sein, mit uns, für uns und nicht gegen uns kämpfen.“
„Sie nehmen zuviel als gegeben hin“, erwiderte er. „Wer hat Ihnen denn offiziell
erklärt, daß die Schule geschlossen wird?“
„Gerüchte, das ist alles. Sie waren fort, und alle haben Ihre Rückkehr erwartet,
um die endgültige Entscheidung zu fällen.“
Sie setzte sich wieder. Sie hatte viel gesagt, vielleicht zuviel, und die Schlacht für
sie alle verloren. Als er schließlich antwortete, war seine Stimme sanft.
„Sie sollten mir eine Freude machen, Miss Hume. Sie sollten mir einen Abend
widmen und meine Einladung zum Essen annehmen.“
„Nein, Mr. Moran, es tut mir leid, aber das ist nicht meine Art.“
„Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte das von Ihnen denken?“
Der seltsame Ton in seiner Stimme ließ sie aufhorchen.
„Ich… ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich habe niemals“, sie schaute herum,
„ich habe niemals zuvor mit einem Mann in Ihrer Position zu tun gehabt.“ Sie
lächelte. „Ich weiß einfach nicht, wie das Uhrwerk von Männern Ihrer Art
schlägt.“
Er lachte. „Die besten Uhren schlagen überhaupt nicht mehr. Sie sind fast lautlos
und voll von Batterien und anderen elektronischen Wundern. Alles Dinge, die
jenseits der Vorstellungskraft von jungen, unerfahrenen Lehrerinnen liegen.“
„Wollen Sie damit andeuten, daß meine Intelligenz nicht ausreicht, um Sie zu
begreifen?“ >> „Absolut richtig“, spottete er. „Wir leben in verschiedenen
Welten.“ Er lachte sie an, und da sie nicht wußte, worüber er sprach, fühlte sie
sich irritiert.
„Würden Sie mich bitte zur Schule zurückbringen? Es ist Mittagszeit, und meine
Brote befinden sich im Lehrerzimmer.“ Sie schaute ihn herausfordernd an. „Wie
lange ist es her, Mr. Moran, seit Sie das letztemal Brot zur Mittagszeit gegessen
haben?“
„Zu lange, als daß ich mich erinnern kann.“
„Sie sehen also, was ich meine“, erwiderte sie triumphierend, „wenn ich
behaupte, daß Welten Sie vom Durchschnittsmenschen trennen.“
„Das soll also Offenheit sein, wie Ihr Großvater es nannte? Freimütigkeit? Kein
Blatt vor den Mund nehmen? Ich bezeichne es als frech und unverschämt!“
Wieder hatte sie ihn beleidigt. „Es tut mir leid“, erklärte sie ein wenig betroffen.
„Würden Sie mich jetzt bitte zur Schule zurückbringen?“
„So schnell, wie mein Wagen Sie fahren kann“, antwortete er steif, und er hielt sein Wort. Bereits wenige Minuten später eilte Kirsten über den Schulhof, während sein weißer Wagen in der Ferne entschwand. Als Kirsten ihrem Großvater erzählte, daß Miles Moran sie mit zu sich nach Hause genommen hatte, damit sie sich von Andy Browns Schlägen erholen konnte, blickte Thomas Hume sie argwöhnisch an. „Warum in sein Haus?“ fragte er. „Hat er versucht, dich auf seine Seite zu ziehen?“ „Grandpa“, erwiderte Kirsten lächelnd, „du solltest mich besser kennen! Ich fürchte, ich habe ihn sehr aufgebracht. Zum Schluß hat er mich“, sie hielt inne, um Atem zu schöpfen, „eine unverschämte Person genannt.“ Thomas lachte laut. „Ein Pluspunkt für dich, Mädchen! Du hast einen echten HumeCharakter. Gib ihn niemals auf!“ Kirsten breitete das Tischtuch über den Eßtisch aus. „Was macht Mr. Moran? Ich meine, was ist sein Beruf?“ „Tja“, Thomas rieb sich das Kinn, „er ist wohl so etwas, was man als Industriemagnat bezeichnet. Er besitzt hier eine Reihe von Fabriken, ein oder zwei sogar im Ausland. Sie fertigen Maschinenteile, die kein anderer herstellen kann. Also keine Massenproduktion, sondern auf die speziellen Wünsche der Kunden zugeschnitten. Und er macht viel Geld damit. Er sieht gut aus, ist ungebunden…“ Er blickte lächelnd auf seine Enkelin. „Ich denke gerade daran, er würde für manche Frau eine gute Partie sein. Er nahm dich mit in sein Haus, nicht wahr?“ Er will mich ärgern, dachte Kirsten. Dennoch rief sie unwirsch aus: „Grandpa, er hat nur Mitleid mit mir gehabt.“ „Ja, ja“, seufzte er. „Du mußt dich nur umschauen und sehen, wie wir leben, du und ich, und wie er seine Tage in dem großen Haus verbringt und mit seinem fetten Bankkonto, dann erkennst du die krassen Unterschiede unsrer Welten.“ Kirsten atmete tief ein und ging dann in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Am nächsten Morgen, Kirsten machte sich gerade für die Schule fertig, klingelte das Telefon. Für Großvater, dachte sie, aber sie hatte sich geirrt. „Miss Hume?“ Als sie die Stimme erkannte, ging ihr Pulsschlag in die Höhe. „Ja, Mr. Moran?“ Wenn sie dachte, daß ihr brüsker Ton ihn verletzen könnte, dann hatte sie sich getäuscht. „Was machen Ihre Verletzungen?“ „Die Prellungen sind brauner, die Beulen noch runder und die Hautabschürfungen schmerzen noch immer, aber ich fühle mich gut, vielen Dank.“ Bei dem Schweigen, das folgte, fragte sie sich, ob er ihre Antwort als unverschämt, amüsant oder als sachlich medizinische Auskunft auffaßte. „Gehen Sie zur Schule?“ fragte er kurz. „Ja“, antwortete sie. „Was bedeutet dieser Anruf, Mr. Moran? Wollen Sie meine Leistungsfähigkeit oder meine Kompetenz als Lehrerin überprüfen?“ Das Niederkrachen des Telefonhörers war die einzige Antwort, die sie erhielt. Schon wieder hatte sie die Mißbilligung dieses mächtigen Mannes geerntet. Nun gut, dachte sie resignierend, sie würde sich an sein Mißfallen gewöhnen. Wenn die Dorfbewohner bereit waren, zu kämpfen, und das war der Fall, dann würde es noch mehr Gelegenheit geben, diesem Mann ihre Meinung zu sagen. Aber war es nicht sehr aufmerksam von ihm gewesen, wies eine innere Stimme sie zurecht, daß er sie angerufen hatte, um sich nach ihrem Befinden zu
erkundigen? Doch hatte er das sicherlich nur getan, versuchte sie sich zu beruhigen, um sich zu vergewissern, daß sie nicht vom Dienst fernblieb, um sich von einigen oberflächlichen Verletzungen zu erholen. Dennoch, meldete sich wieder ihr schlechtes Gewissen, war das kein Grund, ihn derart abzukanzeln. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, eilte Kirsten so schnell aus dem Haus, wie ihre lädierten Beine sie zu tragen vermochten. So erreichte sie die Bushaltestelle zu früh. Ein weißer Wagen glitt die enge Landstraße hinauf. Als sie ihn erkannte, drehte Kirsten sich uni. Sie wollte den Eindruck erwecken, als sei sie in die grünende und blühende Natur um sich herum vertieft. Wenn ich den Atem anhalte und bis zehn zähle, wie ich es früher als Kind getan habe, dachte sie, wird er vorbeifahren. „Benehmen Sie sich nicht wie eine kleine Schülerin. Steigen Sie ein!“ forderte sie eine schneidende Stimme auf. Sie drehte sich wieder um. „Die öffentlichen Verkehrsmittel sind gut genug für mich, danke schön“, erwiderte sie schnippisch. „Ich sagte, steigen Sie ein!“ Sie rührte sich nicht vom Fleck. „Gewöhnlich wende ich keine Gewalt gegen eine widerspenstige Frau an. Aber ich denke nur an Ihre blessierten Beine und an die Stunden, die Sie heute zu stehen haben. Ich kann es nicht zulassen, daß fünfzig Prozent der Lehrerschaft an der Dorfschule unnötigerweise dem Unterricht fernbleiben müssen. Nun, sind Sie bereit einzusteigen, oder muß ich aussteigen und Sie holen?“ Sie schaute die Straße hinab, kein Zeichen vom Bus. Sie ärgerte sich, daß sie zu früh war. Die Wagentür öffnete sich für sie, und sie glitt auf den Beifahrersitz. „Danke schön“, sagte sie steif. Er machte keinerlei Anstalten loszufahren, und sie blickte ihn fragend an. Er lehnte sich über sie, um nach dem Sicherheitsgurt zu fassen. Als er ihn anlegte, berührten seine Hände ihre Brust. War das zufällig oder absichtlich? Ihre Wangen röteten sich, und sie bemerkte, daß er sie belustigt betrachtete. „Das nächste Mal legen Sie ihn selbst an“, bemerkte er. Also war die bittersüße Berührung seiner Hände nicht zufällig. Das wollte sie sich nicht gefallen lassen. „Wir werden gewinnen“, sagte sie, als er anfuhr. „Was gewinnen?“ „Sie wissen genau, was ich meine. Unseren Kampf gegen die Behörden. Gegen Sie!“ „Nun, ich vermute, es geht um die Schule. Sie glauben, Sie werden gewinnen. Was muß ich tun, um Sie von Ihrem eingeschlagenen und schlecht gewählten Weg abzubringen?“ Ein feindseliges Schweigen stand zwischen ihnen, dann fuhr er fort: „Sie benötigen Geld, wenn Sie einen Feldzug führen wollen. Woher wollen Sie das nehmen? Die Eltern Ihrer Schüler sind nicht gerade reichlich damit gesegnet.“ „Wir haben darüber nachgedacht. Wie werden Haussammlungen, Flohmärkte und Tanzabende veranstalten. Eine Tanzveranstaltung findet an diesem Wochenende im Gemeindesaal statt.“ „Wie ich sehe, steigen Sie groß ein. Am Ende sind Sie sogar imstande, eine Privatschule zu errichten, wenn die staatliche geschlossen wird.“ Sie hatten die Schule erreicht, und die Kinder starrten mit neugierigen Blicken auf den großen, weißen Wagen. Bevor Kirsten aus dem Wagen stieg, wollte sie ihm für diesen gemeinen Kommentar noch einen Denkzettel verpassen.
„Ich halte nichts von Privatschulen.“
„Warum nicht?“
„Sie ziehen eine Elite heran, und die gibt es nicht in diesem Dorf.“ Sie hielt inne
und schaute ihn an. „Außer Ihnen.“
Er brach in lautes Lachen aus, und es folgte ihr, bis sie im Schulgebäude
verschwunden war.
Während der Vormittagspause brachte Rob die Nachricht. „Jetzt ist der
Kriegszustand erklärt. Ich habe einen Anruf von der Schulbehörde bekommen.
Wir werden aufgefordert, alle Details über unsere Schüler einzusenden. Sie
wollen ‘auch über den Zustand der Schule und die notwendigen Reparatur
arbeiten informiert werden.“
„Es geht also los, Rob?“ fragte Kirsten.
„Ja, mit Sicherheit. Ich möchte wissen, wer dahintersteckt.“
„Wir brauchen nicht lange zu raten“, antwortete Kirsten. „Er… er hat mich heute
morgen angerufen, Rob. Ich meine Mr. Moran, natürlich. Er erkundigte sich nach
meinen Verletzungen und nahm mich in seinem Wagen mit – gegen meinen
Willen. Wegen der Verletzungen, meinte er.“
„Wenigstens zeigt das noch Menschlichkeit.“
„Ich…ich war wieder unhöflich ihm gegenüber.“
Rob stöhnte. „Nicht schon wieder!“
Sie nickte. „Das erklärt wahrscheinlich diesen Anruf.“
„Wer weiß? Allerdings verbessern Sie kaum unsere Gewinnchancen, wenn Sie
sich weiterhin gegenüber diesem Mann…“
„Mit seinem Einfluß“, unterbrach sie ihn. „Ich weiß, ich gestalte die Dinge nicht
gerade leichter für uns. Es tut mir leid, Rob, aber ich kann einfach nicht anders.“
Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Kirsten schaute zur Uhr, die Pause war fast
vorüber.
„Sie geben ihnen die Informationen, die sie haben wollen, nicht wahr?“
„Ich muß, und zwar peinlich genau. Sie werden bestimmt hierherkommen, um
meine Angaben zu überprüfen.“
„Und um zu sehen“, fuhr Kirsten fort, „daß das Dorf wegen der vielen leeren
Häuser langsam ausstirbt. Aber die sind wenigstens noch nicht abbruchreif. Sie
sind solide und wasserdicht wie vor hundert Jahren, als sie gebaut wurden.“
„Das ist wahr“, seufzte Rob, „aber die hundert Jahre sprechen für sich.“
„Aber Sie wollen doch unseren Fall nicht als hoffnungslos bezeichnen?“
„Nein, das will ich nicht.“
„Rob, wir werden bis zum letzten Atemzug durchhalten. Wir kämpfen nicht nur
für die Schule, sondern auch für unsere Jobs, das wissen Sie. Wir dürfen nicht
nachgeben, nicht jetzt. Das ist erst der Anfang.“
Sie hatten ihr Bestes getan, um die tristen Wände des Gemeindesaals
auszuschmücken. Die Abendsonne strömte durch die hohen Fenster und strahlte
auf die Köpfe der Tänzer.
Zu Kirstens Freude kam alle paar Minuten ein neues Paar herein. Die Eltern der
Kinder hatten Freunde und Verwandte mitgebracht, und viele von ihnen kauften
Eintrittskarten an der Tür. Die Preise waren bescheiden, denn die meisten der
Dorfbewohner besaßen, wie Miles Moran richtig festgestellt hatte, nicht viel Geld.
Eine hiesige Band, drei Brüder und eine Schwester von Schülern der Dorfschule,
sorgte für die Musik. Das Klavier hätte gestimmt werden müssen, und der
Gitarrist hätte mehr Übung haben können, die Trommeln klangen ein wenig zu
laut, aber die Sängerin war eine Freude zu hören.
Da sie aber ohne Gage spielten, sah Kirsten keine Veranlassung, sie zu
kritisieren. Die Leute waren gekommen, um zu tanzen, gleichgültig, zu welcher
Musik, ob es nun moderne Rhythmen oder Evergreens waren.
Rob hatte auf einen Tanz mit Kirsten bestanden, und sie drehten sich auf der
überfüllten Tanzfläche.
„Ich bin fast den ganzen Abend Ihren Fußstapfen gefolgt“, murmelte er und
begrub sein Gesicht in ihrem Haar.
Kirsten lachte. „Ich bin einer der Organisatoren, Rob. Ich muß meinen Pflichten
nachkommen und dafür sorgen, daß sich jeder wohlfühlt. Aber es läuft ganz gut.“
„Genauso wie der Tanz mit Ihnen.“
„Reden Sie nicht so. Sie wissen, ich mag Sie gern, aber das ist alles.“ Sie lächelte
ihn herzlich an und ließ ihren Blick wandern. „Die Tische geben fast unter dem
Gewicht der vielen Flaschen nach.“
Der plötzliche Wechsel des Themas kam Rob zwar ungelegen, aber er mußte
darauf eingehen.
„Diese BottleParty war Ihre Idee.“
„Und jeder hat offensichtlich eine Flasche mitgebracht.“ Kirsten schaute sich im
Saal um, bis ihr Blick von einem Mann aufgefangen wurde, der sich soeben eine
Eintrittskarte am Eingang kaufte. Kirsten hielt den Atem an. „Außer einem –
unserem großen Meister in Person.“
„Nein“, entfuhr es Rob, „doch nicht etwa Mr. Moran?“
„Genau der.“
„Machen Sie nicht so ein finsteres Gesicht“, riet Rob ihr, „sonst treiben Sie diesen
Mann wieder fort.“
„Was ihn erneut gegen uns aufbringen könnte.“ Kirstens Blick löste sich von den
strahlgrauen Augen des Mannes und starrte bewußt an ihm vorbei. „Dann wird er
nicht nur unsere Bemühungen, die Schule zu retten, sabotieren, sondern das
Gebäude mit seinen eigenen Händen niederreißen.“
„Wenn wir ein wenig freundlicher zu ihm wären, würde er vielleicht seine
Meinung ändern.“ Rob hielt sie von sich ab. „Schenken Sie ihm Ihr bezauberndes
Lächeln, und unter Umständen macht er für unsere Sache sogar Geld von seinem
eigenen Bankkonto locker.“
Trotz ihres Widerwillens über Robs Vorschlag, den er einfach nicht ernst gemeint
haben konnte, lachte sie. Dann meinte sie ernüchtert: „Wenn Sie von mir
verlangen, vor diesem Mann zu kriechen und ihn um einige Krumen von seinem
Geldtisch zu bitten…“
Robs Warnung kam zu spät.
„Bin ich der Mann, über den Sie sprechen, Miss Hume?“
Kirsten hatte mit Rob am Rande der Tanzfläche getanzt und sich dabei den
Zuschauern genähert. Einer von ihnen war Miles Moran, der alles mitgehört
hatte. Das bedeutete, daß sie ihn erneut beleidigt hatte. Ausgerechnet den Mann,
in dessen Händen ihr Schicksal lag.
Rob blieb stehen und wurde rot im Gesicht, als habe er so unbedacht
gesprochen.
„Sie meint es nicht ernst, Mr. Moran. Niemals, nicht wahr, Kirsten?“
Also war Rob bereit, vor ihm zu Kreuze zu kriechen, um ihn wegen ihrer Vorwürfe
zu besänftigen. Sein Blick flehte um Zurückhaltung, aber ihr Stolz ließ das nicht
zu. Außerdem wollte sie nicht lügen.
„Sie sollten mich besser kennen, Rob. Was ich sage, meine ich auch, besonders,
wenn so viel auf dem Spiel steht.“
Rob unterdrückte einen Seufzer und erhob seine Hand, als wollte er sagen, was
kann ich mit diesem Mädchen machen?
Es schien, als ob Miles Moran keine zweite Aufforderung benötigte, um diesen
Rebell zu zähmen. „Vielen Dank“, sagte er zu Rob und führte das erstaunte
Objekt ihrer wortlosen Unterhaltung in seine Arme.
„Ihr Freund will Sie wohl zur Ordnung rufen“, fragte er belustigt. „Er hätte sie
keiner besseren oder erfahreneren Person übergeben können.“
Kirsten versuchte vergeblich, sich von ihm zu befreien.
„Ich zweifel nicht daran, daß viele Frauen auf dem Weg zu Ihrem privaten Harem
durch Ihre Arme gegangen sind, Mr. Moran. Aber ich gehöre nicht zu ihnen.“
Er hielt sie mit Leichtigkeit. „Unterschätzen Sie nicht meine Fähigkeit, mir eine
Frau nach meinen Wünschen gefügig zu machen, Miss Hume“, entgegnete er
sanft. „Aber darf ich Sie korrigieren, ich besitze kein Harem. Viel zu teuer, selbst
für einen Mann mit meinen Mitteln. Nebenbei, wie geht es Ihren Beinen?“
„Gut genug, um die ganze Nacht mit allen Männern, die es wollen, zu tanzen.
Vielen Dank.“
Wie, zuvor hielt er sie von sich ab und blickte in ihr Gesicht. „Sie begrenzen also
nicht die Zahl der Männer, denen Sie Ihre Gunst zu schenken bereit sind?“
„Sie unterstellen einer unschuldigen Bemerkung eine unmoralische Bedeutung,
und zwar absichtlich.“
„Sie halten sich mit Ihren Worten nicht zurück, nicht wahr?“
„Ich bin offen. Das erwähnte schon mein Großvater.“
„Bisweilen kann Offenheit genau das Gegenteil bewirken.“
Sein Gesicht berührte, wie Robs zuvor, ihr Haar. Doch während sie Robs
Berührung toleriert hatte – sie hatte sie kaum gespürt – , bewirkte seine
Zärtlichkeit, so leicht sie auch sein mochte, ihren heftigsten Unwillen. Sie rückte
abrupt ihren Kopf von ihm ab und schaute ihm wütend ins Gesicht.
Er lächelte, und sie tanzten weiter, als sei nichts geschehen. Doch dieser kleine
Zwischenfall hinterließ seine Wirkung auf Kirstens bisher unerweckte Gefühle.
Dann schaute er hinunter auf das temperamentvolle, trotzige Gesicht und sagte:
„Haben Sie niemals daran gedacht, mit der Gegenseite in freundschaftlichen
Gesprächen zu verhandeln?“
„Sie meinen, fragwürdige Vereinbarungen mit dem Feind hinter dem Rücken der
eigenen Verbündeten zu treffen?“
Er preßte sie an sich, aber nicht aus Zärtlichkeit, sondern aus Ärger. „Sie sind ein
seltsames Mädchen. Kompromißlos mißachten Sie Takt und Sachlichkeit. Ich bin
der Mann mit der notwendigen Macht, um alle betroffenen Leute in meinem
Sinne zu beeinflussen, für oder gegen die Schließung Ihrer kostbaren Schule.
Dennoch behandeln Sie mich, als wenn ich der Teufel persönlich wäre.“
Seine Hände wanderten hinab zu ihrer Taille. Der Druck seiner Handflächen und
die Berührung seiner Beine ließen ihr Herz wild schlagen.
„Wohnt denn nicht wenigstens ein Fünkchen gesunder Menschenverstand in
Ihrem so begehrenswerten Körper?“
„Nicht, wenn es um Sie geht“, erwiderte sie schlagfertig.
Warum bin ich so unhöflich, fragte sie sich. Warum kann ich nicht Robs Beispiel
folgen und mich wenigstens bemühen, freundlich zu sein?
Die Musik hörte auf zu spielen, und mit einer beinah erleichterten Geste ließ
Miles sie los. Er führte sie quer durch den Saal, dankte ihr für den Tanz und
entfernte sich.
„Hast du schon wieder angefangen, Kirsten?“ stöhnte Rob. „Konntest du nicht
versuchen…“
„Hör auf!“ schrie sie. Dann brach sie zu ihrem eigenen Erstaunen in Tränen aus
und rannte blindlings auf die Damentoilette.
Doch bevor sie hinter der Tür verschwinden konnte, stellte sich ihr ein Mann in
den Weg. Er hielt sie am Arm fest.
„Was ist los, Kirsten?“ Miles Moran hatte zum erstenmal ihren Vornamen
genannt. „Fühlen Sie sich nicht gut?“
„N… nein, doch“, stammelte sie. „Bitte lassen Sie mich durch.“
„Schmerzen Ihre Verletzungen? Sind Sie zu lange auf den Beinen gewesen?“
„Ja – nein, war ich nicht, ich gehe jetzt heim.“ Sie drehte sich um und rannte zur
Garderobe. Der Spiegel offenbarte ihr ein tränenüberströmtes Gesicht. Sie fand
ein Taschentuch und rieb ihre Wangen trocken.
4. KAPITEL Da einige Eltern sie vielleicht hatten gehen sehen und ihr folgen würden,
versuchte sie, sich wieder zurechtzumachen. Sie hatte kaum den kleinen
Eingangsraum betreten, als ein großer, breitschultriger Mann ihr den Weg
verstellte. Nicht schon wieder Miles Moran, dachte sie. Er war der letzte, dessen
Gesellschaft sie sich wünschte. Schnell trat sie zur Seite und rief:
„Rob, bitte bringen Sie mich nach Haus.“
Eine Hand ergriff sie an der Schulter und drängte sie zur Tür.
„Ich habe mit Rob Bowes gesprochen. Er hat zugestimmt, den nächsten Tanz von
Ihnen zu übernehmen, während ich Sie aber jetzt von ihm übernehme. Das
bedeutet, daß ich derjenige bin, der Sie nach Hause begleitet. Und keine
Widerrede!“
Die Ereignisse und die seelische Anspannung hatten Kirsten geschwächt, und sie
widersetzte sich nicht. Als Miles sie bat, ihm den Weg zu ihrer Wohnung zu
zeigen, kam sie seiner Aufforderung nach.
Er lenkte den Wagen an den Bürgersteig und stellte den Motor ab.
„Vielen Dank für das Mitnehmen“, sagte sie schnell und hoffte, daß er den Wink
verstehen und abfahren würde.
„Ist Ihr Großvater da?“ erkundigte er sich.
Kirsten schüttelte den Kopf. „Er ist zu seinem Seniorenklub gegangen. Bitte, wie
öffne ich diese Tür?“
Er lächelte, als ob er ahnte, daß sie entkommen wollte, bevor sie ihn aus
Gründen der Höflichkeit hineinbitten mußte.
„Ich zeige es Ihnen“, antwortete er und stieg aus.
Sie kletterte aus dem Wagen, während seine Hand sie am Ellenbogen hielt und
ihr half.
„Vielen Dank“, wiederholte sie und lächelte ihn an, wie Rob es ihr geraten hatte.
Das sollte genügen, dachte sie verzweifelt, um ihm zu zeigen, daß er nun gehen
könne. Zu ihrem Entsetzen zeigte er keinerlei Anstalten, sie allein zu lassen.
„Nun werde ich es schaffen“, fügte sie unsicher hinzu.
„Keine Angst“, beruhigt er sie, verschloß den Wagen und wartete an ihrer Seite.
„Bitte, gehen Sie voran, Miss Hume.“
Mit zittrigen Fingern suchte sie nach dem Schlüssel in der Tiefe ihrer Handtasche.
Während sie ihn in das Schloß steckte und aufschloß, beobachtete Miles Moran
sie. Sicherlich geht er jetzt, dachte sie. Aber bedenkenlos folgte er ihr hinein.
Was sollte sie mit dem Mann anfangen? Nur seinetwegen war sie vom Tanzen
weggelaufen, und nun stand er hier.
Sie war unfähig, in ihrem betäubten Zustand nachzuvollziehen, wie das
geschehen konnte. Sie erinnerte sich an sein Haus, in dessen Geräumigkeit und
Eleganz. Im Vergleich zu der Umgebung, in der er lebte, mußte diese Wohnung
fast wie ein Elendsquartier wirken.
Ein panikartiges Gefühl befiel sie. „Es tut mir leid, daß es hier so eng ist und die
Möbel so altmodisch…“
„Um Himmels willen“, entgegnete er schnell, „entschuldigen Sie sich niemals für
Ihr Zuhause. Seien Sie stolz darauf, und stellen Sie niemals Vergleiche an. Es
zählt nur die Tatsache, daß Sie glücklich sind. Seien Sie ehrlich, wie Sie es sonst
auch sind, und geben sie es zu. Wenn Sie einen Ort lieben und er Ihr Wesen
widerspiegelt, so wie Sie es wünschen, dann können Sie stolz darauf sein.
Erzählen Sie niemandem, daß es Ihnen leid tut.“
Diese Seite des Mannes überraschte sie. Sie hatte einen Blick des Hochmuts, der
Verachtung und sogar des Mitleids erwartet, aber nicht dieses Verständnis.
