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„Nie enden wird der ewige Streit — was tut der Mensch, um Mensch zu sein?" Diese Fr...
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Foto: Heinz Krüger
„Nie enden wird der ewige Streit — was tut der Mensch, um Mensch zu sein?" Diese Frage aus dem Stück „Der Aufstieg auf den Fudschijama" (1973) durchzieht alle drei hier vorliegenden Werke von Tschingis Aitmatow (geb. 1928). Auf dem Fudschijama, einem nach dem japanischen Heiligtum der Wahrheit benannten Berg in Kirgisien, treffen sich ehemalige Schulund Kriegskameraden. Wie war das damals im Kriege mit Sabur? Wer von ihnen hatte ihn denunziert? Lohnt es sich überhaupt, die Vergangenheit erneut aufleben zu lassen? Da geschieht plötzlich ein tödliches Unglück, das jeder von ihnen verursacht haben könnte. Wer ist diesmal fähig, sich zu bekennen, wem ist wirklich an der Wahrheit gelegen? Alle Männer eines kirgisischen Ails sind an der Front, doch das Land
braucht erst recht Brot („Frühe Krani che", 1975). Was hilft dem vierzehn jährigen Sultanmurat, für den noch gestern Reckentaten des Manas Un terrichtsstoff waren, sich nun selbst kaum lösbaren Problemen zu stellen? Wochenlanger Nebel liefert drei Männer und ein Kind in ihrem kleinen, orientierungslos gewordenen Fi scherboot dem Tode aus („Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft", 1977). Warum beunruhigen uns die mythische Weltsicht und das „exoti sche" Handeln jener Robbenjäger weit jenseits der Zeit, da sie dem Jungen Wissen und Mut gaben, allein zu überleben? „Mensch zu sein", erst recht in extre men Situationen — diesem Problem stellt sich Aitmatow auch in seinen Aufsätzen und Interviews über eigene Werke und literarische Prozesse der Gegenwart.
Aus dem Russischen
von Charlotte Kossuth und
Thomas Reschke
Tschingis
AITMATOW
Frühe Kraniche
Scheckiger Hund, der
am Meer entlangläuft
Der Aufstieg
auf den Fudschijama
Über Literatur
Verlag Volk und Welt
Berlin
Mit einem Essay von Ralf Schröder Worterklärungen am Schluß des Bandes
2. Auflage 1985 © Verlag Volk und Welt, Berlin 1983 (deutschsprachige Ausgabe) L. N. 302,410/153/85 Printed in the German Democratic Republic Alle Rechte für die Deutsche Demokratische Republik vorbehalten Redakteur: Alfred Frank Einbandentwurf: Klaus Krüger Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 LSV 7200 Bestell-Nr. 648 1460 00960
scan by párduc
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2002
Novellen
Frühe Kraniche
Meinem Sohn Askar Aksai, Köksai, Saryssai hab ich längst durchstreift,
doch nirgends ich eine fand, die dir gleicht.
Kirgisisches Volkslied
Da kam ein Bote zu Hiob und sprach:
„... und schlugen die Knaben mit der Schärfe des Schwerts...“
Das Buch Hiob
Wieder und wieder pflügt der Ackersmann das Feld,
wieder und wieder wirft er Korn in die Erde,
wieder und wieder schickt Regen herab der Himmel...
Voll Hoffnung pflügen Menschen das Feld,
voll Hoffnung säen Menschen die Saat;
voll Hoffnung ziehen Menschen aufs Meer...
„ Theragatha“ 527—536.
Aus Denkmälern altindischer Literatur
1 Frostklamm, in einen grobgestrickten Wollschal gemummt, erzählte die Lehrerin Inkamal-apai in der Geographiestunde von Ceylon, jener märchenhaften Ozeaninsel nahe bei In dien. Auf der Landkarte sieht dieses Ceylon aus wie ein Tropfen am Euter eines großen Landes. Hört man aber hin — was gibt es da nicht alles: Affen und Elefanten und Bana nen (so heißt ein Obst), den besten Tee auf Erden und aller lei andere sonderbare Früchte und nie gesehene Pflanzen. 7
Und was wirklich Neid weckt — eine Hitze herrscht dort, daß man zu jeder Jahreszeit ausgesorgt hat. Man braucht weder Stiefel noch Mütze, weder Fußlappen noch Pelz. Feuerung schon gar nicht. Also muß man auch nicht aufs Feld gehen nach Kuurai, nicht, bis zur Erde geduckt, die mordsschweren Reisigbündel nach Haus wuchten. Ist das ein Leben! Schlendre irgendwohin, laß dich von der Sonne braten oder kühl dich ab im Schatten. Tag und Nacht ist es mollig warm auf Ceylon, die reinste Wonne, und immerzu ist Sommer. Baden kann man nach Herzenslust, und sei's von früh bis spät. Hat man's satt, jagt man den „Kamelvö geln“ nach, den Straußen — die gibt es dort, wo sollten sie denn sonst sein, diese riesigen und dummen Vögel. Leben auch kluge Vögel auf Ceylon? Aber freilich: Papageien. Hast du Lust, dann fang dir einen, lehre ihn singen und la chen, auch tanzen. Warum nicht, ein Papagei kann alles. Es soll ja sogar welche geben, die lesen. Einer aus unserem Ail hat so einen lesenden Papagei gesehen, auf dem Markt in Dshambul. Hält man dem eine Zeitung vor die Nase, dann legt er los, ohne zu stocken. Ach, was gibt es nicht alles auf Ceylon, Wunder über Wun der! Da lebt man unbeschwert, ohne sich den Kopf zu zer brechen. Hauptsache, man gerät nicht einem Bei von Planta genbesitzer unter die Augen. Den erkennt man an der Knute. Wie Sklaven peitscht er die Ceylonesen aus. So ein Unterdrücker! Ha, dem müßte man eins überbraten, daß ihm Funken vor den Augen stieben! Die Knute wegnehmen und ihn zwingen, selber zu arbeiten! Bloß keine Nachsicht mit den Ausbeutern und sonstigen Kapitalisten, kein Feil schen: Arbeite für dich selbst, basta! Man weiß ja, diesem Kroppzeug entstammen auch die Faschisten. Und die sind schuld am Krieg. Wie viele Männer aus dem Ail sind schon an der Front gefallen! Die Mutter weint tagtäglich, sie sagt nichts, aber sie weint, hat Angst, sie könnten den Vater um bringen. Zur Nachbarin hat sie gesagt: „Was mach ich dann bloß mit meinen vieren?“
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Frostschaudernd in der eiskalten Klasse, wartete Inkamal apai immer wieder geduldig, bis die Hustenanfälle der Kin der vorbei waren, und erzählte dann weiter von Ceylon, vom Meer, von warmen Ländern. Sultanmurat folgte der Geschichte halb gläubig, halb ungläubig (schien es doch gar zu herrlich zu sein in jenen Landen), jedenfalls bedauerte er in dieser Stunde aufrichtig, daß er nicht auf Ceylon lebte. Denen geht es gut! dachte er, zugleich aber schielte er zum Fenster hin. Das konnte er. Tat so, als gucke er die Lehrerin an, dabei linste er vergnügt durchs Fenster. Draußen ge schah jedoch nichts Aufregendes. Das Wetter war schlecht. Schwer fiel harter Graupelschnee. Die Schneekörner rauschten dumpf und kratzten, wenn sie an die Schei ben schlugen. Das Glas hatte sich mit Eis überkrustet. Die Fenster gaben nur trübes Licht. Der Kitt am Rahmen war von der Kälte gequollen und bröckelte stellenweise auf das tintenbeschmierte Fensterbrett. Auf Ceylon braucht man sicher keinen Kitt, dachte Sultanmurat. Wozu auch? Sogar Fenster sind da überflüssig, und auch die Häuser. Man baut sich eine kleine Hütte, deckt sie mit Laub, und fer tig. Vom Fenster zog es unentwegt, man hörte sogar den Wind verstohlen in den Rahmenritzen pfeifen, Sultanmurats rechte Seite war schon eiskalt. Er mußte es ertragen. Inka mal-apai hatte ihn eigens ans Fenster umgesetzt. „Du, Sul tanmurat, bist der Stärkste in der Klasse“, hatte sie gesagt. „Du verkraftest das schon.“ Früher, vor dem Kälteeinbruch, saß hier Myrsagül, ihr hatte man Sultanmurats Platz zuge wiesen. Dort zog es nicht so. Hätte man sie trotzdem auf der alten Bank gelassen! Die Kälte bekam ohnehin er ab. Dann säßen sie jetzt nebeneinander. So aber errötet sie, wenn er zu ihr tritt in der Pause. Bei allen ändern gibt sie sich ganz natürlich, aber sobald er kommt, wird sie rot und rennt weg. Soll er ihr vielleicht nachlaufen? Er macht sich ja lächerlich. Diese Mädchen kriegen schnell irre Einfalle. Im Handum drehen tauchten Zettel auf: Sultanmurat + Myrsa
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gül = Liebespaar. Wären sie aber Banknachbarn, könnte keiner was sagen. Draußen schneit es und schneit. Blickt man bei klarem Wet ter aus dem Klassenfenster, hat man die Berge vor Augen. Die Schule steht selbst auf einer Anhöhe, hoch über dem Ail. Der Ail liegt unten, die Schule oben. Deshalb hat man von der Schule aus gute Sicht. Die fernen Schneeberge zeichnen sich ab wie auf einem Bild. Jetzt im Unwetter erahnt man kaum ihre düsteren Umrisse. Die Füße werden frostklamm, auch die Hände. Sogar der Rücken erstarrt. Bitterkalt ist es in der Klasse! Früher, vor dem Krieg heizte man die Schule mit abgelagertem Schaf mist, mit Tesek. Der brannte wie Kohle. Jetzt bringen sie Stroh. Das knistert eine Weile im Ofen, bloß Nutzen bringt es nicht. In ein paar Tagen werden sie auch kein Stroh mehr haben. Nur noch Spreu vom Stroh. Schade, daß das Klima in den Talas-Bergen nicht so ist wie in warmen Ländern. Bei anderm Klima wäre auch unser Le ben anders. Dann hätten wir eigene Elefanten. Ritten auf ih nen wie auf Bullen. Von wegen Angst! Als erster wollte ich mich auf einen Elefanten setzen, gleich auf den Kopf zwi schen die Ohren, wie auf der Zeichnung im Lehrbuch, und ab durch den Ail. Von allen Seiten würde das Volk herbei strömen: „Seht nur, kommt schnell — Sultanmurat, Bekbais Sohn, auf einem Elefanten!“ Mochte Myrsagül dann große Augen machen und bedauern, daß sie ... Als ob es keine Schönere gäbe! Diese Zierpuppe! Auch einen Affen würde ich mir zulegen. Und einen Papageien, der Zeitung liest. Die würde ich mit auf den Elefanten setzen, hinter mich. Platz ist da genug, auf einem Elefantenrücken ließe sich die ganze Klasse unterbringen. Todsicher! Das wußte er aus Erfah rung, nicht vom Hörensagen. Mit eigenen Augen hatte er einen lebendigen Elefanten ge sehen, das war allgemein bekannt, auch einen lebenden Af fen hatte er schon zu Gesicht bekommen und andere wilde Tiere. Das war im ganzen Ail herum, oft genug hatte er es
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ihnen ja erzählt. Glück hatte er damals gehabt, unwahr scheinliches Glück. Vor dem Krieg, genau ein Jahr vor dem Krieg, hatte sich dieses für sein Leben bedeutsame Ereignis zugetragen. Es war im Sommer gewesen, zur Zeit der Heuernte. Sein Va ter, Bekbai, beförderte in dem Jahr Treibstoff aus Dshambul ins Depot der hiesigen MTS. Jeder Kolchos mußte dafür ein Fuhrwerk stellen. Der Vater brüstete sich zum Spaß: Ich bin kein gewöhnlicher Karrenmann, sondern ein goldener; für mich, meine Pferde und meinen Wagen erhält der Kolchos Entgelt vom Fiskus. Ich verschaff dem Kolchos Bargeld von der Staatsbank, sagte er. Deshalb springt auch der Buchhal ter, sowie er mich sieht, vom Pferd und begrüßt mich. Das leichte Gefährt des Vaters war eigens für den Petro leumtransport hergerichtet. Einen Wagenkasten hatte es nicht, einfach vier Räder mit zwei großen, in Kissennestern steckenden Blechkanistern und vorn auf dem Bock ein Sitz brett. Das war der ganze Karren. Vorn fanden zwei Mann Platz, mehr nicht. Dafür hatten sie dem Vater die besten Pferde zugeteilt. Ein gutes, kräftiges Gespann. Zwei Wallache waren es — der Grauschimmel Tschabdar und der braune Tschontoru. Und ihr Geschirr war solide, wie für sie gefertigt. Die Kummete und Zügel aus Jungtierle der, geteert. Die rissen nicht, soviel man daran zerrte. An ders wäre es gar nicht gegangen bei solchen Ferntranspor ten. Der Vater hielt auf Zucht und Ordnung bei der Arbeit. Die Pferde waren bei ihm stets gut in Schuß. Wenn Tschab dar und Tschontoru losliefen, beide feurig, mit wehenden Mähnen, sich wiegend im gleichmäßigen Trab wie zwei rie sige Fische, die nebeneinander schwimmen — war das eine Augenweide! Von fern schon erkannten die Leute am Rä derrattern: „Da fährt Bekbai nach Dshambul!“ Zwei Tage brauchte er hin und zurück. Kam er nach Hause, waren ihm die über hundert Kilometer nicht anzumerken. Und die Leute staunten: „Bekbais Karren rollt wie ein Zug auf Schie nen!“ Sie hatten auch allen Grund zum Staunen. Ein müdes
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oder faules Gespann erkennt man am Räderknirschen. Die Haare stehen einem zu Berge, wenn es vorüberrollt. Bekbais Pferde hatten immer einen munteren Gang. Deshalb über trug man ihm wohl auch die wichtigsten Fahrten. Vorletztes Jahr also, kurz nach Ferienbeginn, sagte der Va ter eines Tages: „Möchtest du mit in die Stadt?“ Vor Freude verschlug es Sultanmurat den Atem. Und ob! Wie war der Vater nur daraufgekommen, daß er schon längst die Stadt sehen wollte! Noch nie war er da gewesen. Einfach Klasse! „Posaun es nur nicht aus“, ermahnte ihn der Vater schalk haft. „Sonst machen die Kleinen Rabatz, und dann fährst du nirgendwohin.“ Das stimmte. Adshymurat, drei Jahre jünger als er, würde nie zurückstecken. Einen Dickkopf hatte der — wie ein Esel. War der Vater zu Hause, kam man kaum an ihn heran — al les wegen Adshymurat. Dauernd schwänzelte er um ihn herum. Als wäre er der einzige und die ändern zählten nicht. Die beiden jüngeren Schwestern waren ja damals noch winzig, aber selbst die erkämpften sich nur unter Ge heul väterliche Liebkosungen. Auch die Nachbarn begriffen nicht, wieso der jüngere Sohn derart am Vater hing. Groß mutter Aruukan, eine strenge, stockdürre Alte mit Knarr stimme, allgemein gefürchtet, hatte Adshymurat oft genug mit ihren steifen Fingern am Ohr gepackt und gewarnt: „Oi, das verheißt nichts Gutes, wenn du so am Vater klebst, du Schlingel! Großes Unglück wird über die Erde kommen! Wo hat man das schon gesehen, daß ein Junge sein Herz derart an den lebenden Vater hängt? Was ist das nur für ein Kind? Ach, Leute, glaubt mir, Unheil beschwört er herauf!“ „Unberufen!“ zischte jedesmal die Mutter, spuckte aus, gab Adshymurat eins hinter die Ohren, aber Großmutter Aru ukan zu widersprechen, traute sie sich nicht. Die fürchteten alle. Großmutter Aruukan hatte so unrecht nicht, wie sich her ausstellte. Es kam, wie sie prophezeit hatte. Ein Jammer ist's
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mit Adshymurat. Nun ist er schon groß, geht in die dritte Klasse, will sich nichts anmerken lassen, hält sich tapfer, be sonders vor der Mutter, dabei wartet er nur darauf, daß der Vater, wenn nicht heute, dann morgen von der Front zu rückkehrt. Beim Schlafengehen flüstert er wie ein Erwachse ner ein Nachtgebet: „Geb's Gott, geb's Gott, daß Vater morgen kommt.“ Und das jeden Tag. Ein komischer Kerl. Denkt, er braucht nur einzuschlafen, wieder aufzuwachen, und schon wird alles anders, geschieht ein Wunder. Wenn der Vater lebend aus dem Krieg heimkehrt, soll er sich ruhig nur mit Adshymurat abgeben, mag er den Jungen auf den Armen tragen und auf dem Kopf. Käme er nur end lich — lebendig und gesund. Ihm, Sultanmurat, reichte das schon zum Glück. Nur zurückkommen soll der Vater. Wie wünschte Sultanmurat jetzt, noch einmal könnte es sein wie damals, als der Vater vom Tschu-Kanal nach Haus kam. Dorthin, auf den Bau, war er vorletzten Sommer gefahren für volle fünf Monate, auch als Kutscher, den ganzen Som mer und den ganzen Herbst hatte er da Erde weggekarrt. Stachanowarbeiter war er geworden. Heimgekehrt war er gegen Abend. Plötzlich ratterten Räder im Hof, und Pferde wieherten. Die Kinder sprangen hoch. Der Vater! Nur noch Haut und Knochen, sonnenverbrannt, wie ein Zigeuner, mit zottigem Haar. Und zerlumpt wie ein Landstreicher, sagte die Mutter später. Nur die Stiefel wa ren neu, aus Chromleder. Adshymurat war als erster bei ihm, warf sich ihm an den Hals, und nun tu was dagegen, er hielt ihn umklammert und ließ ihn nicht mehr los. Dabei heulte er Rotz und Wasser und stammelte nur immer: „Ata, Atake, Vater, lieber Vater.“ Der Vater preßte ihn an sich, und auch ihm standen Tränen in den Augen. Die Nachbarn eilten herbei. Sahen zu und weinten ebenfalls. Die Mutter aber, verwirrt und glücklich, lief um sie herum, versuchte, den Vater von Adshymurat zu befreien. „Laß ihn doch los, den Vater! Nun reicht's. Du bist nicht al
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lein. Die ändern wollen auch mal zu ihm. So eine Unver nunft. Herrgott, sieh doch, die Leute wollen ihn begrüßen.“ Der Bengel hörte einfach nicht. Sultanmurat spürte damals, wie ihm ein heißer Klumpen in die Kehle stieg. Im Mund hatte er plötzlich einen salzigen Geschmack. Dabei hatte er immer behauptet, um nichts in der Welt würde er je weinen. Er riß sich aber zusammen. Gab sich einen Ruck. Indes ging der Unterricht weiter. Inkamal-apai erzählte nun von Java, Borneo und Australien. Schon wieder — wunder bare Gegenden, ewiger Sommer, Krokodile, Affen, Palmen und sonstige märchenhafte Dinge. Das größte aller Wunder war jedoch das Känguruh! Das läßt sein Junges in die Beu teltasche am Bauch kriechen und springt mit ihm herum, be hält es im Lauf bei sich. Einfalle hat so ein Känguruh oder, richtiger, die Natur! Ein Känguruh hat er noch nie gesehen. Das muß er schon zugeben. Leider. Dafür hat er einen Elefanten, einen Affen und andere wilde Tiere ganz aus der Nähe betrachtet. Er brauchte nur die Hand auszustrecken. An dem Tag, als der Vater sagte, er wolle ihn in die Stadt mitnehmen, war Sultanmurat außer sich vor Freude. Er platzte fast vor Ungeduld, vor Entzücken; das Elend war nur, daß er niemand davon zu erzählen wagte. Hätte Ad shymurat es erfahren, wäre er in großes Geheul ausgebro chen : Warum darf Sultanmurat mit, ich aber nicht, warum nimmt der Vater ihn mit und nicht mich? Ja, warum? Daher mischte sich in die unbändige Vorfreude und Neugier auf die Reise ein Gefühl der Schuld gegenüber dem Bruder. Dennoch gelüstete es ihn, den Bruder und die kleinen Schwe stern in das Geheimnis einzuweihen. Mit dem größten Ver gnügen hätte er sich ihnen eröffnet. Aber der Vater und vor allem die Mutter hatten es ihm streng untersagt. Mochten es die Kleinen erfahren, wenn er bereits unterwegs war. So war's besser. Mit Mühe und Not bezwang er sich, wahrte sein Geheimnis, auch wenn es ihm schier das Herz ab
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drückte. Dafür war er an jenem Tag so fleißig, so zuvor kommend, so fürsorglich und gütig wie nie zuvor. Alles machte er, und alles ging ihm von der Hand. Er fing das Kalb mit dem Lasso und brachte es auf einen neuen Weide platz, häufelte die Kartoffeln im Gemüsegarten, half der Mutter beim Waschen, säuberte die Jüngste, Almatai, als sie in den Schmutz gefallen war, und erledigte noch vieles, vie les andere. Kurz und gut, er bewies solchen Eifer, daß sogar die Mutter nicht an sich halten konnte und kopfschüttelnd losprustete. „Was ist nur in dich gefahren?“ sagte sie, ein Lächeln verber gend. „Immer müßtest du so sein — das wär ein Segen! Un faßbar! — Vielleicht sollten wir dich lieber nicht in die Stadt lassen? Du bist mir eine zu gute Hilfe!“ Aber das war nur so dahergesagt. Dabei setzte sie Teig an, buk Fladen und bereitete alle mögliche andere Wegzehrung. Sie zerließ Butter, gleichfalls für die Reise, und füllte sie in eine Flasche. Abends trank die ganze Familie Tee aus dem Samowar, Tee mit Sahne, und dazu gab es heiße Fladen. Auf dem Hof hatten sie sich's gemütlich gemacht, beim Aryk, unterm Ap felbaum. Der Vater saß inmitten der Jüngeren — zur einen Seite Adshymurat, zur anderen die Mädchen. Die Mutter goß Tee ein, Sultanmurat reichte die Schalen weiter, schüttete Kohlen nach im Samowar. Mit Vergnügen tat er das alles. Ständig in dem Gedanken, daß er morgen schon in der Stadt sein würde. Zweimal blinzelte der Vater ihm heim lich zu. Ja, mehr noch, er neckte den Bruder vor aller Augen. „Na, wie steht's, Adshyke“, wandte er sich Tee schlürfend an den jüngeren Sohn, „hast du Schwarzmähne noch nicht zugeritten?“ „Nein, Ata“, klagte Adshymurat, „er ist so ein Nichtsnutz. Läuft mir nach wie ein Hündchen. Ich füttere und tränke ihn, einmal ist er mir sogar in die Schule nachgetrabt. Er stand unterm Fenster und wartete, daß ich in der Pause raus komme, die ganze Klasse hat's gesehen. Aber aufsitzen läßt
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er mich nicht, wirft mich gleich wieder ab und schlägt obendrein aus.“ „Findet sich denn keiner, der dir beim Zureiten hilft?“ er kundigte sich der Vater wie beiläufig. „Ich mach's, Adshyke“, rief Sultanmurat bereitwillig. „Ich reit ihn dir zu, bestimmt.“ „Hurra!“ Der Kleine sprang auf. „Komm!“ „Setz dich wieder hin“, zügelte ihn die Mutter. „Setz dich und zapple nicht herum. Erst wird Tee getrunken, wie es sich gehört, Schwarzmähne läuft euch nicht weg.“ Die Rede war von dem zweijährigen Esel, Adshymurats Liebling. Im Frühjahr hatte ihn ein Onkel mütterlicherseits, Nurgasy, den Kindern geschenkt. Zum Sommer hatte sich der kleine Kerl tüchtig herausgemacht und gekräftigt. Nun war's an der Zeit, das Langohr zuzureiten, an den Sattel zu gewöhnen und an die Arbeit. In der Hauswirtschaft wird im mer ein Esel gebraucht — sei's für die Fahrt zur Mühle, ins Holz oder für den Transport von Kleinkram. Deshalb hatte ihn der Onkel Nurgasy geschenkt. Aber sogleich hatte Ad shymurat von ihm Besitz ergriffen. Der kleine Dickkopf und Krakeeler umgab den Esel mit solcher Aufmerksamkeit und Fürsorge, daß kein anderer an ihn herankam. Beim gering sten Anlaß hieß es — Hände weg von meinem Esel! Ich füt tere ihn selbst, tränke ihn selbst. Einmal waren sich die Brü der deswegen sogar in die Haare geraten. Die Mutter be strafte den ältesten, weil der jüngere Prügel von ihm einge steckt hatte. Seither verbarg Sultanmurat seinen Groll. Als die Zeit heran war, den Esel zuzureiten, winkte er ab: „Es ist ja deiner, mach das schön selbst, mich brauchst du nicht zu bitten, was geht mich das an.“ Und das, obwohl Sul tanmurat ein Meister war auf diesem Gebiet. Von Kind auf hatte er sich darin geübt. Ihm machte es Spaß, störrische Jungtiere zu zähmen. Das war wie ein Zweikampf. Alle Fül len, Bullen und Esel aus der Nachbarschaft wurden von ihm zugeritten. Diese Aufgabe überträgt man immer einem ge schickten Jungen. Erwachsene sind zu schwer. Ehrerbietig
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wandte man sich an Sultanmurat: „Sultanmurat, Lieber, wenn du Zeit hast, reit doch mal auf unserm kleinen Bul len.“ Oder: „Sultake, Teurer, bring unserm jungen Schrei hals von Langohr Vernunft bei. Keine Fliege duldet er auf seinem Rücken, gleich beißt er und schlägt aus. Außer dir kommt keiner mit ihm klar!“ Solchen Ruhm genoß er, aber dem leiblichen Bruder half er nicht, lachte ihn sogar aus und spottete, als der ein-, zwei mal von seinem vielgeliebten Esel flog und sich blaue Flek ken auf der Stirn einhandelte. „Der wird dir wie ein Hund nachlaufen“, neckte er Adshymurat. „Mit dem hast du noch deinen Kummer!“ Wie ungehörig das war! Er begriff es erst, als der Vater dar auf anspielte. Blamiert hatte er sich, so gemein durfte er doch nicht abrechnen mit dem Jüngeren. Nun, da die Reise in die Stadt bevorstand, von der Adshymurat nichts wußte, peinigten Sultanmurat solches Schuldgefühl und solche Reue, daß er drauf und dran war, um Verzeihung zu bitten und alles für ihn zu tun. Nach dem Tee gingen sie mit dem Vater auf die Waldwiese hinter den Gemüsegärten. Zu nächst lasen sie ringsum alle Steine auf und schleuderte sie recht weit weg. Dann zäumten sie Schwarzmähne — so hatte Adshymurat sein Eselchen feierlich getauft. Der Vater hielt Schwarz mähne an den Ohren fest, und Sultanmurat warf ihm be hende das Zaumzeug über. Dann schnallte er sich den Hosengürtel enger — ihm stand keine leichte Aufgabe bevor. Und nun begann eine Zirkus vorstellung. Während seines ungebundenen Lebens unter Adshymurats Obhut hatte Schwarzmähne, wie sich heraus stellte, eine schlechte Gewohnheit angenommen. Er schlug sofort aus, warf das Hinterteil hoch und scheute nach den Seiten. Der Esel wußte bereits, wie man einen Reiter ab wirft. Aber da hatte er sich verrechnet! Sultanmurat fiel, doch im Nu stand er wieder auf den Beinen, sprang im Lau fen auf, legte sich flachbäuchig auf Schwarzmähnes Rücken
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und saß beim zweiten Versuch auf dem Esel. Und wie der lehnte der sich auf, folgten neuer Sturz und neuer An lauf. Bei Sultanmurat wirkte das alles geschickt und sogar lu stig. Stürzen ist auch eine Kunst! „Warum heißt es denn, wer vom Esel fällt, prallt härter auf als beim Sturz vom Pferd oder einem Kamel? Es müßte doch umgekehrt sein! Der Witz ist, daß man auf die Hände fallen muß. Die Größe des Pferdes oder eines Kamels läßt dem Menschen Zeit, sich zu orientieren. Von einem Esel aber fällt man als Unerfahrener wie ein Sack, schneller, als man denkt. Sultanmurat wußte das aus Erfahrung. Um den brauchte man sich nicht zu sorgen. Lärm, Heiterkeit, Geschrei in der Runde. Der Vater hielt sich den Bauch und lachte Tränen. Der Spektakel lockte andere Jungen herbei. Einer brachte ein Hündchen mit, das stürzte sich ins Getümmel und ver folgte bellend Schwarzmähne. Der rannte vor Schreck noch schneller, Sultanmurat aber, von allen beneidet, begann Rei terkunststückchen vorzuführen wie die Jungs vom Osso awiachim. Im Lauf sprang er von Schwarzmähne ab und wieder auf, ab und wieder auf. Genau so hatten vor dem Krieg Ossoawiachim-Kavalleri sten auf der Wiese beim Dorf Sowjet trainiert. Dshigiten aus dem eigenen Ail versammelten sich dazu nach der Arbeit. Im Galopp säbelten sie Weidenzweige ab. Sprangen aus dem Sattel und wieder auf. Als Auszeichnung erhielten sie Abzei chen. Schöne Abzeichen, an Kettchen zu tragen, anzu schrauben. Neid erfüllte die Kinder. Sie hatten zugeschaut, wann immer die Dshigiten diese Sprünge vorführten. Wo mochten sie jetzt sein? Zu Pferd oder im Schützengraben? Kavallerie, heißt es ja, wird nicht mehr eingesetzt im Krieg. Sultanmurat warf einen Blick auf den Hof vor dem Fenster. Er dachte daran, daß Pferde im Winter auch noch frieren, einem Tank aber Kälte gar nichts ausmacht. Und doch ist ein Pferd besser! ... Ein Spaß war das damals! Bald fügte sich Schwarz
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mahne. Er begriff, was man von ihm wollte: ging im Schritt, trabte, lief im Kreis und geradeaus. „Sitz du nun auf!“ rief Sultanmurat dem Bruder zu. „Jetzt kannst du reiten, alles ist in Ordnung!“ Knallrot vor Stolz, spornte Adshymurat Schwarzmähne leicht mit den Fersen, ritt hierhin und dorthin- — alle sahen nun, was für einen geschickten Agai er hatte, wie sollte er da nicht prahlen! Der Abend war hell, es wollte lange nicht dunkel werden. Müde, aber zufrieden, kamen sie nach Haus. Adshymurat ritt auf Schwarzmähne in den Hof, um sich der Mutter zu präsentieren. Danach schlief er schnell ein, ohne das gering ste zu argwöhnen. Sultanmurat aber fand keinen Schlum mer. Er stellte sich vor, wie er morgen in die Stadt einziehen würde, was es da zu sehen gäbe, was seiner harrte. Während ihm die Augen zufielen, hörte er Vater und Mutter leise mit einander sprechen. „Ich hätte ihn ja auch mitgenommen, zu zweit war's lustiger für sie, aber es ist kein Platz auf diesem Teufelskarren. Man sitzt auf dem vordersten Rand vom Bock, den Kanister im Rücken. Der Weg aber ist weit, am Ende nickt der Kleine ein und kommt unter die Räder.“ „Gottbewahre!“ Die Mutter erschrak. „Berufs nicht, bloß nicht, nein!“ flüsterte sie. „Ein andermal, das hat noch Zeit. Soll er erst größer werden. Paß auch auf den gut auf! Man denkt, er ist schon groß, aber du liebe Güte ...“ Sanft schlummerte Sultanmurat ein, es war angenehm, zu hören, wie die Eltern miteinander tuschelten, und daran zu denken, daß er morgen in aller Herrgottsfrühe mit dem Va ter aufbrechen würde. Schon im Halbschlaf erlebte er mit stockendem Herzen das selige Gefühl zu fliegen. Seltsam, woher wußte er nur, wie man fliegt? Gehen, laufen, schwimmen — das ist dem Men schen gegeben. Er aber flog. Nicht ganz so wie ein Vogel. Ein Vogel schlägt mit den Flügeln. Er aber hielt nur die Arme ausgebreitet und bewegte die Fingerspitzen. Und
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schwebte frei im Raum, unbekannt, woher und wohin — in einer lautlosen, „lächelnden“ weiten Welt... Das war ein Geisterflug — er wuchs im Traum. Er fuhr hoch, als der Vater ihn an die Schulter tippte und ihm ins Ohr flüsterte: „Steh auf, Sultanmurat, wir fahren.“ Bevor er aufsprang, überflutete ihn für den Bruchteil einer Sekunde eine Woge von Zärtlichkeit und Dankbarkeit — dem Vater gegenüber, seines struppigen Schnurrbarts we gen, der ihn am Ohr kratzte, und um seiner Worte willen. Noch wußte er nicht, daß er dereinst voll Sehnsucht und Schmerz gerade an den kitzelnden Schnurrbart zurückden ken würde und an diese Worte: „Steh auf, Sultanmurat, wir fahren!“ Die Mutter war schon längst auf den Beinen. Sie reichte dem Sohn ein frischgewaschenes Hemd, eine für seinen Kopf zu große grüne Schirmmütze, wie sie die Obrigkeit trägt — ver gangenes Jahr hatte sie der Vater vom Tschu-Kanal mitge bracht —, und ein Paar lange gehütete Schuhe, gleichfalls ein Mitbringsel vom Vater. „Probier sie mal an, drücken sie auch nicht?“ wollte die Mutter wissen. „Nein, kein bißchen“, sagte Sultanmurat. Obwohl sie doch etwas eng waren. Aber was tat's, er würde sie schon austre ten. Als sie sich von der Mutter verabschiedet hatten, vom Hof gerollt waren und der Petroleumkarren durch das Wasser des großen steinigen Aryks polterte, erschauerte Sultanmu rat vor Freude, von den kalten Spritzern, die unter den Pfer debeinen hervorstoben, und von dem Gedanken, daß er dies alles nicht träumte, sondern tatsächlich in die Stadt fuhr. Ein früher Sommermorgen zog herauf, wie mit durchsichti gem Saft getränkt. Noch war die Sonne sehr fern hinter dem Schneegebirge. Aber allmählich kam sie näher, schob sich empor und nahm Anlauf, mit einemmal hervorzubrechen, über dem Berghorizont aufzuflammen. Einstweilen war es
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noch ruhig und frisch auf dem nachtkühlen Weg. Jammer schade, daß keiner seiner Freunde sah, wie er mit dem Vater den Ail verließ. Nur die Hunde am Dorfrand knurrten ver schlafen, als die Räder vorüberratterten. Der hügelige Weg führte der Steppe entgegen, auf eine dunkle, von weitem lila schimmernde Kette niedriger Berge zu. Hinter jenen fernen Höhen lag Dshambul. Dorthin fuh ren sie. Die satten Gäule trabten munter voran, sie schienen weder Sattelzeug noch Geschirr zu spüren, liefen wacker, schnaubten wie immer und schüttelten die Stirnmähnen. Den Weg kannten sie gut, wie oft hatten sie diese Strecke schon zurückgelegt, ihr Herr befand sich an seinem Platz, die Zügel in der Hand, und daß neben ihm auf dem Bock der Junge hockte, tat ihrem gewohnten Trott keinen Ab bruch — der Kleine gehörte ja dazu. Und so rumpelten und holperten sie, in Fahrt gekommen, dahin, wie alle Karren auf der Welt. Die Sonne ging indes auf, seitab in einem Spalt zwischen den Bergen. Licht und Wärme breiteten sich gemächlich und sanft wie eine Luft woge über die dampfenden Rücken der Pferde — Tschabdar sah jetzt graugesprenkelt aus wie ein Wachtelei, und Tschontoru wurde immer heller, nun schon fahlbraun; Licht und Wärme streiften die bronzefarbenen Jochbeine des Va ters, vertieften die harten Fältchen in den Augenwinkeln und machten seine Hände, die die Zügel hielten, noch der ber und sehniger; Licht und Wärme überfluteten den Weg, flössen als sprudelnder, hurtiger Strom unter die Hufe der Pferde; Licht und Wärme durchtränkten den Körper, die Augen; Licht und Wärme erfüllten alles auf Erden mit pul sierendem Leben. Wohlig, freudig und frei war Sultanmurat ums Herz an je nem Morgen auf dem Weg zur Stadt. „Na, aufgewacht?“ scherzte der Vater. „Schon lange“, erwiderte der Sohn. „Na, dann nimm mal.“ Er reichte ihm die Zügel.
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Sultanmurat lächelte dankbar, darauf hatte er schon unge duldig gewartet. Er hätte ja darum bitten können, aber bes ser war's, der Vater, vertraute sie ihm von allein an — schließ lich waren sie auf einer Fernstraße unterwegs, nicht irgendwo. Die Pferde merkten, daß .eine neue Hand sie lenkte; unzufrieden legten sie die Ohren an, schnappten nach einander im Laufen, als wollten sie rauflustig aufbe gehren unter der schwächeren Herrschaft. Aber Sultanmu rat belehrte sie schnell eines Besseren — energisch zog er an den Zügeln und schrie: „He, ihr da! Euch zeig ich's!“ Wenn das Glück des Menschen nur in der Gegenwart liegt und weder der Vergangenheit noch der Zukunft bedarf, dann genoß es Sultanmurat auf dieser Fahrt in vollen Zügen. Nichts trübte seine Stimmung. Würdevoll thronte er neben dem Vater auf dem Kutschbock. Und sein Hochgefühl ver ließ ihn den ganzen Weg über nicht. Einen ändern hätte das Poltern der Petroleumfuhre vielleicht wahnsinnig gemacht, für ihn war es der triumphale Widerhall des Glücks. Der hinter dem Karren aufstiebende Staub und die Straße, auf der die Räder entlangrollten; das einträchtige Hufgetrappel der Pferde und das prächtige, nach Schweiß und Teer rie chende Geschirr; die leichten weißen Wolken, die hoch überm Kopf dahinzogen, und die noch nicht verdorr ten, gelb, blau und lila blühenden Gräser ringsum; die Aryks und Bäche mit ihren ausgefahrenen Furten, die entgegen kommenden Reiter und Wagen; die Schwalben am Weg, die gewandt vor und zurück sausten und bisweilen um ein Haar die Pferdemäuler streiften — all dies verströmte Glück und Schönheit. Aber daran dachte Sultanmurat nicht, denn wer denkt schon über sein Glück nach, solange es noch währt. Er spürte nur, daß die Welt nicht besser eingerichtet sein konnte. Und daß es keinen bessern Vater gab. Selbst die schwarzköpfigen, seitlich gelbgefiederten Feldvö gel schmetterten in Dornengestrüpp und Hecken nicht von ungefähr immer wieder denselben einstudierten Triller. Sie
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wußten, für wen sie pfiffen. Wußten, wie sehr Sultanmurat sie liebte. Saraigyre* heißen diese Vögel, und man nennt sie so, weil sie ihr Leben lang mit ihren Pfiffen einen gewissen isabellfarbenen Hengst antreiben: „Tschu, tschu, Saraigyr! Tschu, tschu, Saraigyr!“ Sonderbare Vögel sind das! Hat doch, was sie zwitschern, in jeder Sprache einen anderen Sinn. Einmal kam ein Filmvorführer ins Dorf, ein lustiger russischer Bursche. Sultanmurat wich ihm nicht von der Seite, er half ihm die Filmdosen tragen, und am Abend durfte er dafür auch als erster den Dynamo drehen. Der Dy namo erzeugt elektrischen Strom, vom Strom leuchten die Lampen auf, die Lampen werfen ihr Licht auf eine weiße Mauer — die Projektionswand, und auf der Projektions wand erscheinen lebende Bilder. Der Filmvorführer also lauschte und fragte: „Was singt denn da für ein Piepmatz hinterm Zaun?“ „Das ist ein Saraigyr!“ erläuterte Sultanmurat. „Und was singt er?“ „Tschu, tschu, Saraigyr!“ „Was heißt denn das?“ „Das weiß ich nicht. Auf russisch vielleicht: Hü, hü, gelber Hengst!“ „Erstens gibt es keine gelben Hengste, aber meinetwegen. Doch warum immerfort ,Tschu, tschu, Saraigyr!'?“ „Der Vogel denkt, er reitet auf einem Saraigyr zur Hoch zeit, reitet und reitet, kommt aber nicht ans Ziel, da treibt er das Pferd an: Tschu, tschu!“ „Ich hab was anderes gehört. Angeblich hat ein Saraigyr mal Karten gespielt auf dem Basar. Beinah hätte er drei Rubel gewonnen, aber eben nur beinah. Und deshalb bettelt er: ,Uuuuh, uuuh, drei Rubel her!' Das wird er singen, bis er sie gewinnt.“ „Und wann wird das sein?“ „Nie. Genauso wie er nie zur Hochzeit kommt.“ „Spaßvogel.“ * abgeleitet von sary — isabellfarben, aigyr — Hengst
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Eigentlich sah der Piepmatz wirklich nach nichts aus, dabei war er so eine Berühmtheit. Die Saraigyre sangen den ganzen Weg über. Sultanmurat lä chelte ihnen zu. „Kommt mit, wir gewinnen drei Rubel auf dem Basar!“ Sie aber pfiffen unentwegt ihr „Tschu, tschu, Saraigyr!“ oder auch: „Uuuuh, uuuh, drei Rubel her!“ Sultanmurat plagte die Ungeduld. Nur schnell in die Stadt, so schnell wie möglich. Die Sonne stand schon hoch über den Bergen. Er trieb die Pferde an: „Tschu, tschu, Sarai gyr!“ Das galt Tschabdar. „Tschu, tschu, Toraigyr! Brau ner!“ Das galt Tschontoru. Der Vater bremste ein wenig: „Jag sie nicht zu sehr. Die Pferde wissen selber Bescheid. Sie rennen, so schnell sie kön nen.“ „Wer ist eigentlich besser, Ata, Tschabdar oder Tschon toru?“ „Beide sind gut. Schnell und auch kräftig. Sie arbeiten wie Maschinen. Wenn man sie nur regelmäßig und anständig füttert und das Geschirr in Ordnung hält, dann enttäuschen sie einen nie. Zuverlässige Gäule. Voriges Jahr am TschuKanal haben wir in sumpfigem Gelände gearbeitet. Beladene Wagen versanken da bis zur Radnabe. Es war zum Verzwei feln! Da kamen sie angelaufen: Hilf uns aus der Patsche! Bettelten. Kann man da stur sein? Ich also hin mit Tschabdar und Tschontoru, wir spannen sie um, und nun paß auf: Wir sagen — Vieh, dabei sind sie schlau, begreifen, daß sie das Fuhrwerk rausziehen müssen. Die Peitsche hab ich beinah nicht gebraucht, ein Zuruf genügte, da legten sie sich schon ins Zeug, was die Stränge hielten — sie gingen in die Knie, aber sie zogen den Karren aus dem Dreck. Alle kannten sie dort am Tschu-Kanal, und mich haben sie beneidet: Ein Glück hast du, Bekbai! Vielleicht hatte ich wirklich Glück, aber Pferde brauchen eben Pflege, dann klappt es auch.“ Tschabdar und Tschontoru trabten noch immer einträchtig dahin, als wäre es ihnen gleich, was man über sie sprach. Sie
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liefen mit verschwitzten Bäuchen und feuchten Ohren, war fen zwischendurch die Schöpfe hoch und verscheuchten die Fliegen. „Ata, wer ist älter?“ fragte Sultanmurat den Vater. „Tschab dar oder Tschontoru?“ „Tschontoru hat drei Jahre mehr drauf. Ich merk's. Seine Ausdauer läßt schon nach, manchmal macht er schlapp. Tschabdar aber ist in bester Verfassung. Ein sehniges, schnelles Pferd. Auf dem läßt du viele hinter dir beim Wett reiten. Früher nannte man so ein Tier Dshigitenpferd.“ Sultanmurat freute sich für Tschabdar, denn der gefiel ihm besser. Eine ungewöhnliche Farbe — isabell, gesprenkelt. Mucken hatte der Wallach auch nicht weiter, er war schön und kräftig. „Mir gefällt Tschabdar besser“, sagte Sultanmurat zum Va ter. „Tschontoru ist böse. Der schielt dauernd.“ „Von wegen böse — klug.“ Der Vater lachte auf. „Er mag es nicht, wenn man ihm grundlos zusetzt.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Beide sind gut.“ Dem Sohn war's auch so recht. „Beide sind gut“, wiederholte er und trieb die Pferde an. Etwas später sagte der Vater: „Halt mal einen Augenblick.“ Er ließ einen Pfiff hören, ruhig, abwartend. „Die Pferde wollen Wasser lassen, können es aber nicht sagen. Merken muß man's.“ Tatsächlich harnten beide Wallache geräuschvoll in schau migen Strahlen, und der puderfeine, dichte Staub unter ihren Füßen, der den Urin aufnahm, quoll blasig auf. Dann ging es wieder voran. Der Weg führte weiter, immer weiter, und die Berge blieben schon merklich zurück. Bald kamen die Gärten der Vorstadt in Sicht. Die Straße be lebte sich. Nun ergriff der Vater wieder die Zügel. Und er tat recht daran. Jetzt hatte Sultanmurat anderes im Sinn als Zügel und Pferde. Die Stadt begann. Ganz benommen machten ihn ihr Lärm, ihre Farben und Gerüche. Als hätte man ihn jäh in einen reißenden Strom geworfen und der
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trüge ihn davon, wirbelte und schaukelte ihn auf seinen Wel len. Damals, an jenem beseligenden Tag, hatte er Glück gehabt wie kein zweiter auf Erden: Auf dem Attschabar, dem gro ßen Dshambuler Viehmarkt, gastierte gerade eine Tier schau. Das traf sich gut. Da kommt einer das erstemal in die Stadt und findet eine Schau vor mit nie gesehenen wilden Tieren, ein Karussell und obendrein ein Spiegelkabinett.
2 Ins Lachkabinett ging er dreimal. Er kugelte sich vor Ver gnügen, beruhigte sich und lief wieder zu den wunderbaren Zerrspiegeln. Nein, diese Fratzen! Auf so was wäre er nie und nimmer gekommen, und wenn er sich auf den Kopf ge stellt hätte. Der Vater bat einen ihm bekannten Teestubenbesitzer, auf den Wagen zu achten, und führte Sultanmurat auf den Ba sar. Zunächst begrüßten sie Freunde des Vaters — hiesige Usbeken. „Assalam aleikum! Das ist mein Ältester!“ stellte Bekbai den Sohn vor. Die Usbeken hießen Sultanmurat will kommen — erhoben sich von ihren Plätzen und legten die Hand an die Brust. „Ein höfliches Volk!“ äußerte der Vater anerkennend. „Der Usbeke achtet nicht darauf, ob man jün ger ist an Jahren, er erweist jedem die Ehre.“ Dann schlenderten sie an den Marktständen entlang, durch Geschäfte und vor allem durch die Tierschau. Sie drängten sich durchs Getümmel und blickten in alle Käfige, alle Gat ter. Ein Elefant, Bären, Affen, Meerkatzen — was gab es da nicht alles! Unvergeßlich blieb für Sultanmurat der riesige Elefant — grau wie ein Hügel mit verbranntem Gras —, der trat im merzu von einem Bein aufs andere und schwenkte seinen Rüssel. Das war ein Anblick! Die Leute standen davor, starr ten ihn an und erzählten allerlei Ammenmärchen. Daß der
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Elefant Angst hat vor Mäusen. Daß man ihn nicht necken darf, sonst reißt er sich, Gott verhüt's, von der Kette und zertrampelt die ganze Stadt, daß nur Scherben übrigbleiben. Am meisten aber gefiel Sultanmurat, was ein alter Usbeke zum besten gab: Der Elefant sei das klügste Tier auf Erden. Mit seinem Rüssel bewege er mächtige Baumstämme bei Waldarbeiten, hebe aber auch ein Kleinkind von der Erde, wenn eine Schlange den Knirps bedrohe oder eine andere Gefahr und Erwachsene nicht in der Nähe seien. Derlei Geschichten beeindruckten auch den Vater. Da stand er, wiegte den Kopf, schnalzte mit der Zunge und wandte sich jedesmal an den Sohn: „Hast du gehört? Wunder gibt's auf Erden!“ Natürlich konnte Sultanmurat auch das Spiegelkabinett nicht vergessen. Da lacht man sich halbtot über sich sel ber... Sultanmurat schielte zu Myrsagül hin, die einige Bänke wei ter saß. Dich müßten wir mal in ein Lachkabinett stecken! dachte er übermütig. Dann würdest du anders reden, meine Hübsche! Wenn du dich in den Spiegeln sähst, würdest du dich nicht mehr so aufspielen! Aber alsbald schämte er sich dieser Gedanken. Warum zog er dauernd über sie her, was hatte sie ihm nur getan? Sie war ein Mädchen wie alle än dern, schön freilich, die Schönste in der Klasse. Aber konnte sie was dafür? Dann und wann erwischte sie sogar eine Drei mit Schwänzchen. Einmal hatte ihr die Lehrerin in der Stunde einen kleinen Spiegel weggenommen. „Fängst früh an, eitel zu werden“, sagte sie. Myrsagül wurde puterrot vor Scham, hätte fast ge weint. Er aber war aus unerfindlichem Grund für sie ge kränkt. Ein Spiegel, was ist das schon, vielleicht hatte sie ihn ganz zufällig in der Hand gehabt? Sultanmurat blickte noch einmal zu ihr hin und spürte Mit leid. Blaugefroren war sie, bibberte vor Kälte, ihre Augen glänzten wie feuchte Steine, es sah aus, als ob sie weinte. Ihr Vater und ihr Bruder waren doch an der Front. Und er
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dachte schlecht von ihr. Ein Trottel war er, ein ausgemach ter Dummkopf. Viele in der Klasse waren erkältet und husteten. Sollte er's nicht auch mal versuchen? Also hustete er gewollt, zitterte und hampelte herum. Na und? Alle husteten, war er schlech ter? Inkamal-apai warf ihm einen vielsagenden Seitenblick zu und fuhr fort in ihren Erläuterungen.
3 Nach Tierschau und Lachkabinett gingen sie auf den Trö delmarkt. Hier kauften sie Geschenke. Für Adshymurat eine Kinderpistole, neu und schön, metallisch glänzend, eine wahre Pracht, beinahe wie ein richtiger Nagantrevolver. Für die Mädchen erstanden sie weiche bunte Neckbälle. Zog man am Gummi, hüpfte der Ball nach oben und nach unten. Der Mutter kauften sie ein Tuch und Süßigkeiten. Den ganzen Basar liefen sie ab, alles sahen sie sich an, nur Karussell fuhr Sultanmurat nicht, und der Vater bot es ihm auch nicht an. „Das ist was für die Kleinen“, sagte er, „du bist schon ein Dshigit, wirst in zwei Jahren verheira tet.“ Er machte Spaß. Sie standen eine Weile beim Karussell und sahen zu. Dann drängte der Vater. „Wir müssen schnell zum Depot, die Kanister füllen — und wieder heim. Es ist schon spät.“ Und wirklich, die Sonne sank bereits hinter der Stadt, als sie am Depot anlangten. Von da ging's ein Stück am Ortsrand entlang, unterwegs stärkten sie sich in einer Teestube mit Pilaw, dann begaben sie sich auf den Rückweg. Als die Dämmerung hereinbrach, hatten sie die Vorstadtgär ten hinter sich gelassen und befanden sich wieder auf der Straße, die sie am Tag in die Stadt geführt hatte. Ein warmer Wind wehte, geschwängert mit dem Duft von Sommergrä sern. Frösche quakten in den Aryks beiderseits der Straße. Die Pferde gingen im Schritt, mit vollen Kanistern macht man keine großen Sprünge. Allmählich wurde Sultanmurat
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schläfrig. Er war erschöpft. Wie sollte er auch nicht — es war der Tag seines Lebens gewesen. Schade, daß er sich nicht auf dem Wagen ausstrecken konnte. Zu gern hätte er sich aufs Ohr gelegt. Er lehnte sich gegen die Schulter des Va ters, und unversehens war er eingeschlafen. Ab und an, wenn der Karren über Schlaglöcher holperte, erwachte er, aber gleich übermannte ihn wieder der Schlaf. Und jedes mal, bevor ihm die Augen zufielen, ging es ihm durch den Sinn: Welch ein Segen, daß es auf Erden Väter gibt! Wohlig und geborgen fühlte er sich an Vaters kräftiger Schulter. Der Wagen aber polterte und knarrte, und die Pferde klap perten mit den Hufen. Sultanmurat wußte nicht, wie lange sie gefahren waren, als der Wagen plötzlich stehenblieb. Die Räder hatten aufge hört zu rattern. Alles war verstummt. Der Vater nahm ihn auf die Arme und trug ihn irgendwohin. „Groß geworden ist der Bengel, den kriegt man ja kaum weg. Hat der ein Gewicht“, murmelte er, während er ihn an die Brust preßte. Dann legte er ihn auf einen Haufen Heu, deckte ihn mit sei ner Wattejacke zu und sagte: „Schlaf nur, ich spann derweil die Pferde aus und laß sie weiden.“ Sultanmurat blinzelte nicht einmal, so wohl tat ihm der Schlaf. Dachte nur wieder: Wie schön, daß es Väter gibt auf Erden. Noch einmal erwachte er, als der Vater ihm die Schuhe auf schnürte und von den Füßen zog. Jetzt erst merkte er, wie sehr sie gedrückt hatten, die Schuhe! Wie war der Vater nur daraufgekommen? Erneut schlummerte er ein und fühlte eine Leichtigkeit im ganzen Körper, als schwämme er dahin, ließe sich von einem Strom treiben. Im Traum sah er Gräser unter Wind stößen wogen. Er lief durch dieses unendliche Grün, tauchte unter seine Wellenkämme, und in das hohe, schwingende Gras fielen lautlose Sterne vom Himmel. Bald hier, bald da fiel einer herab — unhörbar, aber feuersprühend. Doch ehe
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Sultanmurat zur Stelle war, erlosch Stern um Stern. Er wußte, das war ein Traum. Wenn er hin und wieder er wachte, hörte er, wie die gekoppelten Pferde junges Gras bis auf die Wurzeln abknabberten und mit dem gelockerten Zaumgebiß klirrend um den Heuhaufen herumstakten. Er wußte, der Vater schlief nebenan, sie nächtigten auf freiem Feld, und er brauchte nur die Augen zu öffnen, um wirklich Sterne vom Himmel fallen zu sehen. Doch er wollte die Augen nicht aufschlagen, er schlief gar zu gut. Nach Mitternacht wurde es kühl. Immer näher rückte er an den Vater heran, er schmiegte sich an ihn, und da umarmte ihn der Vater schlaftrunken, preßte ihn an sich. So kampierten sie auf dem Feld, unter freiem Himmel. Das war etwas anderes als zu Haus, in warmen Kissen. Oft entsann er sich später dieses Sternentraums. Bis zum Morgengrauen erklang in der Nähe das helle „pick wer-wick“ eines Wachtelweibchens, ganze zwei Schritt von ihnen entfernt. Sicher sind alle Wachteln auf Erden glücklich.
4 „Sultanmurat, was hast du?“ Inkamal-apai trat zu seiner Bank, und erst da bemerkte er sie. „Ach, nichts.“ Als müsse er sich rechtfertigen, stand Sultan murat auf. In der Klasse war es noch immer kalt und still. Gelächter von Mitschülern flackerte auf, mengte sich in das übliche Ge huste. „Erst krächzt du ohne Not; dann hörst du nicht, wenn ich dich was frage“, tadelte ihn Inkamal-apai und zog fröstelnd die Schultern hoch. „Hol lieber Stroh und heiz den Ofen.“ Bereitwillig stürzte Sultanmurat los. Klar, so was kommt nicht oft vor mitten im Unterricht. Während der Pausen bringen die Ordnungsschüler Stroh in die Klasse und ma chen Feuer, aber in der Stunde ist das eine Seltenheit.
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Er sprang hinaus auf die Freitreppe. Treibschnee schlug ihm ins Gesicht. Na ja, Ceylon war das nicht! Als er über den Hof zum Schuppen lief, nach dem Stroh, sah er, wie der Kolchosvorsitzende Tynalijew, ein verwundeter Front soldat, vom Pferd sprang. Der war noch jung, ging aber krumm. Ihm fehlten ein paar Rippen. Von den Fallschirmjä gern kam er, hieß es, von der Luftlandetruppe. Vor dem Krieg, so erzählte man, war er Agronom gewesen. Sultan murat erinnerte sich nicht mehr daran. Alles vor dem Krieg war schon wie eine fremde Welt; kaum noch zu glauben, daß es so was gab — Vorkriegszeit. Sultanmurat packte ein großes Bund Stroh, ging zurück zur Klasse und öffnete die Tür mit einem Fußtritt. Die Kinder tuschelten, lebten auf. „Ruhe, laßt euch nicht ablenken!“ forderte Inkamal-apai. „Und du, Sultanmurat, mach deine Arbeit, aber ohne unnö tigen Lärm!“ Im Ofen, inmitten eines Häufleins niederge brannter Strohasche, glomm sacht, wie der Atem eines Säuglings, ein schwaches Feuer. Er entfachte es unter einem Strohbüschel. Dann legte er zu — noch ein Büschel, ein drit tes, viertes, der Ofen heulte auf, während er das Stroh ver schlang. Sultanmurat schaffte es kaum, nachzulegen. In der Klasse wurde es lustiger. Er hätte sich gar zu gern nach den ändern Jungs umgedreht, dem einen eine Fratze geschnitten, dem ändern auf gut Glück mit der Faust gedroht, besonders dem Anatai auf der letzten Bank. Der war schließlich der Älteste, fünfzehnein halb Jahre schon, ein Streithammel, und manchmal schar wenzelte er aufdringlich um Myrsagül. Einen Vogel müßte er ihm zeigen. Da hast du's! Ätsch! Aber das ging nicht. Die Lehrerin war streng. Und er mochte sie auch nicht wieder ärgern. Wo sie schon so lange vergeblich auf Post wartete von ihrem einzigen Sohn! Er war Kommandeur bei der Ar tillerie. Ihr ganzer Stolz. Ihr Mann aber war schon vor dem Krieg verschollen, dem war etwas Schlimmes passiert. Was, darüber redete keiner. Darum war sie auch in den Ail ge
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kommen und Lehrerin geworden. Ihr Sohn hatte in Dsham bul studiert, an der Pädagogischen Hochschule, und war von da aus an die Front gegangen. Sowie Inkamal-apai den berittenen Briefträger durchs Fenster entdeckte, schickte sie einen aus der Klasse hinaus, nach Post. Der rannte auf den Hof, und wenn ein Brief da war, flitzte er zurück, so schnell ihn die Beine trugen. Es gab sogar eine bestimmte Reihen folge, wer als nächster dran war, für die Lehrerin nach Post zu laufen. Kam aber ein Brief, dann war das ein Feiertag! Sofort über flog Inkamal-apai die paar Zeilen, und kaum hob sie danach den Kopf vom Papier, schien ein anderer Mensch vor der Klasse zu stehen. Konnte man da unbeteiligt bleiben, wenn man sah, wie sich die Lehrerin mit den sorgsam unters Kopf tuch geschobenen grauen Haarsträhnen freute; das Herz krampfte sich einem zusammen beim Anblick der Tränen in ihren Augen. „Er läßt euch alle herzlich grüßen, Kinder. Euer Agai, der ältere Bruder, ist gesund und munter. Er kämpft...“, sagte sie, bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, und den Kindern stand im Gesicht geschrieben, wie froh sie waren. Alle lächelten ihr zu, strebten ihr gleichsam entgegen, um ihr Glück zu teilen. Im nächsten Moment aber besann sie sich: „Und nun, Kinder, laßt uns weiter machen.“ Danach begann das Schönste im Unterricht: Ihre Worte wirkten plötzlich viel kraftvoller, sie sprühte nur so vor Ein fallen, und was immer sie erzählte, erklärte, bewies, drang in Herz und Verstand der Schüler. Das war ihre Stunde, und die Klasse saß da wie verzaubert. In den letzten Tagen war Inkamal-apai auffallend bedrückt gewesen. Darum wohl wich sie wie gebannt zur Tafel zurück, als in der Klassen tür der Kolchosvorsitzende Tynalijew in Begleitung des Schulleiters erschien. Dennoch fand sie die Kraft zu sagen: „Steht auf, Kinder, und du, Sultanmurat, geh an deinen Platz.“
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Sultanmurat klappte die Ofentür zu und lief rasch zu seiner Bank. Die Ankömmlinge grüßten. „Guten Tag!“ erwiderte die Klasse. Eine gespannte Pause trat ein. Nicht einmal zu husten wag ten die Kinder. „Ist was passiert?“ fragte Inkamal-apai mit brüchiger Stimme. „Nein, nichts Schlimmes, Inkamal-apai“, beruhigte Tynali jew sie sogleich. „Ich komme wegen was anderem. Muß mit den Kindern reden. Daß ich Ihren Unterricht störe, bitte ich zu verzeihen — ich hab die Erlaubnis.“ Er wies mit dem Kopf auf den bejahrten Schulleiter. „Ja, wir haben Wichtiges zu besprechen“, bekräftigte dieser. „Setzt euch, Kinder.“ Schon saß die Klasse. Den Vorsitzenden kannten alle, obwohl er den Kolchos noch nicht lange leitete, erst seit dem Herbst, seit er von der Front zurückgekehrt war, und er selbst kannte wohl auch alle hier. Er kam gewiß nicht, um sie kennenzulernen. Wozu auch? Die Schüler der siebenten Klasse waren im Ail nicht zu übersehen. Mit jedem von ihnen hätte er auch zu Hause reden können, im Büro, auf der Straße, wo es sich gerade traf. Daß der Vorsitzende eigens in den Unterricht kam, um mit den Schülern zu sprechen, hatte es noch nie gegeben. Was wollte er wohl von ihnen? Im Sommer war's was ande res, da arbeiteten sie allesamt im Kolchos, aber jetzt? „Also folgendes“, begann Tynalijew, aufmerksam in die ge spannten Kindergesichter blickend und bemüht, sich mög lichst gerade zu halten, damit sein Gebrechen weniger auffiel. „Kalt habt ihr's in der Schule, trotzdem kann ich euch nicht helfen, kann höchstens Stroh geben. Das lodert auf und er lischt, ihr wißt es ja. Früher heizten wir mit Tesek, getrock netem Schafsmist; den holten wir mit Lasttieren von den Bergen, luden ihn dann um auf Leiterwagen. Voriges Jahr hatten wir dazu weder Leute noch Zeit. Alle sind an der
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Front. Ich habe noch zwei Tonnen Kohle unter Verschluß, bei Spekulanten in Dshambul gekauft. Das ist für die Schmiede. Auch Eisen für die Schmiede hab ich bei Speku lanten gekauft. Irgendwann kriegen wir die Brüder schon noch am Kragen. Einstweilen aber geht's uns hundeelend. Auch an der Front haben wir es schwer. Voriges Jahr sind wir eingebrochen, auf zweihundert Hektar haben wir den Winterweizen nicht in den Boden gebracht. Niemand hat schuld daran. Es ist Krieg. Könnte man sagen. Wenn sich aber alle Kolchose und Sowchose mit solchen Verlusten ab finden, zuwenig aussäen, zuwenig ernten wie wir, dann kann es geschehen, daß wir den Feind nicht bezwingen. Ja, um solche Macht zu besiegen, brauchen wir Brot und Waf fen. Ich bin zu euch gekommen, Kinder, weil ein paar von euch vorübergehend wegmüssen von der Schule. Wir dürfen keine Zeit verlieren, müssen die Zugpferde für die Früh jahrsbestellung vorbereiten, dabei graust einen, sie anzuse hen, sie halten sich kaum noch auf den Beinen. Wir müssen das Pferdegeschirr instand setzen, es ist völlig hinüber, müs sen die Pflüge und Sämaschinen reparieren, unser ganzes In ventar vergammelt unterm Schnee. Warum sag ich euch das alles? Weil wir auf den Flächen, wo kein Wintergetreide ein gebracht ist, Sommergetreide säen müssen. Unbedingt, ohne Widerrede, wie an der Front. Das heißt, mit eigenen Kräften über den Plan hinaus noch zweihundert Hektar pflügen und bestellen. Zweihundert Hektar! Begreift ihr? Woher aber die Arbeitskräfte nehmen, auf wen sich stützen? Da haben wir beschlossen, zusätzlich zu allem, worüber wir verfügen und was wir so schon für die Frühjahrskampagne vorberei ten, noch eine Brigade mit zweischarigen Pflügen auf die Beine zu steifen. Wir haben hin und her überlegt. Frauen können wir nicht schicken. Das Land liegt weitab, in Aksai — keine Leute! Uns bleibt nichts anderes übrig, als euch um Hilfe zu bitten, euch Schüler.“ So sprach der Vorsitzende Tynalijew, ein strenger, ver schlossener Mann, der ständig in seinem grauen Armeeman
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tel herumlief und natürlich darin fror, die graue Ohrenklap penmütze auf dem Kopf, mit sorgenvoll spitzem Gesicht, jung noch, aber krumm, weil ihm einige Rippen fehlten, die unvermeidliche Feldtasche an der Seite. So sprach der Vorsitzende Tynalijew, dabei stand er neben der Wandtafel mit der Geographiekarte, ebenjener Karte, auf der gewitzte Leute alle Länder und Meere untergebracht hatten, darunter auch wundersame Gegenden wie Ceylon, Java, Sumatra, Australien, wo das Leben eitel Freude ist — sogar für Faulenzer... So spach der Vorsitzende Tynalijew in der Schule, und vor dem Ofen lag Stroh, das mehr Schmutz auf dem Fußboden verbreitete als Wärme im Raum. Und als er sagte, man müsse im fernen Aksai zusätzlich Hunderte Hektar mit Sommergetreide bestellen für die Front, stieg Dampf aus sei nem Mund, als stände er draußen im Freien. Das also war die Rede des Vorsitzenden Tynalijew. Draußen fegte und stöberte noch immer das Unwetter, es zog durch alle Ritzen. Sultanmurat sah vom Fenster aus, wie das schneegepeitschte Pferd des Vorsitzenden am Pflock von einem Fuß auf den ändern trat und den Kopf vor dem Sturm zu schützen suchte. Der Wind aber zauste seine Mähne, riß den zerwühlten Schweif zur Seite. Das Pferd fror. Ja, Ceylon war das nicht. „Nicht aus Übermut entzieh ich euch dem Unterricht“, er klärte Tynalijew. „Wir sind dazu gezwungen. Ihr müßt das begreifen. Nach dem Krieg, vielleicht auch früher, wenn ich es erlebe, bring ich diese Kinder selber in die Schule zurück und bitte, daß sie weiterlernen. Einstweilen aber steht es so ...“ Dann sprach der Schulleiter. Dann wieder Tynalijew. Als es in der Klasse unruhig wurde — die Kinder streckten die Arme hoch: Ich will zur Arbeit, ich! —, sorgte Tynalijew als bald für Klarheit: „Wer denkt, daß ich unbesehen jeden Schüler nehme, ist auf dem Holzweg. Lernt einer schlecht,
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dann arbeitet er auch nicht besser. Außerdem schafft es ein guter Schüler später leichter, Versäumtes nachzuholen. Du, beispielsweise, Sultanmurat, bist doch wohl der größte in der Klasse ...“ Die Kinder riefen dazwischen: „Anatai ist der größte. Er wird bald sechzehn.“ „Ich meine nicht das Alter. Die Körpergröße. Aber auch das ist nicht entscheidend. Du, Sultanmurat“, wandte sich der Vorsitzende wieder an ihn, „hast doch voriges Jahr Gemüse gärten gepflügt, stimmt's?“ „Ja“, antwortete Sultanmurat und stand auf. „An der Araler Straße.“ „Mit dem Zweischarigen und einem Vierergespann?“ „Ja, mit einem Zweischarpflug und vier Pferden, aber ich hab nur geholfen. Der Pflug gehörte Sartbai, der war gerade eingezogen worden. Für die Gemüsegärten wurde es schon höchste Zeit. Da hat mich Aksakal Tschekisch gebeten ein zuspringen.“ „Ich weiß. Deshalb hab ich ja mit dir begonnen“, sagte der Vorsitzende. Alle drehten sich um nach Sultanmurat. Er er haschte Myrsagüls Blick. Sie sah ihn ganz eigen an, nicht so wie die ändern, und errötete plötzlich, als wäre von ihr die Rede. Ihm war das peinlich, sein Herz begann zu hämmern. „Ich hab auch Gemüsegärten gepflügt!“ schrie Anatai von seinem Platz. „Ich auch!“ warf Erkinbek ein. Noch mehr Stimmen wurden laut Tynalijew bat um Ruhe. „Immer der Reihe nach, Kinder. Das ist eine ernste Angele genheit. Fragen wir erst mal nach den Zensuren. Wie steht's bei dir damit, Sultanmurat?“ „Nicht besonders“, brummte der. „Was — besonders?“ „Na — nicht gerade schlecht.“ „Aber auch nicht besonders gut“, ergänzte Inkamal-apai, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte. „Ich sag ihm dau
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ernd: Du könntest viel besser stehen, hundertmal besser. Er
ist sehr begabt. Aber leider auch ein Flattergeist.“
„Tjaaa“, meinte der Vorsitzende nachdenklich. „Und ich
dachte ... Na schön. Dein Vater ist an der Front. Für ihn
also wirst du Brotgetreide erzeugen. Und wie steht's bei dir,
Anatai?“
„Genauso.“ Streitlustig sprang er auf.
„Das heißt, einer taugt ebensoviel wie der andere.“ Tynali
jew lächelte spöttisch und sagte nach kurzem Schweigen:
„Wenn ihr in die Schule zurückkommt, werdet ihr besser
verstehen, was das bedeutet — lernen. Ich weiß das aus Er
fahrung. Beim geringsten Anlaß heißt's: Bleibt mir gestoh
len, ich geh lieber arbeiten. Ja, lebt denn der Mensch nur für
die Arbeit? Was meinst du, Anatai?“
Anatai setzte zu einer Erklärung an, bekannte dann aber:
„Weiß ich nicht.“
„Ich weiß auch nicht alles“, sagte Tynalijew, „aber wäre
nicht Krieg, drückte ich wieder die Schulbank, bestimmt.“
Die Klasse wollte sich ausschütten vor Lachen. Seltsam —
ein erwachsener Mann, Kolchosvorsitzender, und will büf
feln! Sie hatten die Schule satt, und wie!
„Was ist da komisch?“ Tynalijew lächelte. „Ja, Kinder, ich
würde sehr gern lernen. Später werdet ihr das begreifen.“
Da nutzte einer in der Klasse die Gelegenheit und unter
brach den Vorsitzenden: „Baschkarma-agai, stimmt es, daß
Sie aus dem Flugzeug abgesprungen sind?“
Tynalijew nickte.
Der Bengel ließ nicht locker: „Toll! Hatten Sie keine Angst?
Ich bin mal vom Dach des Tabakschuppens auf einen Heu
haufen gehopst — schon da haben mir die Knie gezittert!“
„Ja, ich bin abgesprungen. Aber mit dem Fallschirm, versteht
sich“, erläuterte Tynalijew. „Das ist so eine Kuppel, die sich
überm Kopf entfaltet, wie eine Jurte ...“
„Wissen wir, wissen wir“, ertönte es im Chor.
„Na also, wir waren eine Luftlandetruppe. Mit dem Fall
schirm abspringen — das war unsere Arbeit.“
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„Was ist eine Luftlandetruppe?“ erklang wieder eine Stimme. „Eine Luftlandetruppe? Das ist eine operative Kampfforma tion, die irgendwohin geschickt wird, um eine besonders wichtige Aufgabe zu erfüllen. Klar?“ Schweigen in der Klasse. „Eine Luftlandetruppe kann aus ein paar Mann bestehen, aber auch aus vielen tausend“, erklärte Tynalijew. „Ent scheidend ist, daß sie ins feindliche Hinterland eindringt und selbständig operiert. Wenn ihr noch Fragen habt, er klär ich's ein andermal. Jetzt aber zur Sache. Anatai, setz dich, was stehst du denn? Dein Vater kämpft auch an der Front.“ „Meiner auch!“ „Meiner auch!“ „Und meiner!“ „Und meiner!“ Tynalijew hob die Hand. „Ist mir alles bekannt, Kinder. Denkt nicht, daß ich mich von früh bis spät nur mit dem Kolchos befasse. Ich kenne alle, die bei der Armee sind oder im Lazarett. Und kenne euch alle. Deshalb bin ich ja herge kommen. Also, Anatai, auch du wirst Brotgetreide erzeugen für den Vater, mußt für ein Jahr oder sogar länger die Schule verlassen.“ „Ich auch!“ — „Und ich?“ — „Und ich?“ Einige wollten auf springen. Wer hält sich schon in solchen Fällen nicht für einen Helden. Hier war die Gelegenheit: Schluß mit der Schule. Arbeit — hoch zu Pferd. Was wollte man mehr? „Nein, wartet!“ beschwichtigte sie der Vorsitzende. „So nicht. Nur wer sich bereits mit dem Pflug auskennt. Du, Erkinbek, hast doch auch schon Gemüsegärten gepflügt? Dein Vater ist bei Moskau gefallen, ich weiß. Viele haben ihre Väter und Brüder verloren. Auch dich bitte ich, Erkin bek, hilf uns. Du wirst Land aufbrechen, statt die Schule zu besuchen. Da kann man nichts machen. Deiner Mutter er klär ich selber ...“
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Dann rief der Vorsitzende noch zwei Jungen auf — Ergesch und Kubatkul. Und sagte, er erwarte sie allesamt morgen früh im Pferdestall zur Brigadiersbesprechung. Zu Haus, spätabends schon, vor dem Schlafengehen, er zählte Sultanmurat der Mutter vom Besuch des Kolchosvor sitzenden in der Schule. Die Mutter hörte ihn schweigend an und rieb sich müde die Stirn — den ganzen Tag hatte sie im Kolchos gearbeitet, in der Viehfarm, und abends die Kinder besorgt —, doch Adshymurat, der kleine Dumme, jubelte unangebracht: „Mann! Nicht mehr in die Schule müssen! Hinterm Pflug gehn, reiten! Das will ich auch!“ Die Mutter fragte streng: „Sind die Schulaufgaben gemacht?“ „Ja“, erwiderte Adshymurat. „Dann ab ins Bett, und keine Widerrede! Verstanden?“ Zum Ältesten sagte sie kein Wort. Später erst, als sie die Mädchen zu Bett gebracht hatte und sich anschickte, die Lampe zu löschen, war sie mit ihrer Selbstbeherrschung am Ende; wohl in der Meinung, daß Sultanmurat bereits schlief, ließ sie den Kopf auf die Arme fallen und brach in Tränen aus. Leise und lange weinte sie, und ihre schmalen Schultern zuckten. Sultanmurat wurde es schwer ums Herz, am liebsten wäre er aufgestanden, hätte die Mutter beruhigt, sie abgedrückt und ihr gut zugeredet. Doch er traute sich nicht, sie zu stören, mochte sie noch eine Weile sitzen bleiben. Sicher dachte sie jetzt an den Vater (wie es ihm dort im Krieg erging) und an die Kinder (vier waren sie immerhin!), ans Haus und manche anderen Küm mernisse. Typisch Frau. Die haben am Wasser gebaut. Auch die Leh rerin Inkamal-apai war sehr betrübt gewesen, als der Vorsit zende Tynalijew die Klasse verließ — und völlig durcheinan der. Es hatte bereits zur Pause geklingelt, sie aber saß noch immer am Tisch und ging nicht. Auch die Klasse rührte sich nicht, keiner lief hinaus, sie warteten, daß die Lehrerin auf stand und den Raum verließ. Auf der Schwelle dann brach Inkamal-apai in Tränen aus. Sie hatte versucht, sich zusam
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menzunehmen, doch vergebens. Tränenüberströmt ging sie fort. Myrsagül trug ihr ins Lehrerzimmer die vergessene Landkarte nach, und als sie zurückkam, hatte sie ebenfalls feuchte Augen. Tja, Frauen sind eben so. Haben mit allen Mitleid und weinen gleich. Was ist schon groß dabei, in ein, zwei Jahren ist der Krieg zu Ende, dann kann's wieder los gehn mit der Schule. Mit diesen Gedanken schlief Sultanmurat ein, in den Ohren das Prasseln des Treibschnees. Auch am nächsten Morgen hörte das Gestöber nicht auf. Dicht über den verharschten Boden fegten Schneewirbel. Am Himmel hingen dunkle Wolken. Den Pferdestall er reichte Sultanmurat blau vor Kälte. Was sich Tynalijew ausgedacht hatte, war weitaus schwieri ger, als Sultanmurat am Vortag angenommen hatte. Zuerst gingen sie mit dem Vorsitzenden und dem Brigadier, dem hageren, rotbärtigen alten Tschekisch, der ihnen je vier Trensen gegeben hatte, zur Koppel beim alten Pferdestall. Hier trotteten auf dem verschneiten Gelände trübselig die Zugpferde herum, zupften Heureste aus halbleeren Krip pen. Gewöhnlich sind die Pferde sommersüber in gutem Zu stand und verlieren im Winter an Gewicht, aber die hier wa ren nur noch Haut und Knochen. Solange es ging, hatte man mit. ihnen gearbeitet, und als dann der Winter herein brach, überließ man sie im Pferdehof ihrem Schicksal. Wer hätte sie auch füttern und pflegen können? Das Futter war knapp. Und das wenige, das vorhanden war, sparte man auf für die Frühjahrsbestellung. Die Jungen erstarrten, wie vom Donner gerührt. „Was glotzt ihr so?“ brummte der alte Tschekisch. „Habt ihr etwa gedacht, Manas' schnellfüßige Renner ständen hier für euch bereit? Wählt nicht lange, ihr werdet bestimmt nicht enttäuscht! In zwanzig Tagen ist jeder Gaul hier munter wie ein junger Stier. Was zweifelt ihr? Die Pferde haben Mumm in den Knochen, die brauchen nur Futter und Pflege! Alles andere wissen sie selber!“ 40
„Greift zu, Jungs, wir werden es euch an nichts fehlen las sen“, sagte der Vorsitzende. „Nur zu. Jeder nimmt vier. Ganz nach Geschmack.“ Da geschah etwas Unerwartetes. Inmitten dieser dürren, vernachlässigten Klepper zockelten auch die Pferde vom Vater — Tschabdar und Tschontoru — über die Kolchos koppel. Sultanmurat erkannte zuerst Tschabdar, an der Isa bellfarbe — danach auch Tschontoru. Beide großköpfig, struppig, auf dünnen Beinen — ein Stoß, und sie fallen um. Sultanmurat freute sich und erschrak zugleich. Sein Stadtbe such mit dem Vater kam ihm in den Sinn. Wie hatten die Pferde unter Vaters Obhut ausgesehen! Stolz und selbstsi cher waren sie damals vor dem Wagen hergetrabt, gut ge nährt und kräftig. Und jetzt! „Da, seht nur, das sind die Pferde von meinem Vater!“ schrie Sultanmurat dem Vorsitzenden und dem Brigadier zu. „Tschabdar und Tschontoru!“ „Richtig! Stimmt! Die haben Bekbai gehört!“ bekräftigte der alte Tschekisch. „Nimm sie dir, wenn's so ist! Nimm dir die vom Vater!“ ver fügte der Vorsitzende. Sultanmurat suchte sich noch ein zweites Paar — Weiß schwanz und Brauner. Vier Stück hatte er nun. Das Ge spann für einen Zweischarpflug. Die anderen Jungen wähl ten gleichfalls ihre Gäule. Damit begann, weshalb man sie im Winter 1943 aus der Schule geholt hatte. Arbeit gab es genug, mehr, als erwartet. Auf dem Pferdehof hatten sie alle Hände voll zu tun, obendrein liefen sie jeden Tag in die Schmiede, halfen dem alten Barpy und seinem lahmen Zuschläger, die Pflüge zu reparieren, mit denen sie später das Feld umbrechen würden, was einst auf dem Schrottplatz gelandet war, wurde jetzt zurechtgebogen und auseinandergeschraubt, entrostet und gesäubert. Selbst alte, stumpf gewordene Pflugschare, die bereits ausgedient hat ten, wurden wieder vorgenommen. Die Schmiede plagten
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sich mit ihnen, hämmerten die Schneiden, härteten sie in Feuer und Wasser. Nicht jedes Schar ließ sich instand setzen, aber wenn es ge lang, triumphierte Barpy. Dann mußte der Zuschläger aufs Dach der Schmiede klettern und die Jungs von der Pferde koppel zusammentrommeln. „He, ihr Pflüger!“ schrie der Lahme vom Dach. „Kommt mal schnell her, Ustake, der Meister, ruft euch!“ Die Jungen kamen angerannt. Und Barpy holte das noch heiße, schwere Pflugschar vom Wandbrett. „Da, nimm“, sagte er zu dem, für den das nächste Ersatz schar bestimmt war. „Greif zu und wieg es eine Weile in den Händen. Schau es dir an. Halt es mal an den Pflug, geh nur. Prüf, wie es sich unters Streichblatt fügt. Eine Pracht! Paßt, wie der Bräutigam zur Braut! Auf dem Acker wird es heller glänzen als ein Spiegel aus Taschkent. Eure Fratzen könnte ihr in so einem Pflugschar betrachten! Oder schenkt ihr es vielleicht einem Mädchen als Spiegel? Das war ein An gebinde für alle Ewigkeit! Und jetzt leg es dahin, auf dein Brett. Nimmst es später mit aufs Feld. Das nächste kriegt der andere. Jeder kommt dran. Keiner geht leer aus. Drei Paar mach ich pro Kopf. Neue Zähne kann ich mir nicht schmie den, alles andere schaff ich. Ihr kriegt eure Schare. Draußen auf dem Feld werdet ihr noch oft an uns denken. Jungs. Das Schar ist schließlich die Hauptsache beim Pflug. Alles drum herum dient nur ihm. Ist das Schar kräftig, ist's auch die Fur che. Wird es stumpf, taugt der Pflüger nichts. Das ist der ganze Witz.“ Er war schon in Ordnung, der alte Barpy. Sein Leben lang hatte er in der Schmiede gestanden. Prahlte gern, verstand aber was von seinem Fach. Auch die Sattlerei mußten sie oft aufsuchen. Der Brigadier Tschekisch verlangte das. „Helft das Geschirr reparieren“, sagte er. Sonst, meinte er, ist alles für die Katz. Ihr habt Pflüge und Pferde, aber was macht ihr, wenn ihr sie nicht einspannen könnt? Recht hatte er. Deshalb war jeder hinter
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her, half den Sattlern, für seine Pferde beizeiten das pas sende Geschirr herzurichten. Ihre wichtigste, dringlichste Aufgabe war jedoch die Pflege des Zugviehs, der Pferde. Den ganzen Tag, von früh bis spätabends, arbeiteten sie im Pferdestall. Nach Hause ka men sie erst zur Nachtzeit, wenn die letzte Portion Heu ver teilt war. Tüchtig mußten sie sich ranhalten! Die Zeit drängte. Schon ging der Januar zu Ende. Fürs Her ausfüttern blieben ihnen dreißig, allenfalls fünfunddreißig Tage. Ob die Arbeitspferde bis zur Frühjahrsbestellung wie der voll zu Kräften kamen, hing jetzt allein von den Pflü gern ab. Der Gaul schläft — so ist er nun mal beschaffen —, aber in der Krippe vor ihm muß ständig Futter sein, Tag und Nacht. Nach Tynalijews Berechnung sollten die Pflüge Ende Fe bruar, sowie der Boden schneefrei war, nach Aksai gebracht werden. Dort hatten vor langen, langen Jahren frühere Ge nerationen gepflügt und gesät. Später waren diese Felder verwahrlost. Vielleicht, weil Aksai sehr abgelegen ist und unbewohnt. Und die Äcker können dort nicht bewässert werden, sie sind zumeist hügelig. Der Brigadier Tschekisch erzählte, daß er noch von seinem Vater gehört habe: Aus Aksai käme der Ackersmann entweder als Bettler zurück, oder er müsse das Volk zusammenrufen, damit es ihm helfe, das Getreide abzufahren. Hauptsache, die Saat kommt rechtzeitig in die Erde. Dann hängt die Ernte vom Regen ab in Aksai. So sprach der alte Tschekisch. „Der Landmann geht immer ein Risiko ein und hofft trotz dem“, sagte Tynalijew. Auch er rüstete seine Pflüger aus in der Hoffnung, daß es Regen geben werde und damit eine reiche Ernte in Aksai. Die Tage gingen dahin. Gegen Ende der Woche waren die Pferde merklich aufgelebt und ein wenig zu Kräften gekom men, sie machten sich allmählich heraus. Mittags wärmte die Sonne bereits. Der Winter spielte wohl mit dem Gedanken, sich zu trollen. Und so führten sie tagsüber die Pferde ins
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Freie, zu den großen Lehmraufen. In der prallen Sonne fres sen die Pferde besser und nehmen rascher zu. Alle fünf Vie rergespanne, die zwanzig Tiere der Aksaier „Luftlande truppe“, standen in einer Reihe an der Raufe längs des Zau nes. Zur Morgeninspektion des Vorsitzenden waren die Jungen schon bei der Arbeit, jeder bei seinem Gespann. Ty nalijew hatte sie Aksaier Luftlandetruppe getauft. Und seit her sprachen auch die Brigadiere, Fuhrleute und Pferdewär ter von nichts anderem als von Luftlandesoldaten, von den Aksaier Pferden, dem Aksaier Heu und den Aksaier Pflü gen. Wenn die Leute am Pferdestall vorbeikamen, schauten sie hinein, um sich zu vergewissern, wie es stand um die Luftlandetruppe. Von der Aksaier Luftlandetruppe sprach schon der ganze Ail. Und alle wußten, daß Tynalijew zu de ren Kommandeur Sultanmurat ernannt hatte, den Sohn des Bekbai. Das war freilich nicht ohne Zusammenstoß mit Ana tai abgegangen. Der begehrte sofort auf. „Warum soll Sul tanmurat Kommandeur sein? Vielleicht wollen wir ihn gar nicht?“ Sultanmurat gab es einen Stich ins Herz. Er ging hoch: „Wer sagt dir, daß ich Kommandeur sein will? Mach ihn doch selber, wenn du Lust hast!“ Auch Erkinbek und Kubatkul mischten sich ein: „Bist ja nur neidisch, Anatai!“ „Gönnst es ihm wohl nicht, wie? Entschieden ist entschieden — Kommandeur ist Sultanmurat!“ Ergesch aber nahm Partei für Anatai: „Und warum nicht Anatai? Kraft hat er! Ist nur ein bißchen kleiner als Sultan murat. In der Schule wird der Klassensprecher gewählt, also wählen wir auch den Kommandeur. Dauernd heißt es bloß — Sultanmurat, Sultanmurat!“ Tynalijew hörte sie schweigend an, lächelte dann, wiegte den Kopf und wurde plötzlich ernst und streng. „Schluß jetzt mit dem Spektakel! Kommt mal her. Tretet an. So, in einer Reihe. Wenn ihr schon Luftlandetruppe genannt wer det, dann benehmt euch entsprechend. Und nun hört gut zu
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und merkt es euch: Ein Kommandeur wird nicht gewählt. Den ernennt der übergeordnete Vorgesetzte.“ „Und wer ernennt den?“ unterbrach ihn Ergesch. „Ein noch höherer!“ Schweigen. „Seht mal, Jungs“, fuhr der Vorsitzende fort, „es ist Krieg, und wir müssen unser Leben danach einrichten. Für euch hafte ich mit meinem Kopf. Von zweien sind die Väter ge fallen, die Väter von dreien stehen an der Front. Den Toten und den Lebenden gegenüber muß ich für euch geradeste hen. Und ich übernehme die Verantwortung, weil ich euch vertraue. Auf euch und eure Pflüge wartet das ferne Aksai. Viele Tage und Nächte werdet ihr allein sein in der Steppe, wie die Fallschirmjäger einer Luftlandetruppe mit Sonder auftrag. Wie wollt ihr dort leben und arbeiten, wenn ihr euch bei jeder Gelegenheit zankt und anschreit?“ So sprach der Vorsitzende Tynalijew vor den angetretenen Jungen auf dem Pferdehof. Der einstige Fallschirmjäger stand vor ihnen in seinem alten grauen Militärmantel, die graue Militär-Ohrenklappenmütze auf dem Kopf, sorgen voll und spitz das Gesicht, jung noch, aber krumm, weil ihm einige Rippen fehlten, die unvermeidliche Feldtasche an der Seite. So sprach der Vorsitzende Tynalijew vor der angetretenen Aksaier „Luftlandetruppe“, zu deren Kommandeur er Sul tanmurat ernannt hatte, Bekbais Sohn. „Du bist für alles verantwortlich“, sagte er, „für die Men schen, für das Zugvieh, für die Pflüge und fürs Geschirr. Von dir werde ich Rechenschaft fordern für die Feldbestel lung in Aksai. Verantwortung tragen heißt seine Aufgabe er füllen. Wenn du damit nicht fertig wirst, ernenne ich einen ändern zum Kommandeur. Einstweilen aber erlaube ich kei nem zu widersprechen.“ Das sagte der Vorsitzende Tynalijew an jenem Tag auf dem Pferdehof vor der kleinen Aksaier Luftlandetruppe. Ergeben und voller Begeisterung sahen ihm die Pflüger ins
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Gesicht, bereit, jeden Befehl auszuführen. Als stünde der le gendäre Recke Manas vor ihnen, graumähnig, furchtgebie tend, ringpanzerbewehrt, und sie wären seine Mannen. Schwertumgürtet, Schilder in der Hand. Wer waren sie, diese ruhmreichen Helden, wessen Schultern vertraute Ma nas seine Hoffnungen und Pläne an? Der erste war der edle Recke Sultanmurat. Nicht der älteste war er zwar, noch hatte er sein fünfzehntes Lebensjahr nicht vollendet. Doch für seinen Verstand und seine Kühnheit war er, der Sohn Bekbais, Sultanmurat, zum Kommandeur ernannt worden. Sein Vater aber, der beste aller Väter, be fand sich zu jener Zeit auf einem fernen Feldzug, im großen Krieg. Das Streitroß Tschabdar hatte er ihm, Sultanmurat überlassen. Und einen kleinen Bruder hatte Sultanmurat — Adshymurat. Gar sehr liebte er den Bruder, auch wenn dieser ihm mitun ter Verdruß bereitete. Außerdem liebte Sultanmurat insge heim die schöne Myrsagül-bijke. Wohlgestalt war sie wie eine turkestanische Pappel, ihr Antlitz war weiß wie Schnee, und die Augen glichen zwei Feuern auf einem Berg in finste rer Nacht. Der zweite Recke war der edle Anatai-batyr. Der älteste war er in ihrer Abteilung, fast sechzehn Jahre alt. Er stand kei nem auch nur im geringsten nach, allenfalls im Wuchs ein Quentchen. Dafür verfügte er über die größte Kraft. Sein Roß hieß, wie es sich für einen kühnen Jüngling, einen Ba ryr, ziemt, Oktor — rehbrauner Pfeil! Auch Anatais Vater war im großen Krieg, auf fernem Feldzug. Und auch Anatai liebte insgeheim jene anmutige, sterngesichtige Myrsagül bijke. Unendlich sehnte er sich nach einem Kuß der Schö nen. Der dritte Recke war der holde Jüngling Erkinbek-batyr. Der älteste in der Familie. Ein guter und treuer Freund. Kummervoll seufzte er bisweilen und weinte verstohlen. Sein Vater war als Held gefallen auf jenem fernen Feldzug, bei der Verteidigung Moskaus. Erkinbeks Streitroß hieß,
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wie es sich für einen Batyr ziemt, Akbaipak-külük, das heißt: weißbestrumpfter Renner! Der vierte hehre Mann war Ergesch-batyr, auch ein Freund und guter Kamerad. Fünfzehn Jahre alt. Immer sagte er frei heraus, was er dachte, scheute keinen Wortstreit. Zuverläs sig war er in seiner Arbeit. Sein Vater war gleichfalls im gro ßen Krieg, auf fernem Feldzug. Ergeschs Pferd hieß, wie es sich gehört für einen Batyr, Altyn-tujak — Goldhuf! Unter diesen edlen Mannen war noch ein fünfter — Kubat kul-batyr! Ebenfalls fünfzehn Jahre, ebenfalls der älteste in der Familie. Kubatkuls Vater hatte auf jenem fernen Feld zug, in jenem großen Krieg, in den belorussischen Wäldern den Heldentod gefunden. Kubatkul war ein unermüdlicher Arbeiter. Und wie jeder Batyr liebte er heiß sein Streitroß Dshibekdshal — seidenmähniger Renner! Solche Recken standen vor Tynalijew. Und hinter ihnen, hinter ihren schmächtigen Schultern, hinter ihren auf dün nen Hälsen sitzenden Köpfen standen angebunden an der Raufe ihre Gespanne — fünfmal vier Rosse, zwanzig Zugpferde, die vor Zweischarpflüge gespannt werden soll ten auf dem Marsch ins ferne Aksai. Nach Aksai, nach Aksai, das Feld umzubrechen, sobald der Schnee getaut war! Nach Aksai, nach Aksai, den Pflug zu führen, sowie die Erde wieder zu atmen begann! Noch lag weit und breit tiefer Schnee. Die Zeit aber rückte näher. Bald mußte es soweit sein.