„Warum sind Sie verlegen?“ fragte er. „Überrascht, daß ich einen Zug Menschlichkeit enthüllt habe? Von dem Moment an, in dem Sie mich das erstemal entdeckten, haben Sie mich als tyrannisch und skrupellos gebrandmarkt. Nun entdecken Sie, daß ich nicht so schlecht bin, wie Sie mich gezeichnet haben und sind verlegen von Kopf bis Fuß, nicht wahr?“ Er lächelte sie ironisch an. „Und verärgert, daß sich Ihre Beurteilung als falsch erwiesen hat.“ „Wirklich?“ wollte Kirsten fragen, aber sie hielt sich zurück. Er war ein Gast. Jedenfalls wollte sie sich nicht immer mit ihm streiten, zumal er einen positiven Charakterzug offenbart hatte. Warum sollte sie sich nicht mit diesem Teil anfreunden? Warum, fragte sie sich überrascht, sollte sie nicht versuchen, ihn ein wenig in ihrem Sinne zu ändern? Warum sollte sie nicht Robs Ratschlag folgen und etwas freundlicher zu ihm sein? Vielleicht würde er – so glaubte Rob – seine Ansicht ändern. „Ich kann Ihnen keinen Drink anbieten, Mr. Moran. Mein Großvater hat niemals viel Alkohol im Haus. Aber…“ „Kaffee?“ Sie nickte. „Wo ist die Küche?“ Sie zeigte dorthin. Seine Hände umfaßten ihre Schultern und drehten sie in Richtung Küchentür. „Ab mit Ihnen. Oh, und…“ Kirsten wandte sich an der Wohnzimmertür um. „Ich mag ihn schwarz und mit nur wenig Milch. Und süß“, fuhr er in einem zärtlicheren Ton fort, wie der Kuß einer Frau.“ „Ich werde soviel Zucker hineinschütten“, entgegnete sie, „daß der Teelöffel darin stehenbleibt!“ „Tun Sie es nur, und ich werde Sie über mein Knie legen!“ Als sie vor Zorn über und über rot wurde, lachte er sie vergnügt an. Dann wandte er sich ab, steckte seine Hände in die Taschen und wanderte im Zimmer umher. Er betrachtete alle Familienfotos bis ins kleinste Detail. Kirsten kehrte nach einer Weile aus der Küche zurück und trug auf einem Tablett Großvaters bestes Teegeschirr herein. Miles hatte sich in Großvaters Lieblingssessel ausgestreckt, so, als sei er hier zu Hause. Es schien, als hätte er den enormen Unterschied in ihrem Lebensstil nicht bemerkt. Wie ein Chamäleon vermochte er sich anscheinend in die einfache, fast schäbige Umgebung einzufügen, in der Kirsten ihr Leben außerhalb der noch düsteren Dorfschule verbrachte. Als Kirsten eintrat, erhob sich Miles aus dem Sessel. Seine Höflichkeit verwirrte sie zutiefst, da sie ihrerseits nur grob zu ihm gewesen war. Sein scharfer Blick streifte kurz das Tablett, als sie es auf einen niedrigen Tisch setzte. „Großvaters wohlgehütete Tassen und Teller?“ fragte er amüsiert. „Ich hatte einen Steingutbecher mit bis zum Rand voll wilder und heißer Flüssigkeit erwartet.“ Verunsichert schaute sie ihn an. „Den benutzen wir gewöhnlich. Doch ich dachte, daß Sie – nun ja, nicht gern…“ „Nun bin ich außerdem noch ein Snob?“ Seine lachenden Augen nahmen den Worten ihre Schärfe. Kirsten zuckte mit den Schultern, da sie keine Antwort wußte. Sie schenkte Kaffee ein und reichte ihm eine Tasse. „Bitte nehmen Sie sich selbst Zucker“, forderte sie ihn auf. Er lachte und beugte sich nach vorn, um seinen Löffel in einen Berg von weißen Kristallen zu tauchen. „Sie wollen auf Nummer sicher gehen, nicht wahr? Somit
haben Sie Ihre Drohung, die Tasse mit Zucker zu füllen, nicht wahrgemacht. Schade. Nun kann ich Sie auch nicht auf mein Knie legen.“ „Sie hätten es nicht gewagt“, erwiderte sie, indem sie sich auf ihren Kaffee konzentrierte. „Ist das eine Herausforderung?“ Die Härte in seiner Stimme ließ Kirsten zu ihm aufblicken. „Ich warne Sie, eine Herausforderung reizt mich immer zur Tat.“ Er hatte sie in die Enge getrieben. Sie konnte nur mit dem Kopf schütteln und hoffen, daß ihre Verwirrung ihn besänftigen würde. Schweigen folgte, als sie ihren Kaffee tranken. Miles lehnte eine weitere Tasse Kaffee ab und setzte sich im Sessel zurück. „Erzählen Sie mir bitte, unterstützt Ihr Großvater Sie in Ihrer Kampagne?“ „Natürlich. Alle Dorfbewohner tun es.“ „Außer einem?“ fragte er schmunzelnd. Kirsten runzelte die Stirn. „Ich selbst?“ „Sie? Wie könnte Sie uns auch unterstützen? Sie sind Vorsitzender des Kulturausschusses, der uns aus dem Weg räumen will, und müssen ihn daher natürlich voll unterstützen. Außerdem“, ihre Blicke waren herausfordernd, „sind Sie kein richtiger Dorfbewohner.“ Nun runzelte Miles die Stirn. „Wie meinen Sie das? Da ich in diesem Dorf lebe, bin ich auch ein Dorfbewohner.“ Das konnte Kirsten nicht durchgehen lassen. „Wie können Sie die Kühnheit besitzen“, entgegnete sie aufgebracht, „und sich ein Mitglied der Dorfgemeinschaft nennen? Von uns trennt Sie Ihr großes Haus. Ihre unschätzbaren Besitztümer und Ihr immenser Reichtum vollkommen.“ Ihre Worte schienen ihn zu verärgern. „Ich habe meinen gesamten Besitz, Miss Hume“, wiederum ließ seine Förmlichkeit sie zusammenzucken, „im Schweiße meines Angesichts oder besser gesagt, mit der ganzen Kraft meiner grauen Hirnzellen erarbeitet. Ich besitze Fabriken hier wie im Ausland, doch wurden sie mir nicht geschenkt. Harte Arbeit, fachmännisches Können, technisches Wissen und reine Entschlußkraft waren erforderlich, um meine eigene Gesellschaft zu gründen und sie zu der Größe zu bringen, die sie heute besitzt. Warum soll ich mir daher nicht etwas Zurückgezogenheit gestatten, wenn ich es möchte? Schönheit“, seine Stimme wurde weich, als seine Blicke über ihre Figur streiften, „wenn ich es möchte?“ „Sie…“ sie schluckte. „Sie mußte zurückschlagen! Sie fahren einen RollsRoyce. Wofür braucht man den? Er dient Ihnen nur dazu, um den Leuten Ihren Lebensstandard vor Augen zu führen, um der ganzen Welt zu zeigen…“ „Warum sollte ich mir nicht das Beste kaufen?“ fiel er ihr ins Wort. „Ich kann es mir leisten. Auf jeden Fall haben Sie den Luxus meines Wagens genauso genossen, als Sie sich herabließen, mit mir zu fahren. Und das trotz Ihrer anmaßenden Vorwürfe jenen gegenüber, die durch harte Arbeit etwas erreicht haben, und trotz Ihrer hochnäsigen Haltung gegenüber Menschen wie mich, die leben können, wie es ihnen gefällt!“ Wütend über seine Kritik an ihren Grundsätzen rief sie aus: „Ich lebe auch so, wie es mir gefällt! Alles, was ich besitze, habe ich im Schweiße meines Angesichts – oder vielmehr mit meinem Verstand erworben.“ „Was uns gleichstellt“, warf er mit einem boshaften Lächeln ein. „Nein, das macht es nicht!“ gab Kirsten zurück. „Doch ich beklage mich nicht, da ich so, wie ich lebe, glücklich bin. Zuviel Geld macht korrupt…“ „Macht es das tatsächlich? Dann wäre ich also korrupt!“ Kirsten errötete, da nun noch eine weitere Anschuldigung auf die lange Liste seiner persönlichen Fehler hinzukam, die sie ihm ankreidete. „Das können Sie nur beurteilen“, antwortete sie. „Trotz allem könnte ich nicht so wie Sie leben.“
„Niemand bittet Sie darum, Miss Hume“, erwiderte er mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck. Kirsten errötete zutiefst. Er hatte ihre Bemerkung absichtlich wie einen Antrag aufgefaßt – von welcher Art, das wollte sie sich nicht ausmalen. Sein Kopf ruhte auf der Sessellehne, seine langen Beine waren ausgestreckt. In dem Augenblick, als Kirsten fühlte, daß sie seinen unerbittlich prüfenden Blick nicht länger ertragen konnte, erhob er sich. Er schlenderte zum Regal und griff nach einem Transistorradio, das darauf stand. „Darf ich?“ fragte er und schaltete ein. Musik erfüllte den Raum, melodisch und süß. Sie erweckte Gefühle, die normalerweise nur in sehr leidenschaftlichen Augenblicken hervorgerufen worden wären. Auch Miles konnte sich dieser Wirkung nicht entziehen, vermutete Kirsten, denn er schlenderte zu ihr hinüber und blieb mit den Händen in den Taschen vor ihr stehen. Sein lächelnder Blick ließ ihr Herz höher schlagen. Vor Zorn, versuchte sie sich verzweifelt einzureden. Doch als Miles mit beiden Händen ihre Taille umfaßte und sie zu sich emporzog, da wurde ihr klar, daß sie sich selbst belogen hatte. „Kirsten“, murmelte er, während seine Blicke auf ihrem Mund verweilten, „ich verspüre ein großes Verlangen, den Geschmack der Lippen zu kosten, über die sich so schmähliche Worte über mich ergossen haben. Ist er sauer, bitter und zurückweisend, oder“, seine Arme umschlangen ihren Körper, „ist er süß, köstlich und zutiefst befriedigend?“ „Bitte…“, stammelte sie, doch er beugte sich zu ihr herab, und ihre protestierenden Worte blieben unausgesprochen. Doch der Druck ihrer Lippen genügte Miles nicht. Er zog sie fest an seinen Körper, und sie spürte die ganze Kraft seiner Muskeln, als sie sich an seine Arme klammerte, und den Druck seiner Hüften. Eine plötzlich entfachte Leidenschaft erfüllte Kirsten, und sein verlangender und suchender Mund überwältigte sie. Seine Hände glitten ihren Rücken hinunter und rückten sie noch fester an sich. Langsam schmolz ihr Widerstand dahin. Kirsten vergaß die ständige Feindschaft zwischen ihnen, sie vergaß die Barrieren, die sie zwischen sich und den Männern errichtet hatte, und sie vergaß sogar, daß Miles ihr Erzfeind war. Ihre Gedanken waren nur von dem tiefen Verlangen erfüllt, daß dieser Augenblick der Wärme und Vertraulichkeit zwischen ihnen niemals enden würde. Miles nahm sich viel Zeit, ehe er den Kuß beendete. Sein Blick streifte über ihr gerötetes Gesicht, ihre leuchtenden Augen, die groß vor Erstaunen über ihre widerstandslose Hingabe geworden waren. Er sah den vollen Mund, der leicht geöffnet war, als ob er noch mehr erhoffte. Mit der Hand strich er ihre langen rotgoldenen Haare aus dem Gesicht. Kirstens Herz schlug schnell, und sie wartete ungeduldig auf zärtliche und liebkosende Worte, die sicherlich bereits auf seinen Lippen lagen und ihre alte Feindschaft endgültig beenden würden. „Für ein Mädchen, das nie heiraten will“, sagte Miles, „sind Sie zu sehr viel bereit, oder kommt die Rechnung später?“ Es schien ihr, als würde sie von einer Treppe in tiefste Dunkelheit herabstürzen. Kirsten hob die Hand, holte aus – und wurde mit einem harten Griff abgefangen. Ihre Augen funkelten ihn an, trafen in seinem Blick jedoch nur schneidende Härte. Ja, er war hartherzig, daran bestand kein Zweifel mehr. Außerdem schien ihn ihre Wut über seine Beleidigungen völlig kaltzulassen. „Los, sagen Sie es“, schrie sie verächtlich. „Nun werfen Sie mir schon vor, ich sei eine hervorragende Schauspielerin! Ich kann diese Worte bereits auf Ihren
Lippen lesen.“ „Wie gut Sie meine Gedanken erraten können“, warf Miles nachlässig dahin. Sie riß sich aus seinen Armen und schaute ihm direkt in die Augen. Ihr Atem ging schwer, und ihre Brust hob und senkte sich heftig. Wie konnte sie ihn zum Gehen bewegen, bevor ihre Wut noch mehr Schaden anrichten würde? „Vielen Dank, Mr. Moran, daß Sie mich nach Hause begleitet haben, obwohl ich Rob dafür eigentlich vorgezogen hätte.“ Miles antwortete nicht, doch die Verachtung in seinem Blick ließ ihr Herz vor eisiger Kälte erstarren. Am folgenden Tag schien Kirsten bedrückt, doch Rob sagte nichts während ihrer Kaffeepausen im Studio, obwohl er sie hin und wieder neugierig betrachtete. An diesem Abend ging er mit ihr aus. Er hatte Kirsten vorsichtig gefragt, da er bereits mit einer Absage gerechnet hatte. Um so mehr überraschte ihn ihre Zusage. Sie aßen in einem der besseren Hotels außerhalb der Stadt. Während des Essens wurde es Rob klar, daß er Kirstens Schweigen irgendwie durchbrechen mußte, damit der Abend nicht ein völliger Reinfall wurde. „Was ist los mit Ihnen?“ fragte er, indem er seine Hand auf ihre legte, die wie leblos auf dem Tisch ruhte. Wie konnte sie ihm erzählen, daß sie sich über so vieles Sorgen machte – über ihr unhöfliches Verhalten dem Mann gegenüber, der wie ein Marionettenspieler ihren Lebensunterhalt und die Zukunft der Schule in den Händen hielt; über ihre Beschimpfungen, die sie dem Mann ins Gesicht geschleudert hatte, der von den Dorfbewohnern gewählt worden war, um sie im Gemeinderat zu vertreten? Wie konnte sie ihm erzählen, daß sie die Art, wie Miles sie geküßt hatte, einfach nicht vergessen konnte? Sie betrachtete Robs Hand, die auf ihrer lag, und seufzte. „Ich mache viel dummes Zeug, Rob. Schuld daran ist meine spitze Zunge, die jedesmal mit mir durchgeht. Falls wir die Schlacht verlieren sollten, so ist das ganz allein mein Fehler.“ Ihre Brauen zogen sich mißmutig zusammen. „Wie kann ich nur mehr Takt lernen?“ „Ich nehme an, daß Sie Ihre Streitereien mit Miles Moran meinen?“ Kirsten nickte unglücklich mit dem Kopf. „Nun gut, das ist durchaus verständlich. Sie sehen in ihm den gefährlichen Gegner, die Hauptbedrohung für all unsere Hoffnungen.“ Er runzelte die Stirn und drückte Kirstens Hand fester. „Sie müssen ihn sich herbeigewünscht haben“, murmelte Rob. „Er kommt gerade herein.“ Kirsten blickte über ihre Schulter zur Schwingtür. Als sich ihre Blicke trafen, wandte Miles Moran sich ab. Er mußte Robs zärtlichen Händedruck bei Kirsten bemerkt haben, der von Miles sicherlich als ein Zeichen der Zuneigung gedeutet wurde. Bitter stieß sie hervor: „In schöner Begleitung.“ „Ist das nicht Lara Holland, das Mädchen aus der Apotheke, die die Arzneimittel immer zubereitet?“ „Genau die.“ Kirsten schaute wieder Rob an. Sie nahm einen Kaffeelöffel in die Hand und betrachtete angestrengt dessen Gravur. „Die kluge, witzige, schöne Blonde, die sich Lara nennt. Die gut versorgte Freundin des ebenfalls klugen, witzigen und ansehnlichen Miles Moran.“ Kirsten bemerkte, wie Rob seine Stirn voller Unmut runzelte. Sie nahm an, daß sie wieder einmal viel zu direkt gewesen war – oder vermutete er, daß sie eifersüchtig war? „Die beiden sind ein schönes Paar, meinen Sie nicht auch?“ endete Kirsten bitter. „Das sind wir, nicht wahr, Miss Hume?“ Kirsten schloß die Augen und dachte: Oh, nein, nicht schon wieder! Es war nicht
das erstemal gewesen, daß Rob versucht hatte, sie zu warnen. Ihr Blick hob sich langsam zu seinen kühlen, grauen Augen empor. Ja, es war offensichtlich, daß er sich wieder einmal über sie lustig machen wollte. „Ich bin aufs höchste erfreut, daß Sie mich klug und witzig nennen, ganz geschweige von ansehnlich, Miss Hume. Wenn ich nicht den sarkastischen Ton in Ihrer Stimme vernommen hätte, so hätte ich sagen können, daß es die ersten netten Worte waren, die ich je von Ihnen gehört habe.“ Er wandte sich zu ihrem Begleiter. „Ich wünsche Ihnen einen gemütlichen Abend, Rob.“ „Danke vielmals.“ „Um nichts in der Welt möchte ich Ihren Platz einnehmen.“ Miles machte eine kurze, spöttische Verbeugung vor Kirsten und begab sich zu seiner matt lächelnden Partnerin. „Mmh“, murrte Rob vorwurfsvoll. „Wenn Sie eine Sache anpacken, dann machen Sie es aber auch gründlich, oder?“ „Ist es meine Schuld, wenn Miles Moran immer hinter Leuten herschleicht, um zu lauschen?“ „Er brauchte wohl kaum zu lauschen. Ihre Stimme war so laut, daß sie durch den ganzen Raum hallte.“ „Ich bin froh“, erwiderte Kirsten und dachte an den Kuß, den Miles ihr gestern abend gestohlen hatte, dem dann die häßlichen Beschuldigungen gefolgt waren. „Ich bin froh, froh, froh!“ Rob bemerkte ihren verzweifelnden Blick und ahnte, daß die Tränen nicht mehr weit entfernt waren. „Ist schon gut“, sagte er und streichelte ihre Hände. „Als ich Sie heute abend hierher brachte, hatte ich gehofft, daß wir all unsere Sorgen für einen Augenblick vergessen würden.“ Kirsten biß sich auf die Unterlippe. „Es tut mir leid, Rob.“ Sie lächelte ihn an und nahm seine Hand. „Ich weiß einfach nicht, wie Sie es mit mir aushalten können.“ „Das ist mir auch ein Rätsel“, antwortete Rob kopfschüttelnd. Zwei Tage später holte Rob Kirsten und ihren Großvater zu einer Versammlung in der Dorfschule ab. Der Saal war voll, und das Stimmengewirr verwandelte sich in erwartungsvolles Schweigen, als Rob in seiner Funktion als Schulleiter das Podest betrat. Nach einer kurzen Einführung bat er Kirsten um ihren Bericht. Kirsten erhob sich, eine schlanke, herausfordernde und ansprechende junge Gestalt, und teilte den Zuhörern mit, daß man noch nicht große Fortschritte erreicht habe. Sie hätten zahlreiche Briefe an den Kulturausschuß geschrieben, der die Angelegenheit jedoch anscheinend als nebensächlich erachtete, da für ihn die ChartonDorfschule wohl bereits aufgehört habe zu existieren. Eine Frau aus dem Publikum erkundigte sich, ob denn überhaupt keiner von der Behörde auf ihrer Seite stünde. „Wohl kaum“, entgegnete Kirsten. „Wie Sie sicherlich wissen, ist der Vorsitzende des Kulturausschusses aus dem Ausland zurückgekehrt“, sie räusperte sich, um ihrer Stimme mehr Festigkeit zu verleihen, „und ich habe mit ihm gesprochen. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß seine Haltung hemmend und unerbittlich ist und…“, ein versteckter Knuff von Rob unterbrach ihren Redestrom. Mit seinem Kopf verwies er auf einen Zuschauer hinten im Saal. Sogar im Sitzen wirkte Miles Moran furchterregend. „Und“, stammelte Kirsten, indem sie tief Luft holte, „und ich kann Ihnen in dieser Hinsicht nicht viel Hoffnung machen. Es bleibt uns nur noch übrig, unsere Kampagne zu verstärken.“ Unwillkürlich suchte sie seine Augen in der Dunkelheit, die nicht von ihr gelassen hatten.
„Wir dürfen auf keinen Fall unser Ziel aufgeben. Wir müssen um die Existenz unserer Schule kämpfen, die dem Dorf Charton bereits jahrzehntelang gedient hat.“ Mit lang anhaltendem Applaus reagierte das Publikum auf die temperamentvoll und feurig vorgebrachte Rede der jungen Frau. „Noch irgendwelche Fragen?“ fragte Rob die Zuhörer. Miles Moran erhob sich. Kirstens Herz begann höher zu schlagen, als sie bemerkte, wie seine breiten Schultern und seine schlanke Gestalt durch die lässige Kleidung besonders betont wurden. Sein braunes kurzärmeliges Hemd gab seine dunklen, behaarten Arme frei, und die goldene Armbanduhr an seinem Handgelenk glitzerte in der hereinfallenden Abendsonne. Ein Raunen ging durch den Saal, als man den Mann erkannte, über den Kirsten gerade gesprochen hatte. „Ich möchte die Rednerin fragen“, begann er, und seine tiefe Stimme hallte von der hohen Decke zurück, „warum sie unter allen Umständen diese Dorfschule erhalten will, da sich doch im benachbarten Dorf eine weitaus modernere Schule befindet, die mit Leichtigkeit die Kinder von Charton aufnehmen kann. Und was noch wichtiger ist, mit ausreichenden und modernen Räumen, in denen man sie unterrichten kann.“ Ein Gemurmel ging durch den Saal, doch Kirsten nahm sich nicht die Zeit, nachzudenken, ob es sich für oder gegen Moran richtete. In Sekundenschnelle war sie auf ihren Beinen und ihre Wangen glühten vor Erregung. „Wenn man das Alter des Hauses betrachtet, das sich der Fragesteller am Rande des Dorfes gekauft hat, und worauf er so stolz ist“, sie überhörte Robs Ermahnung, „so müßte er doch eigentlich verstehen, daß etwas, nur weil es alt ist, nicht gleich auf die Müllkippe wandern muß.“ Rob lehnte sich zu ihr hinüber und wisperte: „Kirsten, Sie müssen aufhören!“ „Er sollte ebenfalls bedenken“, fuhr sie unbeirrt fort, „daß viele aufeinanderfolgende Generationen von glücklichen Kindern durch diese Schule gegangen sind, die noch heute von ihrer Fröhlichkeit und Zufriedenheit geprägt ist.“ Miles Moran sprang sofort auf, und Rob forderte ihn unverzüglich zum Sprechen auf. Er mußte Kirstens Redefluß unter allen Umständen stoppen. „Könnte die Rednerin bitte Gefühle beiseite lassen und den harten Tatsachen ins Auge schauen? Es ist die reinste Verschwendung von Steuergeldern, die Schule bei der geringen Anzahl ihrer Schüler offenzuhalten. Außerdem steht das Gebäude nun mehr als hundert Jahre. Die Klassenräume sind zugig und kalt im Winter, und durch die hochgebauten Fenster kann die Sonne im Sommer nicht eindringen. Das Lehrerzimmer ist mehr oder weniger ein kleiner Abstellraum.“ Ein erregtes Flüstern folgte seinen freimütigen Worten. „Ich wage sogar zu behaupten“, Miles setzte seine Rede fort, indem sein Blick auf dem schweratmenden Mädchen ruhte, das so hart für ihre Sache focht, „daß die Tage des Ruhms für die Schule – falls sie je welche gehabt hat – schon seit langem in Vergessenheit geraten sind.“ Es herrschte Totenstille, als Miles Moran seinen Platz einnahm. Die Hand einer Frau erhob sich, und Rob forderte sie zum Sprechen auf. „Ich möchte vorschlagen, daß wir über den Fortgang des Kampfes abstimmen sollten.“ Fast alle Hände schossen einmütig in die Höhe, so daß Kirstens Augen triumphal aufleuchteten. Ein Mann erhob sich und sprach: „Ich komme von einem Nachbardorf, wo wir leider vergeblich um unsere Dorfschule gekämpft haben. Sie müssen hier, um
erfolgreich zu sein, härter vorgehen als wir, selbst wenn sich die Maßnahmen außerhalb der Legalität bewegen sollten.“ Ein heftiger Applaus krönte den Beitrag. Miles erhob sich spontan und erwiderte: „Ich erachte es als meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, daß alle illegalen Handlungen gerichtlich verfolgt werden können!“ Mit blitzenden Augen war Kirsten auf ihren Füßen. „Darf ich Sie fragen, Mr. Moran, warum Sie zu dieser Dorfversammlung eigentlich gekommen sind?“ „Weil auch ich ein Dorfbewohner bin, liebe Miss Hume, und mir daher die Interessen des Dorfes am Herzen liegen.“ „Sie lügen!“ Ein Raunen ging durch den Zuschauerraum, doch Kirsten ließ sich nicht von ihrem Ziel abbringen. „Sie sind hier, Mr. Morgan, um für die Kommunalbehörden zu spionieren. Und in deren Sinn wollen Sie versuchen, uns zu beeinflussen.“ Sie fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. „Würden Sie daher bitte den Saal verlassen, damit wir unzensiert und frei unsere Pläne besprechen können.“ „Kirsten“, zischelte Rob, „Sie gehen zu weit!“ Aus der vorderen Reihe hörte sie die besorgte Stimme ihres Großvaters: „Verärgere diesen Mann nicht. Es kann nichts Gutes dabei herauskommen.“ Doch wie von Sinnen rannte Kirsten vom Podest hinunter und blickte Sekunden später Miles Moran gebieterisch ins Gesicht. „Würden Sie bitte sofort den Saal verlassen! Sonst werfe ich Sie eigenhändig hinaus.“ Mit beiden Händen drückte Kirsten gegen seine kräftige, unnachgiebige Brust, doch Miles rührte sich nicht vom Fleck. „Gehen Sie, gehen Sie!“ würgte sie hervor. Kirstens Handgelenke wurden mit einem eisernen Griff festgehalten. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, und seine Augen waren hart und blitzten wie zerschlagenes Glas im Sonnenlicht. Sein Atem ging kurz und schnell. „Sie werden dafür bezahlen, meine Dame“, sagte Miles wütend, doch so leise, daß nur sie es hören konnte. Dann wandte er sich um und verließ den Saal.
5. KAPITEL Kirsten sank erschöpft auf ihren Stuhl und verbarg das Gesicht in ihren Händen. Sie hatte sowohl einen gesellschaftlichen als auch taktischen Fehler begangen, so daß ihr nur noch der Rücktritt blieb. Die Leute versammelten sich um sie und versuchten, sie zu beruhigen. „Er hat es so gewollt“, sagte einer. „Ich hätte genauso gehandelt“, kommentierte ein anderer. Rob setzte sich zu Kirsten. „Alles in Ordnung?“ fragte er besorgte „Ein bißchen durcheinander“, murmelte sie. Eigentlich hätte sie ihm erwidern müssen, daß sie in ihren Grundfesten erschüttert worden sei und einen Mann vertrieben hatte, der ihr mehr als jeder andere auf der Welt bedeutete. „Eine Tasse Tee?“ Das war die Stimme ihres Großvaters. Kirsten nickte. „Ich werde sie zubereiten“, sagte Rob eilig. „Setzt bitte die Versammlung in der Zwischenzeit fort. Wir werden gleich wieder zurück sein. Kommen Sie, Kirsten.“ Als Kirsten den heißen Tee im Lehrerzimmer trank, begann sie zögernd: „Es tut mir so leid, Rob.“ Er zuckte nur mit den Schultern. Sie fuhr fort: „Ich werde den Sekretärinnenposten des Aktionskomitees zur Verfügung stellen. Nach meinem heutigen Auftritt bleibt mir keine andere Wahl.“ „Seien Sie nicht albern.“ „Rob“, Kirsten setzte ihre Tasse ab, „wollen Sie bitte in den Saal gehen und allen meinen Entschluß mitteilen. Sie sollen jemand anders wählen.“ Er seufzte. „Wenn das Ihr Wunsch ist.“ Er stellte seine Tasse hin und verließ sie. Für einen kurzen Augenblick gab es nur Schweigen, dann hörte sie, wie Rob sich an die Leute wandte. Er ist ein guter Schulleiter. Er könnte eine große Zukunft haben, dachte Kirsten müßig. Meinetwegen wird er wahrscheinlich seine Stellung verloren haben. Rob kehrte zurück. „Sie wollen Ihren Rücktritt nicht annehmen. Einmütig bekräftigten sie ihr Vertrauen, das sie zu Ihnen haben.“ Kirsten warf ihr Haar energisch zurück und erhob sich. „Das ist sehr nett von ihnen. Ich selbst habe momentan überhaupt kein Selbstvertrauen mehr!“ Die Versammlung wurde fortgesetzt, und Kirsten diskutierte weitere Maßnahmen für die Zukunft. „Wir könnten die Schule besetzen“, schlug eine junge Mutter vor. Rob schüttelte den Kopf. „Mit dieser Aktion würden wir selbst unsere Schule schließen. Der Vorsitzende des Kulturausschusses und seine Kollegen würden hocherfreut sein.“ „Sie würden ‘sich wahrscheinlich noch nicht einmal die Mühe machen, uns daraus vertreiben“, bemerkte ein anderer. Seine Worte wurden von Gelächter begleitet. „Mir ist etwas eingefallen“, stieß Kirsten hervor. „Wir könnten Charton House besetzen.“ „Aber dort lebt doch Mr. Moran“, antwortete Thomas Hume seiner Enkelin. „Das können wir nicht tun!“ „Warum nicht?“ fragte ein junger Mann. „Gegen ihn müssen wir doch vor allem kämpfen, oder? Als Vorsitzender kann er den Ausschuß so beeinflussen, wie er es will. Wenn er ihn zur Schließung der Schule überreden kann, indem er ihnen sagt, daß das die Lösung sei – so würde unsere Dorfschule ganz sicher dichtgemacht, nicht wahr? Die Idee ist also gar nicht so schlecht.“ „Doch wir kennen das Haus überhaupt nicht“, protestierte Thomas. „Aber ich, Grandpa. Erinnerst du dich nicht, daß er mich wegen meiner verletzten Beine einmal mitgenommen hat? Das einzige Problem, das sich uns stellt, ist die Frage, wann er nicht zu Hause…“
„Wie kommen wir da hinein, wenn der Mann außer Hauses ist?“ fragte Thomas Hume. „Das ist ganz einfach“, antwortete Kirsten unter dem Lachen des Publikums. „Wir werden seiner Haushälterin weismachen, daß wir Mr. Moran in einer dringenden öffentlichen Angelegenheit sprechen müssen und daher auf ihn warten wollen.“ Der junge Mann fügte hinzu: „Ich arbeite in dem Zeitungsladen neben der Apotheke. Mr. Moran hält sich sehr oft dort auf, da Lara Holland seine Freundin ist. Ich frage daher Pat, das andere Mädchen, was die beiden verabreden. Auf diese Art könnten wir erfahren, wann Mr. Moran außer Hause ist.“ Rob erklärte danach die Versammlung für beendet, und die Zuschauer entfernten sich langsam. Aus der Mitte des Saales trat eine lächelnde, blonde und selbstbewußte junge Frau zu Rob und Kirsten. Sie reichte Rob die Hand. „Ich bin Ann Tulley, die neue Leiterin der Schule, die ihre Kinder aufnehmen soll. Ich würde Sie sehr gern unterstützen, nicht weil ich Ihre Schüler ablehne, sondern weil ich finde, daß Sie im Recht sind.“ Kirsten bemerkte sofort die Wärme in Robs Augen, als er die junge Lehrerin betrachtete. Ein Zeichen dafür, dachte sie müde, wie recht sie hatte, daß sie für Rob nicht die richtige Frau war. Erst kürzlich hatte sie erkennen müssen, wie sehr sie ihn mit ihrem Benehmen gegenüber Miles Moran bedrückt und irritiert hatte. Diese Tatsache hatte sie ebenfalls verwirrt! Die Wirksamkeit dieser Waffe hatte sie erheblich unterschätzt. Doch war Rob dadurch nun wohl klar geworden, daß sie nicht die Frau verkörperte, die er heiraten wollte. Kirsten schaute auf Ann Tulleys Hände. Sie trug keinen Ring. „Das ist sehr nett von Ihnen, Miss – Mrs. – Tulley…“ „Miss Tulley“, erwiderte die junge Frau. „Nennen Sie mich aber bitte Ann. Sie heißen…?“ „Ich heiße Rob, Rob Bowes. Schauen Sie, geben sie mir doch am besten Ihre Adresse – nein, nicht die der Schule – die ist mir bekannt. Ihre Privatadresse.“ Er schrieb sie sich auf. „Telefonnummer?“ Er ist echt an ihr interessiert, dachte Kirsten schmunzelnd. Ich freue mich darüber, ich freue mich aufrichtig darüber. Und so, wie sie ihn betrachtet, scheint auch sie ihn zu mögen. Wenn doch meine Probleme ebenfalls so leicht gelöst werden könnten! Kirsten seufzte tief auf, doch weder Rob noch seine neue Freundin Ann hatten es bemerkt. Am nächsten Abend erschien Jim Rayburn bei Kirsten. Er war der junge Mann, der auf der Versammlung gesprochen hatte. „Ich habe gerade das Lokalblatt durchgesehen“, sagte er aufgeregt, „und eine Notiz über den Kulturausschuß entdeckt, der sich übermorgen in der County Hall versammelt. Es ist eine öffentliche Sitzung, die nachmittags um drei beginnt. Was halten Sie davon, wenn wir einige Elternpaare zusammenholen, um gemeinsam dorthin zu fahren?“ Kirsten willigte spontan ein, da sie sicher sein konnte, daß Rob ihren Unterricht mit übernehmen würde. „Wie kommen wir zur County Hall, Jim? Mit dem Auto benötigen wir über eine halbe Stunde Fahrzeit.“ „Wir werden schon einige Wagen finden, in denen wir eben ein bißchen zusammenrücken können. Auf jeden Fall werde ich an der Schule auf Sie warten. Okay?“ „In Ordnung. Viel Glück bei der Suche nach Elternpaaren!“ Am nächsten Tag hatte Kirsten gerade die Pausenaufsicht, als Andy Brown zu ihr gelaufen kam. Seit dem Tag, an dem er sie geschlagen und sie ihn getröstet und nicht gescholten hatte, kam Andy oft in der Pause zu Kirsten, um ganz kurz seine
Hand in ihrer zu schmiegen. Kirsten wußte, daß er nach einem Halt in seinem trostlosen und leeren Leben suchte. Zwischenmenschliche Beziehungen, sagte sie zu sich selbst, während sie beobachtete, wie Andy zu seinen Freunden zurückkehrte, sind das Wichtigste im Leben. Sie stutzte plötzlich bei dem Gedanken und dachte betroffen: warum wende ich diesen Grundsatz nicht in meinem Leben und Handeln an? Warum kann ich von meiner starren Haltung Miles Moran gegenüber nicht abweichen und ihn meine guten Seiten erkennen lassen? Nein, warf sie sich vor, ich will nicht an Miles Moran denken. In diesem Augenblick sah Kirsten, wie ein eleganter, weißer Wagen vor der Schule hielt. Zwei Herren entstiegen ihm und bewegten sich Richtung Schultor, das der Kinder wegen vorsichtshalber abgeschlossen war. Da Kirsten die Pausenaufsicht führte, mußte sie natürlich das Schloß öffnen. Das war ihre große Chance, sagte sie zu sich selbst, um ihr schändliches Benehmen Miles gegenüber wiedergutzumachen. „Guten Morgen, Miss Hume.“ Miles’ Stimme klang barsch und unpersönlich. Er erschien ihr wie ein Fremder, als ob sie nie in seinen Armen gelegen, nie seine Lippen gefühlt hätte. Kirsten zwang sich zu einem Lächeln. Es mußte ein sehr nettes Lächeln gewesen sein, da der kleine, untersetzte Mann an Miles’ Seite spontan mit einem strahlenden Gesichtsausdruck reagierte. „Ich bin hocherfreut, Sie zu treffen, Miss Hume. Ihr Ruhm ist Ihnen vorausgeeilt.“ Kirsten runzelte errötend die Stirn. „Ist sie die widerspens…“, er räusperte sich verlegen. „Ist sie die junge Dame, von der du mir erzählt hast, Miles? Ich kann das einfach nicht glauben.“ Sein flinker Blick erfaßte ihr Haar, ihre weiten, braunen Augen und ihre vollen Lippen. „Honig, Blumen und goldene Sonnenuntergänge, daran erinnert sie mich sofort, aber nicht an eine…“ „Ist Mr. Bowes zu sprechen?“ unterbrach Miles ihn scharf. Für Kirsten war es nunmehr nicht schwierig, zu erraten, wie Miles Moran sie beschrieben hatte. „Ja, Mr. Moran, er ist in seinem Studio. Soll ich Sie begleiten?“ Das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht, und die Augen strahlten vor Freundlichkeit. „Ich kenne den Weg. Ihr Platz ist hier auf dem Schulhof.“ Seine Augen betrachteten sie spöttisch: „Um Andy Brown zu streicheln. Komm, Steve, hier geht es lang.“ Kirsten lächelte, bis die beiden Männer im Schulgebäude verschwunden waren. Danach erfror ihr Lächeln sofort. Dies war nun ihr erster Versuch gewesen, um ihre Beziehung zum Vorsitzenden des Kulturausschusses zu verbessern. Sie wußte, daß es lange Zeit brauchte, bis er ihr die Schmach vergeben würde, die sie ihm zugefügt hatte. Falls er es überhaupt tun würde. In der Mittagspause sprach Rob kaum über den Besuch Miles Morans. „Haben Sie über die Schließung der Schule gesprochen?“ fragte Kirsten. „Sie war eins unserer Themen, die wir angeschnitten haben.“ Mehr konnte Kirsten nicht in Erfahrung bringen. Da er als Schulleiter – trotz ihrer Freundschaft – eine privilegierte Stellung besaß, hatte sie nicht das Recht, noch weitere Fragen zu stellen. Wenn es positive Nachrichten gegeben hätte, so hätte Rob sie ihr sicherlich mitgeteilt. Rob erhob jedoch keine Einwände gegen einen Besuch in der CountyHall. „Ich werde Sie heute abend anrufen und Sie über…“ „Äh, nicht heute abend“, unterbrach Rob sie. „Ich sehe jemanden – ich meine, ich treffe eine…“ „Freundin“, ergänzte Kirsten lächelnd. „Es ist doch nicht etwa Miss Tulley?“ Rob errötete. „Ich hoffe, daß Sie nichts dagegen haben, Kirsten.“
„Ich freue mich aufrichtig, Rob. Ich predige schon seit Jahren, daß ich nicht die Richtige für Sie bin. Sie ist – sie ist sehr nett.“ „Danke.“ Er spielte mit einem Kugelschreiber. „Ich bin ganz Ihrer Meinung.“ Jetzt, dachte Kirsten, als sie nach draußen ging, um sich mit Jim Rayburn zu treffen, befinden sich zwei Menschen auf dem Weg ins Glück. Sie war froh darüber, sagte sie sich – wütend, denn sie wollte ja Karriere machen, und eine Heirat kam für sie daher überhaupt nicht in Betracht. Auf der Fahrt zur County Hall lud Jim noch drei weitere Leute ins Auto ein. Vor dem eindrucksvollen Gebäude aus Beton und Glas hatte sich eine aufgeregte Gruppe versammelt. Da Kirsten die Leiterin war, übernahm sie das Kommando. „Zuerst werden wir zuhören. Dann…“ „Die Besucher dürfen nicht unterbrechen“, fiel ein Mann, den die anderen Ben nannten, ihr ins Wort. „Wir können nur zuhören, und wenn wir gegen die Regeln verstoßen, sind die anderen berechtigt, uns hinauszuwerfen.“ Kirsten zuckte gleichgültig die Schulten, da sie die Regeln bereits kannte. „Im Kulturausschuß befinden sich mehrere Lehrervertreter“, erwiderte sie, „die unser Problem verstehen und uns daher unterstützen werden.“ Bald darauf marschierte die kleine Schar hintereinander in das Gebäude. Ein Sicherheitsbeamter führte sie die Treppe hinauf und öffnete ihnen die Tür, die auf die halbkreisförmige Besuchergalerie führte. Der Blick von dort oben war beeindruckend. „Gewöhnlich werden die Sitzungen nicht in dem großen Beratungsraum abgehalten“, erklärte er. „Da die Öffentlichkeit heute jedoch Zutritt hat, trifft sich der Ausschuß wegen der Besuchergalerie hier.“ Geld hatte bei der Gestaltung des Raumes wohl kaum eine Rolle gespielt, dachte Kirsten verbittert. Der Grundriß des Beratungszimmers war ein Halbkreis, und die Sitzreihen stiegen nach hinten an. In der Mitte befand sich ein langer Tisch mit sechs oder sieben Stühlen. Mit ihren hohen Rückenlehnen sahen sie sehr gewichtig aus. Der mittlere Stuhl wirkte solider und gediegener als die anderen, da er geschnitzt und mit Samt bezogen war. Die Mitglieder des Kulturausschusses betraten nacheinander den Raum. Es waren mehr als vierzig, schätzte Kirsten. Ihre Augen suchten krampfhaft, doch vergeblich die selbstherrliche, etwas beängstigende aber ungemein anziehende Gestalt von Miles Moran. Als Kirsten gerade enttäuscht feststellen wollte, daß er heute nicht den Vorsitz führte, betrat Miles an der Spitze von drei oder vier Herren den Saal. Er trug einen feingestreiften Anzug und ein weißes Hemd, das durch eine geschmackvolle schwarzrote Krawatte besonders betont wurde. Seine Haltung wirkte stolz, und seine schwarzen Haare fielen ihm leicht auf die Stirn. Kirstens Blick streifte über seine klassische Nase zu seinem Mund, der – wie sie aus Erfahrung wußte – auf seine besitzergreifende Art einen Frauenmund vollkommen beherrschen konnte. Kirsten war in der Betrachtung dieses Mannes so versunken gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie seine Blicke die Besuchergalerie abgesucht hatten und schließlich auf ihrem erregten Gesicht zur Ruhe gekommen waren. Sie fühlte sich wie ertappt, als sie seine hochgezogenen Augenbrauen sah. Er würde ihr nie verzeihen. „Sie werden dafür bezahlt“, hatte er sie gewarnt, als sie ihn aus dem Saal verwiesen hatte. Den mittleren Stuhl nahm Miles Moran ein. An der einen Seite von ihm saß der Schulrat, ein älterer Herr, den Kirsten kurz einmal kennengelernt hatte, auf der andere Seite saß der stellvertretende Schulrat fürs Volksschulwesen. Sie alle erschienen Kirsten wie ein Tribunal, das sich gegen ihre Dorfschule verschworen hatte!
Eine grauhaarige Dame, die ebenfalls an dem Tisch saß, begann eifrig Notizen zu
machen, sobald das Gespräch begann. Sie schien die Sekretärin des Ausschusses
zu sein.
Die Versammlung begann ruhig, und Kirsten hörte den Reden müßig zu. Hinter
ihr und um sie herum saßen zwölf Anhänger der Kampagne: „Rettet unsere
Schule.“
Als sich jedoch der Schulrat erhob und mit den Worten begann: „Ich möchte die
Anwesenden über den Stand der Dinge informieren, die die Schließung der
ChartonVolksschule betreffen“, setzte sich Kirsten kerzengerade hin und ballte
ihre Hände erregt zu Fäusten.
Vorrangig, fuhr der Redner fort, seien finanzielle Überlegungen. Durch die
Schließung der Schule könne man Geld einsparen.
Voller Zorn rief Kirsten aus: „Und wie steht es mit den Kosten für den Bus, der
die Kinder hin und her befördern muß?“
Eine Frau neben ihr zischelte: „Wir dürfen hier nicht sprechen.“
Der Vorsitzende stand auf, hob den Kopf und schaute Kirsten direkt in die Augen.
Tiefe Verärgerung konnte man von seinen Gesichtszügen ablesen. „Wenn auf der
Besuchergalerie nicht Ruhe herrscht, so muß sie geräumt werden.“
„Zweitens“, fuhr der Schulrat fort, „müssen wir das hohe Alter des Gebäudes und
seinen schlechten Zustand in Erwägung ziehen.“
Bei diesen falschen Aufgaben konnte Kirsten unmöglich die Ruhe bewahren. Trotz
der vielen ,Psts’ um sie herum erhob sie sich wütend.
„Das Gebäude mag alt sein, doch mit ein bißchen Farbe und…“
Miles Moran drehte sich zu ihr um. „Wenn die Besucherin trotz meiner
Verwarnung weiterhin unterbricht, so muß ich sie des Saales verweisen lassen.“
In atemloser Stille nahm Kirsten ihren Platz ein. Gott sei Dank, dachte sie,
konnte niemand ihr heftig pochendes Herz und ihren rasenden Puls hören. Angst
legte sich wie eine kalte Hand auf ihr Gemüt.
„Außerdem“, fuhr der Sprecher fort, „gibt uns die ständig sinkende Schülerzahl
zu denken. Wir haben eine Statistik über die zu erwartende Anzahl der Schüler
erstellt, die in den nächsten Jahren die Schule besuchen werden. Die dabei
errechneten Zahlen rechtfertigen auf keinen Fall den Weiterbestand der Schule.“
Sie mußte es sagen, sie konnte nicht länger ruhig bleiben!
„Natürlich steigt die Bevölkerungszahl nicht an! Wie kann sie auch, wenn das
Planungskomitee den Bau von zwölf Häusern untersagt hat.“
„Entfernen Sie die Frau“, befahl der Vorsitzende, „oder besser, räumen Sie die
ganze Besuchergalerie.“
„Das ist nicht fair!“ rief Jim Rayburn aus. „Wir waren ruhig. Warum können wir
nicht bleiben?“
„Räumen Sie die Besuchergalerie!“ bestand der Vorsitzende.
„Das ist nicht demokratisch“, protestierte ein anderer. „Wir haben das Recht…“
„Wenn ich als Vorsitzender anordne“, stieß Miles Moran hervor, „daß die Galerie
geräumt wird, dann ist dem Folge zu leisten. Machen Sie Ihre Anführerin dafür
verantwortlich.“
„Sollen wir die Polizei rufen?“ fragte die Sekretärin mit absichtlich erhobener
Stimme.
„Ja, falls nötig, Miss White“, kam die gereizte Antwort. Er hob seinen Blick und
beobachtete, wie die Besucher langsam den Saal verließen.
„Ich bleibe!“ Kirstens herausfordernde Stimme hallte durch den ganzen Raum.
Ärgerliches Gemurmel war von Seiten der Mitglieder zu vernehmen.
Die Hand der Sekretärin ergriff den Telefonhörer. „Die Polizei, Sir?“
„Polizei? Nein. Ich werde schon mit ihr fertig.“ Miles warf den Stoß Papier, den er
gerade in den Händen hielt, auf den Tisch, stieß seinen Stuhl zurück und rannte flink die Stufen zur Besuchergalerie hoch. Kirsten sah ihn kommen. Sie begann zu zittern, da sie seine Absicht nicht kannte. Würde er versuchen, sie mit ruhigen Worten umzustimmen? Doch als er ihr direkt ins Angesicht schaute, konnte sie seinen großen Zorn ermessen. Kirsten spürte nackte Angst in sich aufsteigen. Seine Hände faßten ihre Arme mit einem eisernen Griff. Vor lauter Schmerzen bemerkte Kirsten kaum das Raunen und Gemurmel der Zuschauer. Miles Augen waren hart und blitzten wie ein Diamant. „Sie haben es so gewollt“, stieß er zwischen seinen Zähnen hervor, „und bei Gott, Sie werden es erleben!“ Er ergriff sie bei den Schultern, drehte sie mit dem Rücken zu sich und faßte um ihre Taille. Sie wurde in die Höhe gehoben und leicht wie eine Feder entwürdigend von der Besuchergalerie getragen. Sie wollte auf jeden Fall wieder hinunter! Sie strampelte mit den Beinen und wand sich mit dem Körper hin und her. Doch ihre Gegenwehr verstärkte nur noch den erstickenden Griff seiner muskulösen Arme. „Lassen Sie mich hinunter!“ jammerte Kirsten. „Sie tun mir weh!“ „Es wird Zeit, daß Sie jemand zur Vernunft bringt. Sie brauchen eine starke Hand, und ich besitze zwei sehr, sehr starke. Und ich schwöre Ihnen, daß ich sie, falls nötig, gegen Sie benutze.“ An der Glastür zum Vorraum setzte Miles sie ab. Kirsten krümmte sich vor Schmerzen, doch war er noch nicht fertig mit ihr. „Kommen Sie“, befahl er, „raus mit Ihnen.“ „Nein, nein!“ Um sie herum standen all ihre Mitstreiter und wurden Zeugen ihrer Demütigung. „Bitte, ich werde mich benehmen.“ „Das glaube ich Ihnen nicht. Raus, sagte ich“, wiederholte Miles, „und Sie werden hinausgehen.“ Er faßte sie am Kragen ihres Kleides und dirigierte sie hinaus. Draußen vor der Glastür vergrub Kirsten ihr Gesicht in den Händen. Die Tränen drohten jeden Moment hervorzubrechen, und der Schock würde sie schütteln. Sie sagte mit zitternder Stimme: „Haben Sie nun endlich Ihre Genugtuung gehabt, Mr. Moran? Haben Sie sich für die Schmach gerächt, die ich Ihnen in der Schule zugefügt habe?“ Ein tiefes Schluchzen erfüllte ihre Brust. „Doch ich habe Ihnen nicht weh getan.“ Kirsten sank auf die obere Stufe und weinte bitterlich. Für einen Moment spürte sie seine Füße noch neben sich, doch dann wußte sie, daß er gegangen war. Ihre Freunde versammelten sich um sie und lobten ihren Mut. Jim Rayburn saß neben ihr auf der Steinstufe und hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. „Nun fassen Sie sich wieder, Kirsten. Auf jeden Fall haben wir unseren Standpunkt dargelegt, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn jeder von uns schweigend dagesessen hätte.“ Er war nett zu ihr, dachte Kirsten. Er versuchte ihr Verhalten vor den anderen zu rechtfertigen. Sicherlich dachte er im Inneren genauso wie Rob Bowes und ihr Großvater, wenn sie von ihrem Ausbruch hören würden, der ihrer Sache nicht gedient hatte. „Ich gebe mich noch nicht geschlagen, Jim“, sagte Kirsten, als sie sich ihre Tränen trocknete. Der bloße Gedanke an Miles’ Benehmen erweckte Kirstens Kampfgeist zu neuem Leben. Wenn er glaubte, daß er sie gefügig gemacht hatte, so würde er bald feststellen, daß er sich in ihrem Charakter getäuscht hatte. Eine Gruppe von Leuten strömte aus dem Gebäude in alle Himmelsrichtungen. Jim Rayburn stieß erregt hervor: „Das ist der Kulturausschuß. Seltsam! Dort ist Mr. Moran, Kirsten.“ Sein Arm ruhte immer noch auf Kirstens Schulter. „Er hat
Sie gesehen.“ „Kommt er hierher?“ wisperte Kirsten halb furchtsam und halb hoffnungsvoll. „Nein. Warten Sie eine Minute“, er streichelte ihren Rücken, „ich werde herausfinden, was da vor sich geht.“ Jim verließ Kirsten, und sie hörte ihn fragen: „Mr. Moran, können Sie uns sagen, ob sie eine Entscheidung gefällt haben?“ Kirsten lauschte plötzlich wie angespannt. Doch Miles Morans kühler und autoritärer Ton dämpfe von vornherein jegliche Hoffnung. „Die Sitzung ist auf einen anderen Tag verschoben worden und wird nicht öffentlich sein.“ Jim runzelte unwillig die Stirn. „Warum, Mr. Moran? Das ist eine öffentliche Angelegenheit. Wenn wir heute hinein durften…“ „Schuld daran ist Ihre ungeschickte Sprecherin. Sie sollte ihre unreifen Wutausbrüche drosseln.“ Seine Augen blickten kalt zu ihr herab. „Durch ihr Verhalten hat sie die wenigen, die der Aktion positiv gegenüberstanden, ganz sicherlich umgestimmt.“ „Für was, Mr. Moran?“ Kirsten versuchte seinem kühlen Blick standzuhalten, doch versagte sie kläglich. Er bewegte sich langsam auf sie zu und schaute mit schmalen Augen auf ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie wünschte sich, daß sie nicht mehr so kindisch auf der Stufe sitzen würde. Er konnte auf sie herabschauen, wie auf ein kleines Kind. „Für die Schließung der Schule, Miss Hume.“ Mit Zorn in der Stimme fuhr er fort: „Werden Sie niemals lernen, Ihre dumme, impulsive Zunge zu zähmen?“ Kirsten warf ihr Haar zurück. „Machen Sie mir Vorwürfe, nur weil ich die Wahrheit gesagt habe, Mr. Moran?“ Er betrachtete sie für einen langen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf, als sei er zu dem Schluß gekommen, daß es hoffnungslos mit ihr sei. Mit einem Blick auf seine Uhr sagte Miles: „Entschuldigen Sie mich bitte – ich muß zu einer anderen Sitzung, die meine persönlichen Geschäfte betrifft.“ Er lächelte, jedoch ohne Belustigung. „Dort wird es keine aufrührerische, gesetzesbrechende Rebellin geben, die sich gegen alles ungestüm auflehnt und sich damit unerbittliche Feinde schafft. Alle könnten ihre Freundin sein, wenn sie mit Charme und Takt handeln würde.“ Er ging die Stufen hinunter und verschwand mit seinem weißen RollsRoyce im dichten Verkehrsgetümmel. Groll stieg in Kirsten auf, als sie Miles wegfahren sah. Sein Verhalten ihr gegenüber war nicht mehr zu entschuldigen. Er hatte sie dermaßen mißhandelt, daß sie die Blutergüsse, die seine Hände auf ihrer Haut verursacht hatten, noch lange spüren würde. Außerdem war er ohne ein Wort des Bedauerns fortgegangen. Kirsten stieg mit Jim Rayburn die Treppen hinunter. Ihr alter Kampfgeist war wieder erwacht. Sie würde ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen! „Alle mal herhören“, rief Kirsten aus. „Wir haben doch einen Plan entworfen. Warum führen wir ihn nicht aus? Wir besetzen das Haus des Vorsitzenden des Kulturausschusses!“ „Aber wie kommen wir hinein?“ fragte eine Frau. „Wir können dort schließlich nicht einbrechen“, äußerte ein anderer. „Überlassen Sie das nur mir“, erwiderte Kirsten. „Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.“ Sie stiegen in ihre Autos und fuhren zum Dorf zurück, wo sie den Weg zum ChartonHaus einschlugen. Die Haustür öffnete sich, und die Haushälterin stand vor ihnen. Sie war korpulent, weißhaarig und blaß und runzelte die Stirn. Nicht aus Unmut, stellte
Kirsten fest, sondern wegen eines körperlichen Unwohlseins.
„Guten Tag, Mrs. McBride“, begann Kirsten strahlend. „Ich weiß nicht, ob Sie sich
noch an mich erinnern…“
„Miss Hume, nicht wahr?“ erwiderte die Haushälterin mit leiser und geschwächter
Stimme. „Die Dorfschullehrerin?“
Kirsten nickte mit dem Kopf. „Einmal war ich bereits hier, vor gar nicht langer
Zeit. Mr. Moran brachte mich nach einem – Schulunfall hierher.“
Mrs. McBride nickte zustimmend. „Ich erinnere mich. Kann ich Ihnen irgendwie
behilflich sein, Miss? Ich fühle mich heute nicht sehr wohl. Ich habe bereits mit
Miss Holland telefoniert, und sie riet mir, einen Arzt aufzusuchen. Außerdem hat
sie mir ein Medikament versprochen. Wenn es mir morgen nicht besser geht,
werde ich zum Doktor gehen. Ich wollte mich gerade etwas hinlegen, aber…“
„Bitte, lassen Sie sich nicht stören, Mrs. McBride. Wir wollten nur wissen, ob Mr.
Moran nicht zufällig zu Hause ist?“
Die Haushälterin schüttelte den Kopf. „Er wird zum Abendessen zurück sein,
vielleicht etwas eher. Soll ich ihm ausrichten, daß Sie ihn sprechen wollten?“
„Ich – hm – dachte, Mrs. McBride“, stotterte Kirsten, „daß Sie uns hereinlassen
könnten, und wir warten auf seine Rückkehr.“ Die Haushälterin wollte gerade mit
dem Kopf schütteln, als Kirsten schnell hinzufügte: „Schauen Sie, viele meiner
Freunde sind von außerhalb gekommen. Es würde für sie recht schwierig sein,
wegzufahren und später zurückzukehren.“
Es war offensichtlich, daß Mrs. McBride zu schwach war, um zu argumentieren.
Sie öffnete die Tür und ließ die Gruppe eintreten. Kirsten stieß erleichtert einen
Seufzer aus. Das erste und schwierigste Hindernis war genommen. Mit Mrs.
McBride im Bett wurde die ganze Angelegenheit einfacher, als sie je zu hoffen
gewagt hätte.
„Ich weiß den Weg zu Mr. Morans Wohnzimmer, Mrs. McBride. Sie brauchen ihn
uns nicht zu zeigen.“
Die Haushälterin nickte und wartete, bis Kirsten ihre Freunde fortgeführt hatte,
und verschwand dankbar nach oben.
Sie machten es sich im Wohnzimmer bequem. Als Stühle und Sofas besetzt
waren, ließen sich die übrigen auf dem weichen Teppich nieder. Kirsten gesellte
sich zu ihnen, und das lange Warten begann.
6. KAPITEL Die Zeit verging schneller, als sie erwartet hatten. Sie scherzten miteinander und diskutierten den Erfolg der Kampagne. Die Mütter sprachen sich untereinander ab, wer ihre Kinder nach Schulschluß hüten sollte. Da die Ausschußsitzung ursprünglich für länger angesetzt war, hatten die meisten Mütter für ihre Kinder eine Bleibe organisiert. Doch Miles Moran ließ auf sich warten. Wenn sie ihn erst einmal in ihrer Gewalt hatten, würden sie ihm schon ihren Standpunkt veranschaulichen und ihn überreden, ihren Kampf zu unterstützen. Als es an der Haustür klopfte, wurde Kirsten vor Schreck fast ohnmächtig. Doch überwandt sie sich sofort und rannte durch die Halle. Sie wollte auf jeden Fall verhindern, daß Mrs. McBride durch ein erneute Klopfen geweckt wurde. Schwungvoll öffnete sie die Tür. Miles Moran stand auf der Treppe und suchte nach seinem Schlüssel. Er blickte hoch und sah ein blondes und nervös lächelndes Mädchen, das ihn zu Hause willkommen hieß. Beinahe hätte er seinen Schlüsselbund fallen gelassen. „Was zum Teufel tun Sie hier? Wo ist Mrs. McBride?“ „Bitte, kommen Sie herein“, erwiderte Kirsten großmütig. „Es ist alles in Ordnung, Mr. Moran. Wir hatten sie nicht mißhandelt, so wie Sie es mit mir gemacht haben.“ Er musterte sie prüfend von obentb^S unten. „In meinen Augen sehen Sie kerngesund aus.“ Kirsten errötete, als sein Blick für einen Moment auf ihren bebenden Brüsten ruhte. „Ihre Haushälterin fühlte sich nicht wohl. Sie ist zu Bett gegangen.“ „Und Sie haben beschlossen, ihren Platz einzunehmen?“ Der scharfe, beißende Ton wirkte wie kleine Nadelstiche, doch Kirsten wollte sich unter keinen Umständen provozieren lassen. Ruhe, Erhabenheit und ein enormes Selbstvertrauen waren in dieser delikaten Lage erforderlich. „Eigentlich nicht. Schauen Sie, wir…“ „Wir?“ Er lauschte angespannt und hörte das gedämpfte Gemurmel aus dem Wohnzimmer. „Was zum Teufel geht hier vor sich?“ Er stürmte an Kirsten vorbei ins Wohnzimmer und erblickte viele befangen lächelnde Gesichter. Das waren keine Profis, nur ganz gewöhnliche Menschen, die sich moderne Methoden angeeignet hatten, um für ihre Sache zu kämpfen. Miles Morans Anspannung ließ nach, und seine harten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „So, das ist also eine ,Interessenvereinigung’. Nun habe ich wenigstens einmal eine von Angesicht zu Angesicht erlebt!“ Ein befreiendes Gelächter über diesen humorvollen Empfang klang durch den Raum. Doch Miles schien es entgangen zu sein, warum sich diese Gruppe in seinem Wohnzimmer versammelt hatte, bis Kirsten sagte: „Wir haben Ihr Haus besetzt, Mr. Moran.“ Ein Anflug von Zorn verdunkelte seine Augen und nahm das Lächeln mit sich fort. Sekunden später hatte er sich jedoch wieder ganz unter Kontrolle. Er erwiderte kurz: „Nun gut, dann bin ich wenigstens nicht mehr allein. Ich hoffe, Sie vergeben mir, daß ich Sie nicht mit Essen und Übernachtungsmöglichkeiten versorgen kann. Das Haus ist zwar groß, aber es ist kein ErsteKlasseHotel.“ Der ironische Unterton in Miles’ Worten war nicht zu überhören. Er hatte sie absichtlich verlegen machen und um ihre Fassung bringen wollen. Irritiert schauten die ungebetenen Gäste ihre Anführerin an. Aber auch die war ebenso unerfahren in Hausbesetzungen.