5 Immer näher rückte jene Zeit. Ob die Zugpferde für Aksai Luftlandepferde genannt wur den oder Aksaier Gäule — Tatsache blieb, daß sie bereits nach etwa zwei Wochen im Stall von allen anderen absta chen. Die satten, getränkten und geputzten Aksaier standen in einer Reihe entlang der Luftlandefutterkrippe, und jeder
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manns Auge weidete sich am Spiel ihrer sich kräftigenden Muskeln, an ihrem lebhaften Blick und den lauschend ge spitzten Ohren. Ihr Pferdetemperament meldete sich wie der, jedes Tier gewann seine Eigenart zurück, seinen Cha rakter, vergessene Gewohnheiten. Mit ihren neuen Herrn hatten sie sich bereits angefreundet. Leise, gleichsam flü sternd, zärtlich wieherten sie, wenn sie deren bekannte Stim men und Schritte hörten, reckten ihnen die zutraulichen, seidigen Lippen entgegen. Auch die Jungen hatten sich an die Gäule gewöhnt, krochen ihnen mit herrischen Zurufen fast unter den Bauch. „Nimm mal das Bein weg! Rück bei seite! Halt, halt, du Dummrian, kommst schon noch zu recht! Herrje, der drängt sich aber ran und schmeichelt, der Schlauberger! Aber Pustekuchen, du bist nicht allein hier!“ In den ersten Tagen trotteten die Pferde wie blind zur Tränke, später begannen sie zu spielen, besonders auf dem Rückweg vom Fluß. Die Jungen trieben sie alle zusammen dorthin, jeder saß auf seinem Streitroß. Sultanmurat auf Tschabdar, Anatai auf Oktor, Erkinbek auf Akbaipak, Er gesch auf Altyn-tujak und Kubatkul auf Dshibekdshal. Sie kreisten die Herde ein und trieben sie zum Fluß. Im Winter ist es wichtig, daß die Tränke bequem liegt und der Zugang zum Wasser nicht glitschig ist. Vor allem, wenn viele Pferde gleichzeitig trinken wollen. Deshalb muß man vorher den Eisrand zertrümmern, an gefährlichen Stellen Stroh ausbreiten. Und bei starkem Frost Löcher ins Eis schlagen. Auch hierbei hatte Sultanmurat streng geregelt, wer an welchem Tag an der Reihe war, die Tränke vorzube reiten. Gemächlich, ohne zu drängen, tranken die Pferde unter der Aufsicht der Pflüger das klare, bitterkalte Flußwasser. Es sprudelte unterm Eis hervor über eine Steinbank, und zwi schen Steinen verschwand es wieder unter Eis. Darunter aber gluckerte es, klirrte und klatschte. Die Pferde schienen zu lauschen, sie hoben die Köpfe vom Wasser, wärmten sich in den kargen Sonnenstrahlen und
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tranken erneut. Hatten sie ihren Durst gestillt, traten sie be dächtig vom Ufer zurück, und auf dem Weg zum Stall be gannen sie zu spielen: Sie schnaubten, bliesen die Nüstern auf, jagten mit wehendem Schweif vor und zurück, keilten aus und stellten sich auf die Hinterhand. Die Jungen spreng ten um sie herum, vollführten Reiterkunststückchen, lärm ten. Es dauerte nicht lange, da kamen die Leute eigens herbei, um die Luftlandetruppe zu bewundern. Als wären das gar nicht die einstigen Klepper, sondern neugeborene Fohlen. Die alten Männer versäumten keine Gelegenheit, darüber zu disputieren, daß es auf Erden kein feinfühligeres Lebewe sen gebe als das Pferd, wenn es nur in arbeitsamen, ordentli chen Händen ist. Ein Quentchen Gutes dankt es einem hun dertfach. Und sie erzählten erstaunliche Geschichten, was für Rosse es gab in alten Zeiten! Nur der Vorsitzende Tynalijew kargte mit Lob. Unnach sichtig, mit stechendem Blick musterte er die Pferde, vor al lem aber die Jungen der Luftlandetruppe. Er überprüfte schlechthin alles — den Zustand der Pflüge, das Geschirr, bemängelte sogar ein durchgewetztes Hosenknie — hat die Mutter keine Zeit, greif selber zur Nadel, oder ist das zu schwer? Und wann endlich sind die Pferdedecken fertig? Nach Aksai könnt ihr keinen Stall mitnehmen, nachts wird es kalt sein in der Steppe. Er drängte, erinnerte daran, daß immer weniger Zeit blieb, daß es in Aksai zu spät war, nach zuholen, was sie jetzt versäumten. Mitunter schrie er sogar herum, schimpfte und rügte den Brigadier Tschekisch, wenn die Fuhrleute nicht beizeiten Kleeheu herangeschafft hatten, das eigens für die Zugtiere aufgespart worden war, und in erster Linie für die Aksaier. Wenig Begeisterung zeigten auch die Mütter. Bald kam die eine, bald eine andere, und jede klagte: Nein, so eine Strafe, von wegen Luftlandetruppe, wo hat es so was schon gege ben; nicht genug, daß die Männer im Krieg sind, jetzt spie len auch noch die Söhne Soldaten — in der Wirtschaft hilft
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keiner mehr, keinem kann man sein Herz ausschütten, von früh bis spätnachts hocken sie im Pferdestall. Dies und noch viel mehr sagten sie — wer, wenn man's recht besieht, wollte es ihnen verdenken? Sultanmurat kriegte am meisten ab, dafür war er der Kom mandeur. Für alle mußte er geradestehen. Und den Müttern gegenüber war das am schwersten. Seine Mutter hatte schon resigniert, sie war müde geworden. „Hauptsache, der Vater kommt zurück aus dem Krieg, soll er dann urteilen. Mir reicht's. Du wirst es noch bereuen, Söhnchen, wenn ich mal die Beine ausstreck, aber dann ist's zu spät.“ Leid tat Sultanmurat die Mutter, unendlich leid, aber was konnte er tun oder ein anderer an seiner Statt? Jeder von der Luftlandetruppe mußte vier Pferde betreuen, da gab es eine Menge Arbeit. Futtern, tränken, putzen, Futter heranschaf fen und wieder füttern, tränken, putzen, ausmisten und noch einmal alles von vorn. Und wie beschwerlich war es, alten Grind zu heilen, wund geriebene Stellen an Schultern und Widerrist. Der Veterinärfeldscher vom Bezirk hatte ih nen allerlei Mixturen und Salben dagelassen, behandeln mußten sie die Pferde selber. Tagtäglich. Sonst half es nicht. Auffüttern — gut und schön, aber auf eine Wunde legt man kein Kummet. So sieht's aus. Kein einziges Pferd war ge sund, alle hatten offene Stellen an den Schultern und zer schundene Beine. Überdies begreift so ein Gaul nicht, daß man ihm helfen will, versuch einer nur, ihn festzuhalten. Als die Pferde wieder zu Kräften gekommen waren, brauch ten sie Auslauf. Jedes Pferd muß täglich etwa anderthalb Stunden bewegt werden, andernfalls, so sagte der Brigadier Tschekisch, läuft ihm beim Pflügen der Schweiß dermaßen herab, daß von ihm nichts übrigbleibt als ein nasser Fleck. Hier nun geschah etwas sehr Unangenehmes... Eines Tages ritten sie hinaus, damit die Pferde sich warm laufen konnten, Sultanmurat auf Tschabdar, Anatai auf Ok tor, Erkinbek auf Akbaipak, Ergesch auf Altyn-tujak, Ku batkul auf Dshibekdshal. Zuerst im Trab wie es sich gehört.
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Um den Stall herum, dann die Straße entlang, hinaus aus dem Dorf und querfeldein, über den Schnee. Es war ein son niger, funkelnder Tag, die Luft flimmerte im Frühlingslicht. Die Berge droben schneeweiß und so ruhig und klar, daß man auf dem Hang dort selbst eine Fliege gehört und gese hen hätte. Der Winter hatte sich zurückgezogen, die Sonne wärmte bereits. Die Pferde liefen nach Herzenslust. Auch sie brannten dar auf, sich zu bewegen, zu tummeln. Die Jungen lockerten die Zügel — schneller, immer schneller! Wie sehr gelüstete es sie, im Galopp dahinzujagen! An der Spitze — Sultanmurat. Und von hinten stachelte Anatai: „Na los! Warum so lang sam?“ Sultanmurat, der Kommandeur, gestattete jedoch kein zu großes Tempo. Auslauf ist kein Pferderennen. Das ist Ar beit, Training der Gäule, damit ihnen später im Gespann das Ziehen leichter fällt. So ritt die ganze Luftlandetruppe. Schon wollten sie auf freiem Feld wenden und zurückreiten, da vernahmen sie vom Hügel Stimmen. Die Kinder kamen aus der Schule. Hatten die Luftlandetruppe entdeckt, schrien und winkten. Die Jungen schrien und winkten zu rück. Ihre Klasse, die siebente, kam vom Unterricht, mit noch ändern Schülern. Eine lärmende Schar. Und in dieser Truppe fand Sultanmurat sie heraus, Myrsagül, er hatte sie sofort erkannt. Woran, wußte er selber nicht, doch sie war es. Am vorüberhuschenden Gesicht, das in ein Tuch ge mummt war, hatte er sie wohl ausgemacht, an der Figur, am Gang, an der Stimme. Und sie hatte ihn sicher auch erkannt. Sie kam mit den ändern den Hügel heruntergerannt, schrie und schwenkte ihre Tasche. Ihm war es, als riefe sie: „Sul tanmuraaat!“ Schlagartig prägte sich dieses Bild seinem Ge dächtnis ein — wie sie mit ausgebreiteten Armen lief, wie sie ihm entgegenstrebte —, und mit einemmal begriff er, daß er immerfort an sie gedacht, nach ihr sich gesehnt hatte, all die Tage. Eine Woge der Freude ergriff ihn, trug ihn mit sich fort, weiter, immer weiter, riß ihn in einen Wirbel.
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Unwillkürlich fielen sie alle in Galopp, sprengten auf den Hügel zu, den die Klassenkameraden herabkamen. Pfeilge schwind ließen sie das Feld hinter sich und erreichten den Hang. Sie hätten längs des Hügels, an dessen Fuß, entlang jagen können, eine an entzückten Blicken vorbeidefilie rende Kavalkade, und dann weiterreiten zum Stall. Das hatte Sultanmurat auch vor. Da preschte Anatai nach vorn. Sein Oktor war ein schnellfüßiges Pferd. „Halt, wohin? Zurück!“ warnte ihn Sultanmurat, doch Ana tai blickte sich nicht einmal um. Ein seltsamer Gedanke durchzuckte Sultanmurat. Er will, daß sie ihn sieht! Wut packte ihn, er bezwang sich nicht län ger, überließ sich der aufwogenden Leidenschaft, trieb Tschabdar an mit Zurufen und Schreien; und schon ver kürzte er, über die Mähne gebeugt, seinen Abstand zu Ana tai. Der peitschte wie wild auf sein Pferd ein. Und los ging die Verfolgungsjagd — wer wen, wer ist als erster bei ihr, wer beweist seine Kühnheit und Überlegenheit? Wie von Sinnen jagten sie dahin. Und doch war Tschabdar der Stär kere, nicht zu Unrecht hatte der Vater gesagt, in ihm stecke ein großer Renner. Sultanmurat triumphierte, als er Anatai einholte wie ein Wirbelwind. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Schar seiner Klassenkameraden im Lauf innehielt, um den jäh entbrannten Wettkampf zu verfolgen, und da zwischen sie, der vor allem seine Blicke galten. Ihretwegen hatte er sich auf diesen Zweikampf eingelassen. Und gewon nen! Während er Anatai einholte, hielt er sich etwas hang wärts, um ihr näher zu sein, und wie gut war es, welch ein Segen, daß er Tschabdar nach oben lenkte — wer weiß, wie sonst alles ausgegangen wäre. Im nächsten Augenblick, als er, Seite an Seite mit Anatai, an diesem vorbeiging und eine halbe Pferdelänge Vorsprung gewann, geschah ein Un glück. Ein vielstimmiger Aufschrei ertönte. Sultanmurat zog die Zügel an und sah sich um. Anatai war nicht mehr hinter ihm. Mit Mühe parierte er das Pferd, wendete und sah, daß Anatais Oktor gestürzt und die Böschung hinuntergerollt
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war, im Schnee eine breiter aufgerissene Spur nach sich zie hend, Anatai selbst aber war beiseite geflogen. Die Kinder eilten zu ihm, während er sich mühselig aus dem Schnee hochrappelte. Sultanmurat erschrak. Und das noch mehr, als er heran war und Anatais Hände blutig sah. Für eine Sekunde begegnete er Myrsagüls Blick. Bleich war sie und verwirrt, und doch die Allerschönste. Anatai, der sich wieder gefangen hatte, lief zu seinem Pferd, das weiter unten in einer Schneewehe zappelte. Es hatte sich in den Zügeln verheddert. Inzwischen waren auch die übrigen Jungen der Luft landetruppe zur Stelle. Gemeinsam halfen sie dem Gaul auf die Beine. Jetzt erst drangen wieder Stimmen an Sultan murats Ohr, und er begriff: Das war wohl noch mal gut gegangen. So kläglich endete der Versuch der Helden, sich vor dem Mädchen Myrsagül aufzuspielen. Nun schämten sie sich, ihr in die Augen zu sehen. Schweigend saßen sie auf — es war ohnehin Zeit, zum Stall zurückzureiten. Erst als sie sich schon dem Ail näherten, bemerkte Ergesch, daß Oktor un ter Anatai hinkte. „Halt!“ rief er. „Merkst du denn nicht, daß dein Pferd lahmt?“ „Es lahmt?“ fragte Anatai bestürzt. „Aber ja! Und wie!“ „Reit mal voraus!“ befahl Sultanmurat. „Reit, wir sehen es uns an.“ In der Tat, Oktor hinkte stark auf der rechten Vorderhand. Sie tasteten sie ab und sahen: Das Fesselgelenk schwoll be reits an. So ein Unglück! Was tun? So lange hatten sie das Pferd fürs Pflügen vorbereitet, und jetzt? Welche Dumm heit, ein Wettrennen zu veranstalten auf dem verschneiten Hang, da kann ein Pferd doch bei jedem Schritt ausrutschen und sich überschlagen! Genau, wie es passiert war. Noch gut, daß sie sich dabei nicht selber den Hals gebrochen hat ten.
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„Du bist schuld!“ schrie auf einmal Anatai, puterrot vor „Wut. „Du bist um die Wette geritten!“ „Hab ich dir nicht zugerufen: ,Halt, wohin?'“ „Immer noch kein Grund zum Überholen!“ „Und warum bist du so losgeprescht?“ Geschrei und Zank. Fast wären sie handgreiflich geworden. Aber sie besannen sich rechtzeitig. In den Stall kamen sie von ihrem Ausflug mit einem lahmenden Pferd. Bedrückt und schweigsam. Ohne Lärm zu machen, führten sie die Tiere an ihre Plätze, banden auch den hinkenden Oktor an der Krippe fest, wie es aber weitergehen sollte, wußte kei ner. Sie waren ganz kopflos, wären am liebsten in ein Mau seloch gekrochen. Ihnen war klar, daß sie sich verantworten mußten. Die Jungen rieten Anatai: „Geh und sag den Pfer dewärtern, was passiert ist, sag ihnen, Oktor lahmt, was sol len wir tun?“ Er aber sträubte sich mit Händen und Füßen. „Warum ich? Meine Schuld ist es nicht. Wir haben einen Kommandeur. Soll er es melden.“ Wieder entbrannte ein Streit, wieder kam es fast zu einem Handgemenge. Am meisten empörte sich Sultanmurat, daß Anatai sich für den reinsten Unschuldsengel hielt. „Ein Weib bist du!“ beschimpfte er ihn. „Ein Maulheld! Beim ersten Mißgeschick schlägst du dich in die Büsche! Denkst du vielleicht, ich hab Angst? Nach dem, was uns pas siert ist, geh ich selber hin und melde es.“ „Nur zu! Dafür bist du der Kommandeur!“ Anatai ließ nicht locker. Sultanmurat faßte sich ein Herz und erzählte einem Pferde wärter, was geschehen war. Der erschrak, kam angelaufen und besah das verletzte Pferd. Er schlug großen Krach. Ist ja kein Kinderspiel, ein Zugpferd kurz vor dem Pflügen zu verlieren. Da platzte auch noch der Brigadier Tschekisch herein. Er wußte schon von der Neuigkeit,, jemand hatte es ihm gesteckt. Der Pferdewärter untersuchte gerade Oktors Fuß, um festzustellen, woher die Schwellung kam, von einer
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Zerrung oder einem Knochenriß. Plötzlich erklang Hufge trappel. Alle drehten sich um — der Brigadier Tschekisch hoch zu Roß. Schweigend saß er ab, kam drohend und wut schnaubend auf sie zu. „Was ist hier los?“ „Wir überlegen gerade, Aksakal, ob es eine Zerrung ist oder ein Riß.“ „Was heißt überlegen!“ tobte Tschekisch, knallrot vor Zorn. „Ich bring sie allesamt vors Tribunal! Erschieß sie auf der Stelle!“ Peitschefuchtelnd stürzte er sich auf die Pflüger. Die Jun gen stoben auseinander. Tschekisch hinter ihnen drein. Ein holen konnte der alte Mann keinen, er kam nur so außer Atem, daß er blau anlief; er kochte vor Grimm und schrie, mit der Knute drohend: „Wem haben wir die Zugpferde an vertraut! Saboteure sind das! Faschisten! Erschießen muß man sie, allesamt! Wieviel Arbeit, wieviel Futter haben sie verplempert! Womit sollen wir jetzt pflügen?“ Solcherart über den ganzen Hof schimpfend, stieß er auf Sultanmurat. Als die anderen Jungen davonliefen, war er stehengeblieben. Bleich und erschrocken starrte er den Bri gadier an, doch der Verantwortung wollte er sich nicht ent ziehen. „Aaah, du! Traust dich noch, mich anzusehen!“ Der alte Tschekisch konnte sich nicht beherrschen, er hieb dem Kommandeur der Luftlandetruppe die Peitsche über die Schulter. Als er das zweitemal ausholte, besann er sich aber und krächzte, furchteinflößend mit den Füßen trampelnd: „Hau ab, du Hundesohn! Lauf fort! Ich prügle dich zu Tode!“ Sultanmurat stand zurückgebeugt, die Arme unwillkürlich vors Gesicht geschlagen, und wandte den erschrockenen Blick nicht vom Brigadier. Er wartete, daß ein sengender Schlag der Reitpeitsche seinen Rücken traf. Und nahm alle Kraft zusammen, um nicht wegzulaufen, sondern fest zu bleiben, standzuhalten.
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„Na schön!“ sagte Tschekisch auf einmal, verwundert über die Zähigkeit des Burschen. „Den Rest kriegst du, wenn dein Vater aus dem Krieg kommt. Vor seinen Augen sollst du mir dafür büßen!“ Sultanmurat schwieg. Tschekisch aber konnte sich immer noch nicht beruhigen. Er stampfte vor und zurück, fuchtelte mit den Armen. „Da sagt man ihm — lauf!, aber nein, er denkt nicht dran! Ja, hätt ich dich denn eingeholt? Kein Gedanke! Wärst du doch wenigstens aus Respekt vor mir weggerannt, das hätte mich erleichten! Aber zuschlagen — da hast du schon kaum was an, bestehst nur aus Haut und Knochen, wie soll man da mit der Peitsche... Gab's doch was zu verdreschen! Na schön .., Verzeih mir altem Knacker! Kommt dein Vater zurück, dann verprügelt meinethalben ihr mich. Und jetzt zeig mal, was ihr da angerichtet habt!“ Das also hatte ihnen jener Tag gebracht. Sultanmurat bekam sein Teil ab. Verdientermaßen. Wie sollte der Brigadier bei dieser Bescherung nicht zur Peitsche greifen! Wieviel Ar beit, wieviel Mühe waren vergebens — wozu taugt schon ein lahmes Roß? Allenfalls zum Schlachten. Aber wer erhebt die Hand gegen ein Arbeitspferd? Nur eine Hoffnung blieb: Tschekisch und andere, die sich darin auskannten, meinten, die Verletzung sei nicht gefährlich. Oktor mußte zu einem alten Mann gebracht werden, auf dessen Hof. Der verstand sich aufs Pferdekurieren. Sie fuhren Klee und Hafer hin, wechselten sich ab in der täglichen Aufsicht. Und sie kamen noch einmal glimpflich davon — nach fünf Tagen führten sie Oktor wieder in den Stall, er war auf dem Weg der Besse rung. Überhaupt war das eine schwere Woche. Zu Haus erkrankte die Mutter. Zunächst fühlte sie sich schlecht, dann legte sie sich mit hohem Fieber ins Bett. Sultanmurat mußte zu Hause bleiben, die Mutter und die jüngeren Geschwister versorgen. Erst jetzt fiel ihm auf, welche Armut bei ihnen eingezogen war. Als der Vater einrückte, hatten sie ein Dut
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zend Schafe besessen — keins war mehr übrig: Zwei hatten sie geschlachtet, um Fleisch zu haben, die ändern verkauft, um Geld für die Anleihe, die Kriegssteuer und andere Zah lungen aufzubringen. Gut, daß noch die Kuh im Stall stand, ihr Euter war schon prall, bald würde sie kalben; und dann stakte noch Adshymurats.Esel Schwarzmähne hinterm Haus herum. Das war ihr ganzes lebendes Inventar. Und nicht ein mal dafür besaßen sie Futter. Auf dem Scheunendach lagerte noch gebündeltes trockenes Maisstroh. Sultanmurat zählte die Bündel und rechnete aus, daß sie für die Kuh gerade so reichten, bis sie gekalbt hatte, falls sich der „Winter nicht zu sehr hinzog; dauerte er freilich an, war alles ungewiß. Der Esel mußte sich in jedem Fall selber versorgen. Er fraß die Disteln und das Steppengras rings um den Hof. Am schlimmsten stand es mit der Feuerung — der Tesek ging zur Neige, und Kuurai-Reisig hatten sie nur noch für ein paar Tage. Und was dann? Sogar der Hund Aktösch hielt sich kaum noch auf den Beinen. Sultanmurat verzagte. Und schämte sich. Tag und Nacht nur damit beschäftigt, auf dem Pferdehof die Aksaier Luftlandetruppe zu formieren, hatte er nicht bemerkt, wie die Wirtschaft zu Hause verwahrloste. Hatte es denn so beim Vater ausgesehen? Der hatte stets da für gesorgt, daß das Heu für Winter und Frühjahr reichte. Auch für Feuerung im Überfluß. Überhaupt war das Leben anders gewesen mit dem Vater — sorgenfrei, geordnet, schön. Nicht nur daheim, überall, vielleicht auf der ganzen Welt. Zum Beispiel sah jetzt auch ihr Hof anders aus. Etwas fehlte darin, wie im Herbst die bunten Blätter an den Bäu men. Der Ail stand noch, Straßen und Häuser waren die gleichen, und doch nicht so wie zu Vaters Zeiten. Selbst die Räder der Wagen, die hinterm Hof vorbeirollten, polterten längst nicht so lustig wie damals, als der Vater dort entlang kutschiert war, mit denselben Fuhrwerken. Leute, die in Dshambul gewesen waren, erzählten, in der Stadt herrschten eine solche Teuerung, solcher Hunger und solche Unruhe, daß es einen schleunigst wieder nach Hause
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zöge. Also war auch die Stadt nicht mehr so wie damals, als er sie mit dem Vater erlebt hatte. Warum nur? Demnach brauchte nur der Vater weg zu sein, und schon wurde alles schlechter. Wo war er jetzt, wie er ging es ihm? Den letzten Brief hatten sie vor anderthalb Mo naten bekommen. „Die Postbeförderung stockt“, beruhigte die Mutter Sultanmurat. Und seufzte. Stimmt, ein Brief kann unterwegs steckenbleiben, besonders ein Brief von der Front. Oder sie haben da jetzt andre Sorgen, als zu schrei ben? Sicher, dennoch war es ein Unterschied, ob ein Brief vom Tschu-Kanal lange brauchte oder einer von der Front. So grübelten sie, die Mutter und sie alle. Vorgestern im Morgengrauen hatte der Hund gekläfft, daß seine Stimme überschnappte, dann verstummte er plötzlich, begann freudig zu winseln, und es klopfte ans Fenster, die Mutter fuhr zusammen und sprang trotz ihrer Krankheit aus dem Bett. Auch Sultanmurat stürzte zum Fenster. Jemand stand am Haus. Die Mutter erkannte ihn zuerst. „Euer Onkel Nurgasy ist gekommen“, sagte sie zum Sohn. „Geh, begrüß ihn.“ Sie selber aber wankte, zähneklappernd vor Schüttelfrost, wieder ins Bett. Mutters Bruder, Onkel Nurgasy, wohnte in den Bergen, er arbeitete sein Leben lang als Schafhirt im Nachbarkolchos. Eines Tages hatte auch er die Einberufung erhalten, trotz seines vorgerückten Alters, aber aus Dshambul schickte man ihn und einige andere Hirten wieder nach Hause. Die Schaf herden wären ohne Aufsicht geblieben, und sie konnten die Tiere doch nicht sich selbst überlassen. Gut, daß es den On kel Nurgasy gab, der kam doch ab und an zu Besuch. So auch diesmal. Auf die Nachricht hin, daß seine Schwester krank sei, war er nachts, während die Herde im Pferch blieb, von den Bergen herabgeritten. Er wollte sich nur ver gewissern, wie es um sie stand, und möglichst rasch wieder an seinen Platz zurückkehren. Windgegerbt, bereift, in einem schweren Pelz und einer gro ßen Ohrenklappenmütze aus Fuchsfell, die Stiefel mit Filz
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Schäften bis über die Knie, so stapfte er herein, groß und stämmig, nach Kälte riechend und nach Schafen. Alsbald wurde es im Haus gemütlich und laut. Er warf den Pelz ab, setzte sich zur Schwester ans Bett, nahm ihre heiße Hand in seine schweren Pranken und fühlte schweigend den Puls. Lange und aufmerksam lauschte er, ihr zartes Handgelenk in seinen harten, steifen, dunkelbraunen Fingern. Irgend et was war ihm klar, hatte er begriffen. Er hüstelte, überlegte eine Weile, strich sich dann den Bart und sagte lächelnd zu Sultanmurat: „Es ist nichts Schlimmes. Nur eine tüchtige Er kältung. Zuviel Frost hat sie abgekriegt. Ich hab für alle Fälle Fleisch und Schwanzfett mitgebracht. Trink heiße Schorpa mit Fett, Pfeffer und Zwiebel, damit du gehörig schwitzt“, empfahl er der Schwester. „Und du, Sultanmurat, nimm den Kurdshun vom Sattel und bring ins Haus, was drin ist, mach ihn leer, den Kurdshun. Lange bleiben kann ich nicht, muß wieder zu den Schafen.“ Während die Mutter und der Onkel über dies und das spra chen, machte Sultanmurat Feuer und kochte Tee. Nun wachten auch die Kleinen auf. Kaum bekleidet, wie sie wa ren, stürzten sie aus ihren Betten zum Onkel. Er hüllte sie in den Pelz neben sich, sie aber kletterten auf seine Knie, häng ten sich ihm an den Hals. Besonders Adshymurat, Onkels Liebling, wurde wieder ganz zum Kind. Wie ein Kälbchen schmiegte er sich an ihn, dabei ging er schon in die dritte Klasse. Er stülpte sich die Ohrenklappenmütze aus Fuchsfell über, griff nach Onkels Peitsche und kletterte ihm auf die Schulter, als schwänge er sich auf ein Roß. „Schämst du dich nicht! Komm runter!“ Zweimal zerrte Sultanmurat ihn aus diesem Sattel, aber Onkel Nurgasy nahm Adshymurat in Schutz. „Was verjagst du ihn? Laß ihm doch den Spaß!“ Das wurde ein fröhlicher, lärmender Morgen. Für Adshy murat war es schon höchste Zeit, zur Schule zu gehen, aber er machte keine Anstalten. Die Mutter mußte ihn anschreien, doch auch das half nicht, unentwegt scharwenzelte er um
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den Onkel. Endlich drängte auch der den Neffen zur Eile. Mit Mühe gelang es, ihn zum Anziehen zu bewegen. Zuletzt nahm Sultanmurat ihn an der Hand und beförderte ihn vor die Tür. Der Bengel sträubte sich, begann draußen zu brül len. Laut heulend zog er dann ab zur Schule. Er konnte einem doch leid tun. Onkel Nurgasy sah Sultanmurat vorwurfsvoll an. „Hast du ihn etwa ...“, fragte er ärgerlich. „Nein, Taiake, ich habe ihm nichts getan.“ „Warum weint er dann so?“ „Er hat ihn bestimmt nicht angerührt“, verteidigte auch die Mutter Sultanmurat und hob den Kopf vom Kissen. „Nein, Nurgasy, der Junge sehnt sich nach dem Vater. Deshalb hängen die Kinder so an dir. Wir sind schon ganz zermürbt. Warten, nichts als warten. Käme doch wenigstens ein Le benszeichen! Zwei Monate fast haben wir keine Nachricht.“ Onkel Nurgasy beruhigte die Mutter, bat sie, nicht zu wei nen und ihre Kräfte für die Kinder zu schonen, führte ver schiedene Fälle an, wo man einen -Menschen schon für tot gehalten hatte, und ein halbes Jahr darauf kam doch ein Brief. „Es ist eben Krieg“, sagte er. „Krieg ...“ Angesichts der kranken Mutter empfand Sultanmurat be sonders bitter, wie öde das Leben geworden war ohne den Vater. Wäre er kleiner gewesen, so wie Adshymurat, hätte er lauthals geweint vor Kummer. Und wäre weinend losge laufen, ziellos. Gäbe es doch nur einen Schimmer von Hoff nung! Wenn auch der Vater nicht sofort käme, wissen wollte er, daß er am Leben war, dann könnte er aufatmen, harren, sich zusammennehmen. Wie gut verstand er jetzt seine Lehrerin Inkamal-apai! Eines Tages war sie in den Stall gekommen und hatte gewar tet, ob nicht ein Wagen angespannt wurde in den Kreis. Ge altert, einsam, die Augen vergrämt, so stand sie in ihrem grobgestrickten Schal an dem schiefen Tor. Tags darauf aber, als sie zurückkam, war sie nicht wiederzuerkennen — als hätte sie sich verjüngt. Richtiger gesagt, sie war wieder so
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wie früher. Selbst die Fältchen im Gesicht hatten sich geglät tet. Freundlich erkundigte sie sich nach der Arbeit ihrer Schüler. Sultanmurat führte sie über den Hof, zeigte ihr die Pferde der Luftlandetruppe: „Da, Inkamal-apai, unsere Ge spanne. Stehen alle an dieser Raufe!“ „Schöne Tiere — man sieht gleich die gute Pflege“, lobte In kamal-apai. „Ach, wenn Sie die vorher gesehen hätten!“ berichtete Sul tanmurat. „Elende Klepper. Voller Grind. Der Widerrist wund, vereitert, die Beine zerschunden. Wir erkennen sie selber kaum wieder. Der da, Inkamal-apai, ist mein Tschab dar. Sehen Sie nur! Das Pferd vom Vater! Und der hier ist Akbakai, und der Dsheltaman.“ Dann zeigte er der Lehrerin in der Sattlerei die Pferdege schirre für die Gespanne. Sie waren auch schon fast fertig. Auch die Pflüge sahen sie sich an. Alles war in Ordnung, sie hätten sofort anspannen können und — raus auf den Acker. Inkamal-apai war äußerst zufrieden. Beim Abschied gestand sie sogar, sie habe sich sehr gehärmt und sei im Grunde ihres Herzens dagegen gewesen, daß man die Jungs aus der Schule weggeholt habe, nun aber sehe sie, daß dieses Opfer nicht umsonst war. „Hauptsache, wir siegen“, sagte sie, „und die Menschen kommen möglichst bald aus dem Krieg zurück, dann holen wir das Versäumte nach, bestimmt...“ Wie sich herausstellte, war die Lehrerin Inkamal-apai bei einer berühmten Wahrsagerin gewesen, die für gute Kunde nichts nahm, keine Kopeke, denn sie freute sich über frem des Glück wie über eigenes. Da konnte sie doch nicht lügen. Diese Wahrsagerin verhieß Inkamal-apai, nachdem sie drei mal die Karten ausgelegt hatte, ihr Sohn sei am Leben. Nicht in Gefangenschaft und nicht verwundet. Er habe nur so einen Auftrag, wo er keine Briefe schreiben dürfe. Sobald er die Erlaubnis erhalte — dessen dürfe sie gewiß sein —, würde ein Brief nach dem ändern eintreffen. Was immer davon stimmte und was nicht, jedenfalls erzählte das im Pferdestall der Kutscher, der die Leute in die Kreisstadt gefahren hatte.
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Damals wunderte sich Sultanmurat, daß ausgerechnet Inka mal-apai eine Kartenlegerin befragt hatte, jetzt verstand er ihre Ängste und Leiden und beschloß sogar, der Mutter gut zuzureden, sie solle zu ebendieser Frau fahren, sowie es ihr wieder besser ging, um von Vaters Schicksal zu hören. Ja, schwer und schrecklich lastete all das auf seinem Sinn. Aber es gab auch schöne, freudige Gedanken, sie kamen wie von selbst — gleich den Wasserstrahlen, die einem lautlos sprudelnden Quell entspringen. Gedanken an sie, Myrsagül. Er rief sie nicht eigens herbei, sie sprossen wie das Gras aus der Erde, und gerade deshalb waren sie so frisch und beseli gend, mochte er sie nicht missen. Ständig wollte er sie im Sinn haben — Myrsagül. Wenn er aber an sie dachte, wollte er etwas tun, aktiv sein und nichts fürchten, kein Unglück, keine Schwierigkeiten. Und vor allem wünschte er, sie möge erfahren, wie und was er von ihr dachte. Er wußte noch nicht recht, wie man all das nannte, was mit ihm geschah. Verschwommen ahnte er, es war Liebe, von der er aus Erzählungen anderer gehört und in Büchern gele sen hatte. Oft genug hatten ihn Dshigiten, die an die Front gingen, gebeten, einem Mädchen oder einer jungen Frau einen verschlossenen Brief zu überbringen. Voller Stolz er füllte er diese vertraulichen Aufträge. Und nie verlor er dar über auch nur ein Wort. Schwatzt denn ein Mann über der gleichen! Einmal hatte ihn sogar ein entfernter Verwandter ersucht, für ihn einen Brief zu schreiben. Dshamankul war jung, doch nicht sehr schriftkundig, hatte in den Bergen mit den Schafherden nomadisiert und deshalb als Kind nicht die Schule besucht. Und nun wurde er einberufen. Sicher wollte sich der Bursche von dem geliebten Mädchen verabschieden und ihr, wenigstens auf dem Papier, seine Gefühle offenba ren, denn im Ail war es nicht Brauch, sich vor der Hochzeit mit einem Mädchen zu treffen. Also erbat sich der schriftun kundige Dshamankul Beistand vom Sohn seiner Verwand ten. Dshamankul diktierte, und Sultanmurat brachte seine Worte zu Papier. Damals lächelte Sultanmurat insgeheim über
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dieses Unterfangen, darüber, mit welchem Herzklopfen, mit welcher Erregung Dshamankul nach den richtigen Ausdrük ken suchte und wie seine Kehle austrocknete, ehe sie den Brief fertig hatten. Zuvor hatte Sultanmurat sich eine Weile gesträubt, sich gut zureden lassen, ein Messer mit Widder horngriff als Geschenk angenommen, ohne zu ahnen, daß kein Jahr ins Land gehen sollte und ihm selbst widerfahren würde, was den armen Dshamankul derart mitnahm. Dshamankul in seiner Bergeinsamkeit hatte auch die Verse verfaßt, die Sultanmurat nun wieder einfielen und nicht aus dem Sinn wollten: Aksai, Köksai, Saryssai hab ich längst doch nirgends ich eine fand, die dir gleicht...
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Plötzlich kam ihm die Erleuchtung: Ich schreibe ihr auch einen Brief! Da er nun einen Weg gefunden, sich ihr ohne Scheu und Scham aus der Ferne mitzuteilen, erwachte in ihm der Wunsch, unverzüglich etwas zu tun, ein gutes Werk zu vollbringen, damit sich andere genauso freuten wie er und genauso glücklich waren. Vor allem mußte er der Mut ter helfen, damit sie schneller genas und weniger um den Vater bangte, damit sie wieder auf der Viehfarm arbeiten konnte und es zu Hause warm und behaglich würde, damit sie ahnte, daß ihr Sohn jemanden liebte und sich daher alles zum Besseren wandelte. In den zwei, drei Tagen, die Sultanmurat zu Hause war, schaffte er so viel wie sonst in einem ganzen Jahr nicht — al les, was in Haus und Hof zu reparieren war, zu säubern und aufzuräumen. Und andauernd kam er zur Mutter gelaufen: „Wie fühlst du dich? Brauchst du nichts?“ Die Mutter lächelte bitter. „Jetzt fürchte ich nicht mal den Tod. Keine Sorge, wenn ich was will, sag ich's.“ Den Brief aber schrieb er nachts, als alle schon schliefen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, obwohl niemand ihn überraschen konnte. Zuerst grübelte er, womit beginnen. Wie er es auch versuchte, nichts befriedigte ihn. Seine Ge
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danken liefen auseinander wie Kreise von kunterbunt ins Wasser geworfenen Steinen. Gern hätte er ihr alles gesagt, was ihn bewegte, aber sowie er zur Feder griff, fehlten ihm die „Worte. Zuallererst wollte er ihr, Myrsagül, kundtun, wie schön sie sei: das schönste Mädchen im All, nicht nur im Ail, auf der ganzen Welt. Ihr erzählen, daß es für ihn kein grö ßeres Glück gebe, als in der Klasse zu sitzen und unentwegt sie anzublicken, sich an ihrer Schönheit zu freuen. Nun aber habe es sich so gefügt, daß er und seine ganze Luftlande truppe nicht mehr die Schule besuchten und keiner wisse, wann sie wieder zum Unterricht kämen. Nur selten sehe er sie jetzt, und darunter leide er schwer, bitterschwer, seine Sehnsucht nach ihr sei unbeschreiblich. Daß er mitunter vor Trennungsschmerz weinen könnte, wollte er ihr nicht einge stehen — ein Mann bleibt ein Mann. Und doch würgten ihn die Tränen. Er mußte ihr in dem Brief auseinandersetzen, daß er sich in den Pausen nicht grundlos und zufällig an sie herangedrängt hatte wie ein Flegel und sie ihm unnütz aus gewichen sei. Er habe nichts Schlechtes im Sinn gehabt. Auch den Vorfall mit dem Wettrennen hätte er ihr gern er klärt, als der Frechling Anatai eine Schau abziehen wollte, als sei er der Kühnste, der Stärkste und überhaupt der An führer der Luftlandetruppe. Aber da hatte er sich verrechnet — sie sah es ja. Schade nur, daß Anatais Pferd, Oktor, dabei zu Schaden gekommen war. Vor allem konnte Sultanmurat nicht erwarten, sie wissen zu lassen, wie er sie inmitten ihrer Klassenkameradinnen auf dem Hügel erkannte und daß er sie lange schon von Herzen liebte; und wie schön sie gewesen, als sie mit ausgebreiteten Armen den Hang hinabrannte und etwas rief. Sie stürzte ihm entgegen wie Musik, wie ein Wasserfall, wie eine Flamme ... Zweimal mußte er die Lampe auf dem Fensterbrett richten. Der Docht war niedergebrannt, nur gut, daß die Mutter im ändern Zimmer lag und nicht merkte, wie das letzte Petro leum draufging. Vom Brief hatte er trotzdem noch keine
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Zeile zustande gebracht — nicht etwa, weil er nichts zu sa gen wußte, sondern weil er gern alles zugleich gesagt hätte. Längst waren die Lichter erloschen in den Fenstern des Ails, längst hatten die Hunde aufgehört anzuschlagen, längst schlummerte alles in jener finsteren Februarnacht am Fuß des verschneiten Manas-Gebirges. Gähnendes Dunkel hüllte das Haus ein. In der ganzen Welt, so schien es Sultari murat, waren sie allein zurückgeblieben — die Nacht und er mit seinen Gedanken an Myrsagül. Endlich raffte er sich auf. Malte über seinen Brief „Aschyk tyk kat“ — Liebesbrief — und schrieb, daß er für die im Ail lebende M. bestimmt sei, deren Schönheit das Licht der Lampe im Haus überstrahle. Und daß sich auf dem Basar Tausende von Menschen begegneten, doch nur die reichten einander die Hand, die sich begrüßen wollten. Das — so er innerte er sich — hatte bereits in Dshamankuls Brief gestan den. Er versicherte, daß er ihr sein Leben weihen wolle bis zum letzten Atemzug, und so weiter. Am Schluß zitierte er Dshamankuls Verse: Aksai, Köksai, Saryssai hab ich längst doch nirgends ich eine fand, die dir gleicht...
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6 Anderntags, als Adshymurat aus der Schule kam, ging Sul tanmurat mit dem Bruder Feuerung holen. Sie sattelten Ad shymurats Esel, Schwarzmähne, befestigten Schnüre fürs Bündeln, Sicheln und Fausthandschuhe am Sattel, riefen den Hund Aktösch. Freudig kam er angesprungen. Mit dem Recht des Jüngeren bestieg Adshymurat seinen Esel, der Äl tere aber lief nebenher und trieb das Langohr an. Brachte man es nicht in Trab, ließ es sich Zeit. Sie aber mußten weit weg. Sultanmurat kannte einen Fleck, wo es viel Gestrüpp gab. Abseits lag dieser Ort, in der Schlucht Tujuk-Dshar. Im
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Frühling und im Sommer strömte dorthin viel Schmelzoder Regenwasser. Dann dröhnte die Schlucht von wirbelnden Fluten und Donnerschlägen; ging es aber auf den Herbst zu, schoß da mannshohes, hartstengliges Gestrüpp hoch, das sie Kuurai nannten. Selten nur verirrte sich je mand dorthin. Dafür kam man nicht mit leeren Händen zu rück. In Ailnähe war alles Kuuraireisig längst aufgesammelt. Also mußten sie nach Tujuk-Dshar. Sultanmurat hatte der Mut ter versprochen, Feuerung heranzuschaffen, ehe er nach Ak sai ritt. Den ersten Teil des Wegs blieb Sultanmurat in seine Gedan ken versunken und reagierte nicht übermäßig auf das Ge plauder seines redseligen Bruders. Er hatte genügend Stoff zum Grübeln. Bald würden sie nach Aksai ausrücken. Die Tage bis dahin waren gezählt. Vor einer Reise stellt sich im mer heraus, was alles noch zu tun ist. Besonders an Kleinig keiten. Dort, in Aksai, fände sich nicht mal ein Nagel, soll ten sie ihn plötzlich brauchen. Nur gut, daß der Vorsitzende Tynalijew kurz hereingeschaut hatte bei ihnen zu Haus. Er fragte, wie's um die Gesundheit der Mutter stand, was der Kommandeur der Luftlandetruppe machte, und brachte sel ber Neuigkeiten: wie sie draußen wohnen sollten — nämlich in einer Jurte, wie man sich den Transport von Futter und Lebensmitteln dachte; vor allem aber war es gut, daß er ein mal mit der Mutter sprach. Sie war in letzter Zeit sehr reiz bar geworden, die Krankheit zehrte an ihr und das Warten auf Briefe vom Vater. Und so fiel sie über den Vorsitzenden her. „Wohin schickt ihr bloß diese Kinder“, sagte sie. „Sie kommen um dort in der Steppe. Meinen Sohn laß ich nicht weg. Selber lieg ich im Bett. Die ändern Kinder sind noch klein. Vom Mann keine Nachricht. Weder Heu im Haus noch Feuerung.“ Worauf der Vorsitzende entgegnete: „Heu kriegen Sie von uns ein Quentchen, aber mehr beim besten Willen nicht, die Frühjahrsbestellung steht vor der Tür.“ Brennstoff versprach er ihr gar nicht erst. Dafür wurde er
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kalkweiß, als krampfte sich sein Herz zusammen, während er fortfuhr: „Und das mit den Kindern in der Steppe hätten Sie nicht sagen sollen. Ich nehme Ihre Worte nicht mal zur Kenntnis, auch wenn ich Sie im Grunde verstehe. Das ist wie ein Frontauftrag. Und da zählt nicht, ob einer will oder nicht... Der Befehl ist auszuführen. Ohne Widerrede. Stel len Sie sich vor, eure Männer würden vor einem Angriff an fangen, ihrer Hauswirtschaft nachzujammern, dies fehlt uns und das, der Ofen ist kalt und das Vieh nicht gefüttert — das gäbe vielleicht eine Attacke! Na? Wer kann im Krieg so was zulassen? Unser Sturmangriff ist Aksai. Und in diesen Kampf gehen wir mit unsern letzten Kräften — mit Schul kindern. Andere Leute haben wir nicht.“ So sah ihre Unterhaltung aus. Die Mutter konnte einem leid tun, der Vorsitzende Tynalijew ebenso, auch ihn mußte man verstehen, schließlich hatte er sich das alles nicht aus Über mut ausgedacht. Sultanmurat bat er, möglichst schnell wie der an die Arbeit zu gehen. „Wir haben keine Zeit mehr“, sagte er. „Sowie es der Mutter besser geht, zögere keinen Augenblick, marschier los.“ Seit dem Vortag fühlte sich die Mutter etwas wohler und wirtschaftete schon im Haus herum. Er konnte zu den Jun gen in den Pferdestall zurückkehren. Nur Feuerung mußte er zuvor heranschaffen, und wenn er sie aus der Erde stampfte. Er dürfte die Familie nicht ohne Brennstoff lassen fürs Kochen und Heizen. Es war ein Vorfrühlingstag. Warm zur Mittagsstunde. Nicht Winter und nicht Frühjahr. Ein harmonisches Gleichge wicht der Kräfte. Sauber, friedfertig, weiträumig rundum. Hier und da dunkelten bereits große Flecken Erdkrume in mitten der zusammengesackten, durchbrochenen Schnee decke. In der durchsichtig klaren Luft leuchteten weiß die Massive der fernen schneebedeckten Berge. Was für ein riesiges Land, und wieviel Arbeit verlangte es vom Men schen! Sultanmurat blieb stehen. Versuchte, die Aksaier Flur auszu
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machen im Westen, am Steppenhang der Vorberge vom Großen Manas-Kamm. Doch in jener Ferne, im Aksaischen, wie man so sagte, war nichts zu erkennen. Grenzenlosigkeit sah er und Licht. Dorthin würden sie dieser Tage aufbre chen. Wie mochte es da sein? Was harrte ihrer in jener Ge gend? Ein Kälteschauer überrieselte seinen Rücken. Der Tag aber war wunderschön. Adshymurat geriet außer Rand und Band. Schulfrei hatte er, der Bruder war bei ihm, nebenher trottete ergeben der Hund, keiner auf der ganzen Welt hatte ihm was zu sagen, und sie waren unterwegs nach Feuerung für zu Haus. Er hoch auf dem Esel. Hell ließ er seine Stimme erklingen, sang Lieder aus der Vorkriegszeit: „Ber komanda, marschallar,
Kaibai tegis tschygabys.
Min-million dshoo kelse-da,
Baaryn tegis dshagabys.“
„Los, Marschälle, gebt Befehl,
Wir erheben uns wie ein Mann
Und vernichten auf der Stell
Selbst Millionen Feinde dann.“
Ach, du Schafsnase! Du Kindskopf!
Aber Adshymurat ließ es sich nicht verdrießen. Schmet
terte hingebungsvoll:
„Bir-eki, da, bir-eki,
Katarandy tüsdöp bas...“
„Eins und zwei und eins und zwei, Schließt noch fester Reih um Reih ...“ Heiterkeit ergriff auch Sultanmurat. War ja drollig anzu sehn, dieser Draufgänger auf dem Esel. Als sie jedoch an dem vorjährigen Druschplatz vorbeiritten, verstummten sie unwillkürlich. Über dieser abgeschiedenen Stelle inmitten
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eingefallener Strohschober lag schon ein Hauch vom Früh ling. Die Stille der freien Natur. Nach dem letzten Drusch des Vorjahres war alles hier liegengeblieben. Es roch nach feuchtem Stroh, nach Fäulnis und erloschenem Sommer. Im Aryk lag ein zerbrochenes felgenloses Rad. Auch stand da noch eine mit ausgedroschenen Garben gedeckte große Hütte. Dort hatten sich die Drescher von der Hitze erholt. Durch die Sonne hervorgelockt, grünten inmitten des spreu bedeckten Geländes schon Hälmchen aus den verstreuten Körnern. Aktösch flitze herum, beschnupperte alles auf dem Drusch platz und schreckte Wildtauben auf. Unter überhängenden vereisten Strohbündeln kamen sie hervorgeflattert. Unge stört hatten sie hier den ganzen Winter über ihr Futter ge funden. Laut und fröhlich kreisten sie nun über dem Feld, eine dichte, ungestüme Schar. Aktösch kläffte sie gutmütig an, lief ihnen eine Weile naclj und trabte schließlich weiter. Auch Adshymurat schrie auf sie ein und scheuchte sie, hatte sie aber bald vergessen. Anders Sultanmurat. Der beobach tete noch lange den Vogelschwarm, bewunderte ihren ele ganten Flug, den schillernden Perlmuttglanz der Federn in der Sonne; und als er gewahr wurde, wie sich ein Tauben paar von der Schar löste und einträchtig abschwenkte, kam ihm der junge Mathematiklehrer in den Sinn, der zur Armee gegangen war. Ich bin ein grauer Tauber am blauen Himmelszelt, und du, mein kleines Täubchen, fliegst mit mir Seit an Seit. Kein größres Glück ist denkbar in unsrer weiten Welt, als dir so nah zu bleiben, Liebste, für alle Zeit... Beschwipst hatte sich der Lehrer beim Boso-Schankwirt zum Abschied, und als er im Wagen zum Ail hinausfuhr, sang er, solange man ihn noch hörte, daß er ein grauer'Tau ber sei am blauen Himmelszelt und sie, sein kleines Täub
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chen, fliege mit ihm Seit an Seit... Komisch fand Sultan murat damals das Liedchen, und der gestrenge Lehrer er schien ihm plötzlich albern. Jetzt aber, da sein Blick dem da voneilenden Wildtaubenpaar folgte, erstarrte er jäh, und ihn überlief ein Schauer. Wie eine Offenbarung schoß das Lied chen des Mathematiklehrers durch seinen Sinn. Und der Junge begriff, daß er selbst jener Tauber war am blauen Himmel und daß sie mit ihm dahinflog, Seite an Seite, Flü gel an Flügel. Sein Atem stockte, so sehnlich wünschte er, mit ihr zusammen zu sein, mit Myrsagül, und ebenso zu schweben wie diese Tauben, die über dem winterlichen Feld einen weiten, schrägen Kreis zogen. Der Brief an sie fiel ihm ein, und er beschloß, auch die Worte des Liedes von den Tauben aufzunehmen. Jetzt blieb nur noch das Problem der Zustellung. Ihm war klar, im Beisein anderer würde sie den Brief nie annehmen. Mied sie ihn doch sogar in den Pausen. Und jetzt besuchte er nicht ejnmal mehr die Schule. Nach Haus zu ihr durfte er nicht kommen, die Familie war streng. Und selbst wenn er ginge, was sollte er sagen, wie alles er klären? Wozu in aller Welt muß einer schreiben, wenn er im selben Ail lebt? Aber je länger er grübelte, desto sehnlicher wünschte er, sie möge erfahren, wie er an sie dachte. Das war sehr wichtig, überaus wichtig, unendlich wichtig. Den ganzen Weg über kreisten seine Gedanken um sie, um die bevorstehende Fahrt nach Aksai und um den Vater an der Front; dabei merkte er gar nicht, wie sie zur TujukDshar-Schlucht gelangten. Jemand war schon vor ihnen da gewesen und hatte Reisig gesammelt. Aber das verbliebene Kuurai an beiden Seiten des zugefrorenen Baches und inmit ten des Sanddorngestüpps reichte vollauf. Ihre Sorge war nicht, es zu finden, sondern es wegzuschaffen. Ungesäumt gingen sie ans Werk. Der Esel Schwarzmähne durfte der weil Vorjahrsgras rupfen, das unterm Schnee hervorlugte. Aktösch brauchte keine Aufsicht, er streifte von allein durch die Schlucht und erschnupperte Gott weiß was. Die Brüder
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faßten tüchig zu, sichelten die dürren Stengel und stapelten sie zu Haufen, um sie später zu bündeln. Sie arbeiteten schweigend. Bald gerieten sie in Schweiß. Sie entledigten sich ihrer Schafpelze. Schön ist's, Kuurai zu sicheln, wenn es dicht steht und feste Stengel hat. Das such mal in der Nähe vom Ail! Keine Spur! Hier aber kann man es büschelweise an den Wurzeln abhauen, der reinste Spaß! Das Kuurai knistert trocken, sein Samen raschelt in Kapseln und Schoten, über sät den Schnee. Und es riecht herb nach bitterem Bluten staub, als war's Sommer, August. Kaum kriegt man den Buk kel gerade. Das Kuurai hier ist herrlich, gibt eine Mords hitze. Die Mutter und die kleinen Schwestern werden sich freuen. Brennt im Haus der Ofen, steigt sofort die Stim mung ... Eine Menge hatten sie bereits geschafft, wollten schon eine Ruhepause einlegen, als Aktösch wütend anschlug. Sultan murat hob den Kopf, ließ die Sichel fallen und schrie: „Ad shymurat, ein Fuchs!“ Vor ihnen, die Schlucht herunter, über die winters hart ge wordene Schneekruste lief ein vom Hund aufgescheuchter Fuchs, sah sich hin und wieder um und verharrte kurz. Er lief lässig und leicht, als glitte er über den Schnee. Recht kräftig war er, hatte aufrecht stehende Lauscher, einen grau roten Rücken und einen ebenso grauroten langen Schwanz. Aktösch verfolgte ihn eifrig und unüberlegt, aber je wilder er seiner Beute nachsetzte, desto tiefer versank er im Schnee. „Fang ihn! Faß!“ brüllte Adshymurat, und sichelschwingend stürzten sie dem Fuchs entgegen. Als der Fuchs die auf ihn zulaufenden Menschen gewahrte, machte er kehrt, entwischte hinter einen Dornenbusch, und kaum war Aktösch in der alten Spur an ihm vorbeigerast, flüchtete er in die entgegengesetzte Richtung. Natürlich hätte er vor seinen Verfolgern seitlich ausbrechen und sie abschütteln können, zu seinem Unglück aber steckte er gleichsam in einem Sack, hier endete die Schlucht mit ab
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schüssigen, unüberwindlichen Steilwänden. Seine Lage schien hoffnungslos. Ohne diesen kläffenden, verbiesterten Hund hätte er sich längst im Sanddorngestrüpp verborgen — versuch da einer, ihn aus den Dornen herauszuholen! Aber der Hund, obzwar ein dummer Hofköter, war doch ausdau ernd und starrköpfig. Er verstummte keinen Augenblick, und gerade das Hundegebell machte dem Fuchs angst. Die Brüder, hingerissen von dem überraschenden Aben teuer, stürmten ihm Hals über Kopf nach, verschwitzt und aufgeregt, benommen von dem eigenen Geschrei und der wilden Verfolgungsjagd. Dem Fuchs blieb nichts anderes übrig, als sich der Töle auszuliefern oder an den Menschen vorbei aus der Schlucht zu flüchten. Er sah sich um, und statt den Menschen davonzulaufen, kam er frontal auf sie zu. Die Kinder erstarrten vor Verwun derung. Fast gemächlich näherte sich ihnen der Fuchs auf dem Kamm einer Schneewehe im Talgrund, als habe er die Möglichkeiten des seiner Spur folgenden und keuchenden, hin und wieder im Schnee einbrechenden Hundes genau be rechnet. Der arme Aktösch war außer Rand und Band von seinem Gebell und der Hatz. Er merkte schon nicht mehr, wie ihn der Fuchs in tiefen Schneeharsch lockte. Die Brüder reagierten auch nicht viel gescheiter. Beide blie ben stehen, verzaubert von dem anrückenden Wunder, so schön war der Fuchs in seinem Trab — wie ein zielstrebig in die Strömung gelenktes Boot. Er hielt genau auf sie zu, als versuchte er, zwischen ihnen durchzubrechen, um nieman den zu kränken. Dann aber schwenkte er etwas nach links und sauste an Sultanmurat vorbei, nur zwei, drei Schritt von ihm entfernt. In diesem Sekundenbruchteil sah ihn der Junge wie im Traum, unschlüssig, ob er seinen Augen trauen sollte oder nicht. Während der Fuchs mit angespannt vorge strecktem Kopf an Sultanmurat vorbeisprang, musterte er ihn mit seinen glänzenden schwarzen Lichtern. Überrascht vermerkte Sultanmurat diesen weisen Raubtierblick. So be hielt er ihn auch im Gedächtnis: mit hocherhobenem Kopf
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und hochaufgerichteter buschiger Rute, mit weißlichem Un
terbauch, flinken schwarzen Läufen und dem klugen, alles
einschätzenden Blick... Er wußte, der Junge würde ihn
nicht anrühren.
Zur Besinnung kam Sultanmurat, als Adshymurat die Sichel
nach dem Fuchs schleuderte und loskreischte: „Schlag doch!
Schlag doch!“
Sultanmurat war nicht einmal dazu gekommen, als der
Fuchs auch schon im Kuurai untertauchte. Aktösch setzte
ihm nach, und beide verloren sich tief unten in der Schlucht.
Die Brüder rannten erst hinterher und blieben dann stehen.
Der Fuchs war spurlos verschwunden. Nur Aktösch bellte
bald hier, bald da los.
„Ach du“, sagte Adshymurat später. „So'n Fuchs hast du
entwischen lassen. Stehst da und machst keinen Finger
krumm.“
Sultanmurat wußte keine Antwort. Der Bruder hatte recht.
„Wozu brauchst du ihn denn?“ murmelte er.
„Wozu?“ Ohne Erklärung winkte Adshymurat ab.
Dann trugen sie schweigend das abgesichelte Kuuraireisig
zu einem Haufen. Ein wenig mußten sie noch schneiden, um
die Bündel groß genug zu bekommen. Da sagte Adshymurat
gekränkt: „Warum, warum, fragst du! Wir hätten Vater
eine Fuchspelzmütze genäht wie die von Onkel Nurgasy,
aber du stehst da!“
Sultanmurat war betroffen: Daran hatte also der Bruder ge
dacht, während er dem Fuchs nachsetzte. Jetzt bedauerte er,
daß sie diesen schönen Fuchs nicht doch erwischt hatten,
und er stellte sich den Vater vor mit einer flauschigen war
men Ohrenklappenmütze wie der von Onkel Nurgasy. So
eine Kopfbedeckung hätte dem Vater bestimmt gut gestan
den. Seine Gedanken unterbrach Adshymurats Schluchzen.
Der Bruder saß auf einem Stapel Reisig und weinte bitter
lich.
„Was ist denn? Was hast du?“ Sultanmurat trat zu ihm.
„Nichts“, erwiderte der Kleine unter Tränen.
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Sultanmurat forschte nicht weiter, fiel ihm doch plötzlich
ein, wie Adshymurat unlängst geweint hatte, als Onkel Nur
gasy sie besuchte. Natürlich, der Junge sehnte sich nach dem
Vater. Der Fuchs und die Fuchspelzmütze hatten ihn an sei
nen Kummer erinnert.
Sultanmurat wußte nicht, wie er dem kleinen Bruder helfen
konnte. Ihm selbst war schwer ums Herz. Erbarmen und
Mitgefühl mit Adshymurat bewogen ihn, ihm sein tiefstes
Geheimnis anzuvertrauen.
„Hör auf zu weinen, Adshyke“, sagte er und setzte sich ne
ben ihn. „„Weißt du, ich will heiraten, sowie der Vater heim
kommt.“
Adshymurats Tränen versiegten, er machte Kulleraugen.
„Heiraten?“
„Ja. Aber du mußt mir helfen bei einer Sache.“
„Welcher Sache?“ Adshymurat wurde hellwach.
„Aber zu keinem ein Wort!“
„Bestimmt nicht! Ich verrat keinem was!“
Sultanmurat zögerte. Sollte er's sagen oder nicht? Er
schwieg verwirrt.
Adshymurat fing an zu bohren: „Nun erzähl schon, was
für eine Sache, bitte, Sultan! Ehrenwort, ich halt den
Mund.“
Sultanmurat brach der Schweiß aus allen Poren, und am
Bruder geflissentlich vorbeisehend, brabbelte er: „Einem
Mädchen einen Brief übergeben. In der Schule.“
„Und wo ist der Brief? Was für ein Brief?“ Putzmunter be
drängte Adshymurat den Bruder.
„Zeig ich dir später. Ich hab ihn doch nicht hier.“
„Wo dann?“
„Wo er hingehört. Kriegst ihn noch zu sehn.“
„Und welchem Mädchen?“
„Du kennst sie. Ich sag's später.“
„Nein, gleich!“
„Später.“
Adshymurat ließ nicht locker. Er wurde unausstehlich.
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Schwer aufseufzend gab Sultanmurat nach, er stotterte: „Der Brief . - . muß ... ist... für Myrsagül.“ „Welche Myrsagül? Die aus eurer Klasse?“ Ja.“ „Hurra!“ brüllte der kleine Bruder vor Freude oder auch aus Übermut. „Die kenn ich, das ist doch die, die sich einbildet, sie ist eine Schönheit! Mit uns aus den unteren Klassen redet die nicht.“ „Was brüllst du so!“ fauchte der Ältere. „Ist ja gut, ich hör schon auf! Du liebst sie, ja? Ihr seid wie Aitschurek und Semeteh, ja?“ „Schluß jetzt!“ schrie ihn Sultanmurat an. „Was denn! Willst du mir den Mund verbieten?“ stänkerte der Knirps. „Schrei nur, klettre auf die Berge hier und posaun's hinaus in die Welt!“ „Mach ich auch! Du liebst die Myrsagül! Jawohl! Jawohl! Du liebst...“ Die Frechheit des Kleinen brachte den Bruder zur Raserei. Er holte aus und gab ihm eine kräftige Ohrfeige. Adshy murat verzog sofort den Mund und plärrte aus vollem Hals: „Mich haun, wo Vater im Krieg ist? Warte nur! Warte! Du kriegst noch dein Fett.“ Nun mußte Sultanmurat ihn beschwichtigen. So ein Blöd sinn! Als sie sich wieder versöhnt hatten, sagte Adshymurat, immer noch krampfhaft schluchzend und sich die Tränen mit der Faust im Gesicht verschmierend: „Denk nicht, ich verrat dich, nicht mal der Mama sag ich's. Aber sich gleich darum prügeln! Den Brief geb ich ihr schon. Ich wollte es dir gerade versprechen, und du drischst los. In der Pause über geb ich ihn, ruf sie beiseite. Dafür nimmst du mich mit, wenn Vater aus dem Krieg zurückkommt, wenn alle zur Station rennen, um ihn zu begrüßen. Zu zweit setzen wir uns auf Tschabdar und galoppieren vorweg. Du und ich. Tschabdar gehört doch jetzt dir. Du sitzt vorn auf, ich dahinter, und los geht's. Und dann geben wir Tschabdar dem Vater, laufen
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selber nebenher, und uns entgegen kommen Mama und alle ändern ...“ So sprach er — klagend, gekränkt und flehend — und rührte Sultanmurat derart, daß dieser sich selber nur mühsam die Tränen verbiß. Erst war er aufgebraust, nun bereute er, daß er den Jungen geschlagen hatte. „Na schön, Adshyke, heul nicht mehr. Wir sprengen los auf Tschabdar, Hauptsache, der Vater kommt zurück.“ Als sie alles geschnittene Reisig zusammengetragen hatten und es bündelten, erhielten sie drei große Packen. Sultan murat verschnürte sie meisterhaft. Zuerst wirkt so ein Hau fen riesig, wie ein Berg, man fürchtet schon, daß man ihn nicht wegbekommt. Hat man dann aber die Schnüre ge konnt angezogen, verkleinert er sich auf ein Drittel. Sach kundig gepackt, liegt so ein Bündel fest und gleichmäßig am Rücken an, trägt sich auch bequemer. Diesmal hatten die Kinder zwei Bund als Traglast für Schwarzmähne fertigge macht — deshalb hatten sie ihn ja mitgenommen —, das dritte wollte sich Sultanmurat selbst aufbürden. Er mußte es ziemlich weit tragen, aber dafür brachten sie mit einemmal mehr Feuerung nach Hause. Jammerschade war's zudem, solches Kuurai dazulassen. Erstklassiges Reisig hatten sie gesammelt in der Schlucht Tujuk-Dshar. Sie beluden Schwarzmähne derart, daß unter der Last weder Ohren noch Schwanz hervorlugten. Adshymurat führte ihn an der Leine. Sultanmurat ging hinterdrein, tief gebückt un ter seinem Packen, den er auf besondere Weise über Kreuz geschultert hatte — der Strick läuft unter der linken Achsel hervor über die Brust zur rechten Schulter, wird von rechts am Nacken durch eine gleitende Schlinge geführt, deren Ende der Träger in der Hand hält. So kann man beim Gehen ständig die Verschnürung seines Bündels straffziehen. An der Spitze also schritt Adshymurat mit Schwarzmähne am Halfter, ihm folgte Sultanmurat, das Reisig auf dem Rücken, und den Zug beschloß der Köter Aktösch, der be reits todmüde war und deshalb hinterdreintrottete.
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„Wer Reisig trägt, darf nicht gar zu bald rasten. Nach der er sten Ruhepause verkürzen sich die Marschetappen — der zweite Halt erfolgt schon nach der Hälfte der ersten Strecke, der dritte nach der Hälfte der zweiten und so fort. Das wußte Sultanmurat recht gut, deshalb schonte er seine Kräfte, ging gemessen, aber mit großen Schritten. Jetzt be merkte er nichts ringsum, blickte nur auf den Weg vor sei nen Füßen. Will man nicht so rasch ermüden und die näch ste Rast herbeisehnen, denkt man am besten über etwas nach. Also überlegte Sultanmurat, wie er morgen früh wieder seine Arbeit auf dem Pferdehof übernehmen würde und seine Pflichten als Kommandeur der Luftlandetruppe. Die Zeit drängte. Nur wenige Tage blieben noch bis zum Aus rücken nach Aksai. Die Pferde waren, scheint's, aufgefüttert und kuriert, die Pflüge und Ersatzschare fertig, auch das Geschirr, und doch — geht's aufs Feld hinaus, fehlt bestimmt noch was, so ist's nun mal. Sagt der Brigadier Tschekisch. Und schlußfolgert: Das Auge ist ein Angsthase, die Hand ein Held, drum mutig raus aufs Feld, bei der Arbeit zeigt sich schon, was auf einen zukommt, alles kann man nicht voraussehen. Vielleicht hat er recht. Dann grübelte Sultanmurat, wie er der Mutter das Leben er leichtern könnte. Sie ist ja restlos abgerackert. Auf der Vieh farm melkt sie, füttert die Kühe, und zu Hause gibt's auch kein Verschnaufen. Alles macht sie allein, Heizen, Kochen, Wäschewaschen. Die Mädchen sind noch klein. Und was kann man schon von Adshymurat groß verlangen? Ihn aber sind sie los, bald geht's nach Aksai, und wer weiß, wann er von da heimkommt. Wieviel ist da zu pflügen und zu eggen. Dabei haben sie ganze fünf Gespanne. Das übrige Zugvieh und die ändern Pflüge werden auf den alten Feldern einge setzt. Da gibt es noch mehr zu tun, viel mehr. Aber wenig stens in der Nähe vom Ail. Notfalls gehen auch Frauen hin term Pflugsterz. Obwohl das keine Weiberarbeit ist. Aber
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heutzutage graben Frauen auch Aryks, gürteltief, leiten „Wasser auf die Felder, bauen Dämme. Was konnte er tun, um die Mutter zu entlasten? Nichts fiel ihm ein. Doch vor allem beschäftigte ihn, daß er morgen den Brief übergeben lassen würde, es fehlten nur noch die Worte aus dem Lied von den Tauben. Er stellte sich Myrsagül vor, wie sie eine Botschaft las und was sie dabei dachte. Oje, von sei ner Liebe zu schreiben ist wirklich schwer. Immer kommt et was anderes heraus, als man sagen will, kein Papier gibt wie der, wie es im Herzen aussieht. Was wird sie entgegnen? Sie muß ihm antworten. Unbedingt! Wie erführe er sonst, ob sie möchte, daß er sie liebt oder nicht? So steht die Frage. Wenn sie aber seine Liebe verschmäht? Was dann? Längst lag die Schlucht Tujuk-Dshar hinter ihnen. Die un tergehende Sonne schien bereits von schräg vorn, fiel seitlich aufs Gesicht. Das Land bewahrte s.eine winterliche Ruhe und Erhabenheit. So ist es gewöhnlich vor einem Sturm — Ruhe, Frohsinn, Stille warten nur darauf, daß in einem Au genblick alles zusammenprallt, umstürzt, durcheinanderge rät und in Scherben fliegt. Da empfiehlt es sich, um die bö sen Geister zu bannen, „wend es sich zum Glück, zum Frie den!“ zu flüstern. Manchmal hilft's. „Wend es sich zum Glück, zum Frieden!“ sprach Sultanmu rat insgeheim und hielt Ausschau nach einem Ort für die er ste Rast. Als Ruheplatz eignet sich nur ein Fleck mit kleinem Höcker, damit man wieder leicht auf die Beine kommt. Zuerst ver setzt sich der Reisigträger, auf dem Bündel liegend und zu sammen mit ihm, ins Schaukeln, aber nicht zu heftig, sonst rollt ihm die Last über den Kopf, und er selbst schlägt der Länge nach hin wie ein Frosch. Hat er genug Schwung ge holt, muß er vornüber auf die Knie fallen, dann stellt er ein Bein vor, stemmt sich auch mit dem zweiten hoch und rich tet sich schließlich, die Beschwörungsformel „O pirim!“ murmelnd, so weit auf, wie es seine Bürde erlaubt. Sich zum
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Ausruhen niederzulassen ist dagegen ein Kinderspiel — man läßt sich einfach rücklings fallen. Sultanmurat ließ sich auf sein Bündel nieder und kniff die Augen zu. Welche Wohltat, die Schnüre auf der Brust zu lockern! Glückselig lag er da und überschlug, wo die näch ste Rast sein würde. Wann würde er sich nach den Strapazen des Marsches völlig entspannen und allein an sie denken können? Antworte aber recht schnell auf meinen Brief, ja? flüsterte er lautlos, lächelte vor sich hin und lauschte. Erhabene, wunderbare Stille lag über dem noch hellen, all mählich dämmernden abendlichen Land.
7 Immer näher rückte jene Zeit... Erregt und sehnsüchtig wartete er auf Antwort von Myrsa gül, Tag für Tag erlöste ihn daraus spätabends erst ein to desähnlicher Schlaf. Unentwegt dachte er daran, was er auch tat. Er arbeitete, was das Zeug hielt, befehligte seine Luftlandetruppe und lauerte insgeheim doch ständig darauf, daß Adshymurat von der Schule zum Stall gestürmt käme und den ersehnten Bescheid brächte. Sogar Zeichen hatte er mit ihm vereinbart. Falls Myrsagül eine Antwort schickte, sollte Adshymurat in großen Sätzen angelaufen kommen, armeschwenkend, hüpfend und springend, falls nicht, sollte er betont lässig gehen, die Hände in den Taschen. Unentwegt hielt Sultanmurat nach ihm Ausschau. Aber tag täglich kam der kleine Bruder, die Hände tief in den Ta schen. Das verdroß Sultanmurat, schien ihm unbegreiflich. Seine Geduld war versiegt. Immer wieder fragte und forschte er Adshymurat aus, was sie ihm bei ihrer Begeg nung gesagt habe, wie er an sie herangetreten sei, worüber sie sich unterhalten hätten. Kam er nach Haus, schlief der Bruder längst. Und wie gern hätte er noch mehr Einzelhei
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ten aus ihm herausgeholt! Obwohl es nichts Besonderes zu ergründen gab. Nach Adshymurats Auskunft hatte die gar stige Myrsagül in den Pausen überhaupt nicht mit ihm ge sprochen, sondern getan, als wüßte sie nichts und erinnene sich an nichts. Als hätte es den Brief nie gegeben. Sie stand in den Pausen herum, schwatzte mit ihren Freundinnen und übersah ihn, Adshymurat, geflissentlich, solange er nicht selbst zu ihr trat und nach ihrer Hand griff. Sultanmurat begriff nicht, was das bedeutete. Falls Myrsagül mit ihm nichts zu tun haben wollte, warum sagte sie es nicht frei heraus? Warum schwieg sie, ahnte sie nicht, wie qual voll, wie sehnsüchtig er auf Nachricht wartete? Mit diesen Gedanken schlief er ein, und am Morgen, wenn der neue Tag begann, überfielen sie ihn erneut. Dabei blieb keine Zeit mehr zum Warten. Die Schneedecke ringsum schwand zusehends. Bald würde der Frost aus dem Boden weichen und die Erde aufatmen, würden sie auf dem Feld die erste Furche ziehen, dann gab es nur noch die Arbeit. Eines Tages bat Sultanmurat den Bruder: „Sag ihr, ich fahr bald nach Aksai, für lange.“ Die Antwort war einsilbig. „Ich weiß“, ließ sie ihm bestellen, mehr nicht. Er war ratlos. Manches Mal wäre er am liebsten in die Schule gelaufen, um eine Pause abzupassen, sie zu sehen und aus ihrem Mund zu erfahren, wie er sich alles erklären solle. Er tat es nicht. Was ihm früher kinderleicht schien, war jetzt beinahe unvorstellbar. Furcht, Schüchternheit, Scham und Zweifel tobten in ihm wie unbeständiges Wetter in den Bergen. Dabei durfte er die Arbeit nicht vernachlässigen. Und zu tun gab es eine Menge. Kommandeur einer Luftlandetruppe zu sein war gar nicht so einfach. Von früh bis spät rackern, tag aus, tagein, und je weniger Zeit blieb bis zur Abfahrt nach Aksai, desto mehr Sorgen stürmten auf ihn ein. Dennoch, der anbrechende Lenz mehrte nicht nur ihre Pflichten, er verschönte zugleich ihr Leben, erneuerte es, ließ es über
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schäumen. Frühlingshaft wurde es an der Tränke, lustiger, freier. Das Eis war weg — wie verdunstet. Der Fluß, wieder offen, eilte hurtig dahin, sprudelte über die steinige Bank. Jeder Kiesel auf dem Grund des schnell fließenden grünli chen Wassers schimmerte im Spiel von Licht und Schatten. Lärmend liefen die Pferde in den Fluß, daß unter ihren Hu fen ganze Spritzerwolken auf stoben. Die Jungen, hoch zu Roß, mittendrin. Lachen, Aufschreie wegen kalter Duschen, Ansprünge ... In einem solchen Moment an der Tränke erblickte Sultan murat sie. Bemerkte sie an der Furt und erstarrte. Warum wohl? Myrsagül war nicht allein. Vier Mädchen kamen da, auf dem Heimweg von der Schule. Wie leicht hätte er sie übersehen können! Gehen doch viele Leute diesen Weg und springen von Stein zu Stein über den Fluß! Glück muß der Mensch haben! Zufällig sah er hin und zugehe versteinernd Tschabdar — er hatte sie sofort erkannt. Sie überquerte den Fluß und entdeckte ihn gleichfalls, geriet auf den Steinen aus dem Gleichgewicht, balancierte mit den Armen, blieb dann am Ufer kurz stehen und warf einen Blick in seine Richtung. Auch während sie mit den Freundinnen weiter ging, sah sie sich noch ein paarmal nach ihm um. Sooft sie sich nach ihm umwandte, wäre er am liebsten losgeprescht,. ihr — dem verheißenen Glück — nachgejagt, um ihr auf der Stelle offen und ohne Scheu zu sagen, wie sehr er sie liebte. Und daß sein Leben leer sei ohne sie. Aber jedesmal gebrach es ihm an Mut; jedesmal wenn sie zu ihm zurückblickte, war es wie Sterben und Auferstehen. Sie war mit ihren Freundin nen bereits in der Araler Straße verschwunden, da stand er noch immer mit Tschabdar mitten im Fluß, die ändern Tiere hatten sich satt getrunken und befanden sich schon wieder am Ufer. Die Jungen trieben sie für den Heimweg zum Pfer dehof zusammen, er aber rührte sich nicht vom Fleck und gab sich den Anschein, als tränkte er noch immer Tschab dar. Später, bei ruhiger Überlegung, wunderte und ärgerte er
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sich, daß er nicht früher daraufgekommen war, sie hier, auf diesem Weg, abzupassen, wenn sie aus der Schule kam. An der Furt kann man sich immer wie zufällig begegnen. Wieso war ihm das nicht früher eingefallen? Natürlich mußte er selber etwas unternehmen, um ihr gegenüberzutreten und aus ihrem Mund zu erfahren, was sie von seinem Brief hielt. Ihm wurde klar, daß er sie jeden beliebigen Tag hier hätte treffen können, wäre ihre Luftlandetruppe nur ein wenig später mit den Pferden zur Tränke geritten. Mit Verdruß begriff er, daß regelmäßig, sobald sie die Tränke verlassen hatten, fast an der gleichen Stelle Myrsagül auftauchte — lä cherlich, daß er nicht längst dahintergekommen war! Er litt und quälte sich, dabei war alles so einfach. Jetzt beschloß er, sie abzupassen. Schon tags darauf ver weilte er am Fluß, sagte den Jungen, er käme bald nach, wolle Tschabdar nur ordentlich warm reiten, und bat sie, so lange seine Pferde zu versorgen, sie nach dem Tränken an zubinden und zu füttern. Und wieder kam ihm Anatai in die Quere! Er beeilte sich nicht, vom Fluß zurückzureiten, und hielt auch die ändern auf. „Ich weiß, auf wen du wartest“, sagte er herausfordernd. Ein widerlicher Kerl! Und Sultanmurat? Statt Anatai gelassen abzufertigen: „Von mir aus — dann weißt du's eben“, beschimpfte er ihn: „Fa schistischer Spion du!“ „Wer soll ein Spion sein? Ich?“ Ja, du!“ „Dann beweis es! Bin ich ein Spion, soll mich ein Tribunal erschießen! Wenn nicht, polier ich dir die Fresse!“ Schon gingen sie aufeinander los, ließen die Pferde zusam menprallen, attackierten sich mitten im Fluß. Unter Drohru fen und zornigen Blicken versuchten sie, einander vom Pferd zu zerren. Die Jungen am Ufer lachten, hatten einen Mordsspaß, stachelten die beiden an, die aber sahen nur noch rot — zwei richtige Kampfhähne. Das Wasser ringsum
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brodelte, Spritzer stoben, die Pferde stolperten im Wasser, ihre Hufeisen schurrten über die Steine. Da schrie Erkinbek: „He, ihr beiden! Wollt ihr wieder die Pferde zuschanden machen?“ Sie besannen sich sofort, waren sogar froh, daß sich ein trif tiger Grund gefunden hatte, und trennten sich wortlos. Die Stimmung war dennoch verdorben. Als die Jungen die Pferde im Stall hatten, keuchte Sultanmurat immer noch, und um sich zu beruhigen, ritt er im Trab den Fluß entlang, die Augen auf den Weg geheftet. Weit ritt er nicht, er wen dete bald, und da erblickte er sie. Wie tags zuvor kam Myrsagül mit ihren Freundinnen aus der Schule. Sie schlen derten daher, in Geplauder vertieft, was kümmerte es sie schon, daß jemand sich soeben um ein Haar wegen einer von ihnen geschlagen hätte, daß dieser Jemand litt und sich vor Sehnsucht verzehrte nach einer von ihnen. Erst kürzlich hatte die Mutter besorgt den Sohn gefragt: „Was hast du nur? Bist du krank? Siehst ja hundeelend aus!“ Er beruhigte die Mutter, schaute aber in den Spiegel — lange schon hatte er sich dazu keine Zeit genommen —, und tatsächlich, er hatte sich tüchtig verändert. Die Augen glänzten wie bei einem Kranken, das Gesicht war schmaler, der Hals länger geworden, es sah fast so aus, als hätten sich zwei Runzeln, zwei Fältchen zwischen den Brauen eingegraben, und über der Oberlippe sproß dunkler Flaum. Im Gegenlicht sah man's, sonst nicht. Allerhand! Ein ganz anderer war er ge worden, völlig verwandelt. Nicht mal der Vater würde ihn gleich erkennen, wenn er nach Hause käme. Sultanmurat ritt seitlich heran und bemerkte, wie Myrsagül zweimal den Kopf zur Tränke wandte, als suche sie dort je mand. Sowie sie ihn erblickte, stockte sie überrascht, blieb kurz stehen, folgte dann aber rasch ihren Freundinnen. Sie hüpften von Stein zu Stein über den Fluß, als wäre nichts ge wesen, und liefen auseinander zu ihren Häusern. Er aber schlug einen Bogen, als eilte er dienstlich irgendwohin, und kehrte dann über die Gemüsegärten zur Straße zurück, da
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mit sie ihm entgegenkäme. Er erspähte sie am ändern Ende der Straße. Nun ritt er langsam. Je mehr sie sich näherten, desto mehr kriegte er es mit der Angst. Ihm schien, die ganze Straße lauere an Fenstern und Türen voll Neugier, wie sie sich begegneten und was er ihr sagen würde. Sie ging ohne Eile auf ihn zu. Er begriff nicht, was gesche hen war, warum er sich so erregte. Schließlich waren sie in einer Klasse gewesen, nicht das geringste hatte es ihm ausge macht, ihr etwas wegzunehmen und sie sogar zu kränken, nun aber erfüllte ihn Zittern und Zagen. Jetzt hätte er dieses Zusammentreffen am liebsten vermieden, aber es war zu spät. Sie mußte wohl gespürt haben, wie es um ihn stand. Als sie ihn fast erreicht hatte, beschleunigte sie plötzlich den Schritt und bog noch vor ihrem Haus zum Nachbarhof ab. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Und er war ihr unendlich dankbar. Wie aufregend ist es doch, sich so zu begegnen — Auge in Auge. Hinterher reute es ihn, und er warf sich Kleinmut vor. Nachts schlief er schlecht, und als er im Morgengrauen auf wachte, galt sein erster Gedanke ihr, fest nahm er sich vor, heute unbedingt auf sie zuzutreten, sie einfach anzuspre chen und in allem Ernst zu fragen, ob und wann sie auf sei nen Brief zu antworten gedenke. Wenn nicht — keine Feind schaft, in wenigen Tagen müsse er hinaus nach Aksai, dies al les solle zwischen ihnen bleiben. Das wollte er ihr sagen. So fest entschlossen begann er jenen Tag, so entschlossen ar beitete er, so entschlossen begab er sich nach dem Tränken noch einmal zum Fluß. Er ritt auf Tschabdar am Ufer ent lang — stromauf und stromab. Unwillkürlich bemerkte er, daß im Ail sogar auf der Schattenseite der Dächer der Schnee bereits weggetaut war, auf den Hügeln aber, wo es wintersüber Verwehungen gegeben hatte, hielt er sich im mer noch in schrumpfenden dunkelgrauen Flecken. Wie Amöben sahen sie aus, die sie früher mal in Zoologie ge zeichnet hatten. Tags zuvor hatten der Vorsitzende Tynalijew und der Bri
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gadier Tschekisch die Aksaier Luftlandetruppe auf dem Pfer dehof zum Appell antreten lassen. Alle Pflüge waren nume riert und den Pflügern zugeteilt. Sultanmurat hatte den Pflug Nummer eins erhalten. Jeder schirrte seine Pferde an, zeigte, wie er damit zu Rande kam, und spannte dann seine vier Gäule vor den Pflug. Nun stellten sie die fünf Gespanne in eine Reihe. Für einen Unbeteiligten geradezu ein erhe bendes Schauspiel! Wie die Tatschankas aus dem Bürger krieg, nur mit Pflügen statt der Maschinengewehre! Die Pferde bei Kräften, das Geschirr in Ordnung, die Pflüge auf Hochglanz poliert und geschmiert. Jeder Pflüger in stram mer Haltung neben seinem Gespann. Der Vorsitzende Tynalijew schritt die Front der Luftlandetruppe ab, streng, wie der Befehlshaber einer Armee. An einen jeden trat er heran. „Melde deine Bereitschaft!“ „Ich melde. Verfüge über vier beschlagene Pferde, vier an ständige Kummete, vier Hintergeschirre, acht Zugstränge, einen Sattel, eine Peitsche und einen Zweischarpflug mit drei Paar Ersatzscharen!“ Haargenau wie in der Armee. Bloß der Brigadier Tschekisch blickte finster drein. Na ja, der Opa, das war nichts für ihn! Der Appell klappte. Nur in zwei Punkten brachen sie ein. Der Vorsitzende Tynalijew rief alle zu Ergeschs Gespann. „Was stimmt hier nicht am Geschirr?“ fragte er. Sie betrachteten alles, betasteten alles und fanden doch kei nen Fehler. Da zeigte es ihnen der Vorsitzende selber: „Und was ist das? Seht ihr nicht, daß der Riemen beim braunen Mittelpferd verdreht ist? Da! Bei der Arbeit scheuert er dem Pferd die Flanke wund. Der Gaul kann sich nicht beschwe ren. Er zieht, aber am nächsten Tag schwillt die Flanke an, und aus ist's mit dem Anspannen. Wo ein Ersatzpferd her nehmen? Ich hab keins! Also steht der Pflug still, wegen schlafmützigen Umgangs mit dem Geschirr. Sagt, dürfen wir so was zulassen? Haben wir uns dazu den ganzen Win ter über vorbereitet?“
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Betreten schwiegen alle. Scheinbar eine Lappalie, und da bei... „Sultanmurat“, fuhr der Vorsitzende Tynalijew fort, „du als Kommandeur der Luftlandetruppe bist verpflichtet, jedes mal vor Arbeitsbeginn zu überprüfen, wie jeder seine Pferde eingespannt hat. Kapiert?“ „Jawohl, Genösse Vorsitzender!“ Die zweite Blamage der Luftlandetruppe war ernsterer Na tur. Zudem traf sie den Kommandeur höchstpersönlich. Der Vorsitzende Tynalijew fragte den Jungen: „Wo laßt ihr das Geschirr nach der Arbeit, über Nacht?“ Sie überlegten, rätselten herum, antworteten dies und das. Schließlich entschieden sie, auf dem Feld, neben den Pflü gen. „Und was meinst du, Kommandeur?“ „Dasselbe. Auf dem Streifen, wo wir ausspannen, lassen wir das Geschirr, neben den Pflügen. Wir können es doch nicht mit uns herumschleppen!“ „Falsch. Das Geschirr darf keineswegs über Nacht auf dem Feld bleiben. Nicht etwa, weil es jemand nehmen könnte. Wer stiehlt schon was in Aksai? Aber regnen kann es nachts oder schneien. Und das Geschirr wird naß — weißgegerbtes Leder! Außerdem können Fuchs oder Murmeltier das Ge schirr draußen annagen. Ist das klar? Und was folgt daraus? Der Pflug bleibt auf dem Feld. Die ausgespannten, aber noch angeschirrten Pferde führt ihr ins Lager. Ihr kriegt eine Jurte, da werdet ihr wohnen. Eine nur. Eine zweite hab ich nicht. Jeder schafft sein Geschirr da hinein und legt es sorg sam an seinen Schlafplatz. Verstanden? Ihr schlaft mildem Ge schirr am Kopfende! So lautet das Gesetz! Das Geschirr ist eure Waffe!.Und jeder Soldat hütet vor allem seine Waffe!“ So sprach der Vorsitzende Tynalijew an jenem Tag vor der zum Kampfappell angetretenen Aksaier Abteilung. So unterwies sie der Vorsitzende kurz vor ihrem Aufbruch nach Aksai. Dieser Augenblick rückte näher. Bald würde es soweit sein.
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So nahm sie der Vorsitzende Tynalijew ins Gebet. Genau so. Schon möglich, daß sie in drei, vier Tagen, falls das „Wetter nicht umschlug, nach Aksai zogen, dann leb wohl, Myrsagül — bis zum Sommer! Dieser Gedanke bestürzte Sultanmurat. Schwer vorstellbar, unmöglich, sie so lange nicht zu sehen. Und sei's von fern! Darum wollte er ihr heute erklären, es ginge ihm nur um „ja“ oder „nein“, und sagte sie „nein“, war's auch kein Unglück, warten könne er nicht, in Aksai gab's Wichtigeres zu tun. Sultanmurat wandte den Blick nicht vom Weg, während er am Ufer entlangritt. Schon wurde er unruhig. Die Zeit war bereits heran. Aber dort kamen ja die Mädchen! Nur — keine Myrsagül! Ihre Freundinnen gingen da, ohne sie! Zu nächst verzagte Sultanmurat. Was blieb ihm noch, wenn es so stand? Entmutigt ritt er zum Pferdehof. Doch unterwegs befiel ihn Unruhe: War sie am Ende krank geworden, oder war sonst etwas geschehn? Immer quälender wurde die Sorge, unbezwingbar, solange er nicht den Grund für ihr Ausbleiben erfuhr, das spürte er. Also wollte er sich bei den Mädchen erkundigen. Er wendete Tschabdar, und da er blickte er sie. Myrsagül ging allein. Schon näherte sie sich der Furt. Sultanmurat trieb Tschabdar leicht an, damit sie sich an den Steinen im Fluß trafen, und freute sich so — die letzten Minuten hatten ihn doch mächtig mitgenommen —, daß er unwillkürlich stammelte: „Du Liebe!“ Er erreichte sie am Übergang. Sprang vom Pferd, hielt es am Zügel und wartete, daß sie zu ihm ans Ufer kam. Sie kam ihm entgegen und lächelte ihn an. „Stolpere nicht, paß auf!“ rief er, obwohl man eigentlich auf den breiten, mit Rasen belegten Steinen nicht ausrutschen konnte. Wie schön, daß sie hier ging! Wie gut, daß dieser mutwillige Bergfluß weder Brücken noch Stege litt! Er wartete mit ausgestreckter Hand, und sie näherte sich ihm, sah ihn an und lächelte. „Rutsch ja nicht aus!“ rief er noch einmal. Sie erwiderte nichts. Lächelte ihn nur an. Und damit war al
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les gesagt, was er wissen wollte. Ein Narr war er gewesen. Briefe hatte er geschrieben, sich gequält und auf Antwort ge wartet. Er ergriff ihre Hand, die sie ihm hinstreckte. So viele Jahre hatte er mit ihr in einer Klasse gesessen, ohne zu ahnen, wie empfindsam ihre Hand war, wie verständig. Hier bin ich! sagte diese Hand. Ich freue mich ja so! Spürst du nicht, wie froh ich bin? Da sah er ihr ins Gesicht. Und staunte: In ihr erkannte er sich selbst! Wie er hatte auch sie sich in dieser Zeit völlig verändert, war gewachsen, hatte sich gestreckt, und ihre Augen leuchteten seltsam flirrend/wie nach einer Krankheit. Sie war ihm ähnlich geworden, weil auch sie un entwegt gegrübelt und des Nachts keinen Schlaf gefunden hatte, weil auch sie ihn liebte — diese Liebe machte sie ihm verwandt. Noch schöner war sie geworden, noch betörender. Eine einzige Verheißung von Glück. All das erkannte und spürte er in einem Augenblick. „Ich dachte schon, du bist krank“, sagte er mit zitternder Stimme. Myrsagül erwiderte nichts darauf, sie sagte nur: „Da.“ Und zog ein Päckchen heraus. „Das ist für dich.“ Und lief rasch weiter. Wie oft betrachtete er später dieses Seidentüchlein! Immer wieder zog er es aus der Tasche, steckte es weg und betrach tete es erneut. Das heftseitengroße Tuch war an den Kanten bunt bestickt mit Ornamenten, Blüten und Blättern, und in einer Ecke prangten aus roten Fäden inmitten eines Orna ments zwei Großbuchstaben und ein kleiner: S. c. M. — Sultanmurat und Myrsagül. Diese Lateinbuchstaben, die sie in der Schule noch vor der Reform des kirgisischen Alpha bets gelernt hatten, waren ihre Antwort auf seinen wortrei chen Brief und die Verse. Sultanmurat vermochte seine unbändige Freude kaum zu verbergen, als er zum Pferdehof zurückkehrte. Er begriff, dieses Glück konnte er mit niemand teilen, es war ihm vor behalten, ihm allein, und keiner würde je so glücklich sein
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wie er. Dabei drängte es ihn, den Jungen von seiner Begeg nung zu erzählen und ihnen das Tüchlein zu zeigen. Dafür ging ihm die Arbeit gut von der Hand. Die Jungen putzten die Pferde nach dem Tränken, brachten in Eimern Hafer und gaben Heu in die Krippen. Er packte sogleich mit an. Flink fuhr er mit dem Striegel über die straffen, kräftigen Rücken und die Weichen seiner Pferde und lief nach Hafer. Und ständig fühlte er das Tuch in der Brusttasche seines um gearbeiteten Soldatenhemdes. Als brenne dort ein unsicht bares Feuer. Das machte ihn froh und erregt. Froh, weil Myrsagül seine Liebe erwiderte, und erregt, weil es der Be ginn war von etwas Unbekanntem. Dann lief er nach Heu zu dem Luzerneschober hinterm Stall. Hier war es still und sonnig, es roch würzig nach trok kenen Gräsern. Unbedingt wollte er sich noch mal das Tuch ansehen. Er zog es aus der Tasche, versenkte sich in seinen Anblick, und in das Kräuteraroma mengte sich der Duft des Tüchleins — wie nach guter Seife. In der Schule hatte er ein mal bemerkt, wie ihr Haar duftete. Eben daran fühlte er sich jetzt erinnert. So stand er da, allein mit seinem Tuch. Plötz lich entriß es ihm jemand. Er sah sich um — Anatai! „Ha, kriegst schon Tücher von ihr!“ Sultanmurat wurde puterrot. „Gib's her!“ „Immer langsam. Erst seh ich's mir mal an.“ „Und ich sag dir — gib's her!“ „Brüll nicht so, kriegst es schon. So'n Wertobjekt!“ „Her damit — aber sofort!“ „Schrei nur noch lauter! Plärr, man hat dir ein Souvenirtuch geklaut!“ Anatai steckte es ein. Was weiter geschah, wußte Sultanmurat später nicht mehr. Vor ihm war das wütende, schreckverzerrte Gesicht Anatais aufgetaucht, noch einmal hatte er mit aller Kraft zugeschla gen, dann war er von einem heftigen Stoß in den Unterleib beiseite geflogen. Hatte sich im Fallen zusammengekrümmt, war aber sofort wieder auf die Beine gesprungen und hin
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term Schober hervor mit noch größerem Haß und Grimm auf den Schurken Anatai losgegangen. Die ändern Jungen kamen angerannt. Ein Gerangel begann. Zu dritt versuchten sie, die beiden zu trennen. Sie baten, flehten, hängten sich ihnen an die Arme, aber die stürzten jedesmal neu aufeinan der los und lieferten sich einen erbitterten, erbarmungslosen Kampf. „Her damit, her damit!“ verlangte Sultanmurat in einem fort, denn er begriff, daß es nur eins geben konnte: Sterben oder das Tuch zurückerobern. Anatai war stämmig und kräftig, er schlug kaltblütig zu, auf Sultanmurats Seite aber waren Überzeugung und Recht. Und so griff er beden kenlos immer wieder an, obwohl er oft zu Boden gehen mußte. Zuletzt fiel er auf eine Heugabel, die beim Schober lag. Da faßten seine Hände von selber zu. Mit gefällten Ga belzinken sprang er hoch. Die Jungen schrien auf und sto ben nach allen Seiten davon. „Halt!“ „Laß das!“ „Sei vernünftig!“ Anatai stand keuchend vor ihm, Arme und Beine gespreizt, spähte nach einer Fluchtmöglichkeit, aber da gab es kein Entrinnen. Auf der einen Seite der Schober, auf der ändern die Wand vom Pferdestall. In diesen Augenblicken gewann Sultanmurat Kaltblütigkeit. Er wußte, es war das Äußerste, aber einen zweiten Ausweg gab es nicht. „Gib her!“ sagte er zu Anatai. „Sonst geht's dir schlecht!“ „Bitte sehr! Da!“ sprudelte Anatai hervor, bemüht, alles in einen Spaß umzumünzen. „Du bist mir einer. Verstehst kei nen Jux! Dämlack!“ Er warf ihm das Tüchlein zu. Sultanmurat steckte es in seine Brusttasche. Der Schrecken wich. Erleichtert atmeten die Jungen auf und schnatterten los. Erst jetzt bemerkte Sultanmurat, wie sein Kopf dröhnte, Hände und Füße zitterten. Er spuckte Blut von seiner zer schlagenen Lippe, taumelte wie ein Betrunkener hinter den Schober, ließ sich rücklings aufs Heu fallen und ver schnaufte, sammelte sich wieder.