Nervös fingerte Kirsten an ihren Haaren und strich das zerknitterte Oberteil ihres Kleides glatt – was allerdings erneut Miles’ Blick auf diesen Körperteil zog, der ihm am meisten zu gefallen schien. Wenn er die Absicht hatte, sie aus der Fassung zu bringen, so hatte er eine wirksame Methode gefunden. Abwehrend verschränkte Kirsten die Arme über der Brust. Für diese angestrengten Bemühungen erntete sie nur ein spöttisches Lächeln von Miles. „Wir werden…“ sie räusperte sich umständlich, „wir werden Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, Mr. Moran. Wir beabsichtigen nur hierzubleiben.“ Miles legte seine Aktentasche auf den Boden, steckte die Hände in die Hosentaschen und fragte scharf: „Mit welchem Ziel?“ „Um sie zu veranlassen, unseren Standpunkt zu verstehen“, erwiderte Kirsten offen. Viel zu offen, denn seine schmalen Augen richteten sich zornig auf Kirsten. „Mich zu veranlassen?“ Jim Rayburn mischte sich schleunigst ein: „Wir möchten Ihre Unterstützung für unseren Kampf gegen die Schließung der Dorf schule gewinnen. Wir dachten, daß Sie ebenfalls ein Bewohner unseres Dorfes…“ „Das ist neu für mich. Ihre Sprecherin hier“, er zeigte lieblos auf Kirsten, „hat mir vor kurzem eindeutig zu verstehen gegeben, daß ich nicht zur Dorfgemeinschaft gehöre. Wie Sie wahrscheinlich bereits wissen, hat mich Miss Hume aus einer öffentlichen Gemeindeversammlung hinausgeworfen.“ Sein Lächeln verriet: Jetzt bist du schachmatt. Noch einmal versuchte es Jim: „Wir nahmen an, Mr. Moran, daß Sie als Freund und Befürworter unserer Sache…“ Scharf erwiderte er: „Wer hat Ihnen gesagt, daß ich ein Befürworter Ihrer Sache sei? Ich habe niemals meine persönliche Meinung zu dieser Angelegenheit gesagt.“ Noch ein Schachmatt! Während des langen Schweigens, das nun folgte, betrachtete Miles jedes Mitglied der Gruppe forschend und mit großem Interesse. Als Kirsten an der Reihe war, erschien ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, und die Lachfalten um seine Augen vertieften sich für einen kurzen Augenblick. Aufgestachelt durch seine Art, wie er sich über sie lustig machte, entgegnete sie herausfordernd: „Werden Sie die Polizei rufen, Mr. Moran? Werden Sie uns wieder hinauswerfen, wie Sie es bei der Ausschußsitzung mit uns gemacht haben?“ „Das könnte ich ohne weiteres“, konterte er, „da Sie mein Haus widerrechtlich betreten haben.“ „Wir haben nicht gegen das Gesetz verstoßen, als wir die öffentliche Sitzung besuchten, und trotzdem haben Sie uns hinausgeworfen.“ „Sie haben gegen die Hausordnung verstoßen. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, wäre es da nicht klüger, dies auf eine zivilisierte und erwachsene Art und Weise zu tun? Nicht mit den Methoden der Studenten oder Gewerkschaften, wie Sitins oder gesetzwidrigen Hausbesetzungen?“ Miles schaute Kirsten an. „Da Sie die selbsternannte Leiterin dieser Abordnung sind, nehme ich an, daß Sie auch deren Sprecherin sind. Fahren Sie also fort, Miss Hume, ich höre.“ Seine süffisante, scheinbar tolerante, doch spöttelnde Art machte Kirsten rasend. „Sie haben meine Argumente, Mr. Moran, bereits viele Male gehört. Und wenn Sie immer noch nicht von der Richtigkeit und Notwendigkeit unseres Kampfes überzeugt sind“, sie schüttelte den Kopf, „dann weiß ich wirklich nicht, wann Sie es sein werden.“ „Meinen Sie, daß Sie mich mit diesen irregeführten Dorfbewohnern“, er blickte Kirsten böse an, „umstimmen könnten?“
Kirsten wußte keine Antwort darauf. „Hat Ihnen das die Sprache verschlagen, Miss Hume?“ fragte er sanft und mit einem Lächeln auf den Lippen. Kirsten biß die Zähne zusammen und schaute zu ihm auf. Jemand seufzte vernehmlich, und eine Frau blickte zur Uhr. Die anderen folgten ihrem Blick, und sie dachten an ihre Familien, ihre Ehemänner, die ohne ein Willkommen nach Hause kamen. „Kommen Sie, entspannen wir uns“, sagte Miles und rieb sich das Kinn. „Ich bin kein Unmensch, obwohl Miss Hume das bezweifelt.“ Und mit einem Lachen fuhr er fort: „Und ich bin ein Dorfbewohner wie Sie alle. Dafür habe ich Jim Rayburns Wort, wenn auch nicht Miss Humes. Wollen wir etwas trinken?“ Miles wandte sich zur Bar, holte Gläser und eine Flasche. „Anschließend werde ich Sie im Garten herumführen. Das ChartonHaus muß für Sie alle ein gewohnter Anblick sein.“ Er mixte die Drinks. „Doch ich nehme an, daß Sie noch nicht die Gelegenheit hatten, es aus der Nähe zu betrachten.“ Während er sprach, reichte er die Drinks herum. Nur Kirsten lehnte ab. Miles hielt inne, schüttelte den Kopf und reichte dann das Glas einem anderen. Die Atmosphäre hatte sich erheblich entspannt, und das Gespräch drehte sich inzwischen um allgemeine Themen. Miles verhielt sich wie ein perfekter Gastgeber und sprach mit der Gruppe, als ob er sie bereits sein ganzes Leben lang kannte. Kein Wunder, dachte Kirsten verbittert, daß er ein erfolgreicher Geschäftsmann mit weltweiten Verbindungen geworden ist. Er konnte sich gewandt ausdrücken und bewegte sich in dieser Gruppe, die schließlich sein Gegner war, mit enormem Selbstbewußtsein und bewundernswerter Leichtigkeit. Wenn er es wirklich wollte, überlegte Kirsten, dann könnte er diese Menschen sogar dazu bringen, die Schließung der Dorfschule zu befürworten! Nachdem Miles den zweiten Drink getrunken hatte, sagte er zu seinen Gästen: „Leider kann ich Ihnen nicht das ganze Hauszeigen, da der Lärm meine kranke Haushälterin stören könnte. Doch wenn Sie sich für den Garten interessieren…“, er zeigte zu der großen Verandatür. Seine Gäste schauten verunsichert zu Kirsten. Doch sie war dermaßen verwirrt, daß sie nicht in der Lage war, die Führung zu übernehmen. Sie zuckte nur mit den Schultern und erhob sich mit ihnen. Sie vermied es, Miles ins Gesicht zu blicken, um sein triumphierendes Lächeln nicht sehen zu müssen. Sie hätte sonst ihren Zorn nicht zügeln können. Die Bezeichnung ‚Garten’ war eine schlichte Untertreibung. Das ausgedehnte Grundstück ähnelte eher einem Park. Stufen führten zu einer Rasenfläche hinab, zu deren Linken sich ein Rosengarten mit Bänken und hölzernen Bogengängen anschloß. In der Ferne sah man weitläufige Wälder. Die Gruppe genoß die Farben und Düfte um sich herum. Die Gartenanlage war ein Zeugnis von jahrhundertelanger Pflege. Es war offensichtlich, daß der gegenwärtige Besitzer keine Mittel scheute, um das Gut in diesem Zustand zu erhalten. Dem Garten schloß sich eine Obstplantage an, für die das ChartonHaus berühmt war. Im Frühling war sie Anziehungspunkt für viele Besucher, die die überreiche Apfelblüte fotografierten. Wer einen feinen Geruchssinn hatte, konnte den Duft bereits wahrnehmen. Im Herbst kamen die Leute von weit her, um die Vollreifen Früchte zu kaufen. Eine junge Mutter bahnte sich den Weg zu Kirsten. Sie flüsterte: „Miss Hume, ich muß jetzt wirklich nach Hause. Meine Nachbarn waren so nett und beaufsichtigen meine Kinder. Aber was meinen Mann betrifft… ich möchte Ihnen nicht in den
Rücken fallen, Miss Hume, aber…“ Kirsten nickte und lächelte so verständnisvoll, wie sie nur konnte. „Gehen Sie halt unauffällig weg.“ Als die Frau fortgegangen war, dachte Kirsten: Eine weniger macht nichts. Aber eine Frau aus der Gruppe hatte diesen Vorgang beobachtet und wollte sich anschließen. Sie rief zu Kirsten hinüber: „Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, Miss Hume, aber auch ich muß jetzt wirklich gehen.“ Natürlich hatte Miles das alles mitgehört. Kirsten schaute ihn an, und er lächelte, aber sein Gesicht blieb dennoch ausdruckslos. Sie blickte sich um und sah die angespannten Gesichter ihrer Freunde, die deutlicher als Worte zu verstehen gaben, daß auch sie am liebsten von ihren Verpflichtungen befreit worden wären. Wollten sie sie alle im Stich lassen? Es schien so, denn selbst Jim Rayburn schaute verdrießlich drein. Er näherte sich ihr und flüsterte: „Sie dürfen nicht annehmen, daß wir Sie versetzen. Doch scheint es wirklich nicht den Erfolg gebracht zu haben, den wir erhofften, deshalb…“ „Sie können alle gehen“, entgegnete Kirsten laut und wütend. „Aber ich bleibe. Wenn Mr. Moran mich loswerden will, muß er die Polizei holen.“ Die anderen zögerten schuldbewußt, da sie fühlten, daß sie ihre Sprecherin auch jetzt noch unterstützen müßten, obwohl sich ihr Plan als ein Fehlschlag entpuppt hatte. Verzweifelt dachte Kirsten: Alles ist falsch gelaufen. Ich habe total versagt, die Schule wird geschlossen werden. Es ist alles meine Schuld, alles meine Schuld! Unwillkürlich wandte Kirsten sich um und rannte über die blumenübersäte Rasenfläche, die Terrassenstufen hinauf und ins Wohnzimmer hinein. Voller Verzweiflung sank sie zu Boden, lehnte den Kopf gegen eine Sessellehne und brach in bitterliche Tränen aus. Ihre Ohren waren von lautem Schluchzen erfüllt, und sie vernahm nur ihre keuchenden Atemzüge und ihr pochendes Herz. Nach einer Weile spürte Kirsten, daß sie nicht mehr allein war. Trotzdem umgab sie eine unheimliche Ruhe. Es schien ihr, als ob sie längere Zeit geschlafen und dadurch etwas Lebenswichtiges versäumt hätte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihre Befürchtungen: Sie mußte geschlafen haben! Die große Anspannung, der Ärger in der Ausschußsitzung, die körperliche Mißhandlung durch den zornigen Mann; anschließend die Hausbesetzung, all das hatte zu dieser Erschöpfung beigetragen. Der Schlaf war für sie die einzige Zuflucht gewesen, um die verbrauchte Energie wieder aufzubauen. Kirsten war nicht allein, da sie von Miles beobachtet wurde, der mit ausgestreckten Beinen, gefalteten Händen und zurückgelehntem Kopf lässig in einem Sessel lag. „Nun regt sich Dornröschen endlich“, sagte er spöttelnd. Kirsten hob den Kopf und schaute Miles voller Abscheu an, als sie ihr feuchtes Haar mit den Händen aus dem Gesicht strich. Er lächelte. „Ein etwas verweintes, wenn nicht sogar ernüchtertes Dornröschen.“ Seine provozierenden Worte rissen sie jäh aus dem Zustand der Betäubung, in den ihre jämmerliche Niederlage sie versetzt hatte. „Ernüchtert? Sie nennen mich ernüchtert?“ rief Kirsten aufgebracht aus. „Wenn Sie meinen, daß Sie mich mit Ihrer – Ihrer…“, sie fühlte plötzlich die Schmerzen in Schultern und Armen, „Gewalttätigkeit gedemütigt haben, dann haben Sie sich sehr getäuscht.“ Trotz ihrer kämpferischen Worte ließ Kirsten den Kopf sinken. Es war ihr nur zu
deutlich klar, daß Miles bislang jede Schlacht gewonnen hatte, und sie bezweifelte daher ernsthaft, ob sie je ihr Ziel erreichen würde. Dieser Mann mit seinem Reichtum und seinem hohen Ansehen innerhalb der Gemeinde hatte alle Fäden in der Hand und konnte daran ziehen, ganz wie es ihm beliebte. „Die anderen“, fuhr Kirsten fort, indem ihre Hände über den weichen Teppich glitten, „haben mich im Stich gelassen, weil sie Ehrfurcht vor Ihnen haben. Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Wer auch immer im ChartonHaus lebt, wird als eine Art moderner Fürst betrachtet.“ Mit herausforderndem Blick hob Kirsten den Kopf: „Ich bin hier nur ein vorübergehender Gast und gehöre nicht zu ihnen. Ich betrachte Sie nicht als ,allmächtigen’ Fürsten mit ererbten Vorrechten. Eine feudalistische Einstellung scheint in dieser Gegend jedoch vorzuherrschen“, spottete Kirsten. „Doch ich gehöre Gott sei Dank nicht hierher und empfinde dem ,Feudalherren’ gegenüber keine Spur von Loyalität.“ Ihre Worte schienen Miles jedoch nur zu amüsieren, was Kirsten noch wütender stimmte. „Nun wehren Sie sich“, stachelte sie ihn an, „und werfen Sie mich hinaus, da ich ein unbefugter Eindringling bin. Ich handle bereits wieder gesetzwidrig. Erheben Sie doch wieder Ihre bösartigen und unbarmherzigen Hände gegen mich und schmeißen mich einfach hinaus.“ Ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Während Kirsten sprach, war Miles aufgestanden und auf sie zugegangen. „Meine Hände soll ich gegen Sie erheben?“ Als Kirsten heftig mit dem Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Sie können nicht leugnen, daß Sie mich dazu aufgefordert haben.“ Er schob seine Hände unter ihre Achseln und zog sie zu sich hoch. Seine Finger gruben sich in ihren Oberarm und zogen sie heftig an sich. Wollte Miles sie jetzt auf diese Weise hinausbefördern? Kirsten schrie auf unter seinem harten Griff, doch stand der in keinem Vergleich zu der Heftigkeit, mit der er ihren Mund in Besitz nahm. Miles stahl ihr einen langen Kuß, dann hob er den Kopf. „Der einzige Weg“, sagte er atemlos, „um Miss Kirsten Hume von Beschimpfungen und Beleidigungen abzuhalten ist, ihren hübschen Mund zu verschließen, und zwar so!“ Wieder nahm sein Mund Kirstens Lippen in seinen Besitz, doch diesmal konnte sich Kirsten überhaupt nicht mehr wehren, da seine Arme fest um ihren Körper geschlungen waren, so daß sie kaum zu atmen vermochte. Seine Männlichkeit war überwältigend und ließ all ihren Widerstand dahinschwinden. Ihr Verstand war wie ausgeschaltet, und sie verwandelte sich in eine anschmiegsame und zärtliche Frau. Benommen fühlte sie, daß seine Küsse weicher wurden, und sie diese heftiger und leidenschaftlicher erwiderte. Sie bekam es mit der Angst zu tun! Unerfahren wie sie war – denn ängstlich hatte Kirsten bisher die jungen Männer von sich gehalten – wußte sie nicht, wie sie ,Nein’ zu Miles sagen sollte, ohne ihn zu verletzen. Doch, fragte Kirsten sich selbst etwas verwirrt, als Miles’ Lippen zärtlich ihre Ohren berührten und den entblößten Nacken hinabglitten, wollte sie wirklich ‚Halt’ sagen? „Kirsten“ flüsterte Miles und hob den Kopf – und zum ersten Mal sah sie das warme Verlangen in seinen Augen „du machst mich vollkommen verrückt. Ich habe dir schon einmal gesagt, welche Wirkung du auf mich hast.“ „Ja, daß Sie mich mögen“, erwiderte sie in der Hoffnung, seine Aufmerksamkeit von ihrem Körper abzulenken. „Ich möchte dich besitzen, mein Schatz“, behaarte Miles jedoch. „Du erregst mich so, daß ich…“ Seine Hände fanden ihre bloße Haut, die das verrutschte Oberteil um ihre Taille herum freigelegt hatte. Er liebkoste sie zärtlich und entlockte ihr tiefe Seufzer und ein Verlangen, sich ihm mit ihrem ganzen Körper
hinzugeben. Die Barrieren, die Kirsten zwischen sich und allen Männern errichtet hatte, standen kurz vor dem Zusammenbruch. Seine Hände glitten an ihrem Körper empor und fanden ihre weichen, anschmiegsamen Brüste. Kirstens Lippen öffneten sich vor Lust und boten sich zu einem innigen Kuß dar. Es war eine unbewußte, aber ganz natürliche, weibliche Reaktion, über die Kirsten keine Kontrolle ausüben konnte. Sie wollte seine Küsse, seine Hände auf ihrem Körper spüren, weil sie ihn liebte. Sie wollte soviel von sich fortgeben, wie er begehrte! Denn sie liebte ihn! Die Worte kamen ihr unbewußt in den Sinn, doch nichts in der Welt konnte sie wieder auslöschen. „Willst du nun endlich aufhören, mich zu bekämpfen. Kirsten?“ flüsterte Miles und zog sie enger an sich, um ihr tief in die Augen zu schauen. „Betrachte mich als deinen Freund und nicht als deinen erbitterten Feind. Habe ich dir je einen Grund gegeben, zu glauben, daß ich dein Gegner bin?“ Kirsten fühlte sich in seinen Armen steif werden. Wollte er sie mit seinen Küssen und Zärtlichkeiten umstimmen und ihr die Pläne zur Schließung der Schule schmackhafter machen? Tränen der Enttäuschung drohten sie zu überwältigen, doch mit äußerster Anstrengung hielt Kirsten sie zurück. „Ist das Ihre Methode, mich zur Aufgabe meines Kampfes zu bewegen?“ fragte sie stolz. „Ich spreche ganz persönlich mit dir, Kirsten!“ Seine Stimme klang weich, aber ernst. Kirsten riß sich von ihm los, warf ihr rotblondes Haar zurück und strich ihr zerwühltes Oberteil glatt. „Ich glaube ihnen nicht.“ Ein Schluchzen mischte sich in ihre Stimme. Doch sie mußte alles sagen, bevor es zu spät war. „Ich glaube, daß Sie mich auf Umwegen unter Druck setzen wollen, um mich zur Aufgabe zu zwingen, damit Sie ungehindert die Schließung der Schule vorantreiben können.“ Kräftige Hände ergriffen ihre Schultern und zogen sie an seinen Körper. Unbarmherzig nahm er wieder ihre Lippen in seinen Besitz, bis sie sich sträubte. Als seine Lippen ihr Verlangen gestillt hatten, hielt Miles sie von sich ab. Seine Augen waren schmal. „Dies ist die einzige wirksame Methode, wie ich zuvor bereits sagte, um Kirsten Humes schönen, aber widerspenstigen Mund zu schließen.“ Das Telefon klingelte. Miles fluchte laut. Da seine Haushälterin schlief, ließ er Kirsten los und ging in die Halle, um den Hörer abzunehmen. Durch die offene Tür hörte Kirsten ihn sagen: „Hier Moran.“ Nach einer Weile hörte Kirsten ihn sagen: „Das ist nett von dir, Lara, doch du brauchst es nicht zu bringen. Ich werde zur Apotheke kommen und es abholen.“ Er lauschte wieder einen Moment. „Wenn der Laden zumacht? Warum?“ Mit verschränkten Armen hatte Kirsten Miles keck beim Telefonieren zugehört und beobachtet, wie ein Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Er schaute sie an und mußte schmunzeln. Dann drehte er Kirsten den Rücken zu, und beleidigt wandte Kirsten sich ab. „Mit dir ausgehen? Ja, eine Woche ist es bereits her, daß wir zusammen zu Abend gegessen haben.“ Miles hielt inne und fuhr fort: „Ich sehne mich nach angenehmer weiblicher Gesellschaft. – Und anschließend zu mir nach Haus? Warum nicht?“ Kirsten dachte wild: Kann ich mich irgendwie davonschleichen? Da er gerade mit Lara telefoniert, könnte er mich eigentlich nicht daran hindern. Um zur Haustür zu kommen, mußte sie jedoch an Miles vorbei. Einen Moment lang blieb sie zögernd an der Wohnzimmertür stehen. Miles mußte sie gehört haben, denn zu ihrer großen Enttäuschung drehte er sich zu ihr um.
Trotz allem rannte Kirsten durch die Halle, um ihn durch ihr spontanes Handeln zu überrumpeln. Doch sie hatte seine Reaktionsfähigkeit bei weitem unterschätzt. Ihre Handfesseln wurden mit einem eisernen Griff festgehalten. Zwischen den Zähnen sagte er: „Gehen Sie nicht fort, Miss Hume. Ich muß Ihnen noch etwas sagen.“ In den Hörer hinein sagte er: „Ich habe Besuch bekommen. Weiblich, rothaarig und rebellisch. Ich soll sie rausschmeißen? Das werde ich – wenn ich fertig mit ihr bin.“ Miles blickte auf seine Armbanduhr. „Ich werde dich um achtzehn Uhr abholen.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Gefangene, die ärgerlich versuchte, sich von ihm loszureißen. Er drängte Kirsten ins Wohnzimmer zurück und ließ sie dort schließlich frei. Doch Miles blieb breitbeinig vor der Tür stehen, um einem erneuten Fluchtversuch vorzubeugen. Warum ist dieser Mann so attraktiv? dachte Kirsten. Am liebsten hätte sie sich an seine breiten, beschützenden Schultern geworfen. Sie wünschte sich verzweifelt, daß seine schmalen Hüften und langen Beine nicht dieses alarmierend erregende Gefühl in ihr erwecken würden. Warum ließ der Gedanke, daß Miles den heutigen Abend mit Lara verbringen würde, ein Gefühl der Eifersucht in ihr aufkeimen? War das ein Zeichen dafür, daß sie ihn liebte? Oder war es nur ein Betörtsein von jemanden, der so ganz aus dem Rahmen fiel? Für ihn war sie bestimmt nichts weiter als ein flüchtiges Abenteuer. „Was wollen Sie?“ fragte Kirsten. „Ihre Hilfe!“ Miles betrachtete ihren angespannten Körper, und sein Blick verharrte nachdenklich und interessiert zugleich auf ihren Brüsten, so als ob er nochmals die Lust nachvollzog, die er beim Streicheln und Liebkosen gespürt hatte. Sein Blick machte Kirsten unruhig und verlegen. „Ich gebe ein Fest für die Dorfkinder. Wenn das Wetter schön ist, auf dem Rasen – wenn nicht, dann im Haus. Mrs. McBride sorgt wie immer für das Essen, doch ich brauche jemanden, der mich bei der Aufsicht der dreißig oder vierzig kleinen Engel unterstützt. Ich habe nicht die nötige Erfahrung mit Kindern, um mit ihnen allein fertig zu werden. Mit Ihrer Erfahrung als Lehrerin wäre mir Ihre Hilfe unschätzbar.“ Sie antwortete nicht. „Ich würde mich sehr freuen, Kirsten.“ Sein Blick war ernst, nur sein Gesicht schien ohne jeden Ausdruck zu sein. „Warum fragen Sie nicht Ihre Freundin Lara? Sie mag vielleicht nicht die magische Ausstrahlungskraft einer Lehrerein haben, doch könnte sie auf jeden Fall die Wunden der Kinder gut versorgen.“ Seine Augen wurden schmal, und seine Stimme klang kühl. „Ist das Ihre endgültige Antwort?“ Ihr Atem ging schnell: „Meine endgültige Antwort.“ Sie lächelte ihn herausfordernd an. „Sie sehen, daß ich ebenso hart wie Sie sein kann, wenn ich wähle.“ Die erwartete Reaktion blieb aus. Für einen kurzen Moment verwirrte Kirsten sein nachdenkliches Schweigen. Aber dann brach es aus ihr heraus: „Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß ich nicht richtig zur Dorfgemeinschaft gehöre. Daher lehne ich persönlich jegliches Überbleibsel aus der feudalistischen Zeit ab. Der Fürst zeigt sich großzügig und entrichtet den Ansässigen seinen Obolus – oder besser gesagt, den dummen Bauern, die die einfache und hutlüftende Bevölkerung des alten Dorfes bilden.“ „Ich glaube, daß ich Ihre Hilfe nicht mehr benötige, Miss Hume. Sie können sich zum Teufel scheren.“
Sein undurchdringlicher Blick, sein harter Mund – der vor kurzen noch ihre Lippen erobert hatte – seine etwas drohende Haltung, seine verletzende und abweisenden Worte, all das trieb ihr die Tränen in die Augen, und ein dicker Kloß schien sich in ihrem Hals festgesetzt zu haben. Nun gut, sie hatte es nicht anders gewollt! Ihre scharfe Zunge war wieder einmal mit ihr durchgegangen, und der Mann, dem sie die Worte entgegengeschleudert hatte, gehörte nicht zu den Menschen, die vergeben und vergessen, küssen und sich versöhnen können. „Darf ich Sie hinausbegleiten?“ hörte sie Miles mit eisiger Höflichkeitsfragen. Ohne sich umzuwenden, verließ Kirsten mit hocherhobenem Kopf und aufreizendem Gang sein Haus. Er sollte nicht merken, wie sehr er ihren Stolz gekränkt hatte. Zum zweiten Mal innerhalb eines Tages wäre es Miles gelungen, sie hinauszuwerfen. Noch schlimmer wog jedoch, daß es ihm geglückt war, sein Haus räumen zu lassen, bevor er besiegt werden konnte. Obendrein besaß er die Kühnheit, sie um ihre Unterstützung beim Fest für die Dorfkinder zu bitten, deren Schule er ja schließen wollte. Als Kirsten die Haustür öffnete, kam ihr Großvater gerade die Treppe hinunter. Er schaute sie lächelnd an, doch Kirsten erwiderte sein Lächeln sehr gezwungen. „Wir haben eine Sitzung des Kulturausschusses besucht“, begann sie. „So, mein Schatz?“ Er beobachtete sie dabei, wie sie sich im Spiegel betrachtete. „Nun gut, was ist passiert? Hat der Ausschuß für oder dagegen gestimmt?“ „Der Ausschuß?“ Alles schien bereits so weit weg zu sein, die Sitzung, der überstürzte Rückzug, daß sie Schwierigkeiten hatte, sich daran zu erinnern. Sie schüttelte den Kopf. „Sie haben uns hinausgeworfen. Mr. Moran hat uns – ich meine – hat mich hinausgeworfen. Die andern handelten so, wie es ihnen gesagt worden war.“ „Und du nicht? Deshalb hat der Vorsitzende wohl seine starken Arme benutzen müssen!“ Thomas lachte herzhaft. „Ich kann ihn schon verstehen. Wenn du dich nicht rühren willst, verhältst du dich wie ein kleiner Maulesel.“ Kirsten zog eine Grimasse. „Danke, Grandpa. Solche Kritik muß ich von meinem besten und treuesten Freund vernehmen!“ Besänftigend streichelte er Kirstens Schultern, doch sie stöhnte leise, als er einen ihrer Blutergüsse berührte. „Du mußt Schwierigkeiten gehabt haben.“ „Das ist noch längst nicht alles.“ Und Kirsten erzählte ihrem Großvater von der Besetzung des Hauses und davon, wie Miles die Leute überredet hatte, wieder zu gehen, und wie sie sich als einzige geweigert hatte. Sie erzählte ihm jedoch nichts von den Küssen und den Zärtlichkeiten, die sie beide ausgetauscht hatten. Nur der Gedanke daran, was geschehen war, ließ sie zutiefst erröten. Sie beschäftigte sich intensiv damit, das Abendbrot zu bereiten. Als Thomas ihr helfen kam, sagte sie zu ihm: „Am Samstag gibt Mr. Moran ein Fest für die Dorfkinder.“ Thomas nickte. „Ein alljährliches Ereignis.“ „Er fragte mich, ob ich ihm helfen wolle. Ich sagte ,nein’.“ „Aber warum, Kirsten?“ „Warum? Wegen der Art und Weise, wie er mich behandelt, und wie er es abgelehnt hat, unseren Argumenten zuzuhören. Er ist der Feind, Grandpa und nicht der Freund des Dorfes.“ „Die Kinder lieben seine Feste, Kirsten.“ Thomas’ Stimme klang ungläubig. „Es werden immer nette Spiele gemacht, überhaupt ist alles sehr kindgerecht gestaltet.“
„Den meisten Leuten ist es noch gar nicht bewußt geworden“, fuhr Kirsten
unbeirrt fort, „wie hartnäckig und unbarmherzig Miles Moran sein kann. Sie
sollten mich vielmehr unterstützen, indem sie ihre Kinder nicht zu diesem Fest
schicken.“
„Aber für die Kinder ist es das Ereignis des Jahres“, erwiderte Thomas bestürzt.
„Es dient der Sache nur wenig, wenn du sie um ihr Fest bringst. Außerdem wird
es ein Spiel mit dem Feuer sein, Kirsten, wenn du dich in Miles Morans private
Angelegenheit einmischst. Du hast ein Herz aus Gold, doch andererseits bist du
so sehr eigenwillig. Wenn du etwas nicht bekommst, dann ist sogleich die Hölle
los, nicht wahr?“ Er betrachtete seine Enkelin zärtlich.
„Nun gut“, entgegnete Kirsten starrsinnig, „ich will diesem Ruf gerecht werden.
Ich beabsichtige nämlich, Mr. Morans Fest zu einem großen Mißerfolg zu
machen.“
Resigniert zuckte ihr Großvater mit den Schultern. „Du bist genauso wie dein
Vater, Kirsten. Er war sehr entschlußfreudig, aber auch sehr…“
„Dickköpfig und starrsinnig wie ein Maulesel, wolltest du sicherlich sagen,
Grandpa“, ergänzte Kirsten schmunzelnd.
Thomas betrachtete sie vielsagend .
7. KAPITEL Am nächsten Tag in der Schule teilte Kirsten Rob Bowes ihren Plan mit und bat ihn um seine Unterstützung. Er runzelte die Stirn, dachte eine lange Zeit nach und schüttelte verneinend den Kopf. „Der Effekt wird gleich Null sein. Davon abgesehen, wird er unserer Sache mehr schaden als nützen.“ Kisten fühlte sich derart im Stich gelassen, daß sie ihre Fassung verlor: „Ihr seid alle gleich“, rief sie erregt. „Sie wollen zwar nicht die Schließung der Schule, doch Sie tun praktisch nichts dagegen. Ich kann es einfach nicht begreifen, daß Sie sich weigern, Miles Morans großen Auftritt als großmütigen Fürsten, der seine Untertanen ab und zu zum Fest einlädt, zu stören.“ Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir leben nicht zweihundert oder dreihundert Jahre früher, Rob. Das Jahr zweitausend wirft bereits seine Schatten voraus. Wenn die Kinder nicht zu dem Fest gingen, würde Moran auf den Platz eines ganz gewöhnlichen Dorfbewohners verwiesen. Und zugleich würden die Dorfbewohner damit ihr mißfallen über seine Pläne zum Ausdruck bringen.“ Rob seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück. „Sie können nicht mit mir rechnen, Kirsten. Außerdem“, er spielte mit seinem Kugelschreiber, „habe ich eine – eine wichtige Verabredung.“ Natürlich mit Miss Tulley. Kirsten vermutete, daß ihre Freundschaft rasch fortgeschritten war. Sie war froh darüber, sagte sie zu sich selbst – warum also der stechende Schmerz in ihrer Brust? Auf keinen Fall war es Eifersucht, denn sie wünschte den beiden wirklich alles Gute. Neid vielleicht? Ein Verlangen nach einer Freundschaft mit einem Mann – mit dem Mann, den sie liebte – die zu einer echten und tiefen Verbindung führen würde? Und wenn es so war, warum kam ihr dabei das anziehende, resolute Gesicht mit den gefährlich glitzernden Augen immer wieder in den Sinn? Sie verdrängte verzweifelt dieses Bild. Am Ende war es Jim Rayburn, der mit Kirsten von Haus zu Haus ging und die Mütter bat, die Kinder nicht zum Fest zu schicken. Wenn die Kinder an der Haustür dabei waren, verdunkelten sich ihre kleinen Gesichter jäh. Doch Dank Kirstens Charme wurden sie schnell einsichtig. Erfreut über das Ergebnis ihrer Bemühungen kehrte Kirsten nach Hause zurück. Nicht ein Kind würde Miles Morans Fest besuchen, erzählte sie ihrem Großvater triumphierend. Er schaute sie mißbilligend an, doch erwiderte er nichts. In der Nacht warf sich Kirsten unruhig im Bett hin und her. Warum konnte sie nach der vollbrachten Tat nicht einschlafen? Warum war ihr Gemüt so ruhelos, warum gingen ihre Gedanken ständig im Kreis, warum schlug ihr Herz so dumpf, anstatt zu triumphieren? An dem Tag, als das Fest stattfinden sollte, war eine gewisse Spannung im Dorf zu verspüren. Es war wie die Ruhe vor dem großen Sturm. Angespannt saß Kirsten im Lehnstuhl ihres Großvaters und harrte der Dinge, die da kommen würden. Vor einer halben Stunde hatte das Fest beginnen sollen. Für Kirsten war dies die schlimmste halbe Stunde ihres Lebens. Ihr Großvater war in die Stadt gegangen. Er hatte sie unverhohlen wissen lassen, daß er ihre Schulkampagne zwar unterstütze, doch wolle er auf keinen Fall an ihren Plänen teilhaben, die den Kindern das Vergnügen stehlen sollten. So war sie sich völlig selbst überlassen, sich das Ausmaß ihrer Aktion auszumalen. Das Klingeln des Telefons ließ Kirsten jäh hochfahren. Als sie den Hörer bereits
abgenommen hatte, wurde ihr plötzlich bewußt, wer der Anrufer war. Zum Rückzug war es jedoch zu spät. Als ein Schwall von Worten auf sie niederging, zuckte sie zusammen und mußte sich am Treppengeländer abstützen. „So, was glauben Sie nun, was Sie damit erreicht haben?“ wollte Miles Moran wissen. „Welche großartige Idee verbarg sich hinter Ihrem schändlichen Tun? Ist Ihnen klar, daß Sie nicht mich getroffen haben, sondern die vielen kleinen Dorfkinder, die sich das ganze Jahr über die Geschenke, die Unterhaltung und das Essen gefreut haben?“ Miles machte eine kurze Pause, um Atem zu holen. Doch bevor Kirsten etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Sie können von Glück reden, daß ich nicht bei Ihnen bin, Miss Kirsten Hume. Ich würde Sie nämlich übers Knie legen und Ihnen ein paar neue Takte beibringen!“ Langsam hatte Kirsten sich von dem Schock wieder erholt. „Was wollen Sie nun tun?“ fragte sie ihn spöttisch. „Ich werde mit meinem Auto durchs Dorf fahren und die Kinder selbst einsammeln. Ich werde ihnen erzählen, was für eine kleine Lügnerin Sie sind.“ „Sie wollen also den Rattenfänger von Hameln spielen, Mr. Moran“, erwiderte Kirsten eisig, „und alle Kinder ins Verderben führen. Das Fest soll sie über den Verlust ihrer Schule hinwegtrösten.“ „Sie reden viel dummes Zeug, Miss Hume, und Sie wissen das auch“, entgegnete Miles barsch. „Wenn Sie nochmals mit einer Ihrer Aktionen versuchen, sich in mein Leben einzumischen, dann werde ich Sie sehr unglücklich machen. Das ist eine ernst zu nehmende Warnung!“ Er knallte den Hörer auf. Kirsten sank in den Sessel und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Einige Zeit später kehrte Thomas zurück. Er schien überhaupt nicht über das Bild erstaunt zu sein, daß sich ihm bot. „Die Kinder sind alle zu Mr. Morans Fest gegangen, Kirsten“, begann er behutsam. „Ich weiß“, entgegnete Kirsten bedrückt. „Sie sind alle Verräter unseres Kampfes! Wenn die Leute ihre Kinder nicht zum Fest hätten gehen lassen, hätte man Mr. Moran deutlich gezeigt, was man von ihm hält.“ „Ich glaube, daß du da etwas falsch liegst“, erwiderte ihr Großvater sanft. „Sie halten sehr viel von Mr. Moran. Sie achten ihn wegen seines geschäftlichen Erfolgs, und sie schenkten ihm soviel Vertrauen, daß sie ihn als ihren Abgeordneten in den Gemeinderat gewählt haben.“ Verzweifelt schüttelte Kirsten den Kopf. „Ohne die Hilfe der Dorfbewohner ist meine ganze Kampagne hoffnungslos. Ich als einzige kann nicht gegen die örtlichen Behörden kämpfen und gleichzeitig gegen den mächtigen Miles Moran.“ Behutsam fuhr Thomas fort, um sie auf einen weitern Schock vorzubereiten: „Sie werden heute alle zu dem Tanzabend gehen.“ Stirnrunzelnd fragte Kirsten: „Was für ein Tanzabend?“ „Im ChartonHaus natürlich. Wie jedes Jahr nach dem Kinderfest gibt Mr. Moran einen Tanzabend für Eltern und alle die Lust haben zu kommen.“ Zaghaft deutete Thomas an: „Auch du, Kirsten, könntest dorthin gehen.“ Kirsten hielt den Atem an. „Um Himmels Willen!“ „Es wäre gar keine so schlechte Idee, mein Schatz. Nun springe mir bitte nicht gleich an die Kehle. Sei doch einmal nicht so kompromißlos und taktlos wie dein Vater.“ Diese Worte trafen Kirsten. „Willst du damit sagen, daß ich kein Einfühlungsvermögen besitze und unbesonnen handle?“ „Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, daß du die Trümpfe, die du zweifellos besitzt, nicht richtig einzusetzen weißt.“
Mit Tränen in den Augen verließ Kirsten leise das Zimmer. Ich muß doch eine rechte Plage für den Großvater sein, dachte sie zerknirscht. Schon ihr Vater war als Sohn nicht einfach zu lenken gewesen. Vielleicht sollte sie ihren Großvater verlassen und woanders eine Bleibe suchen, damit er nicht länger durch ihre Anwesenheit strapaziert würde. „So nachdenklich?“ überraschte sie ihr Großvater, der ihr leise gefolgt war. Kirsten schlang zärtlich den Arm um ihn. „Ich bin wirklich nicht so schlecht, Grandpa. Nicht so schlecht wie es – es…“, der Name blieb ihr im Hals stecken, „Mr. Moran glaubt.“ „Schlecht? Warum solltest du Goldkind schlecht sein? Alle meine Enkelinnen sind wohlgeraten.“ Sie mußten beide herzhaft lachen, und die Spannung war verschwunden. Zwei Stunden brauchte Kirsten, um sich zu überwinden, den Tanzabend von Mr. Moran zu besuchen. Es könnte vielleicht doch einen anderen Weg geben, das Schulproblem anzugehen. Wie würde Miles Moran sie jedoch empfangen? Nach den heftigen Worten, die er ihr am Telefon versetzt hatte, fühlte sie sich sehr unwohl bei dem Gedanken, sein Haus zu betreten. Als sie den Mantel anzog, zögerte sie einen Moment lang und fragte sich, warum sie überhaupt dorthin ging. Um zuzugeben, daß es falsch von ihr war, den Kindern das Vergnügen zu stehlen? Oder um ihm zu zeigen, daß sie auch eine wärmere und herzlichere Seite besaß, die man gern haben – vielleicht sogar lieben konnte? Als Kirsten die lange Auffahrt zu seinem Haus hinaufging, erschien es ihr wie eine Festung, die sie erobern sollte, und Miles war der Drachen, den sie zähmen mußte. Welche Waffen besaß sie für den Kampf? Reichte ihr Lächeln, oder die graugrünen Augen, die nicht mehr herausfordernd, sondern lieblich aussahen? Oder ihre Weiblichkeit und ihre schöne Figur, die seine Blicke bereits auf sich gezogen hatte, und bei deren Berührung er ihr gesagt hatte, wie gern er sie mochte? Das waren sehr wenige Waffen gegen diesen Mann. Zu Kirstens größtem Entsetzen öffnete Lara Holland, die Tür. Sie trug ein langes, grünlich schimmerndes Kleid, und die blonden Haare fielen sanft auf ihre Schultern. Sie starrte Kirsten kalt an und rief über die Schulter hinweg: „Hier ist die Lehrerin, Miles. Soll ich sie hereinlassen?“ Voller Abscheu betrachtete Lara den Neuankömmling. „Du hast mir doch gesagt, daß du sie hinausschmeißen wolltest, wenn sie es wagt, die Schwelle deines 1 Hauses zu betreten.“ Miles näherte sich innen langsam, die Hände in den Taschen. Mit seinen kalten, schmalen Augen, seinem zusammengekniffenen Mund erschien er Kirsten tatsächlich der Drachen zu sein, den sie so gefürchtet hatte. Mit einer Kopfbewegung schickte er Lara fort. „Das erledige ich schon.“ Als ob sie ein Gegenstand und nicht eine Frau wäre, dachte Kirsten. „Darf ich hereinkommen?“ Miles antwortete nicht, sondern lehnte sich gegen den Türrahmen und musterte sie eingehendst. „Ich habe gehört, daß jeder zu Ihrem jährlichen Tanzabend willkommen sei“, stammelte Kirsten. Mit granitharten Augen und halb geschlossenen Augenlidern erwiderte Miles: „Ich möchte wissen, wer Sie auf diese Idee gebracht hat?“ Kirsten wußte keine Antwort. Mit scharfer Stimme fuhr er fort: „Warum sind Sie gekommen – um meine Party zu vergiften?“ Seine Augen schweiften zu ihren Haaren, die im Licht der Außenlampe glänzten. „Wo sind die herzzerreißenden Plakate mit ,Rettet unsere Schule’? Oder ganz zu schweigen von ,Nieder mit Miles Moran’?“
Nicht mehr in dem spöttischen Ton fuhr er fort: „Sie besitzen die Dreistigkeit bei mir zu erscheinen, um meinen Wein zu trinken, nachdem Sie versucht haben, die Kinder von dem Fest fernzuhalten.“ Kirsten preßte ihre bebenden Lippen aufeinander. „Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß es mir leid tut“, flüsterte sie. „Ich sehe ein, wie dumm es von mir war, so zu handeln.“ Miles rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Er schien nicht bereit zu sein, sie willkommen zu heißen. Kirsten wurde von einer großen Unsicherheit und Verlegenheit erfaßt. „Schauen Sie“, stammelte sie hilflos, „ich habe gesagt, daß es mir leid tut.“ „So, es tut Ihnen also tatsächlich leid?“ Wollte Miles sie wirklich vor all ihren Freunden und Bekannten soweit demütigen, daß er ihr den Zutritt zu seinem Haus verweigerte? Ihre Lippen begannen zu zittern, Tränen traten ihr in die Augen und fielen auf ihr goldbesticktes Abendtäschchen. Sie wandte sich jäh ab und wollte die Treppen hinunterstürzen, aber Miles schien diesen Fluchtversuch vorausgeahnt zu haben, denn in Sekundenschnelle hatte er ihr Handgelenk erfaßt und sie ins Haus gezogen. „Kommen Sie herein“, erklärte er kurz, „doch kommen Sie mir nicht in den Weg. Ist das klar?“ Als sie langsam nickte, fügte er hinzu: „Mäntel nach oben. Benutzen Sie das Bad, wenn Sie wollen.“ Miles ließ ihr Handgelenk los und verschwand. Fünf Minuten später folgte Kirsten den Klängen der Musik und dem Gewirr der Stimmen und fand sich in einem langen und bezaubernden Raum wieder. Das Parkett, über das die tanzenden Paare hinwegschwebten, war so glatt poliert, daß sich die Lichter der Kronleuchter darin widerspiegelten. Vor hundert Jahren war dieser Raum vielleicht ein eleganter Speisesaal für hochoffizielle Anlässe gewesen. Es war offensichtlich, daß Miles Moran weder Kosten noch Mühe gescheut hatte, um den Glanz der Vergangenheit zu erhalten. Die Decke war reichlich verziert, und über dem Marmorkamin hing ein hoher und breiter Spiegel, der in einem dicken Goldrahmen eingefaßt war. An den Wänden hingen kostbare Gobelins, und überall im Raum konnte man Gemälde einer Familie bewundern, die bereits lange Geschichte war. Kein Wunder, daß die Dorfbewohner alles taten, um den jährlichen Tanz im Charton Haus zu besuchen! Kein Wunder, daß sie den Streit mit dem Besitzer vergaßen, als sich dieser Tag näherte. Als Kirsten völlig verunsichert im Türrahmen stand, hob Miles seinen ausdruckslosen Blick von der Gruppe, mit der er gerade sprach. Wie Kirsten unglücklich feststellte, befand sich auch Lara Holland in dieser Gruppe. Obwohl Miles ihre Nervosität und Unsicherheit bemerkt haben mußte, unternahm er nichts, um Kirsten zu helfen. Statt dessen ignorierte er sie völlig und setzte seine Unterhaltung fort. Zu Kirstens großer Erleichterung näherte sich Jim Rayburn mit herzlich ausgestreckten Händen. „Sie sehen großartig aus“, rief er. „Kommen Sie zu unseren Freunden.“ Er hakte sie unter und zog sie mit sich fort. Kirsten hatte bemerkt, wie Miles Augen sich verächtlich zusammenzogen, als sie mit Jim fortging. Jim drückte ihr einen Drink in die Hand, und Kirsten begann, daran zu nippen. „Tanzen Sie mit mir, Kirsten?“ Rob Bowes war zu ihr getreten und hatte eine lächelnde Ann zurückgelassen, die geduldig seine Rückkehr erwartete. Alles war ihr recht, Um ihre Traurigkeit und Einsamkeit zu verscheuchen. „Haben Sie Mitleid mit mir bekommen?“ fragte Kirsten, die ihr Glas niedersetzte und Rob zur Tanzfläche folgte. „Sie schauten so traurig aus, dabei sollen Sie sich hier amüsieren.“
Amüsieren? dachte Kirsten. Wie konnte sie sich amüsieren, wenn der Mann, für den ihr Herz schlug, sie mit einem abweisenden und kalten Blick ansah? Rob hatte bemerkt, wohin ihr Blick schweifte. „Lara Holland kann sich glücklich schätzen, einen solch aufmerksamen Freund zu haben“, hörte Kirsten ihn sagen. „Glauben Sie, daß die beiden eine feste Beziehung haben?“ zwang sie sich zu fragen. „Wer weiß das heutzutage schon? Die Menschen schließen schnell Verbindungen, doch werden sie ebenso schnell wieder gelöst.“ Die beiden tanzten für einen Augenblick schweigend miteinander. „Man sagt, daß es in Morans Leben vor einiger Zeit eine Frau gegeben haben sollte, die ihm viel bedeutete. Doch anscheinend war es wohl auch nichts von Dauer.“ Als die Musik aufhörte, sagte Kirsten mit einem Lächeln: „Danke Rob, und vielen Dank an Ann, daß sie mir ihren Partner geliehen hat.“ Sie winkte Ann freundlich zu. „Auf jeden Fall schauen Sie jetzt etwas fröhlicher drein“, lachte Rob. „Jim“, sie hatten die Gruppe erreicht, „sorgen Sie dafür, daß das Lächeln auf Kirstens Gesicht bleibt.“ Rob verließ sie und kehrte an Anns Seite zurück. Kirsten betrachtete nachdenklich die anwesenden Leute. „Mir erscheint alles wie eine Kapitulation, so als ob jeder kleinlaut beigegeben hat. Schauen Sie nur, wie arrogant der Vorsitzende des Ausschusses aussieht.“ „Mmh“, meinte Jim, „ich würde es nicht gerade Arroganz nennen. Er scheint über etwas verärgert zu sein. Doch vergessen wir ihn doch.“ Er betrachtete sie: „Wissen Sie eigentlich, daß Sie toll aussehen, Kirsten?“ „Jim, bringen Sie mich nicht zum Erröten. Außerdem sind Sie mit ihren achtzehn Jahren noch viel zu jung, um auf so etwas zu achten.“ „Neunzehn, bitte. Und beinah zwanzig“, korrigierte Jim sie ärgerlich. „Und zu Ihrer weiteren Information möchte ich hinzufügen, daß ich seit einigen Jahren bereits den wesentlichen Unterschied zwischen Mann und Frau kenne.“ Kirsten mußte herzhaft lachen. Da die Kapelle erneut zu spielen begann, forderte Jim sie zum Tanzen auf. Sie schwang im Rhythmus der Musik ihren Kopf hin und her, so daß ihre schulterlangen, rotblonden Haare nur so flogen. „Mein Großvater hat mich heute nachmittag mit folgenden Worten charakterisiert: dickköpfig, taktlos und – ach, ja, nicht liebenswert!“ warf Kirsten leicht dahin. Jim hielt sie während des Tanzes etwas von sich ab, um sie besser mustern zu können. „Hat Ihr Großvater das wirklich gesagt? Er hat sicherlich nur scherzen wollen.“ „Er war todernst“, erwiderte Kirsten schalkhaft. „Und das Schlimmste daran ist, daß mein Großvater vollkommen recht hat!“ Die Musik machte eine Pause, doch Jim hielt sie immer noch in seinen Armen, als eine kühle Stimme fragte: „Gestatten Sie bitte, Jim?“ Völlig überrascht und verlegen ließ Jim Kirsten los und entfernte sich mit den Worten: „Bis bald, Kirsten.“ Kirstens Unmut wuchs. „Nein, danke, Mr. Moran. Ich bin hierhergekommen, um mich zu amüsieren und nicht Pflichttänze mit einem widerwilligen Gastgeber zu absolvieren.“ Doch innerlich hörte sie die mahnende Stimme ihres Großvaters: „Du mußt die Trümpfe, die du zweifellos besitzt, richtig einsetzen.“ Miles schaute stumm auf sie herab, nicht eine Silbe kam mehr über seine Lippen. Lippen, die auch angespannt eine sinnliche Fülle besaßen. Augen, die stahlhart und entschlossen blickten. Ein markantes Kinn, das Hartnäckigkeit und Entschlußfähigkeit zum Ausdruck brachte.
Kirsten riß sich zusammen, da sie ihren Fehler bemerkt hatte. Sie war fest entschlossen, die Art und Weise zu ändern, mit der sie bislang ihr Ziel verfolgt hatte. Als die Musik einsetzte, bewegte Miles sich immer noch nicht. Sie waren das einzige Paar auf der Tanzfläche, das noch nicht tanzte. Kirsten mußte etwas unternehmen! Langsam und zögernd hob sie ihm die Arme entgegen, so als wollte sie ihn auffordern: Nimm mich in deine Arme. Ich bin bereit, mit dir überall hinzugehen. Dabei lächelte sie ihn strahlend an, und endlich kam Miles einen Schritt auf sie zu und legte den Arm um sie. Er hielt sie ganz vorschriftsmäßig, und doch begann das Blut in ihren Adern sogleich zu pulsieren. Seine Schultern, auf der ihre Hände ruhten, waren kräftig und verläßlich. Sein Nacken unter ihren gespreizten Fingern war stabil wie eine Mauer. Als sie sich bewegten, spürte sie das Spiel seiner Muskeln. Das Licht der Kronleuchter schien ihr immer mehr zu strahlen und es war, als wenn die Kleider der anderen Frauen immer farbenprächtiger wurden. Die Samtvorhänge an den Fenstern schienen feurig im Schein der Lichter zu glühen. Der große Spiegel über dem Kamin reflektierte eine noch weitaus schönere und bezauberndere Welt, als sie die Wirklichkeit mit den vielen lachenden und fröhlichen Gesichtern bot. Es war ein Augenblick der vollkommenen Verzauberung – einer Verzauberung, die durch seine ernüchternden Worte jäh zerstört wurde. „Da Rob jetzt von einer äußerst hübschen, jungen Lehrerin umgarnt wird, haben Sie als Ersatz wohl nur einen männlichen Teenager gefunden, oder?“ All ihre guten Vorsätze, liebenswerter zu erscheinen, waren plötzlich dahin. Sie holte tief Luft, öffnete den Mund – und schloß ihn wieder. Sie konnte – und wollte sich nicht mehr mit Miles Moran streiten. „Was?“ fuhr er provozierend lächelnd fort. „Keine scharfe und bissige Antwort?“ „Sie sind mein Gastgeber, und ich bin Ihr Gast. Gäste und Gastgeber sollten höflich zueinander sein, auch wenn die Höflichkeit nur solange währt, wie der Gast sich im Haus des Gastgebers aufhält.“ Miles lachte. „Nun weiß ich, wie ich Sie gehorsam machen kann. Ich behalte Sie einfach in meinem Haus!“ „Was ist schon dabei“, entgegnete Kirsten seinen Spott, „wenn ich mit einem vier Jahre jüngeren Mann tanze. Außerdem“, sie warf Miles einen kecken Blick zu, „blieb mir auch nichts anderes übrig, da der einzig attraktive Mann hier für mich nicht erreichbar war – er hatte mich eindeutig wissen lassen, daß ich ihm nicht in den Weg kommen soll.“ Miles lachte laut, und die anderen Gäste schauten ungläubig drein, daß die beiden Erzfeinde Miles und Kirsten nicht nur miteinander tanzten, sondern sogar zusammen lachten. „Sie haben also Unterricht genommen in ,Wie bin ich nett zu einem Freund’?“ „Nein“, erwiderte sie und schaute ihn herausfordernd an. Im geheimen genoß sie die Berührung seines Körpers. „Wie bin ich nett zu meinem Feind, um von ihm alles zu bekommen, was ich mir wünsche.“ Eine flüchtige Härte verdunkelte seine Augen. Dann blickte er nachdenklich zu ihr hinab. „Es gibt – mh – andere Mittel, um von einem Mann alles zu bekommen.“ Für einen Moment ruhte ihre Zunge – jedoch nicht ihr Herz. Es schlug schneller als der erregende Rhythmus der Musik, nach der sie tanzten. Immer wieder berührten sich ihre Hüften und Schenkel. Kirsten beobachtete dabei ein rätselhaftes Lächeln auf Miles Gesicht, so als ob er sich an die Augenblicke erinnerte, in denen er sie in seinen Armen gehalten, geküßt und
gestreichelt hatte. Die Musik wurde sanfter und erweckte in Kirsten tief verborgene Gefühle. Sie sehnte sich zutiefst danach, fest und für immer in den Armen dieses Mannes zu ruhen, sich ihm mit Leib und Seele hinzugeben, um eins mit ihm zu werden. Sie schloß die Augen und begann nach der Musik zu summen. „Kirsten?“ Sie öffnete die Augen und bemerkte, daß die Lichter dunkler waren. „Kennst du das Lied?“ Sie nickte. „Sing es bitte.“ Sie schüttelte den Kopf. Der Text des Liedes war zu intim, zu sehr Ausdruck ihrer eigenen Gefühle ihm gegenüber. „Ich kenne es auch“, murmelte Miles, „doch möchte ich es von dir hören.“ Es dauerte einige Minuten, bis Kirsten den Mut fand, seinem Wunsch nachzugeben. Und als sie es schließlich tat, kamen die Worte wie ein singendes Wispern von ihren Lippen. „Laß mich nicht allein, daß ich nicht seufzen muß“, sang sie. „Laß mich nicht allein, daß ich nicht weinen muß. Was wäre mein Leben noch Wert, wenn du auf Wiedersehen sagst? Mein Herz würde daran zerbrechen.“ Seine Wange berührte ihre, und die tanzende, lachende Welt um sie herum hörte auf zu existieren. Es gab nur noch sie beide, und sie schienen auf einer Wolke dahinzuschweben. Ein Kuß streifte ihre Wange und berührte flüchtig ihren vollen Mund. „Miles“, flüsterte Kirsten, „die Leute können uns sehen.“ „Macht dir das etwas aus?“ Sie schüttelte den Kopf. „Mir auch nicht.“ „Lara?“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich habe viele Küsse von ihr bekommen. Deine, mein Schatz, sind wie Wein, ihre sind wie Wasser. Ist das Antwort genug?“ War sie das? Eigentlich nicht, denn er hatte damit eine enge Beziehung zu Lara angedeutet, die in Wirklichkeit ihre Rivalin war. In Wirklichkeit? In ihren Träumen! Denn in der Wirklichkeit hatte sie überhaupt keine Rivalin, da sie diesem Mann nichts, aber auch gar nichts bedeutete. „Sie muß wohl oder übel genügen“, beantwortete Kirsten seine Frage. Miles runzelte die Stirn. „Was soll das bedeuten?“ Mit einem schelmischen Ausdruck in den Augen erwiderte sie: „Sie möchten wohl gern hören, daß ich eifersüchtig bin, nicht wahr? Nun gut“, blitzte sie ihn an, „ich bin es nicht!“ Wieder bemerkte Kirsten den rätselhaften Ausdruck in seinem Gesicht. „Kleine Lügnerin“, flüsterte er. Unwirsch entgegnete sie: „Das bin ich nicht! Sind Sie so von sich eingenommen, daß Sie meinen, jede Frau müßte sogleich Ihren Zauber verfallen?“ „So“, er zwinkerte mit den Augen, „Sie geben also zu, daß ich einen ,Zauber’ ausstrahle?“ „Nein, ich…!“ Der Druck seines Mundes auf ihren Lippen beendete ihren Redefluß wirkungsvoll. Als sich seine Lippen von ihrem Mund lösten, konnte Kirsten ihn nur wie betäubt anschauen und ließ sich willig von ihm führen. Lächelnd fragte Miles: „Warum flirtest du mit mir, Kirsten Hume? Aus Enttäuschung über deinen treulosen Freund Rob Bowes?“ Er schaute quer durch den Raum. „Er hat Glück mit seiner neuen Herzensdame, nicht wahr? Tut es dir leid? Weinst du dich jeden Abend in deinem Kopfkissen aus, weil er dich wegen einer anderen Frau verlassen hat?“ Kirsten blieb auf der Tanzfläche stehen. „Wollen wir die Dinge wieder richtig rücken, und zwar in der Reihenfolge, in der Sie sie erwähnt haben, Mr. Moran.
Erstens flirte ich nicht mit Ihnen…“
Seine Augenbrauen hoben sich. „Nein?“ Sie begann wieder zu tanzen.
„Nein! Zweitens ist mir Rob nicht untreu geworden, da es nie etwas Ernsthaftes
zwischen uns gegeben hat. Er kannte meine Ansichten über die Ehe von Anfang
an.“
„Ach ja“, unterbrach sie Miles, „ich halte in meinen Armen eine Frau, die bereit
ist, ohne Hochzeitszeremonie mit einem Mann zusammenzuleben…“
„Das habe ich niemals behauptet! Drittens weine ich mich nachts nicht wegen
Rob auf meinem Kissen aus.“ Sie wandte den Blick ab. „Ich weine niemals um
einen Mann.“
Es folgte ein derart langes Schweigen, daß Kirstens Blick seine Augen suchte, die
fragend hinabschauten.
„Was macht dein Großvater gewöhnlich am Sonntag?“ Sie runzelte die Stirn bei
dieser Frage, antwortete aber: „Morgens pusselt er in Haus und Garten herum.
Nachmittags und abends macht er bei seinen Freunden und Bekannten die
Runde.“
„So bist du also allein. Möchtest du diese Zeit morgen mit mir verbringen?“
Kirsten errötete, und völlig verwirrt kam sie aus dem Takt, so daß sie beinah
über ihn gestolpert wäre. Aber Miles hielt sie fest umschlungen, um sie vor dem
Fallen zu bewahren.
„Mit Ihnen?“ fragte sie verdutzt.
„Wenn es dir lieber ist, kann ich auch Lara noch dazu einladen“, entgegnete er
trocken.
„Nein, danke! Nun gut, ich werde kommen. Das ist sehr nett von Ihnen, mich
einzuladen.“
Sein Blick fiel auf die gespannten Wölbungen ihrer Seidenbluse. „In diesem ganz
speziellen Moment hat das nichts mit Nettigkeit zu tun, Miss Hume.“
Schmunzelnd flüsterte sie: „Behaupten Sie bloß nicht, daß Sie mich etwa
mögen!“
„Doch, so ist es. Gefalle ich dir zufällig auch ein wenig?“
Mit gespielter Verachtung betrachtete sie ihn. „Nicht besonders. Ich habe schon
bessere männliche Exemplare gesehen!“
Miles knirschte mit den Zähnen: „Warum, du kleine…“
Kirsten entzog ihm ihre Hand. „Vielen Dank für den Tanz. Sie haben Ihre Pflicht
getan. Nun können Sie wieder zu Ihrer Angebetenen zurückkehren. Sie hat mir
bereits tödliche Blicke zugeworfen!“
Mit einem provozierenden Blitzen in den Augen ließ Kirsten ihn stehen.