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Gegen Abend hatte er sich mit Anatai noch nicht ausge söhnt, aber die gemeinsame Arbeit zwang sie, einander ent gegenzukommen. Dennoch blieb ein Rest Unbehagen — es war doch beschämend, daß alles so kommen mußte. Immer hin begriff Sultanmurat, er hatte eine schwerwiegende Prü fung bestanden — wäre er kleinmütig geworden, hätte er die Selbstachtung verloren. Und wer die verwirkt, taugt nicht zum Kommandeur einer Luftlandetruppe. Davon überzeugte er sich noch am selben Tag, als der Vor sitzende Tynalijew und der Brigadier Tschekisch abends auf den Pferdehof kamen. Ihre Gäule waren erschöpft vom wei ten Weg und verdreckt. Im Morgengrauen waren Tynalijew und der alte Tschekisch in die Aksaier Gemarkung geritten, und nun kehrten sie zufrieden zurück. In ein paar Tagen konnte es losgehen nach Aksai. Die Steppe begann zu at men. Geeignetes Land gab es zur Genüge. Heute hatten sie die Schläge eingeteilt. Den Standort fürs Feldlager ausge sucht. Blieb nur noch, sich dort niederzulassen und in An griff zu nehmen, worauf sie sich den ganzen Winter über vorbereitet hatten. „Na, Jungs?“ wandte sich Tynalijew an sie. „Wie ist die Stimmung? Was habt ihr für Vorschläge oder Beschwerden? Sagt alles frei heraus! Sonst bereut ihr's, wenn ihr schon weit weg seid vom Ail.“ Die Jungen schwiegen, es gab wohl nichts, was unverzügli che Maßnahmen verlangte, dennoch scheute sich jeder vor dem letzten Wort, sie fürchteten die Verantwortung. „Wir haben ja einen Kommandeur“, meinte Ergesch. „Der weiß alles, soll er antworten.“ Da sagte Sultanmurat, einstweilen gebe es weder Mängel noch Wünsche, alles sei bedacht, das Schuhwerk repariert, die Kleidung geflickt, zudecken würden sie sich mit Pelzen, kurz — sie selbst, die Pflüge und Pferde seien bereit, an die Arbeit zu gehen, sobald der Boden aufgetaut sei.
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Dann erörterten sie verschiedenes andere — wie's um den Koch stand, das Heizmaterial, die Jurte — und kamen zu dem Schluß, in drei, vier Tagen sei es Zeit, aufs Feld zu fah ren, falls das Wetter ihnen keinen Strich durch die Rech nung machte, kein neuer Schnee fiel. Das Wetter blieb gut, wohl war der Himmel bedeckt, aber durch große Wolkenfenster lugte ab und an die Sonne, der Boden dampfte, es roch nach feuchter, abtauender Erde. Und immer näher rückte jene Zeit. Bald mußte es soweit sein. Trotz aller Vorbereitungen — unmittelbar vor dem Aufbruch kam doch noch eine Menge kleiner Unzulänglich keiten ans Tageslicht. So brauchten sie zwei neue Pferde decken; die sie besaßen, waren uralt und zerlöchert, was wollten sie damit in Aksai! Die Vorfrühlingsnächte sind kalt, fast winterlich, besonders zu Beginn der Feldarbeit. Tschekisch sagte, früher, mit dem Hakenpflug, hätten sie die ersten Tage manchmal bis mittags gewartet, bis die Erde nach den Nachtfrösten auftaute. Ein durchfrorenes Pferd aber, das die Nacht unbedeckt gestanden hat, taugt nicht mehr als Zugvieh. Das gab viel Rennerei für Sultanmurat — ins Büro, zum Vor sitzenden, zum Brigadier, aber schließlich gelang es doch, im Ail zwei solide Pferdedecken für den Kolchos zu kaufen. Und bei all diesen Laufereien und Sorgen wartete er täglich sehnsüchtig auf das Pferdetränken. Er wollte Myrsagül wie dersehen vor dem Aufbruch, wollte ihr begegnen wie damals — am Flußübergang. Doch jedesmal zerschlug sich seine Hoffnung. Sultanmurat wurde ungeduldig, ihm blieb keine Zeit zum Warten. Ständig hatte er das Empfinden, zwischen ihnen sei noch etwas ungeklärt, unausgesprochen, ihn quälte ein vages Schuldgefühl, weil ihr letztes Treffen vor dem Ritt nach Aksai vielleicht nicht zustande kam. Er wußte, auch Myrsagül dachte an ihn, das hatte damals schon ihr erster Blick verraten, als er in ihr gleichsam sich selbst erkannte. Und doch fiel ihm nicht einmal im Traum ein, sie könne von sich aus eine Begegnung mit ihm suchen.
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Ihr Mädchenstolz und ihre Ehre würden das nie gestatten. Myrsagül hatte ihr Wort gesprochen, sie hatte ihr gesticktes Tüchlein überreicht, alles Weitere war des Mannes, war seine Sache. Natürlich rechnete er dennoch fest damit, ihr wiederzube gegnen, aber da geschah ein neues Unglück. Am letzten Tag vor ihrem Aufbruch, als sie die Pferde das letztemal zur Tränke führen wollten — danach wollte Sultanmurat auf Myrsagül warten —, kam ihnen am Stalltor der Brigadier Tschekisch entgegen. Er sah finster drein und mürrisch. Sein rötlicher Bart war zerzaust, die Mütze auf die Augen ge rutscht. „Wo wollt ihr hin?“ „Die Pferde tränken.“ „Wartet mal. Du, Anatai, geh nach Hause. Deine Mutter ist krank. Beeil dich! Fix! Sitz ab. Und ihr, Jungs, schnell hin zur Tränke und wieder zurück. Trödelt nicht, ich warte hier auf euch!“ Den ganzen Weg über, während sie die Pferde zum Fluß trieben, beobachtete Sultanmurat die Straße, und auch auf dem Rückweg blickte er sich ständig um. Keine Spur von Myrsagül. Es war noch zu früh, sie konnte noch nicht aus der der Schule kommen. Warum nur hatte der alte Tschekisch so gedrängt? Was war geschehen? Diesmal hätte er Myrsa gül bestimmt abgepaßt! Wie gern hätte er sie dort an der Furt wiedergesehen. Als sie auf den Hof zurückgekehrt waren und die Pferde an ihre Plätze geführt hatten, rief der alte Tschekisch die vier beiseite. „Ich hab mit euch zu reden“, knurrte er. Auf sein Geheiß hockten sie sich hin, die Rücken an der Mauer. Der Vorsitzende Tynalijew sprach gern im Stehen, stand selber und wollte, daß die Leute vor ihm standen; ganz anders der Brigadier Tschekisch — der zog ein gemächliches Gespräch vor, im Sitzen. Na ja, ein alter Mann. Als sie saßen, begann Tschekisch, mit düsterer Miene den
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wirren roten Bart streichend: „Was ich euch sagen will, Dshigiten, ihr seid keine kleinen Kinder mehr. Müßt früh die Bitternis des Lebens kosten. Durchs Feuer gehen, in Ei seskälte schlafen. Das ist nun mal euer Los. Heute hat wie der einer von euch großes Leid erfahren — Anatais Vater, Satarkul, ist an der Front gefallen. Ihr seid schon groß genug — trifft den einen ein Unglück, muß der andere ihm Stütze sein. Ihr werdet die Trauergäste empfangen und verabschie den. Werdet euch um die Pferde kümmern. Gleich wird sich viel Volk vorm Haus des gefallenen Satarkul einfinden, auch ihr müßt hingehen. Plärrt nicht in Anatais Beisein wie kleine Gören; wenn ihr schon weinen müßt, dann weint laut wie Männer, damit jeder sieht, hier klagen aufrichtige Freunde Anatais. Ihr kommt mit mir, deshalb hab ich euch so zur Eile getrieben.“ Im Gänsemarsch folgten sie dem Pfad zu Anatais Haus am Ende der Straße. In ebensolch schweigsamen kleinen Grüppchen strömte das Volk schon von allen Seiten zu Fuß und zu Pferde dort hin. Das Wetter war wechselhaft. Bald brach die Sonne durch, bald bezog sich der Himmel, dann wieder fegte ein frischer Nordwind über den Boden, durchdrang eisig die Unter schenkel. Schweren Herzens, vor Angst und Mitgefühl ver gehend, näherte sich Sultanmurat Anatais Haus. Ihm graute, denn jeden Augenblick mußte im Ail, wie eine Feuerlohe über den Dächern, ein gewaltiges Wehklagen em porschlagen; wieder würde ein Mann, geboren und aufge wachsen unter diesen vertrauten Bergen, nicht aus dem Krieg heimkehren, keiner würde ihn je wiedersehen. Was aber mochte mit dem Vater sein? Noch immer kam kein Brief, kein Lebenszeichen. Warum bloß? Die Mutter war vor Angst schon wie von Sinnen. Nur das nicht, nur nicht das! Das Gehöft lag bereits vor ihnen, als in Anatais Haus ein markerschütternder Schrei aufgellte, der sich vielstimmig
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nach draußen fortpflanzte. Wehklagen überflutete den Hof und die Straße, wo sich das Volk drängte. Hinter Tschekisch her laufend, brachen die Jungen der Luftlandetruppe einmütig in lautes Jammern und Wehkla gen aus, wie Tschekisch es sie gelehrt hatte: „Oh, Vater Sa tarkul, unser edler Vater Satarkul, wo werden wir dich wie dersehen? Wo hast du dein hehres Haupt zur Ruhe gebet tet?“ In diesem Augenblick des gemeinsamen Leids war Anatais Vater Satarkul in der Tat ihr leiblicher Vater und wahrhaftig edel, wird doch die Größe eines jeden Menschen von seinen Nächsten erst erkannt, wenn sie ihn verloren haben. So war es, und so wird es immer sein. „Oh, Vater Satarkul, unser edler Vater Satarkul, wo werden wir dich wiedersehen? Wo hast du dein hehres Haupt zur Ruhe gebettet?“ Mit diesen Worten der Klage folgte die Luftlandetruppe Tschekisch durch die Menge; und als sie den Hof betraten, erblickten sie an der Tür Anatai. Kummer beugt den Men schen. Anatai, der älteste von ihnen, stark und ungebärdig, wirkte jetzt wie ein hilfloser kleiner Junge. Niedergedrückt von dem Unglück, das über ihn hereingebrochen war, schluchzte er zum Steinerweichen, kindlich, an die Wand gepreßt wie ein Fohlen bei Unwetter. Sein Gesicht war trä nenverquollen. Und neben ihm wimmerten laut die jüngeren Brüder und Schwestern. Die Freunde traten zu Anatai. Als er sie erblickte, weinte er noch mehr, als klage er ihnen sein Leid, sein Unglück, das ihn vor aller Augen getroffen hatte. Darin lag die Bitte, ihn zu schützen, ihm beizustehen. Diese Hilflosigkeit Anatais erschütterte Sultanmurat am meisten. Verwirrt traten die Jungen von einem Bein aufs andere, wußten nicht, was sie tun, wie sie dem Kameraden beistehen konnten. Nichts, so schien es, vermochte ihn zu trösten. Keiner ahnte, daß Sul tanmurat soeben aus dem Hof gerannt war, eine MPi in der Hand, und geradewegs, ohne zu verschnaufen, dorthin
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stürmte, wo der Krieg tobte; brüllend vor „Wut und Zorn, weinend und schreiend, mähte er die Faschisten nieder mit Feuerstößen, mit Feuerstößen noch und noch, mit nicht ver stummenden Feuerstößen, Vergeltung zu üben für den ge fallenen Vater seines Freundes Anatai, für die Leiden und Nöte, die sie dem Ail gebracht. Ein Jammer, daß er keine MPi besaß! Da sagte Sultanmurat zu Anatai (schließlich war er der Kommandeur der Luftlandetruppe): „Wein nicht, Anatai. Was soll man da machen? Auch Erkinbeks und Kubatkuls Väter sind gefallen. Weißt du ja. Und von meinem Vater ha ben wir schon ewig keine Nachricht. Ist eben Krieg. Siehst du selber. Sag nur, wie wir helfen können, Anatai. Sag, was wir tun sollen, damit dir leichter wird.“ Doch Anatai, mit krampfhaft zuckenden Schultern an die Wand gepreßt, brachte keinen Ton heraus. Sultanmurats Worte hatten ihn nicht getröstet, im Gegenteil, sie wühlten ihn noch mehr auf, er würgte an Tränen, lief blau an im Ge sicht. Sultanmurat brachte ihm einen Krug Wasser. Von diesem Moment an fühlte er sich verantwortlich für al les, was hier geschah. Er begriff, daß sie handeln, den Men schen helfen mußten. Zu viert schleppten sie Wasser aus dem Fluß, hackten Holz, heizten die von Nachbarn geliehe nen Samoware an, empfingen und verabschiedeten die Gä ste, hielten Alten die Steigbügel. Das Volk aber strömte ohne Ende. Die einen kamen, der Familie des Gefallenen ihr Beileid zu bekunden, die än dern gingen, sobald sie ihrer Pflicht nachgekommen waren. Die Luftlandetruppe blieb den ganzen Tag auf Anatais Hof. Die schwersten Minuten erlebte Sultanmurat, als die Lehre rin Inkalam-apai mit den Mädchen der Klasse sieben kam, unter ihnen Myrsagül. So verzweifelt weinte Inkamal-apai, als sie Anatai umarmte, daß allen Tränen in die Augen tra ten. Was ihr die berühmte Kartenlegerin über ihren Sohn ge sagt hatte, traf nicht ein, und sie glaubte ja auch nicht daran.
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So quälte sie ein beunruhigendes Vorgefühl, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf, um ihr Herz zu erleichtern. Auch die Mädchen rund um die Lehrerin weinten; Myrsagül aber stand mit gesenktem Kopf, schluchzte lautlos, dachte viel leicht an Vater und Bruder und blickte kein einziges Mal zu ihm hin. Selbst' in ihrem Mitgefühl und in ihrem Schmerz war sie die Schönste. Sie tat ihm unendlich leid, und zugleich war er stolz auf sie. Zu gern wäre er zu ihr getreten, hätte sie umarmt und mit ihr geweint, um seinen Kummer mit dem ihren zu ver einen. ... Ach, Myrsagül, ach, Myrsagül-bijke, ich bin ein grauer Tauber am blauen Himmelszelt, und du, mein kleines Täub chen, fliegst mit mir Seit an Seit... Später, als im Hof das Gebet erscholl und alle verstummten, jeder in sich selbst versunken und den Blick auf die vor dem Gesicht geöffneten Hände gerichtet, als lese er im Buch des Lebens, als sie den feierlichen und getragenen Worten lauschten, die, vor einem Jahrtausend aus dem fernen Ara bien hierher gedrungen, von der Ewigkeit der Welt künde ten die Geburt und Tod und diesmal dem im Krieg gefalle nen Vater Anatais, Satarkul, galten — auch da, mitten im Gebet, über die Hände hinwegblickend, betrachtete Sultan murat sie. In Andacht versunken wie alle hier, war die junge Myrsagül wunderschön. Tiefe Versonnenheit lag auf ihrem Gesicht. Doch sah sie ihn nicht an. Sie ging auch, ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, streifte ihn nur mit traurigen Augen, bevor sie aufbrach und nickte ihm zu. Ach, Myrsagül, ach, Myrsagül-bijke... Das Wehklagen im Haus des verstorbenen Satarkul ver ebbte allmählich. Ernüchternde graue Stille trat ein, der Be ginn eines Sichabfindens mit dem Verlust. Weinen ist Pro test, Empörung, Ablehnung; viel schrecklicher ist die Ein sicht in das Unabänderliche des Geschehens. Gerade dann befallen den Menschen düstere Gedanken. Anatai saß an der Wand, den Kopf tief gesenkt. Sultanmurat
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scheute sich, ihn anzusehen. Der freche, starke, böse Anatai war vom Unglück zerschmettert. „Würde er doch lieber schreien, jammern, seine Kleidung zerreißen, toben! Sultanmurat wußte nicht, wie er den Kameraden dieser schmerzlichen ausweglosen Einsamkeit entreißen konnte. Aber helfen mußte er ihm, unter allen Umständen mußte er Anatai bewußt machen, daß er nicht allein war, daß er Men schen zuf Seite hatte, bereit, für ihn in den Tod zu gehen. „Komm, Anatai, ich möchte dich mal unter vier Augen spre chen“, sagte Sultanmurat. Anatai erhob sich, und sie verschwanden hinterm Haus. „Glaub nur nicht...“, begann Sultanmurat mit bebender Stimme, mühsam die Worte wägend, „ich ... Wenn du willst, geb ich dir das Tuch für immer.“ Anatai lächelte traurig. „Aber nein, Sultanmurat! Laß doch“, erwiderte er. „Es ist deins, du mußt es behalten. Ich aber ... Verzeih, daß ich da mals ... entschuldige, vergiß es. So was mach ich nie wieder, Sultan. Ich brauche nichts mehr ... Mein Vater, er war ... Wir haben so gewartet...“ Schluckend und an seinen Trä nen würgend, schluchzte Anatai erneut auf. Nun weinten sie beide, Kinder der Zeit, in der sie lebten und heranwuchsen.
9 Den dritten Tag schon furchten ihre Pflüge das Aksaier Land. Den dritten Tag lenkten die Pflüger unter anfeuernden Zurufen unermüdlich die Pferde. Und längs des Hangs wölbte sich als tiefbrauner Streifen der frischumgebrochene erste Schlag der Aksaier Luftlandetruppe. Ihr Werk war nicht zu übersehen, eine Freude fürs Auge. Nur vom Wetter hing es jetzt ab, wie sie weiter vorankämen. Hier, in diesem unermeßlichen Vorgebirgsland zu Füßen des Großen Manas-Kammes, herrschte seit Urzeiten abso lute Stille. Hier begann die Aksaier Steppe, und sie er
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streckte“ sich bis in die Tschimkenter und Taschkenter Dür regebiete. In dieser unberührten Weite nahmen sich die Ge spanne aus wie winzige Käfer, die über einen Erdbuckel kriechen und dabei eine lange, krümelige Spur hinter sich zurücklassen. Einstweilen arbeiteten sie mit drei Pflügen. Ergesch und Ku batkul hatte man noch für einige Tage im Ail zurückgehal ten — sie sollten beim Eggen der Wintersaat helfen, damit das Erdreich die Feuchtigkeit einsog. Eine notwendige und dringende Arbeit, gewiß, aber auch in Aksai stand die Zeit nicht still: Wollte man rechtzeitig die vorgesehene Flur be stellen, mußte die ganze Luftlandetruppe von früh bis spät hinterm Pflug gehen, sonst schafften sie es nicht, und alle Mühe wäre vergebens. Sultanmurat sorgte sich, wartete von Tag zu Tag auf die Ankunft der fehlenden zwei Gespanne. Versprochen hatten sie es ihm, deswegen zankte er sich so gar mit dem Brigadier Tschekisch. Und nicht zum Spaß. „Bestellen Sie, Aksakal“, sagte er, „der Vorsitzende Tynali jew soll kommen und selber urteilen. Mit drei Pflügen rich ten wir hier nichts aus. Erfüllen nicht unsern Auftrag!“ Und der alte Tschekisch? Der raufte sich das Haar. Und Sultanmurat begriff, wie schwer es ein kluger, sachkundiger Brigadier im Kolchos hat. Alles möchte er sinnvoll, rechtzei tig, der Reihe nach erledigen, aber überall brennt es, als stünde er inmitten einer Feuersbrunst, bis zum Frühjahr soll dies und jenes getan sein, dutzenderlei, aber die Kräfte rei chen nicht, die Leute, die Verpflegung. Stopft man ein Loch, reißt man ein anderes auf. Da saß er nun gestern hier, voll schwerer Gedanken. Der Ail hungerte. Die Vorräte gingen zur Neige, bis zur neuen Ernte war es noch weit. Das Vieh bestand nur noch aus Haut und Knochen, war dem Hunger tod nahe. Schlachten hätte keinen Sinn. Um ein Kilo Fleisch für einen Kranken aufzutreiben, fuhren die Leute auf den Basar. Ein Kilo Fleisch kostete jetzt soviel wie früher ein ganzes geschlachtetes Tier. Aber sie fuhren. Gingen sogar zu Fuß — dreißig, vierzig Kilometer weit. Die Reitpferde
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schleppten kaum noch die Beine. Ritt man hin, lief man Ge fahr, selber draufzugehen. Gerade, daß man das Zugvieh auffüttern konnte zur Aussaat. Die Zugpferde waren gut in stand, aber bestimmt nicht für lange bei dieser Belastung. Vergegenwärtigte man sich all dies, packte einen das Grauen. Das größte Unglück aber war der Krieg an den Fronten, und ein Ende war nicht abzusehen. Ein Trost blieb, eine unauslöschbare Hoffnung — die Deutschen hatten die ersten Niederlagen erlitten — allerorts wurden sie jetzt be drängt, zurückgejagt. Der Morgen heute verhieß freundliches Wetter. Es war zwar bewölkt, doch brach über den Bergen etliche Male die Sonne durch, der Himmel klarte auf und bezog sich wieder. Gegen Mittag kühlte es plötzlich schroff ab, und rundum wurde es finster. Irgendwas braute sich zusammen — Schnee oder Regen. Der Tag wurde fast zur Nacht. Nach dem Mit tagessen nahmen die Pflüger Säcke mit aufs Feld, um vor dem Regen oder Schnee die Köpfe zu schützen. Sie schritten längs des schon begonnenen Schlags, die Schol len nach innen aufwerfend. Voran Sultanmurat, zweihun dert Schritt weiter Anatai, und als letzter, fast eine halbe Werst entfernt, Erkinbek. Heute waren die Pflüger allein auf dem Feld. Drei Pflüger und vor ihnen die gewaltigen Berge. Drei Pflüger und im Rücken die grenzenlose Steppe. Der Vorsitzende Tynalijew hatte nur zu Beginn dabeisein können. Er steckte bis zum Hals in Arbeit, war davonge sprengt und hatte dem Brigadier Tschekisch aufgetragen, hier nach dem Rechten zu sehen. Heute war auch Tsche kisch in den Ail geritten, um die dort gebliebenen Gespanne von Ergesch und Kubatkul anzufordern. So kam es, daß die Pflüger am dritten Tag sich selbst überlassen blieben — allein mit den Pflügen, den Pferden, dem Land, das sie pflügen sollten, damit hier eine Ernte heranreifte und die Menschen satt würden. Der Acker lag entfernt vom Feldlager, von der Jurte, in der sie schliefen, von dem Kleeheuschober, den Hafersäcken,
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von all dem, was sie jetzt Zuhause nannten. Im Lager war nur die alte Köchin zurückgeblieben. Sie murrte und klagte mehr, daß der Brennstoff naß sei, daß dies fehle und jenes, als daß sie beizeiten das Essen kochte. Ein Stück Fladen und eine heiße Suppe — mehr verlangte ja keiner draußen. Sie aber brummte unentwegt und verwünschte das Leben, als machte ihr jemand Vorwürfe. Im Ail kannte sie niemand so recht. Sie war zugewandert. Andere Frauen konnten nicht fön von zu Haus — wegen der Kinder und der Wirtschaft, sie aber war nach Aksai mitgekommen, um sich selber mit durchzufüttern. Sollte sie sich den Bauch vollschlagen, Hauptsache, die Mahlzeiten waren pünktlich fertig. Aber nein, sie rannte unentwegt herum und kriegte doch nichts zustande. Ihr zu helfen, hatten die Jungen keine Zeit. Denn ein Pferd ist kein Auto, kein Traktor, den man einfach ab stellt, und Feierabend! Oder man füllt den Tank, und los geht's. Der Pflüger schindet sich auf dem Feld selber wie ein Gaul, dann füttert er, tränkt, versorgt sein Vierergespann; und erreicht er endlich die Jurte, hält er sich kaum noch auf den Beinen. Im Morgengrauen aber beginnt alles von neuem. Das frühe Aufstehen ist das schlimmste. Die Hauptsorge des Pflügers muß sein, daß die Pflüge in Ordnung sind, daß die Pferde nicht gleich zu Beginn der Feldarbeit vom Fleisch fallen, sondern bei Kräften bleiben bis zum Ausgang des Frühlings. Das ist wichtig. Sehr wich tig. Den ersten Tag, als die Jungen angefangen hatten zu pflügen, blieben die Pferde alle zehn, zwanzig Schritt ste hen, um zu verschnaufen. Sie kamen außer Puste. Die Jun gen mußten die Pflugschare etwas anheben, die Tiefe der Furche verringern. Das aber war nur eine Notlösung, bis sich das Zugvieh wieder kräftig ins Zeug legte. Heute kamen sie mit der Arbeit schon merklich besser voran. Einträchtiger zuckelten die Pferde, sie gewöhnten sich aneinander, jedes Vierergespann ging zusammenge drängt, vorgebeugt, die Hälse vor Anstrengung gereckt — wie die Wolgatreidler auf dem Bild im Lehrbuch. Schritt für
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Schritt, Schritt für Schritt zogen sie den Pflug, und die Schare rissen das Erdreich auf. Das Wetter aber durchkreuzte ihre Hoffnungen. Schon roch es nach Schnee, einzelne weiße Flocken wirbelten durch die Luft. Also lag der Winter noch auf der Lauer, wollte zum Abschied noch einmal zeigen, was er konnte. Das war lästig und kam den Pflügern sehr ungelegen. Sultanmurat hatte den Sack beizeiten über den Kopf ge stülpt, aber das rettete ihn nicht vor dem Schnee. Auf dem Sattelpferd, die Peitsche überm Kopf schwingend, bot er dem Wind ständig die eine oder andere Seite. Der Schnee fiel in dichten, feuchten Flocken und taute schnell. Vor den Augen flimmerte es, alles wirbelte herum. Im Düster des Schneegestöbers verschwanden die Berge, die Welt rückte enger zusammen. Und nur die Anfeuerungsrufe der Pflüger hallten durch das Dunkel wie die Schreie von Vögeln, die ein böses Unwetter überrascht hat. Die Pflüger aber ruhten nicht. Bald tauchten ihre schwarzen Umrisse auf der An höhe auf wie auf einem Wellenkamm, bald verschwanden sie in der Niederung. In die Furche geduckt, gleichsam der Erde entstiegen, schleppten sich die keuchenden Vierergespanne dahin. Der Schnee taute augenblicklich auf ihren heißen, angespannten Rücken, rann ihnen in Bächen die Weichen hinab. Schwer hatten es die Tiere, sehr schwer; die feuchte Erde glitschte unter ihren Hufen weg, das Geschirr war bleischwer vor Nässe, die Pflugschare blieben stecken, versackten in den klebrigen Neulandschollen. Dennoch durften sie die Pflüge nicht anhalten. Sie mußten pflügen. Morgen, wenn die Sonne herauskam, würden die Furchen durchgelüftet, und der Acker wäre fertig. Sie durften keine Zeit verlieren. Hin und wieder blieb der Pflug stecken. Dann kletterte Sul tanmurat aus dem Sattel, strich mit dem Peitschenstiel die Lehmklumpen von den Scharen, schrie Anatai und Erkin bek etwas zu, die indessen aufrückten, und wenn er ihre Antwortrufe vernommen hatte, drängte er sich erneut zwi
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sehen den feuchten Geschirren und den Gäulen zu seinem Sattelpferd durch, stieg auf, und weiter ging das Pflügen. Der Schnee aber fiel und fiel. Die schwarzen Gespanne schwammen wie Boote durch weißen Nebel. Und durch die wirbelnde schneeige Stille, die alle Laute verschluckte, tön ten allein die Zurufe der Pflüger: „Ana-ta-ai!“ „Erkin-be-ek!“ „Sultanmura-at!“ Über Sultanmurats Gesicht rann Wasser, tauender Schnee oder Schweiß, die Hände, um die Zügel gekrampft, schwol len an, färbten sich blau vor Kälte und Nässe, die Beine schmerzten, eingezwängt zwischen die Flanken der Pferde, die sich aneinander rieben — wie gern hätte er sie da wegge nommen, aber wohin? Dennoch, Sultanmurat war. sich be wußt, daß ihm Anatai und Erkinbek folgten, daß sie zu dritt sechs Pflugschare führten, sechs Pflugschare, die das Ak saier Land umbrachen und die er nicht anhalten durfte mit ten am Tag. Wenn nur die Pferde nicht schlappmachten! In Gedanken wandte er sich an sie und ermahnte sie: Haltet aus, ihr Nachfahren von Kambar-ata, legt euch noch einmü tiger ins Geschirr! Nicht jeder Tag wird so hart sein. Heute schneit es, morgen schon nicht mehr. Vorwärts, vorwärts, tschu, tschu! Haltet stand, ihr Nachfahren von Tscholpon ata, da vorn ist schon der Schlag zu Ende, gleich wenden wir, dann geht es zurück. Haltet aus, werdet nicht langsa mer! Ich hab kein Recht, euch auszuspannen. Deshalb ha ben wir euch ja den ganzen Winter über vorbereitet. Uns bleibt keine andere Wahl. Ich jag euch über weichen und harten Boden, ihr habt's schwer, aber anders kommen wir nicht zu Brotgetreide. Der alte Tschekisch sagt, so war es, und so wird es allezeit sein. Das Brot, jedes Stückchen da von ist schweißdurchtränkt, sagt er, nur weiß das nicht je der, und' nicht alle denken daran beim Essen. Wir aber brau chen dringend Brot. Dringend. Deshalb sind wir hier in Ak sai.
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Tschabdar, du mein Bruder, mein Sattelpferd. Den Pflug ziehst du, und mich trägst du. Verzeih, daß ich auch dich peitsche. Es muß sein. Nimm's nicht krumm, Tschabdar. Tschontoru, du gehst links, auf dem Acker, hast es am schwersten, aber du bist der Stärkste nach Tschabdar. Dich, Tschontoru, hat mein Vater Bekbai gelobt. Weißt du noch? Und erinnerst du dich, wie wir zusammen in die Stadt gefah ren sind? Lange schon haben wir keine Nachricht vom Va ter, das ist schlimm, ihr Pferde könnt das nicht begreifen. Wenn Menschen im Krieg lange nicht schreiben, ist es sehr schlimm. Die Mutter sieht aus wie ein Strich, ganz elend ist sie vor Sehnsucht und Sorge. Als Anatais Vater gefallen war, haben am meisten und am schmerzlichsten Inkamal-apai und die Mutter geweint. Sie wissen etwas, etwas Ungutes, aber sie sprechen nicht darüber. Etwas wissen sie ... Tschu, tschu, Tschontoru, ich erlaub dir nicht aufzugeben. Vor wärts, Tschontoru! Halt die Ohren steif! Auch du, Weißschwanz, bist mein Bruder. Du gehst rechts von mir im Gespann. Du mußt tüchtig ziehen, Tschabdar und du, ihr seid die Mittelpferde. Ein schönes Tier bist du, hast einen ungewöhnlich weißen Schwanz. Aber du darfst nicht aufstecken, darfst den Mut nicht verlieren. Ich laß nicht zu, daß du müde wirst. Tschu, tschu, Weißschwanz! Enttäusch mich nicht! Brauner, mein Bruder, du bist ein schlichtes und gutes Pferd. Als ich dich für mein Gespann wählte, habe ich viel Hoff nung auf dich gesetzt. Du bist ein Arbeitstier und hast keine Mucken. Auch dich achte ich sehr. Du gehst am Rand, bist weithin zu sehen. Nach dir urteilt man, wie's um uns steht, Brauner, mein Bruder. Ich werde dich nicht benachteiligen, aber zieh nur, zieh, gib nicht auf. Ich versprech dir: Auch wenn wir fertig sind in Aksai mit Pflügen und Säen und in den Ail zurückkehren, auch dann laß ich dich an der Seite gehen, damit alle dich sehen. Und dann fahren wir an ihrem Haus vorbei, und wenn sie auf die Straße hinausläuft, sieht sie als erstes dich, Brauner, mein Bruder. Ich konnte sie vor
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unserer Abreise nicht mehr treffen. Ihr Tüchlein trag ich bei mir, allezeit. Vor Schnee und Regen geschützt. An sie denke ich immerzu. Ich kann nicht anders. Sonst würde alles öde um mich, und das Leben machte mir keine Freude mehr. Tschu, tschu, ihr Nachfahren von Kambar-ata! Legt euch tüchtig ins Geschirr, vorwärts, vorwärts! Tschu! Tschu! Wie endlos es doch schneit! Und der Schnee ist so feucht. Von Kopf bis Fuß sind wir schon durchnäßt. Dazu der Wind. Hoffentlich war unsere Köchin so gescheit und hat das Heu abgedeckt mit den Pferdedecken. Wenn nicht, wird das Heu naß und verdirbt. Womit sollen wir euch dann füttern, ihr zwölf Pferdemäuler? Heute früh, vor dem Ausrücken, hätte ich es ihr sagen sollen, hab's vergessen, dachte nicht, daß es schneien könnte. Eine seltsame Alte ist das, mit Gieraugen. Lobt unsre Pferde über den grünen Klee, kann sich nicht satt sehen an ihnen. Solche kräftigen Tiere, sagt sie, und so gut genährt. Fett ha ben die zwei Fingerbreit an den Weichen, sagt sie. Früher, meint sie, schlachtete man solche Gäule zu großen Gedenk feiern. Zum Platzen, sagt sie, aß man sich damals satt am Fleisch. Während das Pferdefleisch in Vierzigeimerkesseln kochte, schöpfte man das Fett, den Sardep — schon dieser Name! — mit einer großen Kelle von oben ab und brachte es den Kranken. Gibt man denen, sagt sie, solches Fett zu trin ken, dann kommen sie im Nu wieder auf die Beine. Immer fort geht ihr nur das Fett im Kopf herum, diesem Gierra chen. Wenn sie nur die Pferde nicht verhext! Ach, hol sie der Kuckuck! In der Schule sagen sie, das ist alles Aberglaube — böser Blick und so. Sofcsie ruhig dummes Zeug schwatzen, Hauptsache, das Essen ist zur Zeit fertig. Gestern hat sie uns ja alle verblüfft — kocht Fleisch von einer Bergziege! War ein klapperdürres Vieh, aber immerhin. Jäger von den Ber gen seien vorbeigekommen, sagt sie, zwei Mann, die haben den Lichtschein in der Jurte gesehen, sind eingekehrt und haben dann einen Teil ihrer Beute dagelassen. Dank den Jä gern, die wissen also, was Brauch ist hierzulande. Wollen
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auch ein andermal erfolgreich sein bei der Jagd, da haben sie dem ersten, der ihnen begegnete, überlassen, was ihm von der Beute zukommt. Und natürlich waren wir die ersten auf ihrem Weg, wenn sie von den Bergen kamen, ist ja sonst nie mand weit und breit. Ob einer in die Berge reitet oder in die Steppe — hier trifft er keine Menschenseele. Und es schneit und schneit. Ununterbrochen. Wir sind am Ende mit unserer Kraft. Die Pferde blieben stehen, völlig erschöpft. Sultanmurat kletterte aus dem Sattel, er hatte Mühe, sich auf den ge schwollenen, gequetschten Beinen zu halten, und humpelte taumelnd, wie betrunken, um das Gespann. Der Anblick der schaumbedeckten, zitternden, von den Ohren bis zu den Hufen nassen, abgehetzt keuchenden Pferde traf ihn so schmerzlich, war so unerträglich, daß er vor Mitgefühl auf stöhnte. Der Schnee aber fiel und taute, fiel und taute auf den damp fenden Pferderücken. Sultanmurat warf den durchnäßten, schweren Sack vom Kopf, lockerte mit ungefügen steifen Fingern die Geschirriemen, dann aber verlor er die Fassung, weinte laut auf, umfaßte Tschabdars Hals und flüsterte un ter Tränen: „Verzeiht mir, verzeiht!“ Auf den Lippen spürte er den heißen, leicht bitteren Geschmack von Pferde schweiß. „He, Sultanmurat! Was hast du?“ drang die Stimme von Anatai zu ihm, der sich in der Furche näherte. „Spann aus!“ schrie Sultanmurat.
10 Der nächste Morgen war klar und wolkenlos. Keine Spur mehr vom Unwetter des Vortags. Nur Feuchtigkeit und be lebende Kühle, nur ein rötlicher Anflug über dem Land und eine neue Schneedecke auf den Bergen. Die Frühsonne rollte hinterm Gebirge hervor und präsentierte sich der Welt
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im sieghaften, den halben Himmel überflutenden Morgen rot des Frühlingssonnenaufgangs. Das grenzenlose Aksaier Land mit seinen Schluchten, Ebenen, Hügeln und Niede rungen bot eine ungewöhnliche Fernsicht. Dafür schienen die Berge des Großen Manas-Kammes, an deren Fluß die Jungen geboren und aufgewachsen waren, nachtsüber näher gerückt — unwahrscheinlich, aber sie hatten in der Nacht einen Schritt auf Aksai zu getan, damit die Pflüger morgens beim Erwachen ihre Erhabenheit bewundern, ihre Schön heit und Macht. Nah und fern, zum Greifen nah und doch unzugänglich leuchteten bei Sonnenaufgang die Bergketten. Ja, großartig war der Morgen an jenem Tag in Aksai. Mit dem Aufbruch aufs Feld ließen sie sich Zeit, erst sollte der Wind den Boden trockenfegen. Indes striegelten sie die Pferde und brachten das Geschirr wieder in Ordnung, schütteten den naß gewordenen Hafer um. Die Sonne wärmte rasch. Da begaben sie sich zu den Pflügen. Jeder mit seinem Gespann. Die Pflüge waren in den Furchen vom Vortag versackt. Gemeinsam zerrten sie jeden Pflug heraus, reinigten die Schare, schmierten die Räder. Dann spannten sie die Pferde an mit der festen Absicht, den Schlag bis zum Abend zu bezwingen, um morgen einen neuen in Angriff zu nehmen. Die Arbeit ging gut voran. Die über Nacht ausgeruhten und am Morgen gutgefütterten Pferde legten sich wacker ins Zeug. Sie hatten sich jetzt of fensichtlich an die Arbeit gewöhnt, ans saure Joch des Pflü gens. Und daß die Jungen gestern trotz des Schneetreibens gepflügt hatten, erwies sich als richtig — der Boden war vom Wind getrocknet, die im Schnee umgebrochenen Erdschol len waren unter den Sonnenstrahlen in lockere Krume zer fallen. Weder „klobig“ noch „klumpig“. Sie hatten gute Ar beit geleistet. Der Tag war erfolgreich gewesen. Mitunter klappt eben al les, ist das Leben faßbar, schön und einfach. Nicht verge bens hatten sie sich den ganzen Winter über vorbereitet, ab
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geplagt, hatten sie dieser Aufgabe zuliebe die Schule ver säumt; die Aksaier Truppe brachte etwas zuwege, die Pflüge ruhten nicht, heute noch mußten Ergesch und Kubatkul ein treffen. Dann hatten sie fünf Pflüge, zehn Pflugschare. Eine Macht! Eine richtige Luftlandetruppe! Später würden sie säen, die Felder eggen — wenn das keine Ernte gab! Som mergetreide ist durchaus nicht schlecht. Der Brigadier Tschekisch sagt, es bringe weniger Ertrag, gebe aber ein äu ßerst schmackhaftes Brot. Die Arbeit wird sich bezahlt ma chen. Es wird regnen. Wie sollte der Regen auch ausbleiben, wenn sie so schufteten, damit dieses Brot keinem im Hals steckenblieb, sondern reifte für glückliche Tage. So zogen sie über den Schlag. Vorneweg Sultanmurat, etwa zweihundert Schritt hinter ihm Anatai und fast eine halbe Werst weiter Erkinbek. Die Sonne wärmte immer mehr. Vor ihren Augen überzo gen sich die Steppenhügel mit einem Anflug von Grün. Es war wie im Märchen: Ritt man ans eine Ende, grünte es rechts, ritt man ans andere, grünte es links. Feucht atmete die Erde, mit frischem Atem. Die Pflüge aber gingen über das Land, und zurück blieben die Kämme neuer Furchen. Eine Lerche flatterte auf. Sie sang, schlug ganz in der Nähe, ihr antwortete hier eine zweite, dort eine dritte. Sultanmurat lächelte. Sie singen zu ihrem Vergnügen, haben weder ein Dach überm Kopf noch ein Blatt oder einen Zweig, leben in der kahlen Steppe, so gut sie es verstehen. Und sind es zu frieden. Freuen sich am Frühling und an der Sonne. Wo aber waren sie gestern, wie haben sie das Unwetter überstanden? Na, das ist vorüber. Jetzt läßt sich der Frühling nicht mehr unterkriegen. Und Arbeit gibt?s genug, das hier ist erst der Anfang. Na und? Wenn heute Ergesch und Kubatkul eintreffen, legt sich die ganze Luftlandetruppe so ins Zeug, daß die Arbeit nur so flutscht. Während Sultanmurat sein Gespann antrieb, bemerkte er einen Reiter seitab. Er ritt in einiger Entfernung vom Acker,
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blickte bisweilen zu ihnen hinüber, hielt aber auf die Berge zu. Über der Schulter trug er ein Gewehr. Er hatte eine zot tige Wintermütze auf. Und saß auf einem stämmigen, gut zugerittenen Fuchs. Auch die ändern Jungen hatten ihn be merkt. Sie schrien: „He, Jäger, komm doch mal her!“ Der Mann reagierte nicht. Er ritt an ihnen vorüber, ohne sich zu nähern, blickte immer wieder in ihre Richtung. Sul tanmurat freute sich über sein Erscheinen, er brachte sein Pferd zum Stehen, richtete sich in den Steigbügeln auf und schrie ihm zu: „He, Jäger, danke für die Schiralga, den Beu teanteil! Danke, sag ich! Schönen Dank für die Schiralga!“ Der aber blieb stumm. Er schien weder zu hören noch zu be greifen, wovon die Rede war. Bald verschwand er hinter den Hügeln. Er hatte wohl keine Zeit, eilte wer weiß wohin. Etwa eine halbe Stunde darauf erschien ein zweiter Jäger. Auch er hielt auf die Berge zu und trug ein Gewehr. Aber er ritt an der anderen Seite des Schlags entlang. Blickte eben falls in ihre Richtung, ritt schweigend vorbei, kam nicht nä her, entbot ihnen keinen Gruß. Dabei ist es Brauch, vom Weg abzubiegen und den Pflügern Gesundheit und eine gute Ernte zu wünschen. Wie sagte doch der alte Tschekisch — sucht heute noch Menschen vom alten Schlag! Er wird wohl recht haben, der weise alte Tschekisch. Dann aber gab es eine richtige Sensation. Als erster hörte Anatai die Trompetenrufe. Einfach toll! Er schrie aus Leibeskräften: „Kraniche! Da fliegen Kraniche!“ Sultanmurat blickte nach oben — am klarblauen, schwindel erregend hohen Himmelszelt flogen, laut schmetternd und sich im kreisenden Flug immer wieder neu formierend, Kra niche. Eine große Schar. Und ganz hoch. Aber der Himmel war noch höher. Ein unermeßlicher Himmel und der Kra nichzug — eine lebendige kleine Insel inmitten dieser Un endlichkeit. Sultanmurat reckte den Kopf, spähte hinauf, lö ste sich plötzlich aus der Erstarrung und frohlockte hingeris sen: „Hurra! Kraniche!“ Alle sahen deutlich, daß es Kraniche waren, doch sie
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jauchzten einander zu, als verkündeten sie eine große uner wartete Neuigkeit: „Kraniche! Kraniche! Kraniche!“ Sultanmurat fiel ein, daß ein früher Kranichzug ein gutes Vorzeichen ist. „Frühe Kraniche bringen Glück!“ schrie er Anatai zu, sich im Sattel umwendend. „Bestimmt wird die Ernte gut!“ „Was? Was?“ Anatai hatte nicht verstanden. „Die Ernte wird gut, die Ernte!“ Anatai drehte sich nach Erkinbek um und schrie ihm zu: „Die Ernte, die Ernte wird gut!“ Und der erwiderte: „Ja, ich höre! Unsre Ernte wird gut!“ Die Kraniche aber flogen, ins Himmelsblau getaucht, flogen gemächlich, auf sanft gleitenden Schwingen große Kreise beschreibend, bald einzeln, bald vielstimmig schmetternd, bis wieder völlige Ruhe eintrat. Die durchsichtige Atmo sphäre jenes Tages ließ alles deutlich hervortreten — ihre ge reckten, wie gedrechselten Hälse, die spitzen Schnäbel, die leicht an den Leib gewinkelten Beine der einen und die fest eingezogenen der anderen. Mitunter blitzten im Flug die weißen Kanten der Schwungfedern. Da gewahrten die Pflü ger, während sie die Kraniche beobachten, daß der Schwärm langsam niederging. Immer näher kamen die Vö gel der Erde, wie von einer Strömung wurden sie zu den fer nen Hügeln getragen. Noch nie hatte Sultanmurat Kraniche aus der Nähe gesehen. Stets waren sie hoch über ihm dahin gezogen wie eine Vision, wie ein Traum. „Da, sie gehen runter, sie gehen runter!“ rief er. Alle drei sprangen aus dem Sattel, ließen Pflüge und Gespanne und stürzten dorthin, wo die Kranichschar sich niederließ. Schnell rannten sie. Was die Beine hergaben. Sie wollten die Kraniche vor sich sehen, in voller Größe. Das war 'ne Wucht! Ach, wie schön lief es sich! Die Erde legte sich Sultanmurat zu Füßen, kam ihm entgegen. Und mit ihr das verschneite Gebirge; auch die in der Luft kreisende Kranichschar, die er nicht aus den Augen ließ, schwebte auf ihn zu. Der Atem
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stockte ihm vor Kraftanstrengung und vor Freude; er rannte und dachte hoffnungsfroh: Wenn die Kraniche vielleicht eine Feder verlieren, finde ich sie und bewahre sie auf, ich schenke sie Myrsagül und erzähle ihr alles. Wie gern möchte ich die Kraniche einholen und sie sehen! So lief er, und in seinem Herzen stieg Zärtlichkeit auf für Myrsagül. Hätte er's gekonnt, er wäre auf der Stelle mit der Kranichfeder zu ihr gelaufen. Geradewegs zu ihr mit der Kranichfeder. Sie rannten, aber eine starre, grausame Pupille hatte sie im Visier, nahm ungerührt den einen aufs Korn, dann den zweiten, den dritten. Haßerfüllt beobachtete diese Pupille über Kimme und Korn, wie die Jungen auf die Kraniche zu liefen. Das Land links und rechts des Visiers war so groß, sie aber über dem schmalen Grat des schwankenden Korns winzig klein. Der Himmel über dem Visier, das sie eingefan gen hatte, war so groß, sie aber über der Spitze des Korns so zwergenhaft. Ein Schnipser — und weg waren sie. All das konnte in einer Sekunde verschwinden, aufhören, im Visier zu hampeln, es genügte ein leichter Druck auf den Abzug. „Ach, hab ich die genau vor der Kanone, drei Schuß, und sie purzeln wie am Bindfaden, ohne einen Mucks“, sagte mit angehaltenem Atem der hinter dem Visier. „Laß den Quatsch! Mit Pulver spaßt man nicht, ziel nicht unnütz“, erwiderte der andere, der in einer wolfshöhlenarti gen Grube am Fuß eines Hügels, inmitten von Kuurai-Ge strüpp, die Pferde am Zaum hielt. Der Mann mit dem Gewehr im Anschlag schwieg sich aus, bewegte mahlend die Kiefer und peilte weiter durchs Visier. „Steck den Kopf nicht raus, sag ich dir“, befahl ihm der mit den Pferden. „Die rennen sich müde und ziehen wieder ab. Was schert's dich?“ Er fügte sich nicht. Lag da, die stopplige Wange am Kolben, und hatte sein Vergnügen daran, durch die Kimme den Wettlauf dieser Dummköpfe zu verfolgen, die außer Rand und Band geraten waren durch die Kranichschreie. Wut
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packte ihn. Da laufen sie und lachen! Laufen und lachen! Diese Freude! Drei Schuß, und sie hätten ausgezappelt. Laufen und lachen! Warum in aller Welt? Laufen und la chen ...
11 Die Pflüger rannten ausdauernd, doch als sie auf dem Hügel angelangt waren, sahen sie, daß die Kraniche schon wieder Höhe gewannen. Also hatten sie es sich anders überlegt. Vielleicht war es ihnen auch nur so vorgekommen, daß sich die Kraniche hier niederlassen wollten? Atemlos blieben die Jungen stehen. Abgehetzt. Nur Sultan murat lief noch ein Stück, dann konnte er nicht mehr, ver folgte den Kranichzug mit Tränen in den Augen. Schließlich kehrten sie um und zogen erneut ihre Pflüge durchs Aksaier Land. Der Tag war schön, wunderschön. Nachmittags traf ein großer Kolchoskarren ein mit Heu für die Pferde. Auch Kartoffeln, Fleisch, Mehl und Brennholz brachte ihnen der Kutscher, und vom Brigadier Tschekisch richtete er aus, der käme morgen selbst, zusammen mit den Gespannen von Ergesch und Kubatkul. Sag Sultanmurat und den Jungen, hatte Tschekisch ihm aufgetragen, sie soll ten sich nicht sorgen, morgen pflügt die Luftlandetruppe in' voller Besetzung. Ganz bestimmt. Und ein paar Tage darauf reitet auch der Vorsitzende Tynalijew zu ihnen nach Aksai. Diese Nachrichten brachte der Kutscher des Kolchoskar rens. Alle aßen zusammen Mittag, und als die Jungen auf standen, um wieder auf den Acker zu reiten, sagte die Kö chin zu Sultanmurat, sie wolle in den Ail mitfahren und käme morgen mit dem Brigadier Tschekisch zurück, sie müsse da dringend etwas erledigen und auch Seife zum Wä schewaschen besorgen. Zu hungern brauchten sie nicht, sie habe ihnen Fladen gebacken für den ganzen Tag und Suppe gekocht, nur aufzuwärmen. Sultanmurat war es gar nicht recht, daß sie wegfuhr, aber was blieb ihm übrig, als es hin
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zunehmen. Sollte er vielleicht mit einem Erwachsenen strei ten oder ihn festhalten? Die Jungen begaben sich zu den Pflügen. Den Rest des Ta ges arbeiteten sie weiter auf dem Schlag. Gegen Abend hat ten sie es geschafft. Jetzt konnten sie den Blick schweifen lassen — ein großes Feld war umgebrochen. Das erste Feld. Viel lag noch vor ihnen, aber hier war der Auftakt. Ohne Anfang keine Fort setzung. Es dämmerte bereits, als sie die letzte Furche gezogen hat ten. Sie pflügten die Bodenglatzen an den Wendungen, und nach kurzem Schwanken schafften sie die Pflüge noch auf den benachbarten Schlag; so konnten sie am nächsten Mor gen schon einen neuen Streifen in Angriff nehmen. Bis sie die Pferde ausgespannt, bis sie das Feldlager erreicht hatten, war es finster geworden. Öde wirkte das Lager. Längst war die Köchin weg. Egal, morgen käme sie ja wie der. Sie hatten sich tagsüber tüchtig abgerackert. Ohne Hast lok kerten sie die Kummete, zogen sie von den Pferdehälsen und räumten das Geschirr in die Jurte, jeder an seine Schlaf statt. Die Pferde, alle zwölf, führten sie gleichfalls an ihren Platz rurid um den räderlosen alten Karren, den sie statt einer Raufe ins Lager mitgenommen hatten. Ein jedes an seine Futterstelle, ans Heu in dem Gefährt. Am nächsten Morgen wollten sie früher als sonst aufstehen, um den Gäu len den eingetrockneten Schweiß herauszustriegeln. Sie wu schen sich im Dunkeln, entfachten ein Feuer in der Jurte und aßen bei seinem Schein trockene Fladen; die Suppe aufzu wärmen, fehlte schon die Kraft. Dann legten sie sich zur Ruhe. Sultanmurat schlief später ein als die anderen. Zuvor war er noch einmal aus der Jutte ge treten, um nach den Pferden zu sehen. Die Tiere standen ru hig, die Mäuler im Heu, sie rupften eifrig den Klee und schnaubten vor Erschöpfung. Still standen sie da, Kopf an Kopf, sechs Pferde zu jeder Seite des Karrens.
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Das Wetter versprach Beständigkeit. Es ging auf Neumond zu, nur eine schmale Sichel hing am Himmel. Sultanmurat schlenderte umher, ihm war mit einemmal un heimlich zumute. Diese Einsamkeit ringsum, diese Todes stille und stockfinstere, endlose Nacht. Unter der Bürde sei ner Arbeit und seiner Sorgen hatte er bislang noch gar nicht bemerkt, wie gruslig es war, nachts in der trostlosen Steppe. Eilig kehrte er in die Jurte zurück. Auf sein Lager gestreckt, fand er lange keinen Schlaf. Er lag mit offenen Augen im Dunkel. Gedanken, Erinnerungen gingen ihm durch den Sinn. Unversehens beschlich in Trübsal, Heimweh. Wie kam die Mutter ohne ihn zurecht? Vom Vater hatte sie also im mer noch keine Nachricht. Wäre ein Brief eingetroffen, hätte ihn der Kutscher heute mitgebracht und obendrein eine Sujüntschü gefordert, ein Geschenk für die freudige Botschaft. Jeden Wunsch hätte Sultanmurat ihm erfüllt! Nur — was konnte er hier schon geben? Nichts. Zum Herbst hätte er ihm einen halben Sack Weizen versprochen, da wird Brotgetreide zugeteilt im Kolchos. Bei diesem Gedanken seufzte er bekümmert auf, er erinnerte sich, wie ihm Ad shymurat das Versprechen abverlangt hatte, mit ihm zur Bahnstation zu reiten, wenn der Vater von der Front heim kehrte — er als der Ältere vorn auf Tschabdar und der Kleine hinter ihm. Tschabdar wollten sie gleich nach der Be grüßung dem Vater überlassen und selber nebenherlaufen, der Mutter entgegen und all den Verwandten und Freun den. Ja, bei solcher Glücksnachricht würde er Tschabdar mitten im Pflügen ausspannen und losgaloppieren. Und spä ter alles hundertfach nacharbeiten. Sultanmurat begann leise zu weinen, ahnte er doch, daß ihm solches Glück vielleicht nie widerfahren würde. Dann aber lächelte er im Finstern vor sich hin — ihm fiel ein, wie er Myrsagül begegnet war am Flußübergang. Als sei es eben erst gewesen, entsann er sich der Berührung ihrer Hand und wie die Hand gesagt hatte: Ich freu mich! Ich freue mich ja so! Spürst du nicht, wie froh ich bin! Und wie
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er damals in ihr sich selbst erkannt hatte — aufgewühlt und glücklich darüber, daß sie und er eins waren. Sicher schlief Myrsagül bereits. Oder dachte sie in ebendiesem Augenblick an ihn? Denn sie — das war doch er! Sultanmurat ertastete ihr Tüchlein in der Tasche seines Hemdes und streichelte es. So verlor er sich in seine Träumereien und schlief ein. Ganz fest. Dann überfiel ihn ein Alptraum. Jemand würgte ihn, verdrehte ihm die Hände. Er erwachte, und ehe er vor Schreck auffahren konnte, verschloß ihm eine schwere, bru tale, nach Machorka stinkende Hand den Mund. „Halt's Maul, wenn dir dein Leben lieb ist!“ krächzte ihm ein schnaufender Mann mit heiserer Raucherstimme ins Ohr. Er drückte ihm die Kiefer auseinander, daß der Schä del fast platzte vom Zugriff seiner eisernen Pranken, stopfte ihm einen Lappen in den Mund, und ehe Sultanmurat be griffen hatte, was eigentlich vor sich ging, waren seine Arme schon fest hinter dem Rücken verschnürt. Eiskalter Schweiß brach ihm aus, sein Körper begann unwillkürlich zu zittern. Was waren das für Leute, diese beiden in der Jurte, warum hatten sie ihn gefesselt? „Na, den hätten wir!“ flüsterte der eine dem zweiten zu. „Jetzt die andern.“ Sie rumorten im Finstern, dort, wo Anatai schlief. Der schrie auf, zappelte, aber bald war auch er gebunden. Erkinbek hieben sie wohl über den Kopf, er stöhnte und ver stummte alsbald. Sultanmurat begriff noch immer nicht, was geschah. Der Knebel quoll in seinem Mund, er erstickte fast daran, seine Arme starben ab von den Schnüren. Stockfinster war es in der Jurte. Wer waren diese Leute, weshalb waren sie hier, warum verfuhren sie so mit ihnen, was wollten sie, vielleicht sie töten? Wofür? Sultanmurat versuchte sich zu befreien, warf sich herum, aber da drückte ihn der eine mit dem Knie zu Boden, klopfte ihm mit einem eisenharten Finger an den Kopf und sagte leise, aber nachdrücklich: „Laß die Flausen, verstanden? Du
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scheinst hier der Chef zu sein. Wir haben euch gefesselt, also kann euch keiner was, ihr habt keine Schuld. Klar?“ Er un terstrich seine Worte, indem er Sultanmurat mit dem Finger nagel auf den Schädel hämmerte. „Seid vernünftig, dann geht alles gut. Wenn die euch hier finden, erzählt ihr, wie es war. Wer will euch was vorwerfen! Aber falls ihr keine Ruhe gebt, falls nur einer aufmuckt, jetzt, vor der Zeit, dann murks ich euch ab wie junge Hunde. Aus ist's dann! Also keinen Piep! Verrecken werdet ihr schon nicht.“ Sie verließen die Jurte schniefend, fluchend, hustend und spuckend. Sultanmurat hörte, wie sie sich bei den Pferden zu schaffen machten, die Tiere trappelten erschrocken, schnaubten, bäumten sich. Und eine Weile später ertönte das Stampfen vieler Hufe. Peitschenknallen, erneutes Flu chen. Das Hufgetrappel entfernte sich und verstummte bald völlig. Erst jetzt begriff Sultanmurat das ganze Ausmaß des Vorge fallenen. Pferdediebe hatten ihre Zugtiere entführt. Ver zweiflung und Wut zerrissen ihm schier das Herz. Er wälzte sich hin und her, versuchte, die Hände freizubekommen, schaffte es aber nicht. Halb erstickend drehte er den Kopf, suchte mit der Zunge den Knebel hinauszustoßen. Sein Mund brannte, blutete, schwoll an. Schließlich gelang es ihm doch, den verdammten Knebel auszuspucken. Endlich konnte er wieder frei atmen. Ihm schwindelte von der fri schen Luft, die in seine Lungen strömte. „Jungs, ich bin's!“ gab er sich zu erkennen und hob den Kopf. „Hört mal zu!“ Keiner antwortete. Anatai und Erkinbek regten sich nur an ihren Plätzen. „Jungs“, sagte er da, „keine Angst. Gleich. Gleich laß ich mir was einfallen. Ihr braucht bloß auf mich zu hören. Anatai, rühr dich mal, wo bist du?“ Anatai lallte etwas, rutschte herum, richtete sich halb auf. „Warte, Anatai! Bleib da!“ Sultanmurat rollte zu ihm hin über einen Haufen Kleidung und Pferdegeschirr. „Und jetzt
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leg dich mit dem Rücken zu mir, daß ich an deine Arme komme. Hörst du, mit dem Rücken zu mir, mit den Armen.“ Nun lagen sie Rücken an Rücken, und Sultanmurat erta stete die Schnüre an den Armen des Freundes. Er dirigierte Anatai, wie er sich legen und drehen sollte, und suchte dabei nach den Knoten. Er redete Anatai gut zu, sich noch zu ge dulden, den Schmerz in den Armen zu ertragen, geriet end lich an eine Schlinge, ruckte daran, und die Schnur lockerte sich. Da zerrte Anatai seine Hände selbst heraus.
12 Die Pferdediebe ließen sich Zeit. Ritten bald im Trab, bald in leichtem Galopp, im Dunkeln kommt man nicht so schnell voran, und weshalb auch Hals über Kopf davonjagen? Sie hatten saubere Arbeit geleistet. Und vor wem sollten sie flie hen? Vor dem jungen Gemüse? Hunden Werst im Umkreis war keine Menschenseele. Die Bengel aber lagen gefesselt, heulten Rotz und Wasser. Sollten sie ihrem Schicksal dan ken, daß alles noch so glimpflich abgegangen war. Vier Pferde hatten sie mitgenommen. Ein Paar für jeden. Mehr hätten sie nicht bewältigt. Geb's Gott, daß sie mit de nen klarkamen, daß dieser Brocken ihnen nicht im Hals steckenblieb. Ein weiter Weg lag vor ihnen, durch men schenleere Gegenden. Drei Tage etwa war's bis zum Stadt rand von Taschkent. Dann waren sie noch nicht am Ziel. Wenn sie das nur schafften! Alles Weitere waren kleine Fi sche. Auf dem Alaier Basar in Taschkent würde man ihnen das Fleisch aus den Händen reißen — kiloweise, gramm weise, die Brüder dort verstanden sich aufs Handeln. Die schlugen es schon los. Das sollte ihre Sorge sein. Wohin nur mit den Moneten für vier prächtige Pferde, deren Fleisch heutzutage mit Gold aufgewogen wurde? Das war die Frage — im Ernst! Wohin mit soviel Geld? Einen guten Griff hat ten sie gemacht! Jetzt nur schnell! Und Schluß! Dann jag
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dem Wind nach auf freiem Feld! Verduften, sowie sie das Geld in den Fingfern haben, ist 'ne Kleinigkeit. Wird auch Zeit, höchste Zeit, sich hier aus dem Staub zu machen, ehe man sie erwischt. Haben sie einen erst am Wickel, ist Sense! Dann kommt man vors Tribunal. Pustekuchen! Hatten sie den Zaster, begann das wahre Leben! Wieviel Städte und Ländereien gab's noch hinter Taschkent! Nicht zu Unrecht beruft man sich aufs Schicksal. Sie waren schon restlos fertig. Lauf einer mal bei Kälte und Frost in den Bergen rum, ehe er einen Argali vor die Flinte kriegt! Und sogar wenn's glückt, das Fleisch ist widerwärtig um diese Zeit, zäh, nichts als Sehnen. Zum Zähneausbeißen. Auch die Patronen gingen schon zu Ende. Lange hätten sie nicht mehr durchgehalten. Und auf einmal — wer hätte das gedacht — waren diese Grünschnäbel da mit ihren Pflügen — wie vom Himmel gefallen. Gott selber hatte sie gesandt. Es gibt ihn, es gibt ihn hoch droben — jedem hat er das Seine zugemessen. Sie hatten auf gut Glück zugegriffen, nicht lange erst ge wählt, ein Gaul war wie der andere, zwei Fingerbreit Fett auf den Rippen, solche Tiere gibt's auf der ganzen Welt nicht wieder heutzutage. Wird das ein Kochfleisch — alle zehn Finger leckt man sich nach so was. Es gibt ihn, es gibt einen Gott im Himmel, bestimmt! Hat uns Beute beschert und Erfolg! Sie überstürzten nichts. Schonten die Pferde, damit sie nicht an Gewicht verloren. Solche Gäule sahen die Taschkenter Fleischer nicht mal im Traum. Erst den Zaster her, ihr Knik ker, dann die Ware. Schnaubend trabten die vier Prachtpferde an langen, eigens dafür gefertigten Zügeln — wüßten sie nur, wohin man sie trieb! Auch das Fortschaffen war gut überlegt. Zusammen konnten sie die Gäule nicht wegtreiben, sie wären auseinan dergelaufen. So hielt der eine die Zügel in der Hand, ritt selbst in der Mitte und führte die Pferde zu beiden Seiten an langen Leinen, zwei rechts und zwei links. Sein Kumpel auf
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einem Fuchs ritt hinterdrein und trieb sie mit der Peitsche an, duldete keinen Aufenthalt. Nur so ging es. Ohne Hast, aber auch ohne Muße. Umsicht und einen klaren Kopf erfordert so ein Unterfangen.
13 Tschabdar stand an seinem Platz. Auf ihn schwang sich Sul tanmurat, sowie er aus der Jurte gerannt war, und während er auf ihm wendete, schrie er noch : „Anatai, reit in den Ail! Flink! Reit los! Alarmiere die Leute! Ich halt sie auf! Ich hol sie ein! Nur schnell! Und du, Erkinbek, bleib hier und rühr dich nicht vom Fleck! Kapiert? Reite los, Anatai, fix!“ Er selbst aber sprengte auf Tschabdar dorthin, wohin — dem Hufgetrappel nach — die Pferdediebe verschwunden waren. Vorwärts, Tschabdar, mein Bruder Tschabdar, vorwärts, hol sie ein, hol sie bitte ein! Ich stürz schon nicht, mir passiert nichts. Hab keine Angst um mich! Vorwärts, Tschabdar! Wenn wir umkommen, dann gemeinsam, aber galoppier schneller, schneller, ich weiß ja, es ist dunkel, zum Fürchten, auch dir ist's unheimlich. Und doch müssen wir vorwärts. Schneller, schneller. Wo sind sie? Was blinkt da vor uns? Irgend etwas dort bewegt sich. Daß sie uns nur nicht entwi schen! Vorwärts, Tschabdar, vorwärts! Fall nicht, Tschab dar, bitte fall nicht!
14 „Verfolger!“ schrie der eine Pferdedieb, erschreckt von dem sich nähernden Hufgetrappel. Sie trieben die Tiere an, fielen in Galopp, in wilde Jagd. Jetzt durften sie nicht säumen. Jetzt ging's ums Ganze. Jetzt hieß es türmen. Fliehen, Hals über Kopf. Der Vordere zog die Zügel straffer in seiner Faust, legte sich bäuchlings auf den Sattel. Sein Kumpel aber peitschte von hinten auf die Pferde ein, trieb sie mit Macht an, drängte.
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Vom Hufschlag erdröhnte die Erde. Der Wind pfiff in den Ohren. Ihnen entgegen flog ungestüm die Nacht als ein grenzenloser, tosender schwarzer Strom. „Halt! Ihr entkommt mir nicht! Haaalt!“ schrie Sultanmu rat, der sich ihrem Haufen immer mehr näherte. Aber nur Wortfetzen erreichten sie in dem wilden Lärm des Galopps. Tschabdar! Großes Pferd Tschabdar! Vaters Pferd Tschab dar! Wie es lief! Als begriffe es, daß es in diesem schreckli chen Galopp mitten in der Nacht die Männer einfach einho len mußte, daß es kein Recht hatte zu stürzen. Bald hatte Sultanmurat die Pferdediebe erreicht, er galop pierte auf gleicher Höhe, mit den Pferden an der Leine konnten sie ihn nicht so leicht abschütteln. „Gebt unsre Pferde zurück! Gebt sie her! Wir brauchen sie zum Pflügen!“ schrie Sultanmurat. Der zweite Mann wendete in voller Karriere und stürzte sich wie ein Raubtier auf den Jungen, wollte ihn aus dem Sattel werfen. Tschabdar aber wich geschickt aus. Bravo, Tschabdar, bravo! Den Verfolger hinter sich lassend, überholte Sultanmurat den ändern, der die Pferde führte, drängte von der Seite ge gen die Tiere, um sie zum Wenden zu zwingen. „Zurück! Zurück!“ schrie er. „Hau ab! Ich bring dich um!“ brüllte der und lenkte wieder in seine Richtung, aber Sultanmurat stürmte erneut nach vorn, rückte ihm wieder auf den Leib und hinderte ihn, gera deaus zu reiten. So ging es weiter. Der zweite scheuchte Sultanmurat weg, der aber sprengte bald von der einen, bald von der ändern Seite heran, kam ihnen in die Quere und störte sie beim Forttreiben. Dann fiel ein Schuß. Sultanmurat hörte ihn nicht, er sah nur ein grelles Aufblitzen und konnte gerade noch staunen über die erleuchtete riesige Weite von Aksai und den schwarzen Haufen Gäule und Menschen, der wild an ihm verbeistob. Er selbst stürzte vom Pferd, flog zur Seite, überschlug sich
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mehrmals, stieß sich schmerzhaft am Steingeröll, und wäh rend er schnell wieder auf die Beine sprang, war ihm schon klar, daß das Pferd unter ihm nicht einfach gestolpert war. Das Tier lag sich windend auf der Seite, schlug mit dem Kopf gegen die Erde, röchelte und zappelte wie wild mit den Beinen, als bemühte es sich noch immer krampfhaft zu lau fen. Verzweifelt schreiend stürzte Sultanmurat den Pferdedie ben nach — wie von Sinnen vor Schmerz und Wut. „Halt! Ihr entkommt mir nicht! Ich hol euch ein! Ihr habt Tschabdar getötet! Vaters Pferd Tschabdar!“ Er rannte, außer sich, voll Ingrimm und Empörung, lief und lief hinter ihnen her, als könnte er sie einholen, anhalten und zur Umkehr zwingen. Die Diebsbrut entschwand mit ihrer Beute, der Hufschlag entfernte sich im Finstern, immer wei ter, immer weiter weg, er aber konnte und wollte sich nicht damit abfinden — suchte sie einzuholen. Ihm schien, daß er wie eine brennende Fackel lief, sein ganzer Körper war wund, vor allem Gesicht und Hände, die er sich blutig ge schürft. Je schneller und länger er lief, desto peinigender brannten Gesicht und Hände. Dann fiel er, rollte über die Erde, schluchzend und nach Luft japsend. Der Schmerz war so unerträglich, daß er nicht wußte, wohin mit Gesicht und Händen. Er krümmte sich, brüllte, stöhnte voller Haß gegen diese Nacht und diesen grellen, immer wieder aufflackernden Feuerschein in seinen Augen. Er hörte, wie das Getrappel der fortgetriebenen Tiere sich allmählich in der Ferne verlor, verhallte. Immer schwächer und dumpfer erbebte die Erde, sie verschluckte das entflie hende Hufgestampf, und bald herrschte Stille rundum. Da erhob er sich und trottete zurück, laut und bitter wei nend. Er war untröstlich, und wer hätte ihn auch trösten können in dem menschenleeren nächtlichen Aksai. Schluch zend entsann er sich, daß er Adshymurat versprochen hatte, ihn mitzunehmen, wenn der Vater heimkehrte aus dem
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Krieg. Nein, vorbei war der Traum, er würde zur Begrü ßung des Vaters gemeinsam mit dem Bruder auf Tschabdar zur Bahnstation galoppieren. Und unmöglich konnten sie jetzt in Aksai soviel Getreide aussäen, wie nötig war. Jenen stolzen und freudigen Tag würde es nicht mehr geben, an dem sie mit ihren Gespannen von den Aksaier Äckern zu rückkehrten, hinter sich die Pflüge mit den von der Feldar beit spiegelblank gescheuerten Scharen. Und sie würde auch nicht fröhlich auf die Straße treten, um seine Rückkehr in den Ail zu erleben, stolz zu sein auf ihn und ihn zu bewun dern. Seine Hoffnungen waren zerstört. Wie sollte er da nicht weinen.
15 Witternd und mit dem Wind immer deutlicher den Geruch frischen Blutes spürend, näherte sich der Wolf in kurzen Sätzen dem Ort, von dem dieser starke, ihn derart erregende Reiz ausging. Er war ein kräftiges, wenn auch ziemlich ab gemagertes altes Tier mit einem harten Widerrist, so borstig wie bei einem Wildschwein. Den Winter hatte er sich recht und schlecht durchgeschlagen, solange noch die Steppenan tilopen Aksai durchstreiften, doch jetzt waren sie in die Gro ßen Sandgebiete gezogen, um sich dort fortzupflanzen. Die jungen Wolfsrudel streunten in den Bergen herum, rissen geschwächte Argali auf deren Pfaden, er aber durchlebte die härteste Zeit. Lauerte auf das Auftauchen der Murmeltiere nach ihrem Winterschlaf. Von Tag zu Tag wartete er, von Stunde zu Stunde. Jeden Augenblick mußten die Murmel tiere herauskommen, an die Sonne. Das wäre seine Rettung gewesen. Wie lange schon lagen sie in ihren tiefen, unzu gänglichen Erdhöhlen! Und welch hungriges, jämmerliches Dasein fristete der Wolf in Aksai! Der Wolf lief auf den verlockenden Blutgeruch zu, voll dumpfer, wilder Wut auf jeden, der vor ihm Besitz ergreifen könnte von der Beute. Eine große Mahlzeit war das — Pfer
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defleisch. Der Geruch von Schweiß und Blut machte ihn be nommen, ihm schwindelte. Nur drei- oder viermal in seinem ganzen Leben war es ihm gelungen, zusammen mit der Meute Pferde zu reißen. Während der Wolf lief, troff Speichel aus seiner halboffenen Schnauze, und er spürte, wie sich sein leerer Magen zusam menkrampfte. Wie ein springender weißlicher Schatten lief der Wolf im grauen Dämmer der entweichenden Nacht. Wie gern er sich sofort auf die Beute gestürzt hätte, der In stinkt verbot es ihm — er überwand sich und zog in einiger Entfernung einen Kreis. Da erstarrte er jäh — neben dem toten Pferd kniete ein Mensch. Richtete sich erschrocken auf. „He!“ rief Sultanmurat und stampfte mit dem Fuß. Der Wolf prallte zurück und schlich unwillig, mit eingezo genem Schwanz, beiseite. Er mußte weg. Hier war ein Mensch. Der Mensch hinderte ihn, Besitz zu ergreifen von der Beute. Als der Wolf aber ein Stück weggelaufen war, blieb er unvermittelt stehen und wandte sich dumpf knur rend dem Menschen zu. Böse graue Lichter flammten in den Wolfsaugen. Mit gesenktem Kopf, zähnefletschend schlich er langsam näher. Sultanmurat stoppte ihn mit einem drohenden Schrei, es ge lang ihm, das Zaumzeug von Tschabdars Kopf zu ziehen. Rasch drehte er den Zaum zu einer Knute zusammen, wik kelte auch noch die Zügel darum, nur das schwere eiserne Gebiß ließ er herausragen. Das war jetzt seine Waffe. Der Wolf kam noch näher, duckte sich, das Fell gesträubt, und erstarrte vor dem Sprung wie eine gespannte Feder. Das erste Mal in seinem Leben spürte Sultanmurat deutlich sein Herz — es war wie ein Klumpen, der sich in seiner Brust zusammenkrampfte. Sultanmurat stand bereit: leicht vorgeneigt, die Zaumknute zum Schlag erhoben ... Baitik, Mai 1975
Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft Für Wladimir Sangi
In einer finsteren, dunstgeschwängerten Nacht tobte ent lang der ganzen Ochotskischen Seeküste, an der ganzen Front von Land und Meer, der uralte, unbändige Kampf der zwei Elemente — das Festland trotzte dem Druck des Mee res, das Meer berannte unermüdlich das Land. Tosend, ver zweifelt stürmte das Meer im Dunkel immer wieder gegen die Klippen an und zerschellte. Qualvoll stöhnte die stein harte Erde, während sie die Angriffe des Meeres abwehrte. So liegen sie im Widerstreit seit dem Schöpfungsakt — seit der Tag zum Tag und die Nacht zur Nacht geworden; und so wird es fernerhin sein, alle Tage und alle Nächte, solange es Erde und Wasser gibt, im ewigen Zeitenlauf. Alle Tage und alle Nächte ... Eine neue Nacht verrann. Die Nacht vor der Ausfahrt aufs Meer. In jener Nacht fand er keinen Schlaf. Zum erstenmal im Leben schlief er nicht, zum erstenmal litt er an Schlaflo sigkeit. Mit allen Fibern sehnte er den Tag herbei, damit er hinaus konnte aufs Meer. Auf ein Robbenfell gelagert, spürte er, wie der Boden unter ihm vom Meeresanprall kaum merk lich bebte, wie die Wogen in der Bucht donnerten, sich ab hetzten. Er lag wach, lauschte hinaus in die Nacht... Früher war alles ganz anders gewesen. Keiner konnte sich jetzt vorstellen, keiner wußte oder ahnte auch nur, daß die Welt ganz anders aussehen könnte, hätte es vor Urzeiten nicht die Ente Luwr gegeben. Dann stünden nicht Festland gegen Wasser und Wasser gegen Land. Denn am Anfang, am Urbeginn, gab es keine Erde in der Natur, nicht einmal
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ein Staubkörnchen. Ringsum breitete sich Wasser, nichts als Wasser. Das Wasser war aus sich selbst entstanden, in sei nem ewigen Wandelkreis — in schwarzen Abgründen, in un ermeßlicher Tiefe. Wogen um Wogen rollten da, rollten auseinander, nach allen Richtungen der damals richtungslo sen Welt: aus dem Nichts ins Nichts. Die Ente Luwr aber, ganz recht, die gewöhnliche breit schnäblige Wildente, die bis zum heutigen Tag in Schwär men zu unseren Häupten dahinfliegt, irrte dazumal mutter seelenallein über der Welt herum und konnte nirgends ihr Ei ablegen. Weit und breit war nur Wasser, nicht einmal Schilf rohr fand sich, um ein Nest zu flechten. Die Ente Luwr schrie in der Luft, sie fürchtete, das Ei nicht länger halten zu können, es über dem bodenlosen Abgrund zu verlieren. Wohin sie sich auch wandte, wo immer sie suchte — überall plätscherten unter ihren Flügeln Wellen, er streckte sich das große Wasser — Wasser ohne Grenzen, ohne Anfang und ohne Ende. Völlig entkräftet erkannte sie schließlich: Auf der weiten Welt gab es keinen Ort, wo sie ein Nest bauen konnte. Da ließ sich die Ente Luwr auf dem Wasser nieder, zupfte sich Federn aus der Brust und flocht ein Nest. Und aus die sem schwimmenden Nest wuchs die Erde. Nach und nach weitete sich die Erde, wurde sie von mancherlei Geschöpfen bevölkert. Der Mensch aber tat sich unter allen hervor — er lernte, auf Schiern über den Schnee zu laufen, im Boot auf dem Wasser zu fahren. Er begann Wild zu erlegen und Fi sche zu fangen, nährte sich so und mehrte sein Geschlecht. Hätte die Ente Luwr nur geahnt, wie hart das Dasein wer den würde mit der Entstehung des festen Landes mitten im Reich des Wassers! Denn seit es die Erde gibt, kann sich das Meer nicht beruhigen; das Meer kämpft gegen das Land und das Land gegen das Meer. Der Mensch aber hat es zu weilen bitterschwer zwischen Land und See, zwischen See und Land. Das Meer liebt ihn nicht, denn er ist mehr der Erde verhaftet...
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Der Morgen zog herauf. Wieder ging eine Nacht zu Ende, wieder wurde ein Tag geboren. Wie sich das Maul des Ren tieres in der graublauen Wolke seines Atems abzeichnet, so trat aus dem sich lichtenden, hellgrauen Dämmer allmählich der tosende Zusammenprall von Meer und Ufer. Das Meer atmete. Entlang der ganzen brodelnden Frontlinie von Land und Meer ballte sich der kalte Dampf von Sprühregen, und am Ufer, so weit es sich auch erstreckte, hallte das Dröhnen der Brandung. Die Wellen verfolgten hartnäckig ihr Ziel: Woge auf Woge stürmte machtvoll das Festland, rannte über die kalte und harte Kruste ausgewaschenen Sandes, über braune, glit schige Steinhaufen — hinauf, soweit Kraft und Schwung reichten; doch Woge auf Woge verebbte, verlor den Atem auf dem äußersten Rand des Brandungsgürtels, ließ flüchti gen Schaum zurück und den fauligen Geruch aufgerührter Wasserpflanzen. Von Zeit zu Zeit schleuderte die Brandung Eisschollen scherben ans Ufer — aus unbekannten Fernen vom früh lingsbewegten Ozean. Auf dem Sand verwandelten sich die verirrten Schollen alsbald in närrisch hilflose Trümmer eines gefrorenen Meeres. Doch schon eilten neue Wogen herbei und trugen sie wieder zurück in ihr Element. Der Nebel schwand. Lichter und lichter wurde der Morgen. Allmählich traten die Umrisse der Erde hervor, klarte das Meer auf. Vom Nachtwind aufgestört, schäumten am Ufer noch die weißgekrönten auflaufenden Wogenreihen, aber in der sich verlierenden Ferne besänftigte sich das Meer bereits, blei grau glänzten dort Kräuselwellen. Und es zerrissen die Wolken überm Meer, während sie nä herzogen zu den Hügeln am Ufer. Hier, nahe der Bucht des Scheckigen Hundes, ragte auf der hügligen Halbinsel, die sich schräg ins Meer schnitt, die markanteste Erhebung: ein Fels, der von fern wirklich an einen riesigen, am Meer geschäftig entlanglaufenden schek
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kigen Hund erinnerte. An den Seiten von allerlei zottigem Gesträuch überwuchert und bis in den Hochsommer mit einem großen Schlappohr aus Schnee auf dem Kopf und noch einem großen weißen Fleck in der Weichengegend, einer schattigen Mulde, war der „Scheckige Hund“ von weit her zu sehen, vom Meer und vom Wald. Von hier aus, von der Bucht des Scheckigen Hundes, legte gegen Morgen, als die Sonne zwei Pappeln hoch stand, ein Niwchen-Kajak ins Meer ab. Im Boot saßen drei Jäger und ein Junge von elf oder zwölf Jahren. Die beiden jüngeren und kräftigeren Männer ruderten mit vier Rudern. Am Steuerruder saß der Älteste, der bedächtig an seinem Tabak pfeifchen zog. Er war hager, und sein braunes Gesicht hatte viele Falten; vor allem der Hals mit dem vorstehenden Adamsapfel war von tiefen Falten durchfurcht, und entspre chend sahen auch die Hände aus — groß und knotig in den Gelenken, voller Narben und Risse. Sein Haar war grau, fast weiß. Deutlich hoben sich in dem braunen Gesicht die grauen Brauen ab. Die tränenden, geröteten Augen des Alten blinzelten wie gewohnt — mußte er doch sein Lebtag auf den Wasserspiegel schauen, der die Sonnenstrahlen zurück wirft —, und es machte ganz den Eindruck, als steuerte er das Boot blind durch die Bucht. Am anderen Ende des Ka jaks, ganz vorn am Bug, hockte wie eine Schnepfe der Junge, spähte mit seinen schwarzen Augen hin und wieder zu den Erwachsenen und hielt sich mucksmäuschenstill, um ja nicht den mürrischen Alten zu verdrießen. Der Junge war aufgeregt. Vor Spannung blähten sich seine Nasenflügel, und sein Gesicht übersprenkelten Sommer sprossen. Das hatte er von der Mutter — wenn die sich sehr freute, traten in ihr Gesicht ebensolch dunkle Pünktchen. Der Junge hatte allen Grund zur Hochstimmung. Diese Ausfahrt ins Meer wurde seinetwegen unternommen — er sollte das Jagdhandwerk erlernen. Deshalb drehte Kirisk wie eine Schnepfe den Kopf hierhin und dorthin und be trachtete alles mit nicht erlahmendem Interesse, voller Un
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geduld. Zum erstenmal in seinem Leben fuhr er zusammen mit richtigen Jägern aufs offene Meer, zu großem Fang, im großen Kajak der Sippe. Wie gern hätte sich der Junge von seinem Platz erhoben und die Männer angefeuert, wie gern hätte er selbst nach den Rudern gegriffen, sich mit Macht hineingelegt, um schneller zu den Inseln zu gelangen, wo die große Seetierjagd stattfinden sollte! Aber derlei kindli che Wünsche mochten ernsthafte Leute närrisch dünken. Aus Furcht davor versuchte er nach Kräften, sich nicht zu verraten. Ganz gelang ihm dies nicht. Schwer fiel es ihm, sein Glück für sich zu behalten — heiße Röte malte sich un übersehbar auf seinen sonnenverbrannten Pausbacken. Und aus seinen Augen — strahlenden, klaren, beseelten Jungen augen — sprachen unverhohlen Freude und Stolz, die sein Herz erfüllten. Vor ihm lag das Meer, vor ihm — die große Jagd! Der alte Organ verstand ihn. Während er mit zusammenge kniffenen Augen übers Meer steuerte, bemerkte er wohl, wie der Junge vor Ungeduld zappelte. Dem Alten wurden die Augen heiß — ach ja, die Kindheit, die Kindheit —, doch sog er schnell an seiner erlöschenden Pfeife, um das Schmunzeln in den Winkeln seines eingefallenen Mundes zu unterdrücken. Er durfte nicht lächeln. Der Junge war nicht zum Spaß bei ihnen im Boot. Er sollte das Leben eines Jägers auf See beginnen. Beginnen, um es dereinst irgendwo im Meer zu beenden — so wollte es das Schicksal, denn nichts Schwierigeres und Gefährlicheres gibt es als den Fang zur See. Daran muß man sich von klein auf gewöhnen. Nicht umsonst pflegten die Leute früher zu sagen: „Verstand gibt der Himmel, Geschick erwirbt man schon als Kind!“ Und dann sagten sie noch: „Ein schlechter Jäger fällt der Sippe zur Last.“ Daraus folgte: Wer als Mann ein guter Ernährer sein will, muß sein Handwerk schon in frühester Jugend er lernen. Nun war die Reihe an Kirisk, war es Zeit, dem Jun gen das Nötige beizubringen, ihn seetüchtig zu machen. Das wußten alle — die gesamte Siedlung; der ganze Clan der
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Fischfrau am Scheckigen Hund wußte, daß die Männer heute seinetwegen hinausfuhren, um des künftigen Jägers und Ernährers Kirisk willen. So war es Brauch: Wer als Mann geboren ist, muß von klein auf mit dem Meer Freund schaft schließen, damit das Meer ihn kennt und er selbst das Meer achtet. Daher gingen sie in See — Organ, der Clan-Äl teste, und die beiden besten Jäger, der Vater des Jungen, Emraijin, und dessen Vetter Mylgun; sie erfüllten die hohe Pflicht der Älteren gegenüber den Jüngeren, diesmal dem Jungen Kirisk gegenüber, der von nun an für immer mit dem Meer zu tun haben würde, in Tagen des Erfolgs und des Mißerfolgs. War Kirisk jetzt auch noch ein Junge, ein Milchbart, und blieb noch ungewiß, was je aus ihm würde — wer weiß, ob nicht gerade ihm bestimmt war, Ernährer und Stütze der Sippe zu werden, wenn sie selber, hilflose Greise, nicht mehr ihrem Handwerk nachgehen konnten. So mußte es sein, so hielt man es von Geschlecht zu Geschlecht. Darauf beruhte das Leben. Wozu darüber reden! Im stillen macht sich jeder seine Ge danken, aber darüber geredet wird selten. Daher schenkte dort, am Ufer des Scheckigen Hundes, keiner aus der Sippe der Fischfrau Kirisks erstem Jagdzug besondere Beachtung. Im Gegenteil, seine Stammesgefährten taten, als bemerkten sie gar nicht, daß er mit den erfahrenen Jägern aufs Meer hinausfuhr. Als nähmen sie diese Fahrt gar nicht ernst. Nur die Mutter hatte ihn begleitet. Aber auch sie verlor kein Wort über die bevorstehende Fahrt und verabschiedete sich schon vor der Bucht. „Na, geh nur in den Wald!“ sagte sie betont laut zu dem Sohn und sah nicht aufs Meer, sondern zum Wald. „Aber nimm nur trockenes Holz und verlauf dich nicht im Wald!“ Mit diesen Worten wollte sie die Spu ren verwischen, den Sohn vor den Kinren schützen, den bö sen Geistern. Auch den Vater erwähnte die Mutter mit kei ner Silbe. Als wäre Emraijin nicht der Vater und als ginge Kirisk nicht mit dem Vater in See, sondern mit Fremden.
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Die Kinren sollten nicht erfahren, daß Emraijin und Kirisk Vater und Sohn waren. Wenn Väter und Söhne gemeinsam jagen, wüten die bösen Geister. Sie könnten den einen ver nichten, um dem anderen Kraft und Willen zu rauben, auf daß er schwüre, nie wieder aufs Meer hinauszufahren, nie mehr den Wald zu betreten. So sind sie, diese tückischen Geister, versäumen keine Gelegenheit, den Menschen zu schaden. Kirisk hatte keine Angst vor den bösen Kinren, er war ja schon groß. Die Mutter aber fürchtete sie, bangte vor allem um ihn. „Du bist noch klein“, sagte sie. „Dich kann man noch leicht verwirren und töten.“ Wie wahr! Wieviel Unheil bringen die bösen Geister den Kindern! Schicken Krankhei ten und sonstiges Übel, verkrüppeln ein Kind, damit kein Jä ger aus ihm wird. Wem nützt aber solch ein Mensch? Daher ist es so wichtig, vor bösen Geistern auf der Hut zu sein, be sonders in der Kindheit, solange man noch nicht erwachsen ist. Steht einer erst auf eigenen Füßen, ist er eine Persönlichkeit, dann schrecken ihn auch keine Kinren mehr. Dann bezwin gen sie ihn nicht, sie fürchten die Starken. So nahmen Mutter und Sohn schon vor der Bucht Abschied. Eine Weile noch verharrte die Mutter wortlos — in ihrem Schweigen lagen Angst, Flehen und Hoffnung —, dann ging sie zurück, ohne sich ein einziges Mal nach dem Meer um zusehen. Kein Wort hatte sie über den Vater verloren, als wüßte sie wirklich nicht, wohin sich Mann und Sohn bega ben, obwohl sie für beide am Abend vorher Wegzehrung be reitet hatte — Vorrat für drei Tage; sie stellte sich ahnungs los, so sehr bangte sie um den Sohn. Ihre Angst war so groß, daß sie sich kein bißchen ihre Unruhe anmerken ließ, die bö sen Geister sollten nicht wittern, wie sehr sie sich insgeheim fürchtete. Kaum war die Mutter umgekehrt, stürzte der Sohn, im Strauchwerk Bogen schlagend, um seine Spur zu verwischen und die unsichtbaren Kinren abzuschütteln, wie die Mutter
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ihn geheißen — wollte er sie doch an diesem Tage nicht er zürnen —, den weit vorausgegangenen Männern nach. Rasch hatte er. sie eingeholt. Sie gingen gemächlich mit ihrer Last, Gewehren und Fanggerät, auf der Schulter. Voran schritt Organ, der Älteste, ihm folgte, auffallend großge wachsen und kräftig, der breitschultrige, bärtige Emraijin, und hinterdrein trabte, die Füße einwärts setzend, Mylgun, knorrig, klobig und rund wie ein Holzklotz. Ihre Kleidung, gut eingetragen, war für die Seefahrt aus gegerbten Häuten und Fellen gefertigt, damit sie warmhielt und keine Nässe durchließ. Verglichen mit den Männern, wirkte Kirisk gera dezu schmuck. Die Mutter hatte sich große Mühe gegeben, seit langem an seiner Seekluft genäht. Die Robbenfellstiefel und die Oberkleidung hatten an den Rändern Stickereien. Wozu das auf dem Meer? Aber Mutter bleibt eben Mutter. „Da bist du ja! Wir dachten schon, du kommst nicht mit. Dachten, du wirst am Händchen wieder heimgeführt!“ spöt telte Mylgun, als Kirisk neben ihm auftauchte. „Wieso? Nie im Leben! Ich?!“ Kirisk verschluckte sich fast vor Kränkung. „Na, na, verstehst wohl keinen Spaß!“ wies ihn Mylgun zu recht. „Das gewöhn dir schnell ab. Mit wem sollen wir auf See schon sprechen, wenn nicht miteinander? Da, trag lieber was!“ Er reichte ihm seine Winchesterbuchse. Dankbar lief der Junge neben ihm her. Bald hieß es alles verstauen und ablegen. So ging es fort aufs Meer. Wie anders würde die Rückkehr aussehen, falls sie Glück hatten und reiche Beute heimbrach ten! Dann winkten dem Jungen Ehrungen — mit Fug und Recht. Feiern wird man die Heimkehr des jungen Jägers, Lieder über die Freigebigkeit des Meeres singen, in dessen unermeßlichen Tiefen sich Fische und anderes Getier meh ren, für starke und kühne Jäger bestimmt. In Liedern wird man die Fischfrau rühmen, die Urmutter der FischfrauSippe auf Erden. Dann werden die Hohlstammtrommeln unter den Schlägen der Ahornschlegel erdröhnen, und in
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mitten der Tanzenden wird der Schamane, der Allwissende, mit der Erde und mit dem Wasser zu reden beginnen, über Kirisk, den neuen Jäger. Ja, über Kirisk wird der Schamane mit der Erde und mit dem Wasser sprechen, er wird sie be schwören und bitten, stets gut zu ihm zu sein, auf daß er zu einem großen Jäger heranwachse, das Glück ihn stets be gleite zu Lande und zu Wasser, und es ihm nie an Beute fehle, sie gerecht zu verteilen unter alt und jung. Auch wird der weise Schamane die Erde und das Wasser beschwören und bitten, daß Kirisk Kinder geboren werden und alle am Leben bleiben, damit sich das Geschlecht der Großen Fisch frau mehre und Nachkommen zeuge noch und noch. Wo schwimmst du, Große Fischfrau?
Dein heißer Leib empfängt das Leben,
dein heißer Leib hat uns geboren am Meer,
dein heißer Leib ist der beste Ort auf Erden.
Wo schwimmst du, Große Fischfrau?
Deine weißen Brüste gleichen Robbenköpfen,
deine weißen Brüste nährten uns am Meer.
Wo schwimmst du, Große Fischfrau?
Der stärkste Mann wird zu dir schwimmen,
auf daß dein Leib schwelle
und dein Geschlecht sich mehre auf Erden ...
Solche Lieder wird man singen auf dem Fest bei Tanz und Frohsinn. Und noch etwas Wichtiges stand Kirisk bei jenem Fest bevor. Der ekstatisch tanzende Schamane wird sein Jä gerschicksal einem Stern am Himmel anbefehlen. Hat doch ein jeder Jäger seinen Schutzstern. Welchem Stern er aber Kirisks Schicksal anvertraut, wird keiner je erfahren. Einzig der Schamane und jener Stern, der unsichtbare Beschützer, werden das wissen. Sonst niemand. Sterne aber gibt es am Himmel ohne Zahl... Natürlich werden sich die Mutter und das Schwesterchen am meisten freuen, sie werden am lautesten singen und hin gebungsvoll tanzen. Und der Vater, Emraijin, wird sich, al
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len vernehmlich, sein Vater nennen, gleichfalls froh und stolz. Einstweilen aber ist er kein Vater. Auf See gibt es we der Vater noch Sohn, auf See sind alle gleich und ordnen sich dem Ältesten unter. Was der Älteste sagt, geschieht. Der Vater hat sich da nicht einzumischen. Und der Sohn hat sich nicht beim Vater zu beklagen. So ist es Brauch. Und Musluk, Kirisks Spielgefährtin, wird sich wohl auch freuen. In letzter Zeit spielten sie nicht mehr so oft zusam men. Und von nun an ist es sicher ganz damit vorbei: Nicht nach Spielen steht einem Jäger der Sinn ... Das Boot fuhr prächtig, glitt wiegend über die Wellen. Längst hatten sie die Bucht des Scheckigen Hundes hinter sich gelassen, schon lag das Lange Kap hinter ihnen, und hinaus ging's aufs offene Meer, da merkten sie, daß der Wellengang auf See nicht stärker war als in der Bucht. Gleichmäßig plätscherten Kräuselwellen. Bei solch ruhiger See kommt man schnell voran. Gut und gewandt fuhr das aus dem Stamm einer mächtigen Pappel gefertigte Boot. Zuverlässig hielt es sich bei Querund Seitenwellen, leicht gehorchte es dem Steuerruder. Noch immer an seiner bereits erloschenen Pfeife ziehend, genoß der alte Organ die sichere Fahrt, gab er sich dem Ge fühl hin, als wäre er selbst das Boot, das — bis zur halben Bordhöhe im Wasser — durchs Meer dahinglitt; als schwämme er selbst unter dem gleichmäßigen Knirschen der Dollen und den gemessenen Ruderschlägen durch die Mee resweite; als durchschnitte er selbst mit dem Kiel — wie mit der eigenen Brust — die elastischen Wellen und schwankte leicht unter dem Anprall und den Stößen des Wassers. Die ses Gefühl völligen Einsseins mit der Bewegung des Bootes weckte in ihm seltsame Überlegungen. Er war mit dem Boot zufrieden, sehr sogar, hatte er es doch selbst ausgestemmt und behobelt; die Pappel hatten sie gemeinsam gefällt; einer allein, ja sogar vier Mann hätten das nicht bewältigt, aber bearbeitet hatte er den Stamm allein — drei Sommer hatte er
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ihn trocknen lassen, ihn behauen, und bereits damals war ihm klar gewesen: Das würde der beste Kajak, den er je ge baut hatte. Doch bei dieser Erinnerung beschlich ihn jäher Kummer. Wenn es nun sein letzter wäre? Er wollte noch eine Weile leben. Noch zum Fang hinausziehen aufs Meer, noch ein paar Kajaks bauen, solange ihn Augenlicht und Fingerfertigkeit nicht im Stich ließen. In Gedanken sprach er mit seinem Boot. Ich liebe dich und vertraue dir, Bruder Kajak, sagte er. Du kennst die Sprache des Meeres, kennst die Tücken der Wellen, darin liegt deine Stärke. Du bist ein würdiger Kajak, der beste, den ich je ge baut habe. Du bist ein großer Kajak — zwei Seehunde und eine Ringelrobbe finden in dir Platz. Du bringst uns Glück. Daher achte ich dich. Wir alle lieben dich, wenn du schwer trägst an unserer Beute, wenn du, eingesunken bist zum Rand und sogar Wasser schöpfend, ans Ufer zurückkehrst. Dann laufen alle herbei zu deinem Empfang, Bruder Kajak! Auch wenn ich sterbe, du fahre noch lange, fahre weit, an beutereiche Orte. Auch wenn ich sterbe, du fahre mit jun gen und starken Jägern hinaus. Auch wenn ich sterbe, du diene ihnen, wie du mir jetzt dienst. Und halte aus, Bruder Kajak, bis auch dieser unser Sproß, der dort am Bug sitzt und ungeduldig den Kopf dreht, herangewachsen ist — wäre da nicht Wasser, sondern Land, würde er auf der Stelle hinauslaufen zur großen Jagd, meint er doch, er käme mit allem allein zurecht —, halte aus, Bruder Kajak, bis auch er herangewachsen ist und mit dir fährt nach nah und fern. Heute aber ist er zum erstenmal mit uns auf See. So muß es sein. Soll er sich daran gewöhnen. Wir gehen dahin, er aber hat noch lange Jahre vor sich. Gerät er nach seinem Vater Emraijin, so wird aus ihm ein tüchtiger Mann. Kein Schwätzer. Emraijin ist zur Zeit wohl der beste Jäger. Ein kräftiger, arbeitsamer Mann. Einstmals war auch ich so. In meinen besten Jahren! Damals liebten mich die Frauen. Und ich dachte, das Leben würde nie enden. Erst später begreift man, daß es anders ist. Die Jungen wollen
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davon nichts wissen. Emraijin und Mylgun denken sicher auch noch nicht daran. Ist auch gut so. Sie erfahren es noch früh genug. Aber sie rudern gut, mit langen Schlägen. Myl gun steht Emraijin nicht nach. Ein zuverlässiges, ausdau erndes Paar. Das Boot kommt gewissermaßen von allein voran, spielend leicht. Aber das scheint nur so. Auf See be wegt man sich durch Armkraft. Heute heißt es noch ru dern, rudern, rudern! Und morgen den ganzen Tag wieder zurück. Vom frühen Morgen an den ganzen Tag. Ich werde mal den einen, mal den anderen ablösen, doch schwer ist diese Arbeit — ein ganzes Meer mit den Rudern aufrühren. Kehren wir aber mit reichem Fang heim, dann feiern wir ein Fest. Hörst du, verstehst du mich, Bruder Kajak? Du bringst uns zu den Inseln, zu den Drei Zitzen, zu reichen Jagdgründen. Darum fahren wir ja. Dort am Ufer sind die Lagerplätze der Robben. Bald werden sie jungen, deshalb versammeln sie sich herdenweise auf den Inseln. Verstehst du mich, Bruder Kajak? Du begreifst mich schon. Mit dir habe ich bereits geredet, als du das Meer noch gar nicht gekannt, als du noch im Leib der großen Pappel im Wald gelebt hast. Ich habe dich aus dem Leib des Baumes befreit, und jetzt schwimmen wir. Wenn ich aber nicht mehr sein werde, vergiß mich nicht, Bruder Kajak. Denk an mich, wenn du auf dem Meer fährst... So überlegte Organ, während er vom Hauptorientierungs punkt am Ufersaum, vom Scheckigen Hund aus, geraden Kurs aufs Meer hielt. Dieser Klippenberg hatte eine unge wöhnliche Eigenschaft, von der alle sprachen, die hinaus fuhren —. bei klarem Wetter schien er mit der Entfernung zu wachsen. Als folge einem der Scheckige Hund unentwegt, als wolle er nicht zurückbleiben. Wann immer man sich um sah, der Scheckige Hund bot sich dem Blick. Sehr lange war dieser Hügel zu sehen, auf weite Entfernung, dann ent schwand er unversehens hinter einem hohen Wellenberg.
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Der Scheckige Hund war nach Hause gegangen, das Land lag weit zurück... Dann aber mußte man sich gut einprägen, wo, in welcher Richtung der Scheckige Hund zurückgeblieben war, woher — bezogen auf« den Berg — der Wind wehte, wo die Sonne gestanden hatte, man mußte die Wolken beobachten, falls Windstille herrschte, mußte während der ganzen Zeit, bis hin zu den Inseln, die Lage des Scheckigen Hundes im Ge dächtnis behalten, um auf dem weiten Meer nicht vom Kurs abzukommen. Sie hielten auf Inseln zu, die fast eine Tagesfahrt entfernt la gen. Es waren unbewohnte, winzige Felseninseln — drei Brocken Festland, die wie dunkle Zitzen aus der unendli chen Wasserwüste ragten. Daher wurden sie auch die Drei Zitzen genannt — die Kleine, die Mittlere und die Große. Dahinter aber, wenn man weiterfuhr, kam der Ozean, von dem sie weder Ausdehnung noch Namen wußten — das große, unerschlossene, unbekannte Wasser der Ewigkeit, das aus sich selbst entsteht und seit der Erschaffung der Welt existiert, seit jener Zeit schon, da die Ente Luwr schreiend dahin] agte auf der Suche nach einem kleinen Flecken für ihr Nest — so groß wie ein Handteller wenigstens — und es nir gendwo fand. Dort, auf jenen Inseln, an der Grenze von Ochotskischem Meer und Ozean, waren in jenen Frühlings tagen die Lagerplätze der Ringelrobben. Dorthin führte sie der Weg ... Der Junge staunte, weil das Meer ganz anders aussah, als er es von seinen Spielen auf den Felsnasen des Scheckigen Hundes her kannte, ja nicht einmal so, wie er es bei Boots fahrten auf der Lagune erlebt hatte. Besonders deutlich spürte er das, als die Bucht hinter ihnen lag, das Meer sich plötzlich weitete, den ganzen sichtbaren Raum bis zum Himmel ausfüllte und zur ungeteilten, unübersehbaren, ein zig wirklichen Welt geworden war. Das offene Meer überwältigte Kirisk. Ein solches Schauspiel hatte er nicht erwartet. Nur Wasser, bewegtes, schweres
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Wasser, nur Wellen, rasch entstehend und vergehend, nur Tiefe, dunkle, erregende Tiefe, und nur Himmel, voll von wandernden, schwerelosen, unerreichbaren weißen Wol ken. Das war die Welt, weiter gab es nichts, nur das Meer — kein Winter, kein Sommer, keine Hügel, keine Schluchten. Wasser bedeckte die Welt von einem Ende zum anderen. Das Boot aber fuhr, glitt wiegend über die Wellen. Noch im mer war der Junge glücklich und froh, im Boot zu sein — in Erwartung der großen Jagd. Doch alles, was er ringsum sah und entdeckte — im Wasser und oberhalb —, nahm er dieses Mal nur flüchtig wahr, mit feiertäglicher halber Aufmerk samkeit, denn sein Herz eilte voraus, eingestimmt auf ganz andere Eindrücke. Wie sehr hätte ihn sonst das endlose Spiel der Strahlen auf dem Wasser gefesselt, die bizarr über die Oberfläche glitten und das Antlitz des Meeres in immer neue schillernde Farben tauchten — von Zartviolett und Dunkelgrün bis zu Tiefschwarz im Schatten hinter der Bordwand; wie herzlich hätte er sich gefreut über die drolli gen, neugierigen Fische, die plötzlich neben dem Boot auf tauchten, wie hätte er über den Schwärm Buckellachse ge lacht, die sich vor Schreck noch enger aneinanderdrängten, vereinzelt aus dem Wasser sprangen, dann komisch auf die Rücken der anderen fielen ... All dem schenkte er jetzt keine besondere Aufmerksamkeit — Lappalien! Nur nach einem stand sein Sinn — möglichst schnell zu den Inseln gelangen! Sich in die Arbeit stürzen! Bald jedoch änderte sich die Stimmung des Jungen sonder bar, wie von selbst, obwohl er sich nichts anmerken ließ. Je weiter sie sich vom Land entfernten, vor allem, nachdem der Scheckige Hund plötzlich hinter einem hohen schwarzen Wasserberg verschwunden war, wuchs in ihm das Gefühl einer vagen Gefahr, die vom Meer ausging, spürte er, wie abhängig er war vom Meer, wie unendlich klein und wie un endlich schutzlos angesichts dieses gewaltigen Elements. Das war neu für ihn. Und er begriff, wie lieb ihm der Schek kige Hund war, an den er früher keinen Gedanken ver
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schwendet, auf dessen Hängen er unbekümmert und furcht los getollt und von dessen Höhe er sich am Anblick des kei neswegs bedrohlichen Meeres erfreut hatte. Jetzt begriff er, wie mächtig und gütig der Scheckige Hund war — uner schütterlich und stark an seinem Platz. Jetzt verstand er den Unterschied zwischen Festland und Meer. Zu Lande denkt man nicht ans Land. Ist man aber auf dem Meer, denkt man unentwegt ans Meer, selbst wenn die Gedanken um anderes kreisen. Diese Entdeckung bestürzte den Jungen. Daß man ständig ans Meer denken mußte — darin lag etwas Unergründliches, Überlegenes... Die Erwachsenen aber blieben ruhig. Emraijin und Mylgun ruderten noch immer wie ein Mann, mit gleichmäßigen, ge nauen Schlägen. Immer wieder tauchten die vier Ruder gleichzeitig ins Wasser, hielten das Boot leicht und unge zwungen in ständiger Bewegung. Die Ruderer kostete das stete Anspannung. Kirisk sah ihre Gesichter nicht. Die Män ner kehrten ihm den Rücken zu, doch vor seinen Augen wölbten und streckten sich ihre Schulterblätter. Nur hin und wieder tauschten sie ein Wort. Der Vater allerdings blickte sich bisweilen um und lächelte dem Sohn durch den Bart zu. Na, wie geht's? So fuhren sie dahin. Die Erwachsenen waren ruhig und ihrer Sache sicher. Vollends gelassen blieb der alte Organ. Nach wie vor an seiner Pfeife saugend, lenkte er das Boot. So fuh ren sie, jeder mit seiner Arbeit beschäftigt. Nun ja, zweimal wollte auch Kirisk rudern — erst Seite an Seite mit Mylgun, dann mit dem Vater. Gern überließen die Männer ihm ein Ruder. Immer streng dich an! Doch obschon er das Ruder mit beiden Händen packte, reichte seine Kraft nicht lange — zu schwer war das Boot für ihn, zu gewaltig auch das Ruder. Aber keiner machte ihm Vorwürfe, keiner bedauerte ihn, immer schweigsamer verrichteten alle ihre Arbeit. Als der Scheckige Hund plötzlich verschwunden war, beleb ten sie sich mit einemmal. „Der Scheckige Hund ist nach Hause gegangen!“ erklärte der Vater.
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„Ja, er ist fort!“ bestätigte Mylgun. „Wirklich? Ist er also weg?“ Auch der alte Organ blickte in jene Richtung. „Nun, dann geht's voran. He, Kirisk“, wandte er sich verschmitzt an den Jungen, „soll ich dir nicht den Scheckigen Hund herbeirufen, vielleicht kommt er zu rück?“ Alle lachten, auch Kirisk. Dann überlegte er und sagte laut: „Wenn wir umkehren, dann kommt er auch wieder!“ „Bist ja recht pfiffig!“ rief Organ schmunzelnd. „Wir wollen uns lieber beschäftigen. Komm zu mir. Hast genug geschaut. Das ganze Meer siehst du ohnehin nicht.“ Kirisk verließ seinen Platz am Bug, kletterte zum Heck und stieg dabei über die Gegenstände auf dem Boden des Boo tes: zwei Winchesterbüchsen, in Renfelle gewickelt, eine Harpune, einen Knäuel Bindfaden, ein Fäßchen mit Wasser, einen Sack Lebensmittel und noch ein paar Bündel und Klei dungsstücke. Während sich der Junge entlang der Boots wand an den Ruderern vorbeidrängte und über die Ruder holme trat, umgab ihn ein Geruch von Tabak und kräftigem Männerschweiß, der von den feuchten Nacken und Rücken kam. So roch die väterliche Kleidung, an der die Mutter gern schnupperte, wenn der Vater auf See war — dann nahm sie mitunter seinen alten Pelz und preßte ihr Gesicht hinein. Der Vater nickte dem Sohn zu, knuffte ihn sacht mit der Schulter in die Seite, die Ruder fest in der Hand. Kirisk ließ sich durch die zärtliche Geste des Vaters nicht aufhalten. Was sollte das? Auf See sind alle gleich. Auf See gibt es we der Väter noch Söhne. Nur der Älteste zählt. Ohne sein Wissen darf keiner einen Finger rühren ... „Setz dich, mach dir's neben mir bequem!“ Organ legte seine lange, knotige Hand leicht auf Kirisks Schulter. „Ist dir nicht doch ein wenig bange? Erst meint man, es macht einem nichts aus, aber dann ...“ Kirisk wurde verlegen — also hatte der alte Organ etwas ge merkt. Dennoch protestierte er: „Nein, Atkytschch, nein, kein bißchen! Warum auch?“ 139
„Bist immerhin zum erstenmal auf See.“
„Wennschon!“ Kirisk ließ sich nicht unterkriegen. „Ich habe
keine Angst.“
„Recht so. Als ich das erstemal ausfuhr, und das ist schon
eine Ewigkeit her, habe ich mich, ehrlich gesagt, etwas ge
fürchtet. Wie ich so schaute — die Küste war längst ver
schwunden, der Scheckige Hund fortgelaufen, weit und
breit nichts als Wellen —, da wollte ich nach Hause. Frag nur
die beiden da, Emraijin und Mylgun, wie es denen erging!“
Die Männer lächelten verständnisvoll, nickten und legten
sich in die Ruder.
„Ich aber nicht!“ beharrte Kirisk.
„Bist also tapfer!“ beschwichtigte ihn der Alte. „Und nun sag
mir, in welcher Richtung ist der Scheckige Hund zurückge
blieben?“
Vor Überraschung wurde Kirisk nachdenklich, dann zeigte
er mit der Hand: „Dort!“
„Bist du sicher? Deine Hand zittert ja.“
Das Zittern unterdrückend, wies der Junge eine Spur weiter
nach rechts: „Dort!“
„Jetzt stimmt's“, sagte Organ. „Wenn nun der Kajak seine
Nase dorthin wendet, wo liegt dann der Scheckige Hund?“
„Dort!“
„Und wenn der Wind uns so herum dreht?“
„Dort!“
„Und wenn wir nach links fahren?“
„Dort!“
„Gut, und jetzt sag mir, wonach du das bestimmst, denn
weit und breit ist doch nichts zu sehen als Wasser?“ forschte
Organ. „Kannst du mir das erklären?“
„Ich habe doch Augen“, entgegnete Kirisk.
„Was für Augen?“
„Was weiß ich. Sicher im Bauch, und sie sehen blind.“
„Im Bauch!“ Alle lachten schallend.
„Ganz richtig“, ließ sich Organ vernehmen. „Solche Augen
gibt es. Nur sitzen die nicht im Bauch, sondern im Kopf.“
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„Bei mir sind sie aber im Bauch“, beharrte Kirisk, obwohl er einsah, daß Organ recht hatte. Kurz darauf stellte der Alte Kirisk wieder ein paar Prüfungs fragen, und als er sich vergewissert hatte, daß sich der Junge im Meer zurechtfand, murmelte er zufrieden: „Gar nicht schlecht, deine Augen im Bauch!“ Geschmeichelt von dem Lob, begann Kirisk sich selbst Auf gaben zu stellen und nach Lösungen zu suchen. Einstweilen, bei ziemlich ruhiger See, fiel ihm dies nicht allzu schwer. Der treue und große Scheckige Hund meldete sich zuverläs sig — ohne daß Kirisk die Erinnerung besonders bemühen mußte, zeigte er sich seinem inneren Blick genau dort, wo er zurückgeblieben war, als stünde er tatsächlich vor Augen, in seiner ganzen Ausdehnung, mit den zottigen Wäldern an den Steilhängen, den Schneeflocken auf dem „Kopf“ und in der „Weichengegend“, mit der tosenden, unermüdlichen, ewigen Brandung zu Füßen der Klippe. Während sich der Junge den Scheckigen Hund vorstellte, dachte er unwillkür lich auch an die anderen Hügel in der Nähe und an zu Hause. Er sah das kleine Tal inmitten der Küstenhügel, und in jenem Tal am Waldrand, am Ufer eines Flüßchens ihr Wohnlager — Holzhäuser, Kornspeicher, Hunde, Hühner, Fischdarren, Rauchfahnen, er schien sogar Stimmen zu hö ren, und dort waren ja auch Mutter und seine kleine Schwe ster Psulk. Was sie jetzt wohl machten? Sicher denkt die Mutter insgeheim an ihn, auch an Vater und an alle anderen Jäger auf See. Ja, gerade jetzt denkt sie an sie alle. Dabei ist sie in steter Sorge, daß die bösen Geister ihre Gedanken er raten und ihre Furcht bemerken könnten. Und gewiß denkt noch jemand an ihn — Musluk. Sie ist bestimmt schon ange laufen gekommen unter dem Vorwand, mit Psulk spielen zu wollen. Doch wehe, wenn sie zufällig laut seinen Namen nennt oder nach ihm fragt, der doch hinausgefahren ist aufs Meer, da wird die Mutter sie zurechtweisen: Was soll das Geschwätz, weißt du nicht, daß er nach Brennholz in den Wald gegangen ist? Erschrocken und beschämt wird das
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Mädchen verstummen. Bei diesem Gedanken empfand Ki risk Mitleid. Er wollte zwar, daß Musluk an ihn dachte, aber daß man ihr seinetwegen Vorhaltungen machte, war ihm ganz und gar nicht recht. Das Boot aber fuhr noch immer, glitt wiegend über die Wel len, die sich schäumend kräuselten und glänzten. Die Niw chen rechneten damit, am Nachmittag, jedenfalls noch bei Tageslicht, die erste Insel zu erreichen, die nächstgelegene, die Kleine Zitze, und, wenn ihnen das gelänge, dort mit der Jagd zu beginnen. Noch vor Anbruch der Dunkelheit wür den sie zur zweiten Insel, zur Mittleren Zitze, fahren, wo sie übernachten wollten, denn an ihrem Ufer befand sich eine ruhige Anlegestelle für ihr Boot. In aller Frühe aber sollte es wieder hinausgehen aufs Meer. Falls sie noch am Abend Glück hatten und gleich drei Robben erbeuteten, konnten sie am nächsten Morgen ohne Aufschub die Heimfahrt an treten. Doch zurückkehren mußten sie so oder so in der er sten Tageshälfte, wenn die Sonne nicht mehr als zwei Pap peln hoch stand. Je eher man das Meer verläßt, desto besser. All dies hatte der alte Organ vorausberechnet, alles hatte er bedacht. Zudem fuhren seine beiden Gehilfen — Emraijin und Mylgun — nicht zum erstenmal zu den Drei Zitzen. Sie kannten sich gleichfalls gut aus. Hauptsache, das Wetter hielt sich und sie entdeckten beizeiten Tiere auf dem Lager platz! Mit allem anderen würden sie schon fertig werden, ein jeder stand ja seinen Mann. Der alte Organ ging nicht nur in See, weil es notwendig war — natürlich war es lebensnotwendig, Nahrung aus dem Meer zu beschaffen —, sondern auch, weil es ihn aufs Meer zog. Die Weite des Meeres beflügelte den alten Mann in sei nen geheimsten Überlegungen. Und er hatte geheime Ge danken. Auf See hinderte ihn keiner, ihnen nachzuhängen, denn all das, woran an Land zu denken ihm die Zeit fehlte über den Sorgen des Alltags, beschäftigte Organ auf See — hier lenkte nichts ab von seinen großen Ideen. Hier fühlte er sich Meer und Himmel verwandt.
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Ihm war klar: Angesichts der unendlichen Weite ist der Mensch im Boot ein Nichts. Doch der Mensch denkt und er hebt sich so zur Größe von Meer und Himmel, behauptet sich inmitten der ewigen Elemente, wird den Welten in ihrer Tiefe und Höhe ebenbürtig. Darum ist der Mensch, solange er lebt, kraft seines Geistes so mächtig wie das Meer und so endlos wie der Himmel, denn seinem Denken sind keine Grenzen gesetzt. Und wenn er stirbt, denkt ein anderer seine Gedanken weiter, und dann wieder ein anderer, und so geht es ohne Ende ... Dieses Bewußtsein bereitete dem Alten die bittere Wonne eines unannehmbaren Sichabfin dens. Er begriff, daß er dem Tod nicht entrinnen konnte, sein Le ben zur Neige ging, daß der Tod alles auslöschte, und hoffte doch, sein größter Schatz, sein Geheimnis, die wunderbaren Träume von der Großen Fischfrau, würde ihm auch nach dem Tod bleiben. Er konnte seine Träume an keinen ändern weitergeben — Traumgesichte sind unübertragbar, und da her, so meinte er, durften sie nicht spurlos verschwinden ... Nie und nimmer. Die Große Fischfrau ist unsterblich, also sind auch die Träume von ihr unsterblich. Sehr viel und immer wieder dachte er darüber nach während seiner Seefahrten, versank dann lange Zeit in Schweigen, zog sich in sich selbst zurück, mied jegliches Gespräch mit seinen Weggefährten. Den Blick aufs Meer gerichtet, bat er — wen wohl? — nur um eines: ihm die Träume von der Gro ßen Fischfrau nicht zu nehmen. Warum sollte der Mensch seine Träume nicht hinübernehmen können in jene andere Welt, damit er sie ewig sah, für alle Zeit? Er fand keine Ant wort und grübelte qualvoll, bemüht, sich selbst einzureden, daß ihm seine Träume blieben. Vor vielen, vielen Jahren, in grauer Vorzeit, lebten an der Küste unweit des Scheckigen Hundes drei Brüder. Der älte ste war flinkfüßig, unternehmungslustig und ein Glücks kind: Er nahm die Tochter eines Rentierjägers zur Frau, wurde Herr über viele Renherden, zog in die Tundra und
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ward nicht mehr gesehen. Der jüngste war ein Fährtensu cher und Meisterschütze. Auch er heiratete, nahm sich ein Waldmädchen, ging in die Taiga und wurde Jäger. Der mitt lere Bruder war von Geburt an lahm und brachte es zu nichts. Er stand früh auf, legte sich spät zur Ruhe, aber was nutzte das? Rentieren konnte er nicht nachsetzen, Tiere des Waldes nicht aufspüren. Keiner weit und breit gab ihm seine Tochter zur Frau, die Brüder hatten ihn verlassen, und er war allein geblieben am blauen Meer. Mit Fischfang fristete er sein Dasein. Aber man weiß ja, wieviel das einbringt... Eines Tages saß der bedauernswerte Lahme in seinem Boot, er hatte die Angelschnur ins Meer ausgeworfen. Da spürte er plötzlich, wie die Rute heftig in seinen Händen zuckte. Er frohlockte: Das würde ein Fang! Schon begann er, den Rie senfisch näher und näher ans Boot heranzuziehen. Doch welch ein Wunder! Der Fisch hatte die Gestalt einer Frau! Wirbelte das Wasser auf, wand sich, suchte zu ent kommen. Und war dabei von nie gesehener Schönheit: Der glatte Leib schimmerte wie Flußkiesel in einer Mondnacht; die weißen Brüste hatten spitze dunkle Warzen, wie Fich tenzapfen; die grünen Augen funkelten feurig. Der Lahme faßte die Fischfrau unter die Arme und hob sie aus dem Wasser. Da umschlang sie ihn, und sie legten sich ins Boot. Vor Glück schwindelte dem lahmen Bruder. Er wußte selbst nicht, wie ihm geschah, ihm schien, das Boot wippe bis in die Wolken. Das Meer wirbele bis zum Himmel, der Himmel wirbele bis hinab zum Meer. Dann aber herrschte plötzlich Stille wie nach einem Sturm. Da sprang die Fischfrau aus dem Boot und schwamm fort. Der Lahme wollte ihr nach stürzen, rief sie und flehte sie an zurückzukommen, doch sie gab keine Antwort und verschwand in der Tiefe des Meeres. So war es dem lahmen mittleren Bruder ergangen, der ein sam und von allen verlassen an der Küste lebte. Die Fisch frau schwamm davon und blieb verschwunden. Den lahmen Bruder aber quälte fortan verzehrende Sehnsucht. Alle Tage und Nächte ging er weinend am Meer auf und ab und rief
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unentwegt die Fischfrau, beschwor sie, bat sie, sich zumin dest von fern zu zeigen. Bei Flut ging er und sang: Wo schwimmst du, Große Fischfrau? Bei Ebbe ging er und sang: Wo schwimmst du, Große Fischfrau? Bei Mondenschein ging er und sang: Dies Meer ist meine Sehnsucht, diese Wasser sind meine Tränen, die Erde aber — mein einsam Haupt! In finsterer Nacht ging er und sang: Wo schwimmst du, Große Fischfrau? Bei Flut ging er und sang, bei Ebbe ging er und sang ... Indes verstrich der Winter, danach der Frühling; eines Ta ges, schon zur Sommerszeit, humpelte der bedauernswerte Lahme, bis zum Knie im Flutwasser, den Blick aufs Meer ge heftet, am Ufer entlang — erschien vielleicht doch noch die Fischfrau? — und rief sie ständig — antwortete vielleicht doch noch die Fischfrau? Da vernahm er plötzlich ein Grei nen, als schluchze da bitterlich ein kleines Kind. Er eilte dorthin und traute seinen Augen nicht: Ein nackter Säugling saß auf einer Sandbank am Wasser, Wogen überspülten ihn und liefen wieder zurück, der Kleine aber weinte und fragte immer wieder: „Wer ist mein Vater? Wo ist mein Vater?“ Das wunderte den Lahmen noch mehr, und der Ärmste wußte nicht, was tun. Als der Kleine ihn jedoch erblickte, rief er: „Du bist mein Vater! Nimm mich zu dir, ich bin dein Sohn!“ Das war eine schöne Geschichte! Der Mann nahm seinen Sohn und trug ihn nach Hause. Der Knabe wuchs rasch heran. Bald fuhr er hinaus aufs Meer. Er wurde ein kühner und kräftiger Jäger. Das Glück begleitete ihn von klein auf: Warf er ein Netz aus, so holte er es voller Fisch ein, stach er mit dem Speer zu, so durch bohrte dieser ein Seetier. Sein Ruhm drang über Wälder und
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Berge. Voll Achtung gab man ihm ein Mädchen aus der Waldsippe zur Frau. Kinder wurden geboren, und so ent stand und wuchs der Stamm der Fischfrau-Menschen. Daher singt man an Festtagen: Wo schwimmst du, Große Fischfrau?
Dein heißer Leib empfängt das Leben,
dein heißer Leib hat uns geboren am Meer,
dein heißer Leib ist der beste Ort auf Erden.
Wo schwimmst du, Große Fischfrau?
Deine weißen Brüste gleichen Robbenköpfen,
deine weißen Brüste nährten uns am Meer.
Wo schwimmst du, Große Fischfrau?
Der stärkste Mann wird zu dir schwimmen,
auf daß dein Leib schwelle
und dein Geschlecht sich mehre auf Erden ...
Dieser Traum zog allmählich auf wie die unerbittlich stei gende Flut aus den Tiefen des Ozeans, die für eine Zeitlang die Küsten mit den Gräsern und Dünen in die unwirkliche Zauberwelt des Unterwasserdämmers taucht. Und jedesmal hinterließ dieser Traum bei Organ ein langan haltendes verwirrendes Gefühl. Er glaubte so fest an ihn, daß er keinem Menschen von seiner Begegnung mit der Fischfrau erzählte, wie er auch keinem von Vorfällen dieser Art im gewöhnlichen Leben erzählt hätte. Ja, dieser Traum begleitete den Alten, er kam immer wieder, bescherte ihm Freude und Kummer .und unirdische Seelen pein. Und jedesmal aufs neue überraschte er Organ durch seine Unausschöpfbarkeit, durch das Vieldeutige der An spielungen, die seine unwahrscheinlichen Wandlungen und Sonderbarkeiten bargen. Während Organ darüber nach grübelte, um das Geheimnis aller Geheimnisse zu ergründen— jene ewig unerklärliche, ständig wechselnde Verknüpfung der Traumgesichte mit dem Leben, die den Menschen unentwegt durch ihre Rätselhaftigkeit und ihre unverständ lichen Vorzeichen quälte —, ertappte er sich bei dem Ge
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danken, daß er trotz aller seelischen Verwirrung unauf hörlich die Wiederkehr dieser Träume herbeisehnte, unent wegt darauf wartete, erneut der Großen Fischfrau zu begeg nen. Er traf sich mit ihr am Meer. Ihr Erscheinen zu erwarten, ging er ans Ufer und lief den öden Strand entlang, auf dem sich die Spuren seiner Füße verloren, während reglos schwarze Schalten immer noch von den erloschenen Strah len der untergegangenen“ Sonne kündeten. Diese Schatten lagen da wie schwarzer Schnee, über den er leidvoll schritt, erfüllt von heftiger, nicht mehr menschlicher Sehnsucht. Der Schmerz der Liebe, der Schmerz seiner Wünsche und Hoff nungen überwältigte ihn, das Meer jedoch blieb leer und teilnahmslos. Kein Wind, kein Laut, kein Rascheln war in dieser gespannten, schweigenden Welt der Einsamkeit. Er aber wartete, blickte hinaus aufs Meer, wartete auf ein Wun der, wartete, daß sie sich zeigte. Schwer wurde ihm ums Herz, weil geräuschlose Wellen den weißschäumenden Gischt einer geräuschlosen Brandung auf seinen Weg schleuderten. Riesigen tanzenden Schneeflok ken gleich, schwebten lautlos Möwen über seinem Kopf. In dieser taub und stumm gewordenen Weite fühlte er sich ver loren, er empfand Übelkeit, spürte, wie mit der Erwartung immer brennender, immer quälender die unbändige, unstill bare Sehnsucht nach ihr wuchs, und selbst im Traum begriff er, daß er in der Leere der Einsamkeit zugrunde gehen mußte, wenn er sie nicht bald sah, wenn sie nicht bald er schien. Da begann er zu schreien, sie zu rufen. Doch er ver nahm seine Stimme nicht, denn er hatte keine — stumm war der ganze sonderbare Traum. Und das Meer schwieg. Nur der eigene schwere Atem, unwirklich laut und keuchend, und das unaufhörliche wilde Pochen seines Herzens, das er schmerzhaft bis in die Schläfen hinein spürte, verfolgten, peinigten ihn. Er wußte nicht, wie er sich selbst entrinnen sollte. Fast von Sinnen wartete er auf die Fischfrau, so lei denschaftlich und wild wie ein hoffnungslos Ertrinkender
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auf Rettung wartet. Er wußte, daß nur sie allein ihm Glück gab, er wußte es und wartete mit letzter Kraft. Als sie endlich ungestüm aus .dem Meer tauchte, ihm entge genschwamm, den Blick auf ihn gerichtet, und ihr Antlitz zwischen den Wogen aufblitzte, brach die Stummheit der Welt zusammen wie unter einem Erdrutsch. Schreiend und jubelnd begrüßte er die Rückkehr der Laute — das wiederer wachte Tosen der Brandung, das Rauschen des Windes und das Gekreisch der Möwen zu seinen Häupten. Schreiend und jubelnd stürzte er ins Meer, ihr entgegen, schwamm zu ihr, als hätte er sich in einen Wal verwandelt. Sie aber harrte seiner, beschrieb stürmische Kreise, schwang sich immer wieder kurz aus dem Wasser, zitternd und in weiten Sprüngen, und in diesen Augenblicken zeichnete sich deutlich ihr lebendiger, sinnenfroher Körper ab — als wäre es eine ganz normale Frau mit schön geschwungenen Hüf ten, die im Meer badete. Er erreichte sie, und sie entschwanden im Ozean. Sie schwammen nebeneinander, Seite an Seite, sich sogar berührend, stürmten immer schneller, immer schneller voran. Wie hatte er sich danach verzehrt in den Qualen der Sehnsucht, der Stummheit, der Einsamkeit! Jetzt waren sie beisammen. Mit unvorstellbarer Kraft und Schnelligkeit stürmten sie in die schimmernde Ferne des nächtlichen Ozeans, dessen ungewöhnliches, aus der Tiefe kommendes Leuchten den vagen Strich des Horizonts über strahlte : auf ihrer Jagd zu diesem schemenhaften Horizont durchschnitten ihre Körper die hochschäumenden Kämme der sich ihnen unaufhörlich entgegentürmenden Wogen, überwanden sie unendliche Wellengebirge, bald sich hinauf schwingend, bald hinabgleitend, heiß durchströmt von der Freude eines triumphalen Fluges — hinauf und hinab, von Wellenberg zu Wellenberg, von Kamm zu Kamm. Und ne ben ihnen, sie begleitend und nicht von ihrer Seite weichend, als hüpfender, spiegelnder Fleck, gestreckt im Lauf — der über die Wogen jagende gelbe Mond. Nur der Mond und
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sie beide, er und die Fischfrau, geboten über diese grenzen lose Ozeanweite, nur sie und der Ozean! Das war der Gipfel ihres Glücks, der Rausch der Freiheit, das Fest ihres Wieder sehns... Sie jagten dahin, pausenlos und kraftvoll, beherrscht von dem übermächtigen Wunsch, möglichst schnell an den Ort auf Erden zu gelangen, der ihnen bestimmt war, wo sie, be sessen von Leidenschaft, sich endlich vereinen konnten, um in einem blitzartigen Augenblick die ganze Süße und die ganze Bitternis vom Beginn und Ende des Lebens zu erfah ren ... Zielstrebig schwammen sie und unaufhaltsam, in der Hoff nung, bald das Ziel ihrer Wünsche zu erreichen. Und je schneller sie schwammen, desto wilder brannte in ihm die heftige Ungeduld des Fleisches. Er schwamm, ohne zu ermüden, drängte mit aller Kraft voran wie ein Lachs, der seine gesamte Lebensenergie, bis zum allerletzten Tröpf chen, zum Laichplatz trägt. Er schwamm, bereit, vor Liebe zu sterben. Die rätselhafte Fischfrau jedoch lockte ihn wei ter und weiter in die Tiefe des Ozeans, flog immer noch in einer Spritzerwolke dahin, in einem strahlenden Regenbo gen, und entzückte Organ durch die Perlglut, das Ungestüm und die Geschmeidigkeit ihres Leibes. Es verschlug ihm den Atem, so vollkommen war ihr vom Blau und Weiß der wir belnden Wasser umspülter Körper. Sie sprachen kein Wort, blickten einander nur an, um die in den Wassergüssen und Spritzern verschwimmenden Um risse der Gesichter ganz in sich aufzunehmen, und jagten unaufhaltsam durch den Ozean in ungeduldiger, immer ge spannterer Erwartung des Ortes und der Stunde, die ihnen das Schicksal ausersehen ... Aber jenen Ort erreichten sie nie, und nie hob sie an, jene Stunde... Meist endeten seine Träume abrupt — auf einmal brach alles ab, verflog wie Rauch. Dann befiel ihn Ratlosigkeit. Ernst haft verstimmt, empfand er noch lange danach Trauer,
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fühlte sich unbefriedigt, enttäuscht. Mitunter, nach langer Zeit, ließ er sich alles von Anbeginn wieder durch den Kopf gehen und grübelte über Sinn und Zweck, denn insgeheim glaubte er, was ihm geträumt, sei mehr als ein Traum. Denn ein alltäglicher Traum, wenn man sich seiner überhaupt er innert, ist bald für immer vergessen. Ein nichtiger Traum würde ihm doch keine Kopfschmerzen bereiten — was träumt man nicht alles! Organ jedoch konnte die Fischfrau nicht vergessen, sie lebte in seinen Gedanken, als sei sie wahrhaftig ein Teil seines Lebens. Deshalb wohl nahm sich der Alte alles so zu Herzen, hielt er seine im Traum erlebte Begegnung und unerwartete Trennung von der Fischfrau für Wirklichkeit. Am heftigsten quälte er sich jedoch, wenn der Traum schmerzlich endete. Dann packten ihn Verzweiflung und tiefe Betrübnis, vergeblich suchte er eine Erklärung für den rätselhaften Ausgang. Einmal träumte ihm, gleich würden sie den ersehnten Ort erreichen, schon winkte aus der Ferne ein Ufer. Es war das Ufer der Liebe, dorthin eilten sie mit Macht, getrieben von dem stürmischen Verlangen, es möglichst schnell zu errei chen, um sich dort einander hinzugeben. Das Ziel war gar nicht mehr weit, da stießen sie plötzlich gegen den Sandbo den einer Untiefe, das Wasser war nur knietief, sie konnten nicht schwimmen. Organ erschrak und sah: Die Fischfrau schlug wie toll um sich in dem seichten Wasser, bemühte sich vergebens, vom tückischen Grund loszukommen. Mit kaltem Schweiß bedeckt, eilte Organ ihr zu Hilfe. Aber eine Ewigkeit verging, während er, in dem sandigen Boden ein sinkend, auf Knien zu ihr kroch und die Beine, die ihm nicht gehorchten; nachzog. Schon war die Fischfrau ganz nah, fast hätte er die Hand nach ihr ausstrecken können, doch sie zu erreichen war qualvoll, er keuchte, schluckte Wasser, versank in dem schlammigen Boden, verhedderte sich in klebrigen Wasserpflanzen. Und noch quälender war zu se hen, wie seine wunderschöne Fischfrau im Sand zappelte
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und um sich schlug. Als er sich endlich zu ihr durchgekämpft hatte und sie, taumelnd vor Benommenheit, ans Ufer trug, spürte er ihr Herz klopfen, zum Zerspringen angstvoll — wie bei einem nach einer Verfolgungsjagd eingefangenen, ange schossenen Vogel. Voll Zärtlichkeit und Mitleid preßte er sie an sich, als trüge er auf den Armen ein hilfloses Kind, und ein Schluchzen stieg ihm in die Kehle. Tief bewegt, schämte er sich doch vor der Fischfrau und unterdrückte das Weinen. Er trug sie mit stockendem Herzen, glitt schwe bend voran, verhielt beim Fluge in der Luft, bei jedem Schritt um sie besorgt. Aber die Fischfrau flehte ihn an, be schwor ihn unter Tränen, er möge sie zurücktragen in die See, in die Freiheit. Sie keuchte, sie verging, sie konnte ihn nirgendwo sonst lieben als im großen Meer. Sie weinte und sah ihn schweigend so bittend und eindringlich an, daß er nicht länger widerstand. Er machte kehrt, ging über die Sandbank zum Meer, tiefer und tiefer ins Wasser, und ließ sie schließlich behutsam aus seinen Armen gleiten. Die Fischfrau schwamm hinaus in die See, er aber blieb zu rück, betäubt und einsam. Er blickte ihr nach und erwachte laut schluchzend ... Wo schwimmst du, Große Fischfrau? Dies Meer ist meine Sehnsucht, diese Wasser sind meine Tränen. Die Erde aber — mein einsam Haupt! Wo schwimmst du, Große Fischfrau? Unsagbar schmerzlich war für ihn die Erinnerung, als hätte er die Fischfrau wirklich im Arm gehalten und wieder freige geben. Woher mochte das kommen? Ließen sich die Wün sche des Menschen denn nicht im Traum erfüllen? Von wem oder wovon hing das ab? Worin lag hier der Sinn? Organ verlor sich in Mutmaßungen, wollte diese Gedanken ab schütteln, die Fischfrau vergessen, nicht mehr an sie denken. Doch sobald er auf See war, dachte er doch wieder an sie, ganz unwillkürlich. Auf dem Meer durchlebte er seine unge
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wohnliche Traumgeschichte immer von neuem und fragte sich, nüchtern überlegend, verwundert: Warum nur ging sie ihm nicht aus dem Sinn, was sollte in seinen Jahren diese Sehnsucht nach einer nicht existierenden Fischfrau? Er machte sich Vorwürfe und mußte sich dennoch eingeste hen: Ohne sie wäre er sich schon selbst zur Last — schließ lich war er nicht mehr jung, die Kräfte hatten nachgelassen und das Augenlicht, die Schönheit war geschwunden, die Zähne waren ausgefallen. Alles, wessen er sich einst rühmen durfte, schwand dahin, wurde zerstört, der Tod lauerte be reits, doch seine Brust ergab sich nicht, „Wünsche lebten in ihr wie in der verflossenen Jugendzeit — welch ein Kreuz, daß die Seele nicht altert! Daher diese Gedanken, daher diese Träume, denn nur im Traum und in Gedanken fühlt sich der Mensch unsterblich und frei. In seinen Sehnsüchten schwingt er sich auf zum Himmel und taucht hinab in die Tiefe der Meere. Darin liegt ja auch seine Größe, daß er bis zu seiner Todesstunde über alles, was es im Leben gibt, nachdenkt. Der Tod aber achtet dessen nicht — was küm mert es ihn, daß da ein Mensch gelebt, welchen Höhenflug sein Denken erreicht und welche Träume er gesehen hat, was kümmert es ihn, wie dieser Mensch gewesen, was sein Verstand vermocht hat? Dem Tod ist das einerlei. Warum? Weshalb ist es so eingerichtet auf Erden? War die Fischfrau auch nur ein Traum, Hauptsache, dieser Traum begleitete ihn auch dort in jener Welt... Wie Organ an die Fischfrau glaubte, so glaubte er auch, daß das Meer ihm Gehör schenkte. Hier atmete er frei, hing un gehindert seinen Gedanken nach. Hier ließ er seinen Gefüh len freien Lauf. Gedankenverloren fragte er sich sogar mit unter: Bin ich vielleicht hier mit ihr entlanggeschwommen? In solchen Minuten stopfte er frisch seine Pfeife, sog genie ßerisch den Tabaksrauch ein. Wo mag es nur wachsen, die ses scheinbar giftige und doch das Herz erleichternde Kraut... In der Mandschurei, sagen die Kaufleute. Von dort bringen sie es mit. Fern ist diese Mandschurei, ach, so
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fern, keiner von uns war je dort ... Ob da wirklich der Ta bak wächst wie das Gras im Wald? Was es nicht alles gibt auf Erden, Wunder über Wunder ... Die Sonne hatte den Mittag bereits überschritten. Ein paar mal war sie hinter den Wolken verschwunden, die plötzlich am Horizont auftauchten, als verberge sich dort ein Unwet terhorst — dann trübte sich das Meer jedesmal im Nu, sein Antlitz verfinsterte sich, rundum wurde es düster und unge mütlich. Sooft sie aber wieder hervorlugte, zwischen den Wolken aufstrahlend, übersäte sie das Meer frühlingshaft verschwenderisch mit Myriaden quicklebendiger, badender Lichtpünktchen, die so glitzerten, daß die Augen schmerz ten, und wieder wurde einem froher ums Herz. Kirisk hatte sich mittlerweile ans Meer gewöhnt und lang weilte sich sogar schon ein wenig, dennoch konnte er nicht genug staunen über die gewaltige Größe, die Unermeßlich keit des Ozeans. So weit sie fuhren — ein Ende war nicht ab zusehen. Auf der Erde, wie groß sie auch sein mochte, hätte er darüber nie so gestaunt wie auf See. Die Erwachsenen aber wunderten sich kein bißchen. Für sie war alles ein gewohntes Bild. Emraijin und Mylgun ruderten noch immer gleichmäßig, führten die Ruder ohne Eile durchs Wasser. Sie arbeiteten unermüdlich und gestatteten nicht einmal Organ, sie für eine kurze Ruhepause abzulö sen. Er solle ihnen lieber auf dem Rückweg helfen, sagten sie, wenn das Boot schwer beladen sei, jetzt solle er nur ru hig steuern. Der alte Organ mit seinem langen Hals und dem vorstehenden Adamsapfel saß geduckt wie ein auf Beute lauernder Seeadler im Heck. Meist schweigsam, in Gedanken versunken. Das Boot aber fuhr dahin, glitt wiegend über die Wellen. Immer noch herrschte der gleiche leichte Seegang. Und un verändert Bodenwind. So fuhren sie ... „Atkytschch! Da ist die Insel! Die Kleine Zitze!“ rief plötz lich Kirisk froh und zupfte Organ am Ärmel.
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„Wo ist die Insel?“ Organ wollte es nicht glauben, er be schirmte die Augen mit der Hand. Auch die Ruderer wand ten erstaunt den Kopf, wohin der Junge wies. „Unmöglich'^ murmelte der Alte, denn der Junge zeigte in eine ganz falsche, für sie überraschende Richtung. Kirisk hatte nicht gelogen. Dort, in weiter Ferne, zeichnete sich im Meer tatsächlich ein regloser, unebener, schmutzig brauner Streifen ab, als rage mitten aus dem Wasser ein Stück Land. Lange spähte Organ dahin. „Nein, das ist keine Insel“, sagte er schließlich überzeugt. „Bis zur Kleinen Zitze müssen wir noch geradewegs auf den Sonnenuntergang zuhalten, so, wie wir fahren. Das dort liegt ganz abseits. Und ist keine Insel“, fuhr er fort. „Meiner Meinung nach — bestimmt keine Insel.“ „So eine Insel hat es in diesen Gewässern noch nie gegeben, nie haben wir eine solche Insel gesehen“, sagte Mylgun. „Die Kleine Zitze liegt links, was das ist, weiß ich nicht.“ „Vielleicht eine Nebel- oder eine Wolkenbank?“ fragte Em raijin. „Oder es bricht sich eine Woge, nur, warum bewegt sie sich nicht?“ „Ja, wenn wir das wüßten ... Nebel oder Wolken? Ziem lich weit weg von hier. Aber eine Insel ist es nicht“, er wog Organ. „Doch falls es Nebel ist, erwartet uns nichts Gutes.“ „Hauptsache, der Wind springt nicht um“, meinte Emraijin und legte sich in die Ruder. „Steht an einem Fleck und rührt sich nicht. Wir jedenfalls haben dort nichts zu suchen, mag es sein, was will...“ Zunächst war Kirisk enttäuscht, daß sie mit seiner Entdek kung nichts Rechtes anzufangen wußten, doch das war schnell vergessen. Die Jäger hatten sich nicht geirrt. Bald tauchte zur Linken die Kleine Zitze aus dem Wasser. Das nahm alle Zweifel. Die Insel erwies sich als ein höckriges Stückchen Land voller Steine und sah wahrhaftig aus wie eine Zitze. Bei ihrem Anblick belebten sich alle, besonders Kirisk — also
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war das Meer doch nicht unendlich. Hier nun begann das spannendste Abenteuer der Fahrt. „Na, siehst du“, Organ tätschelte Kirisk durch die warme Kapuze. „Der Scheckige Hund hat uns zur Insel geführt, obwohl er selber zu Hause geblieben ist. Ist auch gut so, er wäre ja doch nur ertrunken, stimmt's?“ „Klar!“ bestätigte Kirisk, auf das Spiel eingehend. „Wir brauchen den Scheckigen Hund ja gerade, damit er unser Heim bewacht und damit wir, ihn in Gedanken vor Augen, den Weg nicht verlieren und unsere Jagdplätze er reichen. Was meinst du, ob wir den Scheckigen Hund noch brauchen?“ „Nein“, entgegnete Kirisk, wiederum fest überzeugt. „Jetzt sehen wir selber, wohin wir fahren müssen.“ „Na, überleg mal“, ermahnte ihn Organ. „Du bist doch ge scheit, solltest lieber noch mal nachdenken.“ Kirisk verstand nicht, wozu ihnen auf dem Meer bei dieser fernen Insel der Scheckige Hund noch gut sein konnte. „Was sollen wir hier mit unserm Scheckigen Hund?“ „Und wie willst du heimfinden? Welche Richtung einschla gen? Na? Erraten? Du mußt dir merken, woher wir kom men, welche Inselseite auf den Scheckigen Hund blickt. Dann wirst du auch den Weg zurück wissen, wenn es nach Hause geht.“ Insgeheim gab Kirisk ihm recht, doch seine Eigenliebe war verletzt, und wohl deshalb fragte er leicht aufbrausend: „Und wenn es finster ist? Wenn wir nachts auf dem Meer sind und nichts mehr sehen, was dann? Wie sollen wir da wissen, wo der Scheckige Hund ist?“ „Auch dann finden wir es heraus“, erwiderte Organ ruhig. „Dafür gibt es Sterne am Himmel. Die Sterne täuschen nie, sie weisen uns stets den Weg. Du müßtest nur wissen, wo welcher Stern steht. Wirst es schon lernen. Kennst du das Sternbild der Ente Luwr?“ „Ich glaube schon“, sagte Kirisk und blickte verstohlen zum Vater. Emraijin half dem Sohn aus der Verlegenheit: „So
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ungefähr kennt er's. Ich habe es ihm einmal gezeigt. Aber das reicht nicht. Er muß noch lernen ...“ So fuhren sie dahin und näherten sich allmählich der Insel. Als schon einzelne Steine und Felsen am Ufer zu erkennen waren, lenkten sie das Boot um die Insel herum und betrach teten aufmerksam den Ufersaum, um die Lagerstätten der Robben auszumachen. Kirisk ließ den Blick eifrig wandern, zu gern wollte er als erster eine Herde entdecken. Man hatte ihn gewarnt, falls er die Tiere bemerkte, ja nicht unnütz Lärm zu schlagen. Organ hatte gesagt, die Robben lägen zwischen den Ufersteinen am Wasser, sie kämen an Land gekrochen, um sich in der Sonne zu wärmen. Man „müsse herausfinden, wo sie lagerten, dann verdeckt anlegen und sich unbemerkt heranschleichen, um sie nicht zu erschrek ken. Kirisk aber erspähte nichts. Die Ufer lagen öde und leer. Weit und breit nichts als Steinbrocken, bizarr verwittert im Laufe der Zeit. Rings um die Insel toste als weißschäu mender, brodelnder Ring die Brandung, ständig bemüht, die aufeinandergetürmten vereisten Steine in steilem Satz zu überspringen. Nein, auf dieser kleinen Insel fiel Kirisk nichts ins Auge. Nur Steine über Steine und kein einziges lebendi ges Wesen. Mylgun sah sie als erster. Und während Kirisk noch den Kopf hin und her drehte, weil er die Robben auch sehen wollte, ruderten die Männer von der Stelle weg, damit das Boot vom Lagerplatz aus nicht sichtbar war. Der alte Organ aber wußte genau, daß Kirisk nichts wahr genommen hatte. „Na, hast du sie entdeckt?“ fragte er. Der Junge traute sich nicht zu lügen. „Nein“, bekannte er. „Wir fahren noch einmal heran“, befahl Organ. „Du mußt lernen, sie zwischen den Steinen zu unterscheiden. Sonst wird aus dir nie ein Jäger.“ Die Ruderer gehorchten, lenkten das Boot an den alten Platz, obwohl das gewagt war. Eine einzige Robbe brauchte
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Alarm zu schlagen, und schon würde sich die ganze Herde ins Wasser stürzen. Doch zum Glück bemerkten die Robben die Jäger nicht. Sie lagen hinter einem Steinwall, inmitten von unförmigen, wahllos verstreuten Gesteinsbrocken, fast unmittelbar am Wasser. „Siehst du den spitzen Stein dort, der aussieht wie ein abge brochener Hauer, und nicht weit davon so einen rötlichen, vereisten Hügel? Sieh mal dazwischen durch!“ sagte Myl gun zu Kirisk. „Hügel?“ Kirisk befolgte seinen Rat. Mylgun und Emraijin gaben sich redlich Mühe, das Boot auf der Stelle zu halten. Da endlich erblickte Kirisk die Rücken der Seetiere — ihre riesigen ge schwänzten Leiber. Die gefleckten glänzenden grauen Rük ken lagen regungslos. Aus der Ferne vermochte ein ungeüb tes Auge sie nicht von den Steinen zu unterscheiden. Den Jungen packte heftige Erregung. Jetzt ging's los, da wa ren sie, die Seetiere! Nun begann die große Jagd! Als sie dann anlegten, klopfte sein Herz wild, wußte er sich nicht zu fassen vor Verwegenheit und Entzücken. Vor Ver wegenheit, weil er sich stark und wichtig vorkam. Und vor Entzücken, weil er sah, wie zügig und aufeinander abge stimmt die Jäger handelten: Sie bugsierten das Boot dicht ans Ufer, Emraijin und der alte Organ hielten es mit Ruder schlägen in der Brandung, Mylgun aber paßte einen günsti gen Augenblick ab, sprang auf den Geröllrand und zog das Boot an einer zugeworfenen Leine, die er sich über die Schulter nahm, näher heran, worauf der Vater die Winche sterbüchsen ergriff und auch ans Ufer sprang. Ihm folgte dann, unterstützt vom alten Organ, Kirisk, wenn er sich da bei auch nasse Füße holte und vom Vater einen leisen Ver weis einstecken mußte. Im Boot blieb nur Organ, um es beim Ufer zu halten, die drei aber — Emraijin, Mylgun und Kirisk — eilten, instinktiv gebückt, in schnellen Sprüngen von Deckung zu Deckung, am Ufer entlang zum Lagerplatz. Kirisk blieb nicht zurück,
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er spürte, wie sein Herz wild in der Brust klopfte und ihm hin und wieder schwindelte vom erhebenden Gefühl der Freude und Erregung. „Wenn ihn doch jetzt die Leute der Fischfrau sehen könnten, wie er sich mit den großen Jägern an die Seetiere heran pirschte! Ach, wie stolz wäre die Mutter auf ihn, den künfti gen großen Jäger und Ernährer der Sippe! Erwünschte sich auch, daß Musluk ihn sehen könnte, seine Spielgefährtin, mit der er nie mehr spielen würde, weil er von heute an ein Jäger war — ach, könnte sie nur sehen, wie er, fern vom hei matlichen Scheckigen Hund, über zerklüftete Felsen und Steine ein unbekanntes, tosendes Ufer entlang zum Lager platz der Robben eilte. Was tat's, daß Mylgun und Emraijin die Winchesterbüchsen trugen: Der Vater hatte verspro chen, ihm ein Gewehr in die Hand zu geben, sowie es Zeit wäre zu schießen. So schlichen sie sich an den Lagerplatz heran, dann krochen sie auf der Erde — auch Kirisk. Über die scharfen Steine und das schartige Eis zu kriechen war schwer und unbequem, aber Kirisk begriff, es mußte sein. Sie krochen keuchend, schweißüberströmt, schöpften hin und wieder Atem und sahen sich um. Und hielten stumm inne, als der Augenblick gekommen war, anzulegen und zu schießen. Nie im Leben würde Kirisk diese Stunde vergessen, diesen Frühlingstag, diese kalte, steinige Insel im endlosen, gewalti gen Meer, die zerklüfteten, dunklen, rötlichen Felsbrocken, von einer wahnwitzigen Kraft aus dem Boden gerissen und verstreut, diese kahle, noch gefrorene Erde, hart und leblos, auf der er bäuchlings lag, neben sich den Vater und Mylgun, die sich aufs Schießen vorbereiteten, vor sich aber, in einer flachen Mulde dicht am Meer, zwischen bemoosten, unför migen, von Winden und Stürmen verwitterten Gesteins trümmern, die kleine Robbenherde, die einstweilen noch nichts argwöhnte und ruhig liegenblieb. Und über ihnen, über dem Lagerplatz, über der Insel, über dem Meer der
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dunstige, erstarrte Himmel, der, wie ihn dünkte, gespannt den ersten Schuß erwartete. Wenn ich nur treffe! dachte er, während er die Schulter an den Kolben der Winchesterbüchse drückte, die ihm der Va ter gereicht hatte. In jenem kurzen, langersehnten Augenblick, da er sich stolz bereits als ruhmreichen, kühnen Jäger sah, bestürzte ihn plötzlich, daß die lebendigen Rücken dieser unförmigen, fetten Tiere, die sich, auf karge Sonnenwärme hoffend, in der Steinsenke drängten, so wehrlos und verwundbar wa ren. Doch dieser Skrupel war im Nu verflogen. Er besann sich, daß er Jäger war, daß die Menschen von ihm Beute er warteten, daß sie ohne Robbenfleisch und Robbenfett hun gern und darben müßten, und dann durchzuckte ihn der Ge danke, er müsse als erster schießen und zeigen, was in ihm steckte. Er nahm allen Mut zusammen und zielte mit siche rer Hand, wie der Vater geraten hatte, unter die linke Flosse, ein wenig höher und eine Spur weiter rechts... mit ten ins Herz des kräftigen, gefleckten Seehundes. In unguter Vorahnung hob das Tier plötzlich lauschend den Kopf, ob wohl es die Jäger nicht sehen und auch nicht wittern konnte — der Wind blies vom Meer. Um besser zielen zu können, mußte Kirisk etwas zur Seite rücken — irgendein Schatten war da vorn hinderlich —, mußte er äußerst behutsam seine Lage verändern, aber da löste sich ein Stein unter seinem El lenbogen, rollte den Hang hinab und riß andere Steine mit. Der gefleckte Seehund stieß ein kurzes Bellen aus, die Herde schrak hoch und wälzte sich heulend zum Wasser. Doch noch ehe die Tiere sich in Bewegung gesetzt hatten, ertönte ein Schuß, der eine große Robbe am Rande der Herde umwarf — Mylgun hatte die Lage gerettet. Kirisk ver lor den Kopf. „Schieß!“ befahl Emraijin. Die Schulter erhielt einen heftigen Schlag, der Schuß dröhnte, und alles versank in Totenstille. Kirisk schämte sich unsäglich, daß er nicht getroffen hatte und die Jagd sei
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netwegen scheiterte. Doch der Vater steckte ihm eine neue Patrone zu. „Lad und schieß schnell!“ Was eigentlich gar nicht so schwierig war: laden und schie ßen — wie oft hatte Kirisk das beim Üben im Handumdrehn getan! —, machte ihm jetzt Mühe. Das Schloß seiner Win chester klemmte. Inzwischen feuerte Mylgun kniend noch zweimal auf die zum Wasser hastenden Robben. Eine ver wundete er, sie wand sich in Zuckungen am Uferrand. Die Jäger liefen hin. Die Herde verschwand bereits im Meer, auch das angeschossene Tier mühte sich nach Kräften, ins Wasser zu kriechen. Als die Männer ankamen, hatte die Robbe das Wasser bereits erreicht; einen blutig wogenden Fleck hinter sich herziehend, glitt sie hinein, tauchte, mit den Flossenfüßen rudernd, immer tiefer in das durchsichtige Meer. Deutlich sah man ihre schreckensstarren Augen und den zart-fliederfarbenen Rückenstreifen, vom Nacken bis zum Schwanzende. Mylgun ließ die hochgerissene Winche ster sinken — die Robbe jetzt fangen zu wollen war sinnlos. „Laß ab, sie geht ohnehin unter“, sagte Emraijin. Kirisk stand atemlos da, niedergedrückt, mit sich unzufrie den. Er hatte ganz anderes erwartet. Ein schöner Jäger war er! Wortlos verbiß er sich die Tränen der Scham. So nahm er sich alles zu Herzen. „Du wirst schon noch Glück haben“, beschwichtigte ihn Mylgun, als sie später die erlegte Robbe ausweideten. „Gleich fahren wir zur Mittleren Zitze, dort sind mehr Tiere.“ „Hätte ich bloß nicht zu hastig ...“, setzte Kirisk an, doch der Vater unterbrach ihn: „Versuch nicht, dich herauszure den. Mit dem ersten Schuß wird keiner zum Jäger. Nur nicht den Kopf hängen lassen, schießen kannst du doch, und die Beute läuft dir nicht davon.“ Kirisk schwieg sich aus, war den Erwachsenen aber insge heim dankbar, weil sie ihm keine Vorwürfe machten. Er nahm sich ein für allemal fest vor, bei der Jagd stets Ruhe zu
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bewahren, sich nicht ablenken zu lassen, nicht aufs Gerate wohl zu schießen, sondern, wie der Vater lehrte, erst dann, wenn Auge und Atem mit dem Visier verschmelzen. Dann erst abdrücken! Die Robbe war groß und schwer, noch ganz warm, wie le bendig. Zufrieden rieb sich Mylgun die Hände, als er das Tier vom Bauch her ausnahm. „Vier Finger breit Fett, siehst du? Schön!“ Kirisk hatte seinen Kummer bereits vergessen und half mit Feuereifer. Emraijin war indes zum alten Organ gegangen, um das Boot in der Nähe an Land zu ziehen. Bald kam er besorgt zurück. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, beeilt euch!“ Und nach einem Blick zum Himmel setzte er beiläufig hinzu: „Das Wetter gefällt mir nicht...“ Rasch hatten die Jäger die Robbe ausgeweidet, behielten von den Innereien nur Leber und Herz; den Tierkörper schleppten sie auf zusammengebundenen Stangen zum Boot. Kirisk lief hinterdrein, er trug die beiden Winchester büchsen. Am Ufer neben dem Boot erwartete sie Organ. Der alte Mann freute sich. „Mag unser höchster Gott Kurng nur ver nehmen, wie zufrieden wir sind! Für den Anfang ist das gar nicht schlecht!“ erklärte er und zückte sein Messer. Vor ih nen lag das Wichtigste nach der Jagd — der Verzehr der ro hen Robbenleber. Organ hockte sich über den aufgeschlitz ten Robbenleib und schnitt die Leber in kleine Teile. Die Jä ger würzten die Leberstückchen mit etwas Salz und aßen sie, schmatzend vor Wonne. Die Leber war schmackhaft — zart, warm, sättigend. Sie schmolz im Mund, letzte die Zunge mit fettem Saft. Kirisk Traum hatte sich erfüllt — wie ein echter Mann aß er rohe Leber bei der Jagd! „Iß nur, iß mehr!“ riet Organ dem Jungen. „Die Nacht wird kalt, du wirst durchfrieren. Leber aber wärmt vortrefflich. Sie ist das beste Mittel gegen alle Krankheiten.“
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Ja, das war herrlich. Wohl gesättigt, verspürten sie alsbald heftigen Durst. Das Wasser aber war in einem Fäßchen im Boot. „Das Zerteilen des Tiers hat Zeit bis später“, sagte Emraijin, als sie mit dem Essen fertig waren, und blickte erneut be sorgt zum Himmel. „Das eilt nicht“, meinte auch Organ. „Und Tee brühen wir uns zur Nacht, wenn wir uns auf der Mittleren Zitze einge richtet haben. Vorerst kommen wir so aus. Wir wollen lieber aufladen.“ Vor der Abfahrt vergaßen die Jäger nicht, die Erde zu be wirten. Sie verstreuten das kleingeschnittene Robbenherz und baten dabei den Herrn der Insel, ihnen auch beim näch sten Mal Erfolg zu schenken. Dann fuhren sie wieder hinaus aufs Meer. Die Kleine Zitze blieb zurück. Die einsame, verwaiste kleine Insel inmitten des düsteren Wassers weckte ein Gefühl der Wehmut und der Unbehaustheit. Sie hielten Kurs auf die Mittlere Zitze. Schon ging der Tag zur Neige. Die Männer legten sich in die Ruder, sie wollten noch bei Tageslicht die Mittlere Zitze erreichen, dort an geschütztem Ort das Boot festmachen und übernachten. Bald war die Kleine Zitze ver schwunden, wie ins Meer getaucht, die Mittlere jedoch war noch nicht zu sehen. Wieder erstreckte sich weit und breit nur Wasser. Während der Robbenjagd hatte sich das Meer merklich ver ändert. Der Seegang war jetzt stürmischer, stärker. Noch rollten die Wassermassen in die alte Richtung, doch der Wind war bereits umgeschlagen. Das Boot wurde nun viel härter gerüttelt und geschaukelt. Vor allem aber beunru higte die Jäger der Himmel. Was verhieß er? Nichts als Rät sel und Überraschungen zu dieser Jahreszeit! Dunstschwa den, die wer weiß woher kamen, hingen am Firmament wie ein wogender weißlicher Schleier, als triebe der Höhenwind Rauch von fern tobenden ausgedehnten Waldbränden heran. 162
Und obwohl diese Trübung so hoch oben keinen störte, ver finsterten sich die Mienen. „Was braut sich da nur zusammen?“ murmelte Organ und blickte sich besorgt um. Jetzt fuhren sie voller Spannung, bei jedem Ruderschlag darauf gefaßt, daß vor ihnen Land auftauchte — die Mittlere Zitze, die bequemste und zuverlässigste von allen dreien. Indes hatte der Himmel sogar aufgeklart, die Sonne lugte wieder vom Meeresrand, wenn nicht gar vom Rand der Welt — zu fern und unwirklich war das. Man konnte in die Sonne sehen, ohne zu blinzeln. Klar umrissen und purpur rot, erlosch sie allmählich, leuchtete nur noch matt in jenem fernen rötlichen Rauchschleier. Der Himmel hatte sich ge öffnet, und wieder beherrschten Licht und Frieden die Welt. Das genügte, die Unruhe fiel von ihnen ab, und sie genossen auf dem Meer im voraus die Geborgenheit und Erholung auf der Insel. „Nur Geduld, gleich taucht die Mittlere Zitze vor uns auf“, sagte Organ zu Kirisk, der neben ihm saß, und klopfte ihm ermunternd auf den Rücken. Den Jungen plagte schon lange heftiger Durst, aber noch bezwang er sich, befolgte in kindlicher Naivität strikt das Gebot des Vaters. Dieser hatte ihm am Vorabend gesagt, bei einer Seefahrt sei das Trinkwasser stets knapp und man dürfe nicht unbedacht trinken wie zu Hause. Auf allen drei Inseln finde sich kein Tropfen Süßwasser. Das Boot aber dürften sie nicht unbegrenzt beladen. Zu trinken gebe es nur, wenn alle etwas bekämen. Während des hellen Zwischenspiels, als am plötzlich aufge klarten Himmel die Sonne hervorlugte, spürte der Junge die Zugänglichkeit des alten Organ. „Atkytschch! Ich habe solchen Durst!“ rief er tapfer lä chelnd mit einem Blick auf den Vater. „Soso!“ Organ schmunzelte verständnisvoll. „Kein Wunder nach dieser Leber! Natürlich! Wollen wir nicht alle trin ken?“ 163
Emraijin und Mylgun nickten. Das freute Kirisk — also hat ten alle Durst, nicht nur er allein. „Na, genehmigen wir uns einen Schluck, und dann stopfen wir das Pfeifchen!“ Mit diesen Worten klemmte der alte Or gan das Steuerruder fest, hob das Wasserfäßchen von Boots grund, stellte es handlich hin und goß das Wasser in dünnem Strahl über einen kleinen Schnabel in eine innen verzinkte Kupferkelle. Das Wasser war kalt und rein — es stammte aus der Quelle am seeabgewandten Hang des Scheckigen Hun des. Dort gab es das beste Wasser, klar und wohlschmek kend. Im Sommer roch es nach Gräsern und feuchter Erde. Die Kelle hielt Kirisk unter den Strahl. Zu gern hätte er sich schnell satt getrunken. Als die Kelle halbvoll war, unter brach der alte Organ den Strahl mit einem Spund. „Trink jetzt“, sagte er zu Kirisk. „Und dann gibst du den an deren. Verschütte aber nichts!“ Zuerst trank Kirisk gierig, dann langsamer, und da spürte er, das Wasser roch bereits nach gequollenem Holz. „Hast du genug?“ fragte Organ. „Ja.“ „Ich seh's an deinen Augen — noch nicht ganz. Sei's drum. Ich gebe dir noch eine Kleinigkeit. Leber ist was Kerniges und macht Durst, an Land würde man danach einen ganzen Eimer trinken“, sagte der Alte, während er Kirisk noch et was in die Schöpfkelle goß. Schließlich war sein Durst gestillt, und er begriff, wie recht die Erwachsenen hatten, wenn sie in derlei Fällen sagten: Och, wie leicht mir jetzt ums Herz ist! Dann erhielten auch die Ruderer je eine Dreiviertelkelle. Ki risk reichte sie ihnen. Jetzt hatte er nichts dagegen, daß auch der Vater und Mylgun nach Herzenslust tranken. Organ als Ältester hielt es jedoch für angebracht, dem Jungen zu erklä ren, warum er den Männern je eine Dreiviertelkelle ein goß: „Du bist noch schmächtig, aber sie, was sind das für Kerle! Und müssen schwer arbeiten! Rudern macht dur stig.“ 164
Die beiden Männer hatten tatsächlich im Nu ihre Kellen ge leert, mußten noch etwas nachbekommen. Diesmal erach tete es der alte Organ für nötig, sogar die Ruderer zu er mahnen: „Übertreibt's nicht, Brüder! Ihr sitzt nicht am Fluß!“ Emraijin und Mylgun lächelten nur. Wissen wir ja, hieß das, aber was ist da zu machen — wir hatten Durst. Sogar Organ wiegte, nachdem er seinen Anteil getrunken hatte, schmunzelnd den Kopf. „Tja, war gar nicht übel, an einem Fluß zu sitzen. Was für eine Kraft steckt doch in einer rohen Leber...“ Dann stopfte er sich die Pfeife, steckte sie an und paffte sie selig, ohne zu ahnen, daß er diese Freude nie wieder erleben würde ... Als erster entdeckte Kirisk das Unheil. Zuvor hatten sie ein paar wundersame Augenblicke der Ruhe genossen, zufrieden und glücklich, nachdem sie alle ihren Durst gestillt hatten. Die erste Robbe war erlegt, vor ihnen lag die Rast auf der Insel, und am frühen Morgen würden sie noch eine Jagd auf Seetiere machen. Und gleich danach ginge es nach Hause. Alles war in bester Ordnung. Das Boot fuhr gleichmäßig dahin, glitt, wie gewohnt, wie gend über die Wellen. Der alte Organ saß am Steuer, sog an seiner Pfeife und dachte wohl an seine Fischfrau. Emraijin und Mylgun ruderten unverdrossen, ohne Anstrengung, wie's schien, leicht, gleichmäßig, schön. Kirisk bewunderte unwillkürlich die Jäger. Dank einer jungenhaften Einge bung betrachtete er in jenem Augenblick aufmerksam jeden einzelnen, machte sich seine Gedanken über ihn. Unbewußt liebte er sie, war er stolz, daß er in dieser Stunde mit ihnen auf großer Fahrt war. Kirisk konnte sich diese Menschen nicht anders vorstellen. Der alte Organ mußte wohl immer, zu allen Zeiten, derselbe alte Mann gewesen sein — mit langem Hals und Adamsap
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fei, mit langen Fingern, knotig wie Wurzelstöcke, und stän dig tränenden, alles verstehenden Augen. Wie denn sonst? War denn ein Leben denkbar ohne den Ältesten, ohne die sen allseits geachteten Mann? Sollte so etwas möglich sein? Sonderbar! Die Mutter sagte immer wieder, Kirisk sehe dem Vater sehr ähnlich und werde später einmal sein Ebenbild sein. Die Augen seien gleich, sagte sie, eichelbraun, auch der Bart, sagte sie, werde einmal wie beim Vater wachsen — schwarz, kräftig und dicht. Nicht ohne Grund nannten alle Vater den Bärtigen Emraijin. Als Kirisk noch kleiner war und einmal nackt im Fluß badete, stieß seine Mutter ihre Schwester an: Sieh nur, sieh, der ganze Hausherr! Sie amüsierten sich über irgend etwas, wollten sich totlachen, flüsterten ausgelassen miteinander, und die Mutter meinte, wenn Kirisk später ein mal eine Frau kriegte wie sie selbst, die käme nicht zu kurz, die hätte es bestimmt gut, da sei sie sicher. Komisch, dachte Kirisk damals, was heißt, die kommt nicht zu kurz und wieso? Warum soll es seiner Frau gut gehen, wenn er dem Vater gleicht? Da sitzt er nun, der Vater, vorn im Boot und rudert. Schwar zer Bart, weiße Zähne. Breitschultrig, selbstsicher, stets aus geglichen. Kirisk entsinnt sich nicht, daß der Vater ihn je an geschrien, bemitleidet oder in Schutz genommen hätte wie andere. Seine Augen aber gleichen in der Tat reifen Eicheln, sie sind klar und voller Glanz. Hinter ihm, am ändern Ruderpaar, sitzt sein Vetter Mylgun, zwei Jahre jünger als der Vater. Er ist zwar der Vetter, hat aber fast keinen Bart. Und die paar Haare, die da wachsen, sind stachelborstig wie bei einem Walroßbart. Überhaupt sieht er aus wie ein Walroß. Mylgun redet gern und ereifert sich, wenn ihm etwas nicht paßt. Eine Beleidigung nimmt der von keinem hin — einmal hat er sich mit einem zugerei sten Kaufmann geprügelt. Da mußte sich die ganze Sippe entschuldigen und dem Mann gut zureden. Mylgun aber blieb starrköpfig. Obwohl klein von Wuchs und rund wie ein
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Holzklotz, ging er hoch und sagte, dem zeig ich's noch. Be trunken hatte er sich. Das geschieht oft. Ein paar Mann, dar unter Emraijin, wollten ihn binden, aber das war schwierig. Mylgun hatte Bärenkräfte. Für Kirisk ist er Aki-Mylgun — so nennt man einen älteren Verwandten. Mit dem Vater ist Mylgun befreundet, stets gehen sie zusammen auf Jagd, denn sie können sich aufeinander verlassen und sind beide gleichtüchtige Jäger. Mylgun hat einen Sohn, der gerade erst laufen lernt, und zwei ältere Mädchen. Kirisk läßt nicht zu, daß ihnen ein Leid geschieht — soll nur einer versuchen, ihnen zu nahe zu treten! Auch Mutter liebt Mylguns Töch ter, sie kommen oft gelaufen, um mit Psulk zu spielen. Die Allerschönste unter den Mädchen aber ist Musluk! Schade, es heißt, wenn sie groß ist, will man sie weggeben, in eine Nachbarsippe verheiraten. Er müßte sie sich ganz einfach schnappen und nicht hergeben ... Kirisk hatte selten an so etwas gedacht, jetzt aber, weit weg von zu Hause, bekam das Alltägliche für ihn einen nie ge kannten ergreifenden Sinn. Plötzlich empfand er heftiges Heimweh, es zog ihn hinter den Scheckigen Hund, wo in einem Flußtal am Waldhang die uralte Siedlung der Küsten-Niwchen lag, der Nachkom men der Fischfrau. Er sehnte sich so nach seiner Mutter, daß ihm das Herz weh tat. Aber sie waren so fern von der hei matlichen Küste, so fern vom vertrauten Scheckigen Hund, der unentwegt geschäftig am Rande des ewigen Meeres ent langlief. Unwillkürlich drehte Kirisk sich sogar um, als wolle er sich vergewissern, daß es unendlich weit war, und wäh rend er in die Runde blickte, sah er das Unerwartete. Über das Meer, fast den halben Horizont überziehend, schob sich in zwei breiten, sich vereinigenden Zungen eine dichte graue Nebelwand auf sie zu. Der Nebel näherte sich merklich, ballte sich kraftvoll über der schwarzen Wasserflä che, machte sich unerbittlich im ganzen Umkreis breit. Wie ein Lebewesen kam er heran, wie ein Ungeheuer, drauf und dran, sie zu schnappen und zu verschlingen — mitsamt dem
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Boot und der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Welt. Der Nebel quoll ausgerechnet von der Seite, wo Kirisk jenes Un bestimmbare gesehen hatte, jene im Meer erstarrte graue Masse, die ihm von fern wie eine Insel erschienen war. Jetzt trieb diese Masse, zusehends quellend und wachsend, auf sie zu — lautlos und unaufhaltsam, vom Wind gejagt. „Seht nur, seht!“ schrie Kirisk erschrocken. Alle zuckten zusammen. Das Boot, für einen Moment ohne Steuerung, begann zu schlingern. Im selben Augenblick er reichte sie das drohende Tosen einer gewaltigen Welle, die unter der Nebelwand hervorbrach. Mit immer stärker an schwellendem Brausen wälzte sie sich heran, bäumte sich auf, schoß hoch und stürzte zusammen. „Wenden!“ schrie Organ verzweifelt. „Ihr entgegen!“ Kaum hatten die Ruderer das Boot der Woge entgegen gedreht, da warf auch schon der erste Sturmstoß Organs Kajak beinahe um. Die Welle war durchgerast, eine empörte See im Gefolge, und hinterdrein drängte bereits der Nebel. Als die aufziehende Nebelwand schon fast heran war, sah man deutlich, mit welch düsterem Triumph, mit welch un heilverheißender Hartnäckigkeit und Unerbittlichkeit dieses geballte, lebendige Dunkel vorwärtsschoß. „Merkt euch den Wind! Merkt euch den Wind!“ vermochte Organ gerade noch zu rufen. Dann versank jäh alles in un durchdringlicher Finsternis. Der Nebel stürzte herab wie eine Lawine, begrub sie in abgrundtiefem, unermeßlichem Dunkel. Mit einemmal, innerhalb eines Augenblicks, waren sie in eine andere Welt geraten. Alles war verschwunden. Von diesem Moment an gab es weder Himmel noch Meer noch Boot. Sie erkannten nicht einmal ihre Gesichter. Und von diesem Moment an hatten sie keine Ruhe mehr — die See tobte. Das Boot wurde hochgeschleudert und wieder hinabgeworfen, abermals jäh hochgerissen und jäh hinun tergezogen, in die sich öffnenden Schluchten zwischen den Wellenbergen. Schaumspritzer und Brecher durchnäßten ihre Kleidung, machten sie schwer. Aber das Schlimmste
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war, daß sie in dem dichten Nebel nichts mehr sahen, buch stäblich nichts, daß sie nicht unterscheiden konnten, was sich auf dem Meer tat, wie sie sich verhalten mußten. Nur eines blieb ihnen — auf gut Glück zu kämpfen, blindlings, um nur ja das Boot auf dem Wasser zu halten und zu verhin dern, daß es kenterte. Nun konnte nicht einmal die Rede da von sein, auf eine bestimmte Richtung zu achten. Die entfes selten Wogen trugen das Boot launisch ins Ungewisse, und ungewiß blieb, wie lange dies noch währte. Kirisk hatte auch früher schon gehört, daß Jäger auf See in Unwetter gerieten, bisweilen für immer verschollen blieben, dann ließen Frauen und Kinder in ihrem Leid viele Tage lang an den Hängen des Scheckigen Hundes die Feuer nicht ausgehen, erfüllt von der hoffnungslosen Hoffnung: Viel leicht geschieht doch noch ein Wunder ... Aber selbst dann hatte er nicht im entferntesten geahnt, wie schrecklich und unfaßbar es ist, auf offenem Meer umzukommen. Und noch viel weniger hatte er vermutet, daß harmlose Nebel, diese schweigsamen Gäste zur Winterszeit, über die er sich stets so freute — tauchte doch dann die ganze, durch milchige Stille verzauberte Welt unter einen gleichmäßigen weißen Schleier, alle irdischen Dinge schwangen sich gleichsam in die Luft, wo sie gespenstisch erstarrten, und in Erwartung einer märchenhaften Erscheinung beschlichen unerklärli ches Grauen und Mattigkeit das Herz —, nie hatte er vermu tet, daß sich diese Nebel in solch einen drohenden und allge genwärtigen Feind verwandeln konnten. Wie sie sich so ball ten, dahinglitten, zerflossen und sich dann wieder ballten, hatten die dunklen Nebelschwaden, die da über das entfes selte Meer stürmten, etwas Schlangenhaftes ... An seinen Sitz gekrallt, preßte sich Kirisk in seiner Angst krampfhaft an die Beine des alten Organ. „Halt dich fest an mir! Ganz fest!“ schrie ihm Organ ins Ohr, mehr konnte er dem Jungen nicht sagen, mehr konnte er nicht tun für ihn. Keiner der Männer vermochte Kirisks Los zu erleichtern,
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denn allen erging es gleich schlimm angesichts des wütenden Elements. Selbst wenn Kirisk aufgeschrien, geweint oder nach dem Vater gerufen hätte — Emraijin hätte sich nicht vom Fleck gerührt, denn wenn sich das Boot hielt, so nur, weil er und Mylgun verzweifelt mit den Rudern balancierten und den überkippenden Brechern zuvorkamen. So trugen die Wellen das Boot unaufhaltsam ins Dunkel des undurchdringlichen Nebels. Organ versuchte noch, irgendwie das Steuer zu führen, um eine Richtung beizubehalten, aber der Sturm wurde immer wütender. Vielleicht war schon Mitternacht. Im Nebel ließ sich die Ta geszeit schwer bestimmen. Den Anbruch der Nacht konnten sie nach der sich verdichtenden beklemmenden Finsternis nur erahnen. Und schon lange tobte in dieser Finsternis der pausenlose, zermürbende, ungleiche Kampf. Noch hegten sie die verzweifelte Hoffnung, der Sturm würde sich ebenso plötzlich legen, wie er begonnen, der Nebel würde sich zer streuen und sie könnten dann überlegen, was weiter zu tun sei. Einmal schien sich dieser Wunsch fast zu erfüllen. Es sah ganz so aus, als flaute der Sturm ab, das Schlingern des Boo tes ließ nach, Gischt und Spritzer verebbten. Doch noch im mer umgab sie diese undurchdringliche Dunkelheit, tief, boshaft-schwarz. Als erster übertönte Organ das Tosen des Meeres: „Ich bin's! Kirisk ist bei mir! Hört ihr mich?“ „Wir hören! Sind an unserem Platz!“ krächzte Emraijin. „Wer hat sich den Wind gemerkt?“ schrie Organ. „Was soll das?“ schrie wütend Mylgun. Der Alte verstummte. Wahrhaftig, die Windrichtung be sagte jetzt gar nichts. Schwer zu sagen, wohin es sie ver schlagen hatte, wo sie sich befanden — ob fern oder nah der Inseln, die ihnen als Orientierungspunkte hätten dienen können. Vielleicht würde es sie noch so weit abdrängen, daß sie ihre Insel-Zitzen nie mehr fänden. Und so verstummte er, niedergedrückt durch das Dunkel und das Schlingern. So verstummte, in schwere Gedanken versunken, der Große Organ. Ein Glück noch, daß sie, dank dem Willen des
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Schicksals, die Inseln umfahren hatten; sonst wären sie ret tungslos an den Küstenklippen zerschellt. Doch ohne die In seln und ohne die Sterne gab es für sie inmitten von Nacht und Nebel keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Organ fehlte die Kraft, etwas zu erwidern. Trotzdem schrie er nach einer Weile: „Als wir uns gegen den Sturm drehten, blies ein Nordost — der Tlangi-la!“ Keiner antwortete. Den Ruderern war nicht nach Reden zu mute. Und wiederum verstummte Organ. Kirisk, der zu sei nen Füßen kauerte, zitterte am ganzen Leibe. Da erklärte Organ den Ruderern: „Kirisk und ich werden jetzt Wasser schöpfen, bleibt ihr an euern Plätzen!“ Er beugte sich zu Kirisk hinab, ertastete ihn im Dunkeln und sagte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Junge un versehrt war: „Keine Bange, Kirisk. Komm, wir schöpfen Wasser. Sonst ergeht's uns schlecht. Wir haben nur ein Schöpfgefäß, da hab ich es, du nimm die Kelle dort, ist bes ser als gar nichts ... Hältst du sie? Nimm die Kelle, sag ich ...“ „Ja, Atkytschch! Kann das lange dauern? Ich habe Angst.“ „Ich auch“, entgegnete der alte Organ. „Aber wir sind Män ner, wir müssen durchhalten.“ „Wir ertrinken doch nicht, Atkytschch?“ „Nein ... Und wenn wir ertrinken, dann soll es so sein. Aber nun los, halt dich mit der einen Hand an mir fest, und mit der ändern schöpf Wasser, gieß es über Bord.“ Nur gut, daß der alte Organ beizeiten daran gedacht hatte, während der kurzen Atempause konnten sie das Boot leer schöpfen. Beim Wasserschöpfen, sich durch Tasten orientie rend, lenkte Organ Kirisks Aufmerksamkeit auf das klei ne Faß, dem sie am Tag ihr Trinkwasser entnommen hat ten. „Kirisk“, sagte er und packte ihn bei der Hand, „da ist unser Wasserfäßchen. Fühlst du's? Merk dir, was immer ge schieht, hüte dieses Faß. Halt es fest, krall dich daran, laß es nicht los! Notfalls gehen wir lieber zugrunde, als daß wir es
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einbüßen. Hast du mich verstanden? Verlaß dich auf keinen ändern ... Hörst du?“ Gut, daß er das gesagt, gut, daß er rechtzeitig den Jungen gewarnt hatte. Sehr bald sollte es ihnen zustatten kom men ... Nach kurzem Abflauen brach der Sturm mit frischer Kraft los. Diesmal noch heftiger und grimmiger, als würde er den Schutz der Nacht und die Hilflosigkeit der Menschen aus nützen, die bei Dunkelheit und Nebel nichts sahen. Die „Wellen stürzten mit solcher Wut über sie, als wollten sie die kurze, den Menschen gewährte Schonung wettmachen. Or gans Kajak wirbelte nur so zwischen den unsichtbaren Wo gen, die ihn erbarmungslos hin und her schleuderten. Bre cher peitschten das Boot. Es lief voll Wasser, sackte ab. Or gan mochte sich, im Knien schöpfend, noch so abhetzen — unmöglich konnte er des einströmenden Wassers Herr wer den. Da schrien die Ruderer böse und verzweifelt: „Wirf al les raus! Wir sinken! Alles raus!“ Kirisk weinte laut vor Angst, doch keiner hörte ihn, sie hat ten andere Sorgen. Der Junge verkroch sich unterm Heck sitz und umklammerte das Fäßchen. Er warf sich seitlich darüber, zusammengekrampft, von Schluchzen geschüttelt. Ihm war bewußt, daß er jetzt nichts Wichtigeres tun konnte, was immer geschah. Er begriff, daß sie untergingen, den noch tat er, was ihn der alte Organ geheißen — er behütete das Fäßchen mit dem Wasser. Es war höchste Zeit, das halbgesunkene Boot zu retten. Mylgun arbeitete noch immer wie wahnsinnig mit den Ru dern, nach Kräften bemüht, das Boot nicht kentern zu las sen. Organ und Emraijin aber warfen alles über Bord, was noch im Boot war. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Ins Meer flogen die beiden Winchesterbüchsen, die Harpune, Leinenknäuel und alles andere, sogar Organs Blechtee kanne. Die größte Mühe bereitete ihnen die Robbe. Der glit schige Tierkörper war schwer zu packen. Sie mußten ihn an heben und über Bord wälzen. Mußten die Beute wegwerfen,
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derentwegen sie zu den unbewohnten Inseln gefahren wa ren. Heiser brüllend, schimpfend und fluchend, schoben sie den Robbenleib in dieser Enge unter größten Anstrengun gen an die Bordwand und stürzten ihn endlich ins Meer. So gar in diesem Durcheinander, im wilden Zweikampf mit dem Meer war zu spüren, wie erleichtert das von der Last befreite Boot aufschwankte. Vielleicht war ebendies ihre Rettung ... Organ erwachte als erster. In der leblosen weißen Ödnis war ihm nicht sogleich klar, wo er sich befand und was diese trübe, undurchsichtige Reglosigkeit rundum bedeutete. Es war Nebel. Es war der Große Nebel, der zu dieser Zeit schweigsam, un umschränkt und reglos die Weite des Ozeans bedeckte. Der Große Nebel durchlebte seine große Erstarrung. Als sich seine Augen etwas eingewöhnt hatten, unterschied der alte Organ in dem Dunkel die Konturen des Bootes, spä ter auch die der Menschen. Emraijin und Mylgun lagen auf ihren Plätzen an den Rudern. Zu Tode erschöpft, zermürbt vom nächtlichen Unwetter, verharrten sie in seltsamen Stel lungen, als hätte ein Hieb sie niedergestreckt, und nur rö chelndes, stoßweises Atmen zeugte von ihrem Leben. Kirisk, ans Faß gelehnt, lag zu Organs Füßen. Er zitterte im Schlaf vor Nässe und Kälte. Organ bedauerte ihn, konnte ihm aber nicht helfen. Benommen von der letzten Nacht, das graue Haupt ge senkt, saß er am Heck. Sein Körper schmerzte und brannte. Wie Peitschenschnüre hingen seine langen knotigen Arme herab. Viele Schicksalsschläge, viele Prüfungen waren Or gan schon widerfahren, doch so hart hatte es selbst ihn noch nicht getroffen. Er -konnte sich nicht vorstellen, wo sie sich jetzt befanden, wie weit sie der Sturm abgetrieben hatte, ob sie noch im Ochotskischen Meer waren oder bereits im Stil len Ozean, geschweige denn die Tageszeit bestimmen. In der dichten, undurchdringlich erstarrten Nebelmasse war
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der Tag nicht von der Nacht zu unterscheiden. Doch be dachte man, daß Stürme sich zumeist gegen Morgen legen, dann war aller Wahrscheinlichkeit nach Tag. Vielleicht Nachmittag. „Wie dem auch sei, bei aller Freude, daß sie durch ein Wun der am Leben geblieben waren, hatte Organ Grund, den Kopf hängenzulassen. Nachdem alles verloren war, was sie auf die Fahrt mitgenommen — selbst die Büchsen, die sie ge gen Hunderte von Zobelfellen bei zugereisten Kaufleuten eingehandelt hatten —, besaßen sie nur noch zwei Paar Ru der und ein angebrochenes Fäßchen Trinkwasser. Was stand ihnen nun bevor? Sowie die Ruderer zu sich kämen, würden sie natürlich ge meinsam beratschlagen, was zu tun sei. Wer aber konnte sa gen, welche Richtung sie einschlagen sollten? Das vor al lem. Sie konnten allerdings auch bis zur Nacht ausharren und, wenn der Himmel nicht wolkenverhangen war, versu chen, sich nach den Sternen zu richten. Wie weit hatten sie aber zu fahren? Wieviel Kraft kostete es sie noch und wie viel Zeit? Würden sie ans Ziel kommen, würden sie es schaf fen? Und der Nebel, was war das nur für ein Nebel? Er lag so dicht, so reglos auf dem Meer! Wie für alle Ewigkeit. Ob es überall so war, ob dieser Nebel die ganze Welt überzog? Er hätte gern geraucht und etwas getrunken. Das Rauchen mußte er sich aus dem Kopf schlagen, der Tabak, den er noch bei sich hatte, war durchnäßt. Und die Pfeife war ver schwunden. Und Trinkwasser? Und Nahrung? Organ wagte nicht daran zu denken. Noch war es auszuhalten, noch konnte man diese Sorge verdrängen ... Das Meer wurde nur von der Dünung bewegt, es herrschte völlige Windstille. Das Boot wiegte sich leicht auf der Stelle. Es trieb nirgends hin, bewegte sich nicht voran. Willenlos, sich selbst überlassen, lagen die Ruder auf der Wasserfläche. Emraijin und Mylgun waren zu verstehen — ihre Erschöp fung hatte einen solchen Grad erreicht, daß sie, übermannt
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von todesähnlichem Schlaf, nicht einmal mehr die Ruder
einziehen konnten.
Alles war in Dunkel und Reglosigkeit erstorben — Meer,
Nebel, Boot. Wohin sollten sie auch eilen, wohin fahren ...
Traurig zusammengekrümmt, druselte der Alte unmerklich
ein und schlief, bis Kirisk ihn weckte.
Der Junge stieß ihn an. „Atkytschch! Wir wollen trinken!“
Organ schüttelte den Schlaf ab und begriff, daß seine drei
Stammesgenossen Entscheidungen von ihm erwarteten,
denn er war der Älteste, und er begriff auch, daß nun das
Schrecklichste begann — das Wasserzuteilen.
Dicht und reglos stand der Nebel. Totenstill lag das Meer.
Den ganzen Rest des Tages ruderten sie gemächlich durch
den Nebel, ziellos, ins Ungewisse.
Nachdem sie zu sich gekommen waren und ihre Lage über
dacht hatten, vermochten sie nicht mehr untätig zu bleiben.
Und sie ruderten. Vielleicht näherten sie sich dem Land,
vielleicht entfernten sie sich von ihm.
Immerhin hatten sie so die Illusion einer Bewegung.
Ihre einzige Hoffnung war, daß der Nebel sich zerstreute
und sie dann die Lage besser überschauten.
Jedenfalls würden sie nachts Sterne sehen, sofern sich der
Nebel verzog. An die Sterne mußten sie sich halten, zu aller
erst! Auch hegten sie die Hoffnung, auf eine Insel zu stoßen.
Dann würden sie sich leichter orientieren können.
Einstweilen fuhren sie also ins Nichts — in den Nebel.
Aber auch jetzt forderte Organ eine gewisse Ordnung im
Boot. Sie schöpften das restliche Wasser aus, damit es zu
ihren Füßen nicht gluckste. Den Jungen setzte Organ neben
sich auf die Heckbank, auf daß er es wärmer hätte und seine
Sachen schneller trockneten. Wasser gab er allen gleichviel.