8. KAPITEL Am anderen Morgen erzählte Kirsten ihrem Großvater, wo sie den Nachmittag und Abend verbringen wolle. Er machte aus seiner Überraschung keinen Hehl. „Mit dem Feind willst du verkehren?“ Kirsten zuckte heftig zusammen, da es wie nach Verrat klang. „Ich versuche nur, deine Ratschläge zu beherzigen, Grandpa“, sie lächelte lieblich, „und spiele meine Trümpfe mit mehr ,Finesse’ aus.“ Thomas mußte lachen. „Die kleine Eva kommt zum Vorschein und versucht, die Schwäche des Mannes auszunutzen. Nun gut, ich kann es schon verstehen. Ein Mann müßte auch blind sein, wenn er dich nicht reizend fände. Wenn du Miles Moran so überzeugst wie deinen Großvater, dann wirst du sicherlich jeden Wunsch von ihm erfüllt bekommen.“ Als der Morgen verstrichen war, bemerkte Kirsten mit Sorge, daß ihr Großvater nicht wie üblich nach dem Zeitungslesen in seinen Garten ging. Statt dessen schien er in eine uralte Zeitung vertieft zu sein, die er an und für sich bereits in und auswendig kennen mußte. Etwas später legte Thomas die Beine hoch, schloß die Augen und schlief sofort ein, was Kirsten tief beunruhigte. Als Kirsten später mit dem Kaffee ins Wohnzimmer kam, tat er so, als hätte er nicht geschlafen. Doch konnte er nicht länger vor seiner Enkelin verbergen, daß es ihm überhaupt nicht gut ging. Kirsten fragte ihn besorgt, wie es ihm ginge, doch er brummelte nur: „Halsschmerzen. Nichts Besorgniserregendes.“ „Schau, Grandpa, wenn es dir nicht gut geht, dann mußt du aber auch ins Bett gehen.“ „Ich und zu Bett gehen! Wo denkst du hin. Ich will heute noch die Runde bei meinen Freunden machen.“ Er hatte vergeblich versucht, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. „Du krächzt ja regelrecht, Grandpa.“ Kirsten beugte sich liebevoll über ihn, „also sind deine Halsschmerzen schlimmer, als du behauptest. Ich weiß auch ganz genau, warum du mir dieses Theater vorspielst – um mich nicht an meinem Besuch bei Mr. Moran zu hindern. Nun, weißt du, was ich jetzt tun werde? Ich werde ihn anrufen und ihm mitteilen, daß ich leider nicht kommen kann.“ „Das tust du auf keinen Fall! Da ich mit deinen Vater fertiggeworden bin, so schaffe ich es wohl auch noch mit dir.“ Seine Stimme klang entschlossen, als er fortfuhr: „Wenn du hierbleibst, gehe ich aus!“ Es fiel Kirsten auf, daß Thomas seinem Sohn noch etwas vererbt hatte, nämlich seine Hartnäckigkeit! Aber die habe ich auch geerbt, dachte sie leicht amüsiert. „In Ordnung. Ich gebe nach“, antwortete sie. „Das gibt es doch nicht! Meine Enkelin gibt nach!“ rief Thomas verwundert aus. „Nun ja, was du mir über meinen Charakter gesagt hast, hat mich sehr getroffen.“ Thomas lächelte matt. „Ich nahm mir also vor, etwas dagegen zu tun.“ Sie wechselte das Thema schnell und fuhr fort: „Ich werde Mr. Moran mitteilen, daß ich nur am Nachmittag bleiben kann. Ernsthaft, Grandpa“, als er Einwände zu machen versuchte, „ich kann nicht die Zeit genießen, wenn ich die Gewißheit habe, daß du hier krank liegst.“ Thomas seufzte. „Du hast gewonnen, mein Schatz. Du gewinnst doch immer, nichtwahr?“ Kirsten runzelte die Stirn. „Ich wünschte, es wäre so. Was die Schule betrifft, so sieht es ganz nach einer totalen Niederlage aus. Es scheint, daß mich fast jeder im Stich gelassen hat. Ich bin so durcheinander, daß ich nicht mehr weiß, wo ich
noch Unterstützung finden kann.“ „Verlier nicht den Mut, Liebes, und du wirst letzten Endes doch noch dein Ziel erreichen.“ Als Kirsten den Hügel zu Miles’ Haus hochging, fielen ihr die Worte ihres Großvaters wieder ein: „Wenn du Miles Moran so überzeugst wie deinen Großvater, dann wirst du sicherlich jeden Wunsch von ihm erfüllt bekommen.“ Würde Miles denken, daß sie seine Einladung nur deshalb angenommen hatte? Dann fragte sie sich selbst, warum sie zu ihm ging. In der Tiefe ihres Herzens wußte Kirsten die Antwort darauf, doch durfte Miles sie niemals erfahren! Es war schon besser, wenn er glaubte, daß sie nur deshalb gekommen war, um seine Ansichten über die Dorfschule zu ändern. Miles begrüßte sie herzlich an der Haustür und streckte ihr beide Arme entgegen, um sie ins Haus zu ziehen. Auf eine solche Begrüßung hätte sie gestern abend vergeblich warten können. Tief in seinen Augen flackerte ein Feuer, das sie am Abend zuvor ebenfalls vergeblich hätte suchen können. Kirstens Blut geriet allein schon bei dieser Betrachtung in Wallung. Sie war froh, daß sie sich ganz leger gekleidet hatte. Ihre Jeans paßten genau zu seinen, mit der einzigen Ausnahme, daß seine Hosen schlanke und feste Hüften umspannten, während ihre Jeans ihre weiblichen und weichen Formen ungemein betonten. Beide trugen kurzärmelige Hemden mit offenen Kragen. Der Unterschied war nur, daß sich bei ihm der dunkle Ansatz seiner behaarten Brust zeigte. Miles schaute sie von oben bis unten an, dann sich selbst. „Ein echter Schnappschuß“, sagte er, und beide lachten. Er führte sie ins Wohnzimmer und drückte sie sanft auf die Couch nieder. Dann setzte er sich an ihre Seite und halb zu ihr gewandt, unterzog er Kirsten einer eingehenden Prüfung. Sein forschender Blick ließ sie zutiefst erröten, und sie schaute verlegen zur Seite und grub die Finger verkrampft in die weiche Ledergarnitur. „Was immer du auch trägst“, sagte Miles sanft, „die Löwin in dir kann niemals verborgen bleiben. Auch wenn du jetzt das verschämte Kätzchen spielst.“ Sie wandte sich jäh um. Sie wollte gerade heftig protestieren, als sie das provozierende Lächeln in seinen Augen bemerkte. Miles lächelte amüsiert, da er die gewünschte Reaktion bei Kirsten hervorgerufen hatte. „Genau das meine ich“, spöttelte er, und Kirsten lächelte reuevoll. „So bin ich nun einmal“, seufzte sie. „Nehmen Sie mich so, wie ich bin, oder lassen Sie mich links liegen.“ „Ich nehme dich.“ Ihre Blicke trafen sich vielsagend und lange. Miles’ Augenbrauen hoben sich fragend, und Kirsten schüttelte unbewußt und kaum merkbar den Kopf. Vorläufig schien er sich mit ihrer Reaktion zufriedenzugeben, doch würde er ganz sicher diese angedeutete Frage nochmals stellen. Miles erhob sich und zog sie mit empor. „Komm mit in den Garten, mein schönes Mädchen.“ Mit der anderen Hand öffnete er die Verandatür, und sie gingen die gepflasterten Terrassenstufen hinunter zum Rasen. Sie schlenderten durch den Rosengarten, und Kirsten atmete tief die verschiedenartigen Düfte ein. Miles hatte seine Hand um ihre Schulter gelegt. Er bückte sich und pflückte eine blutrote Rose ab, entfernte die Dornen und sagte: „Komm her.“ Etwas zögernd folgte Kirsten ihm, da der etwas arrogante Ton in seiner Stimme sie verärgert hatte. Doch war ihr Gefühl für ihn stärker als alle Vernunft. Er schob ihr Haar beiseite und berührte zärtlich ihr Ohr. „Eigentlich sollte ich sie
hierhin stecken“, er lächelte, „aber ich werde sie statt dessen dort anbringen!“ Er öffnete den oberen Knopf ihrer Bluse, ließ seine Hand hineingleiten und steckte den Stiel der Rose durch das Knopfloch. Es war unmöglich, die Wirkung zu verbergen, die seine Berührung hervorgerufen hatte. Kirstens erregter Blick offenbarte ihre innersten Gefühle. Langsam, fast widerwillig zog Miles seine Hand wieder heraus. „Eine wunderschöne Rose“, antwortete Kirsten heiser. „Fast so schön wie das Mädchen, das sie trägt.“ Er ergriff ihre Hand und führte sie durch den Garten zu den zahlreichen Apfelbäumen. Kirsten berührte einen kleinen Apfel. „Sie werden eine gute Ernte bekommen, wenn sie reif sind.“ Miles nickte. „ChartonHaus ist wegen seiner saftigen Äpfel berühmt. Leute kommen von weit her, um sie zu kaufen.“ Seine Blicke wanderten zu Kirsten. „Ich weiß, was du gerade denkst. Da dieser Mann so reich ist, sollte er seine Äpfel besser verschenken als verkaufen. Habe ich recht?“ Lachend und absichtlich auf ihn eingehend sagte Kirsten: „Wann haben Sie gelernt, meine Gedanken zu lesen?“ „Ein Blick auf deine leicht gerümpfte Nase sagte mir: Es können nicht die Äpfel sein, die ihr Mißfallen erregt haben, daher kann es nur die Art sein, wie ich mich ihrer entledige.“ Gleichgültig zuckte Kirsten mit den Achseln. Alle Gedanken, die er in sie hineininterpretierte, waren ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Mit gespielter Ungezwungenheit entgegnete Kirsten: „Da die Äpfel nicht mir gehören, gehen sie mich auch nichts an. Sie können mit ihnen machen, was Ihnen beliebt.“ Miles schien sie ernst zu nehmen, da er trocken antwortete: „Ich habe also deine Erlaubnis, mit den Äpfeln ganz nach meinem Gutdünken zu verfahren. Vielen Dank!“ Sie kehrten zu der großen Rasenfläche zurück, wo Mrs. McBride ihnen den Tee servierte. Sie trug einen Picknicktisch heraus, stellte darauf ein Tablett mit dem Teegeschirr und verließ die beiden mit einem Lächeln. „Wie lange“, spöttelte Miles, als er Kirsten beim Einschenken beobachtete, „soll dieses harmonische Verhältnis andauern?“ Er nahm seinen Tee entgegen, und mit der anderen Hand faßte er an ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. „Da muß es doch irgendwo einen Haken geben.“ Seine Augen blickten sie ernst an. Kirsten senkte unter diesem forschenden Blick verlegen die Augenlider aus Angst, er könnte ihre innersten Gefühle entdecken. „Aha, sie schließt die Augen. Also gibt es tatsächlich einen Haken.“ Es gibt keinen Haken, hätte Kirsten am liebsten herausgeschrien. Ich bin hier, weil ich in der Nähe des Mannes sein möchte, den ich liebe, und du bist der Mann. Das ist alles. Miles ließ ihr Kinn wieder los und trank versonnen seinen Tee. Kirsten befürchtete, daß er glaubte, sie wäre nur gekommen, um ihn ,herumzukriegen’. Ihr Gespräch wechselte zu allgemeinen Themen über das Haus und die Unterhaltung des Besitzes, was sie einander weder näher noch auseinander brachte. Als Mrs. McBride herauskam, um das Teegeschirr zu holen, sagte sie, daß es bereits recht kühl draußen sei. Miles stimmte ihr zu, faltete den Picknicktisch zusammen und wandte sich dem Haus zu. Er lud Kirsten ein, ihm zu folgen. Im Wohnzimmer wies er auf die Couch und gesellte sich auch diesmal wieder zu ihr. Lässig schlug er die Beine übereinander, kreuzte die Arme und lehnte sich nach hinten. Von der Seite betrachtet schien sein Gesicht noch markanter, noch
härter geschnitten zu sein. Das dichte schwarze Haar reizte dazu, liebevoll hineinzufassen. Die klassisch geschnittene Nase und der sinnliche Mund veranlaßten Kirsten zu der Frage, warum gerade sie neben diesem gutaussehenden Mann saß. „Miles?“ Seine Augen wurden lebhaft, und sein Kopf drehte sich langsam herum. „Sag das noch einmal.“ Als Kirsten die Stirn runzelte, sagte er: „Sprich meinen Namen noch einmal aus, aber dieses Mal nicht so, als ob du das furchtsame Kätzchen bist, und ich der Hund, der es jagt.“ „Miles!“ Sein breites Lächeln verriet ihr sein Gefallen. „Ich kann heute abend nicht bleiben.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich jäh, und er schien irritiert zu sein. Sie fügte schnell hinzu: „Mein Großvater ist krank. Ich wäre beinahe überhaupt nicht gekommen, doch er bestand darauf.“ „Nun, das läßt sich nicht ändern“, entgegnete Miles nach einer langen Pause. „Ich hoffe, daß es nichts Ernsthaftes ist?“ Wahrscheinlich eine Erkältung, erklärte sie ihm. Er nickte und nahm seine alte Haltung wieder ein. Seine geschlossenen Augen verwirrten sie. Wenn sie nur schwiegen, warum hatte Miles sie dann überhaupt eingeladen? Wie aus heiterem Himmel fragte er plötzlich: „Nenn mir ein paar Gründe, warum die Dorfschule gerettet werden sollte.“ Mit seinem eigenartigen Verhalten hatte er Kirsten aus dem Gleichgewicht gebracht. „Ich habe Ihnen die Gründe doch bereits an dem Tag erläutert, an dem Sie mich wegen meiner Beinverletzungen hierher gebracht haben.“ „Ich möchte noch mehr wissen.“ „Wie soll ich die herbeizaubern?“ fragte Kirsten schnippisch. Mit kühlen Augen betrachtete er Kirsten. „Diese Bemerkung war vollkommen überflüssig.“ Sie war wie niedergeschmettert, da Miles seine Frage ernst gemeint hatte. „Es tut mir leid“, murmelte sie. „Ein kleiner Rückfall in mein früheres Ich.“ Miles schaute sie verdutzt an. „Mein Großvater hat mir die Leviten gelesen. Es hat sehr weh getan, doch hat er die Wahrheit gesagt.“ In die Stille hinein fuhr sie fort: „Er hat gesagt, daß ich – ungeschickt und taktlos sei.“ Ihr Gesprächspartner hörte mit undurchdringlichem Gesicht zu. „Er hat außerdem festgestellt, daß ich zu unverblümt sei und keinen Spürsinn hätte. Er meinte, ich würde meine Trümpfe nicht…“ Bestürzt hielt Kirsten inne. Durch ihre nachlässige Redensweise hätte sie Miles beinah in dem Glauben bestärkt, daß sie nur aus reiner Berechnung zu ihm gekommen sei. Für eine lange Zeit blieb Miles mit geschlossenen Augen und zurückgelehntem Kopf wie eine Statue auf dem Sofa liegen. Als er schließlich den Kopf hob, wirkten seine Bewegungen entschlossen, so, als ob er die Antwort für ein Problem gefunden hätte. Mit einem leicht angespannten Lächeln wandte er sich Kirsten zu. „Spiel deine Karten wohlüberlegt aus, Kirsten, mein Liebling“, sagte er weich, „Und wer weiß, vielleicht wirst du sogar das Spiel gewinnen. Aber“, er rückte, für Kirsten völlig überraschend, von ihr ab, „ich werde die erste Karte ausspielen.“ Er öffnete die Arme. „Komm zu mir, Kirsten.“ Kirsten wurde plötzlich wachsam und bewegte sich nicht. „Komm, mein Liebes, ich habe das Spiel eröffnet.“ Sie wußte, daß es eine Falle war. Er hielt alle Karten mitsamt dem As in der Hand. Wenn sie sich nicht rührte, so brauchte er nur seine Kraft anzuwenden. Wenn sie versuchte, davonzulaufen, so würde sie nicht weiter als bis zur
Wohnzimmertür gelangen. Fest verklammerte sie ihre beiden Hände, denn wenn sie sie freigeben würde, so gäbe sie sich selbst preis – ein verstohlener Blick zu seinem Gesicht sagte ihr, daß sie das Haus als eine andere Person verlassen würde, wenn sie seiner Aufforderung nachgäbe. Könnte sie ihn doch nur beschimpfen, ihre alte Feindschaft wieder neu beleben, damit sie Abstand zu ihm herstellen konnte. Doch vermochte Kirsten nur zu stammeln: „Ihre Haushälterin – sie – sie könnte kommen.“ „Zu dieser Zeit ruht sie sich immer aus.“ Das war ihre Chance. „Sie sind so großzügig zu Ihren Bediensteten.“ Sie gratulierte sich selbst zu dem gekonnt verächtlichen Ton in ihrer Stimme. „Man sollte Sie anstatt ‚Mister’ ,Lord’ nennen.“ Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie seinen wachsenden Ärger bemerkte. „Ich als Dorfschullehrerin wäre in der Feudalherrschaft ja auch nur einer Ihrer Vasallen gewesen. Sollte ich nicht eigentlich ,Mylord’ zu Ihnen sagen?“ Miles holte aus, ergriff ihren Arm und zwang ihre Hände auseinander. Dann zog er sie über das Sofa zu sich hinüber, und Sekunden später lag sie der Länge nach auf dem Sofa in seinen Armen. Noch immer weigerte Kirsten sich, sich zu ergeben, doch ihre Gegenwehr war vollkommen sinnlos. Miles gewann mit Leichtigkeit. Vom Kampf angeregt, glänzten seine Augen feurig, und fordernd näherten sich ihr seine Lippen. Er beendete ihre Feindseligkeiten schlicht und einfach damit, daß er ihren Mund verschloß. Der Kuß war kurz und hatte eine Spur von Härte an sich. Als er Kirsten wieder freigab, fühlte sie sich nicht nur am Mund, sondern auch in ihrem Selbstrespekt verletzt. „Das gute Benehmen“, sagte Miles herausfordernd, „hat nicht lange angehalten, nicht wahr? Das lächelnde Mädchen, das ich ins Haus gelassen hatte, war nicht lange nett.“ Sein Sarkasmus schmerzte Kirsten zutiefst. Doch hätte sie ihm nicht erklären können, warum sie sich wieder wie früher verhielt. Nun habe ich ihn mir wieder zum Feind gemacht, dachte Kirsten unglücklich, und was hat das letzten Endes genutzt? Seine muskulösen Arme hielten sie weiterhin fest an sich gepreßt. Sie drehte den Kopf von seiner Schulter fort, gegen die ihre Wange geschmiegt war. „Wäre ich doch erst gar nicht gekommen“, stammelte Kirsten verlegen, da ihr die Intimität dieser Situation plötzlich offenbar wurde. „So?“ fragte Miles mit gespielter Überraschung. „Aber gestern abend sind wir doch sehr gut miteinander ausgekommen. Darum verspürte ich den Wunsch, dich besser kennenzulernen.“ Er lächelte vielsagend. „Außerdem kann man sich in Gesellschaft anderer nie so nahekommen, wie wir es jetzt können.“ „Wenn es das ist, was Sie im Sinn haben, dann…“ Sie wehrte sich heftig und wand sich hin und her, um sich aus der eisernen Umklammerung seiner starken Arme zu befreien. Doch je mehr Kirsten sich sträubte, desto fester wurde sein Griff; würde sie sich fügen, so könnte sie auch dann nicht ihrem Schicksal entgehen, das sie erwartete. „Mein Liebes, du mußt gewußt haben, warum ich dich einlud. Du bist vielleicht unschuldig – ich glaube sogar, daß du es sicherlich noch bist – , doch du bist nicht unwissend. Ich habe dir gesagt, wie du auf mich wirkst und…“ Er zog sie fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Wie ich dich begehre. Ich möchte dich besitzen.“
Für Kirsten gab es keine Chance der Gegenwehr, da er sie schon wieder küßte. Er hatte sie fest in seine Arme geschlossen und streichelte sie zärtlich. Seine sanften Hände glitten über ihren Körper und fanden die Rose, die er behutsam beiseite legte. Seine suchenden Finger brachen alle Tabus: Sie fanden die warmen und seidenweichen Brüste, die unter der halbgeöffneten Bluse erregt bebten, und folgten gekonnt den Kurven ihres weiblichen Körpers. Er folgte entschlossen seinen eigenen Spielregeln – und brach ihre dabei. Seine Liebkosungen erweckten in ihr ein bis dahin unbekanntes Gefühl der Leidenschaft und Lust, das tief in ihrem Inneren bis zu diesem Augenblick geschlummert haben mußte. Er liebkoste und streichelte sie so lange, bis Kirsten beide Arme um seinen Nacken schlang und ihr Mund nach mehr und mehr Küssen verlangte. „Kirsten“, flüsterte er und schaute sie an, „gib zu, du gehörst mir.“ Sie wandte sich von ihm ab. Ein Schamgefühl befiel sie, das sie selbst in diesem Moment der Leidenschaft nicht abzustreifen vermochte. Seine Finger faßten nach ihrem Kinn und drehten ihr Gesicht zu sich um. „Sag es mir“, drängte er. Seine Hände umschlangen ihren Hals, und seine Lippen näherten sich, wie von einem Magnet angezogen, und bedeckten ihren Mund. Als Kirsten wieder sprechen konnte, schaute sie in seine Augen. Darin erblickte sie Zärtlichkeit, männliches Verlangen und Leidenschaft. Doch war es bei Miles wirklich mehr als ein starkes lustvolles Begehren? Sie konnte nicht länger Ausflüchte machen. Aufrichtigkeit war in ihr ebenso tief verwurzelt wie Zurückhaltung, und ihre Lippen formten sich zu den Worten: „Ich liebe dich.“ Der Küß, der folgte, löschte alle Zweifel in ihr, und sie verlor jegliche Kontrolle über sich. Wenn er gewollt hätte, hätte er sie jetzt in sein Zimmer tragen und sich die Liebe von ihr holen können, die sie für ihn empfand. Statt dessen zog er sie hoch und setzte sie neben sich. Ihren Kopf drückte er sanft gegen seine Schulter, und seine Arme umschlangen ihren Körper. Jetzt war er es, der Zurückhaltung übte, was Kirsten nach diesen Augenblicken der höchsten Leidenschaft völlig verwirrte. Er blickte zu ihr hinunter, und ein eigenartiger Ausdruck lag in seinen Augen. Mit zärtlicher Belustigung sagte Miles: „Nun, ich warte.“ Kirsten runzelte die Stirn. „Auf was?“ „Auf die Bitte: Miles, setz dich für die Schule ein.“ Ein eisiges Schweigen folgte. „Mach schon“, flüsterte er, indem er ihr Haar küßte. „Du hast mich genau dort, wo du mich hinhaben wolltest.“ Es wurde Kirsten wieder bewußt, daß Miles immer noch glaubte, daß sie nur gekommen wäre, um ihn zu beeinflussen. Er wartete nun lächelnd darauf, daß sie ihre neue Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, zu ihren eigenen Vorteilen nutzen würde. Sie brauchte nur zu sagen… „Miles“, sie spielte mit den Knöpfen seines Hemdes, „das kann ich nicht. Ich kann nicht über alltägliche Dinge sprechen.“ Ihre Wangen waren errötet, und sie schaute ihm offen in die Augen. „Nicht jetzt, nachdem wir…“ Kirsten streckte sich ihm liebevoll entgegen, um ihn spüren zu lassen, daß sie seine Lippen wieder fühlen wollte. „Kirsten“, Miles hielt sie von sich ab und sah ihr direkt in die Augen, „möchtest du, daß ich weitergehe? Bis zum Letzten?“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Gut. Dann höre auch auf, mich zu reizen, du kleine Hexe. Du weißt genau, wie du auf mich wirkst – ich habe es dir oft genug gesagt.“ Er hob die Rose auf und befestigte sie wieder an der alten Stelle. Seine Hände, die in die Bluse
hineinglitten, fühlten sich nicht mehr fremd an. Als sein Handrücken einen Augenblick zwischen ihren Brüsten verweilte, begann ihr Puls zu rasen, und sie hätte am liebsten seine Hand an ihren Körper gepreßt. Langsam zog Miles seine Hand heraus und schaute ihr dabei in die Augen. „Das“, sagte er zärtlich, „wird uns fernhalten. Keiner von uns beiden möchte eine schöne Rose zerdrücken, nicht wahr? Nun sitz ruhig neben mir und sprich. Überzeuge mich, überrede mich, beeinflusse meine Meinung, wie auch immer du möchtest.“ Kirsten brauchte ein paar Minuten, um ihre Gedanken zu ordnen und einen zusammenhängenden Satz zustande zu bekommen. Zuerst sprach sie stockend, doch dann flossen die Worte schnell dahin. Die Argumente, die sie nannte, entsprangen einem ehrlichen Herzen. „Mmh“, war Miles’ einziger Kommentar zu ihrem Wortschwall. Irgendwann, während sie sprach, mußte er seinen Arm zurückgezogen haben, denn sie bemerkte, daß nun jeder für sich saß. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und mußte feststellen, daß der feurige und leidenschaftliche Liebhaber von der Person verdrängt worden war, die sie so fürchtete: ihrem Feind, dem Vorsitzenden des Kulturausschusses. Mehr als alles auf der Welt wünschte sie sich den anderen Mann zurück, dem sie ihre Liebe gestanden hatte, dem sie erlaubt hatte – wie noch keinem anderen Mann zuvor – , sie so intim zu liebkosen und sie mit einer solch fordernden Leidenschaft zu küssen. „Miles“, sie schmiegte sich an ihn und legte den Kopf an seine Schultern, „warum hast du nie geheiratet?“ Er nahm sie nicht wieder in seine Arme, was Kirsten sehr enttäuschte. „Ich brauchte es nicht.“ Miles lächelte. „Wie du wohl gemerkt hast, mein Schatz, bin ich ein ganz normaler, sinnlicher Mann. Ich bin fünfunddreißig und kein unerfahrener Teenager mehr.“ „Wenn du damit Jim Rayburn meinst“, erwiderte sie, „so mußt du wissen, daß er fast zwanzig ist.“ „Ach ja.“ Miles’ Stimme war voller Ironie. „Heutzutage kann ein fast Zwanzigjähriger genauso erfahren sein wie ein Mittdreißiger.“ Er faßte sie ans Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich hin. „Ist er das? Du müßtest das doch wissen!“ Irritiert antwortete Kirsten: „Hör doch bitte mit diesem Unsinn auf.“ „Ich dachte nicht, daß es Unsinn sei. Ich nahm an, daß er Robs Platz in deinem Leben eingenommen hätte.“ „Ich habe dir doch erzählt, daß Rob keinen Platz in meinem Leben hatte. Ich hatte ihm von Anfang an gesagt, daß Heiraten…“ „… für dich nicht in Frage käme. Ja, ich erinnere mich nun.“ Das Aufleuchten in seinen Augen ließ Kirstens Herz höher schlagen. „Worauf warte ich eigentlich noch? Mein Liebling“, er erhob sich und erfaßte ihre Hände, „komm mit mir nach oben.“ Kirsten entriß ihm die Hände. „Hör bitte auf, mich zum Narren zu halten.“ Sie schaute flehend zu Miles empor. Er lachte, setzte sich wieder und legte diesmal den Arm um sie. „Ist – ist Lara im Moment die Frau, die du liebst?“ „Lara? Lara Holland? Mit ihr verbinde ich nicht das Wort Liebe! Sie ist kalt und berechnend und will nur eins.“ Kirsten fuhr mit ihrer Fragerei fort. Irgend etwas trieb sie an, obwohl es gegen ihre Vernunft ging. „Warst du in deinem Leben schon einmal richtig verliebt,
Miles?“ Er wurde plötzlich merkwürdig still. „Einmal. Vor einigen Jahren.“ Eine lange Pause. „Sie war verheiratet. Ihr Mann war Invalide. Wir wußten, daß er nicht mehr lange zu leben hatte, darum wartete ich.“ Das Schweigen hielt lange an. Verstohlen sah Kirsten ihn an. „Schließlich starb er.“ Kirsten hielt den Atem an. „Und…?“ War Miles bereits verheiratet gewesen? „Und – sie ging auf und davon und heiratete einen anderen. Jemanden, mit dem sie eine heimliche Liebesaffäre gehabt hatte.“ „So, damit war das also vorbei?“ „Nein. Als ihr zweiter Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, kam sie wieder zu mir gekrochen und bat mich, sie wieder zu nehmen. Ich sagte ihr, sie solle sich zum Teufel scheren. Als sie fort war, schwor ich mir, daß ich niemals mehr einer Frau vertrauen würde, daß ich nie heiraten oder eine Bindung eingehen würde, die mich daran hindern könnte, zu gehen, wann es mir beliebt. Dann könnte ich jederzeit auf Wiedersehen sagen, die Tür schließen und nie mehr zurückkehren.“ Und sie hatte diesem Mann gesagt, daß sie ihn liebte! Könnte sie doch nur die Worte ungeschehen machen. Er beugte sich über sie und zog sie sanft zurück. „Bis ich ein Mädchen mit goldrotem Haar und dem entsprechenden Temperament traf, das Augen besitzt, die so groß und tiefgründig wie der Ozean sind, und das, seiner aufrichtigen Prinzipien wegen, einem Mann nicht untreu oder falsch zu ihm sein kann. Dich, mein Liebling, mein Kätzchen, meine Kirsten.“ Mit einer ungestümen Handbewegung strich Miles ihre Haare nach hinten, nahm ihr Gesicht in die Hände und nahm ihren Mund in Besitz. Er öffnete ihre Lippen und trank von ihrer Süße. Besitzergreifend wartete er auf eine Erwiderung von dem Mädchen unter seinem kräftigen, schlanken Körper, die Kirsten ihm bereitwillig gab. Als er ihre Brüste streichelte, drängte sie sich ihm lustvoll entgegen. Sie wollte ihn spüren lassen, wie sehr sie ihn liebte, wie alles von ihr ihm gehörte. Er küßte ihren Hals, ließ seine Lippen an ihrer Schulter entlanggleiten, von der die Bluse verrutscht war, und schweifte mit dem Mund über ihre Brüste, als ob er ein Recht dazu hätte. Dann legte er seine Wange an die Stelle, wo sein Mund gerade verweilt hatte. Kirsten drückte ihn fest an sich, und als er seinen Kopf hob, sah sie in seinen Augen den feurigen Glanz einer tiefen Leidenschaft. Unwillkürlich kamen ihr seine Worte wieder in den Sinn: „Dann könnte ich jederzeit auf Wiedersehen sagen, die Tür schließen und nie mehr zurückkehren.“ „Miles“, flüsterte sie aufgeregt und sprach die Worte des Liedes, das sie ihm am Abend zuvor gesungen hatte: „Wenn du auf Wiedersehen zu mir sagst, wird mein Herz daran zerbrechen!“ Er setzte sich wieder aufrecht, tastete nach ihrer Hand und wurde still. Kirsten nahm an, daß er eine lange, glückliche und stabile Beziehung brauchte, ehe er den Schmerz vergessen würde, der ihm von dieser treulosen und wankelmütigen Frau zugefügt worden war. Mit der freien Hand versuchte sie, die Knöpfe ihrer Bluse zu schließen. Als Miles ihr vergebliches Bemühen bemerkte, beugte er sich vor und knöpfte sie selbst zu. Da sie noch immer von ihren Gefühlen überwältigt war, konnte sie ihm ihren Dank nur sprachlos zulächeln. Er hob ihr Handgelenk hoch, und sie erbebte sofort unter seiner Berührung. Er zeigte auf die Uhr. Kirsten rief aus: „Mein Großvater! Ich muß gehen.“
„Das ist gut so“, flüsterte Miles und küßte Kirstens Ohr, „unter diesen Umständen
ist das ebensogut.“
Er begleitete sie zur Tür. „Ich bringe dich nach Haus.“ Kirsten protestierte, doch
brachte er sie mit einem flüchtigen Kuß zum Verstummen.
Von der Treppe aus schaute Mrs. McBride ihnen ungläubig nach.
„Ich bin zum Essen wieder zurück“, rief Miles ihr zu. „Allein. Miss Hume muß
nach Hause, da ihr Großvater krank ist.“
Die Haushälterin drückte ihr Bedauern aus und hoffte, daß Mr. Hume bald wieder
gesund werden würde.
9. KAPITEL Zu Hause angekommen, wollte Kirsten sich gerade bei Miles bedanken, als sie feststellte, daß auch er den Wagen verließ. „Es ist nicht nötig…“ begann sie, doch Miles hörte nicht auf sie. Als Kirsten die Haustür öffnete, rief sie nach ihrem Großvater. „Ich bin im Bett, Liebes“, antwortete er. „Meine Beine waren so eigenartig. Ich glaube, es ist eine Grippe.“ Kirsten wandte sich Miles zu. „Du sollst dich nicht anstecken. Du mußt gehen.“ Doch Miles machte ein Zeichen, ihm nach oben zu folgen. Zusammen betraten sie Thomas’ Schlafzimmer, und Kirsten begann sofort, sich für die Unordnung zu entschuldigen. „Vergiß es“, antwortete Miles kurz, und Kirsten fühlte sich erleichtert, daß er trotz seines Reichtums und seiner gesellschaftlichen Stellung kein Snob war. Miles begrüßte den etwas verdutzt dreinschauenden Thomas. „Nun, Kirstens Großväter, von dem sie soviel hält, was haben Sie mit sich angestellt?“ Thomas zog eine Grimasse. „Was so ein verdammter Virus mit einem anstellen kann“, erwiderte er humorvoll, trotz seines Unwohlseins. So blaß und krank er auch war, blieben ihm jedoch weder die leuchtenden Augen seiner Enkelin noch der Grund dafür verborgen. Er runzelte die Stirn, kratzte sich am Kopf, schüttelte ihn, aber stellte keine Fragen. Miles streckte den Arm aus, ergriff Kirstens Hand und zog sie zu sich heran. „Thomas, Ihre Enkelin und ich sind keine Feinde mehr.“ Thomas Gesicht errötete leicht, und seine Augen belebten sich zusehends. „Die Schule?“ fragte er schnell. „Sie hat Sie überredet? Das wußte ich! Ich habe ihr gesagt, wenn sie Sie so mit ihrem Charme weichmacht wie ihren Großvater, dann würde sie von Ihnen alles bekommen, was sie will.“ Ängstlich suchte Kirsten seine Augen. Doch sie konnte darin keine Antwort auf ihre stumme Frage finden. Hatte er die so unbedacht dahingeworfenen Worte ihres Großvaters richtig verstanden? Zu Kirstens großer Erleichterung lächelte Miles. Seine Hand ließ sie nicht los. Wenn Argwohn oder Mißtrauen in seinem Gesichtsausdruck gewesen wären, dann hätte sie es sicherlich bemerkt. Sie kannte das Gesicht des geliebten Mannes bereits so gut, daß sie jede Stimmung darin lesen konnte. „Nein, Großvater, das meinte Miles nicht“, verbesserte Kirsten ihn hastig. „Er meinte…“ Sie holte kurz Luft. Was hatte er gemeint? Sie hatte ihm ihre Liebe erklärt, doch er hatte ihr eigentlich nichts von seinen geheimen und wahren Gefühlen preisgegeben. Begierde, der männliche Trieb zu lieben, zu erobern und zu besiegen – all das hatte er gezeigt, doch reichte das für die drei heißersehnten Worte „Ich liebe dich“ aus? „Er meinte“, ergänzte Miles, und ehe sie sich versah, befand sich Kirsten auf seinen Knien, „dies.“ Seine Hand hinter ihrem Kopf drückte ihren Mund auf seinen, und er nahm sich einen Kuß. „Wir sind Freunde, sehr gute Freunde.“ „Freunde?“ fragte Thomas mit zittriger Stimme. Ihm war, als hätte ein Fiebertraum ihn erfaßt. „Gute Freunde, Thomas. Sie verstehen doch, was ich meine, oder?“ Miles Arm war fest um Kirstens Taille geschlungen. Thomas nickte. „Ich verstehe – glaube ich jedenfalls.“ Miles lachte und schob Kirsten von sich. Er steckte ihr die Hand entgegen und bat sie: „Bring mich bitte hinaus.“
Im Flur nahm Miles sie in die Arme. „Wann kann ich dich wiedersehen, mein
Schatz?“
Kirsten lehnte den Kopf an seine Brust und seufzte zufrieden. „Wann immer du
willst. Morgen abend?“
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Da habe ich leider eine Sitzung.“
„Am folgenden Abend dann?“ fragte sie schüchtern.