Das erstemal jedem eine knappe Viertelkelle. Nach der
Sturmnacht mußten sie wenigstens einmal ihren Durst stil
len. Aber Organ warnte: Von nun an gäbe es nur noch zu
trinken, wenn er es für nötig erachte, und nur soviel, wie er
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ihnen zumesse. Um sie von der Richtigkeit seiner Worte zu überzeugen, rüttelte er leicht am Faß — es war schon halb leer. Unverhofft gab es auch eine Freude: Als es an die Wasserzu teilung ging, entdeckten sie hinter dem Faß im äußersten Winkel unter dem Hecksitz einen Robbeniedersack mit Dörrfisch. Den großen Sack mit Wegzehrung hatten sie wie die anderen Sachen über Bord geworfen, dieser kleine aber, den Mylguns Frau mitgegeben hatte, war unbemerkt geblie ben, denn er lag unter dem Sitz hinter dem Fäßchen, das Ki risk unbedingt retten sollte. Leider war dieser Sack voll Meerwasser, so daß der ohnehin salzige Fisch nun vollends ungenießbar war. Und doch war es etwas zu essen. Hätten sie nur genügend Trinkwasser gehabt, wäre solch ein Dörr fisch gar nicht übel gewesen. Vorderhand aß jedoch keiner davon, sie fürchteten den Durst. Alle warteten nur auf eines: daß endlich der Nebel wich. In dem tiefen Schweigen und der Reglosigkeit des Nebels knarrten einzig verzagt die Ruderdollen. Dieses Knarren in der großen Stille glich dem müden Flehen und Klagen eines Menschen, der sich verirrt hat: Wo bin ich, wo? Wohin muß ich mich nun wenden, wohin? Alle warteten nur auf eines: daß endlich der Nebel wich ... Doch er wich nicht, dachte gar nicht daran zu weichen. Er rührte sich nicht. Fast sah es so aus, als hätte ein absonderli ches Fabelwesen, das muffige Feuchtigkeit atmete, die ganze Welt verschluckt — Erde und Himmel und Meer. Wieder wurde es Nacht im Leib des Nebels. Man ahnte es nur an der zunehmenden Schwärze. Und kein Stern, kein Himmel hoch droben. Fahren, nur um zu fahren, hatte keinen Sinn mehr. Sie warteten, hofften, vertrauten darauf, daß sich Sterne am Himmel zeigten. Warteten von Stunde zu Stunde. Warteten auf Wind, der diesen verhaßten, dreimal verfluchten Nebel verjagt hätte. Fanden keinen Schlaf. Wandten sich flehend
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an den Himmelsgeist, er möge das gestirnte Himmelsge wölbe öffnen, baten den Herren der Winde, das langmäh nige, zottige Raubtier, es möge erwachen hinterm Meer. Alles vergebens. Niemand hörte sie, der Nebel zerstreute sich nicht. Kirisk wartete gleichfalls auf die Sterne. Auf nichts wartete er jetzt sehnsüchtiger als auf diese Sterne, die wie Spielzeug am Himmel flimmerten. Alles, was seit dem vergangenen Abend geschehen war, hatte den Jungen erschüttert und ver ängstigt. Wessen hätte es denn bedurft, um die Kinderseele verzweifeln zu lassen, sie zu knicken, für immer zu brechen! Daß aber die drei Erwachsenen, die mit ihm im Boot waren, trotz der Todesgefahr, das Ende all ihrer Fahrten schon vor Augen, standhielten, dem wütenden Element die Stirn bo ten, ließ Kirisk auch jetzt auf Rettung hoffen. Er vertraute fest darauf, daß nur die Sterne sich am Himmel zeigen muß ten, und ihre Leiden wären zu Ende. Ach, geschähe dies doch schneller, er wünschte sich schnel ler zurück — zum Festland, zum Scheckigen Hund, schnel ler, schneller, schneller, denn ihn quälten unerträglicher Hunger und Durst, und dieser Hunger und dieser Durst wurden immer stärker, immer heftiger sehnte er sich nach Hause, zur Mutter, zu den Stammesverwandten, den Wohnstätten, den Rauchfahnen, den Bächen und Grä sern ... Die ganze Nacht warteten die Bedrängten sehnsüchtig, aber nichts geschah, der Nebel wich nicht, kein Stern zeigte sich am Himmel, in Dunkel gehüllt blieb das Meer. Und die ganze Nacht plagte sie der Durst, auch froren sie, vor allem aber quälte sie der Durst. Mochte Kirisk auch an nehmen, daß er nur allein nach Wasser gierte — die anderen litten genauso. Er aber wollte am meisten trinken. Und das zermürbte ihn. Doch der Älteste, Organ, gab kein Wasser heraus, selbst als Kirisk darum bat. „Nein“, sagte er fest. „Jetzt nicht. Halt aus.“
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Hätte der alte Organ nur geahnt, wie quälend der Durst nach dem Dörrfisch war, an dem Kirisk, der Vater und Myl gun — gegen Abend hielten sie es nicht länger aus — zu na gen begonnen hatten! Zwar tranken sie etwas nach, aber viel zuwenig, und nach einer Weile dürstete es sie nur um so mehr. Der alte Organ indessen rührte den Fisch gar nicht erst an, er bezwang sich, trank aber auch nicht, sondern sparte, genehmigte sich keinen Schluck. An jenem Tag tran ken sie zweimal — morgens und abends — alle, bis auf Or gan. Abends nur ganz wenig, nur eine Neige. Doch das Wasser im Fäßchen nahm ständig ab. Weil er trinken wollte, trinken, trinken, trinken, wurde das Warten auf einen Wetterumschlag zur doppelten Folter. So ging es die ganze Nacht... Und die ganze Nacht lag reg los eiskalter Nebel. Und das Meer blieb totenstill. Auch am Morgen änderte sich nichts. Nur eine Spur heller wurde es im graublauen Leib des Nebels, eine Spur weiträu miger. Nun unterschied man Gesichter und Augen. Und einige Sashen, so zwei, drei Ruderlängen, rings um das Boot schimmerte trübsilbern ein spiegelglattes totes Meer, reglos wie Quecksilber. Ein so unbewegtes Wasser hatte Kirisk noch nie gesehen. Kein Wind, kein Wetterumschlag ... An jenem Morgen bestürzte den Jungen, wie stark sich die Gesichter der Erwachsenen verändert hatten. Sie waren ver fallen, mit harten Stoppeln überwuchert, die Augen wirkten erloschen und lagen in dunklen Höhlen, als wären die Män ner tödlich erkrankt. Sogar der sonst so kräftige und selbst sichere Vater war nicht, wiederzuerkennen. Sein Gesicht war kaum zu sehen unter dem Bart. Die Lippen hatte er zerbis sen, sie waren ganz schwarz. Und auf Kirisk blickte er voller Mitleid, obwohl er schwieg, kein Sterbenswörtchen sagte. Besonders abgezehrt war der alte Organ. Er hatte sich zu sammengekrümmt, war noch bleicher geworden, noch län ger streckte sich sein Hals mit dem Adamsapfel, mehr denn je tränten seine Augen. Nur der Blick war noch der alte,
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weise und streng, barg noch immer das Wissen um etwas, was nur Organ allein zugänglich war und vertraut. Der Tag begann mit dem Schwersten — der Zuteilung von ein paar Schluck Wasser für jeden. Organ selbst goß ein. Er klemmte sich das Fäßchen unter den Arm und ließ das Naß in dünnem Strahl auf den Grund der Kelle rinnen; seine Hände zitterten heftig. Zuerst reichte er die Kelle Kirisk. Der Junge konnte es kaum erwarten. Seine Zähne klapper ten gegen den Rand der Kelle, und während er das Wasser schluckte, spürte er nur für einen Augenblick, wie es ihn er quickte, wie die Glut in seinem Innern nachließ und ihm vor Erregung .der Kopf summte. Doch schon während er die Kelle zurückgab, kehrte die Hitze wieder, schlimmer als zu vor, als hätte man in ihm ein wildes Tier gereizt. Danach trank Mylgun. Dann Emraijin. Schrecklich war es anzuse hen, wie sie tranken. Sie ergriffen die Kelle mit bebenden Händen und reichten sie Organ zurück, ohne ihn anzublik ken. Als wäre er schuld, daß sie so wenig zu trinken hat ten. Organ goß sich keinen Tropfen ein, als die Reihe an ihm war. Schweigend verstopfte er das Spundloch. Das er schien Kirisk unfaßbar. Wäre das Fäßchen in seinen Händen gewesen, er hätte sich sofort eine volle Kelle eingegos sen, dann noch eine und noch eine, nur trinken, trinken bis zum Hinfallen. Dann komme, was wolle. Nur einmal sich satt trinken! Der alte Organ aber gönnte sich nicht ein mal das, was ihm zustand. Er verzichtete auf die Neige Was ser. „Warum machst du das, Atkytschch? Gieß dir ein wie al len!“ drängte schließlich Emraijin unter Selbstüberwindung. „Gestern hast du schon nichts getrunken! Wenn wir zu grunde gehen, dann alle gemeinsam!“ „Ich komme so aus“, entgegnete Organ ungerührt. „Nein, das ist nicht recht!“ Emraijin hob die Stimme und setzte gereizt hinzu: „Dann trinke ich auch nicht!“ „Was ist da schon zu trinken! Nicht der Rede wen!“ Organ lächelte 'ob solcher Unvernunft, wiegte sacht den Kopf, zog
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erneut den Zapfen aus dem Spundloch, goß etwas Wasser in
die Kelle und sagte: „Dann bekommt Kirisk meinen Teil.“
Der Junge war betroffen, und alle verstummten. Organ aber
reichte ihm die Kelle.
„Da, Kirisk, trink. Mach dir keine Sorgen.“
Kirisk schwieg.
„Trink“, sagte Mylgun.
„Trink“, sagte Emraijin.
„Trink“, sagte der alte Organ.
Kirisk schwankte. Vor Durst vergehend, hätte er sich zu
gern die paar Schluck sofort in die Kehle geschüttet, traute
sich jedoch nicht.
„Nein“, sagte er, sein verzehrendes Verlangen bezwingend,
„nein, Atkytschch, trink selber“, und spürte, wie sich in sei
nem Kopf alles zu drehen begann.
Organs Hand erzitterte bei diesen Worten, er seufzte
schwer. Sein Blick wurde weicher, dankbar streichelte er
den Jungen.
„Ach, weißt du, ich habe in meinem Leben schon so viel
Wasser getrunken! Du mußt noch lange leben, damit...“
Er sprach nicht weiter. „Hast du mich verstanden, Kirisk?
Trink, es muß sein, du mußt trinken, mach dir um mich
keine Sorgen! Da!“
Abermals spürte der Junge, während er das Wasser
schluckte, nur für einen Augenblick, wie es ihn erquickte,
wie die Glut in seinem Innern nachließ, und schon wich die
ses Gefühl der Erleichterung neuem Durst. Diesmal behielt
er im Mund den Beigeschmack von fauligem Wasser. Aber
das war unwichtig. Hauptsache, er bekam Wasser; ganz
gleich, welches, nur Trinkwasser. Doch davon blieb immer
weniger und weniger ...
„Was machen wir bloß, was sollen wir tun?“ sprach indes
Organ, an seine Stammesgefährten gewandt. „Fahren wir?“
Langes Schweigen. Alle blickten um sich. Aber außer dem
undurchdringlichen Nebel ein paar Sashen rund ums Boot
gab es nichts auf der Welt.
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„Wohin fahren?“ Mit einem Seufzer unterbrach Emraijin das Schweigen. „Wohin, wohin?“ brauste Mylgun überraschend auf. „Wir fahren, besser fahren, als an Ort und Stelle verrecken!“ „Was nützt es schon, ob wir fahren oder nicht“, wies ihn Emraijin zurecht. „Bei solchem Nebel ins Nichts zu fahren — hat das Sinn?“ „Ich pfeif auf den Nebel!“ entgegnete Mylgun noch heraus fordernder. „Ich pfeif auf deinen Nebel! Klar? Wir fahren, und wenn nicht, kipp ich sofort diesen verfluchten Kajak um, dann können uns die Fische fressen! Hast du mich ver standen, Emraijin, Bärtiger, wir fahren! Hast du verstan den?“ Kirisk beschlich Unbehagen. Er schämte sich für Aki-Myl gun. Der hatte sich ungehörig benommen, immerhin war er jünger als der Vater. Da hatte sich also etwas gelockert oder war zerbrochen — in ihm oder in dem, was sie jetzt darstell ten, die vier Niwchen im Boot. Sie schwiegen bedrückt und bekümmert. Verstummt war auch Mylgun, sein Atem ging schwer. Emraijin hatte den Kopf gesenkt. Der alte Organ aber blickte an ihnen vorbei, und sein Gesicht war undurch dringlich wie der Nebel, der sie als dunkler Schleier von al len Seiten umgab. „Beruhige dich, Mylgun“, sprach endlich Emraijin. „Ich habe das doch nur so dahergesagt, natürlich ist es besser zu fahren, als an einem Fleck zu verharren. Du hast recht. Komm, wir fahren.“ Sie setzten das Boot in Fahrt. Wieder knirschten die Dollen, wieder hoben und senkten sich plätschernd die Ruder, teilte sich lautlos hinterm Boot das ruhige Wasser und schloß sich spurlos. Und doch hatten sie den Eindruck, als kämen sie nicht von der Stelle. Wie weit sie auch voranruderten, ringsum lag Nebel, sie befanden sich gleichsam in einem Zauberkreis. Das war es wohl, was Mylgun aufs neue außer sich brachte: „Ich pfeif auf deinen Nebel, Bärtiger Emraijin, hörst du?“
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rief er wütend. „Und ich will, daß wir schneller fahren! Streng dich an, Bärtiger, rüder, schlaf nicht, hörst du? Ich pfeif auf deinen Nebel!“ Und er legte sich selbst mit Macht in die Ruder. „Schneller! Schneller!“ drängte er. Emraijin wollte ihn nicht reizen, steigerte sich aber aus ver letztem Stolz selber in dieses sinnlose Spiel. Das Boot gewann immer mehr an Schnelligkeit. Aufs Gera tewohl schoß es ruckweise durch den Nebel, sinnlos, ohne Ziel. Mylgun und Emraijin ruderten verbissen um die Wette, in so wilde, irre, zügellose Erbitterung, als könnten sie den Nebel überholen, seine unendlichen Grenzen sprengen. Die Ruderblätter jagten Spritzerfontänen zu beiden Seiten des Bootes hoch, das Wasser rauschte, es senkten und hoben sich die schweißnassen, stoppligen Gesichter der Ruderer, die, bald sich vorbeugend, die Ruder auslegten, bald sich aufrichtend, sie kraftvoll durchzogen ... Luft holen, ausatmen, Luft holen, ausatmen ... Nebel vorn, Nebel hinten, ringsum nichts als Nebel... „Chana! Chana!“ keuchte Mylgun, boshaft anstachelnd. Zunächst lebte Kirisk auf, angesteckt von der Illusion, vor wärtszukommen, dann aber begriff er, wie nutzlos und schrecklich das war. Verängstigt blickte der Junge zum alten Organ — er wartete, daß dieser der sinnlosen Jagd Einhalt gebot. Doch Organ wirkte völlig abwesend — der verson nene Blick irrte umher, auf dem Antlitz war ein weltentrück ter Ausdruck erstarrt. Und — ob er weinte oder ob nur wie üblich seine Augen tränten — das Gesicht des alten Mannes war naß ... Unbeweglich saß er auf der Heckbank, als wüßte er nicht, was geschah. Das Boot aber schoß voran, aufs Geratewohl durch den Ne bel gejagt, sinnlos, ohne Ziel... „Chana! Chana!“ erklang es verzweifelt im Nebel. „Chana! Chana!“ So fuhren sie eine geraume Weile. Allmählich gerieten die Ruderer außer Atem, verminderte sich die Schnelligkeit;
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keuchend, nach Luft ringend, ließen sie die Ruder sinken. Mylgun hob nicht den Kopf. Bittere Ernüchterung überkam sie. Den Nebel hatten sie nicht überholt, seine Grenzen hatten sie nicht gesprengt, al les war wie zuvor: völlig ruhige See, Ungewißheit, undurch dringliches Dunkel. Das Boot fuhr noch kurze Zeit weiter, drehte sich im Kreis ... Wozu war das nötig gewesen? Warum? Und was hätten sie gewonnen, wenn sie am selben Fleck geblieben wären? Auch nichts. Jeder dachte wohl das gleiche. Da sagte Organ: „Hört mich an.“ Seine Worte setzte er be dächtig, gewiß schonte er seine Kräfte — er hatte bereits den zweiten Tag nicht getrunken, nicht gegessen. „Kann sein“, gab er zu bedenken, „der Nebel halt sich noch viele Tage. Es gibt solche Jahre. So etwas kommt vor. Ihr wißt es selbst. Sieben, acht, bisweilen sogar zehn Tage liegt Nebel überm Meer wie eine Seuche überm Land, wie eine Krankheit, die nicht vergeht, ehe ihre Frist verstrichen ist. Wie lange aber diese Frist währt, weiß keiner. Wenn dies solch ein Nebel ist, erwartet uns ein schweres“ Los. Dörrfisch haben wir nur noch einen winzigen Rest, und was nutzt er uns, wenn es an Trinkwasser fehlt. Das ist unser ganzes Wasser!“ Er schüt telte das Fäßchen. Es plätscherte hohl — eine, anderthalb Handbreit über dem Boden. Alle schwiegen. Auch der Alte verstummte. Ihnen war klar, was er hatte sagen wollen: Zu trinken gab es nur noch ein mal am Tag, nur soviel, daß der Boden der Kelle bedeckt war, um länger durchzuhalten, falls es überhaupt gelänge, dieses Unheil von Nebel zu bezwingen, zu überstehen. So bald das Meer wieder frei war, sich Sterne zeigten oder die Sonne, würde man weitersehen, am Ende hatten sie Glück und erreichten doch noch Land. Ja, so stand es. Einen anderen Ausgang gab es nicht. Aber das sagt sich so leicht — aushaken; auch wenn es der Mensch mit dem Verstand gutheißt, billigt es noch lange nicht sein
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Fleisch. Jetzt wollten die Schwergeprüften trinken, jetzt so fort, und nicht bloß ein Quentchen, sondern viel, sehr viel Wasser. Organ wußte um die Aussichtslosigkeit ihrer Lage, und am schwersten trug er selbst daran. Der alte Mann verdorrte vor ihren Augen. Sein von Falten und Runzeln durchfurchtes dunkelbraunes Gesicht wurde von Stunde zu Stunde dunk ler und härter vor Schmerz, der aus seinem Inneren kam. In die tränenden Augen trat ein gespannter Fieberschein — wel che Kraft kostete es den alten Mann, diese Qualen zu ertra gen! Doch bis zum letzten Atemzug würdev er sich halten, wie ein sterbender Baum sich in seinen Wurzeln hält. Nur — wie lange konnte das noch dauern? Er mußte alles sagen, was für ihre Rettung auch nur im geringsten von Bedeutung sein konnte. „Ich habe darüber nachgedacht“, fuhr er fort, „daß wir stän dig die Luft beobachten und in sie hineinlauschen müssen, ob da nicht eine Agukuk vorbeifliegt. Die Agukuk ist der einzige Vogel, der zu dieser Zeit überm Meer fliegt. Falls wir uns zwischen einer Insel und dem Festland befinden, kann uns die Agukuk den Weg weisen. Ein Vogel überfliegt offenes Meer stets auf geradem Weg. Er biegt nirgends ab, fliegt immer geradeaus. Auch die Agukuk.“ „Und wenn wir nicht zwischen Insel und Land sind?“ fragte Mylgun düster, den Kopf immer noch gesenkt. „Dann werden wir sie auch nicht sehen“, entgegnete Organ ruhig. Kirisk hätte gern gewußt, warum die Agukuk übers Meer fliegt, was sie dazu bewegt, aber Mylgun kam ihm zuvor. „Wenn nun aber die Eule vergißt, über uns zu fliegen, At kytschch?“ höhnte Mylgun finster. „Wenn es ihr einfällt, ab seits von uns zu fliegen, dort, irgendwo ... was dann?“ „Auch dann werden wir sie nicht sehen“, entgegnete Organ, immer noch ruhig. „Wir sehen sie also nicht?“ fragte Mylgun verwundert und steigerte sich in Wut. „So oder so werden wir die Eule nicht
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sehen. Warum in aller Welt hocken wir dann hier?“ mur melte er in wachsendem Zorn, lachte plötzlich schallend und verstummte. Allen war unbehaglich zumute. Sie schwie gen, wußten nicht, was tun. Mylgun indes hatte einen Einfall. Mit der Handfläche schlug er ein Ruder aus der Gabel, kroch zum Bug, richtete sich zu voller Größe auf, balancierte mit dem Ruder. Keiner sagte ein Wort. Auch er beachtete keinen. „He, du Hundeschlampe!“ schrie er grimmig. „He, du, Scha man der Winde!“ schrie er, mit dem Ruder drohend, aus Leibeskräften ins nebelverhangene Dunkel. „Wenn du der Herr der Winde bist und kein Hundeaas, wo sind dann deine Winde? Bist du, Hundeschlampe, in deiner Höhle ver reckt, oder belagern dich die Rüden der ganzen Welt, und du weißt nicht, mit wem sollst du dich zuerst paaren, wer soll dich decken, oder läßt du dich lieber nacheinander be springen? Und hast deshalb keine Zeit, Winde loszujagen, oder hast du vergessen, daß wir hier in dem verfluchten, ent setzlichen Nebel verloren sind? Weißt du nicht, daß wir einen kleinen Jungen bei uns haben, he? Er will trinken, will Wasser! Wasser, verstehst du? Ich sage dir doch, wir haben einen kleinen Jungen bei uns, der ist zum erstenmal auf See. Und was hast du mit uns gemacht? Ist das anständig? Gib Antwort, wenn du der Herr der Winde bist und kein stin kender Seehundschiet! Schick uns deine Winde! Hörst du? Stopf dir den Nebel untern Schwanz! Hörst du? Schick uns Sturm, du Hundeschlampe, den schlimmsten Sturm — schick uns den Tlangi-la, du Aas, kipp uns ins Meer, sollen uns die Wellen unter sich begraben, widerwärtige Schlampe! Hörst du? Hörst du mich? Ich spuck auf alles, spuck und piß dir in die zottige Schnauze! Bist du der Herr der Winde, dann schick uns deinen Sturm, ertränk uns im Meer, und wenn nicht, dann bist du die allerletzte Hundeschlampe, und ich bin ein Rüde, noch ein Rüde, bloß ich werd dich nicht... da hast du, na los, los, los, beiß zu, beiß ...“ Mit den gemeinsten Worten schmähte Mylgun den Schama
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nen der Winde, wo immer der existieren und wo immer er die ihm botmäßigen Winde verborgenhalten mochte. Noch lange, bis zur Heiserkeit und völligen Erschöpfung, schrie und wütete Mylgun, höhnte, beschimpfte, beschwor er den Herrn der Winde. Dann schleuderte er mit aller Macht das Ruder ins Meer, setzte sich wieder an seinen Platz und begann unversehens laut und schrecklich zu heulen, das Gesicht in die Hände ge preßt. Die drei anderen schwiegen hilflos, er aber schluchzte bitterlich, rief die Namen seiner kleinen Kinder, und Kirisk, der noch nie einen Mann hatte weinen sehen, zitterte vor Angst und wandte sich, Tränen in den Augen, an Organ: „Atkytschch! Atkytschch! Warum ist er so, warum weint er?“ „Hab keine Angst“, beruhigte ihn der Alte und preßte ihm den Arm. „Das geht vorüber! Gleich hört er wieder auf. Mach dir keine Gedanken. Dich betrifft das nicht. Das geht vorüber.“ Wirklich, Mylgun besänftigte sich ein wenig, aber das Ge sicht hob er nicht aus den Händen, und seine Schultern wur den noch immer von heftigen Schluchzern geschüttelt. Em raijin lenkte das Boot langsam an das im Wasser schwim mende Ruder heran. Er zog es ins Boot und hob es wieder in die Gabel. „Beruhige dich, Mylgun“, sagte Emraijin mitfühlend. „Du hast recht, besser im Sturm umkommen als im Nebel schmachten. Aber warten wir ab, vielleicht klart das Meer doch noch auf. Was bleibt uns übrig ...“ Mylgun erwiderte nichts. Tiefer und tiefer sank sein Kopf, zusammengekrümmt saß er da, wie ein Irrer, der sich fürchtet, vorwärts zu blicken. Der Nebel aber hing leidenschaftslos und tot über dem Ozean, verbarg die Welt in gewaltigem, erstarrtem Dunkel. Kein Wind, kein Wetterumschlag. Wie Mylgun dem Scha manen der Winde auch zugesetzt, wie er ihn auch geschol ten und geschmäht hatte, er blieb taub und gleichgültig. Er
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ergrimmte nicht einmal, rührte sich nicht,'strafte sie mit kei nem Sturm... Emraijin ruderte sacht, damit sie nicht an einem Fleck ver harrten, kaum merklich glitt das Boot durchs Wasser. Organ schwieg, versunken in seine Gedanken wohl, und dachte vielleicht zum letzenmal im Leben an seine Fischfrau. Aus seinen unfrohen Greisengedanken riß ihn Kirisk. „Atkytschch, Atkytschch, warum fliegt die Eule zu den In seln?“ fragte er leise. „Ach ja, das hab ich vergessen dir zu sagen. Bei so dichtem Nebel kann nur die Agukuk überm Meer fliegen. Sie fliegt zu den Inseln, um zu jagen, mitunter fängt sie sich da Rob benjunge. Die Agukuk hat Augen, die selbst bei Nebel und tiefer Nacht sehen wie am Tag. Dafür ist sie eine Eule. Eine sehr große und kräftige Eule.“ „Solche Augen hätte ich auch gern!“ flüsterte Kirisk mit spröden Lippen. „Dann sähe ich gleich, in welche Richtung wir fahren müssen, wir würden rasch das Land erreichen und trinken, viel trinken ... Ja, wenn ich solche Augen hätte ...“ „Ach“, seufzte Organ. „Jedem sind seine Augen gegeben.“ Sie verstummten. Und nach langer Zeit, gleichsam dieses Gespräch wieder aufgreifend, sagte Organ und sah dabei Kirisk ins Gesicht: „Ist's sehr schwer? Hab noch eine Weile Geduld. Hältst du durch, wirst du ein großer Jäger. Halt aus, mein Junge, denk nicht an Wasser, denk an etwas ande res. Nicht an Wasser.“ Gehorsam versuchte Kirisk, seinen Rat zu befolgen. Es half nichts. Je mehr er sich anstrengte, nicht daran zu denken, desto unbändiger wollte er trinken. Auch essen wollte er, ihm wurde schon übel vor Hunger. Am liebsten hätte er ge brüllt wie Mylgun, daß man es weithin hörte. So verrann jener Tag. Ständig warteten sie, aus der Ferne Wellenrauschen zu hören, ständig hofften sie auf einen fri schen Wind, der den Nebel ans andere Ende der Welt ver triebe, ihnen aber den Weg zur Rettung eröffnete. Doch auf
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dem Meer herrschte Stille, eine so unbewegte Stille, daß ih nen Kopf und Ohren schmerzten. Und ständig, unentwegt, ewig wollten sie trinken. Das war ungeheuerlich: Mitten auf dem grenzenlosen Ozean gingen sie zugrunde an Durst. Gegen Abend fühlte sich Mylgun schlecht. Er sprach kein Wort mehr, und seine Augen waren stumpf. Er mußte etwas Wasser bekommen, um die Kehle anzufeuchten. Als Organ aber bemerkte, daß Kirisk den Blick nicht von der Kelle wenden konnte, goß er auch ihm einen Schluck ein, dann auch Emraijin. Selber nahm er wieder keinen Tropfen zu sich. Als er diesmal das Fäßchen mit dem Rest Wasser unter die Bank schob, blieb er lange reglos sitzen, eigentümlich konzentriert und klar, weltentrückt, als spürte er keinen Durst und keine Qualen des Fleisches. Schweigend und un bewegt saß er auf seiner Heckbank wie ein einsamer Falke auf einer Felsspitze. Er wußte bereits, was ihm bevorstand, sammelte daher seine Sinne, schöpfte Kraft vor der letzten Tat seines Lebens. Bitter vermißte er seine Pfeife in dieser Stunde. Wie gern hätte der Alte •sich zu guter Letzt sein Pfeifchen angesteckt und geraucht, während er seinen Ge danken nachhing — den Gedanken an seine Fischfrau. Wo schwimmst du, Große Fischfrau? Er wußte, wußte sehr wohl, wozu seine Kraft und Würde auf der Schwelle vom ENDE noch reichten. Das einzige, was ihn zunächst von seinem Vorhaben abhielt, war Kirisk, der in diesen Tagen so sehr sein Herz an ihn gehängt hatte, sich ständig an ihn schmiegte und bei ihm Schutz und Wärme suchte ... Der Junge tat ihm leid. Aber gerade sei netwegen mußte er es tun ... So vollendete sich der lange, unfrohe letzte Tag des alten Organ. Schon nahte der Abend. Noch eine Nacht brach an. Auch in dieser Nacht blieb das Wetter unverändert. Der Ne bel überm Meer verharrte in seiner Erstarrung. Wieder senkte sich tiefes Abenddunkel herab, gefolgt von einer un
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heimlich langen, unerträglichen, grauenvollen Nacht. Ach, spränge doch mitten in der Nacht Wind auf, und sei's ein Sturm oder sonstwas, wenn nur der Himmel aufklarte und man die Sterne sah! Die Nacht aber verhieß nichts, keine Welle kräuselte das Wasser, kein Hauch bewegte die Luft — alles war erstorben in unendlicher Stille und in unendlichem Dunkel. Das einsame Boot, das im Finstern die Orientierung verloren hatte, kreiste mit den zerquälten, Hunger und Durst erliegenden Männern langsam im Nebel, völlig im Ungewissen und dem Untergang ausgeliefert. Kirisk wußte nicht mehr genau, wann er eingeschlummert war. Aber es hatte lange gedauert, ehe er Schlaf fand, ge quält, gepeinigt von unerträglichem Durst. Ihm schien, diese Qualen, die ihn lebendigen Leibes verzehrten, würden nie enden. Wasser brauchte er, nichts als Wasser! Das Hunger gefühl schwand allmählich wie ein dumpfer, sich nach innen verziehender Schmerz, der Durst aber brannte immer hefti ger. Und er konnte ihn nicht stillen. Kirisk entsann sich: Als kleines Kind war er einmal schwer krank gewesen und hatte im Fieberschweiß gelegen — da mals ging es ihm genauso schlecht, und er wollte unbedingt trinken. Die Mutter wich keinen Schritt von seinem Lager, wechselte ständig den feuchten Lappen auf seiner flammen den Stirn, weinte verstohlen und flüsterte vor sich hin. Im Dämmerlicht, beim Schein der Tranlampe, sah er durch seine verschwimmenden, schimmernden Fieberträume das 'besorgte Gesicht der Mutter über sich geneigt — der Vater war nicht da, er fuhr gerade auf See —, und Kirisk wollte trinken, wollte, daß der Vater schneller heimkehrte. Aber keiner der beiden Wünsche ging in Erfüllung. Der Vater war weit weg, und zu trinken gab ihm die Mutter nicht. Er dürfe auf gar keinen Fall trinken, sagte sie und benetzte mit einem feuchten Tuch seine verklebten Lippen, doch das er leichterte seine Leiden nur für einen Moment. Erneut plagte ihn unerträglicher Durst. Die Mutter redete ihm gut zu, bat ihn inständig, kein Was
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ser zu trinken, sagte, er müsse durchhalten, dann würde er gesund. Halt durch, mein Kleiner! sagte sie. Gegen Morgen wird dir besser. Sag immer wieder vor dich hin: Blaue Maus, gib Wasser! Paß auf, das hilft. Bitte das bkue Mäuschen, es möge kommen und dir Wasser bringen, mein Kleiner ... Du mußt sie nur ganz lieb bitten ... In jener Nacht,, da er gegen den Durst ankämpfte, murmelte er diese Beschwörung in der Erwartung, die blaue Maus käme tatsächlich und brächte ihm zu trinken. Immer wieder flehte er sie an: Blaue Maus, gib Wasser! Blaue Maus, gib Wasser! Dann phantasierte er, von Fieber geschüttelt. Und ständig bat er: Blaue Maus, gib Wasser! Lange zeigte sie sich nicht, er aber flüsterte immerzu, rief sie, weinte und flehte: Blaue Maus, gib Wasser! Endlich kam sie angelaufen. Die blaue Maus war kühl und unerhaschbar wie ein Windhauch am Waldbach zur Mittagszeit. Man konnte sie kaum erken nen, denn sie war himmelblau und schwerelos und flatterte wie ein Schmetterling. Hin und her huschend streifte das Mäuschen mit seinem weichen Fell Kirisks Gesicht, seinen Hals, seinen Körper, und das brachte ihm Labsal. Fast ganz so, als gäbe sie ihm zu trinken und als tränke er lange, uner sättlich, das Wasser aber würde mehr und mehr, sprudelte um ihn herum, schlüge über ihm zusammen. Am Morgen erwachte er mit einem Gefühl der Freude und Erleichterung, genesen, wenn auch noch sehr schwach. Und noch lange danach ging dem Jungen die blaue Maus, die Wasserspenderin, nicht aus dem Sinn, die ihn besucht hatte in jener Nacht, als er sehr krank war, um ihn zu tränken und zu heilen. Daran erinnerte er sich jetzt im Boot, während der Durst ihn ausdörrte, verbrannte. Ach, käme sie doch wieder, die blaue Maus! Sehnsüchtig und kummervoll dachte er an seine Mut ter, die ihm die Hoffnung auf die wasserspendende blaue Maus ins Herz gesenkt hatte. Voll Mitleid entsann, er sich, wie die Mutter sich über ihn gebeugt hatte, als er so schwer
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atmete und so gern trinken wollte. Wie traurig, bis zu Trä nen hingebungsvoll, hatte sie ausgesehen, wie besorgt hatte sie ihn angeblickt, flehentlich und voll heimlicher Angst, be reit, alles in ihren Kräften Stehende zu tun. Wie mochte es ihr jetzt gehen? Sicher verzehrte sie sich vor Gram, weinte und wartete und wartete am Strand ... Das Meer aber blieb stumm. Und niemand vermochte ihr in diesem Leid zu hel fen. Nur die Frauen und Kinder hatten sicher Feuer an den Steilhängen des Scheckigen Hundes gemacht und nährten so ihre Hoffnung: Vielleicht wollte es das Schicksal, und am Ufer erschienen doch noch die auf See Verschollenen? Sie aber kreisten indes langsam mit ihrem Boot im leblosen giftig-schwarzen Raum und verloren im Dunkel des nächtli chen Nebels den letzten Glauben an Rettung. Zu ungleich waren die Kräfte: das Dunkel der Ewigkeit, das es bereits gegeben hatte, ehe die Sonne im Weltall erschien, und die vier dem Untergang Geweihten in dem zerbrechlichen Kahn ... Ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Leitsterne in der Weite des Ozeans... Nie zuvor hatte Kirisk so undurchdringliche Schwärze auf Erden gesehen, nie zuvor in seinem kurzen Leben geahnt, wie grausam die Qualen ungestillten Durstes sind. Um nicht zu verzweifeln, begann er an die blaue Maus zu denken, die ihm einst beigestanden, ihn getränkt und geheilt hatte ... „Blaue Maus, gib Wasser!“ Unermüdlich flüsterte er diese sonderbare Beschwörung vor sich hin, die ihn die Mutter ge lehrt. „Blaue Maus, gib Wasser, blaue Maus, gib Wasser!“ Und obwohl das Wunder nicht geschah, rief er weiter fle hentlich nach der blauen Maus. Sie war nun seine einzige Hoffnung, sein Zauberwort gegen den Durst... „Blaue Maus, gib Wasser!“ Sich selbst beschwörend, um sich auf diese Weise abzulen ken, zwischen Wachen und Träumen, vernahm der Junge unwillkürlich Fetzen eines Gesprächs zwischen Organ und Emraijin. Die beiden beredeten etwas lange und leise. Es
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war ein merkwürdiges, unverständliches Gespräch' mit lan
gen Pausen, mit halben, bisweilen dunklen Worten. Besser
unterschied Kirisk die Worte von Organ, an dessen Seite er
lehnte — der Alte sprach mühsam, schwer atmend, aber hart
näckig bestrebt, das Röcheln und Gurgeln in seiner Kehle zu
bezwingen —, den Vater verstand er schlechter, der saß wei
ter weg an seinen Rudern.
„Nicht mir steht es zu, dich zu belehren, Atkytschch“, flü
sterte Emraijin eindringlich, als könnte einer sie hören. „Du
bist doch ein kluger Mann.“
„Ich habe darüber nachgedacht, sehr gründlich — so ist es
am besten“, erwiderte Organ.
Für kurze Zeit verstummten sie, dann sprach Emraijin: „Wir
sitzen alle im gleichen Boot, sollten alle auch das gleiche
Schicksal teilen.“
„Schicksal, Schicksal“, murmelte der Alte bitter. „Seinem
Schicksal entrinnt keiner, dafür ist es das Schicksal, ob du
dich ihm beugst oder nicht. Wenn uns das Ende aber schon
beyorsteht, kann einer das Schicksal beschleunigen, damit
die anderen Zeit gewinnen. Überleg doch selbst, plötzlich
sind die Wege offen, du holst die letzte Kraft aus dir heraus,
das Land ist schon in Sicht, und dann fehlen dir ein paar
Schluck Wasser, um durchzustehen, wäre das nicht dumm,
wäre das nicht schlimm?“
Emraijin antwortete darauf etwas Unverständliches, und sie
verstummten.
Kirisk versuchte wieder einzuschlafen und rief abermals
nach seiner blauen Maus. Er glaubte, sie erschiene, sowie er
schliefe ...
Doch er fand keinen Schlaf ...
„Blaue Maus, gib Wasser!“
„Wie geht es Mylgun?“ fragte Organ.
„Unverändert — er liegt“, entgegnete Emraijin.
„Er liegt, sagst du ...“ Und nach kurzem Zaudern erinnerte
ihn der Alte: „Wenn er zu sich kommt, rieht es aus.“
192
„Gut, Atkytschch.“ Emraijins Stimme zitterte, er räusperte
sich angestrengt. „Ich richte alles aus, wie wir es besprochen
haben.“
„Sag ihm, ich hab ihn geachtet. Er ist ein großer Jäger.
Undkein schlechter Mensch. Stets habe ich ihn geachtet.“
Erneut verstummten sie.
„Blaue Maus, gib Wasser!“
Emraijin sagte dann noch etwas, Kirisk konnte seine Worte
nicht recht verstehen, doch Organ antwortete darauf:
„Nein, ich kann nicht warten. Siehst du nicht? Ich bin am
Ende meiner Kraft. Ein guter Hund verendet abseits von
fremden Augen. Ich tu's selbst. Ich war ein großer Mann!
Das weiß ich. Habe immer von der Großen Fischfrau ge
träumt. Du wirst das nicht begreifen ... Ich will dorthin ...“
Dann beredeten sie noch etwas. Kirisk schlummerte ein, den
Ruf nach der blauen Maus auf den Lippen: „Blaue Maus,
gib Wasser!“
Schon im Einschlafen, hörte er, wie der Vater näher zu Or
gan rückte und sagte: „Erinnerst du dich, Atkytschch, wie
einst Kaufleute mit Rentieren zu uns gefahren kamen, Äxte
und sonst allerlei zum Tausch anboten? So ein Langer, Rot
haariger von denen sagte damals, daß in einem fernen Land
einmal ein großer Mann lebte, der zu Fuß übers Meer ge
gangen ist. Es gab solche Menschen ...“
„Das muß ein großer Mann gewesen sein, der Größte der
Großen“, entgegnete Organ. „Und die Größte bei uns ist die
Fischfrau.“
Kirisk schlief bereits, aber einige Worte drangen dennoch
verschwommen in sein Bewußtsein:
„Wart noch. Überleg es dir ...“
„Es ist Zeit. Ich habe mein Leben gelebt... Halt mich nicht
zurück. Meine Kraft ist zu Ende. Ich kann nicht mehr ...“
„Bei dieser Finsternis!“
„Was ändert das?“
„Ich habe noch so viele Worte, die ich dir sagen ...“
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„Die „Worte sind unerschöpflich ... Es wird sie noch geben,
wenn wir nicht mehr sind ...“
„Diese Finsternis ...“
„Halt mich nicht zurück. Ich ertrag's nicht, meine Kräfte
schwinden. Und ich will selbst...“
„Diese Finsternis ...“
„Ihr werdet euch noch eine Weile halten, habt noch einen
kleinen Rest Wasser ...“
Eine große, rauhe Hand tastete nach dem Jungen und legte
sich behutsam auf seinen Kopf. Im Halbschlaf begriff Ki
risk: Das war Organs Hand. Für kurze Zeit ruhte die
warme, schwere Hand auf seinem Kopf, als wolle sie ihn be
schützen, ihm sich einprägen ...
Kirisk träumte, er ginge zu Fuß übers Meer. Ginge dorthin,
wo Land sein müßte, um sich satt zu trinken. Schritt aus,
ohne einzusinken, ohne zu ertrinken. Eine wunderbare und
seltsame Aussicht öffnete sich nach allen Seiten. Überall
glänzendes Meer — so weit das Auge reichte. Außer dem
Meer, außer dem Meerwasser gab es nichts auf der Welt.
Nur Meer und nur Wasser. Und er ging über dieses Wasser
wie über festes Land. Und die Wogen rollten ruhig unter der
Sonne, von überallher, von allen Seiten. Unfaßbar, woher
sie kamen und wohin sie liefen.
Er schritt übers Meer in völliger Einsamkeit. Zuerst glaubte
er noch vor Organ, Emraijin und Mylgun zu schreiten, um
möglichst schnell Trinkwasser zu finden und sie gleich her
beizurufen, dann aber begriff er, daß er hier mutterseelenal
lein war. Er schrie, rief sie, doch keiner gab Antwort. Keine
Menschenseele, kein Laut, kein Schatten ...
Er wußte nicht, wohin sie verschwunden waren. Da packte
ihn das Grauen. Seine Schreie erreichten niemand. Und nir
gends war Land, wohin er auch blickte. Er lief übers Meer,
schwer atmend, alle Kräfte einsetzend, erreichte jedoch kein
Land, kam nicht vom Fleck, nur sein Durst wurde mit jedem
Augenblick heftiger und unerträglicher. Da sah er über sich
194
einen Vogel fliegen. Das war die Ente Luwr. Auf der Suche nach dem Nistplatz kreuzte sie schreiend überm Meer,.fand aber nirgends auch nur einen Fetzen Erde. Weit und breit plätscherten endlose Wellen. Die Ente Luwr stöhnte kla gend, flatterte hilflos herum. Ente Luwr! rief Kirisk. Wo ist Land, in welcher Richtung, ich will trinken! Land gibt es noch nicht auf der Welt, nirgends! erwiderte die Ente Luwr. Allüberall ist nur Wasser! Und wo sind die anderen? fragte, der Junge und meinte die verschwundenen Menschen. Es gibt sie nicht, such sie nicht, sie sind nirgends, antwortete die Ente Luwr. Unbeschreibliche, grauenvolle Einsamkeit und Kummer überfielen Kirisk. Am liebsten wäre er weggerannt, aber wo hin sollte er laufen, wenn ihn von allen Seiten Wasser und Wogen umgaben? Die Ente Luwr entschwand in der Ferne, verwandelte sich in einen schwarzen Punkt. Ente Luwr, nimm mich mit, laß mich nicht allein! Ich will trinken! flehte der Junge. Aber die Ente antwortete nicht und war bald dem Blick ent schwunden, auf Suche nach der noch nicht vorhandenen Erde. Und die Sonne blendete die Augen. Kirisk erwachte, in Tränen gebadet, noch immer schluch zend, bedrückt von aussichtsloser Sehnsucht und Furcht. Langsam schlug er die verweinten Augen auf und begriff, er hatte geträumt. Das Boot schaukelte leicht auf dem Wasser. Aufhellendes Nebelgrau umgab ihn von allen Seiten. Also war die Nacht vergangen, und es nahte der Morgen. Er regte sich. „Atkytschch, ich möchte trinken, ich habe geträumt“, mur melte er und streckte die Hand aus nach dem alten Organ. Er griff ins Leere. Organs Platz am Heck war leer. „Atkytschch!“ rief Kirisk. Keine Antwort. Der Junge hob den Kopf und schrak zusammen.
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„Atkytschch, Atkytschch, wo bist du?“
„Schrei nicht!“ rief Emraijin und rückte zu ihm. Er umfing
den Sohn und preßte ihn fest an seine Brust. „Schrei nicht,
der Atkytschch ist nicht mehr da. Ruf ihn nicht! Er ist weg,
zur Fischfrau.“
Kirisk gab nicht nach. „Wo ist mein Atkytschch? Wo? Wo
ist mein Atkytschch?“
„So hör doch! Weine nicht! Beruhige dich, Kirisk, er ist
nicht mehr!“ versuchte der Vater ihn zu beschwichtigen.
„Laß das Weinen. Er hat gesagt, ich soll dir Wasser geben.
Wir haben noch einen Rest. Wenn du nicht mehr weinst,
gebe ich dir zu trinken. Weine nur nicht mehr. Bald weicht
der Nebel, wirst schon sehen ...“
Kirisk gab sich nicht zufrieden, verzweifelt entriß er sich
den Armen des Vaters. Von seinen heftigen Bewegungen ge
riet das Boot ins Schwanken.
Emraijin wußte nicht, was tun. „Gleich fahren wir! Paß
auf, gleich geht es los! He, Mylgun, erheb dich, sag ich. Wir
fahren!“
Mylgun begann zu rudern. Sacht glitt das Boot durch die
Wellen. Und wieder fuhren sie ziellos, ins Ungewisse, in un
durchdringlichem Nebel, der nach wie vor die ganze Welt
verdunkelte.
So empfingen sie den neuen Tag. Nun waren sie nur noch
ihrer drei im Boot.
Blaue Maus, gib Wasser!
Später dann, als Kirisk sich ein wenig beruhigt hatte, setzte
sich Emraijin an seinen Platz, und mit vier Rudern fuhren sie
etwas schneller, ziellos, ins Ungewisse. Kirisk aber, der ver
waist im Heck saß, schluchzte noch immer bitterlich, er
schüttert, daß der alte Organ sie verlassen hatte. Der Vater
und Mylgun waren gleichfalls niedergedrückt und vermoch
ten weder sich selbst noch Kirisk zu helfen. Ratlos legten sie
sich in die Ruder und fuhren, nur um zu fahren. Ihre Gesich
ter wirkten schwarz in dem weißen Nebel. Und gemeinsam
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litten sie unabwendbare, grausame Not — Hunger und Durst. Sie wechselten kein Wort. Hatten Angst zu reden. Erst nach geraumer Zeit warf Mylgun die Ruder hin. „Verteil Wasser!“ sagte er finster zu Emraijin. Emraijin goß aus dem Fäßchen jedem ein paar Schlucke in die Kelle. Das Wasser war muffig, roch unangenehm und schmeckte faulig. Aber selbst davon blieb jetzt nur noch ein winziger Rest. Für drei-, viermal langte es noch, für mehr nicht. Keiner hatte den Durst gelöscht, keiner spürte Er leichterung nach dem Trinken. Und wieder begann das bedrückende, abstumpfende War ten: Würde sich das Wetter ändern oder nicht? Schon äu „ßerte keiner mehr Zuversicht. Erschöpft und zermürbt, fie len sie unwillkürlich in Gleichgültigkeit, kreisten sie mit dem Boot ziellos im tückischen Nebel. Das allein konnten sie noch tun — sich in ihr Los zu schicken. Immer vollständiger unterwarf und beugte der Nebel ihren Willen. Nur einmal rief Mylgun nach einem kräftigen Fluch mit bebender, haß erfüllter Stimme: „Hauptsache, der Nebel verschwindet, dann will ich gern sterben! Stürze mich selber aus dem Boot! Den ersten Sonnenstrahl noch erleben!“ Emraijin schwieg sich aus, wandte nicht einmal den Kopf. Was hätte er auch sagen sollen? Im Boot war er jetzt der Äl teste. Aber einen Ausweg weisen konnte er nicht. Wo sollten sie schon hinfahren? Die Zeit verrann. Das Boot trieb nun von allein, bald kam es zum Stillstand, bald wurde es weitergetragen. Und mit jeder Stunde wurde ihre Lage bedrohlicher — zu dem unstillbaren Durst gesellte sich heftiger, brennender Hunger. Ihre Kräfte erlahmten, schwanden. Kirisk lag im Heck, die Augen halbgeschlossen. Sein_Kopf war bleiern, ihm schwindelte, der Atem ging schwer — Krämpfe zogen den leeren Magen zusammen. Und ständig wollte er trinken. Unbändig trinken.
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„Blaue Maus, gib Wasser!“ Indem der Junge die blaue Maus rief, sie beschwor, hoffte er nun, der Wirklichkeit zu entfliehen, rettete er sich in die Er innerung an jenes Leben, das am Fuß des Scheckigen Hun des zurückgeblieben war — jetzt schon so fern, so märchen haft. „Blaue Maus, gib Wasser!“ flüsterten seine Lippen, und weil sich in seinem Kopf alles drehte, stellte er sich vor, wie sie gespielt hatten, wie sie von einem grasbewachsenen Hügel gleich Baumstämmen hinabgerollt waren. Das war ein lusti ges Spiel! Kirisk war*bei diesem Spaß am geschicktesten, hatte die meiste Ausdauer. Man mußte auf den steilen Hügel laufen und sich von dort hinunterkullern wie ein sich um die eigene Achse drehender entrindeter Stamm, der den Hang hinabrollt. Die Hände fest an der Körper pressen. Erst etwas nachhelfen, um Schwung zu bekommen. Hat man sich dann ein-, zweimal gedreht, rollt man von allein weiter — unauf haltbar. Lacht, wiehert vor Vergnügen, und der Himmel neigt sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite, Wol ken wirbeln und flimmern vor den Augen, es wirbeln und stürzen Bäume, alles fliegt kopfüber, und die Sonne am Himmel kugelt sich vor Lachen. Und das Geschrei und Ge kreisch der Kinder! Da kullert man, kullert hinunter und dreht sich immer schneller, vorbei huschen die drollig lang gestreckten Gesichter und die krummwinkligen Beine der hinterherkollernden Kinder, und schließlich — Halt. Huch! Wie die Ohren dröhnen! Und jetzt der wichtigste Moment. Bevor bis drei gezählt wird, muß man auf den Beinen stehen, darf nicht vor Benommenheit wieder hinfallen. Die meisten kippen doch beim ersten Versuch. Das gibt ein Gelächter! Alle lachen, und man selbst lacht mit. Möchte sich gern hal ten, aber die Erde schwimmt einem unter den Füßen fort ... Doch Kirisk fiel nicht. Er hielt sich auf den Beinen. Riß sich zusammen. Denn Musluk war in der Nähe. Da wollte er nicht hinplumpsen wie ein Schwächling.
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Am schönsten und spaßigsten aber war es, wenn er mit Mus luk um die Wette kullerte. Mädchen können das nämlich auch. Nur sind die meisten Angsthasen, und außerdem blei ben sie oft irgendwo mit den Zöpfen hängen. Aber das zählt nicht. Ohne blaue Flecken geht es nicht ab bei so einem lusti gen Spiel. Wenn Kirisk zusammen mit Musluk hinabkullerte, dann spreizte er absichtlich heimlich die Ellenbogen ab — er brem ste, um sie nicht zu überholen. Gleichzeitig kamen sie unten an unter dem Geschrei und Gelächter der übrigen, gleichzei tig sprangen sie auf die Beine, bevor einer bis drei gezählt hatte, und niemand ahnte, welche Seligkeit es ihm bereitete, Musluk festzuhalten, ihr zu helfen, daß sie stehenblieb. Un willkürlich umarmten sie sich, als wollten sie einander stüt zen. Musluk lachte dabei so fröhlich, ihre Lippen waren so verlockend, und dauernd ermunterte sie ihn, sie zu stützen, tat so, als falle sie und er müsse ihr helfen, sich auf den Bei nen zu halten, müsse sie umfassen, umarmen. Niemand ahnte, welche Augenblicke geheimnisvollen Glücks und scheuer Liebe sie dabei erlebten. Unter dem dünnen Kleid chen des Mädchens schlug ein wildes Herz, manchmal be rührten sich ihre Körper, und Kirisk fühlte, wie seine Hand ihre kleinen, gerade erst knospenden straffen Brüste streifte, wie sie dabei erschauerte und sich rasch an ihn schmiegte und wie rätselhaft ihre vom Schwindelgefühl noch ganz be nommenen Augen strahlten. Die ganze Welt, alles auf Er den und am Himmel schwamm und drehte sich mit ihnen, tauchte in ihr unstillbares Lachen und Glück. Und niemand ahnte etwas von diesem Glück. Nur ein einziges Mal hatte ein verachtenswerter und ver haßter Stammesgefährte, wenig älter als Kirisk, etwas be merkt — wie ein Tölpel ließ er sich auf Musluk fallen, als könne er sich vor Kopfsausen nicht aufrecht halten. Musluk wich ihm aus, rannte fort, er aber tat, als sei er taumelig, setzte ihr nach und wälzte sich auf sie. Da prügelte sich Kirisk mit ihm. Der andere war größer und riß ihn ein
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paarmal um. Dennoch endete der Kampf unentschieden —
KIrisk ergab sich nicht und gestattete auch Musluk nicht,
für ihn einzutreten. Aber das geschah nur ein einziges
Mal...
Dann gab es noch die frohen Augenblicke, da sie, ver
schwitzt und erhitzt nach dem Spiel, zum Bach liefen, um zu
trinken.
„Blaue Maus, gib Wasser!
Ach, blaue Maus, gib Wasser!“
Der Bach floß ganz in der Nähe. Trat gerade dort aus dem
Wald, wo sie spielten. Sein Wasser plätscherte über die
Steine, bewahrte in seinem Lauf Waldesdunkel und Waldes
kühle. Zu beiden Seiten drängte sich dichtes Grün an den
Bach, bis heran an die Strömung. Die unmittelbar am Rand
wachsenden Gräser wurden überspült, ihre langgestreckten
Halme widersetzten sich der munter anrennenden Wasser
flut. So eilte der Bach sorglos dem Meer entgegen, funkelte
hier in der Sonne, tauchte dort unter ein Steilufer oder ver
barg sich in einem Gewirr von Gräsern und Weidenge
strüpp. Gleichzeitig erreichten sie den Bach, gleichzeitig
warfen sie sich nieder am Wasser, drückten die Gräser aus
einander. Da blieb keine Zeit, die Hände zu waschen und
das Wasser mit der hohlen Hand zu schöpfen, sie tranken
wie die Rentiere, die Köpfe gebeugt, die Gesichter in den
gluckernden, sanft kitzelnden Strom getaucht. War das ein
Genuß!
„Blaue Maus, gib Wasser!
Blaue Maus, gib Wasser!
Ach, blaue Maus, gib doch Wasser ...!“
Sie lagen am Bach, die Köpfe zum Wasser gesenkt, Schul
ter an Schulter, und die in die rasche Flut getauchten
Hände verflochten sich, als wäre es ein einziges Paar. Sie
tranken, mit den Lippen nach dem Wasser schnappend,
mit Verschnaufpausen, tranken sich genußvoll satt und
alberten herum: blubberten mit dem Mund im Wasser. Sie
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wollten gar nicht mehr weg, wollten die Köpfe gar nicht
mehr von dem klaren Bach heben, in dem sie ihre schwan
kenden, flüchtigen Abbilder erblickten, sie lächelten
ihnen zu, den drollig verzehrten Spiegelungen, und lächel
ten einander zu.
„Blaue Maus, gib Wasser!
Blaue Maus, gib Wasser!
Blaue Maus, gib Wasser!
Ach, blaue Maus, gib doch Wasser!“
Verschmitzt schielte ihn Musluk mit ihren schmalen Augen
an, ohne das Antlitz vom Bach zu heben, und er erwiderte
ihren Blick, antwortete mit dem gleichen verschmitzten Lä
cheln. Sie knuffte ihn mit der Schulter, als wollte sie ihn fort
schieben, er aber wich nicht. Da nahm sie den Mund voll
Wasser und sprühte es ihm ins Gesicht. Er tat dasselbe:
nahm noch mehr Wasser in den Mund, sprühte es kräftig ihr
ins Gesicht. So ging es immer hin und her. Sie jagten einan
der durchs Wasser, bespritzten sich hemmungslos, rannten,
naß von Kopf bis Fuß, kreischend und laut lachend, bachauf
und bachab.
„Blaue Maus, gib Wasser!“
Schwer bedrückte Kirisk die Erkenntnis, daß dies nun. für
immer vorbei war. Immer mühsamer rang er nach Luft, im
mer häufiger hatte er Magenkrämpfe. Er weinte leise,
krümmte sich leise vor Schmerz und rief unentwegt die
blaue Maus.
„Blaue-Maus, gib Wasser!“
So lag er und suchte Vergessen in Träumen. Nichts änderte
sich. Noch immer deckte sie der weiße Nebelschleier zu.
Kraftlos lagen sie im Boot, ein jeder an seinem Platz. Unge
wiß blieb nach wie vor, was ihrer harrte, als das Boot jäh
ruckte und er den erschrockenen Ruf des Vater vernahm:
„Mylgun! Mylgun! Was tust du? Laß das!“
Kirisk hob den Kopf und traute seinen Augen nicht: Mylgun
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hing über der Bordwand, schöpfte mit der Kelle Meerwasser und trank. „Laß das!“ schrie Emraijin, stürzte auf ihn zu und suchte ihm die Kelle zu entreißen. Doch Mylgun wehrte ihn drohend ab: „Komm mir nicht zu na.he, Bärtiger! Ich erschlag dich!“ Dieses bitter-salzige Wasser — unvorstellbar, es in den Mund zu nehmen — trank er, dabei begoß er seine Kleidung, das Wasser rann ihm auf Brust und Ärmel, er trank, würgend, mit Selbstüberwindung, kippte die Kelle mit zitternden Händen. Seine Zähne waren raubtierhaft ge fletscht. Dann schleuderte er die Kelle ins Boot, warf sich der Länge lang hin und wälzte sich auf dem Boden, heiser krächzend und keuchend. So blieb er liegen, und keiner konnte ihm helfen. Vor Angst krümmte sich Kirisk zusammen, von noch heftigerem Durst, noch wilderem Leibschneiden geschüttelt. Niedergeschlagen griff Emraijin wieder nach den Rudern und lenkte das Boot irgendwohin in den Nebel. Etwas ande res konnte er nicht tun. Mylgun war bald still, bald zuckte er in Krämpfen, rö chelnd, vor Durst vergehend. Nach einer Weile hob er den Kopf. „Es brennt! In mir brennt alles!“ Und er riß sich die Klei dung von der Brust. „Sag doch, was kann ich tun? Wie kann ich dir helfen? Da ist noch was.“ Emraijin nickte zum Fäßchen hin. „Soll ich dir ein wenig eingießen?“ „Nein“, entgegnete Mylgun. „Jetzt nicht mehr. Ich wollte bis zur Nacht durchhalten und dann, wie unser unvergeßli cher Atkytsehch ... aber ich habe es nicht geschafft. Auch gut. Sonst hätte ich noch was Unrechtes getan. Das ganze Wasser ausgetrunken. Jetzt ist mein Ende gekommen, und ich gehe. Mit mir ist's zu Ende. Ich tu's allein, noch reicht die Kraft...“ Wie schrecklich, wie unerträglich, auf dem weiten Meer, im
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grenzenlosen, unbeweglichen Nebel die Worte eines Man nes zu hören, der sich selbst zu einem langsamen Tod verur teilt hatte. Emraijin versuchte, seinen Freund und Bruder Mylgun zu beruhigen, ihm etwas zu sagen, jener aber wollte ihn nicht anhören, er hatte es eilig, war fest entschlossen, seine Qualen mit einem Schlag zu beenden. „Sag du mir nichts, Emraijin, gar nichts, es ist zu spät“, mur melte Mylgun wie von Sinnen. „Ich gehe allein. Ganz allein. Und ihr beide, Vater und Sohn, entscheidet selbst. So ist es besser. Verzeiht mir, daß es so gekommen ist. Ihr seid Vater und Sohn, ihr müßt leben, noch habt ihr einen Rest Was ser... Ich steige jetzt aus.“ Mit diesen Worten erhob sich Mylgun, klammerte sich gebeugt an den Bootsrand. Tau melnd, alle Kraft zusammennehmend, sagte er zu Emraijin, während er ihn mit gesenktem Kopf ansah: „Hindere mich nicht, Bärtiger! Es muß sein. Hindere mich nicht. Lebt wohl. Vielleicht schafft ihr es. Ich bin soweit... Du fahre sofort weg. Sofort, warte nicht... Wenn du mir nahe kommst, kippe ich das Boot um ... Und nun rudere, Bärtiger, rudere kräftiger. Hörst du, ich kippe es um ...“ Emraijin blieb nichts anderes übrig, als Mylguns Drohungen und Bitten zu beherzigen. Das Boot stieß vorwärts, durch schnitt lautlosen Nebel und lautloses Wasser. Kirisk brach in Weinen aus. „Aki-Mylgun! Aki-Mylgun! Bitte, nicht!“ In diesem Augenblick wälzte sich Mylgun entschlossen über Bord. Das Boot legte sich stark zur Seite und richtete sich wieder auf. „Weg! Rudert weg!“ schrie Mylgun, im eisigen Wasser zap pelnd. . , Alsbald hatte der Nebel ihn verschlungen. Schweigen. Dann erklang in der dröhnenden Stille noch einmal die Stimme, der letzte Schrei des Ertrinkenden. Da hielt es Emraijin nicht länger aus. „Mylgun, Mylgun!“ schrie er und wendete aufschluchzend das Boot. Sie kehrten schnell zurück, aber Mylgun war bereits ver
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schwunden. Die Wasseroberfläche lag öde und ruhig, als wäre nichts geschehen. Schon fiel es schwer, den Ort zu be stimmen, wo soeben ein Mensch ertrunken war. Den ganzen Rest des Tages kreisten sie hier, ruderten nir gends hin. Beide weinten, ausgehöhlt und zermürbt vom Leid. Zum erstenmal im Leben sah Kirisk den Vater weinen. Das war noch nie vorgekommen. „Nun sind wir also allein“, murmelte Emraijin fassungslos und wischte sich die Tränen aus dem Bart. „Mylgun, mein treuer Mylgun!“ flüsterte er schluchzend. Der Tag ging schon zur Neige. So schien es. Falls es irgendwo eine Sonne gab, falls sie über den Meeren, über den Nebeln am Himmel entlangzog, dann begab sie sich wahrscheinlich bereits zur Ruhe. Hier aber, unter der dich ten Nebeldecke, die sich mit Dämmerfeuchte vollsog und immer dunkler wurde, kreiste auf dem Meer ein verscholle nes einsames Boot, in dem nun nur noch zwei waren — Va ter und Sohn. Ehe Emraijin sich sagte, daß es Abend wurde, hatte er entschieden, es sei Zeit zu trinken. Er sah, wie sehn süchtig Kirisk darauf wartete, und wußte, was es den Sohn kostete, Durst und Hunger zu erdulden, sich zu bezwingen, keinen Ton zu sagen. Mylguns Ende hatte für eine Weile jeden Gedanken an Wasser gleichsam erstickt. Allmählich je doch wurde der Durst wieder übermächtig, nun brannte er schon doppelt so stark, und grausam rächte sich der erzwun gene Aufschub der Qualen. Äußerst behutsam, um nur ja keinen Tropfen zu verschüt ten, goß Emraijin zuerst Kirisk von dem dumpfigen Wasser ein. Der Junge packte die Kelle und hatte im Handumdre hen, wie besessen, seinen Anteil verschluckt. Als sich Emrai jin dann selbst eingoß, gewahrte er, daß der Rest Wasser ge rade noch den Boden des Fäßchens bedeckte. Kirisk be merkte es gleichfalls, sah er doch, wie stark der Vater das Fäßchen neigte. Emraijin erstarb, tief betroffen, obwohl er das eigentlich erwartet hatte. Jetzt zögerte er, sein Wasser zu trinken. Nachdenklich hielt er die Kelle in der Hand, jäh
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erschüttert von einem Gedanken, angesichts dessen die Stil lung seines Durstes nichts mehr bedeutete. „Da, halt mal“, sagte er und reichte die Kelle dem Sohn, ob wohl er das nicht hätte tun sollen. Für den Jungen war es eine Folter, die Kelle mit dem Wasser zu halten und nicht zu trinken. Emraijin, der sich so die Hände frei gemacht hatte, trieb den Stopfen fest in das Spundloch und stellte das fast leere Fäßchen an seinen Platz. „Trink“, gebot er dem Sohn. „Und du?“ fragte Kirisk verwundert. „Ich trinke später. Mach dir keine Gedanken, trink“, sagte der Vater ruhig. Da stürzte Kirisk flugs auch diese Portion stinkenden Was sers hinunter. Seinen Durst stillte sie keineswegs, wie er es gewünscht hätte, dennoch spürte er eine kleine Erleichte rung. „Na?“ erkundigte sich der Vater. „Ein bißchen besser“, flüsterte der Junge dankbar. „Hab keine Angst. Und merk dir, selbst ohne einen Tropfen Wasser im Mund kann der Mensch zwei, drei Tage aushal ten. Was immer geschieht, hab keine Angst...“ „Hast du deshalb nicht getrunken?“ unterbrach ihn Kirisk. Überrumpelt von dieser Frage, fand Emraijin nicht gleich Antwort. Nach kurzem Überlegen sagte er: „Ja.“ „Und wie lange kann man leben, ohne zu essen? Wir essen doch seit Tagen nicht mehr.“ „Hätten wir nur Wasser! Aber denk nicht dran. Wir wollen lieber weiterfahren. Ich möchte mit dir reden.“ Emraijin ließ die Ruder in den Dollen knirschen, und lang sam bewegten sie sich im Nebel übers Meer, als könnten sie nicht an dem Ort reden, an dem sie sich befanden. Der Vater mußte selber Mut schöpfen. Ihm schien, so könne er sich besser sammeln, sich auf das Gespräch vorbereiten, an das auch nur zu denken ihn graute. Nicht genug, daß er selbst ruderte, er befahl auch dem Sohn, sich an die Ruder zu set zen. Notwendig war das nicht, ebensowenig, wie überhaupt
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zu fahren. Mühsam handhabte der Junge die für ihn zu schweren Meeresruder. Eins allein hätte er noch bewältigt, ein Paar war zuviel bei seinem Alter. Emraijin spürte, der Junge war merklich geschwächt, so wie auch er von Stunde zu Stunde mehr ermattete. Eben dies trieb ihn zur Eile. Die Zeit verrann. Kirisk schwieg und blickte sich nicht um, fiel beim Durch ziehen der schweren Ruder immer wieder aus dem Gleich takt. Doch nicht das machte Emraijin Sorgen. Während er den Sohn so von hinten ansah, seine gebeugte und, wie er jetzt bemerkte, noch immer kindlich schmächtige, hilflose kleine Gestalt, zerbiß er sich die Lippen, flutete heißes Blut in sein schmerzhaft pochendes Herz. Und obwohl ihm kein anderer Ausweg blieb, wagte er nicht, das Gespräch zu be ginnen ... Allmählich verschlechterte sich die Sicht im Nebelgrund. Emraijin aber ruderte noch immer, in schwere Gedanken versunken, viel Zeit hatte er wirklich nicht mehr. Wie sehr er sich auch beherrschte, wie stark er auch von Natur war, Durst und Hunger rangen ihn rasch nieder, verzehrten rasch seine Kräfte. Er mußte sich beeilen, den Sohn auf das vorzubereiten, was seine Gedanken jetzt beschäftigte, mußte es tun, solange er noch durchhielt und Herr seiner selbst war. Nach Organ und Mylgun war nun auch ihm beschieden, das Boot zu verlassen, dies war die einzige Möglichkeit, das Le ben des Sohnes wenn nicht zu retten, so zumindest um soviel zu verlängern, wie der Wasserrest auf dem Grunde des Fäß chens zuließ. Er wußte nicht, ob der Nebel in dieser Nacht verwehen würde oder in der nächsten, und schon gar nicht, was den Sohn erwartete, falls das Wetter früher oder später umschlug, wie er dann, allein geblieben auf See, überleben und sich retten könnte. Darauf gab es keine Antwort. Seine einzige, wenig wahrscheinliche, wohl sogar unerfüllbare Hoffnung bestand darin, daß ihr Boot, falls sich der Nebel hob, vielleicht zufällig einem großen Schiff der weißen
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Menschen begegnete. Vom Hörensagen wußte er, daß weiße Männer bisweilen in diesen Gewässern auftauchten — abseits von der Küste der Niwchen überquerten sie in ihren Angelegenheiten den Ozean, fuhren sie aus unbekannten fernen Ländern in andere unbekannte ferne Länder. Er selbst war ihnen nie begegnet, doch die Kaufleute, die alles wissen, hatten davon erzählt, manche behaupteten sogar, sie seien selber schon auf den Schiffen der weißen Männer ge fahren, die riesig seien wie Berge. Nur an ein solches Wun der — daß sich das Wetter aufheiterte, daß ihre Wege sich kreuzten und die weißen Leute den selbstgefertigten kleinen Kajak im Ozean erblickten —, nur daran konnte sich ihre Hoffnung klammern, eine schwache und unwahrscheinli che, fast unmögliche zwar, und doch eine Hoffnung. All das gedachte Emraijin dem Sohn mitzuteilen, bevor er ihn verließ. Er mußte Kirisk überzeugen, mußte ihm streng stens befehlen, im Boot zu bleiben bis zum letzten Atemzug, solange er noch bei Bewußtsein war. Und falls es ihm be stimmt war zu sterben, nachdem das Wasser zu Ende gegan gen, dann sollte er im Boot sterben und sich nicht ins Meer stürzen, wie das Organ und Mylgun hatten tun müssen und auch er tun würde. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Er mußte sich drein schicken, mußte die Grausamkeit des Schicksals hinnehmen ... Doch bei dem Gedanken, daß der elfjährige Junge in dem Boot einsam der ganzen Welt ausge liefert blieb, dazu verurteilt, im undurchdringlichen Nebel, im endlosen Meer langsam an Durst und Hunger zugrunde zu gehen, packte Emraijin Verzweiflung. Damit konnte er sich nicht abfinden, das überstieg seine Kraft. Und er er tappte sich bei dem Gedanken, er könne den Sohn nicht al lein lassen — lieber mit ihm zusammen sterben ... Bald wurde es vollends finster. Wieder breitete sich pech schwarze Nebelnacht über das Meer. War es schon am Tag sinnlos, durch den Nebel ins Ungewisse zu fahren — um wieviel weniger Sinn hatte das in der Nacht! Das Boot schaukelte sacht an einem Fleck. Und wiederum deutete
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nichts darauf hin, daß das Wetter umschlug. Das Meer lag wie tot. Vater und Sohn lagerten sich für die Nacht auf den Boden des Bootes, eng aneinandergepreßt. Schlaf fand keiner von beiden. Von Durst und Hunger geplagt, grübelte jeder, was ihn wohl erwartete ... Neben dem Vater liegend, spürte Ki risk deutlich, wie die letzten Tage diesen entkräftet hatten, wie abgezehrt sein Körper war und wie erschöpft. Nur der Bart hatte sich nicht verändert, war noch stark und ge schmeidig. An den Vater geschmiegt, heimliche Tränen schluckend vor Mitleid mit ihm, erfuhr der Junge in dieser Nacht eine solch ursprüngliche Sohnesliebe, wie er sie bis lang nicht gekannt hatte. Mit Worten hätte er dieses Gefühl nicht ausdrücken können, es ruhte tief in seinem Herzen, seinem Blut, seinem Herzschlag. Früher war er immer stolz gewesen, daß er dem Vater glich, hatte ihn nachgeahmt und geträumt, so zu werden wie er, jetzt aber wurde ihm be wußt: Der Vater, das war er selber — sein Ursprung, und er war die Fortsetzung des Vaters. Daher tat ihm der Vater schmerzhaft leid, wie er sich selbst leid tat. In allem Ernst beschwor er die blaue Maus, ihnen Wasser zu bringen — ihm und dem Vater. „Blaue Maus, gib uns Wasser! Blaue Maus, gib uns Wasser!“ Der Vater aber dachte bereits nicht mehr an Wasser für sich, obwohl es ihm von Stunde zu Stunde schwerer fiel, die Pein des ungestillten, ständig zunehmenden, physisch bereits un erträglichen Durstes zu erdulden. In seinem Inneren brannte alles und verdorrte, geschüttelt von furchtbaren, unausbleib lichen Krämpfen. Sein Kopf begann zu dröhnen. Jetzt ver stand er die letzten Qualen Mylguns. Und doch beschäftigte anderes seine Gedanken. Nach Wasser zu lechzen war für ihn schon sinnlos geworden. Längst hätte er diese ausweg lose Plage beendet, wäre nicht der Sohn gewesen, hätte er übers Herz gebracht, den Sohn zu verlassen, der sich an ihn
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kuschelte in dieser finsteren letzten Nacht. Den Sohn — und gäbe es nicht die geringste Aussicht auf seine Rettung! — bis an die Grenze des Möglichen zu behüten, das Leben des Sohnes — und sei es auch um die geringste Frist! — zu ver längern, wurde für den Vater zum Inhalt des Todeskampfes, und der Hoffnung, diesem Ziel galten sein letzter Wille und seine letzte Tat; und deswegen mußte er schnellstens das Boot verlassen. Aber gerade um des Sohnes willen konnte er sich nicht dazu entschließen, fürchtete er doch, ihn der Will kür des Schicksals auszusetzen. Indessen wurde auch ein Zögern, ein Hinausschieben gefährlich — seine letzten Kräfte schwanden, und er brauchte sie,- um Mut zu fas sen ... Des Vaters Lebenszeit verrann ... Wie nur, mit welchen Worten sollte er Kirisk das erklären? Wie ihm sagen, daß er ihn verließ — um seinetwillen? Des Vaters Lebenszeit verrann ... „Vater!“ flüsterte plötzlich der Junge, als erriete er dessen Gedanken, schmiegte sich noch enger an ihn und beschwor seine blaue Maus: „Blaue Maus, gib uns Wasser! Blaue Maus, gib uns Wasser!“ Mit zusammengebissenen Zähnen stöhnte Emraijin auf vor Gram und wagte kein Wort. In Gedanken nahm er Abschied vom Sohn, und je länger dieser Abschied dauerte, desto schwerer, desto qualvoller raffte er sich auf zum letzten Schritt. In dieser Nacht begriff er den Sinn seines vergange nen Lebens, das sich in ebendieser Nacht vollendete. Er ward geboren, und er starb, um alles zu tun, daß er im Sohn weiterlebte. Daran dachte er in jener Stunde, da er schwei gend Abschied nahm vom Sohn. Emraijin machte die Ent deckung, daß er sein Leben lang der gewesen war, der er war, damit er — bis zum letzten Atemzug — in seinem Sohn fortlebte. Und er hatte nur deshalb nicht eher daran ge dacht, weil es vorher dafür nie einen Grund gegeben.
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Plötzlich entsann er sich, auch früher schon hatte ihn dieser Gedanke bisweilen durchblitzt. Jetzt wurde ihm auch klar, was ihm dereinst geschehen, als er mit dem verstorbenen Mylgun und anderen Stammesgefährten im Wald einen rie sigen Baum fällte. Der Baum neigte sich bereits, und er stand in jenem Augenblick zufällig dort, wo dieser gefällte Gigant niederstürzen und weit und breit alles zermalmen würde. Alle schrien wie aus einem Mund: „Achtung!“ Emraijin erstarrte vor Schreck, aber zu spät: Krachend, un ter dem Gepolter der niederstürzenden Krone, den Himmel selbst ein- und umstürzend, in die grüne Waldeskuppel dro ben ein Loch reißend, fiel der Baum langsam auf ihn. In die sem Moment dachte er nur an eines: daß Kirisk — damals noch ein kleiner Junge und das einzige Kind, Psulk war noch nicht geboren —, in jenen wenigen Sekunden, an der Schwelle des unentrinnbaren Todes dachte er nur an das eine und an nichts sonst: daß sein Sohn das war, worin er in der Welt bliebe. Der Baum stürzte mit Donnergetöse neben ihm nieder und hüllte ihn in eine Wolke aus Blättern und Staub. Da schrien alle erleichtert auf. Emraijin war am Le ben geblieben, am Leben und unversehrt! Diese Erinnerung machte ihm klar, daß gerade die Geburt des Sohnes ihn zu dem gemacht hatte, der er war, und daß er nie Schöneres und Stärkeres empfunden hatte als die Va terliebe. Dafür war er den Kindern dankbar, vor allem aber seinem Sohn Kirisk. Gern hätte Emraijin Kirisk das gesagt, doch er wollte ihn nicht beunruhigen. Der Junge hatte es oh nehin schwer... Des Vaters Lebenszeit .verrann ... „Blaue Maus, gib uns Wasser! Blaue Maus, gib uns Wasser!“ Des Vaters Lebenszeit verrann ... Noch zwei, drei kostbare Erinnerungen'waren ihm geblie ben, von denen er sich nur schwer trennte. Er wollte nicht den letzten Schritt tun, ohne sie sich noch einmal ins Ge
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dächtnis zu rufen, obwohl die Zeit bereits drängte. Jetzt nahm er Abschied von seinen Erinnerungen, ständig dessen eingedenk, daß es an der Zeit war, das Boot zu verlassen. Er hatte seine Frau von den ersten Tagen an geliebt. Er staunlich, daß er, wenn er auf See war, das gleiche dachte wie sie zu Hause. So war es von Anbeginn. Sie wußte, was ihn beschäftigte, wenn er auf Fahrt war, wie auch er ihre Überlegungen kannte ... Diese Gedankenübertragung war ihr Geheimnis und ein Glück der Vertrautheit, von dem kein anderer wußte. Als Kirisk noch nicht geboren war, sich aber die ersten An zeichen einstellten, die sich bestätigen konnten oder auch nicht, sagte er unmittelbar nach seiner Rückkehr zur Frau: „Wird's ein Junge?“ „Pst, daß es die Kinren nicht hören!“ flüsterte sie erschrok ken, doch ihre Augen glänzten vor Freude. „Woher weißt du?“ „Du hast heute daran gedacht. Du wünschst es dir sehr.“ „Und du?“ „Du weißt doch, ich kenne deine Gedanken, und mich be wegt das gleiche.“ „Ich aber habe so gedacht, weil du daran dachtest und es dir sehr wünschtest...“ Ihr Vorgefühl hatte nicht getrogen. Kirisk war noch nicht auf der Welt, sollte aber bald erscheinen. Der Zeitpunkt rückte immer näher. In jenen Tagen trug die Frau seine alten Fellhosen, die schon manches mitgemacht hatten und vor Flicken nur so strotzten. Das tue sie deshalb, erklärte sie, da mit sein männlicher Geist bei ihr bleibe, wenn er auf Fang ausziehe, sonst wüchse der schlecht, den sie erwarteten. Wunderschön und begehrenswert war damals die Frau für ihn in den alten Fellhosen. Die Allerschönste und Begeh renswerteste! Herrlich, von Erregung und Freude bewegt, waren jene Tage, da ihre Sinne schon von dem erfüllt waren, der sie zu Vater und Mutter machen sollte ...
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Das war Kirisk ... Von ihm und von allem, was mit ihm ver bunden war, mußte er sich jetzt für immer trennen. Einmal, Kirisk war schon größer, hatte sich die Mutter über ihn geärgert und gesagt, sie habe es viel besser gehabt, als es ihn noch nicht gab. Tief verletzt hatte der Junge den Vater gefragt, als dieser vom Meer heimkehrte: „Wo war ich denn, als es mich noch nicht gab?“ Nein, war das drollig! Emraijin und seine Frau hatten laut los gelacht, nur mit den Augen. Vor allem die Frau hatte ihren Spaß daran gehabt, daß er keine Antwort wußte, sich wand und dem Jungen nicht erklären konnte, wo er war, als es ihn noch nicht gab. Jetzt hätte der Vater ihm gesagt, er sei in ihm gewesen, als er noch nicht auf der Welt war, in seinem Blut, in seinen Len den, von da sei er in den Leib der Mutter geflossen und als sein Ebenbild entstanden, nun aber, da er selbst ver schwände, bliebe er im Sohn, um in dessen Kindern und Kindeskindern erneut Gestalt anzunehmen. Ja, so hätte er es ihm erklärt, und er wäre glücklich gewesen, gerade das vor dem Tod auszusprechen, doch nun nahte das Ende. Das Ende für sein Geschlecht. Allenfalls einen Tag, höchstens zwei hatte Kirisk noch zu leben, mehr nicht, der Vater begriff es nur zu gut. Damit konnte er sich nicht aus söhnen, das war sein Unglück — nicht, daß er das Boot um des Sohnes willen verlassen mußte ... Gern hätte Emraijin dem Sohn zum Abschied aufgetragen, in der ihm noch vergönnten Frist dankbar des alten Organs und Aki-Mylguns zu gedenken. Die beiden lebten nicht mehr, ihnen war es gleich, ob jemand ihrer gedachte oder nicht, das mußte man schon um seiner selbst willen tun. So gar angesichts des Todes. Noch im Sterben mußte man um seiner selbst willen an solche Menschen denken. Doch dann sagte sich Emraijin, der Sohn wird schon von al lein darauf kommen ...
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Als Kirisk erwachte, wunderte er sich, daß er wärmer lag als die vergangenen Nächte. Er war mit dem Fellhemd des Va ters zugedeckt. Der Junge schlug die Augen auf, hob den Kopf — der Vater war nicht im Boot. Er fuhr hoch, tastete das Boot ab und schrie auf vor Entsetzen, erfüllte mit seinem Klageruf die lautlose Öde des nebelverhangenen Meeres. Lange gellte sein einsamer Schrei der Verzweiflung und des Schmerzes. Er weinte bitterlich, bis zur Erschöpfung, sank dann auf den Boden des Bootes, röchelnd und mit zuckendem Kopf. Alles schwang darin mit — sein Dank an die Vä ter, von denen er stammte, seine Liebe, sein Leid, seine Wehklage um sie ... Der Junge lag auf dem Boden des Bootes, ohne den Kopf zu heben, ohne die Augen zu öffnen. Wohin sollte er auch schauen, was konnte er schon tun. Weit und breit lag noch immer weißlicher Nebel, nur das Meer hatte begonnen, sich unentschlossen zu regen, es schaukelte und drehte das Boot auf der Stelle. Kirisk weinte verzweifelt, machte sich Vorwürfe, weil er eingeschlafen war, denn wäre er nicht eingeschlummert, hätte er den Vater um nichts in der Welt fortgelassen, mit Händen und Zähnen hätte er sich an ihn gekrallt, um ihn zu rückzuhalten, lieber sollten sie gemeinsam zugrunde gehen, schneller verdursten und verhungern, wenn er nur nicht al lein bliebe in der schrecklichen Einsamkeit. Weinend be schimpfte und beschuldigte er sich, weil er nicht erwacht, nicht hochgesprungen war, nicht aufgeschrien hatte, als er mitten in der Nacht merkte, wie das Boot heftig ruckte und schwankte. Niemals hätte er zugelassen, daß sich der Vater ins Meer warf! Er hätte sich mit ihm zusammen in diesen schwarzen Abgrund gestürzt! Dann aber nickte er allmählich ein, tränenüberströmt und am ganzen Leibe zitternd. Bis ihn nach einiger Zeit mit Macht wieder der Durst überfiel, als wolle der sich rächen, daß der Kummer ihn für kurze Zeit verdrängt hatte. Sogar im Schlaf spürte Kirisk, wie er unter dem Wassermangel er
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mattete und litt. Der Durst höhlte ihn aus, marterte, würgte ihn. Da kroch er fast blindlings zu dem Fäßchen und ge wahrte, daß der Stopfen gelockert war, damit er ihn leichter herausziehen konnte,und die Kelle daneben lag. Er goß sich Wasser ein und trank, ohne an etwas zu denken, so löste er die verklebten Lippen und den Krampf in der Kehle. Erst wollte er nachgießen und noch etwas trinken, dann über legte er es sich anders, er fand die Kraft und widerstand. Wasser blieb nun noch für zweimal Trinken ... Verzagt saß er da und grübelte, warum der Vater gegangen war, ohne etwas zu sagen. Wäre es ihm nicht leichter gefal len, mit dem Vater gemeinsam zu ertrinken, als das Boot jetzt zu verlassen, da Einsamkeit und Angst ihm Hände und Füße fesselten? Er beschloß, es zu tun, sowie er den Mut aufbrächte ... Es war bereits Mittag, vielleicht sogar etwas später. So schien es Kirisk jedenfalls, nach dem sich lichtenden Nebel zu urteilen. Sicher stand die Sonne irgendwo im Zenit. Doch ihre Strahlen durchdrangen immer noch nicht das Massiv des über dem Ozean erstarrten Großen Nebels. Der Nebel wurde zwar heller, wurde bläulich wie der Rauch von dür rem Holz, trotzdem sah man im Umkreis von etlichen Bootslängen nichts als dunkles wogendes Wasser. Er wußte nicht, wohin er fahren sollte, auch käme er jetzt mit den Rudern nicht zurecht. Kummervoll betrachtete er des Vaters und Mylguns Ruder, die ordentlich an der Bord wand lagen. Der Kajak trieb nun von allein, bewegte sich im Nebel, unbekannt, wohin. Und von allen Seiten umgab den Jungen Einsamkeit, herrschte ausweglose Angst, die sein Herz gefrieren ließ. Später, gegen Abend, überfiel ihn erneut unerträglicher Durst. Ihn schwindelte vor Hunger und Schwäche. Er mochte sich weder bewegen noch umsehen. Wohin wollte er auch sehen und warum? Es fiel ihm ja sogar schwer, auch nur zum Wasserfäßchen zu kriechen. Er rutschte auf den Knien, mußte innehalten vor Erschöpfung. Bald würde er
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sich nicht einmal mehr rühren können. Er hielt eine Hand vors Gesicht und erschrak: Sie war eingeschrumpelt wie das getrocknete Fell eines Erdeichhörnchens. Diesmal trank Kirisk mehr, als er gedurft hätte. Nun blieb nur noch ein letzter Rest auf dem Boden, für einmal reichte es noch, dann war Schluß. Endgültig. Aber jetzt war ihm al les gleich. Trotz allem wollte er trinken, unentwegt trinken. Der brennende Hunger hatte sich gelegt, im Magen bohrte ein unstillbarer, wütender Schmerz. Einige Male verlor er die Besinnung, doch er kam wieder zu sich. Das Boot aber trieb steuerlos, schwamm im Nebel, be wegt von einer aufgelebten Strömung. Einmal war er allen Ernstes bereit, sich ins Meer zu stürzen. Doch ihm fehlte die Kraft. Er kniete sich hin, lehnte sich auf den Bootsrand. Und so hing er, die Arme draußen, doch au ßerstande, den Körper aus dem Boot zu kippen. Dann war er so schlapp, daß er nicht einmal versuchte, den Wasserrest im Fäßchen zu trinken. Er lag auf dem Boden des Bootes, weinte leise und rief seine durststillende Maus: „Blaue Maus, gib Wasser!“ Die blaue Maus kam nicht, nur sein Durst wurde immer schlimmer. Und wieder entsann er sich jenes Sommers, da er einmal nackt im Bach gebadet hatte. Sieben Jahre war er da mals gewesen, höchstens. Das war ein unglaublich heißer Sommer. Am Waldrand brannte die Sonne. Dort sammelten sie Beeren. Und dann badeten sie. Auch Mutter und ihre Schwester. Sie schämten sich nicht weiter vor ihm. Beide zo gen sich aus, ihre Hüften schimmerten braun, sie legten die Hände an die Brüste und gingen ängstlich hinein in den Bach. Komisch, wie sie schrien, kreischten und im Wasser planschten. Und als er den Bach entlanglief und vom Ufer ins Wasser sprang, machten sie sich über ihn lustig, vor al lem die Mutter. Sieh nur, sieh, sagte sie zur Schwester, diese Ähnlichkeit, haargenau der Hausherr! Und noch
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etwas anderes tuschelten sie einander mutwillig zu und lachten ausgelassen ... Das Wasser im Bach aber floß unaufhaltsam, man konnte sich satt trinken und nach Herzenslust baden ... „Blaue Maus, gib „Wasser!“ Er wähnte, wieder an jenem Bach zu sein. Und wieder an einem heißen Sommertag nackt zu baden. Da läuft er am Ufer entlang, springt ins fließende Wasser, spürt jedoch nicht die Kühle der Flut. Bald ist dort ein nicht wahrnehm bares, unwirkliches Wasser, bald Nebel. Er badet im Nebel. Ihn fröstelt in solch einem Wasser. Die Mutter aber lacht nicht, sie weint. Sieh nur diese Ähnlichkeit! sagt sie zu je mandem und weint, weint bitterlich ... Ihre Tränen sind sal zig, rinnen über ihr Gesicht... Nachts erwachte Kirisk vom Wiegen und Rauschen der Wellen. Leise schrie der Junge auf — über ihm leuchteten Sterne! Zum erstenmal in all den Tagen. Sie funkelten hoch am dunklen Himmel, dort, wo die Wolken, die überm Meer dahineilten, zerrissen waren. Sogar der Mond zeigte sich einige Male, tauchte aber alsbald wieder in Gewölk. Der Junge war verblüfft — Sterne, Mond, Wind, Wellen — Leben, Bewegung! Und obwohl sich noch Nebelschwaden hielten und alles wieder in trübes Dunkel tauchten, wenn das Boot an solche Stellen geriet, währte das nicht lange. Der Große Nebel war in Fluß geraten, hatte sich aus seiner Erstarrung gelöst, begann sich zu zerstreuen, gejagt von Wind und Wellen. Der Junge blickte zu den Sternen, Tränen in den Augen. Ihm fehlte die Kraft, nach den Rudern zu greifen, er wußte nicht, wie er nach den Sternen den Weg finden konnte, wußte nicht, wohin er fahren sollte, wußte nicht, wo er sich befand und was seiner harrte, und dennoch war er froh über das Rauschen der dahineilenden Wellen, über den aufge sprungenen Wind, war er froh, daß die Wellen das Boot forttrugen.
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Er weinte vor Freude und Leid, weil es licht geworden, das Meer in Bewegung geraten war und weil er, hätte er nur Trinkwasser und Nahrung gehabt, dieses, Leben noch hätte lieben können. Doch er wußte, er schaffte es nicht mehr, sich zu erheben, seine Tage waren gezählt und er würde bald zugrunde gehen vor. Durst... Das Boot aber schwamm immer flinker auf den Wellen. Es schwamm mit der Strömung, ohne Steuer und ohne Ruder. Schon zeichnete sich über dem Meer der Horizont ab, im mer weiter dehnte sich der nächtliche Raum, immer seltener tauchte das Boot in Nebel. Und die vorbeiziehenden Dunst schwaden waren längst nicht mehr so schwarz und bedrük kend. Jetzt schien der Nebel von lautlos dahinjagenden Fa belwesen aufgewühlt. Sie erstanden und verschwanden von selbst im Wind, lösten den Nebel auf und stießen ihn bei seite. Sooft der Mond aus den Wolken trat, sprenkelte sich die Wasserfläche, funkelte lebendig, bis sie wieder erlosch, um sich erneut zu beleben. Der Junge blickte zu den stumm leuchtenden Sternen und dachte: Welche sind wohl die Schutzsterne? Wo ist der Stern von Atkytschch Organ, wo der Stern von Aki-Mylgun und wo der Stern meines Vaters Emraijin? Ihr wart nicht zu sehen all die Tage. Und uns konntet ihr nicht erblicken im Nebel. Jetzt, ihr Sterne, bin ich allein, und ich weiß nicht, wohin ich schwimme. Aber jetzt fürchte ich mich nicht, denn ich sehe euch alle am Him mel. Nur weiß'ich nicht, welcher Stern zu wem gehört. Ihr seid nicht schuld, daß es so gekommen ist. Ihr habt uns ja nicht gesehen auf dem Meer. Der Große Nebel hat uns ver deckt. Nun bin ich allein. Sie sind weggeschwommen, sind alle drei weggeschwommen. Sie hatten euch sehr lieb, ihr Sterne. Lange haben sie gewartet, wollten euch so gern se hen, um den Weg zum Land zu finden. Atkytschch Organ hat gesagt, Sterne täuschen nie. Er wollte mir noch so viel beibringen ... Doch ihr seid nicht schuld, daß es so gekom men ist. Auch ich werde bald sterben. Ich habe kein Wasser
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mehr, bin schon ganz erschöpft, und ich weiß nicht, wohin ich schwimme ... Einen Rest Wasser habe ich noch, einen winzigen Rest, den trinke ich jetzt, länger ertrage ich es nicht, ich kann nicht mehr. Heute habe ich ein Stück von dem leeren Dörrfischsack gekaut, er ist aus Robbenfell. Aber jetzt kann ich nicht mehr, mir ist übel, der Magen dreht sich mir davon ... Gleich trinke ich das letzte Wasser. Und sollten wir uns nicht wiedersehen, will ich euch Sternen sagen, Atkytschch Organ und Aki-Mylgun und mein Vater Emraijin hatten euch sehr lieb ... Wenn ich bis zum Morgen durchhalte, nehme ich später Abschied ... Bald geriet das Boot erneut in ein breites Nebelfeld. Alles verschwand, tauchte erneut in Dunkel. Das Boot aber schwamm weiter, getrieben von Wind und Wellen. Kirisk war es gleich. Nachdem er den Rest des fauligen, muffigen Wassers getrunken hatte, blieb er neben dem leeren Fäßchen am Heck liegen, dort, wo zuvor der alte Organ gesessen hatte. Er wartete auf den Tod, und der Nebel schreckte ihn nicht mehr. Ihm tat nur leid, daß er die Sterne nicht mehr sah und er sich wohl nicht mehr von ihnen verabschieden könnte ... Ihm wurde schlechter und schlechter ... So dämmerte er, halb im Fieberwahn und halb im Schlum mer, und merkte nicht, wie die Zeit verann. Vielleicht war Mitternacht schon vorbei, vielleicht näherte sich die Nacht dem Ende. Schwer zu sagen. Dunst breitete sich über das Meer wie Rauch bei Wind. Schicksal bleibt Schicksal. Der Junge konnte es hören und konnte es auch überhören. Er hörte es. Zu seinen Häupten hörte er plötzlich Flügel rauschen, etwas überflog das Boot tief im Nebeldunst. Er fuhr zusammen und erkannte im sel ben Augenblick, daß es ein Vogel war, ein großer, kräftiger Vogel, der da mit breiten Schwingen schlug. „Agukuk!“ schrie er. „Agukuk!“ Blitzschnell erfaßte er die Flugrichtung der Polareule, prägte sich ein, woher der Wind wehte. Der Wind kam von links, blies von links in den Nak ken, ein wenig hinter dem linken Ohr.