Miles hielt Kirsten von sich ab. „Willst du das wirklich?“ Sie nickte mit dem Kopf.
„Du spielst mit dem Feuer, Kirsten. Und Feuer brennt nicht nur, mein Liebling, es
versengt, es verzehrt, es erfaßt alles, was ihm in den Weg kommt.“
Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf. Er lachte. „Du bist so verwirrt, daß du
nicht mehr richtig denken kannst, nicht wahr?“
Ihr Blick war offen. „Ja, so ist es.“
„Nun“, er zog sie an sich, „wir werden sehen.“
Die Zweifel, die sie den ganzen Nachmittag über versucht hatte zu unterdrücken,
überkamen sie jäh wieder.
Angst und eine böse Vorahnung nagten an ihr. Wir werden sehen, hatte Miles
gesagt. Was würden sie sehen?
Als Miles fort war, spürte Kirsten Stunden später noch den letzten
leidenschaftlichen Kuß auf ihren Lippen. Beim Einschlafen an diesem Abend
preßte sie die Finger gegen ihren Mund und nahm seine Küsse mit in ihre
Träume.
Am Montagmorgen beim Schulunterricht meldete sich Andy Brown.
„Es tut mir leid, Miss Hume, daß ich zum Fest gegangen bin.“
Kirsten runzelte die Stirn. Zum Fest? Natürlich, Miles’ Fest.
„Mir tut es auch leid“, rief ein kleines Mädchen.
„Uns auch“, hallte es im Chor wieder.
Kirsten schüttelte den Kopf. „Das macht jetzt nichts mehr aus. Das gehört der
Vergangenheit an.“
„Wir haben Sie aber im Stich gelassen“, beharrte ein Junge. „Sie werden nun
unsere Schule schließen, nicht wahr?“
Ihr fielen wieder Miles Worte von gestern abend ein: Wir werden sehen. Was
hatte er nur damit andeuten wollen, dachte Kirsten besorgt.
„Weil ihr zu Mr. Morans Fest gegangen seid?“ Sie seufzte. „Ich bezweifle, daß es
irgendeinen Unterschied bewirkt hat, Billy.“ Ihrem Lächeln fehlte die
Überzeugungskraft. „Ich verzeihe euch“, erwiderte Kirsten mit gekünstelter
Fröhlichkeit. Dann wurde sie ernst. Es war nur fair von ihr, die Kinder auf das
Schlimmste vorzubereiten. „Ihr wißt sicherlich, daß ihr wesentlich früher
aufstehen müßt, wenn unsere Schule geschlossen werden sollte. Ihr müßt zu der
neuen Schule nämlich immer erst mit dem Bus fahren.“
Wie versteinert saßen die Kinder da und starrten ihre Lehrerin an.
„Zuerst werdet ihr euch in der neuen Umgebung nicht wohl fühlen. Eure Mütter
werden hier im Dorf sein, und ihr werdet sie in euren Pausen vom Schulhof nicht
mehr sehen können, wenn sie hier vorbeikommen, um ihre Einkäufe zu tätigen.
Mit euren Freunden werdet ihr nicht mehr gemütlich nach Hause schlendern
können, da ihr auch zurück wieder mit dem Bus fahrt.“
Was habe ich angerichtet? dachte Kirsten verwirrt. Es war offensichtlich, daß die
Kinder den Tränen nahe waren. Wäre es besser gewesen, ihnen nichts von dem
zu erzählen, was ihnen bevorstand?
„Laßt uns fortfahren“, sagte Kirsten abrupt, und sie bemerkte erleichtert, wie sich
die kleinen Gesichter bereits wieder aufhellten.
In der Pause saß Kirsten mit Andy Brown und den anderen zusammen. Ihre
Gedanken schweiften bereits in die Zukunft. Morgen abend würde sie mit Miles
Zusammensein… Andy Brown zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, als er eine Papiertüte knallen ließ. „Miss“, flüsterte er, „wir werden Ihnen helfen. Billy und ich werden uns etwas ausdenken.“ Kirsten lächelte abwesend. „Wobei helfen?“ „Unsere Schule zu retten, Miss.“ Er berührte ihren Arm und lief davon. Armer kleiner Junge, dachte Kirsten. Zerstörtes Elternhaus, zerstörte Träume… Den Abend verbrachte Kirsten mit ihrem Großvater. Die ganze Zeit wartete sie auf seinen Telefonanruf – der jedoch nicht kam. Warum sollte er auch? dachte Kirsten traurig. Um Mitternacht endlich gab sie es auf und ging zu Bett. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde sie Miles wiedersehen. Bis dahin mußte sie sich noch gedulden. Es geschah am anderen Tag nach der Schule. Im Lehrerzimmer kämmte Kirsten sich die Haare. An diesem Morgen hatte sie sie gebürstet, bis sie glänzten. Ihr Puls schlug bereits schneller. In vier Stunden würde sie ihn wiedersehen. Nur noch vier Stunden, dann konnte sie gewiß sein, daß das, was zwischen ihr und Miles am Sonntagnachmittag geschehen war, kein flüchtiger Traum, sondern Wirklichkeit gewesen war. Sie verabschiedete sich im Vorübergehen von Rob und öffnete eine von den beiden schweren Eingangstüren. In diesem Augenblick fuhr ein langer, blitzender RollsRoyce vor. Er ist meinetwegen gekommen, freute sich Kirsten, und ihr Herz schlug wie wild. Nun sehen wir uns bereits vier Stunden eher! Die Wagentür knallte zu, und als sie den Mann mit langen, schnellen Schritten näherkommen sah, blieb ihr Herz vor Schreck stehen. Das war kein leidenschaftlicher Liebhaber, der nicht abwarten konnte, bis er sie wieder in seinen Armen hielt. Dieses Gesicht war weiß vor Wut, seine Augen strahlten eine Kälte unter dem Gefrierpunkt aus, und seine kantigen Bewegungen ließen einen unterdrückten Zorn ahnen. Gnade der Person, die seinen Zorn erweckt hat, dachte Kirsten zitternd. Sie wollte ihn vorbeilassen, doch er erfaßte sie und stieß sie zurück. Ich bin es, dachte sie wie betäubt, hinter der er her ist. Womit habe ich das verdient? Hat der Ausschuß eventuell gegen seinen Willen für die Schule gestimmt? Wenn das der Grund für seine Wut war, so würde sie ihm voll die Stirn bieten. Seine Hände hatten ihre Arme so fest umklammert, daß sie die Schmerzen nicht länger ertragen konnte. „Miles, du tust mir weh.“ Sie sprach leise und sanft. „Dir weh tun? Bei Gott, wenn ich könnte, wie ich wollte“, zischte er durch die Zähne, „dann würde ich noch mehr tun, bis du um Gnade flehst! Wo ist Rob Bowes?“ Sie sagte es ihm, und er zerrte sie hinter sich her, als er Robs Tür öffnete. Rob erhob sich sofort und schickte sich an, den erlauchten Besuch zu begrüßen, doch Miles unterbrach ihn. „Ich möchte mit diesem Mädchen allein sprechen, und ihm die Federn lesen. Diesmal ist sie zu weit gegangen!“ „Kirsten?“ Rob blickte völlig verdutzt drein. Kirsten vermochte nur mit dem Kopf zu schütteln. „Es sei denn, wir haben gewonnen, und Mr. Moran hat verloren.“ Miles schlug die Studiotür hinter sich zu. „Es sei denn, du hast gewonnen? Gewonnen? Glaubst du wirklich, daß du mit deiner Gewalttat einen Sieg davongetragen hast?“ . „Gewalttat?“ Kirstens Gesicht war so weiß wie seins. „Ich weiß nicht, was du meinst.“
Er schob sie in das Lehrerzimmer und stieß sie brutal von sich. Sie stolperte rückwärts und stieß mit dem Oberschenkel gegen den Tisch, doch, benommen wie sie war, verspürte sie den Schmerz nicht. „Du weißt nicht, was ich meine? Das bedeutet, daß du eine ausgemachte Lügnerin und eine gemeine, verabscheuungswürdige, bösartige kleine Hexe bist. Du weißt genau, was du getan hast.“ Wutschnaubend näherte er sich ihr. „Du hast sowohl das örtliche Krankenhaus als auch das Waisenhaus und das Altersheim in der Stadt um ihre kostenlose Apfellieferung gebracht.“ „Was habe ich?“ stammelte sie. Er packte sie an den Schultern, und obwohl sie sich duckte, konnte sie nicht verhindern, daß er sie heftig schüttelte. „Mach mir doch nicht vor, daß du nichts weißt.“ Sie begann vor Angst mit den Zähnen zu klappern und ihr wurde ganz weich in den Knien. Als Miles endlich ihren Zustand bemerkte, hörte er auf sie zu schütteln und ließ sie los. Sie stürzte gegen den Tisch, rutschte ab und fiel zu Boden. „Äpfel“, wisperte sie, „was ist mit ihnen passiert?“ „Willst du immer noch vortäuschen, daß du nichts von der Plünderung meines Obstgartens weißt, daß alle Äpfel nutzlos unter den Bäumen liegen, obwohl sie noch lange nicht reif sind?“ „Oh, nein!“ stöhnte sie. „Oh, ja“, knirschte er. „Ich schwöre, daß ich nichts davon weiß.“ Sie ahnte, daß er ihr keinen Glauben schenken würde. „Mein Gott, bist du eine gute Schauspielerin.“ Die Hände auf die Hüften gestemmt, schaute er auf die gekrümmte Gestalt zu seinen Füßen herab. „Und ich habe dich aufrichtig genannt, ehrlich und offen. Ich hatte deine Offenheit begrüßt, da ich glaubte, endlich eine Frau gefunden zu haben, der ich wieder vertrauen könnte. Einer Frau vertrauen?“ er lächelte höhnisch. „Niemals, niemals wieder!“ „Miles“, ihr verzweifelter Blick hielt ihm stand, „ich sage dir doch, daß ich nichts davon weiß.“ „Wer hat es dann getan? Wer ist in meinem Obstgarten eingedrungen und hat jeden einzelnen Apfel von jedem einzelnen Baum abgepflückt, wenn du es nicht warst? Ich kann mich noch gut an deinen mißbilligenden Gesichtsausdruck erinnern, als ich dir am Sonntag erzählte, daß ich meine Äpfel verkaufen würde. Ich habe mich sogar noch darüber ausgelassen, was du wohl darüber denkst, und du hast mir nicht widersprochen.“ Nein, dachte Kirsten unglücklich, ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, zu sagen, daß ich diese Gedanken nicht im Kopf gehabt hatte. „Wenn ich mich richtig erinnere, warst du sogar so heuchlerisch, noch zu erwähnen, daß eine gute Apfelernte zu erwarten sei. Du mußt diese Worte bereits mit der Gewißheit gesagt haben, daß es erst gar nicht so weit kommen würde. Mein Gott, müßt ihr euch amüsiert haben, du und deine Gehilfen, denn allein konntest du es nicht bewerkstelligt haben. Wer hat dir geholfen?“ Seine Augen schlossen sich zu einem Spalt. „Jim Rayburn, dein junger Liebhaber?“ Kirsten rappelte sich hoch. „Um Himmels willen, bring Jim bitte nicht ins Spiel. Er hatte nichts damit zu tun!“ Oh, nein, dachte sie und, preßte ihre zitternden Finger an die Schläfen. Jetzt habe ich mich selbst beschuldigt. Natürlich griff Miles das sofort auf. Er näherte sich ihr bedrohlich langsam. „Damit hast du deine Beteiligung an dieser Schandtat zugegeben. Nun, wer hat dir geholfen?“
Er schaute sie so zornig an, daß sie nach hinten auszuweichen versuchte, doch
blockierte der Tisch ihren Rückzug. Von draußen klang Kindergelächter in den
Raum.
Ein Kind! Kirsten lief es siedend heiß den Rücken herunter. Andy Browns Gesicht
tauchte vor ihren Augen auf. „Wir werden Ihnen helfen, Miss. Billy und ich
werden uns etwas ausdenken!“ Andy Brown, ein unglücklicher und ungewollter
kleiner Junge, den das Leben in seinen sechs Jahren schon so hart angefaßt
hatte.
Bestürzt schaute Kirsten zu Miles hoch. Nun war ihr klar, wer es getan hatte. Ihr
war aber auch bewußt, daß Miles niemals den Namen des wahren Übeltäters
erfahren durfte.
„Nun, wer war es?“ wiederholte Miles.
Kirsten lehnte sich gegen den Tisch und senkte den Kopf.
„Du, tatsächlich?“ Seine Stimme klang wie ein heiseres Flüstern. Sie nickte. „Und
du hast mir gesagt, daß du mich liebst. Ich durfte dich küssen und
leidenschaftlich liebkosen, fast bis zur völligen Hingabe.“
Miles war außer sich vor Wut. Er trat auf sie zu und packte sie mit beiden Händen
am Hals, bis sie aufschrie. Dann griff er zornig in ihr Haar und zerrte ihren Kopf
nach hinten, bis ihr die Tränen kullerten. Jetzt hatte er seine Gefühle wieder
unter Kontrolle. Er ließ sie los und wischte seine Hände an einem Taschentuch
ab, als ob er sie sich beschmutzt hätte.
„Du bist nichts weiter als eine billige, wertlose, hinterlistige Hexe! Ich hoffe nur,
daß du mir nie wieder unter die Augen gerätst!“
Er wandte sich ab und verließ das Zimmer.
Kirsten fiel auf den harten, hölzernen Stuhl, schlug die Hände vor ihr Gesicht und
weinte herzzerreißend. Nun ja, eine gute Tat hatte sie heute immerhin
vollbracht: Sie hatte Andy Brown beschützt, und das war die Hauptsache.
Als Rob eine Stunde später seine letzte Runde machte, fand er Kirsten noch
immer weinend im Lehrerzimmer vor. Sie fuhr erschreckt hoch, als er behutsam
seine Hände auf ihr Haar legte.
Er betrachtete ihr verweintes Gesicht und sagte mitleidig: „Ich habe alles
mitbekommen. Kirsten, hast du es wirklich getan?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wer war es dann?“
Sie schluchzte: „Ich – ich kann es Ihnen nicht sagen, Rob. Niemandem kann ich
es sagen.“
„Jim?“
„Nicht Jim. Bitte drängen Sie mich nicht. Ich werde es niemals preisgeben.“
Rob brachte sie nach Hause und beobachtete, wie sie langsam zur Haustür ging.
Ihr Großvater war über ihren Zustand entsetzt. Er war voller Sorge und wollte
unbedingt wissen, was geschehen war, wer für ihr Elend verantwortlich war,
denn er würde…
Kirsten unterbrach ihn, und während sie in einen Sessel sank, erzählte sie ihm
von Miles schweren Anschuldigungen.
„Und hast du es getan, Liebes?“ Kirsten schwieg. „Du kannst es ruhig deinem
Großvater erzählen. Sei mir gegenüber aufrichtig wie immer.“
Sie hob den Kopf. „Grandpa, ich habe es nicht getan.“
„Hast du das Mr. Moran gesagt?“
„Zuerst. Dann – dann, als er sagte, daß er mir nicht glaube, habe ich es dabei
belassen.“
„Aber warum, mein Liebling, warum?“ Es folgte keine Antwort. „Weißt du denn,
wer es getan hat?“
Kirsten seufzte tief. „Ich habe so meinen Verdacht. An und für sich bin ich mir ganz sicher.“ Ihre Augen suchten die ihres Großvaters. „Aber ich werde es niemandem erzählen. Keiner einzigen Person. Ich werde dieses Geheimnis einmal mit ins Grab nehmen.“ Ein schwaches Lächeln konnte ihr Großvater sich nicht verkneifen. „Das kann ja noch recht lange dauern, mein Schatz.“ „Auch wenn ich hundert Jahre alt werde“, schwor Kirsten inbrünstig. Thomas ließ sich nun genauso müde wie Kirsten in einen Sessel fallen. „Du hast die Schule verloren, weißt du das? Nun, da er annimmt, daß du der Übeltäter bist, wird er dir niemals vergeben.“ Sie nickte und kämpfte verzweifelt mit den Tränen. Thomas flüsterte: „Auch ihn hast du verloren, Kirsten.“ Sie nickte wieder, und dieses Mal brachen die Tränen unaufhaltsam hervor. An diesem Abend schlenderte Kirsten nach Sonnenuntergang die Hauptstraße entlang. Als sie an der Schule vorbeikam, stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn sie geschlossen wäre. Das Schreien und Lachen der Kinder würde verstummen, keine tobenden und spielenden Kinder mehr im Schulhof sein, kein Pfeifen würde mehr ertönen, um dem Lärm ein Ende zu bereiten. Ein endgültiges Ende! Sie müßte dann das Dorf verlassen und eine andere Anstellung finden. Ihr Großvater müßte wieder allein wohnen, doch es würde ihm wohl nichts ausmachen, da er viele Freunde im Dorf besaß. Ein weißer Wagen mit einer ihr wohlbekannten Autonummer näherte sich. Den Fahrer konnte Kirsten so schnell nicht erkennen, doch das blonde, lächelnde Mädchen an seiner Seite. Lara Holland befand sich wieder in Miles Gesellschaft. Aber hatte sie Lara jemals zu verdrängen vermocht? Und ich habe ihm gestanden, daß ich ihn liebe, dachte Kirsten verbittert. Alles, was er mir zu sagen wußte, war, daß er meine Offenheit und Aufrichtigkeit mochte. Aufrichtigkeit! Die Ironie war so beißend, daß Kirsten innerlich erschauerte. Die Wahrheit war, daß er ihr nie vertraut hatte und bei der kleinsten Erschütterung umfiel. Wie konnte Miles nur eine Sekunde annehmen, daß sie zu so einer gemeinen und kaltblütigen Tat fähig wäre? Sie beobachtete, wie der Wagen in der Ferne verschwand und kehrte langsam nach Hause zurück. Am folgenden Abend rief Jim Rayburn an. „Kommen Sie ins Wirtshaus“, lud er Kirsten ein. „Die Aktionsgruppe hat dort ein inoffizielles Treffen um acht Uhr.“ Was sollte das noch nützen, dachte Kirsten für sich. Wir haben die Schlacht bereits verloren. Trotzdem sagte sie zu. „Haben Sie von Mr. Morans Obstgarten gehört?“ fragte Jim mit gespielter Lässigkeit. „Niemand weiß, wer es getan hat. Eine unangenehme Sache, nicht wahr?“ Andy Brown wollte nur helfen, hätte Kirsten beinah herausgeschrien, doch sie konnte sich rechtzeitig im Zaum halten. Kirsten erzählte ihrem Großvater von dem Treffen. „Du verschwendest deine Zeit, Kirsten. Ist dir das bewußt?“ Kirsten zuckte mit den Schultern und seufzte. Sie hatte bereits viele bittere Stunden verbracht, weil sie keine Möglichkeit sah, sich aus der Falle zu befreien, in die sie ungewollt getreten war. Jim holte Kirsten ab, und sie begaben sich ins Wirthaus. Es war ein altes Gebäude mit niedrigen Balken in der Gaststube, die dem Raum Gemütlichkeit gaben. An den Wänden hingen Messingbecher und viele chinesische Wandteller. Die Tische, an denen die Gäste saßen, waren klein und glänzten anheimelnd im Kerzenlicht. Um einen Tisch in der Mitte der Gaststube saß eine Gruppe von
Leuten, die tiefsinnig in ihre halbleeren Gläser schauten. Als sie Kirsten und Jim sahen, winkten sie und rutschten zusammen, um Platz zu schaffen. Sie wirkten entmutigt und verzagt. Die Gruppe bestand vor allem aus jungen Eltern. Es schien Kirsten, daß man sie etwas angestrengt anlächelte, doch sie war wahrscheinlich überempfindlich, sagte sie sich. Plötzlich jedoch wurde ihr bewußt, daß das Gerücht, sie habe Miles Morans Apfelernte vernichtet, bereits weite Kreise zog. Die Leute, die Miles verehrten und respektierten und genausowenig wie er die Wahrheit wußten, mußten sie für eine gemeine Verräterin halten. Jim holte die Drinks von der Theke und hielt das Glas hoch. „Auf den Erfolg unserer Bemühungen. Lang lebe die Dorfschule.“ Nun bestand kein Zweifel mehr für Kirsten. Als sie ihr Glas nahm, trafen sie böse Blicke, und nur zögernd erhoben die anderen ihr Glas, um auf den Trinkspruch anzustoßen. Jim mußte ebenfalls die feindselige Stimmung gespürt haben, denn er legte den Arm um Kirstens Schulter. Sie wußte, daß dies nur eine beschützende Geste sein sollte – er hatte bereits eine Freundin in der Stadt – , doch einige Anwesende betrachteten sie überrascht und mißbilligend. Es herrschte ein Kommen und Gehen in der gemütlichen Wirtschaft. „Nun“, begann Jim. „Pläne für die Zukunft?“ Die übrigen schauten trübsinnig in ihre Gläser und seufzten nur. „Wir schauen wie Studenten aus, die durchs Examen gesegelt sind“, fuhr Jim bewußt humorvoll fort. Er klopfte sich gegen die Brust. „Laßt uns wenigstens wie Protestierende ausschauen.“ Ein bißchen verschämt setzten sich seine Mitstreiter nun etwas aufrechter hin. Kirsten konnte sich genau vorstellen, was in ihren Köpfen herumgeisterte, doch keiner besaß den Mut, es offen auszusprechen. „Laßt uns nachdenken“, begann Kirsten, um Jims Bemühen, den Kampfgeist der Gruppe wieder neu zu beleben, zu unterstützen. „Wir könnten….“, sie dachte krampfhaft nach. „Wir könnten Streikposten vor den Ratssitzungen aufstellen…“ „Vor dem Sitzungsraum des Kulturausschusses natürlich“, unterbrach sie jemand. Spontan wandten sich zwölf Augenpaare zu Kirsten hin, die spürbar zusammenzuckte. „Wir könnten – äh – versuchen, Ratsmitglieder zu beeinflussen“, fuhr sie tapfer fort. „Bittschriften einreichen“, ergänzte Jim. Ihre Begeisterung riß die übrigen schließlich mit. „Wir müssen unseren Parlamentsabgeordneten dazu bringen, unsere Kampagne zu unterstützen“, warf ein anderer ein. „Wir können uns mit anderen zusammentun, die bereit sind, uns zu helfen“, fügte ein Vater hinzu. „Der Presse können wir Erlasse zukommen lassen“, schlug Kirsten wieder vor. Nach einer Weile schauten ihre Gesichter zuversichtlich und unternehmungslustig aus: Der alte Kampfgeist war wieder da. Wir haben die Schlacht noch nicht verloren, schienen sie zu denken. „Die Schule ist noch in Betrieb“, fügte Kirsten hinzu, um die Gruppe, noch mehr zu beflügeln. „Und wir wollen alles Erdenkliche tun, daß daran nichts geändert wird.“ Eine junge Mutter am Tisch stieß verstohlen ihre Nachbarin an. Als sich die beiden umschauten, folgten die anderen sofort ihren Beispiel, nur Kirsten nicht. Jim flüsterte ihr ins Ohr: „Wir werden belauscht. Jeder einzelne Vorschlag, der
von unserer Gruppe vorgebracht wurde, ist von dem Vorsitzenden des Kulturausschusses mitgehört worden.“ Kirstens Herz schien vor Schreck stillzustehen. Miles Moran befand sich also im Wirtshaus. „Ist er allein hier?“ „Die schöne, verführerische Lara ist bei ihm.“ Hastig warf Kirsten sich die Jacke über. „Es tut mir leid“, erklärte sie den anderen, „aber ich muß nach Hause, da mein Großvater allein ist.“ Ihre Freunde schienen von der Entschuldigung nicht gerade überzeugt zu sein, da ihr Großvater die zwei Jahre vor ihrer Ankunft auch allein gewesen war. Kirsten fühlte deutlich, was sie in ihrem Inneren dachten. Der Mann, dem sie – wie Gerüchte sagten – einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt hatte, saß nur einige Meter von ihr entfernt. Er könnte sie sogar wegen Diebstahls anzeigen. Darum wollte Kirsten die Nähe ihres Opfers möglichst meiden. „Ich werde Sie begleiten“, schlug Jim vor. „Doch, das tue ich“, unterbrach er Kirstens Protest. „Auf Wiedersehen“, rief Kirsten schnell. „Bis bald. Lassen Sie sich noch etwas einfallen.“ Auf ihrem Weg nach draußen mußte sie an Miles vorbei. Die attraktive Blondine saß besitzergreifend neben ihm – sein Arm hatte ihre Schulter umfaßt, so wie Jim es vorher bei ihr getan hatte. Miles’ Gesicht wirkte kalt und hart, ohne jegliche Gefühlsregung. Doch es war die Verachtung in seinen Augen, die Kirstens Herz zu einem Eisklumpen zu verwandeln schien. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, flehten Kirstens Blicke unbewußt: „Vergib mir.“ Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Reaktion. Kirsten fröstelte, und Jim legte seinen Arm um sie. „Kommen Sie“, murmelte er sanft. „Die Temperatur in diesem Raum ist plötzlich so kalt geworden, daß ich noch ein paar Kleidungsstücke mehr gebrauchen könnte.“ „Wieviel hat er von unserem Gespräch mitbekommen, Jim?“ fragte Kirsten, als sie zu ihrem Haus gingen. „Ich bin sicher, fast alles. Wir bemühten uns ja auch nicht, leise zu sprechen, da wir annahmen, nur unter Freunden zu sein. Wir hatten nicht mit unserem Erzfeind Nummer eins gerechnet!“ „Meinen Sie, daß er irgendwelchen Nutzen aus dem Erlauschten ziehen wird?“ Jim verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Wenn man in Betracht zieht, wie er sich Ihnen gegenüber verhält, glaube ich es schon. Kirsten, wenn es nicht zu indiskret von mir ist, möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Haben Sie es getan?“ Sie zog unwillkürlich ihren Arm aus seinem und erwiderte kühl: „Glauben Sie wirklich, daß ich zu so einer Tat fähig bin?“ Leicht errötend stammelte Jim verlegen: „Eigentlich nicht. Ich meine, nein, natürlich nicht. Schauen Sie, Kirsten, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich weiß nur, wie stark Sie sich für die Schule engagiert haben. Ich hätte Sie noch nicht einmal verurteilt, wenn Sie wirklich so weit gegangen wären.“ „Aber ich bin es nicht. Und nun wissen Sie es genau!“ Sie hatten die Haustür erreicht. „Seien Sie bitte nicht so, Kirsten, ich wollte nur in meiner Annahme bestätigt werden, daß Sie unschuldig sind.“ „Nun gut“, sie lächelte wieder entspannter, „ich vergebe Ihnen, obwohl die anderen mir noch nicht vergeben haben.“ „Ich werde es ihnen mitteilen.“ „Bitte, Jim, erzählen Sie es keinem Menschen. Ich habe einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte, doch ich werde den Namen niemals preisgeben. Niemals.
Daher ist es besser, wenn jeder annimmt, daß ich der Übeltäter war.“
Jim lächelte etwas nachdenklich. „Sie sind ein Engel, ist Ihnen das auch bewußt?
Wenn ich nicht bereits eine Freundin hätte…“
„Aber Sie haben bereits eine. Und Sie wissen sehr wohl, daß ich kein Engel bin
und niemals einer sein werde.“
Damit trennten sie sich.
Kirsten fand das Haus leer vor, da ihr Großvater Freunde besuchte. In ihrer
Einsamkeit kamen ihr die alten Erinnerungen ins Gedächtnis zurück, wie sie in
seinen Armen lag und sein leidenschaftlicher und begehrender Blick auf ihr ruhte.
Die Rose, die Miles ihr geschenkt hatte, stand immer noch in einer silbernen Vase
auf dem Kaminsims neben einem Kinderbild von ihr. Plötzlich füllten sich ihre
Augen mit Tränen.
„Sing die Worte“, hatte er ihr an jenem Abend ins Ohr geflüstert, als sie eng
miteinander getanzt hatten. „Ich möchte sie von dir hören….“
„Laß mich nicht allein, daß ich nicht seufzen muß. Laß mich nicht allein, daß ich
nicht weinen muß. Was wäre mein Leben noch wert, wenn du auf Wiedersehen
sagst? Mein Herz würde daran zerbrechen.“
Sie rannte in ihr Zimmer und verbarg ihr tränenüberströmtes Gesicht in ihrem
Kopfkissen.
10. KAPITEL „Miss!“ Jemand zog ihr in der Pause am Rock, und Kirsten blickte hinab. Andy
Browns kleines Gesicht lächelte sie zärtlich an. Dieser niedliche Junge, dachte
Kirsten, was für Kummer hat er mir bereitet!