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„Agukuk!“ schrie er dem Vogel nach und hielt auch schon Organs Steuerruder in der Hand,, um dem Boot die Rich tung zu geben, in die die Eule geflogen war. Kirisk klammerte sich an das Steuerruder, nahm alle Kraft zusammen, die ihm geblieben war, und dachte nur noch an den Wind und an die Flugrichtung der Eule. Ungewiß blieb, woher die Polareule gekommen war und wohin sie flog. Ob von einer Insel zum Festland oder vom Festland zu irgendeiner Insel. Kirisk aber hatte nicht verges sen, was der alte Organ erzählt hatte — dieser Vogel über quert das Meer nur auf geradem Weg. Es ist ein äußerst kräftiger Vogel, er fliegt in der Nacht und bei Nebel. Nun folgte er ihm. Das Boot schwamm von Woge zu Woge. Beharrlich blies der Wind. Der Nebel lichtete sich, verwehte, schon wurde es heller am Horizont. Vor ihm, unmittelbar vor ihm, am dun kelblauen Himmelsgewölbe, leuchtete ein einsamer, strah lender Stern. Kirisk gewahrte, daß der Stern gerade über der Bootsnase stand. Und er erriet, daß er weiter auf ihn zuhal ten mußte, denn dorthin war die Agukuk geflogen. Er kannte den Stern nicht, doch jetzt ließ er ihn nicht mehr aus den Augen. Und in seinem Nacken spürte er noch den Wind — seine Richtung, seine Kraft, seinen Strom. Halt dich, Wind, geh nicht fort. Ich weiß nicht, wie du heißt, das hätte mir- Atkytschch Organ sagen können. Aber sei mein Bruder. Geh nicht weg, dreh dich nicht. Du kannst dich doch lange so halten, wenn du willst. Ich werde schon erfahren, wie du heißt, und dich beim Namen rufen. Oder soll ich dich Wind Organ nennen? Nach meinem At kytschch Organ. Dann kennst du mich ... So beschwor er seinen Fahrtwind, redete ihm zu, sich zu hal ten, flößte ihm seinen ganzen Willen ein, seine Seele. Und ließ dabei den Schutzstern nicht aus den Augen, dem er ent gegenfuhr. Ich liebe dich, Stern, sagte er zu ihm. Du stehst so hoch am Himmel, so fern von mir. Du bist der allergrößte
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und allerschönste Stern. Ich bitte dich, geh nicht weg, bleib an deinem Platz, leuchte weiter. Ich fahre dir entgegen. In deine Richtung ist auch die Agukuk geflogen, ich weiß nicht, ob zu einer Insel oder zum Land. Aber selbst wenn es eine Insel ist, will ich lieber auf einer Insel sterben. Geh nicht fort, leuchte weiter, Stern. Ich weiß nicht, wie ich dich nen nen soll, sei nicht böse, Stern. Ich habe deinen Namen noch nicht gelernt. Vater Emraijin hätte ihn mir sagen können. Wenn du magst, gebe ich dir den Namen des Vaters und rufe dich Stern Emraijin. Und wenn du dich am Him mel zeigst, grüße ich dich und flüstere deinen Namen. Jetzt aber hilf mir, Stern Emraijin, geh nicht weg vor der Zeit, er lisch nicht, verbirg dich nicht plötzlich hinter einer Wolke! So beschwor er seinen Schutzstern. Und dann flehte er die Wogen an: Wellen, ihr treibt jetzt meinen Kajak, ihr seid jetzt gut. Ich will euch Aki-Mylgun-Wellen nennen. Ihr rollt dorthin, wohin die Eule geflogen ist. Ihr könnt doch rollen, so lange ihr wollt, immer eurem Ziel entgegen. Geht nicht fort, Aki-Mylgun-Wellen, irrt nicht ab vom Weg. Ich würde ja rudern, aber ich bin zu schwach. Ihr seht doch, ich fahre, wie ihr es wollt. Wenn ich am Leben bleibe, werde ich für immer wissen — ihr folgt dem Wind Organ und dem Stern Emraijin. Und ich will es allen erzählen: Aki-Mylgun-Wel len auf See bringen Glück! Helft mir, Aki-Mylgun-Wellen! Geht nicht fort, laßt mich nicht im Stich ... Unter all den Sternen leuchtete am längsten der Stern Em raijin. Gegen Morgen blieb er allein am Himmelsgewölbe. Gegen Morgen glänzte er mit hellem klaren Schein, als dann der neue Tag graute, erlosch er allmählich, war aber noch lange als zarter weißer Fleck am Himmel zu sehen. So wurde es Tag. Dann ging die Sonne auf überm Meer. Ki risk frohlockte und erschrak. Frohlockte über die Sonne und erschrak über die unermeßliche Weite des Meeres. In der Sonne blau schillernd, wirkte es fast schwarz und unendlich verlassen. Krampfhaft hielt sich der Junge am Steuer fest,
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versuchte nach der Erinnerung zu fahren, ohne den Rücken
wind zu verlieren. Das war ermüdend ...
Er nahm noch wahr, wie sich plötzlich alles in seinem Kopf
drehte, wie alles vor den Augen verschwamm ...
Das Boot aber trieb weiter ...
Die Sonne war bereits zum ändern Himmelsrand gewan
dert, als der Junge wieder zu sich kam. Er raffte sich zusam
men, stützte sich mit bebenden Armen auf, kroch mühsam
zur Heckbank und erstarrte mit geschlossenen Augen, bis
das Schwindelgefühl verging. Dann öffnete er die Augen.
Das Boot schwamm mit den Wellen. Und das Meer flim
merte noch immer, so weit er sehen konnte, flimmerte mit
zahllosen Lichtreflexen seines lebendigen, gekräuselten
Wassers.
Kirisk blickte nach vorn, rieb sich die Augen und konnte es
nicht fassen. Über den dunkelgrünen Meeresbuckel, gerade
wegs auf ihn zu, kam der Scheckige Hund geschwommen.
Der Scheckige Hund eilte ihm entgegen! Der Große Schek
kige Hund!
Schon zeigte sich das Ufer als graublauer bergiger Strei
fen am Meeressaum. Der Scheckige Hund mit seinen wei
ßen Ohren und weißen Pfoten überragte alle Hügel, und
schon erschien der kochende Gischtgürtel der ewigen Bran
dung zu seinen Füßen. Schon schwirrten die Schreie der
Ufermöwen durch die Luft. Die Möwen hatten ihn zuerst
bemerkt. Über dem Hügel schlängelte sich der blaue Rauch
des am Steilhang verglimmenden Signalfeuers ...
Scheckiger Hund, der du am Meer entlangläufst,
allein kehr ich zu dir zurück —
ohne Atkytschch Organ,
ohne Vater Emraijin,
ohne Aki-Mylgun.
Frag mich, wo sie sind,
aber erst gib mir zu trinken ...
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Kirisk begriff, das waren die Anfangszeilen seines ureigenen Liedes, mit dem er leben würde bis ans Ende seiner Tage ... Tosend, verzweifelt stürmte das Meer im Dunkel immer wieder gegen die Klippen an und zerschellte. Qualvoll stöhnte die steinharte Erde, während sie die Angriffe des Meeres abwehrte. So liegen sie im Widerstreit seit dem Schöpfungsakt — seit der Tag zum Tag und die Nacht zur Nacht geworden; und so wird es fernerhin sein, alle Tage und alle Nächte, solange es Erde und Wasser gibt, im ewigen Zeitenlauf. Alle Tage und alle Nächte ... Eine neue Nacht verrann ... Es rauschte überm Meer der Wind Organ, es rollten übers Meer die Aki-Mylgun-Wellen, und es leuchtete am Rande des lichter werdenden Himmelsgewölbes der strahlende Stern Emraijin. Ein neuer Tag brach an ... Baitik, Dezember 1976 bis Januar 1977
Drama
Tschingis Aitmatow/
Kaltai Muhamedshanow
Der Aufstieg auf den Fudschi]ama
Drama in zwei Teilen Personen Dosbergen Mustafajew, Agronom in einem Sowchos
Almagul, seine Frau, Geographielehrerin
Mambet Abajew, Geschichtslehrer
Anwar, seine Frau, Ärztin, Doktor der Wissenschaften
Ossipbai Tatajew (auch Jossif Tatajewitsch)
Issabek Mergenow, Schriftsteller, Journalist
Guishan, seine Frau, Schauspielerin
Aischa-Apa, bejahrte Lehrerin, ehemalige Direktorin
einer Internatsschule
Forstarbeiter
Fahrer
Erster Teil Vor dem Hintergrund einer Berglandschaft mit Schneegipfeln sehen wir den höchsten Punkt eines grünen Berges. Am Rande des Berges die Kante einer flachen Felsspalte. In der Spalte fließt ein Bach. Dort gibt es offensichtlich einen Zufahrtsweg zum Berg. Es ist Hochsommer. Der Sonnabend geht zur Neige. Allem Anschein nach kommen selten Menschen auf diesen Berg. Die Vegetation ist unberührt, der Berg stellenweise steil, stel lenweise mit Sträuchern und krummen Kiefern bewachsen. Weit und breit niemand zu sehen. Heute aber geht es hier lebhaft zu. Auf Einladung Dosbergens sind unsere Helden hier heraufgekommen, ehemalige Internats und Regimentskameraden, ganz alte Freunde. Sie alle mit Aus nahme Ossipbais oder, wie er sich auch nennt, Jossif Tataje witschs tragen sportliche Kleidung und Wanderschuhe. Jossif Tatajewitsch, sich und seinem Posten treu, trägt auch hier einen gut gebügelten Anzug nebst Krawatte, und um den Hals hat er ein Transistorradio hängen, an dem er immer wieder neue Sen der einstellt. Frauen sind nicht zu sehen. Sie werden später da zukommen. Die Männer sind einstweilen damit beschäftigt, ein Zelt aufzu stellen. MAMBET zieht die Zeltleinwand straff Dosbergen, du mußt ein bißchen mehr links halten. Und du, Ossipbai... Jossif Tatajewitsch, rühr dich nicht vom Fleck, bleib stehen. JOSSIF TATAJEWITSCH rückt die Krawatte gerade Jaja, ich bleibe stehen. Aber wenn du mich anredest, dann entwe der mit Ossipbai oder mit Jossif Tatajewitsch. MAMBET Das ist nicht so einfach. Früher warst du Ossip bai, den ganzen Krieg über warst du Ossipbai, für mich bist du auch jetzt noch Ossipbai, aber da sie dich überall vornehm mit Jossif Tatajewitsch anreden, kann ich's mir nicht leisten ... JOSSIF TATAJEWITSCH Auf die offizielle Anrede zu verzich ten, willst du sagen?
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lacht Greif höher. Die Stimme des Volkes zu überhören. DOSBERGEN Das könnt ihr später klären. Zu Issabek, der hinter der Zeltdecke hervorlugt Du ziehst in die falsche Richtung. Das paßt gar nicht zu einem ausgefuchsten Journalisten. Sieh doch, es hängt ja ganz schief. ISSABEK Komm, komm. Wenn der Herrgott euch alle des Augenmaßes beraubt hat, kann ich nichts dafür. Ich halte schon gerade, du hältst schief. MAMBET Was das Augenmaß betrifft, da können wir uns freilich nicht mit dir messen. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich glaube, die Leine ist hier zu kurz. Sie reicht nicht bis zum Pflock. Was nun? DOSBERGEN Wir können ja deine Doktorkrawatte ankno ten. JOSSIF TATAJEWITSCH Na, das geht wohl zu weit! MAMBET Nicht gleich hochgehen, Oss ... Jossif Tataje witsch! Hauptsache, der Pflock sitzt fest. Zum Anknoten findet sich schon was. Und jetzt soll jeder an seinem Platz den Pflock einschlagen. ISSABEK Schön, zu Befehl. Los geht's. Hastiges Treiben. Jeder wartet auf den Hammer, klopft sei nen Pflock ein. Das Zelt strafft sich. Die Arbeit geht dem Ende entgegen. MAMBET Na also, scheint ja zu klappen. JOSSIF TATAJEWITSCH verschnaufend Uff... Ich hätte nie gedacht, daß es soviel Mühe macht, ein Zelt aufzustellen. DOSBERGEN Dabei sind wir zu viert. Was sollten da unsere Vorfahren sagen? Ich weiß noch, meine Mutter hat die Jurte ganz allein mit uns Kindern aufgestellt und abge baut. Und im Vergleich zum Zelt ist die Jurte ein richtiges Haus. MAMBET nimmt das Zelt in Augenschein Ich glaube, alles in bester Ordnung. ISSABEK Und wir haben es ohne die Doktorkrawatte ge schafft. MAMBET
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TATAJEWITSCH Das möchte sein. Schaut in die Runde. O Gott, diese Schönheit ringsum! Nein, es hat schon gelohnt, daß wir hier heraufgeklettert sind. Das reinste Wunder ... Diese Höhe! Als ob man im Flugzeug sitzt. ISSABEK Genau. Wir sind hier auf dem höchsten Punkt. Daß wir das nicht früher bemerkt haben! Geradezu mär chenhaft. MAMBET Es gibt so manches, was wir früher nicht bemerkt haben. DOSBERGEN Na, damals gab es noch nicht diese Fahrmög lichkeiten. Zu Fuß von der Stadt bis hier, da läuft man einen ganzen Tag. Jetzt setzt man sich ins Auto und ist in einer Stunde da. Zwanzigstes Jahrhundert. JOSSIF TATAJEWITSCH Ja, Dshigiten, wir leben in einer großartigen Zeit. Hör mal, Dosbergen, was ist das für ein Ail da unten im Tal? DOSBERGEN Das ist unser Sowchos. Wir sind doch vorhin durchgefahren. JOSSIF TATAJEWITSCH Ach ja! Ob uns die Leute da unten se hen können? DOSBERGEN Was meinst du, Issabek? Du hast doch ein von Gott gegebenes Augenmaß? Er lächelt selbstzufrieden. Issabek zuckt die Achseln. MAMBET zu Jossif Tatajewitsch Du und Issabek, ihr wer det dem Blick einfacher Dorfbewohner kaum erreichbar sein. ISSABEK Du warst schon immer ein Streithammel, Mambet. DOSBERGEN Aber er hat recht. Wenn ich nicht darauf be standen hätte, würdet ihr beide diesen Berg auch diesmal nicht mit. eurer Anwesenheit beglücken. JOSSIF TATAJEWITSCH Der Dienst, Dshigiten, der Dienst. Wer möchte nicht im Freundeskreis ausspannen, aber ... ISSABEK Ihr müßt euch mal in die Situation eines Städters versetzen. Du bist Agronom, Dosbergen, und du, Mam bet, unterrichtest Kinder. Ihr Dorfbewohner habt doch JOSSIF
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viel mehr Zeit. Ich beneide euch. Wir dagegen sind wie die Mäuse im Laufrad ... MAMBET Eben, deshalb kullern dir deine Artikel auch der art schnell aus der Feder, daß wir mit dem Lesen gar nicht nachkommen. JOSSIF TATAJEWITSCH Jedem das Seine, Dshigiten. Wer's kann, der kann's. ISSABEK Nichts dagegen zu sagen. Ein vernünftiges Wort. MAMBET Eins zu null für Sie, Genösse Journalist. JOSSIF TATAJEWITSCH Einen angesehenen Schriftsteller als Journalisten zu bezeichnen ist nicht gerade sehr... Nenne ihn wenigstens Auslandsjournalisten. In Moskau genießen diese Leute großes Ansehen^ Ist ja auch begreif lich. Bei uns hier kann man die Auslandsjournalisten an fünf Fingern abzählen. Und auch die ... DOSBERGEN unterbricht ihn Verdammt, ich hab ihn auch Journalist genannt. Dann habe ich ihn ja in meiner Unwis senheit abgewertet. ISSABEK Hört doch auf, Leute. Nehmt euch lieber Mambet vor. Die Geschichte des Altertums und des Mittelalters genügt ihm nicht, er urteilt auch über Literatur, packt sie bei den Kiemen. MAMBET lachend Das lern ich von dir. Stimmt's nicht? JOSSIF TATAJEWITSCH dreht an seinem Transistorradio Ob's stimmt oder nicht, wir wollen doch lieber hören, was andre sagen. TRANSISTORRADIO ... in den übrigen Bezirken unseres Ge biets Bewölkung, strichweise Regen. ISSABEK Ach herrje! Alle schauen zum Himmel. DOSBERGEN Macht nichts. Wozu haben wir das Zelt? Au ßerdem sind die Meteorologen große Wirrköpfe. ISSABEK Ich zum Beispiel hätte gar nichts dagegen, wenn es über Nacht regnet. Du liegst gemütlich in der Jurte oder im Zelt, und oben trommelt der Regen. Da kannst du alles vergessen und von fernen Welten träumen.
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MAMBET Erinnerst
du dich, Issabek? Am hellen Tag strömt' plötzlich Regen, peitscht' wild auf unsre Jurte ein, schon roch es stark nach feuchter Wolle, der Herd gab milden Feuerschein. Dann war's gemütlich in der Jurte, wie wohl war mir auf deinem Schoß, ach, Mutter, war's doch so wie damals, als auf das Dach der Regen floß, du Märchen erzähltest, Lawinen grollten ... ISSABEK Die Jurte gibt es längst nicht mehr, und du weilst auch nicht mehr auf Erden. Und nur der Regen rauscht noch in den Bergen wie einst. Alle schweigen, hängen ihren Erinnerungen nach. Als erster bricht Issabek die Stille. Ja, viele Jahre sind vergangen, fünfundzwanzig und mehr. Ein Jammer, verdammt noch mal. MAMBET Lange ist es her. Weißt du noch, wie du diese Verse in unserm Literaturzirkel zerdonnert hast? Teufel noch eins! Was du schon damals für Wörter kanntest: „Idealisierung der Wohngewohnheiten unserer verfluch ten Feudalvergangenheit.“ Wir waren richtig erschrok ken! Alle lachen. ISSABEK Wir waren Schuljungs. Was war das für eine Zeit... Aus Ruinen sind wir aufgestiegen. Erinnere dich lieber, wie wir uns später mit ihm angefreundet haben! Nichts konnte uns trennen. Ich habe immer gesagt, er war der Begabteste von uns. JOSSIF TATAJEWITSCH Ja, Dshigiten, manchmal möchte man an Schicksal glauben. Wer hätte gedacht, daß so et was passiert. Obwohl es natürlich ohne Ursache keine Folge gibt... DOSBERGEN Laßt doch diese klugen Gespräche heute sein. Denkt lieber daran, daß wir unsre Frauen begrüßen müs
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sen, wie es sich anläßlich der Besteigung des Fudschijama gehört. ISSABEK Hat Almagul dem Berg diesen Namen gege ben? DOSBERGEN . Ja, wer denn sonst? ISSABEK Wunderbar! Es macht bestimmt Spaß, mit einer Geographin verheiratet zu sein. DOSBERGEN Das möcht ich nicht sagen. Sie hat hier jedem Huckel einen Namen gegeben. Toponomastik nennt man das. Die Kinder sind schon ganz abgekämpft, dauernd geht sie mit ihnen auf Exkursionen. Ich konnte den Na men lange nicht aussprechen. Die haben sich amüsiert zu Hause .-... Ist ja auch ein schweres Wort für unsereinen — Fudschijama. Ich sag zu ihr: „Du hättest ihm doch auch einen Namen in unsrer Sprache geben können.“ Aber sie meint: „Nein, das hat schon seinen Sinn“, meint sie. „Fu dschijama, das bedeutet: Heiliger Berg.“ JOSSIF TATAJEVPITSCH Das hab ich voriges Jahr erfahren, als ich in Japan war. Hab sogar den Fudschijama von weitem gesehen. ISSABEK Soviel ich weiß, muß jeder wahre Buddhist wenig stens einmal im Leben den heiligen Fudschijama ersteigen und dort mit Gott über das menschliche Leben meditie ren. Modern ausgedrückt, er muß Gott Rechenschaft ab legen. DOSBERGEN Religion! Was sich die Kultdiener nicht alles ausdenken! MAMBET Nein, um die Kultdiener geht's hier gar nicht. Auch mit Religion hat das nichts zu tun. Der Mensch sollte schlicht einmal im Leben mit seinem Gewissen allein sein, fern vom Alltagsgedränge. ISSABEK Den Fudschijama ersteigt man nicht, um mit sich selbst zu reden. Man tut es, um Gott Ehre zu erweisen. Gott ist hoch droben, der Mensch kriecht von unten zu ihm hinauf wie eine Ameise, wie ein Wurm. Armselig, un glücklich, fleht er um Verzeihung für seine Sünden und
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findet so eine Rechtfertigung für sich selbst. Darin liegt die große Lebenskraft des Menschen. MAMBET Du hast einen Gottbegriff wie ein mittelalterli cher Bauer: Gott oben, der Mensch unten. Und wenn Gott nun weiter nichts ist als eine Form des Umgangs der Menschen mit sich selbst, mit seinem Gewissen? Vielleicht besteht die große Lebenskraft des Menschen grade darin, daß er sich selbst nicht immer und nicht alles verzeihen kann ... ISSABEK Erlaube mal, die Idealisten behaupten ... JOSSIF TATAJEWITSCH Hört doch auf, Leute. Was ist das für eine komische Unterhaltung! Das hört sich ja an, als müß ten wir alle an Gott glauben. Entschuldigt, wir sind doch alle Atheisten. DOSBERGEN Moment mal, Leute. Wißt ihr noch, als wir an „die Front kamen, fing als erster Saburvon Gott an. Erin nert ihr euch an seine Verse, dort, an der Weichsel? Bis dahin hatte er lauthals mitgesungen, in der Schule, auf dem Marsch. Wie war das gleich? Komm doch her, Gott, komm doch her, ich spuck dir in die Fresse. Wie's weitergeht, hab ich vergessen, so was wie: Ich zieh dir ab das Fell. MAMBET Blödsinn, Kindereien. ISSABEK Stell dir vor, das waren Verse von einem bekann ten Dichter. Der Alte lebt sogar noch. DOSBERGEN Das meine ich nicht. Ich spreche von Saburs Versen, die er an der Weichsel geschrieben hat. Über Gott. Ich hab ihm nicht recht folgen können, aber ihn muß damals einiges bewegt haben. Weißt du's nicht mehr, MambetfJDas ging ungefähr so ... MAMBET Für Wörtlichkeit kann ich nicht garantieren, aber der Sinn war so: Dein Gott ist dein Gewissen, auf das die Menschen hoffen, auf das die Welt zählt... Ungefähr so ... ISSABEK Ich hab sie irgendwo aufgeschrieben. Aber was
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nützt das Reden? Ein verdorbenes, gestorbenes Talent. Grausig. Alle verstummen nachdenklich JOSSIF TATAJEWITSCH leise, mit ungewohnter Sanftheit Am besten fand ich seine Liebesgedichte, seine Lieder. Pause. Dannfiigt er, gleichsam sich besinnend, hart hinzu Er ist sel ber schuld. Lastendes Schweigen. In diesem Moment ertönen von unten sich nähernde Frauenstimmen. DOSBERGEN lebhaft Oh, unsere Chanums! Sie kommen, wir müssen ihnen entgegengehen. Alle begeben sich dort hin. Da sind sie ja. Almagul, Anwar und Guishan tragen Taschen mit Proviant und anderen Dingen. Der Fahrer schleppt einen Samowar. Die Männer stürzen hin, um ihnen das Gepäck abzunehmen. GULSHAN mit neckischem, aber doch deutlichem Vorwurf Unverschämtheit! Statt uns unten zu empfangen. ISSABEK Entschuldige, mein Herz, wir hatten mit dem Zelt zu tun. Herzlich willkommen auf dem Fudschijama, be zaubernde Senoritas, will sagen, Chanums. Herzlich will kommen im Königszelt. DOSBERGEN zieht den Fahrer beiseite, nimmt ihm den Samo war ab Du fährst gleich wieder los. Aischa-Apa kommt zu uns nach Hause. Du Bringst sie her und fährst später wie der zurück, dann bist du frei. Klar? Wir bleiben die ganze Nacht hier, bis zum Morgen. Vielleicht auch noch den morgigen Tag. Kapiert? Der Fahrer nickt, ab. DOSBERGEN macht, ohne den Samowar abzustellen, Kratz füße und zeigt den Frauen das Zelt Meine Hochverehrten! Ich bin glücklich, melden zu können, daß euer Auftrag in Ehren und rechtzeitig erfüllt ist. Das Zelt steht, und im Zelt hat man bekanntlich auch mit dem eigenen Ehemann das Paradies. JOSSIF TATAJEWITSCH Dies-dies-dies! Ich habe gar nicht ge wußt, daß du so raspeln kannst. ANWAR Auch 'ne Leistung, ein Zelt aufzustellen, aber re
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den tut ihr ... Ich kann mir vorstellen, wie ihr angeben würdet, wenn ihr etwas Größeres für uns getan hättet. MAMBET Auf dem Fudschijama ist es üblich, sich jeglicher Kritik zu enthalten, Anwar. ISSABEK Zumal dein Mann sich auf diesem Gebiet für zwei abrackert, Anwar. GULSHAN genießt die Aussicht Herrlich! Umwerfend! „Wie weit man von hier aus sehen kann! Der Fudschi steigt auf überm blauen Meer, eine Stufe zur „Welt der Klarheit droben, auf seinem schneeigen Gipfel leben Priester, die Stirn gen Himmel erhoben. Von wem das ist, weiß ich nicht mehr. ALMAGUL Ein japanisches Gedicht. GULSHAN Du hast recht, Almagul, auf dem richtigen Fu dschijama muß es wohl auch so sein. Kolossal. ISSABEK auflachend „Weißt du denn, daß der Mensch auf dem Fudschijama sämtliche Geheimfächer seiner Seele öffnen muß? Dazu ist es ja der Fudschijama. GULSHAN Ich bin bereit zur Beichte vor Gott, meinetwegen sofort. Aber zuerst müßt ihr Männer es mal versuchen. Hab ich nicht recht, Frauen? ALMAGUL Natürlich, wir möchten wissen, was unsere Männer wert sind. ANWAR Heilige Einfalt! Gar nichts sind sie wert. Soviel wie ein löchriger Futtersack. DOSBERGEN Nicht so voreilig, Anwar. Das klären wir noch. Hauptsache, Guishan verheimlicht uns nicht, wie viel Dshigiten nach ihr geseufzt haben, bevor sie Issabek ehelichte. GULSHAN Das ist doch keine Aufgabe. Ich kann euch die aufzählen, die noch heute seufzen. ALMAGUL Recht so, Guishan, gib's ihnen. ISSABEK Mambet hat's uns schon gegeben, aber wir sind auch auf noch härtere Prüfungen gefaßt. ANTWAR Wenn ein Mensch sein Leben lang, bis ins hohe Al
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ter, nichts anderes macht, als rotznäsige Gören zu unter richten, nimmt er die Gewohnheit an, dauernd zu beleh ren wie ein Derwisch vom Asketenorden. Ich hoffe, ihr begreift meine Tragik ... JOSSIF TATAJEWITSCH Mambet, Menschenskind, was hat sie denn heute, deine Anwar? MAMBET Gar nichts. Man sollte wirklich nicht allzulange als Lehrer tätig sein. DOSBERGEN unterbricht das Gespräch, indem er sich laut an alle wem/ef Freunde, auf dem Fudschijama habe ich nichts zu verheimlichen, nicht vor Gott und nicht vor euch. Der Gipfel meiner Philosophie ist: Das Sein bestimmt das Be wußtsein. Darum laßt uns zunächst auf den Ruhm Allahs trinken und essen, danach können wir auch höhere The men erörtern. Während uns die Frauen was zu essen ma chen, könnten wir, finde ich, zum Bach runtergehen und uns die Hände waschen. JOSSIF TATAJEWITSCH Na endlich. Eine altbekannte Tatsa che: Die frische Luft in der freien Natur macht einen prächtigen Appetit. Gehen wir. Die Männer entfernen sich. GULSHAN ihnen hinterher, ironisch O Gott, wo haben die bloß all die Weisheiten her? AKWAR Das ist die Gockelhaftigkeit der Männer. Sie müs sen sich unbedingt vor den Frauen dicketun. Guishan, Liebste, hör auf damit, reibe lieber das Geschirr blank. Bist immerhin die Berühmteste von uns. GULSHAN Ich würde eher sagen, der größte Pechvogel. Keiner meiner Träume hat sich erfüllt, keines meiner Ziele habe ich erreicht. Das Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern ... Warte mal, von wem sind doch diese Worte? ALMAGUL Was hast du denn auf einmal? GULSHAN Nichts weiter, nur so. ANWAR Der Mann Schriftsteller, die Frau Schauspielerin. Was willst du noch?
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Was hat mein Mann damit zu tun? In der Kunst muß jeder für sich selbst einstehen. ALMAGUL Du willst doch nicht etwa sagen, wer außerhalb der Kunst steht, müsse nicht für sich selbst einstehen? GULSHAN Aber nein, Almagul. Ich meine etwas ganz ande res. Ich habe meinen eigenen Kummer. Früher habe ich davon geträumt, Desdemona, Maria Stuart, Cleopatra zu spielen. Das sind Gestalten, für die man sein Leben hinge ben könnte. Das ist der Gipfel der großen Tragödien. Die Menschheit blickt zurück in die ferne Vergangenheit, um die Gegenwart zu begreifen. Ich will Tragödien spielen. Ich will diese Gipfel ersteigen. Bloß das Theater fragt nicht danach. Darum betätige ich mich immer noch in Ge genwartsstücken. Und was sind das für Stücke? Lachhaft. Darüber gehen die Jahre hin. Ich bin schon achtunddrei ßig. Aber ich spiele immerzu Gestalten, die mit Kunst überhaupt nichts zu tun haben. Und alle stellen sich, als müßte das so sein. Du verstehst, was das bedeutet. Wenn ich daran denke, bekomme ich es mit der Angst. ALMAGUL Na, das geht wohl zu weit. Du übertreibst. Wie dem immer sei, man schreibt über dich, Guishan, du bist bekannt und beliebt, du bist Verdiente Künstlerin der Re publik. Schön, du bist unzufrieden mit dir, aber warum so verzweifelt? GULSHAN Da haben wir's. Selbst du mit deinem hellen Kopf verstehst mich nicht, Almagul. Ja, sie schreiben über mich. Na und? Wo ist sie, meine große Rolle? Soll ich denn eines Tages als taube Blüte von der Bühne abtreten? ANTWAR Du beklagst dich über dein Schicksal? Sei du mal Kreisärztin wie ich und rede jeden Tag, den Gott werden läßt, dasselbe: „Mach den Mund auf“, „Streck die Zunge heraus“, „Atmen“, „Nicht atmen“, und dann habe einen Mann, der Grundschullehrer ist... GULSHAN Du und ich, wir reden von verschiedenen Din gen, liebste Anwar. Von absolut verschiedenen Dingen. Du beschäftigst dich doch mit deiner eigentlichen Auf GULSHAN
gäbe. Stimmt's? Das will ich auch. Ich spreche von dem Traum, der der Sinn des Lebens ist. ANTWAR „Träume, Träume, wo ist eure Süße?“ Die Männer kehren zurück. ALMAGUL zu Issabek Hör mal, Genösse Schriftsteller, wie bringst du es fertig, die Leiden deiner Frau so ruhig mit anzusehen? Wann wirst du etwas schreiben, was ihres Traumes würdig ist? ISSABEK Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland. Als ob ich noch nichts für sie geschrieben hätte ... GULSHAN Das, was du schreibst... ISSABEK Sprich ruhig weiter. Das, was ich schreibe, ist, wenn du so willst, ein Gebot der Zeit. GULSHAN Wessen Gebot es immer sein mag, über Publizi stik kommst du nie hinaus. ISSABEK Ich bin kein Klassiker, aber sie läßt ja überhaupt keinen als Klassiker gelten. JOSSIF TATAJEWITSCH Wem soll man glauben? Deiner Frau oder den Kritikern? GULSHAN Man soll vor allem sich selbst glauben. MAMBET begeistert Oho, Guishan, aber sei nachsichtig. ISSABEK Wieso, sie redet doch ganz in deinem Geiste. DOSBERGEN Freunde, Freunde! Ehe es zu örtlichem Ge plänkel kommt, bitte ich zu Tisch. Jeder soll sozusagen seinen Platz einnehmen. ISSABEK erleichtert Na also, das ist ein wahres Wort. Alle setzen sich rund um das Tischtuch, das über eine Filz matte gebreitet ist. ALMAGUL Bescheiden, aber von Herzen. Es ist hier nicht wie zu Hause, aber meinen Samowar habe ich mitge bracht. GULSHAN Wie kannst du so reden! ALMAGUL Wo könnte es schöner sein als hier! ISSABEK Das muß ich nachdrücklich unterstützen. Wir sind heute auf dem Berg der Poesie. Es wäre geradezu sträf lich, bei einem Besuch im Ail im Hause zu sitzen.
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Genau. Und damit unser gemeinsames Glück vollständig wird, brauchen wir einen Tamada. Um ein übriges Mal die Emanzipation der Frau im Orient zu be kräftigen, schlage ich vor, Guishan zum Tamada unse res Beisammenseins zu wählen. Wenn sie nichts dagegen hat... GULSHAN Das ist mir peinlich. Hier ist doch auch Almagul, unsere Gastgeberin. Wie war's mit ihr? ALMAGUL Nein nein, du kannst das viel besser als ich. JOSSIF TATAJEWITSCH Tamada, das ist ein sehr verantwor tungsvolles Amt. GULSHAN Ich trete es dir gern ab. JOSSIF TATAJEWITSCH Nicht doch. Sei so gut und gebiete über uns. Ich schweige. GULSHAN Nun gut. Ich will auch diese Rolle probieren. ISSABEK Vielleicht findest du darin sogar dein Ideal. GULSHAN ironisch Du kannst sagen, was du willst, mein teurer Gatte, aber als Genie werde ich dich nie anerken nen. ISSABEK Wenn nur das Volk es tut. Das würde mir schon genügen. GULSHAN Schwachköpfe finden sich immer. ISSABEK Uns kannst du nicht verblüffen. Sind schon alle an dich gewöhnt. DOSBERGEN Ich bitte um Aufmerksamkeit. Der Tamada tritt sein Amt an. GULSHAN Womit beginnen wir? Man fülle die ersten Glä ser. Alle schenken ein, beginnen zu essen. „Mir trock nen ...“ — „Der ist auch gut.“ — „Schmeckt tadellos“. — „Wein oder Wodka?“ Vom Fuß des Berges tönt das Hupsignal eines Autos herauf. DOSBERGEN Was ist denn das? Ich habe doch gebeten,'uns nicht zu stören. Keine Fliege sollte hier durchkommen ... ISSABEK Ist dieser Berg etwa deiner persönlichen Verfü gung unterstellt, Dosbergen? DOSBERGEN scherzhaft Das Gelände ist Sowchoseigentum, DOSBERGEN
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aber der Berg gehört mir, genauer gesagt, meiner Frau. Sie hat ihn geographisch entdeckt. Aber wer mag da kom men? Was wollen die hier? Steht auf, schwenkt den Arm, ruft hinunter He, was ist denn los? Durchgang verboten. In Begleitung des Fahrers nähert sich eine bejahrte, grauhaa rige Frau. Es ist Aischa-Apa. Oh, Verzeihung, Aischa-Apa, ich habe Sie nicht gleich er kannt. Hurra, hurra! Aischa-Apa ist da. Alle stehen auf und begrüßen Aischa-Apa. AISCHA-APA mühsam atmend Seid mir gegrüßt, meine Lie ben. Uff, ich bin ganz außer Puste. Das machen die Jahre. Und dann noch der Schreck — ich dachte schon, ich wäre hier falsch. DOSBERGEN Das war meine Dußligkeit. Nicht böse sein, Aischa-Apa. Zum Fahrer Danke. — Fahrer ab. ISSABEK Das ist großartig. Wie schön, daß Sie gekommen sind, Aischa-Apa. AISCHA-APA Euretwegen wäre ich bis ans Ende der Welt gefahren, meine Kinder. Wir haben uns so lange nicht ge sehen. So viele Jahre ... Wie hätte ich da wegbleiben kön nen? JOSSIF TATAJEWITSCH Treten Sie näher, setzen Sie sich auf den Ehrenplatz, Aischa-Apa. Ich freue mich, Sie zu sehen, Aischa-Apa. AISCHA-APA Danke, Ossipbai. Du bist noch immer der alte. ISSABEK Darf ich vorstellen, Aischa-Apa, diese nette Frau ist Guishan, Ihre Schwiegertochter in meinem Hause. Die übrigen kennen Sie. AISCHA-APA Ich wünsche dir Glück, liebe Guishan. Wir haben uns zwar grade erst kennengelernt, aber ich kannte dich schon vorher. Wer kennt dich nicht? Ich habe dich oft im Fernsehen bewundert. GULSHAN' Ich habe viel von Ihnen gehört, Aischa-Apa, danke, daß Sie gekommen sind. AISCHA-APA Als Almagul mich anrief und sagte, ihr würdet
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euch auf diesem Berg treffen, habe ich mich schrecklich gefreut. DOSBERGEN Aber das war auch meine Idee! AISCHA-APA Ich zweifle nicht daran, lieber Dosbergen. Du hast mir den „Wagen zum Bus geschickt, ich bin doch mit dem Bus aus der Stadt gekommen. Der war überfüllt, lauter Urlauber drin. Aber nun bin ich ja hier, Gott sei Dank! MAMBET Ja, jetzt haben wir wirklich alles, was wir brau chen. JOSSIF TATAJEMPITSCH Genosse Tamada, ich bitte ums Wort. GULSHAN Das Wort hat Genösse Tatajew. ISSABEK leise Du mußt seine Stellung und seinen Grad nen nen. GULSHAN Wirklich? Also: Das Wort hat der Institutsdirek tor und Doktor der ... leise zu Issabek welcher Wissen schaften? ISSABEK leise Der historischen. Ist das so schwer zu behal ten? GULSHAN Denk doch, wie viele Wissenschaften es heutzu tage gibt und wie viele Wissenschaftler sich dranhän gen ... DOSBERGEN Ossipbai ist keiner von denen. Er wird bald Korrespondierendes Mitglied sein. JOSSIF TATAJEWITSCH Hört doch auf mit alldem! In Gegen wart von Aischa-Apa bin icK einfach Ossipbai. Bitte nennt mich so. MAMBET Bei dir sieht man nicht durch. Mal so, mal so. JOSSIF TATAJEWITSCH Schon gut. Was ich sagen wollte: Un sere heutige Begegnung ist ein Fest, Genossen! Am zwan zigsten Jahrestag des Sieges habe ich euch zum erstenmal zusammengeholt, damit fing es an. Sie, Aischa-Apa, konnte ich damals nicht erreichen, Sie waren verreist. Heute, da wir bei Dosbergen und Almagul zu Gast sind, bietet sich mir die Gelegenheit, Ihnen zu danken für all
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das Gute, das Sie in der Schulzeit für uns getan haben. Jetzt sind Sie Verdiente Lehrerin der Republik, wir sind auch mit wichtigen Aufgaben betraut... DOSBERGEN „Was haben deine wichtigen Aufgaben damit zu tun? Laß dir was anderes einfallen, Ossipbai. JOSSIF TATAJEWITSCH Wenn du das im Wissenschaftlichen Rat gesagt hättest, würde ich dich vor die Tür setzen. Alle lachen. MAMBET Ein Glück, daß wir nicht im Wissenschaftlichen Rat sind, sondern auf dem Fudschijama. Entschuldige, Ossipbai, mir fällt gerade ein, als wir in die sechste Klasse gingen, kam unsere Aischa-Apa plötzlich auf die Idee, den Geschichtslehrer Erdej Hassanowitsch zu heiraten. Gott, waren wir eifersüchtig! Geradezu schauerlich. Ich zum Beispiel ging nicht mehr in seinen Unterricht und be: kam dafür eins aufs Dach. Wir wußten damals noch nicht, - daß es zwischen Mann und Frau so etwas wie Liebe gibt. Wir hielten Ihre Liebe für Verrat. GULSHAN Lebt Ihr Mann noch? AISCHA-APA Nein, er ist bei Stalingrad gefallen. JOSSIF TATAJEWITSCH Er war ein großartiger Mensch. AISCHA-APA Das ist Vergangenheit. Aber er hat ernsthaft darunter gelitten, daß die Kinder so unfreundlich zu ihm waren. Er hat mich sogar gebeten, ihnen zu sagen, sie soll ten ihn nicht schneiden, er wolle mich ihnen doch nicht wegnehmen. ISSABEK So ganz grundlos war unsere Eifersucht auf Ai scha-Apa nicht. Für viele Dshigiten war sie der heimliche Traum. MAMBET Aischa-Apa, man sagt nicht umsonst von alters her: Dem Fuchs wird seine Röte, dem Mädchen seine Schönheit zum Verhängnis. JOSSIF TATAJEWITSCH Also, Aischa-Apa, auf Sie, unsere Lehrerin! Auf Ihr mütterliches Herz, auf Ihre Gesund heit! AISCHA-APA Ich danke euch, meine Lieben.
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Ihren Sohn habe ich neulich gesehen. Hätte ihn kaum wiedererkannt, so stattlich und korrekt. AISCHA-APA Sieht er nicht den! Vater ähnlich? ISSABEK Wie aus dem Gesicht geschnitten. AISCHA-APA Er wohnt mit seiner Familie in Karaganda. Zwei Enkel sind schon da. Meine Schwiegertochter ist nett und gescheit. Ich rede den jungen Leuten dauernd zu: „Schafft euch noch mehr Kinder an, ich helfe euch, sie großzuziehen.“ Bei uns war der Krieg schuld, daß wir nicht mehr Kinder hatten. Als mein Mann an die Front ging, hat er sehr bedauert, daß wir nur einen Sohn haben. „Paß auf den Sohn auf“, hat er gesagt, „sonst reißt unser irdischer Faden, und das Leben verliert seinen Sinn.“ Und dann hat er noch gesagt: „Wenn du Enkel erlebst, kannst du dich glücklich schätzen und brauchst nichts zu bedau ern.“ Immerfort hat er davon geredet, ich soll die Bücher für den Sohn aufheben. „Weiter kann ich ihm nichts ver machen“, hat er gesagt. Als ob er gewußt hätte, daß er nicht zurückkommt. Alle trinken schweigend. Ich habe alles gehabt, alles: Liebe, Familie. Nur war es da mit bald vorbei. Es mußte wohl so kommen. Jetzt be trachte ich euch junge Leute und freue mich. Ich habe nicht umsonst gelebt. GULSHAN zu ihrem Mann Ach, ihr Schriftsteller ... Ihr seid nur darauf aus, euren Platz in der Literatur zu behaupten. Reisenotizen aus Ceylon, Nepal, Äthiopien und sonstwo — das sind eure Schöpfungen, dabei kann man das in jedem Lexikon nachleben. ISSABEK Was willst du damit sagen? GULSHAN Wo sind eure Bücher, die die Herzen erschüt tern? Wo sind unsere Schicksale, aufgerissen wie der Ozean im Sturm? „Wir sind keine Shakespeares“ — ich kenne diese totgeborene Entschuldigung. Wo ist das Wort, das in den Buchseiten atmet wie ein durchs Ge büsch fliehendes Tier? ISSABEK
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ISSABEK
Du bist nicht auf der Bühne, also laß das Spie
len. Hör du lieber auf, Literatur zu spielen. Ich, ich würde schon spielen. Gebt mir eine richtige Rolle, und ihr werdet mich auf den Brettern sterben sehen. Aber du? Könntest du dein Leben riskieren für das, was du machst? ISSABEK Ich habe schon mein Leben riskiert, vielleicht so gar für dich. Wage es nicht, so mit mir zu reden. ALMAGUL Warum bist du so, Guishan? GULSHAN Ich spreche von der Kunst. Er soll mir nicht das Wort im Munde umdrehen. MAMBET Ich finde, Guishan hat recht. ISSABEK Kunststück. Kritisieren ist einfach. MAMBET Es geht nicht ums Kritisieren. Wir müssen über zeugt sein, daß die Jahre, die wir durchlebt haben, in die große Literatur eingehen als die Erfahrung einer Genera tion. Wie haben wir gelebt? Sollen die nach uns auch so le ben? Darauf antworten kann die Literatur, nur die Litera tur. ANWAR Gütiger Gott! Er unterrichtet und doziert schon wieder. ISSABEK Schönen Dank für das gute Wort über die Litera tur. Ich fürchte bloß, eine solche Belastung übersteigt ihre Möglichkeiten. Es gibt mächtigere historische Kräfte, die unser Schicksal entscheiden. Was ist schon die Literatur? Was vermag sie? MAMBET Wir sind nicht mehr jung, Issabek. Ich möchte nicht vor die Zukunft hintreten mit einer Literatur, die nichts vermag. Wir haben doch große Zeiten erlebt. Ich will nicht, daß zum Beispiel Aischa-Apa vergessen oder in eine Kitschgestalt verwandelt wird. Darum geht es. Nach kommen wissen nicht nur zu beurteilen, sondern auch zu verurteilen. GULSHAN Das ist doch mal was — ein Männergespräch. So gehört sich's auf dem Fudschijama: Vor sich selbst, vor Gott — gesetzt, es gibt ihn — nur die Wahrheit zu sagen. GULSHAN
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Zu beichten. Für Aischa-Apa wäre das auch interessant. Beginnen wir mit dir, Jossif Tatajewitsch. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich habe doch gebeten, mich Ossip bai zu nennen. GULSHAN Entschuldige. Beginnen wir mit dir, Ossipbai. Du bist hier der Mann mit dem höchsten Posten. JOSSIF TATAJEWITSCH Darum geht's doch gar nicht. Ich hatte schon das Wort, darum ... ALMAGUL Die Karten auf den Tisch. Aischa-Apa interessie ren andere Dinge. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich wage nicht zu widersprechen ... Also Aischa-Apa, Sie brachten uns an den Zug zur Front. Seitdem sind viele Jahre vergangen, ein ganzes Leben. Wir waren zuerst auf der Artillerieschule, dann im Krieg, dann kamen wir zurück. ANWAR Viel zu allgemein. Überhaupt, du bewegst dich in der falschen Richtung, Ossipbai. Jeder soll von sich erzäh len, von seinen Angelegenheiten. Stimmt's nicht? AISCHA-APA Das ist es! Ein schöneres Lied kann ich mir nicht wünschen. Erzählt, wie ihr lebt, worüber ihr euch freut. Ich möchte alles von euch wissen. JOSSIF TATAJEWITSCH rückt die Krawatte gerade Also, über mich ... MAMBET Fällt es dir schwer? JOSSIF TATAJEWITSCH Nein. Aber wenn ich richtig verstan den habe, wird das Gespräch vom Tamada eröffnet. Er muß den Ton angeben. ISSABEK Laßt mich anfangen. Alle skandieren:„Ta-ma-da! Ta-ma-da!“ GULSHAN Ach so! Nun, an mir soll's nicht liegen. Schön, ich fange an. Zu Aischa-Apa Dabei werden Sie erfahren, was für Menschen Ihre Schwiegertöchter sind. AISCHA-APA Sprich, Liebste, sprich ... GULSHAN Also, ich bin Schauspielerin. Heute kennt mich alle Welt. Damals im Krieg, vierundvierzig, war ich noch ein kleines Mädchen und arbeitete in einem Konfektions
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betrieb. Dort habe ich meinen ersten Diebstahl began gen. ISSABEK entrüstet Was schwatzt du da! Hast du nichts an deres zu erzählen? GULSHAN Laß mich! Du brauchst dich meinetwegen nicht zu schämen. Es gibt nichts Anständigeres als die Wahr heit. Wenn du behauptest, mein Spiel auf der Bühne sei ein Abklatsch des Lebens, sage ich nichts dazu, denn was du schreibst, ist ein Abklatsch der Wahrheit. Ich bin gezwungen, verlogene Rollen zu spielen. Aber jetzt sage ich die Wahrheit über mich, und ich habe ein Recht dazu. AISCHA-APA Du brauchst dich nicht zu schämen, Liebste. Wir sind hier unter uns. GULSHAN Ich habe diesen Diebstahl nicht begangen, weil es mir besonders gut ging. Meine Mutter war krank, die Brüder waren noch ganz klein. Wir lebten von unseren Brotmarken. Da traf eines Tages die Nachricht ein, daß Vater gefallen war. Die Nachbarn kamen kondolieren. Die Sitte unserer Vorfahren verlangte, das Andenken des Verstorbenen wenigstens mit einem Schälchen Suppe zu ehren. Meine Mutter konnte kaum kriechen. Da habe ich mir im Betrieb zwei Feldblusen untergezogen und hinaus geschmuggelt. Ich habe sie auf dem Basar zu Geld ge macht und dafür Brot, Kartoffeln und etwas Mehl einge kauft. So konnte ich die Nachbarinnen einladen und für meinen gefallenen Vater die Totenmahlzeit bestreiten. Bloß wenn ich jetzt daran denke, schäme ich mich, daß mir ganz elend wird. Wenn es auf dem Fudschijama einen Gott der Gerechtigkeit gibt, möge er mir den Fehltritt ver zeihen. ISSABEK zornig Weiter, weiter! Was hast du noch für Sün den auf dem Gewissen? GULSHAN Gleich sage ich's. Ich fing in einem Laienzirkel an und studierte nach dem Krieg an der Schauspielschule. Damals lernte ich diese Type kennen.
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Hört, hört! Jede andere würde Gott dreimal am Tag danken füt so eine Type! GULSHAN Ich nicht! DOSBERGEN Freunde, Freunde, ihr seid hier nicht allein. GULSHAN Entschuldige, Dosbergen, aber jetzt kann ich nicht mehr zurück. Es war die hitzige Jugendzeit. Kurz und gut, ich heiratete ihn. Er war mit dem Institut fertig und fing in der Redaktion an, ich ging zum Theater. Und da kam's, daß ich meinen zweiten Diebstahl beging, meine größte Sünde. Die werde ich mir mein Leben lang nicht verzeihen, und ich wage nicht einmal, mich damit an Gott zu wenden. Er hat mich gelöchert: Wir sind jung, wir wollen für uns leben, ein Kind kommt immer noch zu recht. Ich dumme Gans habe auf ihn gehört und an dem ekelhaften Tag ... Und seitdem ... ISSABEK Du hast zuviel getrunken! GULSHAN Ja, ich habe zuviel getrunken, von meinem eigenen Gift, das mir das Blut verbrennt. Aischa-Apa, Sie sind Mutter, eine richtige Mutter. Sagen Sie mir, wie soll ich auf der Bühne eine Mutter spielen, die im Krieg ihre Söhne verloren hat? Selbst die ist ja noch glücklicher als ich, sie hat immerhin Söhne gehabt, hat sie dann verloren, ich habe sie mir selber gestohlen. Und weswegen? Ver zeiht mir, um Himmels willen, verzeiht mir ... Läuft wei nend davon. ISSABEK hilflos Entschuldigt, so ist sie manchmal... Hyste rische Anfälle ... Macht inzwischen weiter, achtet nicht darauf. Ich gehe ... sie holen. Ab. AISCHA-APA betrübt Oje, daran bin ich schuld, ich habe euch alles verdorben. MAMBET Was sagen Sie da! Sie können nichts dafür. Nicht traurig werden, Aischa-Apa. Guishan ist so: Sie leidet und sagt die Wahrheit, sagt wieder die Wahrheit — und leidet wieder. AISCHA-APA Ja, so scheint es zu sein. JOSSIF TATAJEWITSCH Nicht umsonst heißt es: „Jeder hat ISSABEK
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sein Kreuz zu tragen.“ Kinderlos, das ist natürlich schlimm, aber mit Kindern ist es heutzutage auch nicht einfach. DOSBERGEN Da hast du recht. Mit den kleineren mag's noch angehen, aber die heutige Jugend ist schwer zu ver stehen. Alles weiß sie, alles begreift sie. Kein Wort darf man sagen. „Ihr habt uns genug belehn!“ Sie hat uns satt, bitte schön. ALMAGUL Hast du mal darüber nachgedacht, warum das so ist? Vielleicht bist du für die Jugend uninteressant, ver stehst du das? Was kannst du von der Jugend überneh men? Was kannst du ihr geben? Hast du interessante In formationen für sie? DOSBERGEN Aha, darauf willst du hinaus! Jetzt dauert's nicht mehr lange, und du wirst sagen: Was uns not tut, ist — daß Ehemann und Ehefrau sich gegenseitig durch In formationen bereichern! ALMAGUL Ja, Mann und Frau ganz besonders. JOSSIF TATAJEWITSCH Entschuldige, aber die Vorausset zung ist doch immer noch Liebe. ALMAGUL O ja. Liebe oder, wie sich mein Mann auszu drücken beliebt, gegenseitige Bereicherung durch Infor mationen. DOSBERGEN Komisch ... Wie ist es denn bei uns beiden? Ich kann dich kaum bereichern, ich bin ein schlichter Agronom. ALMAGUL Ich werde es dir irgendwann sagen, ich bin eine schlichte Lehrerin. DOSBERGEN Da haben Sie die Frauen von heute, AischaApa. Weiß der Himmel, in dieser Beziehung war es im Feudalismus viel besser. Der Mann wurde geachtet und verwöhnt. ANWAR Hör auf, Dosbergen, das rührt uns nicht. Wir ach ten euch soweit, wie ihr's verdient. MAMBET Aber woher sollen wir wissen, wieweit wir eure Achtung verdienen? Gibt es dafür einen Maßstab?
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AISTWAR Ja, DOSBERGEN
den gibt's. Es ist schwer, im Zeitalter der wissenschaft lich-technischen Revolution immer ein richtiger Ehemann zu sein. MAMBET Noch schwerer ist es, man selbst zu sein. ALMAGUL Damit bin ich einverstanden. JOSSIF TATAJEWITSCH Was ist das — man selbst sein? Was bringt ihr da für Weisheiten an, du und Mambet? ALMAGUL Warum denn? Im Zeitalter der totalen Standar disierung ist das wirklich ein Problem. Nicht umsonst pla gen sich die Soziologen damit herum. JOSSIF TATAJEWITSCH Aber was habt ihr damit zu tun? Na, von mir aus. Mit den Individualisten gibt's viel Schererei. Was kommen soll, kommt ja doch. Die objektive Ent wicklung der Geschichte ist unaufhaltsam. Sagt, was ihr wollt, es kommt so, wie es muß. MAMBET Aber der Mensch soll den historischen Prozeß doch wenigstens begreifen. ANWAR Weiter hast du wohl keine Sorgen, als die histori schen Prozesse zu begreifen? Was soll's! Die Geschichte geht ihren Gang, und du bleibst bei deinen kleinen Inter essen und bei deiner Schule. DOSBERGEN Aischa-Apa, mein Won drauf, ich jage die gleich vom Fudschijama runter. Seid ihr hergekommen, um zu diskutieren und weise Reden zu halten, und Ai scha-Apa und wir ändern sollen zuhören? Verdammt noch mal! AISCHA-APA Laß sie doch in Ruhe, Dosbergen! Ich höre gern zu. DOSBERGEN Nein, so geht das nicht. Ich bin hier der Gast geber, und sie sind die Gäste. Gäste sollen essen, trinken, vergnügt sein. Und was ist bei uns? Die einen zanken sich und laufen weg. Die ändern fangen einen wissenschaft lich-soziologischen Streit an. Und ich armer, unglückli cher Oberagronom, der niemanden durch Informationen bereichert, soll abseits stehen? Kommt nicht in Frage!
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Entschuldigt mich, ich gehe die Flüchtlinge zurückholen. Ab. AISCHA-APA Ach, Kinder, Kinder! Ich. kann mich nicht daran gewöhnen, daß ihr nicht mehr die seid, die ihr frü her wart. Ja, die Zeit läuft davon. Pause. ANWAR Genösse Direktor, Ossipbai, mein Lieber, komm, wir gehen ein Stück und unterhalten uns, denn sonst wird man nicht so leicht bei dir vorgelassen. JOSSIF TATAJEWITSCH Was sagst du da? Zu mir kann jeder kommen. Wenn du kämst, Anwar, würde ich dich schon an der Tür empfangen. Aber du kommst ja nicht... Ge hen wir. ANWAR Mambet, wenn Ossipbais Frau aus Moskau zu rückkommt, kannst du ihr gleich erzählen, daß wir uns hier am hellichten Tag abgesondert haben. Mambet nickt lachend. Jossif Tatajewitsch und Anwar gehen beiseite. Hör mal, Ossipbai, du solltest Mambet helfen. Ich möchte so gern in die Stadt ziehen. Die Jahre vergehen... Manchmal sehe ich dich im Fernsehen in einem Präsidium sitzen, und dann wird mir so elend, als ob mein ganzes Le ben auf dem Fernsehschirm verflimmert wäre. Eine ferne, undeutlich lockende Illusion. Pause. Erinnerst du dich an den Abend damals? Du hattest schon deine Maxuda, ich war grade mit dem Studium fertig und reiste ab zur Ar beit. Da lernte ich Mambet kennen. Hättest du mir damals ein Wort gesagt... Aber jetzt ist es zu spät, daran zu den ken. JOSSIF TATAJEWITSCH sich in Szene setzend Ach ja, Anwar. Wir sind längst in unsere Ecken gestellt wie Möbelstücke. Und warum das alles? Das Leben ist ein einziges Bedau ern. Aber was will man machen? Schicksal, Anwar ... ANWAR Ja, natürlich, du und sie ... Aber davon rede ich nicht. Du mußt etwas tun, mußt Mambet überzeugen, daß er seinen dummen Trotz aufgibt. Er ist doch begabt. JOSSIF TATAJEWITSCH Und ob. Ein anderer an seiner Stelle
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säße längst in der Akademie. Aber du mußt begreifen: Er hat keine Perspektive. Angenommen, ich setze mich dafür ein, daß er in die Stadt berufen wird, und sei es als stell vertretender Schuldirektor: Mach dir nichts vor, er steigt nicht auf. Du siehst doch selbst, was er ist: ein einfacher Lehrer. Aber diese Selbstsicherheit, diese Unabhängig keit, über alles hat er sein eigenes Urteil. Ein Glück noch, ich bin sein Schulfreund und weiß die Dinge einzuordnen. Ein anderer an meiner Stelle würde überhaupt nicht mit ihm reden. ANWAR Was soll ich machen? Er ist unverbesserlich. Ein unglückseliger Don Quijote! Aber es geht ja nicht nur um ihn. Du verstehst mich ... Ich will es dir sagen. Wozu es verheimlichen? Mit dir kann ich reden. Es ist notwendig für mich, hier wegzukommen, weg von diesem Kreis, von dieser Schule. Ich glaube, Mambet und Almagul haben was miteinander. Ich spüre es. Sie weint. JOSSIF TATAJEWITSCH Aber, aber! Ausgeschlossen! Bei so einer schönen Frau ... Und da sollte er... Meinst du wirklich? Du bist doch eine Schönheit. Wie konnte es dazu kommen? ANWAR Keine Ahnung. Jedenfalls hat Almagul heute den Satz von der gegenseitigen Bereicherung nicht zufällig fallenlassen. Das ist auch seine Theorie. JOSSIF TATAJEWITSCH Ob Dosbergen etwas ahnt? ANWAR Nein, dazu haben sie noch keinen Anlaß gegeben. Ich spüre das nur. Aber um Himmels willen, das habe ich bloß dir gesagt. Kein Wort, keine Anspielung. Um Him mels willen! JOSSIF TATAJEWITSCH In meiner Seele verstummt das Ge brüll des Löwen und das Winseln des Fuchses. So haben unsere Recken früher geschworen. AISCHA-APA unterbricht das Gespräch Ossipbai, mein Lie ber, entschuldige, aber was ich fragen wollte: Wo ist ei gentlich deine Frau? JOSSIF TATAJEWITSCH Maxuda ist in Moskau, ich habe ver
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gessen, es Ihnen zu sagen. Sie ist Chemikerin und mußte nach Moskau wegen ihrer Dissertation. Ja, wir haben zwei Kinder. Der Sohn ist schon im dritten Studienjahr, die Tochter geht in die neunte Klasse. Nein, ich kann mich nicht beklagen. AISCHA-APA Nun, das freut mich zu hören. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich bin vorerst Direktor eines techni schen Instituts, die Arbeit ist ganz interessant und verant wortungsvoll. Aber ich bin schon zu einem Gespräch ge beten, möglicherweise stehn mir dienstliche Veränderun gen bevor. Man will ja nicht hinter dem Leben zurückblei ben, also habe ich meine Dissertation verteidigt... Es erscheinen Guishan, Issabek und Dosbergen. ISSABEK Ein kluger Mann hat einmal gesagt: „Familiensze nen sind die Generalüberholung der Liebe.“ Wahrlich! Wir bitten sehr um Entschuldigung. GULSHAN sachlich und ungezwungen Ihr braucht das nicht weiter tragisch zu nehmen. Die Generalüberholung ist bei uns eine ziemlich häufige Erscheinung. ANWAR Das haben wir doch längst vergessen! Nicht der Rede wert. GULSHAN Ja, wir wollen lieber unsere Beichten auf dem Fudschijama fortsetzen. Also, wer ist dran? JOSSIF TATAJEWITSCH Vielleicht genügt es, wenn wir's uns wohl sein lassen, was soll dieses Spiel? GULSHAN Ach, sieh mal an! Ich habe meine Seele vor euch aufgetan, und ihr bleibt blütenweiß und wascht eure Hände in Unschuld? Kommt nicht in Frage. Ich habe kei neswegs gespielt und bin der Meinung, daß niemand das Recht hat, sich zu drücken, wenn wir's schon so verein bart haben. Also, wir hören, Genösse Ossipbai, Genösse Jossif Tatajewitsch Tatajew, Sie haben das Wort! JOSSIF TATAJEWITSCH Soll das ein Verhör sein? GULSHAN Wir warten. Leise Nimm Rücksicht auf deine Freunde. AISCHA-APA Nun hört doch auf mit diesen Spaßen! Ossip
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bai, mein Junge, du hast so interessant erzählt. Erzähl weiter. JOSSIF TATAJEWITSCH Na schön. Aber nur Ihnen zuliebe, Aischa-Apa. Also, ich bin Doktor der Wissenschaften. Ich habe hier von meiner Familie erzählt, von meiner Ar beit ... Also, Aischa-Apa, ich habe meine Dissertation verteidigt, und ich arbeite, wie gesagt. Meine Frau vertei digt ihre Dissertation, und ich trage mich mit dem Plan, eine neue Arbeit zu veröffentlichen. Es kann nicht scha den, schreibender „Wissenschaftler zu sein. ANWAR Genau, es kann nicht schaden. Wie oft habe ich zu Mambet gesagt: Sieh dir die ändern an, sind die etwa klü ger als du? Wie viele von unsern Bekannten haben schon ihre Dissertation verteidigt! Sie fühlen sich ganz normal, und es geht ihnen gut. Was würde es dir ausmachen? Aber nein, nicht in die Tüte! Ich habe keine Lust, sagt er, mich in der Wissenschaft mit formalem Kram zu befassen. Wer will das schon! Er braucht ja bloß über ein Thema zu schreiben, das verlangt wird. JOSSIF TATAJEWITSCH Das Thema muß natürlich aktuell sein, aber das wichtigste ist, Material auszuwählen. Vor allem: das richtige. MAMBET Du hättest das Gespräch nicht darauf bringen sol len, Anwar. ANWAR Bleib doch Schulmeister, unterrichte bis zum Tode fremde Kinder in überfüllten Klassenräumen, zerrütte dir die Nerven, bleib unbekannt! Mir kann es letzten Endes schnuppe sein! Meine Jahre sind vorüber, mein Fehler ist nicht mehr gutzumachen. ALMAGUL Ich finde aber, Mambet hat recht. ANWAR Natürlich, du singst ja schon seit langem dasselbe Lied wie er. ALMAGUL Ich finde einfach, jedem das Seine. Mambet un terrichtet Kinder in überfüllten Klassenräumen. Ossipbai hat eine Dissertation geschrieben: „Die Erziehung der Werktätigen im Geiste des Internationalismus in den süd
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lichen Kreisen der Republik“. Übrigens, warum in den südlichen Kreisen? Wird etwa in den nördlichen nach einer anderen Methode erzogen? Das ist mir nicht klar. JOSSIF TATAJEWITSCH aufbrausend Wer sagt denn, daß nach einer anderen Methode erzogen wird? Damit ist doch nur der Forschungsbereich abgesteckt. ALMAGUL Forschung? Ich habe deine Dissertation gelesen. Eine Aufzählung von Maßnahmen, eine Wiedergabe von Zeitungsartikeln, eine Statistik der Mischehen als der höchsten Ausdrucksform des Internationalismus! Un3 was noch? DOSBERGEN zu seiner Frau Moment, was soll denn das, willst du ernsthaft streiten? Ossipbai hat doch seinen Doktor gemacht... na, für sich selbst... verstehst du ... er ist doch nicht der einzige ... Was soll denn das, hör doch auf... JOSSIF TATAJEWITSCH Das stimmt ja gar nicht, ich prote stiere entschieden, so nicht! Ich habe wichtige Arbeitser fahrungen auf diesem Gebiet verallgemeinert. Der Inter nationalismus gehört zu den wichtigsten Prinzipien des kommunistischen Aufbaus. MAMBET Unstrittig. Ebenso unstrittig, wie zwei mal zwei vier ist. Bloß worin besteht dein Beitrag zur Wissen schaft? JOSSIF TATAJEWITSCH Andere Leute sind auch nicht von ge stern. Außerdem — wie willst du darüber urteilen? Was für eine Beziehung hast du zu diesem Problem? MAMBET Die allerdirekteste. Siehst du, ich zerrütte mir die Nerven in überfüllten Klassenräumen, wie hier gesagt wurde. Ich unterrichte Geschichte und bemühe mich nach Kräften, den Kindern die Geschichte der Menschheit als Lebenskunde nahezubringen, nicht bloß, wann welcher Krieg war. Ich möchte, daß meine Schüler begreifen, wie und um welchen Preis die menschliche Gesellschaft zu der Notwendigkeit internationaler Gemeinschaft gelangte,
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der einzigen Art des Zusammenlebens, die freier, gleich berechtigter Menschen würdig ist. JOSSIF TATAJEWITSCH Genug, du bist hier nicht im Schulun terricht! Das wissen wir auch. Binsenwahrheiten. MAMBET Gar nichts will ich wert sein, wenn ich den Unter richt so gestalte, wie du es dir vorstellst. Nein, mein Lie ber, so einfach ist es nicht, Schullehrer zu sein. Jede Arbeit hat ihre höhere Mathematik, und ich wage zu behaupten, daß ich die meinige hinlänglich beherrsche. Es wäre übri gens nicht sthlecht, wenn auch andere diese höhere Ma thematik beherrschten und nicht das Einmaleins für Wis senschaft ausgäben. Und für Kunst. ANWAR Ach, hör auf, du verstehst selber nicht zu leben, also verschone andere mit deinen Ratschlägen. MAMBET Na, weißt du ... JOSSIF TATAJEWITSCH Wo warst du denn früher? Ich habe meine wissenschaftliche Arbeit allen Freunden und Be kannten geschickt, und von keinem kam auch nur ein ne gatives Wort. Warum hast du damals geschwiegen? In der Wissenschaft gibt es keine Freundschaften. Warum bist du nicht gekommen und hast im Wissenschaftlichen Rat gesprochen? Jetzt hinterher ... MAMBET Hör auf! Pause. Ja, das war mein Fehler, und wenn ich nur in diesem Fall geschwiegen hätte, ginge es noch an. Aber wie oft haben wir uns durch Schweigen schuldig gemacht. Nehmen wir nur uns alle hier ... ISSABEK hastig Aber Mambet, warum sagst du das alles mit solchem Ernst? Wo hast du diese Vorliebe für Übertrei bungen her? Du lieber Gott, so viel Geschrei um so we nig Wolle! Denk doch mal daran, das Leben läuft, das Leben rollt, wir alle kommen dahin, wo wir hingehören. Was hat es für einen Zweck, sich und den Freunden die Laune zu verderben! Auch eine Frage, die Dissertation! Schließlich gibt es den Wissenschaftlichen Rat. Dort sit zen kompetente Leute, die entscheiden. Was geht's uns an ...
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Ich finde, ein aufrichtiges Gespräch unter alten Freunden kann nicht schaden. ISSABEK Schluß, jetzt bin ich dran. DOSBERGEN Ach, ihr Intelligenzler, mir reicht's, Schluß mit eurem intellektuellen Disput! Hört mich an, einen Schöpfer materieller Güter, denn ohne mich wärt ihr gar nichts, eine leere Stelle. Was guckt ihr so? Aischa-Apa, meine Teure, ich mache doch bloß Spaß. Nehmen Sie den Streit hier nicht tragisch. Wir bleiben immer Freunde, und Sie bleiben unsere geliebte Lehrerin. Also, Aischa-Apa, jetzt zu mir. Ich bin Oberagronom. Mein Kommunismus beginnt in meinem Hause. Kinder. Familie. Sie haben Kleider und Schuhe, sind satt, gesund — folglich ist alles in Ordnung. Hauptsache, es kommt kein Krieg. Ich be trüge keinen, mache bei der Arbeit keine krummen Sa chen und stehle nicht. Ich lebe von meiner Arbeit und bin stolz darauf. AISCHA-APA Wunderbar! Was kann schöner sein als der Stolz auf die eigene Arbeit. DOSBERGEN Und ich lebe nicht schlecht. Ich habe ein eigenes Haus, Möbel, Teppiche, einen Wagen. Mit Alma gul gibt es manchmal Streit. Sie hält mich für einen einge fleischten Materialisten. Aber wie denn sonst? Ins Haus des Agronomen kommen öfters Gäste, ausländische Dele gationen. Unser Sowchos ist führend. Da wollen wir auch nicht arm und zurückgeblieben wirken. Also ist das eine politische Frage. ALMAGUL Ja, und die Folge dieser politischen Frage ist — unser Haus sieht aus wie ein Möbelladen. ANWAR Bravo, Dosbergen! Du bist ein richtiger Mann! Trinken wir auf Männer wie Dosbergen, die das Leben meistern. GULSHAN Dosbergens Offenheit hat mir gut gefallen. Er hat ohne Zögern, ohne Scheu von sich erzählt und nichts verheimlicht. DOSBERGEN Was sollte ich schon verheimlichen? MAMBET
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AISCHA-APA
versonnen Ja, das Leben verstreicht, und die Menschen ändern sich. Man erkennt sie kaum wieder. Ich erinnere mich, in der Schule, im Freundeskreis um Sa bur, wer war der Plumpste, der Tolpatschigste? Dosber gen. DOSBERGEN Na und, Aischa-Apa? Man lernt allerlei im Le ben. Das tolpatschigste Tier ist der Bär, aber für ein Stück Zucker tanzt auch er den ganzen Tag im Zirkus. Alle lachen. ISSABEK Hahaha, das nenne ich plastisch! Aischa-Apa sieht Dosbergen verwirrt an. DOSBERGEN Das war nur ein Scherz, Aischa-Apa. Natür lich bin ich nicht wie der Bär. Solche Denker wie Issabek können von mir aus über den einfachen Dosbergen la chen. Sie mißverstehen und unterschätzen mich sowieso. MAMBET Ja, es ist nicht einfach, den einfachen Dosbergen zu verstehen, denn so einfach ist er gar nicht. AISCHA-APA Es ist mir eine Freude, euch anzuschauen, meine Lieben: Da streitet ihr euch und scherzt, und es ist interessant, euch zuzuhören. Mein ganzes Leben, mein Schicksal ist mit dem euren verflochten. Wie ich nach der pädagogischen Fachschule als Erzieherin ins Internat kam, war ich noch keine achtzehn. Es war in der Stadt das einzige Internat für Kinder aus den Ailen. Ihr vier gingt damals in die zweite Klasse. Was da nicht alles vorgekom men ist, ich erinnere mich ... GULSHAN Ja, ja, erzählen Sie! Die stellen sich sonst immer als Engel hin. AISCHA-APA Nein, Engel waren sie ganz und gar nicht, aber großartige Jungs. Im Krieg wurde ich als Direktor eingesetzt. Na, da habe ich viel durchmachen müssen. Zweiundvierzig, in der schlimmsten Zeit, standen sie plötzlich zu fünft vor mir: „Wir wollen an die Front.“ Ich habe mich an den Kopf gefaßt: „Seid ihr verrückt? Ihr seid doch erst siebzehn und müßt die Schule hinter euch bringen.“ Aber sie blieben stur. Die reinste Verschwö
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rung. Sie waren sogar schon im Kriegskommissariat ge wesen. ISSABEK Davon müssen Sie farbiger, intensiver erzählen, Aischa-Apa. Guishan will mir immer nicht glauben, daß es so war. Dabei war ich es, der die Initiative ergriff. Erin nern Sie sich, Aischa-Apa? AISCHA-APA Wenn ich mich nicht irre, war es Sabur. GULSHAN lachend Schon kommt dein erster Schwindel ans Tageslicht. ISSABEK Ja, aber... JOSSIF TATAJEWITSCH Da gibt es nichts zu streiten. Es war Sabur. ISSABEK zu Mamhet und Doshergen Hört mal, was hätte es euch schon ausgemacht, zu sagen, daß ich es war. MAMBET Das können wir nicht. Um es in Ossipbais Stil auszudrücken — wir haben nicht das moralische Recht. Sei jetzt still. AISCHA-APA Es geht doch nicht darum, wer der Initiator war. Was will das heute noch besagen? Ihr gingt alle in dieselbe Klasse, wohntet zusammen im selben Raum. Und ihr kamt zu fünft in mein Arbeitszimmer. Vorher war Sa bur schon dagewesen und hatte mich um Erlaubnis gebe ten, daß alle fünf wegen einer wichtigen Angelegenheit dem Unterricht fernbleiben dürfen. Sie kommen also zu mir: „Aischa-Apa, wir haben eine große Bitte an Sie.“ — „Was ist denn?“ — „Wir waren auf dem Kriegskommissa riat, aber man hat uns zurückgeschickt, wir brauchen eine Bescheinigung von der Schule: So und so, der Direktor hat keine Einwände und bittet, uns als Freiwillige zu neh men, uns in dieselbe Einheit zu stecken und auch später nicht auseinanderzureißen.“ Ich war einer Ohnmacht nahe, das Herz schlug mir bis zum Hals. Sollte ich ihnen sagen: Geht in den Tod? Sollte ich ihnen sagen: Bleibt hier, laßt andere gehen? „Kommt morgen wieder“, habe ich ihnen geantwortet. Ich blieb allein und überlegte: was tun? Es waren doch noch Kinder. Und wenn sie fielen?
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Oder als Krüppel zurückkehrten? Wie hätte ich es dann bereut! Wenn ich aber verhinderte, daß sie an die Front gingen? Wäre es richtig gewesen, die Seelenregung eines Menschen, der die Heimat verteidigen will, zu unterdrük ken? Ich überlegte hin und her, mir schwirrte der Kopf. Abends ging ich zum Kreisparteikomitee und fragte, was ich machen soll. Der Sekretär antwortete: „Das müssen Sie selber wissen.“ Am nächsten Morgen kamen sie an. Ich schrieb ihnen die Bescheinigung und schickte sie zum Kriegskommissariat. Dann brachte ich sie zum Zug, setzte sie alle fünf in den Güterwagen. Ich sah sie an, sie waren die Jüngsten von allen. O Gott, dachte ich, was habe ich da angerichtet? Wie konnte ich das erlauben? Die ganze Nacht habe ich geweint. Und dann der Riesen schreck, als Saburs Großvater mich besuchte. Der uralte Hirte kam immer auf einem Kamel in die Stadt geritten. Sabur war sein einziger Enkel. Saburs Vater, der erste Traktorist im All, war von den Kulaken mitsamt dem Traktor verbrannt worden. Also, ich guck zum Fenster hinaus, da seh ich den Alten auf seinem Kamel. Wie soll ich mich vor ihm verantworten? Es stellte sich aber her aus, daß er sich entschuldigen wollte, weil er es nicht ge schafft hatte, den Jungs das Geleit zu geben ... Ja, so war das damals. Ich habe nie an irgendwelche Götter ge glaubt, aber von da an habe ich sämtliche Götter nur um eins angefleht: daß meine Jungs am Leben bleiben und zu rückkehren. Pause. Und heute wünsche ich euch Glück, ihr meine Schüler, die ich durch mein Weinen und Beten am Leben erhalten habe. Alles soll euch zum Guten aus schlagen. Eure Kinder sollen gesund aufwachsen ... ISSABEK Trinken wir auf diesen schönen Augenblick und auf die besten Tage unseres Lebens damals! Alle stoßen an und trinken. AISCHA-APA Ich sehe euch an und denke an Sabur. Er war schon ein feiner Junge, so ganz besonders ... ISSABEK Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber
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ich möchte die Gelegenheit benutzen, um noch einen Trinkspruch vorzuschlagen. Als Aischa-Apa uns zum Zug brachte, waren wir fünf Freunde und Klassenkameraden. Jener fünfte war unter uns die überdurchschnittlichste, markanteste Persönlichkeit. Ja, ich habe mich nicht ver sprochen, er war eine Persönlichkeit, obwohl er noch keine siebzehn war. Also, Freunde, trinken wir in Gegen wart unserer Aischa-Apa auf jenen fünften, auf Sabur. AISCHA-APA Sein Schicksal hat sich unglücklich gestaltet. Man sagt, er trinkt... ISSABEK Trotzdem habe ich große Achtung vor seiner Vergangenheit, genauer gesagt, vor seinem früheren Ta lent. AISCHA-APA Ihr wart prächtige Jungs in der Schulzeit. Ich weiß noch, in jeder Nummer der Wandzeitung erschie nen Gedichte von Sabur und Issabek. Einmal, das muß zum 7. November gewesen sein, hat Issabek es fertigge bracht, unter ein Gedicht von Sabur seinen Namen zu schreiben: Issabek Mergenow. Da war was los! ISSABEK Mein Gott, wir waren dumme Jungs! Das waren Streiche oder, wie man heute sagt, „provokatorische Intri gen“ gewisser munterer Knaben wie Ossipbai, die uns aufeinanderhetzen wollten. JOSSIF TATAJEWITSCH Nein, mein Lieber, Verstöße anderer darfst du mir nicht unterschieben. MAMBET Jedenfalls muß der Täter dich gut gekannt ha ben. ISSABEK Aber nein, was redest du, im Gegenteil: Alle wuß ten, daß seine Gedichte viel besser waren als meine, und ich habe das nie bestritten. Sabur besaß die seltene Gabe poetischen Denkens. Er schrieb flüssig, schön, intuitiv. Er und ich, wir waren ein Herz und eine Seele. Was haben wir nicht alles mitgemacht! Wißt ihr noch, als die Betten nicht ausreichten, haben wir zusammen geschlafen wie Brüder. Stimmt's, Aischa-Apa? AISCHA-APA Ja, in der Schulzeit wart ihr eng befreundet.
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Unsere Generation hat eine erstaunliche Ge schichte. Es gibt vieles, was unsere Frauen nicht wissen können ... also, nach der Artillerieschule kamen wir an die Front. Wir waren alle fünf bei einer Batterie der Artil leriereserve. Ja, was wollte ich gleich sagen? Ich komm nicht drauf. JOSSIF TATAJEWITSCH Vielleicht wolltest du erzählen, wie ich aus dem Lazarett flüchtete, um euch auf dem Marsch einzuholen? ISSABEK Ja, das war so, wir wollten uns auf keinen Fall trennen. Und wir haben auch mit allen Mitteln erreicht, daß wir im Krieg zusammenblieben. MAMBET Ja... An der Front wurden wir noch engere Freunde. Vielleicht weil wir dauernd mit einem Fuß im Grabe standen und Angst hatten, einander zu verlieren. Heute glaube ich, daß auch Sabur uns zusammengehalten hat. Er wurde schneller erwachsen als wir, ich möchte sa gen, er gewann an Weisheit. Er wollte nicht weg von uns, als sie ihn zur kasachisch-kirgisischen Ausgabe der Divi sionszeitung holten. Ohne ihn fühlten wir uns gleich irgendwie unbehaglich. Und er hatte Verständnis dafür. Es verging kein Tag, an dem er nicht bei uns vorbeige schaut hätte. Trotzdem waren wir stolz, als er Redakteur unserer nationalen Ausgabe wurde. Wir machten noch unsere Witze, dabei glaubten wir: Wenn wir nur den Sieg erlebten, dann ... hätten wir einen fertigen Redakteur für die Zeitung unserer Republik, und das wäre unser Freund — der Dichter, Schriftsteller, Soldat. Was hätte er sonst werden sollen? Wir waren mehr als naiv ... ISSABEK Alles richtig. Du läßt bloß ein paar Details aus. Du hast nämlich oft an Saburs Frontgedichten herumgenör gelt und ihm überhaupt mehr zugesetzt als alle ändern. Er mit seiner poetischen Seele hat dir vieles verziehen, hat vieles hingenommen ... MAMBET Sprich doch weiter ...
DOSBERGEN Freunde, Freunde, was soll denn das! Ihr seid
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meine Gäste hier auf dem Fudschijama, und da fangt ihr an ... AISCHA-APA Ihr braucht die Vergangenheit nicht schwarz zu malen, Jungs. Ihr habt mir alle so nette Briefe von der Front geschrieben. Wie oft hab ich darüber geweint! Sa bur schrieb: „Liebe, teure Aischa-Apa, ich melde Ihnen, daß Ossipbai, Issabek, Mambet und Dosbergen leben und gesund sind. Sie kämpfen und belegen die Faschisten mit vernichtendem Artilleriefeuer. Ich auch.“ Und Issabek hat mir einmal geschrieben, er hätte im Kampf vier Faschisten auf einmal erledigt. Ich bekam einen richtigen Schreck und dachte mir: Armer Junge, daß du nur dabei am Leben geblieben bist! Alle lachen. DOSBERGEN Ach, unser Kleiner! Issabek, du stärkster aller Recken! Daß ich mich so gar nicht daran erinnere! Wann hast du das nur vollbracht? Vielleicht heimlich? GULSHAN Du Unglücklicher, hast schon damals an Min derwertigkeitskomplexen gelitten ... ISSABEK Komisch seid ihr alle! Kapiert ihr denn nicht, daß ich das geschrieben habe, um den Kampfgeist der Heimat zu heben? Außerdem haben unsere Granaten die Feinde zu Dutzenden und Hunderten hingestreckt, da konnte ich mir durchaus vier zuschreiben. MAMBET O Ruhmsucht, großer Motor der Geschichte! JOSSIF TATAJEWITSCH Schönen Dank für deine Beschei denheit! Hättest dir ja auch Tausende zuschreiben kön nen. AISCHA-APA Nun laßt ihn doch in Ruhe! Hätte ich bloß diesen Brief nicht erwähnt... Aber was Wunder, ich habe ja von einem eurer Briefe zum nächsten gelebt. Und wenn ich in der Zeitung Saburs Frontgedichte las, habe ich mich gefreut, daß meine Jungs lebten und kämpften und mit ihren Gedichten Grüße übermittelten. Die Zeitungsaus schnitte habe ich alle noch zu Hause. Ich habe auch noch Gedichte von dir, Issabek. ISSABEK Ach, Aischa-Apa, das ist vergangen und vergessen.
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Aber es gab auch anderes, was man jetzt gar nicht erwäh nen mag ... AISCHA-APA Ich weiß, bloß ist mir nicht klar, wie das ge schehen konnte. Pause. ISSABEK Die Sache ist so lange her, und doch ist es schwer, darüber zu reden ... JOSSIF TATAJEWITSCH Wozu jetzt die Vergangenheit auf rühren? MAMBET Wo sollen wir denn hin mit unserer Vergangen heit? Sollen wir sie vergessen? Zu diesem Gespräch mußte es doch einmal kommen. Jeder von uns hat seinen Anteil an Saburs Schicksal. JOSSIF TATAJEWTSCH Ich weiß nicht, was du damit meinst. Mein Gewissen ist rein. Du und Issabek, ihr beide seid Kenner der Poesie, der Literatur, ihr beide wart von Sa bur bald begeistert, bald habt ihr mit ihm gestritten, und ihr wußtet seine Gedichte auswendig. MAMBET Tu nicht so, Ossipbai. Du und Dosbergen und wir alle haben seine Gedichte gekannt, und ich schäme mich nicht zuzugeben: Wir haben sie geliebt. Sabur hat uns jede neue Zeile vorgelesen, und wir haben darauf ge wartet. Ohne uns wäre er vielleicht kein solcher Dichter geworden. Wir waren das Magnetfeld, an dem er die Spannung seines Talents maß. Seine Gedichte drückten uns aus. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich will nicht bestreiten, es war die Zeit der Jugend, und Sabur war einer von uns. Aber ich distanziere mich entschieden von dem Poem, das ihn ins Unglück gebracht hat, und nicht ohne Grund. Gar zu klug wollte er sich darbieten, als Philosoph, bitte sehr. Das Poem drückt weder meine Gedanken noch meine Gefühle aus. MAMBET Ich dränge dir nichts auf, was du als dir fremd empfindest. Aber sage mir, warum haben wir uns so leicht und so einfach von Sabur losgesagt, als er ins Unglück ge
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riet? Gesetzt, er hat sich geirrt, gesetzt, die Grausamkei ten des Krieges haben ihn durcheinandergebracht. Aber wir, wir kannten ihn doch, wir waren doch zusammen aufgewachsen! „Ich gebe meinem Bruder nicht die Hand, wenn seine Hand jetzt nicht zur Waffe greift“, diese Vers zeilen stammen doch von ihm! Er war es doch, der uns mit seinen Gedichten, mit seinem Beispiel mitgerissen und begeistert hat, und das zu einer Zeit, in der wir noch ge ruhsam die zehnte Klasse hätten besuchen können. Wer weiß, ohne ihn wären wir vielleicht gar nicht an die Front gegangen, ein Entschluß, mit dem du jetzt an jeder pas senden und unpassenden Stelle angibst. JOSSIF TATAJEWITSCH Was willst du damit sagen? Sie haben ihn doch später rehabilitiert und freigelassen. Wer ist denn schuld, d,aß er sich als so ein Waschlappen erweist und jetzt für überhaupt nichts mehr Sinn hat 'als für Wodka? MAMBET Du solltest dich schämen! Wie kannst du so re den? JOSSIF TATAJEWITSCH Ich bin überzeugt von der Nüchtern heit und Richtigkeit meiner Standpunkte. MAMBET Ja, sogar an der Front, wo keiner weiß, ob er am nächsten Tag noch lebt oder nicht, sogar da hast du ge wußt, welches Verhalten für dich am vorteilhaftesten ist. JOSSIF TATAJEWITSCH Wie kannst du es wagen! Wo warst du denn selber? Warum hast du geschwiegen, du nach träglicher Wahrheitsfanatiker? Du mußt dir schon gefal len lassen, daß ich dir nicht glaube! Ja, ja, wo sind die Fakten? Niemand kann mir verbieten, dir zu mißtrauen! Vielleicht hast du Sabur beim Stab angezeigt, woher soll ich das wissen? Und wenn du dich hier noch so sehr zer reißt und grämst und dich als Heiligen hinstellst, das wäscht dich kein bißchen rein. Im Gegenteil, du redest mir gar zu schön. Das Ganze ist fernste Vergangenheit, aber du bist nicht zu halten. Vielleicht regt sich dein Ge wissen. Versuch doch mal zu beweisen, daß es nicht so ist.
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Ich gehe noch weiter. Ich verdächtige euch alle: dich, Mambet, dich, Dosbergen, und dich, Issabek! Euch alle, nur mich nicht, denn von mir weiß ich's. MAMBET Es ist dein Recht, uns alle zu verdächtigen, und unser Recht, uns gegenseitig zu verdächtigen und dich mit. Das ist schlimm. Viel schlimmer aber ist, daß wir da mals geschwiegen und uns so schnell mit Saburs Schicksal abgefunden haben. Das ist eine Schande für uns. Das kann ich mir nicht verzeihen. Ich will nicht wie du alle verdächtigen. Ich möchte wissen, wer es war und warum er so gehandelt hat. Ich weiß nicht, was ich mit ihm tun würde. Aber ich könnte dann ruhig sterben. DOSBERGEN Nicht schlecht, nun stecken wir endgültig in der Sackgasse. Jetzt sind wir alle hier Lumpen, Verdäch tige. Ach, ihr, wie sollen wir bloß weiterleben! Hon zu. Sabur, dem ist jetzt nicht mehr zu helfen, also weshalb die alten, vergessenen Wunden wieder aufreißen? Mir tut es auch leid um ihn. Ich verstehe vielleicht nicht viel von Poesie. Und vielleicht hat er manchmal auch über mich seine bissigen Epigramme geschrieben, genau wie über dich, Ossipbai, wir alle haben was abgekriegt. Issabek zum Beispiel hat er in einem Verslein einen Selbstlade prahler genannt, und für mich hatte er auch irgend so was drin. Ich habe es nicht übelgenommen, es war treffend be obachtet. Du, Ossipbai, brauchst auch nicht beleidigt zu sein, wenn er dich „Sohn eines Bürokraten und einer Bü rokratin“ nannte, denn deine Eltern waren einfache Bau ern im Ail. Ich erwähne das deshalb ... ISSABEK Warte, warte, dann wollen wir uns schon an alles erinnern. Sabur hat auch Mambet nicht verschont. Weißt du noch? „Aus deinen Ohren wuchern krause Wahrheiten wie Sauerampfer aus dem Dunghaufen.“ DOSBERGEN Genau! Sabur vertraute uns wie sich selbst, deshalb hat er sich manchmal solchen Spott erlaubt. Ein Freund darf das. Vielleicht wollte er uns auch bloß erhei tern in der schweren Zeit damals, was weiß ich ... Aber
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was war, das war, und Gras ist darüber gewachsen. Ge nug der Selbstkasteiung, davon wird's nicht leichter. Wir sollten, wie man so sagt, diese Frage der Klarheit halber fallenlassen. ALMAGUL Nein, Entschuldigung, Dosbergen, vielleicht hättet ihr dies Gespräch in unserer Gegenwart gar nicht erst anfangen sollen. Das ist schließlich eure Vergangen heit, und damit müßt ihr klarkommen. Jetzt aber meine ich ... GULSHAN Almagul hat recht. Euren Frauen kann es nicht mehr gleichgültig sein, was früher zwischen euch war. Ich bitte mir ein bißchen Achtung aus. Da sitze ich nun und versetze mich an Aischa-Apas Stelle. Was mag sie jetzt empfinden, was mag sie denken? Einer von euch ist nicht gefallen und nicht tot, aber ihr sprecht von ihm wie von einem Toten. Was sollen wir von euch halten? Welch schreckliche Geschichte! Nein, so geht das nicht, wir wol len versuchen, Klarheit zu schaffen. MAMBET Wenn uns das gelänge, würde ich mich für einen glücklichen Menschen halten. ISSABEK Nicht nur du. Stell dir vor, wir anderen wollen das auch. AISCHA-APA Ich weiß vom Hörensagen, daß Sabur an der Front ein Poem geschrieben hat, für das er verurteilt wurde. Später hat man ihn rehabilitiert, ihm erlaubt zu rückzukehren und ihn in alle Rechte wieder eingesetzt. Aber wie es dazu kam, wißt nur ihr. Eines will ich noch sa gen — ihr alle seid mir gleich lieb, wie meine fünf Finger. Issabek, Mambet, Ossipbai, Dosbergen und Sabur ... Die jungen Leute haben ihn geliebt im Krieg. Sie wußten seine Gedichte auswendig, prägten sie sich ein wie einen Schwur. Unlängst schrieb ich ihm und bat, mir zum vier zigsten Jahrestag unseres Internats Material für das Schulmuseum zu schicken. Sabur antwortete mir mit einem kurzen Brief: „Liebe Aischa-Apa, betrachten Sie mich als an 4er Front gefallen. Es gibt mich nicht mehr.“
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Pause. Wie konnte es so weit kommen? Pause. ISSABEK Ich habe darüber nachgedacht. Wir hatten unsere ersten Kämpfe in der Westukraine. Die Deutschen ver suchten mit allen Kräften, unsere Offensive zu stoppen, aber wir setzten den Vormarsch hartnäckig fort. Alle wußten, daß es bis zur Grenze nicht mehr weit war und unsere Heimat bald befreit sein würde. Der Krieg schärft die Gefühle und Gedanken ganz besonders. Sabur schrieb in jenen Tagen so flammende Gedichte, daß wir anderen mit berühmt wurden, wie Aischa-Apa gesagt hat. Sogar meine Wenigkeit hat an der Front Sachen geschrieben, die nicht schlecht waren. Sabur hat sie in der kirgisischen Ausgabe gedruckt. Heute erwäge ich, die Frontgedichte in meine gesammelten Werke aufzunehmen. Es sind nicht allzu viele, höchstens drei Bände. Die Zeit ist heran, der fünfzigste Geburtstag nicht mehr allzuweit. Die Jahre ver gehen, man möchte doch so einen Tag in würdiger Weise begehen ... GULSHAN Lassen wir das an uns herankommen. Also, was geschah mit Sabur? .. ISSABEK Wir erreichten kämpfend die Staatsgrenze. Alles war wunderschön. Wie freuten wir uns, wie frohlockten wir, daß unser Land nun für ewige Zeiten von den Erobe rern gesäubert war. Und dann ... Aber das ist meine per sönliche Meinung, ich dränge sie keinem auf. Ich hatte den Eindruck, daß Saburs Stimmung irgendwie verändert war. Einmal las er uns Verse vor, die gar nicht zu ihm paß ten. Es war der Anfang eines Poems. An den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern, aber der Sinn war so: Ich bin des Krieges müde, ich bin des Blutvergießens müde. Jetzt, wo die Heimat befreit ist, wünsche ich mir Flügel, um heimzufliegen zum Alatau ... Und so weiter. Trau rige lyrische Ergüsse. ALMAGUL Wieso denn? Das sind doch ganz begreifliche menschliche Gefühle.
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ISSABEK
Nicht so eilig, Almagul. Ganz so einfach ist es
nicht. Ich konnte nicht begreifen, warum er diese Verse geschrieben hat. Wir hatten unser Land befreit. Aber das war doch noch nicht zu Ende. Der Kampf für unsere Hei mat war hinübergewachsen in die historische Mission', die Völker Europas vom Faschismus zu befreien. Das mußte er doch begreifen, dieser helle Kopf, dieser grundehrliche Bursche, dieser Patriot! Woher dieser formlose Pazifis mus, der dem Geist seiner Poesie so fremd war? Ich habe zu ihm gesagt: „Versteh doch, Sabur, die Geschichte ist nun mal so. Um den Krieg auszurotten, muß man den Weg des Krieges beschreiten ...“ GULSHAN Und er, war er nicht der gleichen Meinung? MAMBET Gestritten hat er nicht mit mir. Aber er sagte mir einmal: „Kannst du dir vorstellen, was das noch kosten wird, wieviel Menschenleben, wieviel' Leid?“ — „Das ist unvermeidlich“, habe ich ihm geantwortet. „Die Ge schichte hat uns nur einen Weg gewiesen — zu kämpfen bis zum endgültigen Sieg, was uns das auch kosten mag.“ — „Ja“, stimmte er zu, „du hast recht.“ In dieser Zeit hat er das Poem geschrieben! Er hat nicht geschlafen, hat jede Minute genutzt. Ist direkt irgendwie gealtert. Das Poem nannte sich: „Kaum verstummt das Kriegsgedröhn ...“ Kaum verstummt das Kriegsgedröhn,
stehen auf der Toten Schatten
und in unsichtbarer Menge
treten lautlos vor mich hin.
Was, was soll ich ihnen sagen?
Womit soll ich sie nur trösten,
die ihr Leben hingegeben
in dem fürchterlichen Krieg?
Sie sind alle gleich im Tode.
Menschen sind es. Tote Menschen.
Jeder eines Menschen Sohn.
Nicht Soldat mehr und nicht Marschall.
MAMBET
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Was, was soll ich ihnen sagen, denen, die da vor mir stehen, und ich kann nicht unterscheiden, wer da Freund ist und wer Feind? Wer entscheidet denn von oben ganzer Generationen Schicksal, Wo, wo sind des Leides Grenzen in dem großen Menschenmeer? Was, was soll ich ihnen sagen, denen, die da vor mir stehen? Worauf können sie noch hoffen in der ändern Welt? Na, und so weiter. Das waren seine Überlegungen. Er, der tiefgründige, ehrliche Künstler, war erschüttert über das, was er im Krieg gesehen hatte, und wollte antworten auf die brennenden Fragen, die ihn quälten. Er zeigte uns jedes neue Kapitel. Wir trafen uns zu'fünft, manchmal auch einzeln. Er las gern vor. Es war ihm ein Genuß, vor zulesen und zu wissen, daß wir ihm zuhörten ... ANWAR Mach's kürzer — wie ist alles ausgegangen? MAMBET Kürzer geht's nicht. Ich erzähle ja keinen Witz. ISSABEK Kürze ist die Schwester der Begabung. MAMBET Und die Stiefmutter des Honorars. So hast du's einmal abgewandelt. ISSABEK sichtlich beschämt Na, das gehört wohl nicht hier her! Wozu ... MAMBET Lenk nicht ab oder erzähl selbst. Du hast Saburs Gedichte immer gelobt, mit Tränen in den Augen und Bibber in der Stimme. ISSABEK So nicht,“ du hast angefangen, also erzähl du wei ter. Ich habe Sabur als Dichter verehrt und seine Verse ge lobt, das ist ganz was anderes. MAMBET Wieso was anderes? Damals verband uns alle das gleiche, wir standen zusammen im Krieg, und du hast nicht mal das bißchen Mut gehabt, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
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Was für eine Wahrheit hast du ihm denn gesagt, wenn ich mal fragen darf? MAMBET Ich habe ihm das gesagt, was ich für meine Pflicht hielt. Ich habe versucht, ihm zu helfen. Ich habe gesagt, daß ich mit der Idee seines Poems nicht übereinstimme. Ich habe gesagt: Wir sind Befreier, und der kosmische Wehgesang um den Menschen in deinem aufrüttelnden Soldatenrequiem ist, gelinde gesagt, unzeitgemäß und ge genwärtig unangebracht. Wie kann man Gefallene bewei nen und sich von dem Kampf lossagen, den sie geführt und in dem sie ihr Leben hingegeben haben? ALMAGUL Die Menschen beweinen immer ihre Toten. MAMBET Das kommt nach dem Sieg. Damals war noch Krieg, der Kampf zweier Welten um Leben und Tod. ISSABEK Ja, natürlich. Ideologisch war Saburs Poem zwei felhaft, wenn nicht falsch. MAMBET Das sagst du heute. Damals warst du nur begei stert. Er hat dir vertraut, und du hast ihm mit deinem Lob einen schlechten Dienst erwiesen. ISSABEK Ich stehe auch heute noch zu dem, was ich damals gesagt habe. Im Sinne poetischer Kunst war das der Gip fel. Ich war begeistert wie noch nie. Zumindest haben meine Beziehungen zu ihm nicht mit einer Prügelei geen det, und ich bin hinterher nicht zum Stab gelaufen. MAMBET Sehr schön, daß du das erwähnst. Ich habe ge wußt, daß das kommt. ISSABEK Auf deinen Scharfblick ist was gepfiffen. Mein Ge wissen ist rein. Solche Bauchschmerzen sind dein Pro blem. DOSBERGEN Sachte, sachte. Die Vögel auf den Felsen krie gen ja einen Schreck. Was ist das bloß für ein Tag, ver dammt noch mal? Was habt ihr? Wohin habt ihr euch ver stiegen? So geht das doch nicht. AISCHA-APA Mambet, hast du wirklich die Hand gegen Sabur erhoben? MAMBET Ja, allerdings. Wegen dieses Poems. Wir waren ISSABEK
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zu zweit an unserm Geschütz. Ich hab ihm gesagt: Du bist als Dichter vom Weg abgeirrt. Er antwortete, in der Kunst gebe es keine vorgezeichneten Wege und meine Maßstäbe taugten nicht für ihn. Da habe ich ihm gesagt, sein Poem wäre gegenwärtig ein Zeichen für Egoismus und Feigheit. Da wurde er blaß und schlug mich ins Ge sicht. Ich antwortete genauso. Wir haben uns geprügelt. Dann drehte er sich um und ging weg. Ich lief ihm nach und sagte ihm, daß wir von nun an Feinde sind, und wenn einer von uns beiden am nächsten Tag fällt oder verwun det wird, soll das den ändern nicht kümmern ... Woher konnte ich wissen, daß dies unsere letzte Begegnung vor der jahrelangen Trennung war? Wegen der Prügelei schäme ich mich nicht, aber wegen meiner beleidigenden Worte. Wie konnte ich es wagen, ihm solche Beschuldi gungen ins Gesicht zu schleudern, ihm, dem Freund, dem Dichter, der gerade dort an der Front die ganze Tiefe und Tragik des menschlichen Daseins begriffen hatte! Er hatte versucht, die große ewige Wahrheit über den Menschen zu artikulieren. Darin äußerte sich seine Schwäche, aber auch seine Stärke ... Leider habe ich das zu spät begrif fen, erst nach dem Krieg. Wer weiß, wenn sie ihn nicht kurz nach unserem Zusammenstoß abgeholt hätten mit all seinen Aufzeichnungen und Gedichtheften und wenn sie nicht so mit ihm' umgesprungen wären, wer weiß, viel leicht wären wir dann Zeitgenossen eines der größten Dichter! ISSABEK Großartig! Endlich hast du dich ausgesprochen und den Punkt auf das i gesetzt. Du bist also jetzt zu dem Schluß gekommen, daß die Gedanken des Poems, die Sa bur an der Front geboren hat, im wesentlichen doch nicht falsch waren. Stimmt's? Demnach hatte ich recht, wenn ich mich „mit Tränen in den Augen und Bibber in der Stimme“ für seine Gedichte begeisterte. Also habe ich als Dichter im Dichter gefühlt, daß ... MAMBET unterbricht ihn Warum willst du dich sogar jetzt
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noch herauswinden? Du hast doch eben erst Saburs Poem als zweifelhaft, wenn nicht falsch bezeichnet. Ich versu che, in einer Sache Klarheit zu finden, und du hängst dich sofort mit rein, wie immer zu deinem Nutzen. Pause. Es geht doch darum, daß wir Sabur damals nicht verstanden haben, im Moment seiner tiefsten inneren Widersprüche, die ja bei einem Künstler kein Verbrechen sind, sondern seine Dialektik, sein Suchen nach der Wahrheit. Das ist es, was ich mir nicht verzeihen kann. ISSABEK Na, du bist ja heute mächtig in Form. Was willst du eigentlich? Wie kommst du dazu, meine Aufrichtigkeit anzuzweifeln? Ich bin nicht zum Stab gelaufen, ich nicht. MAMBET Ja doch, ich war dort. Am Tag bevor das Unglück mit Sabur passierte, war ich im Stab, das ist hier schon zweimal erwähnt worden. Unser Abteilungskommandeur hatte mich hingeschickt, meine Handschrift war brauch bar, ich sollte Auszeichnungslisten und allerlei Papiere ausfertigen. Damit hatte ich den ganzen Tag zu tun. Spät in der Nacht kam ich zurück in den Unterstand. Ihr habt geschlafen. Am übernächsten Tag wurde bekannt, daß sie Sabur zur Sonderabteilung abgeholt und seine sämtlichen Manuskripte mitgenommen hatten, sogar Notizen auf Papierfetzen. Klarer Fall, da war etwas Ernstes im Gange, man mußte ihm schleunigst aus der Patsche helfen, in Kriegszeiten konnte die Sache alle möglichen Wendun gen nehmen, man mußte etwas tun, etwas unternehmen. Wir haben uns beraten. Und als ich sagte, ich will den Ab teilungskommandeur um Erlaubnis bitten, mich über die Armeeinstanzen weiterzuwenden, da habt ihr, vor allem du, Ossipbai, aber auch Issabek und Dosbergen, mir ab geraten, und ich habe auf euch gehört. Dieses Verbre chen habe ich auf dem Gewissen. Was habt ihr nicht alles für Argumente vorgebracht: Bei der Armee darf man dies nicht tun und jenes nicht tun. So können wir ihm nur schaden, statt ihm zu helfen. Wenn man es für notwendig hält, wird man uns schon vorladen und fragen, und dann
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können wir immer noch sagen, wie alles war und so weiter und so fort. Wir alle haben den Mund gehalten. Ich weiß nicht, ob ich Sabur damals hätte helfen können, aber daß ich nicht einmal versucht habe einzugreifen ... Pause. DOSBERGEN Ich will euch ehrlich sagen, wenn mich heute einer fragte, was ich von jenen Versen Saburs halte, ich würde sie alle zu des Teufels Großmutter wünschen, da mit sie nicht mir und ändern den Kopf vernebeln. Nach dem Krieg haben wir Hymnen auf den Frieden gesungen und weiter nichts. Schützt den Frieden! Sonstige Feinhei ten gehen mich nichts an. Von Poesie verstehe ich nicht viel. Aber damals habe ich es vorgezogen zu schweigen, denn ich hielt es für besser, mich nicht als Zuhörer dieser zweifelhaften Verse zu erkennen zu geben. Wenn sie mich vorgeladen und befragt hätten, na, dann hätte ich natürlich gesagt, wie und was. Aber so — lieber nicht. Es war keine gute Zeit. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich habe keine Lust, mich an die Brust zu schlagen, ich bin in diesem Film kein Hauptdar steller, wie man so sagt. Ich habe nichts mit der Sache zu tun. Aber Sabur war auch kein Unschuldslamm. Da muß ja was gewesen sein, wofür sie ihn verurteilt und verbannt haben. ALMAGUL Aber er wurde doch später vollständig rehabili tiert und in seine Rechte wiedereingesetzt. JOSSIF TATAJEWITSCH Ja, später. Damals aber war noch nicht später. MAMBET Wir kennen dich nun schon so viele Jahre, Ossip bai, aber du bist ein Mensch, vor dem man sich in acht nehmen muß, mein Lieber. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich bin ein Mensch meiner Zeit. Auf Duelle lasse ich mich nicht ein, und ich eigne mir nichts Fremdes an. Was ich an materiellen Gütern und an Posi tionen besitze, habe ich mir durch meine Arbeit und mei nen Fleiß erworben, und ich bin für Ordnung in allem —
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in den Gedanken und natürlich auch in den Gedichten. Ob man sich vor mir in acht nehmen muß, ist noch die Frage. Jedenfalls bist du am Tag vor dieser Geschichte in den Stab gelaufen und nicht ich. ISSABEK Mambet, ich kann nichts behaupten, ich will nicht mal einen Verdacht äußern, aber du bist damals wirklich im Stab gewesen, dieser Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf, und ich kann nichts dagegen machen. MAMBET Das ist mir vom Schicksal als Strafe für mein Schweigen auferlegt. ISSABEK Möglich. AISCHA-APA Mir schwirrt der Kopf. Ich höre euch zu und begreife gar nichts. Ihr seid zusammen aufgewachsen, wart zusammen im Krieg, aber kaum passiert einem von euch ein Unglück, da ist es, als ob ihr euch nie gekannt hättet. Jeder denkt nur noch an sich. Wie ist das mög lich? ISSABEK Glauben Sie mir, wir haben versucht, Sabur zu helfen. Ich zum Beispiel, als er von dort zurückkam, habe ihm eine Stellung in der Redaktion besorgt. Dort hat er's nicht lange ausgehalten. Er trank schon. Ich brachte ihn in einer anderen Redaktion unter, dann beim Funk, und von dort ging er noch woanders hin ... GULSHAN All das hör ich heute zum erstenmal. Zu Issabek Warum hast du mir nie von Sabur erzählt? ISSABEK Was gibt's da schon zu erzählen? GULSHAN Aber er war doch euer Freund? Ihr habt doch of fensichtlich viel Gemeinsames gehabt. Warum habt ihr, seine erfolgreichen Freunde, ihn nicht hierher eingela den? ISSABEK Ich bitte dich, Guishan! Er ist völlig herunterge kommen. Seine Frau hat ihn verlassen. Seine Tochter hat unlängst geheiratet, sie soll ihn nicht mal zur Hochzeit eingeladen haben. Nach einer Pause Er wäre auch gar nicht gekommen. JOSSIF TATAJEWITSCH Er ist selber, schuld. Schließlich ist er
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nicht der einzige, der dort landete. Viele sind zurückge kehrt und haben sich ganz normal wieder ins Leben einge reiht. Mit wem wollte er hadern? Wem sollte er böse sein? Der Geschichte? Wo gibt es große Geschichte ohne Irrtü mer? Das Leben ist kompliziert. Darüber muß man sich erheben können. Das verlangt hohes Bewußtsein und Mut, damit man sich nicht aufgibt, sein Gesicht nicht ver liert. Und er? Er hatte Talent, aber das ist wie Rauch zer flattert. GULSHAN So, Schluß. Jetzt hört mich an. DOSBERGEN Endlich! Der Tamada wird lebendig. Hurra! GULSHAN Ich habe die ganze Zeit dagesessen und mir die Geschichte von Sabur angehört. Ich habe aufmerksam zu gehört. Wenn iclvrichtig verstanden habe, hat Sabur an gesichts des Krieges ein Poem geschrieben, das von tragi scher Stimmung durchdrungen war. Der Krieg ist ver derblich für die Gattung Mensch. Stimmt doch? Pause. Aber die einseitige Darstellung des Krieges in jener Zeit, als der heroische Kampf um den Sieg über den Feind noch in vollem Gange war, konnte, grob gesagt, als Sichabson dern, als Unlust zu kämpfen aufgefaßt werden. Habe ich recht? Pause. Mein Vater ist an der Front gefallen, und ich würde sicherlich auch so gedacht haben. Pause. ALMAGUL Ich habe zwei Brüder verloren. Sie waren ganz jung, der eine Flieger, der andere bei den Panzern. Aber darum geht's jetzt nicht. Ich habe auch aufmerksam zuge hört, und mir ist durchaus nicht egal, wie und warum das passiert ist. Vor allem aber möchte ich eins begreifen. Wenn Saburs Poem in keiner Zeitung oder Zeitschrift ge druckt wurde und auch nicht im Radio kam ... ISSABEK Nein, nirgends. Er hatte es in seinem grünen Wachstuchheft stehen, das wir alle so gut kannten. ALMAGUL Also war das sein lyrisches Tagebuch? Ein Tage buch! Der Dichter wollte sich selbst artikulieren, dachte über sich und die Ereignisse ringsum nach. Habe ich das richtig verstanden? Da durfte er doch irren ...
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Was heißt, er durfte oder er durfte nicht? Zu dei ner Kenntnis: Als wir schon vor Wien standen, erfuhren wir, daß er'sich trotz allem nicht von diesem Poem distan ziert hat, für das er verschüttgegangen ist. ALMAGUL Aber er hat doch weder die Waffe weggeworfen noch das Schlachtfeld verlassen oder sich anderweitig vor seiner' Soldatenpflicht gedrückt. Er hat einfach ge dacht ... Gefühlt und gedacht, in Gedichtform ... JOSSIF TATAJEWITSCH Die Leute, die über sein Schicksal entschieden, sahen das offenbar anders. Gedacht... Man muß wissen, wie man zu denken hat! Wir haben mit allen Kräften und Gedanken gekämpft, darum haben wir ge siegt. DOSBERGEN Keine üble Nachrede, Ossipbai. Sabur war kein schlechterer Soldat als du und ich. Erinnerst du dich, dort vor Wien brachte uns ein Journalist ein Briefchen von Sabur. Bloß ein paar Worte. „Ich habe gebeten, in ein Strafbataillon zu kommen. Abgelehnt. Lebt wohl.“ Weißt du, warum er uns diesen Brief geschickt hat? Hast du mal darüber nachgedacht? JOSSIF TATAJEWITSCH Er wollte seine Schuld mit Blut süh nen. Aber sie haben ihn nicht mal ins Strafbataillon ge steckt. Also haben sie ihm nicht vertraut. GULSHAN Dafür hat er euch allen vertraut. Aber einer von euch ist hingegangen und hat ihn angezeigt. ANWAR Um Gottes willen, hört doch auf. Ihr wart das nicht! Ihr nicht! Vielleicht hat noch jemand anders davon gewußt und es gemeldet. So kann es doch gewesen sein. ISSABEK Kaum anzunehmen. MAMBET In unserer Abteilung war keiner, der Kirgisisch konnte. Nur wir vier und Sabur. Und Gedichte liest man ja nur denen vor, die sie verstehen. GULSHAN Ich will euch mal was sagen, Freunde, ihr sucht nach einer Entschuldigung für euch. Das ist eure Sache, aber was ihr mit Sabur gemacht habt, ist primitiver Verrat. Pause. ISSABEK
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ISSABEK Na, das geht wohl zu weit. JOSSIF IATAJEWITSCH Diese Formulierung
weise ich kate gorisch zurück. Was im Interesse der gemeinsamen Sache unternommen wird, kann nicht Verrat genannt werden. Ihr müßt nicht glauben, daß ich mich rechtfertigen will. Ich war es nicht, aber wenn ich's gewesen wäre, würde ich genauso sprechen. GULSHAN So läßt sich jede Gemeinheit entschuldigen. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich habe meine Meinung gesagt, und man kann mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Jeder hat seine Prinzipien. DOSBERGEN Ach, Leute, erbarmt euch doch eures unglück lichen Gastgebers, der die Unvorsichtigkeit besaß, euch auf diesen dämlichen Berg mit dem Namen Fudschijama einzuladen. Der Autor dieses Namens ist meine Frau. Warum hast du bloß dem Berg dieses japanische Wort an gehängt! Vielleicht ist das der Grund, weshalb unsere Gä ste vergessen, daß sie hier zu Besuch sind und nicht zur Beichte bei einem buddhistischen Gott oder wie sich das nennt. Was habt ihr davon, wenn ihr euch streitet? Wir können ihm jetzt in keiner Weise mehr helfen. Vergessen wir doch die Sache. Hab ich recht, Aischa-Apa? AISCHA-APA Gewiß. Diesen Knoten könnt ihr jetzt nicht lösen, also hört auf, euch und uns zu quälen. DOSBERGEN Laßt uns trinken, essen, lustig sein, die reine Luft atmen. Wir wollen das Feuer vorbereiten. Wenn es Nacht ist, brennen wir auf dem Gipfel des Fudschijamas ein Feuer ab, das in der ganzen Welt zu sehen sein soll. Du hast das Kommando, Tamada! Schenkt ein! Ich möchte trinken. Alle werden lebhaß, Julien die Gläser. Mambet steht auf und geht zum Zelt. ALMAGUL Mein Samowar ist längst kalt geworden. Folgt Mambet. Zu Mambet Warum hast du mir nie von Sabur er zählt? MAMBET Ich dachte, du wüßtest schon alles von Dosber
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gen, deinem Mann. Außerdem war's schwer, darüber zu reden. ALMAGUL Trotzdem hättest du's mir sagen müssen. Du, kein anderer. Jetzt... Ich habe Angst. Ich bin die Gastge berin, sonst würde ich davonlaufen und mich irgendwo verkriechen. Aber ich weiß, du warst es nicht! Ich glaube dir. Ich weiß, daß du's nicht warst. MAMBET Ich kann nichts beweisen. Gar nichts. Ich habe Sabur damals nicht geholfen, und jetzt ist es zu spät. ANWAR leise zu Jossif Tatajewitsch Nun, nach allem, was Mambet hier zusammengeredet hat, wirst du ihm wohl kaum noch helfen wollen? JOSSIF TATAJEWITSCH Unbedingt helf ich ihm. Hauptsache, dein Mambet will es selbst. In ihm steckt dieser idiotische Stolz. Pause. Ach, Anwar... Ich möchte mit dir an die schönsten Meeresküsten reisen. Mit so einer Frau, da würde mein Herz frohlocken. Aber es ist unmöglich ... ALMAGUL beim Zelt Du hast Sabur nicht verraten. Ich weiß, daß du es nicht warst. Komm, wir gehen wieder zu den ändern. Hilf mir mal, nimm den Samowar. Nun komm schon, Mambet. Er hilft den Samowar tragen und tritt dann hinters Zelt. Al magul kehrt zu den anderen zurück. DOSBERGEN Ach, war das schön damals mit Sabur, Ai scha-Apa! Waren das Zeiten! Seine Gedichte wurden überall gedruckt, nach seinen Texten wurden Lieder ge sungen. Die meisten Briefe kriegte er von jungen Mäd chen. Wir kamen mit dem Lesen nicht nach. Wozu soll ich's verheimlichen — ich habe mich manchmal für Sabur ausgegeben. Er wußte davon und lachte bloß. Was hatte ich für Romanzen! Per Post natürlich. Bloß eins war lä stig: Ich mußte mir in jedem Brief wenigstens ein paar 'Verszeilen abringen. Issabek hat mir geholfen. Er dichtete doch damals. AISCHA-APA Issabek hat ganz ordentliche Gedichte ge schrieben, schade, daß er's aufgegeben hat. 277
GULSHAN „Waren sie ISSABEK Wer hätte
wirklich ordentlich? in dem Alter nicht gedichtet? Ich war auf der Suche. Habe dann in einem ernsthafteren Genre meine Aufgabe gefunden, in der allmächtigen Prosa. GULSHAN Du sagst das dermaßen überzeugt... ISSABEK Wie heißt es doch so schön: „In deiner Nähe ern test du kein Lob, nicht bei der Frau, die deinen Körper kennt, noch bei den Freunden, die von Neid belastet.“ GULSHAN Klarer Fall. Deine Frau unterschätzt dich; und deine Umgebung besteht aus lauter Salieris. Deine alte Leier. ISSABEK Na und? Jeder Mozart hat seinen Salieri. Das ist nun mal so in der Natur. Dafür sind wir Menschen, keiner ohne Fehl... DOSBERGEN unterbricht ihn Hör mal, möchtest du auch Fleisch essen? ISSABEK Ja. DOSBERGEN Du bekommst gleich welches. ISSABEK Sie glauben gar nicht, Aischa-Apa, wie schwer es für mich geworden ist, zu leben und zu arbeiten. Beson ders seit meine Bücher mit Auslandseindrücken in fremde Sprachen übersetzt werden. Außerdem wirke ich aktiv bei den Afro-Asiatischen Konferenzen mit. Auf Schritt und Tritt begegne ich offenen und versteckten Neidern. Ein unangenehmes Gefühl... Nicht umsonst heißt es: „Wenn dein Nachbar bei deinen Erfolgen erbleicht, ist es aus mit deiner Ruhe.“ AISCHA-APA Mach dir nichts daraus. Tu deine Arbeit und sei nett zu den Leuten. ISSABEK Ich tue ja meine Arbeit. Mit Herz und Seele. Nächtelang. Aber vor lauter Neid, weil da einer aus den Grenzen örtlicher Bedeutung ausgebrochen ist, weil meine Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, kriegt es sogar ein arrivierter Schriftsteller mühelos fertig, meine Bücher für Pfuschwerk zu erklären, mit einem Fe derstrich kaputtzumachen. Wie soll man das hinnehmen?
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Man muß sich selbst in den Kampf stürzen gegen die ewi gen Salieris. MAMBET Nebenbei, Salieri hat Mozart niemals einen Pfu scher genannt. Im Gegenteil, er hat ihn verehrt und es ihm auch unter Tränen gestanden. Aber nachdem er das Genie vergiftet hatte, hat er es doch nicht zu übertreffen ver mocht. Er ist qualvoll gestorben, ohne sein Ziel erreicht zu haben. ISSABEK Ach, Mambet, die Salieris sind heute auch nicht mehr, was sie früher waren. Jener Salieri war ein Maestro. Und vor allem, er hatte den Mut, seine Untat mit eigenen Händen zu begehen. Davor kann man Respekt haben. Wie ist es heute? Sie schmeißen mit Dreck — mal auf Ver sammlungen, mal in der Presse. Vergiften geht nicht mehr, doch das Leben vergällen, das können sie. MAMBET Ja, ich sehe, du hast ein hartes Brot. ISSABEK Stimmt. Zuweilen kann ich nächtelang nicht schlafen. MAMBET Denkst wohl immerzu nach? Worüber? ISSABEK Immer über dasselbe. Wie man leben soll, wie schnell die Tage verfliegen ... Pause. Ach, übrigens, Ai scha-Apa, ich such Ihnen mal die Zeitschriften und Zei tungen aus dem Krieg mit Saburs Gedichten und Erzäh lungen raus. Ich habe sie noch, ich habe sogar die Front zeitungen aufgehoben. Übrigens hat sich keiner soviel Mühe gemacht wie ich, Saburs Gedichte Krümel für Krü mel zusammenzutragen. Ich bin jetzt dabei, eine Buch ausgabe in den Verlagen durchzuboxen. Eine Bftte, Ai scha-Apa. Wenn Sie in der Schule eine Ausstellung ma chen — bringen Sie doch außer Saburs Gedichten auch ein paar von mir. AISCHA-APA Diese Bitte erfülle ich dir bestimmt. MAMBET zu Issabek Wozu? Würde das nicht aussehen wie der Triumph des Erfolgsmenschen über den Gescheiter ten? ISSABEK Na, weißt du ... Ich will doch grade unsere gei
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stige Verwandtschaft betonen. Wie kommst du bloß auf solche Gedanken? Pause. Gib zu, du bist innerlich ein Sa lieri. MAMBET Du meinst wohl, in meinem Verhältnis zu dir? ISSABEK Vielleicht. MAMBET Nein. Denn du bist kein Mozart. ALMAGUL Ich habe unlängst in einer Zeitschrift einen Arti kel gelesen. Interessant, was da über diesen Salieri gesagt wurde: daß es auf jedem Gebiet Mozarts und Salieris gibt. Daß es unmenschlich ist, stets nur auf der Seite des Genies zu stehen und die Qualen seiner Antipoden zu ignorieren. Zumal sie für die Praxis notwendig sind. Schließlich kann die Welt nicht nur aus Genies bestehen. ISSABEK Hm ... Wirklich interessant. Muß ich mal lesen. MAMBET Aber wie steht's mit dem Problem Genie und Verbrechen? Hat der Autor da auch etwas Neues ent deckt? ALMAGUL Nein, er sagt nur, wenn Salieri nun schon mal in der Gattung Mensch unvermeidlich ist, muß man seine Qualen und Leiden menschlich aufnehmen. Voller Mitge fühl. GULSHAN Merkwürdig: Man möchte es nicht glauben. Es lebe die Mittelmäßigkeit? Ist das so gemeint? JOSSIF TATAJEWTSCH Was ist da merkwürdig? Jeder kämpft in seinem persönlichen Leben für sich selbst. Da es dem Menschen nicht gegeben ist, zweimal geboren zu werden, möchte er nicht in den hinteren Reihen vegetie ren. Soll er etwa zusehen, wie das Genie den Gipfel des Ruhmes erklimmt, und sich selbst in den unteren Gefilden herumdrücken? Nein, er nimmt den Kampf auf, er schießt den ändern vom Gipfel herunter, darin besteht das Recht Salieris, sich selbst zu behaupten. GULSHAN Das ist kein ehrlicher Kampf, das ist Tücke und Gemeinheit. JOSSIF TATAJEWITSCH Liebe Guishan, ich bleibe auch hier bei meiner Überzeugung.
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Als ich voriges Jahr auf Ceylon war, habe ich mit einem buddhistischen Mönch disputiert. Ich habe ihm be wiesen, daß das Leben stagniert, wenn das Böse ver schwindet und nur das Gute bleibt. MAMBET Es stagniert, wenn der Kampf des Guten gegen das Böse aufhört. ISSABEK Ja, sicher. Aber in Arabien habe ich mit Schriftstel lern gesprochen ... GULSHAN Jetzt kommen noch Indien, Ägypten, Japan. Überall hat er alle Welt verblüfft, verwundert, über zeugt ... Auftritt Dosbergen mit einer Schürze, eine Schöpfkelle in der Hand. DOSBERGEN Also, teure Gäste, der Lammbraten ist im An marsch. Ein Weilchen noch, dann erfüllt sich der uralte Traum des Volkes vom Fudschijama. AISCHA-APA Zeit für mich. Es wird schon Abend ... DOSBERGEN Ich möchte noch etwas sagen, solange es ruhig ist und ihr nicht wieder mit euren durchgeistigten Streit gesprächen anfangt. Das Schönste war, daß heute AischaApa unter uns weilte. Aischa-Apa, ich begrüße Sie noch mals auf dem Fudschijama, und da Ihr Wagen schon da ist und unten auf Sie wartet — Sie brauchen sich nicht zu be eilen, ich sage das beiläufig —, möchte ich noch einen Toast auf Ihre langjährige Lehrertätigkeit ausbringen. Ob wir gut sind oder schlecht — mal so, mal so... Ich möchte nicht scheinheilig sein, aber Sie sollen wissen — alles Gute, was in uns ist, verdanken wir Ihnen. Auf Ihre Gesundheit und Ihr gutes Herz! JOSSIF TATAJEWITSCH Auch ich danke Ihnen herzlich, Ai scha-Apa: Wie viele gute Menschen haben Sie erzogen! Sie können stolz sein, als Mutter, als Pädagogin. Nehmen Sie nur den hier anwesenden Issabek Mergenow. Wer kennt ihn nicht? Unser Mambet gehört zweifellos zu den besten Lehrern unserer Republik, und es wäre übrigens längst an der Zeit, daß er in eine Schule der Hauptstadt ISSABEK
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versetzt wird. Oder Dosbergen, unser Oberagronom, Meister seines Fachs, der großartige, gastfreundliche Hausherr auf dem Fudschi] ama. DOSBERGEN Ach, so macht das Leben doch Spaß. Aber ver giß dich selbst nicht, Genösse Ossipbai, bald Mitglied der Akademie, vielleicht noch mehr... Am Ende wirst du plötzlich Minister, dann machst du uns Vorwürfe, wir hätten das nicht rechtzeitig vorausgesehen ... JOSSIF TATAJEWITSCH Mach nur weiter deine Witze. Ai scha-Apa, ich habe ein Anliegen an Sie. Bitte erweisen Sie am 7. November meinem Haus die Ehre. Ich hoffe, ihr ändern Bezwinger des Fudschi]ama kommt auch zu uns. Maxuda wird sich sehr freuen. Sie ist eine reizende Frau. AISCHA-APA Ich komme bestimmt, aber nur, wenn ihr alle da seid. Zu fünf t. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich bin nicht dagegen. DOSBERGEN Daraus wird nichts, Aischa-Apa. Ich habe mich mit Sabur getroffen. Auf den Knien habe ich ihn an gefleht: Komm zu mir in den Ail, da kannst du leben und arbeiten und die Vergangenheit vergessen ... Es wird nichts. AISCHA-APA Ich muß gehen, meine Lieben. Seid bedankt. Pause. Früher habe ich geglaubt... Ich bin doch zusam men mit der Sowjetmacht aus der Erde gewachsen, wie man so sagt. Als ich fünf Jahre alt war, haben die Basma tschen vor meinen Augen Vater und Mutter umgebracht. Ich kam in ein Kinderheim und ging zur Schule. Wie über den Sonnenschein haben wir uns gefreut, daß wir endlich lesen und schreiben konnten und die Tür zum Licht für uns offenstand. Ja, in den Jahren damals habe ich ge glaubt: Nun haben alle Bildung und Bewußtsein, und es beginnt ein kulturvolles Leben, so ruhig wie das klare Wasser in einem spiegelglatten Teich. Das Leben aber ist ein brodelnder Strom. Ihr alle wißt soviel, und doch ist so viel Streit zwischen euch. Wir haben uns damals auch ge stritten, über dasselbe Thema, was gut ist und was
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schlecht. Der Mensch will die Wahrheit ergründen und die Gerechtigkeit begreifen. Unersättlich ist er in seinem Wissensdurst. Aber wenn er darin geruhsam wird, dann ... Pause. Man kann es nicht besser ausdrücken, als Sabur es gesagt hat. Als dieses Gedicht in einer Zeit schrift erschien, habe ich es nicht recht begriffen. Aber ich habe es mir gemerkt. Mit den Jahren wird mir der Sinn immer klarer: „Was tut der Mensch, um Mensch zu sein?“ ISSABEK „Der ewige Streit“. AISCHA-APA Ja, „Der ewige Streit“: Nie enden wird der ewige Streit — was tut der Mensch, um Mensch zu sein? Ja, selbst im Kriege geht der Streit — was tut der Mensch, um Mensch zu sein? Im Kampfesruf hör ich den Streit — was tut der Mensch, um Mensch zu sein? Im Todesschrei hör ich den Streit — MAMBET Was tut der Mensch, um Mensch zu sein? Bald siegen wir, und doch der Streit — was tut der Mensch, um Mensch zu sein?
Wer hat uns aufgedrängt den Streit?
Wer hat herabgesandt den Streit —
was tut der Mensch, um Mensch zu sein? GULSHAN In so jungen Jahren hat er das geschrieben? ALMAGUL Denk doch an Lermontow. ISSABEK Es war Krieg, meine Lieben. Der Krieg ist die große Schule der Erkenntnis. GULSHAN Aber offenbar nicht für alle. ISSABEK In diesem Falle rührst du nicht nur an meinen Stolz. Ich bin hier nicht allein — also laß das. JOSSIF TATAJEWITSCH Du regst dich unnötig auf, Issabek. Mich persönlich kann das gar nicht berühren. Aber dieses Gedicht... Wie soll ich sagen? Viel zu abstrakte Frage stellung. Kein Merkmal der Zeit. Von was für einem Menschen ist die Rede?
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Darin sehe ich gerade einen Vorzug. Das Ge dicht ist allgemein menschlich. Unsere soziale Erfahrung erlaubt uns, bereits im Namen aller, im Namen des gan zen Menschengeschlechts zu sprechen. Schließlich hat noch niemand, noch keine Gesellschaft einen solchen „Weg zurückgelegt wie wir ... ANWAR Wer ist Lermontow, und wer ist irgendein Sabur? Ein blöder Vergleich, milde gesagt. MAMBET Für dich ist er irgendein Sabur. Für mich ist er ein Teil meines Lebens, ein Teil meiner selbst. ISSABEK Du hast kein Monopol auf Sabur. Stell es nicht so dar, als müßtest du allein um ihn leiden und den anderen wäre es sozusagen ... schnurz ... DOSBERGEN O Gott... Wie kommt das bloß? Immer wie der Sabur! Er läßt uns keine Ruhe. Alle unsere Gespräche landen bei ihm. Nun vergeßt ihn doch endlich! Und habt Achtung vor Aischa-Apa. Sie will sich verabschieden und wegfahren, aber ihr laßt sie nicht zu Worte kommen. AISCHA-APA Das ist doch nicht schlimm, lieber Dosbergen. Ich werfe mich nicht zum Richter auf, worin Sabur recht hatte und worin nicht, aber ihr habt heute die ganze Zeit von ihm gesprochen, also braucht ihr ihn, also ist er noch unter uns... Bleibt sitzen, laßt euch nicht stören. ALLE Was reden Sie da? Wir begleiten Sie. Was andres kommt nicht in Frage. Vielen Dank für alles, Aischa-Apa! AISCHA-APA Alles Gute. Bleibt nur, bleibt nur. Ich gehe al lein den Berg hinunter ... Ich bin auch eine! Nach einer Pause Ich bin nicht losgestürmt wie eine Mutter, habe nicht an sämtliche Türen und Fenster geklopft. Pause. Da bei werde ich aller Welt als Beispiel hingestellt: alte Kom munistin, ich sitze in Präsidien, halte Reden. Nein, ich kann jetzt nicht mehr ruhig leben, und euch rat ich's auch nicht. Macht's gut. Ab. Die Frauen geben ihr das Geleit. Pause. MAMBET
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Herrlich, die zunehmende Dunkelheit ringsum. Diese Berge in der Dämmerung — toll! MAMBET Ja, eine Pracht. DOSBERGEN bringt eine Flasche Kognak und Gläser Mal herhören, Männer. Unter uns, wir haben den ganzen Tag noch nicht anständig einen gehoben wegen eurer dämli chen Streiterei. Nehmen wir einen nach Soldatenart, so lange die Frauen weg sind. Wir wollen lustig sein, ver dammt noch mal. Wozu sind wir denn auf diesem Berg geblieben? Wir wollen schreien wie die Wilden, wir wol len singen. Dosbergen gießt den Kognak in die Gläser, alle werden leb haft, schreien, lauschen auf das Echo in den Bergen. Dosber gen ahmt den Schrei des Schneemenschen nach. Alle lachen wiehernd. Wir wollen Steine runterkullern. Als Kind war das meine Lieblingsbeschäftigung, Steine runterzukullern. Ich bin doch als Hirtenjunge aufgewachsen. ISSABEK Warum nicht? Versuchen wir's. Los, wer ist stär ker, wer schafft's am weitesten! Jossif Tatajewitsch wirft das Jackett ab, reißt die Krawatte auf, daß sie herunterfällt, krempelt die Ärmel hoch. Alle gera ten in Rage. Die Steine kollern polternd den Berg hinunter. ANWAR Meine Güte, was geht da vor? Was machen die? GULSHAN Da poltern Steine. Die Männer machen sich Be wegung. Ein Städter muß sich gelegentlich entladen. ISSABEK wirft einen Stein Nein, Ossipbai, du kannst mich nicht schlagen. Ein bißchen Mumm haben wir noch. JOSSIF TATAJEWITSCH He, Dshigiten, die Frauen sollen zusehen. Wir sind noch die alten. Wir stellen noch was vor! MAMBET Moment mal, ich habe meine Brille verloren. Ver suchtsie tastend zu finden. Ich kann nichts sehen. Die Brille ist weg. JOSSIF TATAJEWITSCH Dann geh beiseite, stolpre uns nicht vor den Füßen rum. ISSABEK
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DOSBERGEN
So ist's richtig, kurzsichtige Intelligenz. Hau
ruck! Vorsicht, Schlangen sein.
ANWAR
Männer.
Unter
den
Steinen
können
TATAJEWITSCH Schlangen? Mir egal. Die schmeiß ich genauso runter, so! GULSHAN Das macht Spaß ... Laß mich auch mal. DOSBERGEN Los, Frauen, macht mit! Nun wollen wir doch mal sehen, was ihr zuwege bringt. Die Frauen werfen ebenfalls kleine Steine. ANWAR Wo hast du deine Krawatte, Ossipbai? JOSSIF TATAJEWITSCH Zum Teufel mit ihr! Ich habe zu Hause den ganzen Schrank voll! MAMBET Almagul, bring mich zum Zelt. Ich kann nichts sehen. Meine Brille ist weg. Almagul ßihrt Mambet bei der Hand. Die übrigen werfen weiterhin Steine den Berg hinunter. ALMAGUL Du hast deine Brille verloren? MAMBET Wenn sie sie nicht zertrampeln, finde ich sie mor gen früh wieder. ALMAGUL Bleib mal stehen. Siehst du das Feuer da unten? MAMBET Das kann ich sehen. Was ist das? ALMAGUL Ein Lagerfeuer. Dort ist ein Pionierlager. MAMBET Ach so ... Ein schöner Anblick. Ich kann mir vorstellen — ringsum die düsteren Berge, und vor dir pras selt das Feuer. Weißt du, Almagul, wie lange ist es her, daß wir an Pionierlagerfeuern gesessen haben ... ALMAGUL Die sind ausgebrannt. Und wir sind auch nicht mehr dieselben. MAMBET Interessanter Gedanke: Ich stelle mir die Kinder am Lagerfeuer vor. Sie singen und tanzen und sind lustig, und es kümmert sie nicht, was sie erwartet. Unter ihnen sind bestimmt solche Menschen wie wir. Ein Mädchen wächst heran und wird so wie du, Almagul, und irgendwer wird sie so unglücklich und unter Schwierigkeiten lie ben wie ich dich. Vielleicht wird auch der eine oder an JOSSIF
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dere so wie Ossipbai oder Issabek, und sicherlich ist dort auch eine Guishan und vielleicht ein Sabur ... ALMAGUL Vielleicht hat er Glück, und sein Schicksal wird anders, und seine Freunde sind nicht so wie ihr ... Pause. MAMBET Ich kann dir nicht böse sein. Pause. Weißt du, Sa bur geht mir heute noch aus dem Weg. Manchmal träume ich von alldem, von uns allen... Dann wache ich schweißgebadet auf... Ich träume von meiner Angst, meinen Gewissensnöten ... Ja, die Vergangenheit läßt sich nicht zurückholen. Der Soldatenmantel ist abge wetzt, die Stiefel sind schiefgelaufen ... Ich weiß gar nicht mehr, wie das aussieht. ALMAGUL lächelnd Ich sehe dich noch vor mir in deinem Soldatenmantel und den Stiefeln. Du weißt das gar nicht. Als ich nach dem Institut auf meiner ersten Lehrerkonfe renz war, hast du im Saal ein paar Reihen vor mir geses sen. Immer wieder hast du dich nach mir umgedreht... Damals fürchtete ich, es könnte auffallen. Und wie du mich angesehen hast... Das war so schön und hat mich erregt. Mir schien, deine Blicke würden von allen be merkt. MAMBET Ich kann mich erinnern. In der Pause habe ich nach dir gesucht, ich wollte dich zu einem Glas Limonade einladen. ALMAGUL Und warum hast du es nicht getan? MAMBET Aus Schüchternheit. Du warst ein ganz junges Mädchen und standst mitten unter jungen Leuten, und ich war schon ... ALMAGUL Warum hast du es nicht getan! Mein Gott! Ein Glas Limonade, nur ein Glas Limonade ... MAMBET Ja, so eine Lappalie ... Dann habe ich dich aus den Augen verloren, und sieben Jahre später, als ich aus dem Tienschan zurückkam und eine neue Stellung er hielt, traf ich dich in der Schule, aber da warst du schon die Frau eines meiner Freunde. Schicksal...
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Weißt du, ich beneide die da unten am Lager feuer. Sie haben noch keine Ahnung, wer von ihnen ein Mambet ist und wer eine Almagul. Wenn sie's erst wissen, wird es manchmal bitter für sie sein... Aber manchmal werden sie sich auch freuen. Komm, ich bring dich ins Zelt. Sie gehen. Man hört Ausrufe. STIMME DOSBERGENS Ich bin der Schneemensch, ich bin der Schneemensch. STIMME JOSSIF TATAJEWTSCHS Ich beneide den Schneemen schen. Er ist absolut frei. Er schnappt sich irgendeine Frau und schleppt sie in seine Höhle. STIMME ANTWARS Wo ist deine Höhle? Wo ist deine Höhle? STIMME ISSABEKS Es lebe der Schneemensch! Es lebe die Freiheit! STIMME GULSHANS Vorsicht, Issabek. Du fällst in den Ab grund ... ALMAGUL
Zweiter Teil Morgen. Heller Sonnenschein. Am Bach, nackt bis zum Gürtel, waschen sich Dosbergen, Mambet, Jossif Tatajewitsch undlssa bek JOSSIF TATAJEWITSCH unzufrieden Nein, Freunde, das ist nichts. Ehrlich gesagt, ich bin sehr unzufrieden. ISSABEK Hör auf, Ossipbai. Wir haben uns doch schön er holt in der frischen Luft. Wir waren lustig und vergnügt. Was willst du noch? JOSSIF TATAJEWITSCH Davon rede ich nicht. Was sind wir, Männer oder was? Die Gleichberechtigung ist doch zu weit fortgeschritten. Unsere Großväter und Urgroßväter, die haben gewußt: Eine Frau im Arm — ein Feind im Arm. Und wir haben uns im Beisein der Frauen gehenlassen und von derartigen Dingen geredet. Morgen werden sie's überall ausposaunen. ISSABEK Was sollen sie denn ausposaunen? Was haben wir schon geredet? JOSSIF TATAJEWITSCH Trotzdem, wir hätten keinen Stoff liefern sollen. Ein Glück, daß meine nicht dabei war, die hätte es uns gezeigt, die hätte uns die Seele aus dem Leib gebeutelt. ISSABEK Versündige dich nicht. Maxuda ist eine kluge Frau. JOSSIF TATAJEWITSCH Für euch ist sie klug. Die Ehefrau eines ändern erscheint einem immer wie ein junges Mäd chen. Aber ich muß mit ihr leben und nicht ihr. Ich weiß Bescheid ... DOSBERGEN . Das hat sie nicht verdient, Ossipbai. JOSSIF TATAJEWITSCH Herrgott, als ob ihr das nicht wüßtet. Ich kam damals von der Front zurück, na, da hab ich auf die Schnelle geheiratet. Jetzt sind die Kinder da... In meiner Stellung kann ich mir nichts mehr erlauben. Bei jedem Mist heißt es gleich: Unsere Moral... Mir sind Hände und Füße gebunden. Man sagt, in ändern Ländern
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geht das keinen was an, da steckt keiner seine Nase in an derer Leute Privatleben. Wenn du willst, heirate, wenn du willst, laß dich scheiden. Hauptsache, du machst deine Arbeit gut. Bei uns dagegen ... Versuch nur mal, was an zudeuten ... DOSBERGEN Ja, Genösse Direktor, Doktor der Wissen schaften, du bist nicht zu beneiden. Schlimm ist das, ein Hundeleben. JOSSIF TATAJEWITSCH Denk du erst mal an dich. Du hast's nötig, hier so selbstsicher ... DOSBERGEN Warum sollte ich das nicht sein? JOSSIF TATAJEWITSCH sich besinnend Ich mein man bloß. DOSBERGEN Du hältst mit irgendwas hinterm Berg. Läßt deinen Ärger aus an mir. Weswegen? JOSSIF TATAJEWITSCH Entschuldige, Dosbergen! Es stimmt, ich lasse meinen Ärger aus. MAMBET ruft He, Leute, ich hab meine Brille gefunden. JOSSIF TATAJEWITSCH Mambet hat uns schon vom frühen Morgen an die Stimmung versaut. Wir waren noch gar nicht richtig wach, hatten uns noch nicht mal gewaschen, da kommt er schon mit der Neuigkeit: Er hat, bitte schön, von Sabur geträumt. Und wieder so, daß wir alle an der Front sind und Sabur uns seine Gedichte vorliest. So geht das nicht. Gestern haben wir uns den ganzen Tag mit Selbstanklagen fertiggemacht. Nun ja, wir haben ihn ge liebt und lieben ihn noch. Na und? Mal muß doch Schluß sein. MAMBET Haben wir etwa auch vor Träumen schon Angst? ISSABEK Ach, so was kann deine Mitmenschen bloß reizen. MAMBET Ich wußte nicht, daß du Träumen solche Bedeu tung beimißt. ISSABEK Was willst du damit sagen? MAMBET Gar nichts. Das zu sagen, was ich sagen möchte, habe ich keinen Anlaß. ISSABEK Brauchst nicht zu suchen, es gibt keinen. Nicht ausgeschlossen, daß du der Bewußte bist.
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Was ist daran Besonderes? Einer muß es ja gewe sen sein. Und dieser eine ist einer von uns. DOSBERGEN Ich kapier überhaupt nichts. Wozu mußten wir dieses Gespräch anfangen und uns gegenseitig ver dächtigen, wo doch keiner irgendwelche Fakten oder Be weise in der Hand hat? Wer hat was davon? JOSSIF TATAJEWITSCH Wir wollen doch versuchen, zu einer nüchternen Betrachtung der Frage zu kommen. Ich habe gestern absichtlich gesagt: Es gibt keine große Geschichte ohne Irrtümer. MAMBET Wenn du das Objekt eines solchen Irrtums wärst, würdest du diesen Gedanken kaum beibehalten. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich weiß nur eins ... MAMBET unterbricht ihn Unsere Geschichte hat ihre Irrtü mer selbst korrigiert. Darin liegt ihre große Gerechtigkeit. Es gibt keine objektiven Gründe dafür, daß Sabur sich aus unserem Leben ausgestoßen fühlt. Er ist in sämtliche Rechte wiedereingesetzt. Moralisch und juristisch ist er ein Staatsbürger wie du und ich. JOSSIF TATAJEWITSCH Richtig, finde ich auch. Es gibt keine objektiven Gründe. MAMBET Aber subjektive Gründe gibt es. Und die sind für den Menschen nicht minder wichtig. Sie können die menschliche Seele zutiefst verwunden und in eine lang wierige, manchmal auch irreparable Krise stürzen. Dafür sind wir doch verantwortlich, kapiert ihr das nicht? Was mich in unserem Falle rasend macht, ist unsere satte Über heblichkeit: Er säuft, bitte schön, er ist selber schuld. Sein Talent ist versickert, hat sich als.schwach erwiesen. Wir selbst haben Sabur zugrunde gerichtet, und jetzt verach ten wir ihn auch noch. ISSABEK Du bist entweder ein größer Schauspieler oder ... wirklich ein unglücklicher Mensch. Pause. Was für ein Abgrund von Finsternis verbirgt sich in deiner Seele, Mambet. Du bist stolz darauf, ein bescheidener Schulleh rer zu sein, willst aber vor lauter Zorn und Neid auf die MAMBET
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ganze Welt einschlagen. Du bist krank. Du gehörst in Be handlung. DOSBERGEN Noch ein Wort jetzt von irgendwem, und ich kann nicht mehr für mich garantieren. Dann jage ich euch allesamt achtkantig von diesem verfluchten Fudschijama runter. Was ist, wollt ihr mich verhöhnen, mich, meine Gastfreundschaft, meine Frau? Eine ganze Woche lang hat sie sich darauf vorbereitet, euch anständig zu empfan gen, und ihr beißt euch wie die Köter. Mir ist scheißegal, was jeder von euch vorstellt. Ich bin ein einfacher Agro nom, aber ich kenne mich in meiner Arbeit aus, und ich will, daß hier keiner aus der Reihe tanzt. Ich bitte mir ein bißchen Achtung aus. Wenn nicht, dann schert euch doch alle zu des Teufels Großmutter, ihr mit eurem abstrakten Gespinne. MAMBET Ich wollte dich nicht verärgern, Dosbergen. Komm, sei nicht böse ... ISSABEK Beruhige dich, Dosbergen. Hast ja recht. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich finde auch. Pause. DOSBERGEN sieht nach der Uhr Wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Wagen sind bald da. Lächelnd V ergessen wir das alles, Leute. Ihr verdammten... Bringen wir den Morgen wie Menschen hinter uns. Einigen wir uns so: keinerlei Streit über Sabur. Wir werden unsere Frauen unterhalten. Keinerlei ernste Gespräche, keinerlei Anlaß dazu. JOSSIF TATAJEWTSCH Genau. DOSBERGEN Wir werden uns erholen, die Morgenluft at men, uns am Anblick der Berge erfreuen. ISSABEK Was braucht der Mensch noch am Sonntag? DOSBERGEN Kommt, wir bauen das Zelt ab. Szenenwechsel. Die Gruppe der Frauen. Sie bereiten das Frühstück. Der Sa mowar raucht. GULSHAN Unsere Männer haben sich gestern mächtig bla miert. Und wir haben noch Öl ins Feuer gegossen. Sie.hat ten's nicht leicht, die armen Kerle, in Gegenwart von Ai
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scha-Apa. Geschieht ihnen aber recht; wenn sich einer von ihnen so weit erniedrigt, daß er Verrat begeht, sollen sie sich alle schämen. ALMAGUL Aber dieser Verräter ist ja wohl der Mann einer von uns ... GULSHAN Hast recht, Almagul. ANWAR Ja, natürlich, aber da kommen unsere Männer. Wir sollten ihnen nicht den Sonntag verderben. Wir wol len nicht mehr darauf zu sprechen kommen, zumal wir bald abfahren. MAMBET Einen schönen guten Morgen, ihr Chanums, auf dem Berge Fudschijama. ISSABEK Seid gegrüßt, ihr Hochgebirgsbezwingerinnen! ALMAGUL Oh, das klingt gut! ANWAR Guten Morgen! Wie habt ihr geschlafen? War euch nicht kalt? DOSBERGEN Uns nicht. In den Schlafsäcken ist es warm. Und ihr? GULSHAN Wir haben ja im Zelt geschlafen. Wie die Toten. JOSSIF TATAJEWITSCH Und wie stand es mit den ... Mük ken? Haben sie euch nicht zugesetzt? Immerhin, eure Körper... GULSHAN Nein. Sie haben sich auf dem Fudschijama schicklich betragen. MAMBET Dafür möchten wir euch ein Kompliment ma chen, Guishan. GULSHAN Mit Hilfe der Mücken? Besten Dank! MAMBET Nein, du bist unmöglich. Armer Issabek. Jossif Tatajewitsch dreht an seinem unvermeidlichen Transi storradio. STIMME DES SPRECHERS Der Flug der automatischen Sta tion zur Venus wird es den Menschen ermöglichen, in die Geheimnisse dieses rätselhaften Planeten einzudrin gen. DOSBERGEN Mach aus. Dieser Kosmos geht mich einen
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Dreck an. Ich kann dort weder pflügen noch säen. Was nützt uns ein Planet, wo kein Getreide wächst. ISSABEK Die Geheimnisse des Kosmos sind unsere Anstren gungen wert, Dosbergen! DOSBERGEN Hat mich einer gefragt, ob sie es wert sind oder nicht? Ich bin schließlich auch wer. Ich erfülle und übererfülle den Plan, das ist mein Lebenswerk. Man soll also meine Meinung gefälligst respektieren. Wenigstens fragen kann man mich. Gib mir Regen, wenn ich ihn brau che, und schiebe ihn weg, wenn er keinen Nutzen bringt. Sonst weinst du vor Ohnmacht, wenn das Feld unter der Sonne verbrennt. Oder du schickst einen wüsten Mutter fluch zum Himmel, wenn das Getreide verregnet und auf dem Halm fault. ALMAGUL Um das Klima zu steuern, muß man wissen, was rund um die Erde vor sich geht. Vielleicht kommst du sel ber noch dahinter, wie notwendig die kosmischen For schungen sind. ISSABEK Dosbergen, du hast überhaupt eine reine Verbrau chermentalität. „Gib mir Regen, gib mir dies, gib mir das ...“ Unsere einfachen Menschen sind ja deshalb Helden, weil sie unter schweren Bedingungen schwere Arbeit tun. DOSBERGEN Ein solcher Held mag ich nicht sein. Ich will Hausherr sein, Schöpfer meines Werks. Und ich will keine elementaren oder sonstigen unüberwindlichen Schwierigkeiten. ISSABEK Ohne sie gibt es kein Leben. DOSBERGEN Ach, für dich gibt es ein Leben ohne Schwie rigkeiten, aber für mich nicht? ISSABEK Glaubst du, von uns Schriftstellern wird nichts ver langt? Versuche mal, nach einem Mann wie dir einen positiven Helden zu gestalten, einen lebendigen Zeit genossen in voller Lebensgröße! Was gibst du für eine positive Gestalt ab, wenn du nicht mal ein Held sein magst?
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Was denn, ein Held zu sein — ist das Selbst
zweck? Wozu lebt denn der Mensch sonst auf der Erde? ANWAR Genau. Was kann größer sein als Heldentum? ISSABEK Von der Kunst ist die Rede. So etwas nennt sich bei uns: die typische Situation eines Kunstwerks über ein Gegenwartsthema. MAMBET Was heißt typische Situation? Wenn du schon vorher weißt, was in dem Werk zu stehen hat und was nicht? Und das soll Kunst sein? JOSSIF TATAJEWITSCH Bei dir, Mambet, ist nichts so wie bei anderen Menschen, in allem hast du deinen eigenen Kopf. Findest du das originell? Das ist es nicht. Letzten Endes muß in allem Disziplin sein, auch im Denken. Ja, ich bin orthodox, du kannst mich schimpfen, wie du willst, aber von meinem Wege gehe ich nicht ab. Deine Positionen kommen mir ziemlich wacklig vor. Du kritisierst zum Bei spiel die Bücher von Issabek Mergenow. Wie kommst du eigentlich dazu? ANWAR zu ihrem Mann Wenn du so ein Kenner bist, dann setz dich doch hin und schreib selber was. JOSSIF TATAJEWITSCH Darum geht's ja gar nicht. Was soll unsere Kunst uns lehren? Ehrlichkeit, Treue, Aufopfe rung, Festigkeit, charakterliche Klarheit, schließlich auch Heldentum. Ohne Heldentum kann ich mir den Men schen unserer Zeit, den Menschen meiner Tage gar nicht vorstellen. Wir haben doch den ganzen Krieg durchge standen. Können wir da etwa kein nachahmenswertes Beispiel sein? MAMBET Völlig richtig, absolut einverstanden: Die Kunst soll dem Menschen feste sittliche Grundlagen anerziehen. Bloß wie, das ist die Frage. Das ewige Problem des Künst lers. Alles, was du hier so eifrig aufgezählt hast, kann man mit einem einzigen Wort zusammenfassen: Menschlich keit. Jawohl, Menschlichkeit. Darin sehe ich die Haupt JOSSIF TATAJEWITSCH
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aufgabe der Erziehung durch die Kunst. Du aber siehst darin komischerweise die Wackligkeit meiner Position. Übrigens heißt es bei einem Dichter: Gefährlich ist das halbe Wissen, mit der Geschichte steht's auf du, es fordert lauthals Anerkennung, daß es immer recht hat. ISSABEK Kenne ich, kenne ich! Ich war voriges Jahr in Gui nea. Meine Auffassung von der Kunst... GULSHAN Issabek! JOSSIF TATAJEWITSCH Wenn es zu viele Auffassungen gibt, wird das Leben gar zu kompliziert. DOSBERGEN So ist es. Nach Beispielen brauchen wir nicht lange zu suchen. Nehmen wir etwa uns hier auf dem Fudschijama. Da sitze ich und frage mich: Warum sind wir auf diesen verfluchten Berg gekrochen? Um der Ver gangenheit zu gedenken und uns der Gegenwart zu freuen? Oder um endlos darüber zu streiten, wie man le ben soll und ob wir richtig leben? Wozu denn? Warum dieser Streit? Als ob ausgerechnet wir verpflichtet wären, die Wahrheit zu entdecken, nach der der Mensch sucht, seit er Mensch wurde. MAMBET Aber wir sind doch Menschen. Das ist ja unsere Schwäche, immer wieder zu suchen ... nach der Wahr heit. ALMAGUL Es ist gut, daß wir auf dem Fudschijama nicht nur getrunken und gegessen, sondern auch „über das Le ben gesprochen“ haben! Also hat uns der Geist des Su chens und Diskutierens noch nicht verlassen. Vielleicht sind wir noch jung? Jossif Tatajewitsch stellt auf seinem Radio fröhliche Marsch musik ein. DOSBERGEN horcht Da kommt wer. Geht dem Unbekannten entgegen. Laut He, du, wohin? Hast du nicht gesehen, ob da unten Autos angekommen sind? Auftritt Forstarbeiter.
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FORSTARBEITER
Ein Wagen ist da. Was machen Sie denn
hier? DOSBERGEN Blöde Frage. Wir erholen uns. FORSTARBEITER bind Sie schon lange hier?
Waren Sie auch in der Nacht hier oben? ISSABEK halblaut Sonderbare Type ... DOSBERGEN Ja, wir waren auch in der Nacht hier oben. Aber was geht dich das eigentlich an? FORSTARBEITER Wenn ich frage, geht's mich auch was an. ANWAR Seht euch den an! Ist wohl der Bergwächter, was? Typisch Mann. MAMBET Was wollen Sie eigentlich von uns? Es brennt nicht, die Berge sind noch da ... JOSSIF TATAJEWITSCH He, Freund, ist es bei euch aus der Mode, den Salam zu entbieten, wenn ihr angesehene Leute trefft? FORSTARBEITER Der Salam ist nicht aus der Mode. Aber es gibt Fälle, wo er keinen Sinn hat. JOSSIF TATAJEWITSCH Was soll das heißen? Weißt du über haupt, mit wem du sprichst? FORSTARBEITER Ist das so wichtig? DOSBERGEN Moment mal, Dshigit, hier bin ich der Gastge ber. Du hast dich also an mich zu wenden. Ich bin Ober agronom im Sowchos, und das hier sind meine Gäste. FORSTARBEITER Ich kenne Sie. Wer kennt Sie nicht hier in der Gegend. DOSBERGEN Wer bist du selber, und weshalb redest du in diesem Ton? FORSTARBEITER Ich selber bin aus dem Forstbetrieb. Mei nen Sie, mir macht das hier Spaß? Ich wollte in die Stadt zum Sonntagsbasar. Aber da unten in der Schlucht hat mich ein Milizionär gestoppt. Halt an, hat er gesagt, stell das Motorrad ab, du bist Zeuge. Da liegt eine tote Frau ... Alle rufen: „Ermordet!“ — „Banditen!“ FORSTARBEITER Nein, wieso denn Banditen! Sie wurde von
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einem Stein erschlagen. Auf der Straße, direkt unterm Berghang. Der Stein hat sie am Kopf getroffen, sie ist ganz blutig. ISSABEK erbleichend Ja ... Aber was haben wir damit zu tun ... Pause. Alle verstummen in einer fürchterlichen Ahnung. DOSBERGEN Was quasselst du da! Los, erzähle vernünftig, wann und wie ist das passiert? FORSTARBEITER Als ob mir's Spaß machte, hier zu quasseln! Alles Ihretwegen! JOSSIF TATAJEWITSCH Was heißt unsretwegen? Überleg dir, was du redest! DOSBERGEN Immer sachte, wir wollen erst mal klarstellen, was los ist. Also erzähle, was du weißt, Junge. Red nicht drum rum ... FORSTARBEITER Was weiß ich schon? Die Frau von dem alten Hirten Ertai ist gestern zum Sowchos geritten. Zu Hause haben sie den ganzen Abend auf sie gewartet. Am Morgen ist das Pferd mit leerem Sattel heimgekommen. Na, da ist der Alte losgeritten, wollte sie suchen, und hat sie hier unterm Berg gefunden, sie war schon lange kalt. Er zum Abschnittsbevollmächtigten. Der war gerade zu Hause. Der Hirt hat ihm alles erzählt, dann fiel er in Ohn macht, sie haben ihn ins Krankenhaus geschafft. Der Ab schnittsbevollmächtigte hierher. Hat mich festgehalten und noch einen. Der mußte unten bleiben, aufpassen, daß keiner da was verändert. Der Abschnittsbevollmächtigte ist in die Stadt gesaust, den Untersuchungsrichter anru fen, und mich hat er zu euch geschickt. Wir haben eure Stimmen gehört, ihr habt euch hier gestritten oder rumge flucht ... ANTWAR Ich hab ja gewußt, diese Streitereien bringen nichts ein! MAMBET Halt doch den Mund, hör zu! ISSABEK Und weiter? FORSTARBEITER Na was schon, der Abschnittsbevollmäch
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tigte hat mich zu euch geschickt, Bescheid sagen. Ihr sollt alle hierbleiben, bis die Miliz und die Experten da sind. Keiner darf sich entfernen. Pause. Langes Schweigen. JOSSIF TATAJEWITSCH Aber mit was für einer Begründung? „Wir sitzen hier oben auf dem Fudschijama, und der Mord oder der Unglücksfall ist da unten passiert, am Fuß des Berges. FORSTARBEITER Auf was für einem Jammer ihr hier sitzt, weiß ich nicht, ich richte nur aus, was mir aufgetragen wurde. MAMBET Ist ja auch gut. Aber warum läßt uns der Ab schnittsbevollmächtigte so etwas ausrichten? Es kann doch ein Steinschlag gewesen sein? FORSTARBEITER Sieht nicht so aus. Wir haben uns dort um gesehen — von einem Steinschlag keine Spur. Aber auf der Straße liegen Steine, ein Dutzend wohl. So groß wie eine Faust, wenn nicht noch größer. Und einer davon hat sie genau am Kopf getroffen. MAMBET Könnten Sie von hier aus ungefähr die Stelle zei gen, wo sie liegt? FORSTARBEITER Ich glaube, dort. Alle bleiben angespannt auf ihrem Platz. Mambet und der Forstarbeiter gehen zu der Stelle des steil abfallenden Berg hangs, von wo sie in der Nacht die Steine geworfen ha ben. Hier, genau hier, wenn man von oben guckt. MAMBET halblaut Klarer Fall... JOSSIF TATAJEWITSCH laut Was ist klar? Welches Recht hast du, für andere Leute Schlußfolgerungen zu ziehen? MAMBET Ich ziehe keine Schlußfolgerungen. Ich versuche, für mich zu klären ... FORSTARBEITER Ich sehe, ihr seid hier alles bewußte Men schen, kennt die Gesetze ... Wozu Zeit verschwenden? Ich werde mir mal eure Namen aufschreiben und die Liste dem Abschnittsbevollmächtigten geben, dann kann ich
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nämlich weiterfahren. Ihr wartet hier auf die Miliz, dann wird sich ja alles herausstellen. Pause. Alle schweigen.
zu Jossif Tatajewitsch Sie sind wohl hier der höchste Chef,
also fangen wir bei Ihnen an. Wer sind Sie, wo kommen
Sie her, wie ist Ihr Name?
JOSSIF TATAJEWITSCH Ich habe nicht die Absicht, irgend welche Fragen zu beantworten, und überhaupt weiß ich nichts und will auch nichts wissen. FORSTARBEITER Ich behaupte doch gar nichts, ich frag bloß nach Ihrem Namen. Wer sind Sie? JOSSIF TATAJEWITSCH Ich habe Ihnen geantwortet! Fragen Sie die anderen. FORSTARBEITER Na, wie Sie wollen. ISSABEK Offiziell haben Sie keinerlei Recht, uns zu verhö ren. Wer sind Sie überhaupt, daß Sie hier eine Befragung durchführen? FORSTARBEITER Ich sag Ihnen doch, ich bin Arbeiter im Forstbetrieb. Bin hier vorbeigefahren. Der Abschnittsbe vollmächtigte schickt mich ... DOSBERGEN Schön, genug jetzt. Du kannst wieder runter steigen, Dshigit. Wir sind für uns selbst verantwortlich, und wir werden den entsprechenden Personen sagen, wer wir sind und warum wir hier sind. FORSTARBEITER Von mir aus. Das ist eure Sache, aber ich habe mir hier alle gemerkt. Alle. Ab. DOSBERGEN Wir wollen überlegen, wie wir uns verhalten. MAMBET Was gibt's da zu überlegen? Wir müssen erzäh len, wie es war. JOSSIF TATAJEWITSCH Erzählen? Weshalb bist du denn auf einmal so aktiv? Kapierst du denn nicht, was das bedeutet, was für Folgen das hat, was für Unannehmlichkeiten auf uns warten? Pause. Verflucht sei der Tag und die Stunde, in der ich auf diesen Fudschijama gestiegen bin!
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Davon wird's nicht leichter. Überlegen wir lie ber, wie wir uns verhalten. Wir wollen uns klarwerden, bevor die Miliz da ist. JOSSIF TATAJEWITSCH Ich finde, wir müssen die notwendige Klugheit walten lassen. Wir alle haben Kinder, Familie, Position. Einer von uns muß die Verantwortung überneh men, um die anderen zu retten. ISSABEK Bist du verrückt? Was soll die Anspielung? Und wer keine Kinder hat, was ist mit dem? GULSHAN zornig Wie könnt ihr es wagen! Das ist doch nicht euer Unglück! Was seid ihr für gemeine Menschen! Weint. ALMAGUL umarmt und beruhigt sie Laß doch, Guishan, hör nicht auf die! Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Zu ihrem Mann Was stehst du herum, Dosbergen, so geht's nicht, du bist doch hier der Hausherr! DOSBERGEN Ich ... was soll ich ... Hausherr ... Was kann ich schon tun ... Pause. Ich kann bloß eins tun. Da wird wohl keiner was dagegen haben. Wie wir Steine war fen, waren die Frauen nicht dabei. ANWAR Was bringt das schon ein? DOSBERGEN Ich weiß nicht... GULSHAN Entsetzlich! Entsetzlich! JOSSIF TATAJEWITSCH Folgendes. Mein Fehler war, daß ich hier auf den Fudschijama gekommen bin. Aber ich habe nicht die Absicht, die Sache zu verschlimmern. Ich habe keine Lust, in diese Geschichte verwickelt zu werden und irgendeinem Dorfmilizionär Rede und Antwort zu ste hen. Ohne Abstimmung mit dem Minister beantworte ich keinerlei Fragen. Das einzige, was ich euch versprechen kann: Ich fahre sofort in die Stadt und versuche, alles zu tun, um unsere Lage zu erleichtern. ISSABEK Verdammt, ist das idiotisch. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll: In zwei Stunden muß ich am Flugplatz sein, eine ausländische Delegation ab holen. DOSBERGEN
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Ich habe heute Dienst, vielleicht kommt ein drin gender Fall. Ich muß fahren. GULSHAN schüttelt den Kopf, flüstert Entsetzlich! Entsetz lich! Da unten liegt eine tote Frau. Durch unsere Schuld ist ein Mensch umgekommen. Und ihr wollt nichts wissen. Ihr wollt euch vor der Verantwortung drücken! Ihr habt nicht einmal den Mut, zu bereuen, auf die Knie zu fallen, um Vergebung zu bitten! Sie ist tot, sie ist tot, aber ihr lauft auseinander wie die Ratten vom sinkenden Schiff. O Gott, was sind das für Menschen! Kleinliche, dreckige, feige Seelen! ISSABEK Hör auf, halt den Mund! Jetzt ist nicht die Zeit für hysterische Anfälle! Ich fahre. Bleib hier, wenn du willst. Oder komm sofort! JOSSIF TATAJEWITSCH Nicht so laut, keine Panik. Ich sag's noch einmal: Ich fahre in die Stadt, um Maßnahmen zu ergreifen. Komm, Issabek, die Wagen warten unten. ISSABEK Guishan, ich bitte dich zum letztenmal. GULSHAN Womit habe ich das verdient, womit bloß? Jossif Tatajewitsch, Issabek, Anwar, Guishan steigen rasch den Berg hinunter. DOSBERGEN Das war's! Geht ihnen nach. ALMAGUL Wo willst du hin, Dosbergen? DOSBERGEN Ich habe dringend zu tun. Läuft weg. Pause. ALMAGUL Nun sind wir allein auf dem Fudschijama. Ich habe es gewußt — nicht du hast Sabur verraten. Pause. Was für ein furchtbarer Tag ... MAMBET Ohne solche Tage wäre das Leben wohl unvoll ständig ... In der Ferne erscheint Dosbergen. ALMAGUL Dosbergen kommt zurück. Also ist er auch nicht so. O Gott, wenn's nur wahr wäre ... ANWAR
Vorhang 1973
Über Literatur
Schnee auf dem Manas-Ata (Erinnerungen an die Zeit der „Frühen Kraniche“)
Nach Scheker fahre ich ziemlich oft: zwei-, dreimal im Jahr. Zu verschiedenen Anlässen wie Hochzeiten und Beerdigun gen. Gern würde ich auch meine Söhne, typische Städter, bewegen, engen Kontakt zu unseren Landsleuten aufzuneh men. Ich weiß nicht, ob mir das gelingt. Wie's scheint, än dern sich die Zeiten. Unser Scheker ist ein großer, fest verwurzelter Ail mit reich lich dreihundert Wirtschaften. Wann ich auch hinkomme, entdecke ich hier und da neue Häuser unter neuen Dächern. Es werden immer mehr Familienhöfe. Der Ail wächst. Und er ist unübersehbar, liegt, wie man bei uns sagt, „an des Was sers Kopf“, am Fuß des Talas-Gebirges, des Pik Manas — genau unterm Sattel von dessen doppelköpfigem Gipfel. Diesen hochragenden Berg pflegte der Recke Manas auf sei nem Roß zu erstürmen, um die Gegend ringsum zu betrach ten — ob nicht Feinde im Anzug wären. (Man kann sich un schwer vorstellen, welch riesigen Raum Manas von jener Höhe überschaute. Es sind wahrhaft epische Maßstäbe! So wollte vor alten Zeiten das Volk seinen Sohn und Helden Manas sehen.) Wie dem auch sei, von dort, unterm ewigen Schnee des Manas hervor, kommt der ungestüme und eis kalte Kukureu ins Tal, bringt Wasser und also auch Leben allem auf Erden ... Ich bin immer bewegt, wenn ich mich Scheker nähere und bereits von fern — funkelnd in unzugänglicher himmlischer Höhe — die bläulichweißen Schneefelder des Manas er blicke. Überläßt man sich diesem Bild, schaut lange Zeit nur
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auf diesen Gipfel, auf den Himmel, dann scheint die Zeit stehenzubleiben. Es schwindet das Gefühl für Vergangenes. Nein, denke ich, nichts ist geschehen, nichts hat sich verän dert, auf der Welt ist alles noch so wie vor zehn, zwanzig, ja vielleicht hundert und tausend Jahren. Der Manas steht da wie einst. Nach wie vor ziehen Wolken über ihn hin, diesel ben Wolken. Und ich bin immer noch der Junge von einst, der des Morgens aus dem Haus läuft, diesen Berg überm Ail sieht und sich darüber freut. Doch leider, sich in Träumen verlieren kann man nur für ein, zwei Minuten ... Diesmal war ich bei meiner Fahrt nach Scheker aufgewühl ter als sonst. Das hatte seinen Grund. Die Redaktion des „Ogonjok“ hatte mich um einen Report über das Leben mei ner Landsleute im Krieg gebeten. Zuerst hegte ich Zweifel: Was gibt es da schon groß zu berichten, Hinterland bleibt Hinterland. Krieg — das sind die Front, die Schlachten, dann erst kommt alles übrige. Diese Zweifel begleiteten mich den ganzen Weg. Als ich mich jedoch dem Ail näherte, die ewigen Schneefelder des Manas vor Augen, erinnerte ich mich an vieles. Meine Kindheit, alle Kriegs- und Nachkriegsjahre hatte ich hier verbracht, in dieser Gegend, dem damaligen Ailsowjet Scheker. Ebenjene Zeit und die Menschen jener Tage gin gen mir nun durch den Sinn. Es waren ganz normale Leute — Werktätige, Bauern, Aktivi sten, wie man sie in jedem Kolchos oder Sowchos antrifft. Wenn ich heute an den Krieg denke, sehe ich jeden gewis sermaßen in Großaufnahme, in greller und voller Beleuch tung durch die Kriegsereignisse. An die Kundgebungen der ersten Kriegstage erinnere ich mich. Die gemeinschaftliche Verantwortung für das Schicksal des Landes wurde zur per sönlichen. Unmittelbar von den Kundgebungen verließen Freiwilligenkolonnen das Kreiszentrum in Richtung Front. Wie ich es heute sehe, fand ein jeder, ob groß oder klein, an der Front oder im Hinterland seinen historischen Platz in diesem grandiosen Volkskampf... Ja, den historischen
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Platz. Anders kann man es nicht nennen. Daher sind es keine bloßen Redensarten, wenn wir sagen: vor dem Krieg, nach dem Krieg, im Krieg. Für mich liegt mehr in diesen Worten als die Chronologie der Ereignisse, für mich spricht aus ih nen eine Zeit bitterer Lebenserkenntnis, eine Zeit, in der un sere Gesellschaft Erfahrungen von universellem Rang er warb. Denn der Krieg unterteilte nicht nur als globaler hi storischer Markstein die Menschheitsentwicklung im zwan zigsten Jahrhundert in ihre Vorkriegs- und ihre Nachkriegs periode, sondern wurde auch zum Schicksal eines jeden, der ihn erlebte, zum Kriterium seiner Handlungen und sittli chen Werte. Der Krieg griff buchstäblich in jedermanns Le ben ein, ich kenne keinen, der sich ihm so oder so hätte ent ziehen können. Wer das versuchte, geriet unvermeidlich mit dem Volk in Konflikt, denn wo es um die Existenz des gan zen Volkes ging, durfte es keine Ausnahme geben. Diesem Thema widmete ich denn auch meine erste kleine Novelle, „Äug in Auge“. Einem jeden präsentierte der Krieg auf seinem Lebensweg die größte Rechnung der Epoche. Hier schulde ich schon Auskunft über die eigenen Erfahrun gen. Bei Kriegsausbruch war ich dreizehn Jahre alt. Da also begann für meine Generation die Entdeckung der großen Welt. Jetzt kann ich es selbst kaum fassen, doch schon mit vierzehn Jahren arbeitete ich als Sekretär des Ailsowjets. Mit vierzehn Jahren mußte ich recht komplizierte gesellschaftli che und administrative Fragen entscheiden, die auf verschie denste Weise — noch dazu unter Kriegsbedingungen! — das Leben eines großen Dorfes betrafen. Doch damals war das gar nicht außergewöhnlich. Jungen, die 1941 die siebente Klasse beendet hatten, unterrichteten bereits in unteren Klassen — so Pai'sbek Mombekow (ein Leben lang, dreiund dreißig Jahre, war der Mann dann als Lehrer tätig!) und der heutige Direktor der Mittelschule von Scheker, Sejtaly Bek mambetow. Nach dem Krieg erst konnten sie studieren. Mein Bruder Ilgis, heute Direktor des Instituts für Gesteins
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physik und -mechanik bei der Kirgisischen Akademie der Wissenschaften, ist drei Jahre jünger als ich. Er ging damals zur Schule und arbeitete zugleich als Briefträger. Den gan zen Krieg über. Ich bin stolz auf ihn. Ein prächtiger und ge wissenhafter Briefträger war er in jener bitteren Zeit. Der barfüßige, schmächtige Elfjährige — so einen würde man heutzutage kaum allein in eine nahe Straße gehen lassen — lief nach Soldatenbriefen und Zeitungen, die er dann den Leuten bei der Feldarbeit vorlas, viele Kilometer weit, über einen Fluß ins Nachbardorf, wo die Post war. Fünfzehn Jahre war er alt, als er — von der Vollversammlung des Kol chos „Dshijde“ vorgeschlagen — die Medaille „Für her vorragende Arbeit im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“ erhielt. Er hatsieverdient. Das kannichbestätigen. Doch nicht darum geht es. Im Grunde verdanken wir beide, wie viele Halbwüchsige der Kriegsjahre, unsere besten Ei genschaften älteren Menschen, die uns mit Wort und Tat durch ihr Beispiel erzogen. Ich weiß noch, im Winter 1942 wurde ich einmal vom Boten des Dorfsowjets, Kenesch, aus dem Haus gerufen. „Steig zu mir aufs Pferd, Söhnchen“, sagte er. „Die Obrig keit will es. Sicher geht's um etwas Wichtiges.“ Er nahm den Fuß aus dem Steigbügel, zog mich auf die Kruppe des Pfer des, und wir beide ritten los. Er saß vorn, ich hinten. Er war gleichfalls eine interessante Persönlichkeit in unse rem Ail. Eigentlich hieß er Ibrai'm. Doch weit und breit nannten ihn alle Kenesch. „Kenesch“ heißt „Sowjet“ und steht für „Sowjetmacht“. Er, der Ärmste der Armen, hatte als erster im Ail seine Stimme laut für die Erretterin der Ar men, die Sowjetmacht, erhoben, war unser erster Landarbei terdeputierter in den Jahren nach der Revolution. Ebendas zeichnete diesen lese- und schreibunkundigen Landarbeiter aus: sein Leben lang agitierte er auf allen großen und klei nen Versammlungen für die Sowjetmacht. Und stets versi cherte er dabei, für sich persönlich keinerlei Vorteil zu su chen. „Für mich ein Stück Brot und fürs Pferd ein Bündel
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Heu — mehr brauch ich nicht. Für die Sowjetmacht aber werde ich Tag und Nacht arbeiten, bis ich aus dem Sattel falle.“ Als es darum ging, eine Staatsanleihe zu zeichnen, gab er seine letzte Ziege weg. So arbeitete er bis zum Ende seiner Tage als Bote und freiwilliger Agitator und starb, man kann schon sagen, tatsächlich im Sattel. An den Hängen des Manas gedenken die Menschen seiner bis zum heutigen Tag. Und bis zum heutigen Tag voller Staunen. In den Kriegsjahren war Kenesch bereits alt, doch seine aktive, lei denschaftliche Natur ließ sich nicht unterkriegen — einige Male war ich Zeuge seiner „spontanen“ Agitationsreden auf Versammlungen. Man spürte die Erfahrung des Landarbei terdeputierten, er sprach mit innerer Anteilnahme, seine Worte kamen von Herzen, zündeten ... Dieser Mann also brachte mich in den Dorfsowjet. In dem kalten, ungeheizten Raum mit dem Erdfußboden und den kleinen Fenstern aus Glasbruchstücken saßen drei Männer. Der hochgewachsene Graubart im Pelz, ein älterer Hirt aus Artschagul, dem Nachbar-Ail jenseits des Flusses, war Ka bylbek Turdubajew — Vorsitzender unseres Dorfsowjets, seit der frühere an die Front gegangen war. Die beiden an deren in Soldatenmänteln waren verwundete Frontsoldaten: der Kolchosvorsitzende Alischer Aidarow, erst kürzlich aus dem Krieg heimgekommen, noch mit verbundenem Arm, und der Sekretär des Dorfsowjets, Kaly Nukejew, mit Krük ken, die an der Wand lehnten. (Alle drei Veteranen sind noch am Leben: Kabylbek Turdubajew ist Rentner und ver dienter Kolchosbauer, Alischer Aidarow Agronom beim Ta bakanbau, Kaly Nukejew Vorsitzender des benachbarten Dorfsowjets Kök-Sai.) „Die Schule mußt du einstweilen verlassen“, sagte mir da mals Turdubajew. „Später holst du alles nach. Wenn der Krieg vorbei ist. Denn Kaly wird Brigadier ...“ Er nickte zu Nukejew hin. „Mit seinen Krücken hätte er es natürlich viel leichter als Sekretär. Aber ohne Brigadier geht's nicht im Kolchos. Das verstehst du doch selber. Und sonst kann das
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keiner. Mir aber fehlt es an Schulwissen. Mein Lebtag hatte ich nur mit Vieh zu tun. Ich brauch einen gescheiten Gehil fen. Da haben wir also beschlossen, du machst diese Ar beit ...“ So wurde ich Sekretär des Dorf Sowjets. Artschagul, der Ail jenseits des Flusses, gehörte auch noch zu uns. Zwei große Aile, die unruhige Kriegszeit — der Vorsitzende aber kam von der Schafherde und der Sekretär von der Schulbank. So war die Lage. Das Leben indessen nahm seinen Lauf, stellte uns vor Aufgaben, die keinen Aufschub duldeten. Arbeit gab es zur Genüge. Und mit meinem Wissen war es auch nicht weit her. So verfügte das Kreisexekutivkomitee in einem Pa pier für das Territorium des Dorfsowjets eine „Malleinisie rung“ — das war, wie sich später herausstellte, ein veterinär medizinischer Terminus, und er bedeutete die Spezialbe handlung des Pferdebestandes mit irgendwelchen Präpara ten. Ich aber sagte Turdubajew, uns erwarte eine „Mobilisie rung“ aller Pferde. Er wurde ganz grau im Gesicht. „Und was machen wir hier in den Kolchosen ohne Zugtiere?“ Also begaben wir uns auf schnellstem Weg ins Kreiszentrum, ins Dorf Kirowskoje, vierzig Kilometer weit. Um Mitternacht ritten wir los. Trafen schließlich ein voller Unruhe. Doch dort erklärte man uns alles. Es war einfach ein Mißverständ nis. Wie wir dann aus dem Kreisexekutivkomitee treten und die Pferde besteigen wollen — ich hatte ein großes Tier er wischt, war aber selber klein, trug obendrein Pelzmantel und Pelzmütze und war gegürtet, denn es war Winter —, da bekomme ich doch den Fuß nicht in den Steigbügel; es war einfach nichts zu machen. Wir mußten aber noch schleu nigst zur Bank. Während ich vergeblich versuchte, aufs Pferd zu klettern, hob mich Turdubajew hoch — er war ein kräftiger Mann —, und schon saß ich im Sattel. Auch noch diese Schmach! Was war ich für ein Dorfsowjetsekretär, wenn man mich wie ein kleines Kind in den Sattel setzte! „Ich mach die Arbeit nicht länger!“ erklärte ich ziemlich schroff.
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„Es hat ja keiner gesehn“, beschwichtigte mich Turdubajew. „Und von der Arbeit kommst du nicht los. Du mußt eben noch lernen. Sowie der Krieg aus ist, gehst du wieder in die Schule, Vorwärts!“ Heute, nach vielen Jahren, danke ich dem Schicksal, daß es mich sozusagen von Kind auf mit interessanten, würdigen Menschen zusammengeführt hat. Einer von ihnen war mein Dorfsowjetvorsitzender, der weise Aksakal Turdubajew, ein ehemaliger Hirt. Anderthalb Jahre darauf, als Leute mit Schulbildung aufgetaucht waren, verwundete Offiziere, kehrte er wieder zu seinem ursprünglichen Beruf zurück. Viel später einmal trafen wir uns beim Totenmahl für einen uns nahestehenden Menschen, kamen ins Gespräch und er innerten uns natürlich an die gemeinsame Arbeit im Dorfso wjet. Ich dachte, der alte Mann würde — wie bei solchen Gelegen heiten üblich — darüber scherzen, daß damals, da es nichts anderes gab, eine Schnepfe für eine Ente herhalten mußte. Aber nein,.er unterhielt sich durchaus ernst. „Oft überlege ich noch“, sagte er, „ob wir damals alles so gemacht haben, wie es nötig gewesen wäre.“ Nötig aber war viel in dieser schweren, harten Zeit. Unent wegt wurden Menschen mobilisiert: an die Front, zum Ar beitseinsatz, für Bergwerke, zur Holzbeschaffung und sogar zur Arbeit am Tschu-Kanal, der in jenen Jahren weiterge baut wurde. Wir beschränkten uns nicht darauf, den Leuten ihre Gestellungsbefehle auszuhändigen und alles amtlich zu registrieren. Turdubajew hielt es für seine Pflicht, mit jedem Einberufenen und mit dessen Familie zu reden, da zu über zeugen, dort mit Rat und Tat zu helfen, stets gab er ihnen ein gutes Wort mit auf den Weg, fuhr oft selbst mit ihnen ins Kreiszentrum und ins Militärkommissariat, blieb an ihrer Seite bis zum Abtransport. Einige Male übertrug er diese Aufgabe auch mir, obwohl ich dafür kaum die geeignete Person war. Wie sehr ich mich auch bemühte, gesetzt zu wirken, Junge bleibt Junge.