„Miss, ich möchte Ihnen was erzählen.“ Kirsten beugte sich zu ihm herab. „Meine
Mami – “, seine Wangen waren vor Aufregung gerötet, „meine Mami nimmt mich
wieder zu sich. Sie hat mir erzählt, daß mein neuer Vater mich auch haben will.“
„O Andy!“ Kirsten drückte ihn herzlich an sich und versuchte, ihre dunklen
Gedanken zu verscheuchen, um sich mit Andy über seine neue Familie freuen zu
können. Sie war nun besonders froh, daß sie die Schuld auf sich genommen
hatte.
Er flüsterte ihr ins Ohr: „Die Äpfel, Miss, das waren wir, Billy und ich und Billys
größer Bruder.“ Er schien auf ein dickes Lob von ihr zu warten. Kirsten mußte
ihm nun irgendwie behutsam beibringen, daß das, was sie getan hatten,
vollkommen falsch gewesen war. Als sie es sagte, verdunkelte sich sein Gesicht
jäh.
„Wir haben es nur für Sie getan, Miss. Wir sind zu dem Fest gegangen, obwohl
Sie es nicht wollten. Darum dachten wir, daß wir es mit den Äpfeln
wiedergutmachen könnten.“ Er suchte traurig ihre Hand. „Es war nur für Sie,
Miss.“
Kirsten seufzte und sagte schließlich: „Es war sehr nett von dir, Andy, daß du mir
helfen wolltest. Ich weiß das auch zu schätzen. Aber tu so etwas bitte nie wieder,
ja?“ Langsam schüttelte er bestätigend seinen Kopf. „Und ich freue mich sehr,
daß du zu deiner Mami und zu deinem neuen Vater kommst.“
Andy nickte und sprang wieder fröhlich von dannen.
Als Kirsten im Begriff war, nach Hause zu gehen, rief Rob sie in sein Studio.
„Ich möchte, daß Sie die erste sind, die es erfährt, Kirsten.“ Sie ahnte bereits,
was kommen würde. „Ann und ich werden heiraten.“
„Rob, ich freue mich sehr.“ Sie drückten sich kurz die Hände über dem Tisch.
„Wann wird der Tag der Hochzeit sein?“
„Sobald es sich arrangieren läßt. Kirsten, da ist noch etwas, was ich Ihnen
mitteilen wollte.“
Wiederum wußte sie, was kommen würde. Sie schloß die Augen und fühlte, wie
ihr Herz tiefer und tiefer sank.
„Ich habe es bereits seit einiger Zeit gewußt“, hörte Kirsten ihn sprechen, „doch
ich konnte Sie nicht eher unterrichten, ehe die Verhandlungen nicht
abgeschlossen waren.“
Die Schließung der Schule… Nun ja, dachte sie gleichgültig, was würde das Rob
ausmachen? Für ihn gäbe es keine Probleme. Ann würde als Schulleiterin
zurücktreten, und Rob würde sicherlich als Nachfolger ernannt werden.
„Miles Moran bat mich, es für mich zu behalten.“ Kirsten hörte nur halb seinen
Worten zu. „Er sagte, Sie könnten sich dann die Mühe sparen, neue Wege und
Möglichkeiten des Protests zu suchen.“ Es schien, als konnte Rob sich ein Lächeln
nicht verkneifen. Natürlich konnte er lachen, denn seine Zukunft war gesichert.
Rob bemerkte, daß er nur Kirstens halbe Aufmerksamkeit besaß. „Erinnern Sie
sich an den Tag, an dem Miles zusammen mit einem anderen Mann unsere
Schule besucht hat? Da haben wir es besprochen.“
Nun blickte Kirsten auf. „Was besprochen?“
„Das Fassungsvermögen der Schule. Die größte Anzahl von Kindern, die wir
aufzunehmen vermögen.“
„Die – die größte?“ Kirsten faßte sich an den Kopf.
„Ich habe danach ein paar Berechnungen angestellt – und ihnen mitgeteilt, daß
zwei Klassenräume leerstehen und die Räume, die wir benutzen, nur halb voll
sind. Ich wies außerdem darauf hin, daß wir bei einer größeren Aufnahme
wenigstens zwei weitere Lehrkräfte benötigen.“
„Größere Aufnahme?“ flüsterte Kirsten. „Mehr Lehrer?“ Zitternd griff sie sich an
den Kopf. „Haben wir denn gewonnen? Bleibt die Schule offen?“
„So langsam verstehen Sie mich!“ Rob strahlte übers ganze Gesicht.
„Bitte, erklären Sie mir das“, erwiderte Kirsten heiser.
„Sie wissen ja, daß Moran Fabriken im ganzen Land besitzt?“
Kirsten gelang es zu nicken.
„Sie wissen sicherlich auch, daß die Errichtung eines Industriegebiets am Rande
des Dorfes im Gespräch war? Nun, Moran hat beschlossen, dort eine Fabrik
hinzusetzen.“
Kirstens Wangen waren vor Erregung dunkelrot. „Aber der Planungsausschuß
hatte doch Einwände vorgebracht.“ Ihre Stimme klang atemlos.
„Miles hat sie alle herumbekommen. Er hat ihnen versprochen, ein Gebäude zu
bauen, das sich gut in die Umgebung einfügen wird. Außerdem könnte man somit
der Arbeitslosigkeit im Dorfe beikommen. Ferner müßten viele hochqualifizierte
Facharbeiter herangeholt werden, die er in der Fabrik benötigt…“
Kirsten unterbrach ihn aufgeregt. „Das bedeutet, daß viele von ihnen verheiratet
sind – und Kinder haben!“
„Das erste Mal richtig erraten“, entgegnete Rob lächelnd.
„Also ist unsere Schule gerettet! Und das durch Miles Moran persönlich!“
„Durch niemand anders“, sagte Rob und warf seinen Kugelschreiber in die Luft.
„Ich – wundere mich. Warum?“
„Schauen Sie mich bitte nicht so an“, bat Kirsten. „Für ihn bin ich seit der
Geschichte mit den Äpfeln nur noch der letzte Dreck.“
„Ah, gut, daß Sie mich daran erinnert haben. Die Äpfel – ich weiß, wer es getan
hat, Kirsten.“ Sie hob den Kopf. „Das war Andy Brown mit noch ein paar
anderen.“
„Woher wissen Sie das?“ flüsterte Kirsten.
„Das ist allgemein bekannt. Er hat es selbst allen seinen Freunden erzählt. Er
sagte, daß er es für Sie getan hätte.“
„Werden Sie ihn bestrafen, Rob? Als Schulleiter, meine ich.“
„Nein, das ist Morans Aufgabe. Es handelte sich um seine Äpfel, und es geschah
außerhalb der Schulzeit. Nun müssen Sie ihm aber mitteilen, daß Sie
vollkommen unschuldig sind.“
Energisch schüttelte Kirsten den Kopf.
„Nun gut“, seine Hand griff zum Telefonhörer, „dann tue ich es.“
Sie streckte die Hand aus, um ihn abzuhalten. „Bitte, Rob, tun Sie es nicht, auf
jeden Fall nicht jetzt, bis Andy wieder bei seiner Mutter ist. Er ist so glücklich,
bald in einer Familie leben zu können, daß er es nie in seinem Leben überwinden
würde, wenn seine Mutter ihn der dummen Sache wegen wieder zurückweisen
würde.“
Rob runzelte die Stirn. „Nimmt seine Mutter ihn also zurück?“
Kirsten nickte. „Auch sein Stiefvater möchte Andy gern bei sich haben.“
„Darüber freue ich mich natürlich. Doch muß irgend jemand Ihr Verhältnis zu
Moran bereinigen.“
„Was würde das schon nützen“, entgegnete Kirsten müde. „Ich bedeute ihm
nichts mehr.“
„Aber einst?“
Sie holte tief Luft. „Es schien so, doch ich habe mich wohl getäuscht. Wenn ein
Mann einer Frau derartige Worte an den Kopf wirft, wie er mir…“
„Es ist sehr schlimm, daß es soweit gekommen ist, Kirsten. Doch warum hat er
keine Mühen und Unkosten gescheut, um die Schule zu retten – wenn nicht für
jemanden, der ihm sehr viel bedeutet?“
Kirsten lächelte matt. „Seitdem Sie die Frau Ihres Lebens gefunden haben,
scheinen Sie ein kleiner Romantiker geworden zu sein, Rob. Die richtige Antwort
auf Ihre Frage ist nüchterne geschäftliche Spekulation.“
Rob wirkte nicht sehr überzeugend, doch Kirsten vermochte die Diskussion nicht
länger fortzusetzen. Sie war am Ende ihrer Nervenkraft. Sie fragte Rob um
Erlaubnis, die Neuigkeit ihrem Großvater mitteilen zu können, die er bereitwillig
gab.
„Mr. Moran hat mich wissen lassen, daß alle Verhandlungen abgeschlossen sind
und die zuständigen Ausschüsse ihre Einwilligung gegeben haben, so daß die
ganze Welt es hören darf.“
„Gut.“ Sie lächelte, doch es war nur ein schwacher Versuch.
„Fassen Sie wieder Mut. Sie müssen die Dinge nicht so schwarz sehen.“
„Mein Gott“, rief Kirsten aus. „Anns Einfluß hat Ihnen gutgetan! Sie sind
tatsächlich ein Optimist geworden und nicht länger der Pessimist, der Sie immer
waren.“
Rob lachte gutmütig, und als Kirsten den Raum verlassen hatte, ließ er sich
hinter einem Stapel von Papieren nieder.
Thomas nahm die Neuigkeit hocherfreut auf und drückte seine Enkelin stolz. „Ich
hatte dich mit ein paar Namen bedacht, Liebes, nicht wahr? Ich hatte dir gesagt,
daß du ganz wie dein Vater bist. Doch hatte er nie deinen Mut und deine
Entschlossenheit.“
Kirsten wollte das Lob nicht annehmen. „Wir waren eine ganze Gruppe, Grandpa,
und jeder hat seinen Teil gegeben. Doch um ehrlich zu sein, bezweifle ich die
Wirksamkeit unserer Arbeit.“
Thomas schaute verdutzt drein, und Kirsten fuhr fort: „Mr. Morans Geschäftssinn
war es, dem wir die zukünftige Fabrik zu verdanken haben. Unsere Kampagne
würde auf einen Mann wie ihn keinen Eindruck machen können.“
Thomas setzte sich. „Ich glaube, daß du ungerecht gegen ihn bist, Kirsten. Du
mußt ihm wenigstens Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen zubilligen.“
„Muß ich das?“ erwiderte sie dumpf. Sie setzte sich zu ihrem Großvater auf die
Couch.
Nach längerem Schweigen fragte ihr Großvater behutsam: „Du hast ihn sehr
gern, nicht wahr?“
„Wie kommst du darauf, Grandpa?“ Ihre Stimme klang schwer.
„Der Tag, an dem es mir nicht gutging und du den Nachmittag mit ihm verbracht
hattest, ist mir noch lebhaft in Erinnerung geblieben.“
Kirsten stand unruhig auf. Jedesmal wenn sie an diese wenigen Stunden dachte,
fielen ihr sehnsüchtig Miles’ leidenschaftliche Umarmungen und Küsse ein.
„Die Art, wie er sich dir gegenüber verhielt, ließ mich annehmen, daß auch er
dich mochte.“
„Mochte.“ War das alles gewesen? Warum hatte sie sich denn Hoffnungen
hingegeben, warum hatte sie geglaubt, daß seine Leidenschaft ein tieferes Gefühl
erahnen ließ?
„Ich meine, daß du dich bei ihm persönlich für das bedanken solltest, was er für
die Schule getan hat, mein Liebling!“
Kirsten starrte ihren Großvater sprachlos an.
„Als Leiterin der Aktionsgruppe ist das doch das wenigste, was du tun kannst,
oder? Ich meine, er hat sich viel Mühe aufgebürdet, um dir und deinen Freunden
– dem ganzen Dorf eigentlich – das zu geben, wofür ihr so leidenschaftlich gekämpft habt.“ „Ich kann nicht.“ Sie holte Luft. „Kann ich ihn nicht anrufen und mich bedanken?“ „Das ist nicht dasselbe wie persönlich hingehen“, entgegnete Thomas energisch. „Wenn man bedenkt, was du mit ihm so alles im Laufe der Zeit angestellt hast – ihn vor allen Leuten aus einer Versammlung geworfen, eine Sitzung gestört und dabei so viel Lärm gemacht, daß er dich vor die Tür setzen mußte. Sein Haus hast du besetzt gehalten, und dann noch das mit den Äpfeln.“ Er schaute Kirsten an. „Wer hat Mr. Morans Apfelernte vernichtet? Jetzt kannst du es mir sicherlich erzählen.“ „Nur wenn du mir versprichst, es nicht weiterzusagen. Auf jeden Fall noch nicht jetzt.“ Verwirrt willigte ihr Großvater ein. „Andy Brown“ – Thomas’ buschige Augenbrauen zogen sich zusammen – „und Billy und Billys großer Bruder. Doch ich möchte noch nicht, daß es Mr. Moran erfährt, bis – nun gut, bis Andys Mutter ihn wieder zu sich genommen hat. Ich möchte auf keinen Fall, daß da etwas schiefgeht. Verstehst du das?“ „Ich verstehe sehr wohl, Liebes. So hältst du deinen Kopf für Andy hin?“ Thomas seufzte. „Du bist entweder ein Narr oder ein Engel, mein Schatz.“ Er schmunzelte. „Ich glaube, von beidem etwas.“ Er holte seine Uhr aus der Westentasche hervor. „Sechs Uhr. Du könntest Mr. Moran noch vorm Abendbrot abfangen, bevor er eventuell ausgeht.“ „Muß ich wirklich gehen, Grandpa?“ „Du mußt es wirklich, mein Liebling“, hörte Kirsten ihn im Flüsterton sagen. „Du bist ein mutiges Mädchen und wirst dem Mann, den du so häufig deinen Feind genannt hast, schon offen ins Gesicht schauen können, zumal er sich als Freund erwiesen hat. Du hast einen aufrichtigen Charakter und stehst zu deinen Fehlern, nicht wahr?“ Ohne sich umzuziehen oder frisch zu machen, warf Kirsten die Jacke über die Schultern, schloß die Haustür und ging den Hügeln zum ChartonHaus hinauf. „Ja“, sagte die Haushälterin, „Mr. Moran ist zu Hause. Möchten Sie ihn sehen?“ Die Haushälterin zögerte einen Moment, da «sie ungern einen Besucher an der Tür zurückließ, doch schien sie keine andere Wahl zu haben und verschwand. Miles Moran trat aus dem Dunkeln der Halle hervor. „Komm herein“, sagte er kühl. Kirsten schüttelte den Kopf. „Was ich dir zu sagen habe, dauert nur einen kurzen Moment.“ Ihr Herz schlug heftig, ihr Mund war wie ausgetrocknet, und ihr Verstand schien von einem Dunstschleier eingehüllt zu sein. „Was ich dir allerdings zu sagen habe, dauert etwas länger“, erwiderte Miles bestimmt. „Also komm bitte herein.“ Nach kurzem Zaudern folgte sie seiner Aufforderung und ging mit ihm widerstrebend in das Wohnzimmer. „Nun sag deinen Spruch“, forderte er Kirsten auf, indem er sich auf der Lehne eines Sessels niederließ. Sein gebieterischer Ton entfachte jäh in ihr das Feuer, das sie lange Zeit krampfhaft unter Kontrolle gehalten hatte. „Ich bin nur gekommen“, begann sie hitzig, „um dir zu danken. Du hast also keinen Grund, so hochtrabend zu tun!“ Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen. Miles zog die Augenbrauen mißbilligend zusammen. „Für was willst du mir danken?“ „Du weißt es ganz genau. Dafür, daß du unsere Schule gerettet hast. Rob hat mir deine Pläne mitgeteilt.“
„Das wollen wir nun doch einmal ganz klarstellen.“ Er schlug die Beine lässig übereinander und verschränkte die Arme. „Ich bin ein Geschäftsmann und habe das, was ich bewerkstelligt habe, nur in meinem eigenen Interesse gemacht. Ich erkannte die finanziellen Vorteile, hier auf äußerst günstigem Boden eine Fabrik zu errichten. Auch die Wohnungen für die zusätzlichen Arbeiter werden weniger kostspielig sein als in anderen Gebieten, die durch Straße und Eisenbahn besser zu erreichen sind.“ Seine Augen verengten sich, und er beobachtete scharf die Wirkung seiner Worte auf Kirsten. Offensichtlich zufrieden mit dem, was er sah – ihre wachsende Entrüstung, ihr „Ichwußteesja“ Lächeln – , fuhr er fort, klar und überlegend in seiner Wortwahl: „Ich stelle Produkte her, die ganz nach den Wünschen einer Firma angefertigt werden. Es handelt sich also um keine Massenherstellung, und daher waren schnelle Transportmöglichkeiten von geringerer Bedeutung für mich.“ Während Miles sprach, loderte das Feuer heftig in ihrem Inneren. „Nun habe ich all das erzählt“, warf er beiläufig ein, „was du von mir erwartet hast. Ich kann es an dem Ausdruck deiner Augen erkennen.“ „Ich habe es Rob ja gesagt“, brach es ungestüm aus ihr hervor, „daß du es aus diesen Gründen getan hast. Ich hatte also doch recht, und er lag mit seiner Vermutung völlig falsch.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da bedauerte sie sie bereits heftig. „Was hat Rob angenommen?“ „Es tut mir leid, aber das kann ich nicht erzählen. Außerdem hat er es nicht offen ausgesprochen, sondern nur angedeutet.“ Miles erhob sich und kam langsam näher. „Sag es mir!“ Er sah kalt und bedrohlich aus, und Kirsten wußte, daß er nicht nachlassen würde. „Nun gut.“ Sie schluckte. „Er deutete an, daß du es für – für jemand bestimmtes getan hast. Ich habe mich nun bedankt und werde wieder gehen.“ Sie drehte sich um und hatte gerade die Wohnzimmertür erreicht, als ein harter Griff sie festhielt. Miles drehte sie heftig zu sich herum. „Nicht so schnell, meine Dame! Für jemanden? Die zufällig Kirsten Hume heißt?“ Sie hätte das gefährliche Flackern in seinen Augen eher erkennen müssen, doch ihre Sinne waren wie betäubt. „Glaubst du wirklich, daß ich all das für einen billigen, kleinen Dieb getan habe? Du hast mich meiner kostbaren Ernte beraubt, und nicht nur mich. All die Kinder, denen ich die Äpfel geschenkt hätte, die Patienten im Krankenhaus, deren Verwandte zu arm sind, um einen Luxus wie Obst zu kaufen – das ist es, was ich dir nicht verzeihen kann.“ Seine Hände umfaßten hart ihre Schultern. „Du hast mich verraten, als ich dir völlig vertraut hatte. Nun, du hast mich für immer kuriert, was Frauen anbelangt, hörst du?“ Seine Finger gruben sich tief in ihr Fleisch, so daß sie vor Schmerzen die Augen schloß. „Ich habe bereits einmal die Unaufrichtigkeit einer Frau erfahren dürfen“, fuhr Miles gereizt fort, „dann begegnete ich dir mit deiner sogenannten Ehrlichkeit – alles gelogen! Nun lasse ich mich nie mehr täuschen.“ Seine Hände, die ihre Schultern umklammerten, begannen Kirsten heftig zu schütteln, bis sie es nicht mehr ertragen konnte. „Du weißt nicht“, rief sie verzweifelt aus, „du weißt ja nicht, wie unrecht du hast!“ „Unrecht, wenn die verdorbene Ernte noch unter den Bäumen liegt?“ Kirsten riß sich los, hastete zur Tür und durch die Halle zur Haustür. In diesem Augenblick erschien Mrs. McBride aufgeregt und mit zitternden Händen in der Halle.
„Mr. Moran, Sir“, wandte sie sich flehend an ihn, „ich konnte nicht umhin, Ihr Gespräch mitanzuhören, da Sie so laut sprachen. Ich kann es einfach nicht zulassen, daß Sie Miss Hume einer Tat beschuldigen, die sie überhaupt nicht begangen hat. Das war Andy Brown, Mr. Moran, der kleine Andy, sein Freund Billy und dessen großer Bruder. Das ganze Dorf weiß es bereits, da sie sich mit ihrer Tat überall brüsten.“ Sie blickte zu Kirsten hinüber, sah ihre Verzweiflung und fuhr fort: „Miss Hume ist eine so gute Person. Sie wissen gar nicht wie gut. Sie wollte Andy decken und hat für ihn alle Schläge hingenommen.“ Die anderen beiden sagten kein Wort. „Es tut mir leid, daß ich mich eingemischt habe, Mr. Moran, doch jemand mußte Miss Hume von diesem Vorwurf befreien, zumal sie es selber wohl nicht konnte.“ Ein langes Schweigen folgte. Kirsten lehnte mit geschlossenen Augen an der Haustür. Schließlich hörte sie Miles sagen: „Danke, Mrs. McBride. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.“ Kirsten fühlte Miles Blicke auf ihr ruhen, doch konnte sie ihnen nicht begegnen. „Sie haben mir einen unschätzbaren Dienst erwiesen.“ Miles nickte, und seine Haushälterin entfernte sich taktvoll. „Nun, Miss Kirsten Hume“, näherte er sich ihr zärtlich, „leugne, wenn du kannst, was meine Haushälterin erzählt hat.“ Kirsten schwieg und schaute zu Boden. „So versuchst du es nicht einmal?“ Sie antwortete noch immer nicht. Ihre Hand lag noch immer auf dem Türgriff, doch sie unternahm keinen Versuch, ihn herabzudrücken. Miles kam zu ihr hinüber und legte die Hände auf ihre Schultern. Diesmal waren sie behutsam, und seine Daumen streichelten die weiche Haut ihres Nackens. „Was soll ich mit dir machen, Kirsten Hume?“ „Verfahre mit mir wie gewöhnlich. Wirf mich aus deinem Haus. Beschuldige mich, nenn mich einen Dieb, eine Lügnerin; sag, daß ich gemein, verabscheuungswürdig und bösartig bin. Schüttele mich“, ihre Stimme zitterte, „wirf mich hinaus!“ Er drehte sie blitzschnell zu sich herum. Seine Arme umschlangen sie und drückten sie heftig an seine Brust. „Nur so kann man Kirsten Humes süßen Mund zum Schweigen bringen.“ Besitzergreifend umschloß Miles ihren vollen Mund und zwang ihre Lippen auseinander. In ihrem tiefsten Inneren erwachte jäh ein Verlangen, seine Leidenschaft zu erwidern. Als Miles den Kopf hob und ihre strahlenden Augen ihn anblickten, wurde Kirsten von einem Gefühl der Schwäche befallen. Miles mußte gespürt haben, daß ihre Beine sie nicht länger zu tragen vermochten, denn er hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer. Er warf ein paar Kissen aus dem Sessel, ließ sich darin nieder und nahm Kirsten auf seine Knie. Ihr Kopf fiel sofort gegen seine Brust, ein Seufzer, und Kirsten hatte ihren inneren Frieden wiedergefunden. „Miles, o Miles“, flüsterte sie und schloß die Augen. Er streichelte ihre Haare. „Warum – warum hast du mich so schlimme Dinge von dir denken lassen?“ murmelte er schließlich. „Warum hast du den wahren Übeltäter gedeckt?“ Sie erzählte ihm über Andy Brown, über sein unglückliches Leben, und wie alles nun im Wandel begriffen war. Unsicher suchte sie seine Augen und sah die Frage darin. „Ich wußte nicht, was du mit ihnen machen würdest, wenn du es herausgefunden hättest. Vielleicht hättest du sie…“ „Angezeigt?“ Kirsten nickte. „Das hätten die kleinen Vandalen auch verdient.“ „O nein, Miles! Du mußt nämlich wissen“, ihr Arm umschlang spontan seinen Hals, „daß Andy es für mich getan hat, um mir zu helfen.“ Miles neigte seinen Kopf zurück, und ‘zu Kirstens großer Erleichterung lachte er. „Du möchtest also, daß sie straffrei ausgehen?“
Heftig nickte Kirsten mit dem Kopf. „Ich weiß, daß ich viel von dir verlange, doch
wenn Andys Stiefvater sich wegen dieser Sache wieder gegen ihn wendet…“
„Ich verstehe dich, mein Schatz.“ Er küßte ihre weichen Lippen. „Ich fühle
menschlich, genau, wie du, und besitze Mitgefühl wie du.“ Flüsternd sagte er:
„Halte mich bitte weiter so in deinen Armen.“
Kirsten bemerkte, daß sie mittlerweile beide Arme um seinen Hals geschlungen
hatte und wollte sie verlegen wieder zurückziehen, doch seine starken Arme
drückten sie fest an sich.
„So“, fuhr Miles fort, „sind das die Gründe, warum du in der letzten Zeit deine
schützende Hand über Andy gelegt hattest?“
„Ja, Miles.“
„Sogar gestreichelt, nachdem er dich getreten und geboxt hat?“ Er lächelte mild.
Vor Glück seufzend schob Kirsten ihre Hände unter sein Jackett und rieb sie an
seinem Körper. Ihr Kopf lehnte an seiner Brust, und durch das dünne
Seidenhemd fühlte sie seine dunklen Haare an ihrer Wange.
„Machst du mit mir nun genau das gleiche?“ fragte er sanft. „Streichelst du mich,
nachdem ich dich schlecht behandelt habe? Ich habe dir körperlich wehgetan, dir
mit Worten ins Gesicht geschlagen, mit dir gesprochen, wie ich noch nie zuvor
mit einer Frau gesprochen habe. Trotzdem streichelst du mich jetzt!“ Er bedeckte
ihr Gesicht mit glühenden Küssen, und als er ihren Hals erreichte, erbebte sie vor
Wonne.
„Oh, mein Liebling“, seine Stimme klang betroffen, „ich dachte bereits, daß ich
dich aufgeben müßte, da du mich anscheinend im Stich gelassen hattest. Ich
habe dich geliebt…“
Sie hob jäh ihren Kopf. „Mich geliebt?“
Miles drückte ihren Kopf an sich. „Dich geliebt“, wiederholte er mit Bestimmtheit,
„von dem Augenblick an, in dem ich dich auf dem Podium im Gemeindesaal
gesehen habe. Selbst dann, wenn du mir die Augen auskratzen wolltest, habe ich
dich begehrt.“
„Und als ich versuchte, die Kinder von deinem Fest fernzuhalten?“
„Das war für mich nur eine Lappalie gewesen. Du hattest mich herausgefordert,
und ich bin dieser Herausforderung begegnet. Als die Apfelernte ruiniert war,
habe ich mein Hirn zermartert, um herauszufinden, wer einen solch ungeheuren
Zorn gegen mich hegen könnte.“
Mit blitzenden Augen schaute Kirsten ihn an. „Hattest du wirklich angenommen,
daß ich zu solch einer Tat fähig wäre?“
„Ich wollte nicht glauben, daß du es warst, doch ich mußte es bestätigt haben.
Als du nicktest, nachdem ich dich auf den Kopf zu gefragt hatte, brach ich
seelisch vollkommen zusammen und verlor die Kontrolle über mich.“
Sie antwortete nicht, sondern schmiegte die Wange an sein Gesicht.
„Und als Mrs. McBride mir gerade eben die Wahrheit sagte…“
„Verwandelte ich mich plötzlich von einem Teufel in einen Engel“, beendete
Kirsten.
Miles lachte herzhaft auf. „Engel? Eher in eine Rebellin! Ein Engel, mein Schatz,
mit diesem Kampfgeist und diesem Temperament, mit dieser Haarfarbe?“ Er ließ
behutsam einige Strähnen ihres vollen und glänzenden Haares durch seine Finger
gleiten.
„Ein Engel?“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn wir verheiratet sind – und damit
werde ich nicht lange warten – , möchte ich keinen Engel mit ins Bett nehmen,
mein Liebes. Ich möchte ein Feuerwerk neben mir haben, eine feurige und
leidenschaftliche Frau, die meine innersten Gefühle zu erwecken vermag. Und du,
Geliebte“, seine Augen glühten vor Begehren, „bist diese Frau.“
Er löste seine Krawatte, warf das Jackett auf den Boden, und Sekunden später
lag auch Kirstens Jacke auf dem Haufen.
Sie umarmten sich leidenschaftlich und liebkosten sich zärtlich, bis die Sonne
versunken war. Nur zögernd riß sich Miles zusammen und knöpfte langsam ihre
Bluse wieder zu.
„Nun weißt du“, murmelte er an ihrem Nacken, „daß ich für dich all die
Schwierigkeiten auf mich genommen habe, um die Dorfschule zu retten.“
„Für mich?“ flüsterte Kirsten verzückt. „Doch sicherlich auch für das Dorf und die
Kinder?“
„Um ehrlich zu sein, auch für die Dorfbewohner. Ich vertraue dir ein Geheimnis
an. Ich war von Anfang an auf deiner Seite und auf der deiner Freunde. Doch
wegen meiner Stellung als gewählter Repräsentant konnte ich meine Meinung
nicht offen aussprechen. Nicht einmal dir gegenüber. Außerdem warst du die
Leiterin der Kampagne, nicht wahr?“
Kirsten setzte sich aufrecht hin und sagte ungehalten: „Und trotzdem hast du
mich aus dem Sitzungssaal hinausgeworfen?“
„Du hattest gegen die Besucherordnung verstoßen, mein Kleines.
Ich mußte es tun. Und außerdem – wenn ich dich noch länger berühre und
streichle, werde ich wohl auch gegen die Hausordnung verstoßen. Nicht, daß es
mir etwas ausmachen würde…?“
Sie beantwortete die Frage in seinen Augen mit einem Kuß.
„Ich glaube“, sagte Miles und beugte sich vor, um die Stehlampe anzuknipsen,
„daß ich die ideale Ehefrau gefunden habe. Selbstlos, mitfühlend, warmherzig,
leidenschaftlich, und außerdem besitzt sie ein ausgeprägtes Sozialbewußtsein.“
„Genau das richtige für einen Mann in deiner Position“, erwiderte Kirsten lachend.
„Die Dorfbewohner achten dich, weißt du das? Sie achten dich so sehr, daß sie
mir fast die Freundschaft entzogen hätten, als sie in mir den bösen Übeltäter
vermuteten, der gegen dich das schreckliche Verbrechen begangen hatte. Und
das, obwohl du wegen der Schule ihr großer Feind zu sein schienst.“
„All das mußtest du außerdem noch erleiden? Für einen unglücklichen, kleinen
Jungen? Sag mir, mein Liebling“, er hob ihr Gesicht noch, „achtest du mich?“
Kirsten nickte. „Aber noch mehr liebe ich dich“, antwortete sie langsam, „viel,
viel mehr.“
„Zeig mir, wieviel“, befahl er sanft.
Kirsten reckte sich empor, um ihn zu küssen, und wurde von seinen Armen heftig
umschlungen.