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Einmal geschah folgendes. Ein Hirt, der zum Arbeitseinsatz einberufen war, erschien nicht zum festgesetzten Termin im Dorfsowjet, um ins Kreiszentrum verabschiedet zu werden. Den Boten schickte er unverrichteterdinge weg. Ich mußte zu ihm hin. Der Mann empfing mich auf der Schwelle seines Hauses, wütend und gereizt. Ehrlich gesagt, er hatte recht. Das ganze Jahr über war er mit einer Schafherde herumge zogen, hatte mit Frau und Kindern nomadisiert. Vier Hirten waren dafür vorgesehen, er hatte mit seiner Frau allein gear beitet. Für seine Arbeitseinheiten hatte er nichts bekommen. Jetzt wurde er einberufen. Von den Bergen war er in sein unbewohntes, verlassenes Haus im Ail heruntergestiegen. Dort aber war alles wie leergefegt, es gab keinerlei Vorräte, weder Heizmaterial noch Kleidung, noch Futter für die Kuh. „Wie kann ich losfahren und sie im Stich lassen!“ sagte er und wies auf die kleinen Kinder und seine kranke Frau, die, mit einem Pelz zugedeckt, in einer Ecke lag. Ich wußte nicht weiter. Doch mir war klar: Gesetz ist Ge setz, man mußte es erfüllen. „Fahren Sie, wir kümmern uns schon“, versicherte ich ihm aufrichtig, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie und womit ich dieser Familie helfen könnte. Der Hirt lächelte traurig. „Du-u willst dich kümmern?'' „Ja, ich, unser Dorfsowjet...“ „Na schön, Junge“, sagte er seufzend. „Geh nur, ich komm schon irgendwie allein klar. Geh. Und hab keine Bange. Ich versorg sie nur ein wenig, dann schickt mich meinetwegen ans Ende der Welt.“ Niedergeschmettert kam ich zurück in den Dorfsowjet. Ich erzählte alles Turdubajew. Sein Gesicht verfinsterte sich. Immerfort preßte er seinen Bart in der Faust. Er hatte so eine Angewohnheit. „Was schlägst du vor?“ fragte er in tonlosem Baß. „Helfen Sie“, sagte ich. „Sie brauchen Heizmaterial, Heu,
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und mit Mehl ist's bei ihnen auch schlecht bestellt. Die Klei nen frieren,-man sieht ihnen an, daß sie hungern.“ „Was nötig ist, weiß ich allein. Du hast ihnen Hilfe verspro chen, im Namen des Dorfsowjets, nun sieh zu, daß du dein Versprechen erfüllst. Sonst werden uns beiden die Leute nicht mehr glauben. Geh zum Kolchosvorsitzenden und setz durch, daß sie dir ein Fahrzeug geben und Heu ranschaffen, Stroh zum Heizen. Setz durch, daß sie ihnen Mehl und Kar toffeln zuteilen. Der Mann muß morgen zum Arbeitseinsatz fahren und wissen, daß hier die Sowjetmacht ist. Mag der eine alt sein und der andre klein — immerhin sind sie die Macht.“ Es war nicht so einfach, dem Kolchosvorsitzenden das Er forderliche abzuringen. Ich hatte ihm gerade noch gefehlt! Er habe im Kolchos genug eigene Sorgen. Für alles sei er verantwortlich: Erfüll den Plan, gib dies und das. Niemand sagte dem Kolchos: Da, nimm! Immer nur: Gib! Um geben zu können, müsse man arbeiten. Aber mit wem? Wer solle arbeiten? Es gäbe niemanden, der auch noch Heu und Stroh für die Wirtschaften ausfahren könnte. Wenn der Mann zum Arbeitseinsatz müsse, dann solle er doch losziehen; schließlich sei er nicht der einzige. Das ganze Land kämpfe. Alle Familien litten Not, lebten ärmlich ... Mußte ich gerade im ungünstigsten Moment beim Vorsit zenden auftauchen? Dem Mann schmerzte auch so das Herz. Doch ich blieb hartnäckig, argumentierte, so gut ich konnte, bettelte. In meiner Verzweiflung war ich bereit, zur Heugabel zu greifen. Wir standen auf dem Pferdehof. Als ich schließlich gesagt bekam: Da sind Pferde, da ist Ge schirr, Stroh findest du auf dem Feld, bei der Tenne, Heu steht dort in Schobern, wir haben keinen, der's wegfahren kann, kümmre dich selber — da stürzte ich mich auch schon in die Arbeit, spannte Pferde an, schmiß ein paar Heugabeln auf den Wagen und fuhr polternd auf die Straße hinaus. Ich mußte mich beeilen. Ein Wintertag ging schnell zur Neige. Auf der Straße hielt ich kurz beim Haus meines Vetters,
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Pa'isbek Mombekow. Er lebte bei Verwandten, der Vater war in der Armee, die Mutter gestorben, PaTsbek selber un terrichtete, wie bereits gesagt, in der Schule, fünfzehn Jahre war er alt. Ich hatte Glück: Pa'isbek war zu Hause. Zu zweit fuhren wir aufs Feld Stroh holen. Wir packten den Wagen übervoll. Unterwegs kippte er uns um. Wir spannten die Pferde aus, richteten den Wagen — wenn auch mit großer Mühe — auf und beluden ihn wieder mit dem Stroh. Gegen Abend, noch bei Tageslicht, rollten wir in den Hof des Hir ten. Hoch auf der Fuhre thronend, sah ich, daß er in seinem Garten bereits viele Bäume gefällt hatte. Keinen verschonte er. Wir luden das Stroh ab, er aber schwang unentwegt die Axt. Schließlich trat er näher, verschwitzt, mit dampfendem Rücken. Wir schwiegen, und da sagte er: „Danke, Jungs. Ich hab gerade Pappeln als Brennholz geschlagen. Ein we nig müssen sie trocknen, dann werden sie damit heizen kön nen, während ich weg bin. Schade, die Bäume waren noch jung. Aber was hilft's. Nach dem Krieg pflanzen wir neue, so Gott will, sollen die dann groß werden.“ Ich reichte ihm ein Papier mit der Anweisung des Vorsitzen den, seiner Familie Mehl und Kartoffeln auszuhändigen. Ich erinnere mich genau — acht Kilo Schrotmehl und zwanzig Kilo Kartoffeln. Heu, versprach ich, würden wir am näch sten Tag morgens bringen. „Verzeih, Bruder, daß ich mich neulich so ereifert habe“, sagte der Hirt betreten. „Mir war himmelangst: die Kinder noch so klein und die Frau in letzter Zeit oft krank. Sie hat sich in den Bergen erkältet. Sonst hätt ich ja kein Wort ver loren ...“ Pa'isbek und ich brachten eine Säge, und wir zersägten an je nem Abend noch lange die gefällten Pappeln zu Klötzen, damit man sie dann in Scheite hacken konnte. Ich kam sehr spät nach Hause, unterwegs von Hunden ver folgt. Und nachts fand ich keinen Schlaf. Ich fürchtete, ich könnte verschlafen. Frühmorgens mußte ich das Sammeln der Einberufenen und ihre Abfahrt ins Kreiszentrum über
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wachen. Doch das war es nicht allein. Verschiedene Gedan ken machten mir den Kopf schwer. Ich dachte an den Krieg. Früher hatte ich ihn mir so vorgestellt: unentwegtes Maschi nengewehrfeuer und Heldentaten über Heldentaten, die Feinde fallen wie niedergemäht, die Unsern sind gegen alles gefeit... Diese naive kindliche Illusion brach grausam zu sammen. Kein Tag verging, ohne daß im Dorfsowjet „schwarze Papiere“ eintrafen, Gefallenenmeldungen von der Front. Den Heldentod starb dieser, dann jener, der dritte, der vierte ... Am schrecklichsten war es, die Familien der Gefallenen zu benachrichtigen. Obwohl alte Aksakale die bittere Kunde mit gebührender Würde überbrachten und der ganze Ail jeden Gefallenen beweinte, war es doch meine Aufgabe, den Betroffenen das „schwarze Papier“ auszuhän digen. Nicht gleich, erst später, nach dem ersten Ausbruch von Verzweiflung und Leid. Und doch war's schrecklich, der amtlichen, von meinem Vorgänger geerbten Feldtasche das handtellergroße Stück bedruckten Papiers mit dem Mili tärstempel und den Unterschriften von Majoren, Hauptleu ten oder anderen Stabsdienstgraden zu entnehmen. Der Text beanspruchte nur wenige Zeilen. Leise lese ich, über setze die Worte ins Kirgisische und verstumme. Mir antwor tet ein tiefer, hoffnungsloser Seufzer, als löse sich schurrend ein Steinschlag vom Berg, ehe er prasselnd talwärts stürzt. Mir fällt schwer, die Augen zu heben, auch wenn mich keine Schuld trifft. Ich übergebe das Papier. „Verwahren Sie es“, sage ich. Jäh wird das unterdrückte, verhaltene Weinen der Mutter von krampfhaftem Schluchzen zerrissen und geht über in langes, unendlich leidvolles Weinen. Soll ihr wirklich dieses Papier den lebendigen Sohn ersetzen?! Ich kann weder aufstehen noch weggehen oder trösten. Welche Worte brächten hier Trost? In solchen Augenblik ken möchte ich am liebsten aus der Tür stürzen, ein Maschi nengewehr packen, ja, ein Maschinengewehr, und mit ihm ohne Atempause dorthin rennen, an die Front, woher dieses Papier kam. Um dort, vor Wut und Zorn rasend, die Faschi
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sten reihenweise niederzuschießen, reihenweise, aus dem unerschöpflichen, nie verstummenden Maschinengewehr. Aber das geschieht nur in Gedanken. Wer gäbe mir schon ein Maschinengewehr, einem Jungen, der obendrein noch klein ist! Ja, wäre ich wenigstens größer! Endlich gehe ich, bedrückt vom Leid mir nahestehender Menschen. Ich gehe, über der Schulter die Feldtasche vom Dorfsowjet. Darin aber sind noch andere Gefallenenmel dungen. Von dieser amtlichen Tasche aus der Vorkriegszeit — solche Taschen trugen gewöhnlich reisende Bevollmächtigte — er zählte ich einmal einem Landsmann, dem bekannten kirgisi schen Schriftsteller Aschim Dshakypbekow, Chefredakteur des Studios „Kirgisfilm“. Die Tasche hatte seinem älteren Bruder Aitaaly gehört. Aschim ging damals in eine untere Schulklasse. Aitaaly indessen war ein umgänglicher Bursche, er mied uns nicht, sondern organisierte Kriegsspiele, führte uns auf Feldzügen an; dann aber schoß er unversehens in die Höhe, wurde erwachsen und arbeitete kurz vor dem Krieg als Sekretär des Dorfsowjets. Später, als ich an der Reihe war, den Sekretärposten zu übernehmen, fragte mich Nuke jew bei der Übergabe der Geschäfte: „Hast du denn eine Ta sche? Worin willst du die Papiere austragen?“ Natürlich be saß ich keine Tasche, in die Schule gingen wir damals mit den Büchern unterm Gürtel. Da kramte er diese Tasche vom Boden des Schranks aus einem Haufen alter Papiere. „Da, nimm. Das ist die Tasche von Aitaaly. Sie lag noch dort, wo er sie hingeworfen hatte, als er zur Armee ging. Nimm und benutz sie. Du wirst doch Papiere nicht in der Hand tra gen ...“ So kam ich zu dieser Tasche. In ihr entdeckte ich allerlei dienstliche Notizen, alte Quittungen, nicht ausgehändigte Benachrichtigungen über die Besteuerung von Wirtschaften und zwischen alledem auch einen Brief in Versen, eine Lie beserklärung. „Aschyktyk kat“ lautete der Titel dieser Bot schaft. Offenbar war Aitaaly nicht mehr dazu gekommen,
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sie dem Mädchen zu überreichen, für das sie bestimmt war. Ich wußte nicht, was ich damit tun sollte. Der Name des Mädchens war nicht angegeben. Nur die Initialen. Mir schien es unangebracht, diesen Brief jemandem zu zeigen, ich zerriß ihn in meiner Naivität und in meinem Unverstand. Später bedauerte ich das sehr. Als die Nachricht von Aitaa lys Tod an der Front in diese Tasche geriet, begriff ich das Unüberlegte meines Tuns. Zu meinen Obliegenheiten gehörte es, an die Familien von Frontsoldaten nach einem Verzeichnis winzige Bündel von primitiven Streichhölzern aus einem Industriekombinat zu verteilen, selbstgefertigte, in kleine Stücke geschnittene Seife, Garn und Petroleum — „ein Medizinfläschchen“ pro Familie. Armut, Entbehrungen, Leiden. Wer dachte nicht: Ob all das jemals endet? Sind der Prüfungen noch nicht genug? Doch nicht darin bestand die schlimmste Prüfung. Das Volk be wies große, unbeschreibliche Tapferkeit, beugte das Haupt nicht vor dem grimmigen Antlitz des Krieges. Mochte das Leben so schwer sein, daß es mitunter schien, die Kraft rei che nicht mehr für noch ein Unglück, für immer neue Bür den, und die menschliche Geduld sei erschöpft — die Men schen gaben nicht auf, unternahmen wieder und wieder, was nur in ihrer Macht stand. Viel ist schon über die Frau der Kriegsjahre gesagt worden. Gebührend und zu Recht hat man sie als Werktätige und Mutter gepriesen. Und dennoch: Wäre ich Bildhauer oder Maler, mein Leben widmete ich ihrer Darstellung, bemüht, meiner Dankbarkeit, meiner Begeisterung, meinem Stolz und meinem Mitgefühl für diese große Gestalt des zwanzig sten Jahrhunderts Ausdruck zu verleihen. Ich erinnere mich, einmal erschien im Dorfsowjet ein Maler von außerhalb, ein älterer Mann. Für Mehl malte er Porträts von Stachanowarbeiterinnen. Assija Dubanajewa, unsere Schöne, beste Gruppenleiterin, fröhlich und umgänglich von Natur, wirkte auf dem Bild völlig verändert. Sie sah sich
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ähnlich und doch wieder nicht. Ich weiß nicht, ob dieses Porträt erhalten geblieben ist. Ein junges, schönes Gesicht mit Augen voller Unruhe und Leid. Wir standen neben dem Maler und sahen ihm bei seiner Arbeit zu. Jemand sagte ihm, die Assija auf dem Bild sei doch gar nicht ähnlich. „Sie ist all denen ähnlich, die auf ihre Männer warten“, ent gegnete der Maler. Leider sah unsere Assija ihren Mann nicht wieder. Ihre Jahre verrannen mit Warten und Arbeit, Arbeit und Warten. Halbwüchsige sind trotz allem große Kinder. Aber neben den Frauen nahmen in jenen Tagen gerade sie die Männer sorgen ums tägliche Brot auf ihre noch unentwickelten, halb kindlichen Schultern. Die zwölf-, dreizehnjährigen Jungen von damals wurden Pflüger und Getreidebauern. Im Jahr 1942 beschloß unser Kolchos in Scheker, zusätzlich über zweihundert Hektar Neuland mit Sommergetreide zu be stellen. „Brot für die Front!“ Damit war alles gesagt. Aus heutiger Sicht ist es überhaupt kein Problem, ein paar hun dert Hektar zu pflügen. Man fährt einen Traktor auf das Stück Land, und die Sache ist erledigt. Damals aber, mit Pferden, bei den wenigen Pflügen im Kolchos, war es eine Heldentat, soviel Ackerland über den Plan hinaus umzubre chen. Ja, eine Heldentat! Ein Vierergespann mit einem Zweischarpflug schafft an einem Tag im Höchstfall einen reichlichen halben Hektar Brache oder Neuland. Da kann man sich's ausrechnen ... Die Pflügerjungen mußten aus diesem außergewöhnlichen Grund die Schule verlassen. Schon im Winter begannen sie nämlich die Pferde vorzubereiten. Ein Zugpferd braucht tägliche unermüdliche Pflege, sonst macht es schon in den ersten Tagen der Saatkampagne schlapp. Die Arbeit mit dem Pflug ist in der Landwirtschaft die allerschwerste. Auf dem Dorf weiß das jeder. Um mit dem Pflügen und der Aussaat zu Rande zu kom men, zogen die Jungen in jenem Jahr bereits in den ersten Frühlingstagen aufs Feld. Der Boden begann gerade erst zu
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atmen. Genaugenommen war der Winter noch nicht vorbei. Ich erinnere mich, als wäre es heute — wir hatten Ende Fe bruar. Gleich in den ersten Tagen ritt ich auf das Neuland in der Kök-Sai-Steppe, um nach meinen Kameraden zu sehen. Als ich frühmorgens aufbrach, war der Tag grau und trüb. Am Ziel aber begann es unversehens heftig zu schneien. Die Flocken wirbelten, hüllten alles in Weiß. Und für allezeit hat sich mir seitdem das Bild der kleinen Pflüger im Schneege stöber eingeprägt. Die Flocken waren groß, fielen dicht und tauten schnell. Sie erfüllten einen riesigen, öden Raum, ver hüllten den Blick auf die ganze weiße Welt. Stille herrschte ringsum, Menschenleere, da war nichts als lautlos fallender Schnee. Doch die Pflüger ließen sich nicht beirren, trieben unermüdlich die Tiere an. Einen schwarzen Ackerstreifen entlang, der einen Hügel überspannte, zogen die Pflüge da hin, als wären es Schiffe, die im Nebel steile Wellenkämme bezwingen. Sie verschwanden hinterm Hang, als sänken sie in Wogentäler. Dann hörte man nur noch die Jungenstim men. Ich ritt zu ihnen hin. Die Pflüge tauchten aus dem Schneegestöber. In die Furche geduckt, hastig atmend, stemmten sich die Vierergespanne voran. Der Schnee taute augenblicklich auf ihren heißen Rücken, wurde zu weißem Dampf. Schwer hatten es die Gäule, die Erde unter ihren Füßen war feucht und glitschig, das Geschirr klitschnaß. Aber auch die Jungen, die sie an trieben, hatten es nicht leichter. Ihre Köpfe bargen sie unter nässeschweren Säcken. Diese Jungen waren ja noch halbe Portionen. Bei solchem Wetter hätten sie besser in einem warmen Winkel sitzen sollen. Doch sie waren Kriegskinder, sie wußten, das war ihr Los und ihre Pflicht. Es schneit und schneit... Durch den weißen Flockenwirbel kriechen die schwarzen Gespanne mit den Pflügen. Keinen Augenblick bleiben die Pflüge stehen ... Ich erkenne die Jungen an den Stimmen: Baitik, Tairybek, Satar, Anatai, Sultanmurat... Meine Klassengefährten. Lange zögere
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ich, mich ihnen zu nähern — sie sollen nicht sehen, daß ich weine. Im Winter widerfuhr uns ein schreckliches Unglück. Nachts klopfte es heftig ans Fenster. Aus dem Sattel gebeugt, schrie jemand: „Aufstehn! Schnell zum Pferdestall! Sie haben uns Pferde gestohlen!“ Im Handumdrehn war ich angezogen und rannte los. Aus allen Häusern stürzten Leute, warfen sich im Laufen schnell was über. Als ich mich dem Pferdestall näherte, hone ich laute, erregte Stimmen. Wie sich herausstellte, hatten um Mitternacht, als der wachhabende Pferdewächter einge schlafen war, Unbekannte die beiden besten Pferde aus ihrer Box am Tor herausgeholt. Der Wärter hatte zunächst ge dacht, sie wären zufällig losgekommen, und begriff erst, als er entdeckte, daß mitsamt den Pferden auch die Sättel ver schwunden waren. Da stürzte er hinaus, doch es war zu spät... Wir mußten die Pferdediebe erwischen. Ohne erst zu sat teln, sprang jeder auf irgendein Pferd, und schon preschten wir in verschiedenen Richtungen davon, ihnen nach. Was hätten wir schon tun können, wenn wir sie wirklich einge holt hätten? Kein Pferdedieb hätte sich vor uns Jungen ge fürchtet! Bis zum Morgengrauen durchsuchten wir Schluch ten, Mulden und verlassene Winterhütten, aber nirgends fanden wir auch nur eine Spur. Es waren erfahrene Diebe. Wir waren fassungslos: Da hatten wir die Pferde für die Frühjahrsaussaat vorbereitet, hatten deswegen die Schule aufgegeben, und dann fanden sich Leute, die alles kalt ließ ... Ich bemühe mich, möglichst zurückhaltend und lakonisch zu schreiben, denn es würde die Grenzen des Genres spren gen, wollte ich in allen Einzelheiten erzählen, was sich in je nen Jahren in unserem Scheker zutrug. Ich will versuchen, die Menschen und die Ereignisse zu gruppieren. Über meine Altersgefährten aus dem Dorf könnte ich noch viel Interes santes und Wissenswertes berichten, denn wir gehörten zu
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jener Generation von Halbwüchsigen, die schon am Tag nach dem Kriegsausbruch die Welt der Kindheit mit dem Strudel des Kriegslebens vertauschte, mit der leidvollen Wirklichkeit des Hinterlands; sie aber forderten von uns die Reife und den Mut von Erwachsenen. Denke ich an meine damaligen Altersgefährten, dann ge lange ich heute zu dem Schluß, daß meine Generation mög licherweise gerade durch die rauhen Verhältnisse so lebens tüchtig und charakterfest geworden ist. Das soll keineswegs heißen, der heutige materielle Wohlstand beeinträchtige die Lebenstüchtigkeit der Jugend. Im Gegenteil. Nur Unver stand verkehrt Gutes in Schlechtes. Jede Zeit stellt an den Menschen ihre Anforderungen, jede hat ihre Probleme, und daher ist das Leben niemals leicht, wenn man es ernst nimmt, etwas wagt und nicht bloß nach einem sorglosen Dasein trachtet. Ein Mensch, der in den Tag hinein lebt, stirbt als Persönlichkeit. Dabei konnten wir damals von solchen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung, wie es sie heute gibt, nicht ein mal träumen. Aber eigentlich geht es gar nicht darum. Ich möchte einfach sagen, daß unter meinen Altersgefährten aus der Kriegszeit nicht einer war, für den ich mich heute schä men müßte. Nicht ein einziger. Sie alle haben längst Fami lien, zumeist auch schon erwachsene Kinder, jeder geht sei ner Arbeit nach, und ich bin sehr froh, sagen zu können, daß ihre Lebenswege von großer menschlicher Würde geprägt sind. Wen ich auch nehme, ich kann mich für jeden verbür gen. Die Brüder Taissarijew — die „Pflüger“ Baitik und Tai rybek — werken bis zum heutigen Tag, ohne die Hände in den Schoß zu legen, sind geachtete Männer im Ail, Kommu nisten. Baitik ist Gruppenleiter, ein in der ganzen Republik angesehener Tabakbauer. Tairybek ist in der Feldwirtschaft ebenso unentbehrlich wie in der Viehzucht. Über Pai'sbek Mombekow sprach ich bereits — dreiunddreißig Jahre ist er Lehrer gewesen, ehe er vor zwei Jahren starb. Toktogul Us subalijew hat es vom Rechnungsführer zum Kolchosvorsit
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zenden gebracht. Heute leitet er den Kolchos im benachbar ten Baka'ir. Abdaly Nuralijew, ehemals Komsomolarbeiter, ist Kolchosaktivist. Toktogul Mambetkulow und Batima Orosmatowa unterrichten nun schon viele Jahre an der Schule die Kinder von Scheker. Nurija Dsholojewa und Orosgul Ussubalijewa arbeiten in fernliegenden Kreisen gleichfalls als Lehrer. Alymsei't Doolbekow ist ein schon langjährig erfahrener Veterinärhelfer. Shaparbek Dossali jew arbeitet in einem Forstwirtschaftsbetrieb. Turgunbai Kasakbajew ist Vorsitzender eines der größten kirgisischen Kolchose. Im Kolchos „Rossija“ gibt es allein sechzigtau send Schafe. Mirsabai Dsholdoschewa ist Hauptbuchhalte rin eines ebenfalls sehr großen Kolchos in unserem Kreis Ki rowskoje. Gapar Medetbekow ist ein bekannter Schauspie ler am Dramatischen Theater von Naryn geworden ... So haben sich unsere Schicksale gefügt. Unter unsäglichen Mühen, aber nicht ziellos. Bei dem großen kasachischen Dichter Abai heißt es, das Le ben gleiche der Bewegung des Meeres: So wie dort eine Wo genkette hinter der anderen herrolle, so folge auf die Welle einer „vorangegangenen Generation“ die nächste, darauf die übernächste und so fort, ohne Ende ... Und das Meer lebt... Wenn ich an die Kriegsjahre zurückdenke, gelange ich zur Überzeugung, daß in unserer ethischen Entwicklung die „vorangegangene Welle“ die entscheidende Rolle gespielt hat — die ältere Generation, die Generation der Frontsolda ten. Darüber könnte man sehr viel erzählen. Natürlich sind die Generationen stets miteinander verbunden. In friedli chen Zeiten vollzieht sich dieser Prozeß auf natürliche Weise mittels der Weitergabe von Erfahrungen und Tradi tionen. Im Krieg wurde das alles jäh unterbrochen. Unser stilles Scheker am Fuße des ewigen Manas, umgeben von Bergen, sah sich plötzlich im Strudel von Ereignissen, die die Welt erschütterten. Unsere Menschen, zum Schutz des Va terlands aufgerufen, strömten an die Fronten, uns erreichten
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die Wogen der Evakuierten. Jenseits der Berge aber, durch die Bahnstation Maimak, die uns mit der Außenwelt ver band, durch die nächstgelegene Stadt Dshambul, fuhren Tag und Nacht Militärzüge in der einen und in der anderen Richtung — nach West und nach Ost. Hier pochte dröhnend der fiebrige Puls des kämpfenden Landes. Einer der ersten, der uns aus eigener Erfahrung vom Krieg erzählte — von der Front, von Panzerangriffen, Bombenex plosionen und Waldbränden, vom Erlebnis der Schlachten, von Lazaretten und Militärchirurgen, von Tod und Tapfer keit —, war unser berühmter Ail-Sänger, der Dichter Myrsa bai Ukujew. Er ist längst dahingegangen. Die Lieder von Myrsabai Ukujew aber kennt und singt man im Umkreis des Manas bis zum heutigen Tag. Myrsabai Ukujew war der erste verwundete Frontsoldat, den unser ganzer Ail voller Freude, aber auch mit Bestür zung empfing, denn er wurde vom Wagen gehoben und be kam Krücken unter die Arme gesteckt: ihm fehlte ein Bein. Dergleichen hatten wir noch nie gesehen. Lahme und Krumme, die ja. Aber daß ein Bein hoch überm Knie einfach weg war, das war zumindest uns Jungen noch bei keinem be gegnet. Es war schrecklich ... Früher einmal war er ein junger, schöner Lehrer gewesen. Er ritt auf einem grauen Paßgänger, und sein Roß hieß „Myrsabais dshorgo“. Myrsabai sang gern und dichtete auch eigene Lieder, während er in die Saiten seiner Tschert mek griff. Und nun war er ohne Bein zurückgekommen; un natürlich bleich von Lazarettaufenthalten und Bahntrans porten, stand er auf Krücken inmitten der Dörfler, lächelte und weinte mit allen. An jenem Abend sang Myrsabai vor einer großen Volks menge Frontlieder, die er im Lazarett verfaßt hatte. Das war für uns ein großes Ereignis, hat sich mir fürs ganze Leben eingeprägt. Wir alle waren ergriffen von Myrsabais Gesang, von seinem poetischen Bericht über den Krieg. Die Men schen lauschten mit angehaltenem Atem, gedachten der
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Ihren, die an die Front gegangen waren, lauschten und wischten sich Tränen ab ... Er sang von sich, von seinen Re gimentskameraden, doch das waren Lieder auch über einen jeden von uns, über das ganze Volk. Stegreifpoesie ist schwer zu übersetzen und nachzuerzäh len. Die Verskunst eines Akyn bezieht ihren Zauber daraus, daß man ihr Entstehen miterlebt — aus der Gleichzeitigkeit von Schöpfung und Vortrag. Dennoch will ich es versuchen. (Söhne verschiedener Völker — Russen, Kasachen, Usbeken und Kirgisen —, kamen wir uns in der Armee näher als Bluts verwandte. Wir haben eine Mutter — unsere Heimat; mit ihrer Milch hat sie uns alle genährt. Wie könnte unser Herz stumm bleiben, ihr Dshigiten, wenn unserer Mutter Unheil widerfährt? Gibt nicht sie uns Auftrieb, wenn wir einen stei len Berg hinauf müssen, schenkt nicht sie uns Hoffnung, wenn wir einen steilen Berg herunter müssen? Schwören wollen wir, wie unsere Helden einst schworen: Fällt uns der Tod, dann werden wir alle auf demselben Feld liegen, errin gen wir den Sieg, dann werden wir alle auf demselben Berg stehen. So sprachen wir zueinander, während wir uns durch Wälder den Stätten näherten, wo wir auf die Faschisten sto ßen sollten. Schon dröhnte unter unseren Füßen die Erde wie bei einem gewaltigen Erdbeben. Schon fielen Bomben, jagten mit ihrem gräßlichen Heulen die Seele aus dem Kör per und ließen schwarzen Staub gen Himmel stieben. Wir warfen uns in die Schlacht bei Leningrad ...) Das sang er seinen Ail-Gefährten. Besonders schön und rüh rend fanden wir jene Stelle in Myrsabais Geschichte, wo der Militärzug auf der Fahrt von Nowosibirsk an die Front of fenbar seine Route änderte und unversehens auf jene Bahn strecke geriet, die durch unsere Station Maimak führt. Im Morgengrauen passierte er, ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, ohne Halt auf dem Bahnhof, die MaimakSchlucht, den Tunnel, vorbei am Talas-Kamm, am Manas. Und offenbar improvisierte damals Myrsabai folgende Verse, die uns besonders erschütterten und seither zum Lied
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unseres Aus geworden sind. Es waren Abschiedsworte an die Berge des Alatau: Meinem Blick entschwindet schon der Alatau, der schneeblaue, wasserspendende Alatau. Meinem Blick entschwindet schon unser Manas, der weißhäuptige, väterliche Berg Manas. Auf Wiedersehn, schneeblauer Alatau, wünsch deinen Söhnen den Sieg über den Feind. Auf Wiedersehn, väterlicher Berg Manas, wünsch deinen Söhnen den Sieg über den Feind. Gespiegelt in meinen Augen, nehm ich euch mit — dich, schneeblauen, wasserspendenden Alatau, dich, weißhäuptigen, väterlichen Berg Manas ... Wie oft haben wir dieses Lied dann als Willkommens- und Abschiedsgruß gesungen! In jenem Winter gaben wir den achtzehnjährigen Burschen das Geleit. Noch gar nicht lange war es doch her, daß wir gemeinsam herumgetollt waren. Mochten sie auch ein wenig älter sein — sie waren einfach unsere Spielkameraden, un sere Gefährten gewesen. Jetzt zogen sie an die Front. Mit ih nen Dshumabai Orunbekow, mein Verwandter und Freund. Blutjung war er noch. Er hatte die Schule besucht, dann im Kolchos gearbeitet. Das war auch schon sein ganzes Leben, das er auf dem Schlachtfeld dahingab. Ich erinnere mich, wie er dieses Lied anstimmte, als die Jungen im Leiterwagen Platz genommen hatten. Gespiegelt in meinen Augen, nehm ich euch mit — dich, schneeblauen, wasserspendenden Alatau, dich, weißhäuptigen, väterlichen Berg Manas ... Und los ging die Fahrt, die Straße lang durch den Ail. Ihre Angehörigen liefen hinterm Wagen her. Nur Myrsabai blieb stehen, auf seine Krücken gestützt, und lauschte dem Ab schiedslied an die Heimat, das noch lange zu ihm herüber scholl.
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Myrsabai Ukujew genoß in unserem Ail wahrhaft große Achtung und Verehrung. Kein Ereignis ging ohne ihn von statten — ob Kolchosversammlung (von seiner Rückkehr bis ans Ende seiner Tage war er Rechnungsführer und ständig Mitglied der Parteileitung}, ob Familienfeierlichkeiten, Willkommens- oder Abschiedsfeste —, in Freud und Leid für den Ail war Ukujew stets gern gesehen, wurde er gebraucht, gehörte er einfach dazu. Mit einem klugen Wort, einem Lied flößte er den Menschen Hoffnung ein, ließ er sie an den Sieg glauben und für ihn kämpfen. In unserem Ail waren groß und klein stolz auf ihn und kann ten seine Frontbiographie. Sie wußten die Namen aller, die mit ihm gedient hatten, wußten, wer sie waren und woher sie gekommen, sie kannten seine Kommandeure, denn von alldem handelte sein gesungenes Poem über den Krieg. Alle wußten auch, wie und unter welchen Umständen er verwun det, von wem er gerettet worden war. Das war in den Wäldern um Leningrad geschehen, wohl im Sommer oder Herbst 41. Bei einem Gefecht explodierte eine Granate in nächster Nähe. Er erinnerte sich noch, wie etwas gegen sein Knie schlug. Als er wieder zur Besinnung kam, dauerte das Gefecht noch an, ringsum dröhnte alles von der Schießerei und den Detonationen. Er blutete stark, war au ßerstande sich zu bewegen und wollte schon Abschied neh men von der Welt — da erreichte ihn kriechend eine Sanitä terin. Das russische Mädchen Tanja. Im Ail nannten alle sie Tanija. Wenn doch unsere Tanija wüßte, wie Myrsabai Ukujews Dorfgenossen sie bewunderten, sie liebten! Schade, heute ist nicht mehr festzustellen, wer diese Tanja war, denn Myrsabai Ukujew lebt nicht mehr. Sie schaffte es, ihn zu verbinden und vom Schlachtfeld zu tragen. Über sie sang uns Myrsabai: Welche Mutter nur gebar ein Mädchen, dessen Güte keine übertrifft auf der Welt... Jene Frau lieb ich mehr als die leibliche Mutter.
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Welcher Vater nur erzog solch ein Mädchen, deren Kühnheit keine übertrifft auf der Welt... Jenen Mann lieb ich mehr als den leiblichen Vater... Diese Zeilen zitiere ich freilich in sehr freier Übersetzung. Stegreifpoesie, die so sehr davon lebt, durch den Vortrag des Verfassers die Zuhörer unmittelbar zu erreichen, soll man vielleicht nicht schriftlich festhalten. Auf dem Papier stirbt sie wie eine zwischen den Seiten eines Buches ver trocknende Blume. Die Nachkriegsjugend von Scheker schuldete Frontsoldaten wie Myrsabai Ukujew in vielem Dank. Er nahm es sich sehr zu Herzen, daß wir die Schule aufgeben mußten. 1944, als der Krieg bereits nach Westen gerollt war, als nach und nach arbeitsverpflichtete Männer und viele verwundete Frontsoldaten heimkehrten, beeilte sich Myrsabai, uns wie der zum Lernen zurückzuschicken. Ein Teil von uns setzte sich zu der Zeit schon wieder auf die Schulbank. Nach dem Krieg fuhr ich zum Studium am Zootechnikum nach Dshambul. Es war, ich muß schon sagen, eine sehr, sehr schwere, eine Hungerzeit. Eines Tages rief man in einer Pause zwischen den Lehrveranstaltungen nach mir: „Dich sucht ein Mann auf Krücken!“ Ich lief auf den Hof — es war Myrsabai-aka. Lächelnd strich er sich über den Schnurrbart. Auch ich freute mich sehr. „Ich hatte in der Stadt zu tun, im Materiallager, da dachte ich mir, ich schau mal nach, wie du mit der Wissenschaft klarkommst.“ Ich erzählte ihm von unserem Leben und Treiben. Er war zufrieden. „Komm mit auf die Straße“, sagte er und humpelte vom Hof. „Ich hab dir was mitgebracht, es liegt im Wagen.“ Wir gingen zum Tor. „Ich weiß doch, daß ihr's nicht leicht habt jetzt“, sagte er, „sehr schwer sogar. Laß dir's trotzdem nicht einfallen, das
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Studium hinzuschmeißen. Dazu haben wir jetzt kein Recht. Der Krieg ist zu Ende. Wenn's gar zu schlimm wird, gib mir Bescheid. Wir lassen uns im Ail was einfallen. Aber lernen mußt du ...“ Ein Altersgefährte und Freund von Myrsabai Ukujew, für uns damals eine ebensolche Respektperson wie er, war der erste Mähdrescherfahrer unseres Aus, der alte Kommunist Toilubai Ussubalijew. Heute ist Toiluke-Aksakal, wie wir ihn nennen, Großvater einer zahlreichen Enkelschar. Sein Sohn, Sati Toilubajew, ist Hirt einer Eliteschafherde im Sowchos Kök-Sai. Satis Kinder wachsen heran wie eine ganze Abteilung. Große Achtung genießt Toilubai Ussubali jew bei seinen Nachkommen. Doch am Vorabend des drei ßigsten Siegesjubiläums möchte ich die jungen Leute zusätz lich daran erinnern, daß Toiluke in den Kriegsjahren einer der wenigen war, die man ihren Bitten zum Trotz nicht an die Front schickte — er war für mehrere Kolchose der ein zige Mähdrescherfahrer. Und wie er auf dem Mähdrescher arbeitete, ist längst Legende geworden. Niemand hielte jetzt so etwas für möglich, eine derartige Mähdrescherruine würde man heutzutage gar nicht erst reparieren, sondern so fort verschrotten, er aber übertrug die eigene Lebenskraft auf diese Ruine und erfüllte seine Pflicht... Es ist sein Mäh drescher, der in meiner Novelle „Dshamila“ eine Rolle spielt. Im Sommer 1944, während der Erntekampagne, war ich sein Gehilfe. Solange der Mähdrescher zu tun hatte, und sei's Tag und Nacht, gönnten wir uns keine Ruhepause. Die Front mußte versorgt werden, das Getreide duldete keinen Aufschub ... Es war der heroischste Sommer meines Le bens. Nie werde ich jene Tage vergessen ... Und wieder ein Lied. Schon grünt das Gras am Wegrand, schon ziehen Herden mit ihrem Nachwuchs über die Berg lehnen, die Hänge. Bestellte Felder huschen vorbei wie Spiegel — hier Wintersaaten, dort Hackfrüchte ... Und wie der Felder, hier Hackfrüchte, dort Wintersaaten ... Hinter mir zurück bleibt Dshambul, der unaufhaltsam wachsende,
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vom modernen Tempo der Urbanisierung erfüllte einstige Karawanenstützpunkt Aulije-Ata. Von hier aus fuhren meine Landsleute in Militärzügen an die Front, hierher, an die Eisenbahn, brachten wir unser Brotgetreide für die Front. Und da, unter den Wolken vor mir, erkenne ich be reits die Schneefelder des Manas ... Der Erste Sekretär des Dshambuler Gebietsparteikomitees, Assan Bekturganowitsch Bekturganow, während der Vertei digung Moskaus Politleiter einer Schikompanie, erzählte mir einmal, das Vermächtnis der Gefallenen an die Soldaten des Regiments laute: das Leben so zu gestalten, daß man der Toten mit Stolz und reinem Gewissen gedenke. Das gleiche könnten wir auch von uns sagen, von dem zahl losen Volksheer im Hinterland während der Kriegsjahre. Daran mußte ich unterwegs denken, die Schneefelder des väterlichen Berges Manas-Ata vor Augen. 1975
Erdkontakt (Aus einem Gespräch mit Viktor Lewtschenko)
Über dreißig Jahre sind seit dem Großen Vaterländischen Krieg vergangen, aber in den Büchern der Schriftsteller von heute toben noch immer Schlachten, will der Geschützdonner nicht verstummen. Ihre letzte Novelle, „Frühe Kraniche“, er zählt gleichfalls vom Krieg. Warum haben Sie sich wieder die sem Thema zugewandt? Wurde Ihre Wahl auch von Gegen wartsproblemen diktiert? Der heutige Leser findet tatsächlich viele schöngeistige, do kumentarische und historische Werke über den Krieg im Angebot, außerdem sieht er fern, geht ins Theater. Der An teil der Kriegsthematik an der zeitgenössischen Kunst ist be trächtlich. Natürlich lebt der Mensch nicht nur von Kfiegs erinnerungen. Aber leider ist es so, daß die Menschheit im mer noch nicht in planetarem Maßstab denkt, daß der ein zelne sich noch nicht in den anderen zu versetzen bereit ist, der doch den Tod genauso fürchtet wie er, genauso leidet, sich sorgt und genauso das Leben liebt; immer noch existie ren in unserer Welt, in der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit Widersprüche und gegensätzliche Kräfte, von denen die Gefahr eines Krieges ausgeht. Also bleibt auch das Kriegsthema eines der lebenswichtigsten, durch seine schreckliche Erfahrung fesselnden, ja, ich möchte sa gen, der „prophylaktischen“ Themen (natürlich nur dann, wenn das Werk vom humanistischen Standpunkt geschrie ben ist). Noch immer droht Krieg. So gesehen, kann man diese kleine Arbeit wirklich in eine
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Reihe stellen mit Werken zum Thema Mensch und Krieg. Dabei sind ganz verschiedene Aspekte denkbar: der Mensch an der Front, im Hinterland, im Hinterland des Feindes, in einer Partisanenabteilung. Neuerdings ist es Mode gewor den, Kundschafter in feindlicher Umgebung darzustellen. Ich aber wollte in meiner Novelle den Menschen nicht in di rekter Konfrontation mit dem Krieg zeigen — darüber haben schon vor mir viele geschrieben —, sondern in indirekter Konfrontation. So wie in „Goldspur der Garben“. Der Krieg hatte in weiter Ferne begonnen, doch in Tolgonais Schicksal brach er auf dem Kornfeld. Und in „Dshamila“? Die Novelle handelt von Liebe, doch wie stark spürt man darin den Krieg: „Dort, wo das Volk in den Krieg zog, blieben bittere Spuren zurück.“ Unübersehbar „tobt“ der Krieg auch in der Novelle „Aug um Auge“. Noch wissen wir nicht, was geschehen wird, aber in den ersten Sät zen lesen wir, daß Pappeln, schlank und rank wie Ladestöcke, ihr Laub verloren, und schon ergreift uns Unruhe. Bei uns gibt es wirklich diese Redewendung: rank wie ein Ladestock — das habe ich mir nicht ausgedacht. Vielleicht ruft sie bestimmte Assoziationen hervor, doch ist dieser Zu sammenhang zufällig, unbeabsichtigt. Nicht das ist wichtig. In „Dshamila“ wie auch in vielen anderen meiner Arbeiten reflektiere ich den Krieg tatsächlich durch seine Auswirkun gen. Ein solches Herangehen scheint mir heute am frucht bringendsten und interessantesten für die gesamte Weltlitera tur, weil es uns erlaubt, die Erfahrungen des menschlichen Lebens nach so vielen Jahren gerade unter diesem (gewisser maßen indirekten^ Aspekt zu verallgemeinern. Die Schlach ten sprechen für sich. Sie werden immer im Vordergrund stehen. Doch es gibt, wie ich bereits sagte, zahlreiche Be trachtungsweisen. Ich will versuchen, die meine zu präzisieren. Ich hatte den möglicherweise unbewußten Wunsch, von einem Halb wüchsigen zu erzählen, der mit dem Krieg konfrontiert wird. Er ist ein Glied der Gesellschaft, also entfällt auch auf
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ihn eine bestimmte Last. Das zum ersten. Zweitens stand vor mir eine viel umfassendere Aufgabe: Ich wollte zeigen, daß der Krieg bei all seinen zerstörerischen Auswirkungen doch nicht den Menschen zerstören kann. Der Krieg verändert die Gewohnheiten, die Lebensweise, die Beziehungen zwi schen den Menschen, er bringt materielle Entbehrungen. Der Krieg kann die Menschen verrohen, kann sie dazu brin gen, nur noch für sich selbst zu kämpfen. Und entsteht so eine Situation, dann steigern sich die Kräfte der Grausam keit. Aber gerade dann entfaltet sich die menschliche Seele — gewissermaßen im Widerstreit mit dem Krieg, als eine Herausforderung an seine zerstörerische Kraft. Sie mobili siert ihre besten Abwehrkräfte, um das Böse zu überwinden. Heute nimmt übrigens die Grausamkeit in der ausländischen Kunst (besonders beim Film und beim Theater) einen bevor zugten Platz ein. Es ist eine der am meisten strapazierten Kategorien. Bemüht, unsere Instinkte zu mißbrauchen, zeigt die „Massenkunst“ häufig physische Grausamkeiten: Mord, Folterungen, Blut... Das erregt, weckt Angst, ist ein erprobtes Mittel, die Psyche der Menschen zu beeinflussen, ein Versuch, aus der Kunst eine Art Hypnotikum, ein Blend werk zu machen. Nicht nur die Boulevardliteratur appelliert an die Instinkte. Große Schriftsteller schildern gleichfalls Grausamkeit, aber keine physische, sondern eine kompliziertere — eine Grau samkeit, die inneren Trieben entspringt, den Gesetzen die ses oder jenes Milieus, der psychischen Veranlagung einer Persönlichkeit. Es werden sogar Theorien verbreitet, die das Böse in der menschlichen Natur als genetisch bedingt recht fertigen. Ich aber meine, die Kunst muß vom normalen menschlichen Leben ausgehen. Ich bin für eine normale Kunst, nicht für eine, die erfüllt ist von Gangstern und Wahnsinnigen. Der Mensch ist doch gerade schön, insoweit er Mensch ist. Das versuche ich zu zeigen. Meinen Sultanmurat hätte ich auch anders vorstellen kön
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nen: Ich hätte farbkräftig schildern können, wie er die Ge rechtigkeit gewaltsam durchsetzt, wie er mit den Pferdedie ben abrechnet oder im Gegenteil selbst der Gewalt unter liegt. Meine Aufgabe lautete anders — ich wollte jene Eigen schaften zeigen, in denen sich die wahre, normale Natur des Menschen offenbart. Das ist viel schwerer. Den Kampf des Guten mit dem Bösen in diesem Leben zu zeigen ist nicht leicht. Aber muß man denn, wenn man gegen die Grausamkeit kämpß, aus seinen Werken auch jegliche Darstellung von Grausamkeit verbannen? Gewiß nicht — abgesehen von physischer Grausamkeit. Im ganz normalen Alltag gibt es viele tausend Erscheinungsfor men von Grausamkeit. Und man braucht Mut und Ver stand, um diese Erscheinungsformen zu erkennen. Ein Mensch kann völlig normal sein, doch tief in seinem Herzen verbirgt sich Grausamkeit. Wie wird er sich in Krisensitua tionen verhalten? Was in ihm wird siegen — Gut oder Böse? Wie ist dieser Mensch — gemein oder edel? Verfliegt sein Edelmut vielleicht, sobald es darauf ankommt? Für mich ist so eine verborgene, potentielle Grausamkeit interessanter als Prügeleien und Morde. Obwohl sie, ich wiederhole es, mein Forschungsgegenstand nicht ist. Ich will im Menschen die Reserven jener menschlichen Kräfte zeigen, die das Böse bekämpfen. Nun zu der Frage, ob meine Themenwahl von Gegenwarts problemen diktiert wird. Natürlich wird sie das. Auch im Frieden stößt die Menschheit auf Grausamkeit, wenn sich diese auch nicht in schrecklichen Schlachten äußert, son dern im friedlichen Alltag. Und je reicher, je satter die Ge sellschaft ist, desto größer werden die Versuchungen der Sättigung, des Wohlstands. Wenn die Menschen diesen Überfluß mit keinem Sinn erfüllen können, werden sie oft böse und grausam. Das spürt man besonders in der westli chen Gesellschaft. Doch leider gibt es auch bei uns genug Fälle von Grausamkeit, von einer Fetischisierung der Dinge.
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Heute sah ich draußen vor der Stadt folgendes Bild: Am Straßenrand standen zwei neue rote Shiguli, und davor po sierten stolz und sogar herausfordernd (wie für ein Erinne rungsfoto) ein paar junge Burschen. Sie waren angeberisch gekleidet, rauchten, bliesen den Rauch in den Himmel und blickten auf die Fußgänger beinah mit demonstrativer Ver achtung. Na gut, dachte ich mir, Hauptsache, sie berau schen sich nicht bloß an ihren Wagen: Ich bin schon soundso viel Kilometer gefahren ... Ich hab in meinem Auto dies und das eingebaut... Hauptsache, sie prahlen nicht mit ihrem Besitz in der Meinung, daß er sie aus der Masse heraushebt. Aber wenn sie keine anderen, wichtige ren Interessen haben, wenn sie nur Anhängsel ihrer Shiguli sind, dann steht es schlimm um sie. Dann tun sie mir leid. Sie aber spreizen sich noch selbstzufrieden: Was sind wir doch für Mordskerle, was haben wir für ein Glück. Sollten sie freilich noch andere Interessen haben, sollte es eine Bezie hung zwischen ihnen geben, die sie innerlich bereichert, soll ten bei ihnen Mund und Augen nicht — wie es bei uns heißt — mit Fett verstopft sein, dann hatte die Szene bei den Autos heute morgen natürlich nichts Schreckliches an sich. Zweifellos gibt es eine komplizierte, vielgestaltige Verbindung zwischen Puritanismus und geistigem Leben. Desto wichtiger ist esßtr den Menschen, daß er von Sattheit auf die Probe ge stellt wird. Natürlich geht es nicht um das Auto, sondern darum, wie man sich zu ihm verhält. Zum Auto muß man sich verhalten wie zu einem Knopf an seinem Mantel. Man muß begreifen, daß ein Auto noch kei nen Lebensinhalt ausmacht. Wofür wir arbeiten, ist ein Wohlstand, der die Herausbildung von Persönlichkeiten einer sozialistischen Gesellschaft begünstigt. Wenn aber der materielle Besitz für den Menschen zum Selbstzweck wird, wenn er den Dingen ausgeliefert ist, dann führt das zu seiner Degradation. Er verliert, was ihn zum Menschen macht. Daher wollte ich in den „Frühen Kranichen“ (natürlich für die Leser, die die Novelle mögen, aber sie gefällt nicht allen,
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da bin ich mir sicher) von jenen seelischen Eigenschaften er
zählen, die immer schön sind, zumal in schrecklichen Zei
ten.
...
Für Sie als Schriftsteller ist sicherlich sehr wichtig, daß Sie Ihre Kindheit in Scheker verbracht haben, einem Ail und nicht einer Stadt, wo das Leben eines Kindes mehr reglementiert, mehr den Forderungen von Erwachsenen untergeordnet wird? Ich schrieb bereits in der „Literaturnaja Gaseta“, daß mein Sohn ein Elsternei nicht von einem Spatzenei unterscheiden kann. Und obwohl das Stadtleben die intellektuelle Entwick lung mehr fördert, sind diese Leute doch irgendwie benach teiligt. Ihnen erschließt sich eine komplexe, aber doch nicht die ganze Welt. Natur, Gräser, Wälder, Berge, Vögel, Tiere — all das bleibt ihnen gerade in einer Zeit fern, da man für Eindrücke beson ders empfänglich ist. So wächst oft ein Mensch heran, den die Natur gleichgültig läßt. Und dann fordert man von ihm, die Natur zu schützen, mit ihr sorgsam umzugehen. Das meine ich nicht (obwohl es zu unserer Zeit nicht einmal solch ein Problem gab — die Natur zu schützen). Ich spreche nicht vom Naturschutz, sondern davon, wie wichtig es ist, jede Naturerscheinung zu erleben und zu begreifen und sich an ihr zu freuen. Allerdings sagte man auch zu unserer Zeit, wenn wir Vögel töteten: „Das ist Sünde.“ Und diese Worte prägten sich uns tief ein. Nicht, weil es Sünde vom Stand punkt der Gläubigen war, sondern weil Vögel zu töten un moralisch ist. So hat jeder seine Welt der Kindheit. Für mich sind das Scheker, die Umgebung von Scheker, die Berge, der Fluß Kukureu, der aber verschwunden ist — sehr zu meinem Leidwesen. Einmal geriet ich darüber in Streit. Ich weiß nicht, wer recht hat. Ich meine, Flüsse müssen in ihrem natürlichen Bett flie
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ßen, mein Opponent behauptet, man dürfe Flüsse genauso kommandieren wie Menschen. Wo ist die Grenze? Es gibt den Terminus: Der Fluß ist „wegreguliert“. Das heißt, er führt kein Wasser mehr (das Wasser wurde aus wirtschaftlichen Erwägungen umgeleitet). Meines Erach tens überschreitet in diesem Fall der Mensch eine von der Natur bestimmte Grenze. Mein Opponent aber sagt, der Mensch dürfe auch auf diese Weise über den Fluß verfügen. Sonderbarerweise'erregt es heutzutage Anstoß, wenn man sagt, der Mensch habe sich immer seiner Umwelt angepaßt und müsse sich ihr immer anpassen; viel schöner klingt natürlich, daß der Mensch sich die Natur unterwirft. Aber mitunter ist das ein Pyrrhussieg. Bekannte von mir, Alpinisten, erzählten einmal, sie hätten in den Bergen des Tienschan Gletscher untersucht, um zu prüfen, wie man sie schmelzen könnte. Man kann das Eis mit einer dunklen Substanz überziehen, die die Sonnenstrahlen absor biert, dann schmilzt das Eis, Wasser fließt in die Täler, die Flüsse füllen sich, und... Noch ist nicht bekannt, wozu all das führen würde, denn wir verändern das Klima, zerstören aas Gleichgewicht in der Natur, bringen in die Natur Willkür... Ja, das ist ein kompliziertes Problem. Mich schreckt ein sol cher Utilitarismus. Dank dem Wasser haben wir Baumwolle, Rüben, Kartoffeln, Weizen, Tabak, doch wir laufen Gefahr, Flüsse, Gräser und andere Reichtümer der Natur zu verlie ren, und das wäre gar nicht gut. Jetzt heißt es überlegen, wie man sie vor Schaden bewahrt. Ein Fluß ist etwas Wunder schönes. Er darf nicht zur Kloake werden. Man muß andere Wege suchen, die Natur auf verschiedene Weise nutzen. Im Rechenschaftsbericht an den XXV. Parteitag der KPdSU sagte Leonid Breshnew: „Man kann — die Geschichte der Menschheit kennt dafür nicht wenige Beispiele — einen un fruchtbaren, leblosen, menschenfeindlichen Raum hinterlas sen.“ Doch man kann und muß, unterstrich er, „die Natur veredeln, der Natur helfen, ihre Lebenskräfte vollständiger zu entfalten“. Nicht um den Preis der Schönheit, sondern
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zum Preis der Klugheit müssen wir die volkswirtschaftlichen Aufgaben lösen. Auch andere Veränderungen erscheinen mir besorgniserre gend. Scheker hat sich verändert, die Lebensbedingungen dort haben sich verbessert. Neue Häuser sind hinzugekom men, alte Häuser wurden renoviert. Die Wohnungen haben jetzt Holzfußböden und warme Öfen. Jetzt gibt es in mei nem Ail Strom, Fernseher, Autos. Im großen und ganzen ist das schön, aber es ging auch nicht ab ohne Verluste. Anteil nahme, Mitgefühl, Solidarität sind unter den Menschen nicht mehr so ausgeprägt. Heute verstehen wir Solidarität meist im politischen Sinn, ich aber spreche von verwandt schaftlicher, von landsmännischer Solidarität. Natürlich freut mich das Neue. Doch irgendwas daran be trübt mich auch. Es ist gut, daß meine Landsleute Bildung erwerben konnten, daß sie die Technik meistern, aber mich betrübt, daß sie erstens gute Volkstraditionen vergessen und daß sie zweitens nicht immer ihre eigenständige, innere Kul tur in Ehren halten. In meinem Leben bin ich lese- und schreibunkundigen Men schen begegnet, die sich jedoch von höchst humanistischen Prinzipien leiten ließen. Und das ist entscheidend. Deshalb stütze ich mich auch in meiner Arbeit auf die Menschen, die ich kannte und an die ich mich erinnere, die sich mir einge prägt haben als Menschen besonderen Schlages und hoher moralischer Prinzipien. Der große kirgisische Ail ist mein schöpferisches Hinter land. Viele meiner Einfalle, Anregungen, Charaktere und Bilder wurzeln im Leben dieser Menschen. Auf diese Weise ist mein einstiges Scheker in die geistige Auseinanderset zung mit zeitgenössischen Problemen einbezogen, und das freut mich, obwohl ich, wie schon gesagt, noch immer mit leiser Wehmut an das zurückdenke, was früher war. Aber mich interessiert auch der gegenwärtige Ail. Sind Sie oft in Scheker? Zwei-, dreimal im Jahr.
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Und liefern Ihnen die Eindrücke von diesen Reisen Material
fiir Ihre Arbeit?
Ich hatte und habe nicht die Absicht, über Scheker selbst zu
schreiben, denn die Kunst muß stets das Material transfor
mieren. Nur so wird Kunst daraus.
Ich meine Material nicht nur im engeren Sinn (für das Werk),
sondern auch im weiteren — für die Schaffung einer histori
schen, einer zeitlichen Perspektive. Als Ausgangspunkt.
Ich denke, jeder Schriftsteller braucht seinen Ausgangs punkt, seinen Erdkontakt. Natürlich müssen alle Erfahrun gen in die Synthese eingehen, in das Gesamtbild. Das Stadt leben, die Reisen und vieles andere. In der Sprache der Fi nanzleute könnte man sagen, Scheker ist mein Grundkapi tal, „vieles andere“ aber sind außerhalb erworbene Mittel. Möglicherweise werden diese Mittel im Laufe der Zeit in meiner Arbeit überwiegen. ...
Eine zusätzliche „Brücke“ ist für Sie gewiß das, was die Kriti
ker gemeinhin Mythen nennen. Verleihen nicht eben sie dem li
terarischen Werk größere Universalität?
Warum die Mythen? Weil ihre Struktur ein universales Weltmodell birgt. Ihnen können Allegorien und Symbole entspringen. Nicht aus Mythen bezieht ein literarisches Werk Universali tät, sondern aus der Kenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkei ten. Was ist denn das Elend der sogenannten lokalen Schriftsteller? Mögen sie das Leben am jeweiligen Ort noch so gut kennen — nicht immer sind sie in der Lage, sich dar über zu erheben. Das Leben bleibt unbeseelt, wird nicht er wärmt von der Leidenschaft des Künstlers. So entsteht der Provinzialismus in der Literatur. Viele sind Feuer und Flamme für Details. Sie versuchen zu zeigen, wie es war und wie es ist. Aber ihre Werke berühren keinen, ergreifen nicht, erheben nicht. Das sind gewöhnliche dokumentarische Skiz zen, keine Kunst.
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Der Schriftsteller braucht eine moderne Denkweise, er muß belesen sein, muß die Geschichte kennen, angrenzende Wis senschaften. Die Literaturwissenschaft beispielsweise ist auch eine Me thode der Lebenserkenntnis. Sie hilft dem Schriftsteller, das Leben zu verstehen, zu durchdenken, die Gesetze des Schö nen zu begreifen. Ich persönlich halte viel von den Arbeiten Bachtins und Palijewskis, sie vermitteln interessante Denk anstöße. Sehen Sie, es gibt Menschen, die kennen viele Märchen, viele Volkslegenden und Mythen, ihr Gedächtnis bewahrt alle Einzelheiten, alle Details der Sitten und Bräuche; doch ein Schriftsteller muß obendrein auf der Höhe seiner Zeit sein — er braucht zeitgenössische Kenntnisse und die ge samte Erfahrung der Weltkultur. Darauf stützt er sich. Ein Schriftsteller, der darüber nicht verfügt, kann lokale Pro bleme nicht auf das erforderliche Niveau heben. Das trifft auch auf junge Schriftsteller zu, die, was ihren Wissensvor rat betrifft, mitunter wie lokale Schriftsteller im Gebiets maßstab daherkommen. Natürlich, Erfahrung gewinnt man im Laufe seines Lebens, wenn sich das „innere Gepäck“, eine „innere Kultur“ herausbildet. Würde ich heute „Dshamila“ oder „Das Kamelauge“ schreiben, ich zeigte alles viel kom plizierter. ...
Was ist das Volksepos für Sie in erster Linie: Bestätigung der ewigen, unerschütterlichen, allgemeinmenschlichen Grundla gen, die ihren Wert bis zum heutigen Tag bewahrt haben, oder ein poetischer Kunstgriff, der es gestattet, von der konkret-ge genständlichen Erzählweise zu symbolischen Bildern überzuge hen? Ich denke ständig über das Epos nach. Das ist eine mehr schichtige, vielseitige Schöpfung der Volksweisheit. Aber ich beziehe das Epos nicht einfach in meine Werke ein, son dern versuche, es in verarbeiteter Form zu nutzen.
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Die Motive dafür können ganz verschieden sein. Manchmal ist es ein Kunstgriff. Das Lied des Jägers in „Abschied von Gülsary“ ist ein Kunst griff, der die Tragik im Leben des Helden vermittelt, einen Zustand tiefer seelischer Erschütterung. Im „Weißen Damp fer“ bestimmt das Epos bereits die Konzeption, die Grund lage der Novelle. Die Verwendung des Epos kann man nicht vorher planen, nicht kanonisieren, jeder Fall verlangt ein besonderes Her angehen, eine eigene Lösung, und entscheidend dafür ist of fensichtlich das Weltempfinden von Helden, deren kulturel ler Bezugspunkt das Epos ist, die den „Manas“ kennen wie ihre Großväter, Großmütter und Eltern und in deren Be wußtsein das Epos so lebendig ist, daß es sich in ihrer Gesin nung, ihrer Erziehung spiegelt. Würde ich einen Roman über das Akademiemitglied Kurtschatow schreiben, dann käme mir die Verwendung eines Volksepos gewiß nicht erst in den Sinn. Mitunter verwende ich in meinen Werken unpersönliche Schichten des Volksbewußtseins. Nicht im Namen des Autors und schon gar nicht im Namen eines Helden. Das ge schieht immer dann, wenn ich Allgemeingültiges sagen muß. Obwohl Sie das Epos substantiell umarbeiten, finden sich bei Ihnen vielfach direkte Entlehnungen aus dem Epos. Also ist auch die Frage erlaubt: Welcher Weg der literarischen Folklo renutzung ist Ihres Erachtens produktiver und aussichtsreicher — die Stilisierung der Erzählweise nach Art der Volkssprache, die Einbeziehung von folkloristischen Helden und märchen haften Attributen in das Gefiige des Werkes oder die Verwen dung von Mythologemen, von mythologischen Strukturen, die esgestattenj unter heutigen Situationen und Konflikten die Ur gründe menschlichen Seins aufzudecken? Das Letztgenannte ist der produktivste Weg. Eine Stilisie rung nach Mythen geht wohl mehr ins Exotische. Das My thologem aber gestattet es, Ereignisse neu zu durchdenken und eine komplizierte, verdeckte, mitunter sogar wider
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sprüchliche Beziehung zwischen ihnen zu finden, die tat sächlich zu den Urgründen des Seins führt. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die „Steppenballa den'' des begabten kasachischen Prosaschriftstellers Abisch Kekilbajew verweisen, worin es dem Autor mit mythologi schen Systemen und Strukturen gelungen ist, wesentliche Probleme von Geschichte und Gegenwart aufzugreifen. Dieses Buch verschmelzt auf einem sehr hohen gedanklichen Niveau Mythen, Legenden und Gegenwart miteinander, mißt die historische Erfahrung an der Erfahrung unserer Tage, und alle diese Komponenten (inbegriffen natürlich das Talent des Prosaikers) machen das Werk nicht nur äu ßerst inhaltsreich, sondern auch künstlerisch bedeutsam. ...
Obwohl wir hier ziemlich ausfiihrlich über die mündlichen Traditionen in Ihrem Schaffen gesprochen haben, über Ihre Entlehnungen aus dem „Manas“, möchte ich etwas anderes be tonen: Die Folklore verbindet sich bei Ihnen so organisch mit dem Leben von heute, daß man schon gar nicht mehr bemerkt, wo das strenge Antlitz der Wirklichkeit ist und wo der symbo lische Spiegel des Mythos, der diese Wirklichkeit abbildet. Wenden wir uns noch einmal dem Märchen von der Gehörnten Hirschmutter zu: Ist es nicht so, daß die Wirklichkeit im Grunde das Märchen wiederholt, das zuvor der Rührige Mo mun dem Jungen erzählt? Doch im Leben wird, wie mir scheint, das symbolische Märchen nicht zum belehrenden Gleichnis, sondern zur Tragödie: Der Alte tut gerade das, wo vor ihn sein eigenes Märchen warnte. Und das Schrecklichste: Weshalb verrät Momun das Andenken seiner Vorfahren, sein Gewissen und Vermächtnis? Seiner unglücklichen Tochter, sei nem Enkel zuliebe! Auf diese Weise erlangt die Tragödie nicht nur allgemeinmenschliche Bedeutung wie beispielsweise die philosophischen Stücke Sartres, sondern zugleich menschlichen Charakter im Sinne der Werke von Puschkin oder Shake speare. Sie packt uns, entflammt unsere Gefühle und konfron
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tiert uns machtvoll mit ihrem Problemgehalt. Eine solche Ver flechtung der Philosophie mit wahrhaft shakespeareschen Lei denschaften weist Sie ebensosehr als Neuerer aus wie als Wei terfuhrer der Traditionen großer Realisten ... Welcher Klassiker steht Ihnen besonders nahe — mit seinem Stil, seiner Grundstimmung, seiner Methode, die innere Welt einer Gestalt zu erschließen? Wen würden Sie Ihren Lehrer nennen? Was Sie nicht alles herbeiholen! — Shakespearesche Tradi tionen, Neuerertum ... aber um ernst zu bleiben, will ich zunächst von Momun sprechen. Ich bin mit Ihnen nicht ein verstanden. Momun hat das Andenken seiner Vorfahren, sein Gewissen und Vermächtnis nicht nur dem Enkel und der Tochter zuliebe verraten. Mir ging es dabei auch um den sozialen Aspekt. Momun stand vor der Wahl: entweder — oder. Schließe ich etwa den sozialen Aspekt aus, wenn ich von einer menschlichen Tragödie spreche? Geht er nicht ein in die Tragö die? Ich wollte die Verflechtung aller Motive vorführen, darun ter die sozialen. Ich wollte die Abhängigkeit Momuns zei gen. Ich wollte sagen, daß der Gesellschaft noch viel zu tun bleibt, um Momun unabhängig, glücklich und frei zu ma chen. Das zum ersten. Zweitens fällt es mir schwer, einen Klassiker herauszustel len. Offenbar ist die Zeit gekommen, da sie zu einer einzi gen großen Erfahrung verschmelzen — Tolstoi, Tschechow, Dostojewski, die westlichen Klassiker. Daher sind die Klas siker für mich wie die Sonne. Sie sendet ihre Strahlen aus (ob Thomas Mann, Shakespeare oder Dostojewski — sie alle sind für mich in dieser einen Sonne vereint); wie mich ihre Strahlen jedoch erreichen, ist nicht so wesentlich. Aber Sie haben doch selbst eine bestimmte Vorstellung von „Traditionen“ und „Neuerertum“, wenn Sie davon sprechen? Mir scheint diese Frage müßig. Von Neuerertum kann man wohl sprechen, wenn ein Werk gut geschrieben ist.
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Mir gefällt Rasputin sehr, ich lese ihn gern, aber ich weiß nicht, ob er ein Neuerer ist. Wahrscheinlich doch.
Und die „ Vorabende“ von Wassili Below? Sie sind doch auch post factum geschrieben, als ein Versuch, die Kollektivierung nach den Gesetzen unserer Zeit zu durchdenken, in Kenntnis der Perspektive... Mit der Zeit werden möglicherweise noch bessere Werke entstehen, als wir heute schreiben. Das Vergangene gleicht doch geklärtem Wasser. Das trübe Gemenge hellt sich auf, einiges fällt als Bodensatz aus, anderes löst sich auf, kurz: alles kommt an seinen Platz. Sprechen wir aber von der Gegenwart, dann müssen wir, so meine ich, vor allem berücksichtigen, welche Beschränkun gen dem Schriftsteller die Wirklichkeit auferlegt. Und nicht nur Beschränkungen. Wir müssen auch sehen, welche Auf gaben sie dem Schriftsteller zuweist. Wenn ich davon spreche, daß sich das Leben weiterentwik kelt, dann habe ich ganz verschiedene Dinge im Auge, bei spielsweise das Friedensprogramm. Das ist nicht nur eine politische Frage. Das ist eine neue Seite in der Geschichte der Menschheit: Wir sehen uns gezwungen, eine ganze Reihe von Problemen neu zu durchdenken — historische, philosophische, soziale, insbesondere unsere Auffassung vom Humanismus. Einerseits wenden wir uns auch heute ge gen eine abstrakte, die sozialen Verhältnisse negierende Auffassung des Humanismus, andererseits haben sich'unsere Vorstellungen vom Humanismus erweitert. Mir scheint, das begreifen heute auch viele unserer ausländi schen Kollegen, insonderheit so große Schriftsteller wie Kurt Vonnegut und Gabriel Garcia Märquez. Nicht nur wir selbst suchen nach Berührungspunkten mit ihnen, auch sie regen uns an dazu. Natürlich heißt das nicht, daß wir unsere Ideologie preisgeben, daß das Zeitalter der Konvergenz an gebrochen ist, nein. Doch ein neuer historischer Abschnitt
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hat begonnen. Der erste Schritt ist getan: Über alle staatli chen, sozialen und nationalen Unterschiede hinweg versu chen wir, ein gemeinsames Verhältnis zu den menschlichen Problemen zu finden. Beispielsweise zu Krieg und Frieden. Denn die Gefahr besteht nicht nur darin, daß ein Staat einen anderen überfallen könnte, sondern daß unsere ganze Zivili sation zugrunde geht. Unsere Lage möchte ich mit einem möglicherweise etwas langatmigen Gleichnis charakterisie ren: Wenn mehrere Menschen ins Meex gestürzt sind und jeder klammert sich nur an seinen Balken, dann sind sie zum Tode verurteilt. Sie müssen sich vereinen und die Balken zu einem Floß verbinden. Dann wird ihre Überlebenschance größer. Machen sie sich aber die Balken gegenseitig streitig, dann verlieren alle die Aussicht auf Rettung. Ich wiederhole: Die Welt ruht heute auf anderen Grundpfeilern, es entstehen neue Prinzipien des kulturellen Austauschs. Daher rühren auch die neuen Aspekte im Schaf fen eines jeden von uns. Vergangenes Jahr war ich in der Türkei. Einen sehr großen Eindruck hat auf mich die türkische Literatur gemacht. Im Orient, wohl auch besonders vor dem Hintergrund der ara bischen und der iranischen Literatur, befindet sich die türki sche Literatur heute in einer Periode des Aufschwungs, in einer Zeit der Blüte. Wie kommt das? ... In der Türkei gibt es zahlreiche Schriftsteller, deren Schaffen deutlich von einer sozialen Tendenz geprägt wird, und diese Tendenz vermittelt den Geist der Intelligenz und der Jugend. Ich war Zeuge, wie sich Menschen dort für den Sozialismus als einen notwendigen Entwicklungsweg aller Völker aus sprachen, weil die Grundlage des Kapitalismus erschöpft sei. Sie sehen im Sozialismus die Zukunft. Zu ihnen gehören die türkischen Schriftsteller Yas.ar Kemal, Aziz Nesin, Bekir Yildis. Wenn türkische Zeitungen den neuen Roman von Yaşar Ke mal in Fortsetzungen abdrucken, vollständig, dann zeugt
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das bereits davon, daß die Literatur zu einem Lebensbedürf nis des Volkes geworden ist. Ich führe diese Erfolge darauf zurück, daß in der Gesellschaft der Kampf entbrennt, daß sie von sozialen Ideen elektrisiert ist. Im Iran gibt es derglei chen nicht, dort herrscht die Monarchie. Auch in den arabi schen Ländern findet man das nicht. Dort nehmen die natio nalen Probleme mehr Raum ein als der soziale Kampf. Unter den großen Dichtern unserer Epoche möchte ich Pa blo Neruda und Näzim Hikmet nennen. Das sind bedeu tende Repräsentanten in der modernen Weltliteratur, ihr Schicksal ist in vielem lehrreich. Geraume Zeit mußte vergehen, aber heute wird Näzim Hik met in der Türkei wieder viel verlegt. Heute steht er für die moderne Nationalliteratur. Es gibt keine Zeitung, keine Zeitschrift, die es sich nicht zur Ehre anrechnete, Artikel über sein Schaffen zu bringen. Seine Dichtung ist unser aller Gemeingut. Auch die türkische Kultur kann ihn nicht über gehen. Das gilt selbst für die reaktionärsten Zeitungen. Ich denke, wir sollten die türkische Literatur noch gründli cher, noch besser kennenlernen, denn sie zeigt die reiche Geschichte und das Leben eines Vierzigmillionenvolkes, ist eine Literatur, die brennende soziale Probleme bloßlegt. ...
Tschingis Torekulowitscb, wenn wir zum Bild der Sonne als Symbol für die kulturellen Erfahrungen der Völker in ihrer Ge samtheit zurückkehren — die Erfahrungen, die Sie beeinflußt haben —, so kann man Ihr Schaffen als Produkt eines Interna tionalismus von Kulturen betrachten, obendrein sind Sie ja auch ein zweisprachiger Schriftsteller. Ich persönlich bin tatsächlich ein Beispiel für die Verschmel zung zweier Kulturen: immer klarer wird mir, daß die russi sche Sprache, die russische Literatur — zusammen mit der Nationalkultur, aus der ich komme — mich entscheidend be einflußt haben. Eine kirgisische Literatur, Dramatik wie auch Prosa, gab es bereits, bevor ich meinen Platz darin ein
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nahm, und vor allem gab es die mündliche Volksdichtung, Mythen und Legenden. Diese beiden Ströme, diese beiden Kulturen — die russische und die kirgisische — haben sich gleichsam zu einem Strom vereint. Bekanntlich findet man in Grenzbereichen stets viele inter essante Erscheinungen. An der Grenze zweier Kulturen sind zweisprachige Schriftsteller herangewachsen, die die beiden Sprachen gleich gut beherrschen. Das zum einen. Zum an deren vollziehen sich Prozesse, die vielleicht weniger inter essant, aber doch recht beachtenswert sind: Nationale . Schriftsteller treten auf den Plan, die in russischer Sprache schreiben — beispielsweise Olshas Sulejmenow. Gewiß, schriebe Olshas Sulejmenow nicht nur in russischer, sondern auch in kasachischer Literatursprache, dann wäre das doppelt interessant. Das soll keine Forderung sein und auch kein Vorwurf. Alles hängt davon ab, wie sich das Le ben eines Menschen gefügt hat. Das sind eher theoretische Überlegungen. Ich wünschte mir, daß ein ebenso eigenstän diger Dichter mit ebensolcher Begabung auch in kasachi scher Sprache schriebe — ein Dichter von ebenso nationaler und internationaler Denkungsart. In der Literatur mehrerer Völker gibt es heute die Erschei nung der Zweisprachigkeit. Das ist eine Entwicklung, die große Einfühlsamkeit verlangt, vollgültige und gleichbe rechtigte Förderung; sie setzt eine perfekte Beherrschung der Sprachen voraus, die im Alltag wie auch im literarischen Schaffen verwendet werden, und kann gute Früchte brin gen, wenn neben der russischen die nationale Sprache sich aktiv entwickelt und angewandt wird. Zweisprachigkeit ist eine neue Form der Nationalkultur. Geht die eigene Sprache verloren, kann von einer Entwick lung der Nationalkultur, von einer selbständigen Kultur nicht mehr die Rede sein. Hier muß man mit Vernunft zu Werke gehen, um die sehr vielfältigen Interessen der Menschen zu berücksichtigen. Zweisprachigkeit muß die Entwicklung von Nationalkultu
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ren fördern, darf sie nicht unterdrücken, denn die Sprache eines jeden Volkes ist ein einmaliger Reichtum, geschaffen vom Genius des Volkes. Sprachen können verschwinden, viele sind bereits verschwunden, doch schwerlich werden neue entstehen. Jene Periode, in der Sprachen entstanden, ist unwiederbringlich dahin. Man muß bewahren, was es noch gibt. Es ist Gemeingut der gesamten Menschheit. Internationalismus bedeutet vor allem gegenseitige Hilfe, Zusammenwirken auf der Grundlage gleicher Ideen. Eine höher entwickelte Kultur übernimmt freiwillig die Ver pflichtung, einer anderen Kultur zu helfen. Ein Beispiel für praktische, eindeutige, exakte Hilfe ist die Entwicklung der kirgisischen Filmkunst. Vor etwa fünfzehn Jahren kamen junge Fachleute aus Moskau und Leningrad zu uns und begannen, gemeinsam mit uns Filme zu machen. Dank unserer gewonnenen Erfahrung und der Ausbildung im Staatlichen Unions-Filminstitut, dank der Hilfe russi scher Filmregisseure haben wir heute unsere eigene Film kunst. Ein anderes Beispiel für wissenschaftliche Hilfe ist die Ent stehungsgeschichte eines alttürkischen Wörterbuchs. Vor einigen Jahren brachten Leningrader Wissenschaftler ein Monumentalwerk heraus — das Wörterbuch der alttürki schen Sprache des VII. bis XI. Jahrhunderts. Dies ist, man kann es ohne Übertreibung sagen, eine Großtat der russi schen Turkologen. Es gab eine Zeit, da lebten in den unendlichen Weiten Sibi riens Turkvölker, die ihre eigene Kultur und ihr Schrifttum besaßen; davon zeugen die Orchon-Jenissej-Inschriften, Chroniken und Bücher. Infolge des Überfalls der Mongolen und Tataren zerstreuten sich all diese Völker über die ganze Welt. Russische Wissenschaftler brauchten exakt hundert Jahre, um die alten Schriftdenkmäler zu sammeln und zu entziffern. Das Wörterbuch umfaßt über zwanzigtausend Wörter und Redewendungen in russischer Übersetzung. Russische Wissenschaftler gaben uns die verlorene Sprache
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unserer Ahnen zurück. Das ist eine zutiefst internationalisti sche Tat, unser wiedergewonnener Reichtum umfaßt Über setzungen buddhistischer Texte, manichäischer und christli cher Bücher, Übersetzungen ins Altuigurische aus chinesi schen und persischen Quellen, viele zaroastrische Texte, das Poem „Kutadgu Bilig“ von Yusuf Hass Hadschib aus Bala sagun, das die turksprachige Dichtkunst begründete, das Wörterbuch von Mahmud al Kaschgari aus dem XI. Jahr hundert. Das ist für mich beispielhafter Internationalismus! Jeder Buchstabe ist entziffert. Wo finden wir noch so ein Beispiel? „Goldspur der Garben“ und „Aug in Auge“ hatten Sie zunächst kirgisisch geschrieben und dann selbst ins Russische übersetzt. Den „Weißen Dampfer“, „Abschied von Gülsary“ und die „Frühen Kraniche“ haben Sie gleich russisch verfaßt. Warum schreiben Sie einmal russisch und dann wieder kirgisisch? Ich habe in zwei Schulen gelernt. Zunächst in einer kirgisi schen, später in einer russischen, wieder in einer kirgisischen und wieder in einer russischen; dann besuchte ich ein Tech nikum, dann das Institut in Moskau — ich habe die Sprachen abwechselnd Studien. Und was ich heute russisch schreibe, kann ich später ins Kir gisische übersetzen ... 1976
Innerer Halt (Aus einem Gespräch mit Larissa Lebedewa)
Tschingis Torekulowitsch, welche Grundzüge, welche Eigen schaften sind nach Ihrer Meinung charakteristisch ßir die zeit genössische Literatur, und sei's im allgemeinsten, umfassend sten Sinn des Wortes? Die Frage ist sehr kompliziert und, wie Sie verstehen wer den, nicht eindeutig zu beantworten. Das künstlerische Wort und überhaupt die literarische Meisterschaft haben in unseren Tagen einen hohen Stand erreicht. Natürlich hat uns die Vergangenheit ein prächtiges Erbe hinterlassen, an gefangen bei der Antike und sogar noch früheren Zeiten, dennoch sind die Kultur des Wortes, das Niveau des künst lerischen Denkens heute hoch wie nie zuvor, und der Ver breitungsgrad, die Zugänglichkeit der Literatur für die Mas sen sind nun viel größer. Das menschliche Denken steht nicht still, es entwickelt sich ständig, und in unseren Tagen verläuft diese Entwicklung in beschleunigtem Tempo. Hauptursache dafür ist der revolu tionäre Charakter unserer Epoche, nicht nur hinsichtlich-so zialer Umgestaltungen, sondern auch hinsichtlich des wis senschaftlich-technischen Fortschritts: In unserem Jahrhun dert, vor unseren Augen geschehen unwahrscheinliche Dinge. Bekanntlich hatten es im Mittelalter die Menschen Europas sehr schwer, miteinander zu verkehren, selbst wenn sie in benachbarten Städten lebten oder gar in benachbarten Sied lungen, ganz zu schweigen von Ländern und Kontinenten. Daher entwickelten sich Sprache, Kultur und künstlerische
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Traditionen innerhalb enger Grenzen. Im Laufe der Zeit än derte sich die Lage. Heute vollzieht sich der Prozeß der Wechselwirkung derart intensiv und stark, daß wir mit sei ner richtigen gedanklichen Verarbeitung gar nicht hinter hefkommen. Die heutigen Informationsmittel, das Nach richtenwesen, die Transportmöglichkeiten erlauben es, ich möchte sogar sagen, zwingen die Menschen der verschiede nen Länder und Kontinente, sich trotz tiefgreifender politi scher Unterschiede, trotz diametral entgegengesetzter staat licher Systeme als Glieder einer einzigen, wenn auch kom plizierten, widersprüchlichen, kontrast- und kollisionsrei chen Gesellschaft zu begreifen - der ERDE DER MEN SCHEN. Das fördert zwangsläufig auch die literarischen Beziehungen. Übersetzt oder im Original können wir nun Bücher von Schriftstellern verschiedener Länder — von un seren Zeitgenossen — lesen. So lesen wir englische oder japanische Schriftsteller und sie gleichzeitig uns, es vollzieht sich ein ständiger Austausch von künstlerischen Werten, und er gestattet es den Schrifstellern, die Erfahrungen des künstlerischen Wortes im Weltmaßstab zu rezipieren, was natürlich sehr wichtig ist und früheren Generationen nicht in dem Maße möglich war. Glauben Sie, daß es einen bestimmten Zeitpunkt gibt, von dem diese Qualität der Wechselwirkung datiert? Ich glaube, daß sie zeitlich dort ansetzt, wo der zweite Welt krieg endete und die Völker begannen, um eine Beendigung explosibler Zusammenstöße zwischen den Staaten, zwi schen den unterschiedlichen politischen Systemen zu kämp fen. Die Menschheit wurde sich bewußt, daß dies ihr ge meinsames Ziel ist. Der ideologische Kampf hört nicht auf, doch er verläuft unter anderen Bedingungen, und zwar un ter solchen, die einen aktiven, intensiven Erfahrungsaus tausch der Literaturen verschiedener Völker ermöglicht ha ben — innerhalb eines einzelnen Landes und unter verschie denen Ländern. Auch in unserem multinationalen Land hat sich die Wechsel
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Wirkung der Literaturen seit ebenjener Zeit verstärkt und neue Züge angenommen, würden Sie dem zustimmen? Für mich ist das natürlich, denn mein Eintritt in die Literatur fiel gerade in die Nachkriegszeit, genauer — in die Mitte der fünfziger Jahre. In den Nachkriegsjahren und in den darauf folgenden Jahrzehnten stieg das Niveau unserer Literatu ren, wurde das Beste sehr schnell Errungenschaft nicht nur irgendeiner Literatur, sondern aller unserer Literaturen. Es ist charakteristisch, daß dieser Prozeß der wechselseitigen Bereicherung unserer Kulturen, die unsere einheitliche so wjetische Kultur bilden, auch in der neuen Verfassung fest gehalten ist. Sie sehen wohl eine direkte Beziehung zwischen diesem Inter esse fiir die Kultur des Wortes, dem Streben nach großer Mei sterschaft und dem Verhältnis der Schriftsteller zum Inhalt der Literatur, zu dem, womit sie sich an den Leser wendet? Unbedingt. Ich kann nicht wie ein Forscher, wie ein Fach mann alles genau definieren und einordnen, doch ich denke, die Spannweite der modernen Literatur, darunter auch der sowjetischen, vergrößert sich ständig, immer neue Sphären des menschlichen Lebens werden von ihr erfaßt. Besonders hat das Interesse für die Psyche des Menschen zugenom men, für sein Innenleben, seinen Alltag, für seine soziale Lage, seine Stellung in der Gesellschaft, für seinen sittlichen Gewinn und seine sittlichen Verluste. Doch brauchen die Li teratur insgesamt und jeder Schriftsteller im einzelnen mei nes Erachtens hier ein feines Gefühl für das rechte Maß. Be stimmte Bereiche der menschlichen Existenz können und dürfen nicht Gegenstand der schönen Literatur sein, und ich zum Beispiel sehe mit Bedenken, ja fast mit Erschrecken, wie einige westliche Schriftsteller in Sphären vordringen, die ästhetischer Verallgemeinerung, künstlerischer Erforschung verschlossen bleiben sollten. Vielleicht geht es hier weniger um das „ Was „als um das „ Wie „? Wahrscheinlich. Die Wortkunst hat reiche Möglichkeiten, doch für mich als Schrifsteller und Mensch existieren Dinge,
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die ich weder lesen noch auf Bildern oder im Theater sehen
möchte. Es gibt intime Probleme und Fakten, die ungeeignet
sind, zur Schau gestellt zu werden ...
...
In Ihren Werken schöpfen Sie häufig aus der Folklore, verar beiten Legenden und Lieder — wie eine Art Kammerton, nach dem der Inhalt, die emotionale Grundhaltung einer Novelle oder Erzählung eingestimmt sind. Aber wie wichtig sind dabei ßir Sie die lexikalische Struktur, der lexikalisch-metaphorische Bau eines Liedes oder Märchens? Haben Sie einmal darüber nachgedacht, ob in unseren Ta gen neue Sprachen entstehen können? Es entstehen keine. Und haben Sie darüber nachgedacht, warum heute kein Volk, nicht ein einziges, Märchen hervorbringt? Daß keine Märchen entstehen, liegt daran, daß unser Leben jetzt ganz anders geworden ist. Märchen werden auch in der Literatur geschaffen. Das sind keine Vö/&märchen. Dasselbe betrifft die Legen den und Mythen aller Völker der Welt. Sie entstanden in einer bestimmten Epoche, auf einer bestimmten Entwick lungsstufe als eine uralte Form menschlichen Denkens. Die Welt von heute nähert sich zeilstrebig dem Zeitalter der Vereinheitlichung. Ein arabischer Schriftsteller von heute denkt und schreibt annähernd so wie ich. Das heißt, der Typ unseres Denkens und unserer Ausdrucksmittel ist ähnlich. Dennoch scheint mir, daß wir das, was aus früheren Epo chen erhalten geblieben ist, in unser literarisches System ein beziehen müssen, sonst geht es verloren. Die alten Mythen und Legenden helfen uns, unsere fernen Vorfahren mit den Augen von heute zu sehen, und das müssen wir — angepaßt an das moderne Weltempfinden — ausnutzen. Das berei chert uns, gestattet uns, Vergangenes zu erkennen ... und sei's nur so, wie man bei Windstille von einem Boot aus die von einem See überfluteten Hausdächer oder die Spitze eines Glockenturmes sieht. Jemand hat mir wirklich von
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solch einem Stausee erzählt, auf dessen Grund ein Dorf oder eine kleine Stadt geblieben sind. Da fährt man in einem Boot darüber hin und denkt, daß dort Menschen längst vergange ner Zeiten leben, daß es dort ein Leben gibt und man nur hinabtauchen müßte, um es mit heutigen Augen zu betrach ten ... Eine solche Vielschichtigkeit ist für mich unverzicht bares Bedürfnis. Legenden, Mythen, Lieder und auch ihre Struktur helfen mir bei der Suche nach einer solchen Viel schichtigkeit und Vieldimensionalität. Vielleicht gelingt mir das nicht, vielleicht nähere ich mich dem nur, vielleicht werde ich das Beabsichtigte in künftigen Werken erreichen — das ist jetzt schwer zu sagen, doch unbedingt halte ich es für notwendig, die Literatur aus jener Eindimensionalität herauszuführen, in der wir schon so lange verharren. Wir sehen nur unsere großartige Wirklichkeit, nur unsere Angelegenheiten, nur unsere Geschichte und unser Leben. Aber solch eine eindimensionale Sicht in der Literatur veral tet, gebraucht wird eine zusätzliche Sicht „von der Seite“ und aus der Tiefe, aus der Vergangenheit. Erst alles das zu sammengenommen verleiht dem künstlerischen Bild Kraft. Ich weiß, dies ist schwer zu erreichen. Vielleicht werden es nicht alle Leser verstehen, und es wird dazu führen, daß manche Schriftsteller einen Teil ihrer Leser verlieren, den noch muß die Literatur ihre Experimentalabteilung haben oder, wenn Sie so wollen, eine vorgeschobene Abteilung. Diese Abteilung wird sich auf eigene Gefahr hin von jener li terarischen Eindimensionalität lösen, aus der wir hervorge gangen sind. Und sie zu behindern wäre falsch. Ich sage das auch deshalb, weil die Zahl meiner eigenen Le ser im Vergleich zu früheren Jahren abnimmt, ich erhalte weniger Briefe, doch die ich bekomme, sind viel gehaltvol ler, sie fesseln mich viel mehr. Früher bekam ich Hunderte von Briefen, die mir nichts gaben. Es waren schöne, wohl wollende Briefe, aber sie enthielten nur Bekenntnisse, nicht mehr. Heute brauchen Schrifsteller und Leser etwas anderes. So will es die Zeit. Letzten Endes ist es immer die Zeit, die
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die Wechselbeziehungen von Schriftsteller und Leser be stimmt. Beispielsweise gab es die Periode der Liquidierung des Analphabetentums — da mußte man allgemeinverständ liche Sachen schreiben. In den Nachkriegsjahren mußte man für ein Volk schreiben, das im Krieg viel durchgemacht und viel verloren hatte, mußte so schreiben, daß alle die innere Verbindung der Literatur zum Volk spürten und einen inne ren Halt finden konnten. Zu allen Zeiten ist die Literatur be rufen, geistige Stütze des Menschen zu sein. Vermag sie das nicht, dann erfüllt sie ihre Mission ungenügend. Unsere heutige Zeit, sollte man meinen, ist gut, ist friedlich, aber auch sie bringt Probleme mit sich, so kompliziert, daß die Schwierigkeiten der Kriegszeit um ein vielfaches über troffen werden, so paradox das auch klingt. Existentielle Probleme tauchen auf, von denen wir nicht einmal etwas ahnten, auf die wir einfach nicht stießen, als wir für die Er haltung des Lebens selbst kämpften. In Verbindung mit die sen neuen Komplikationen muß sich die Literatur neu for mieren, muß sie neue Ressourcen erschließen. Und der Mensch, unser Zeitgenosse, muß sich mit Hilfe der Li teratur bemühen, sich selbst als Persönlichkeit zu begreifen. Letzten Endes läuft alles darauf hinaus. Eine Literatur, die diese Aufgabe nicht erfüllt oder sich eine solche Aufgabe gar nicht erst stellt, ist keine Kunst mehr. Ja, gerade als Persönlichkeit muß der Mensch sich begrei fen, mit aller Kompliziertheit ihrer sozialen Bindungen. Als Persönlichkeit, in deren Leben, in deren geistigem Antlitz, in deren Bestrebungen, in deren spezifischem Intellekt sich unsere Zeit spiegelt. Aber diese Zeit müssen wir im Kontext mit vergangenen und künftigen Epochen sehen. Das ist die komplizierteste Aufgabe der Literatur, doch ihr sich nicht zu stellen hieße, nicht dafür zu sorgen, daß die Literatur eine ihrer wesentlichen ideellen, schöpferischen Eigenschaften erlangt.
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„Aufruhr der Sanftmütigen“ (Vorwort zur russischen Ausgabe von Muchtar Auesows Erzählung)
Stellen wir uns vor: Ein Alter ist zu Pferd unterwegs, ihm entgegen kommt ein unbekannter Jüngling. Der Alte be trachtet das Gesicht des Jünglings, und unsicher noch, ob er seinen Augen trauen soll, während er in ihm schon verblüf fend vertraute Züge entdeckt, ruft er jäh mit bebender Stimme: „Woher kommst du, mein Sohn, dem Auge eines Renn pferds aus vergangenen Zeiten gleich?“ Da erinnert er sich auch schon: an die eigene Jugend, an den längst dahingegangenen Freund, dem der Sohn nun so ähnlich ist, an jenen Weg, jenes Hufgetrappel, jenen pfeifenden Wind in der Mähne, an jene Stimmen, jene Ge sichter ... Heute, da ich die Erzählung „Aufruhr der Sanftmütigen“ wieder lese, war's an mir, so zu rufen, denn jetzt könnte ich dem damaligen Muchtar Auesow, dem jungen Schriftsteller Ende der zwanziger Jahre, wenn nicht der Vater, so dem Al ter nach zumindest ein älterer Bruder sein. Seltsam. Vierzig Jahre nach ihrer Entstehung erst erreicht diese Erzählung den russischen Leser, viele Jahre nach dem Tod ihres Verfassers. Es ist nicht dasselbe, ob ein Werk zu Lebzeiten des Schrift stellers in die Hände der Leser kommt oder erst nach seinem Tod. Obendrein eine frühe Arbeit, eine der allerersten. Und obwohl klar ist, daß niemand in der Literatur schon seine er sten Schritte als ein Großer macht, ist das Risiko hoch: Für den Leser zählt Auesow zu den Klassikern der Weltliteratur,
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verbindet sich sein Name mit der unsterblichen Abai-Epo pöe*. Dennoch hoffe ich, daß Auesows Verehrer nach der Lektüre von „Aufruhr der Sanftmütigen“ der Zeitschrift für die Ver öffentlichung dankbar sein werden. Gibt es denn große Ströme ohne Quellflüsse? Bereits vor seiner Epopöe war Auesow ein bedeutender Meister. Wie der „Aufruhr der Sanftmütigen“ bezeugt, beherrschte er lange davor schon die breite epische Erzählweise. In diesem Sinn ist „Aufruhr der Sanftmütigen“ einer der ersten mächtigen Quellflüsse, die die reiche Flut der Auesowschen Epopöe hervorbrachten. Zugleich aber steht jedes Werk für sich. Diese bittere Erzäh lung, geschrieben von dem jungen Auesow in jenen fernen Tagen, ist ein leuchtendes Beispiel für die revolutionäre Herausbildung eines Schriftstellertalents. Gerade darauf, auf den revolutionären Inhalt der Erzählung, möchte ich die Leser aufmerksam machen. Mir sind in den östlichen Litera turen wenig Werke begegnet, in denen der Haß auf den Za rismus und seinen Unterdrückungsapparat künstlerisch so überzeugend zum Ausdruck kommt wie beim jungen Aue sow, wo die Unmenschlichkeit und der Zynismus der zaristi schen Kolonialpolitik so leidenschaftlich angeprangert, wo so eindringlich am Schicksal einer großen Menschenmasse vor Augen geführt wird, warum das Nomadenvolk das ihm fremde System der zaristischen Administration nicht akzep tieren konnte, wo mit solchem Schmerz und Mitgefühl die Tragödie eines schlichten Volks dargestellt ist, das zu seinem Unglück gewagt hatte, sich aufzulehnen, wofür es mit Blut und der Vertreibung aus seiner Heimat zahlen mußte. Liest man den „Aufruhr der Sanftmütigen“, dann packt einen noch nachträglich das Grausen bei der Vorstellung, was weiter geschehen wäre, wie sich das Schicksal der no madisierenden Kasachen und Kirgisen gefügt hätte ohne die Oktoberrevolution! Ich bringe es kaum über die Lippen — * Deutsch erschien die Dilogie unter den Titeln „Vor Tau und Tag“ und „Über Jahr und Tag“
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möglicherweise gäbe es uns nicht mehr. Aber wünscht sich nicht jedes Volk ewige Existenz? So will ich allein deswe gen, weil die Oktoberrevolution, von Rußland ausgehend, den zaristischen Kolonialismus zerschlagen und meine Völ ker vor der physischen Vernichtung bewahrt hat, die Revo lution bis ans Ende meiner Tage rühmen. Noch meinen Kindern und Kindeskindern hinterlasse ich das Vermächtnis: Der Anbeginn unserer Tage ist der Okto ber! Bei der Lektüre von Auesows Erzählung erinnerte ich mich an die Berichte von Augenzeugen ... Während das ganze Volk über Schneefelder und Gebirgs pässe fortzog, um sich vor den Strafexpeditionen zu retten, behüteten die Mütter vor allem die Kleinkinder. Von Ma schinengewehrgarben getroffen, stürzend, deckten sie sie mit ihren Körpern. Die damals als Kleinkinder überlebten, sind heute weit über fünfzig. Viele von ihnen tragen Namen jenes Jahres des Aufruhrs: Tenti (Vagabund), Katschkyn (Flüchtling), Ürkün (Empörer) ... Wann immer Nomaden ihre angestammten Landstriche ver ließen, wieder und wieder durch Kriege verjagt, retteten sie nicht die Herden, nicht ihre Habe, sondern die Kinder — den Fortbestand ihres Geschlechts und die Hoffnung auf die Zukunft. Damals, in jenem blutigen Jahr 1916, das Auesow be schreibt, stellte sich den alten Kasachen- und Kirgisenstäm men zum wiederholten Mal die Frage — Sein oder Nicht sein, in der Heimat leben oder in der Fremde? Auesows Erzählung gemahnt uns und besonders die junge Generation, wieviel die Begründung der UdSSR bedeutet, deren unbestrittene Überlegenheit heute angesichts der gan zen Welt von der Geschichte bewiesen wurde. Das unermeßliche Leid des Volkes in der Vergangenheit und unsere heutige Wirklichkeit sind unvergleichbar. Aber was beispielhaft war in der Vergangenheit, jene spontane Volksempörung gegen das zaristische Kolonialjoch, als die
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Menschen sich aufrichteten, im Bewußtsein ihres Rechts und im Gefühl ihrer Menschenwürde der Unterdrückung den Kampf ansagten und gewaltige menschliche Potenzen freisetzten, verdient unsere Bewunderung; gemeinsam mit Auesow können wir lobpreisen und beweinen, was im Jahr sechzehn geschah. Am besten hat Auesow wohl dargestellt, wie die spontane Bewegung des Volkes aufkam und reifte, angetrieben von dem ewigen Verlangen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde. Der junge Auesow stellte sich einer gro ßen künstlerischen und historischen Aufgabe, erfüllte sie im Sinne fortschrittlicher, revolutionärer, klassenverwurzelter Positionen seiner Zeit. Daher weckt diese leidvolle, tragische Geschichte, die von einem ungleichen Kampf, dem im voraus verlorenen Kampf jener Menschen erzählt, in uns neben Mitgefühl auch Stolz. Nein, nicht vergeblich war jener Ausbruch des Volkszorns gegen die Selbstherrschaft, so wie schon viele, viele Auf stände, Rebellionen, Meutereien in der Menschheitsge schichte nicht vergebens waren; selbst wenn sie erstickt und niedergeschlagen wurden, haben sie doch eine unauslöschli che Spur im Gedächtnis von Generationen hinterlassen als Symbol tragischer Schönheit, Opferbereitschaft und Furcht losigkeit im Namen der Freiheit. All das wird zu einem so zialen und historischen Lehrbeispiel für die menschliche Ge sellschaft. Auesows „Aufruhr der Sanftmütigen“ ist eine neuerliche Be stätigung dafür, daß das zaristische Rußland ein Völkerge fängnis war, daß die soziale Revolution in den Grenzen des gesamten Russischen Imperiums auf der Tagesordnung stand, ein neuerliches Zeugnis zugunsten unserer Wirklich keit, zugunsten des sozialistischen Internationalismus als einzig richtigem Entwicklungsweg für die Beziehungen zwi schen den Völkern. Vielfältige Gedanken weckt Auesows Erzählung in den
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Köpfen der Leser. Vieles bliebe noch zu sagen über die künstlerischen Besonderheiten dieser Arbeit, die voller Hin gabe geschrieben ist, mit tiefer Kenntnis des Lebens in jener Periode. Wie bemerkenswert ist zum Beispiel der saftvolle, wahrhaft rabelaissche Stil Auesows bei der Beschreibung der Natur, des Alltags, des Jahrmarkts im Karakatal, der Men schen ... Mit welch tödlicher Verachtung sind die kasachischen Dol metsche beim Pristaw Siwy Sagriwok (Grauer Rist) und die Zarendiener, die Beis, beschrieben — diese Volksverräter, elenden Schurken. Ihrem Volk abtrünnig geworden, sogar von solchen Typen wie Siwy Sagriwok nur mit Widerwillen geduldet, verdien ten sie, was bereits Dante derlei Leuten verhieß: Der Himmel Schönheit hätten sie getrübt, auch nimmt die tiefre Hölle sie nicht auf, weil etwas Ruhm sie den Verbannten brächte ...* Ja, schmerzlich und erfreulich ist es, einer bislang unbekann ten Arbeit eines Lieblingsschriftstellers zu begegnen. Erfreu lich als Überraschung, da es dem Schicksal gefallen hat, den Lesern nach so vielen Jahren ein weiteres Frühwerk des gro ßen Schriftstellers vorzulegen, und schmerzlich, weil der Autor bereits nicht mehr unter uns weilt. So schreibe ich denn mein Geleitwort zum „Aufruhr der Sanftmütigen“ von Muchtar Auesow mit zwiespältigen Gefühlen: Mir ist, als schickte ich ein Roß reiterlos auf einen weiten Weg. Da habe ich nun die Zügel hochgebun den, die Steigbügel an den Sattelbogen gehoben und befe stigt, damit sie beim Lauf nicht stören, und sage zum Roß: „Sei gegrüßt und gehab dich wohl, du Auge eines Renn pferds aus vergangenen Zeiten! Auf daß immer die Wahr heit bleibe!“ Und während ich ihm nachblicke, zusehe, wie es sich ent fernt, denke ich: Jeder gute Mensch, der erkennt, daß du * Deutsch von Karl Witte
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ohne Reiter dahinsprengst, wird dir Glück wünschen. Wem es aber einfallen sollte, dich am Zaun zu packen, weil es ihn nach deinem festen Geschirr gelüstet — dem winkt gewiß kein Dank. 1972
Rechtfertigung für
Jahrhunderte unseres Lebens
(Gedanken zum Roman
„Die Schätze des Ulugh-Beg“ von Adyl Jakubow)
Abai sagt in einem Gedicht, eine Generation folge auf die andere wie Welle auf Welle und „dadurch lebe das Meer“. In der Literatur ist das besonders augenfällig — gleich einer Welle bringt jede Generation sich selbst, ihre künstlerische Erfahrung, ihre Lebenserfahrung ins „Meer“ ein. Gegen wärtig beginnt eine sehr interessante Periode. In ihr fünftes Jahrzehnt schon treten Leute ohne eigenes Fronterlebnis, denen sich aber fürs ganze Leben eingeprägt hat, daß nur noch Tage fehlten und sie wären gleichfalls an die Front ge kommen, die Waffe in der Hand. Ihre älteren Brüder, oftmals nur ein, zwei Jahre älter als sie, formten in der Nachkriegsliteratur die unverwechselbare Generation der Bondarew und Bykau. Doch neben der dominierenden Kriegsprosa erschienen als bald Werke über das Leben des Volkes im Hinterland, spä ter auch — gegenwartsbezogen und unter historischem Aspekt — das Epos unserer Tage, das den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse als Hauptinhalt der Bewegung, des Seins erhellt. In diesem breiten Strom der Neubelebung unserer Literatur machte sich unter den usbekischen Nachkriegsschriftstellern Adyl Jakubow einen Namen. Mit der Zeit wurde er ein be deutender Prosaiker. Erst unlängst, nach der Lektüre seines Romans „Die Schätze des Ulugh-Beg“, sandte ich ihm einen Brief. Anläßlich des fünfzigsten Geburtstags von Adyl Jaku bow möchte ich diesen Brief, der unter dem Eindruck seines Werkes entstand, zitieren:
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„Heute kann ich Dir leichten Herzens und voller Zu stimmung einen Antwortbrief schreiben, der längst fällig ist. Den ,Ulugh-Beg' habe ich gelesen, zwar mit großer Verspä tung, aber mit höchstem Interesse. Es bereitet Freude, über ein gutes Buch zu reden. Das ist an spruchsvolle und edle Prosa; die künstlerisch kraftvolle Ge staltung der Geschichte hat mich bewegt. Obendrein emp fand ich diesmal Nationalstolz als Angehöriger eines Turk volkes. Ulugh-Beg ist die Rechtfertigung für Jahrhunderte unseres Lebens und für unseren Platz auf Erden, er versinn bildlicht unseren Schmerz und unseren schwer errungenen Anspruch, mit dem Maß großer menschlicher Erfahrung über die Welt zu urteilen und von ihr beurteilt zu werden. Mit Erfahrung meine ich beileibe nicht die wissenschaftli chen Entdeckungen Ulugh-Begs, mögen sie auch noch so bedeutend sein — schließlich gab es nicht wenig hervorra gende Gelehrte auf Erden. Was ich meine, ist die, so lange die Menschheit existiert, ewige Tragödie eines großen Intel lekts, der mit der Rückständigkeit seiner Zeit in Konflikt ge rät. Hier fand die Tragödie ihren erschütternden Ausdruck im Schicksal und in der Person Ulugh-Begs. Ulugh-Beg ist für mich nicht groß als hervorragender Ge lehrter des Mittelalters, sondern weil gerade ihm bestimmt war, die komplizierteste und erhabenste Tragödie in der Ge schichte unserer turksprachigen Vorfahren zu erleben. Jede Epoche hat ihre Ulugh-Begs, sogar die aufgeklärten Zeiten. Nicht die Tschinggis-Chane und die Tamerlane, die von Sieg zu Sieg eilten, sondern ein Ulugh-Beg mit seiner Erfah rung erhebt das Menschengeschlecht in dessen eigenen Augen. Die Unsterblichkeit menschlichen Geistes erweist sich am Schicksal einer großen Persönlichkeit. Eine solche Persön lichkeit hält ihr Antlitz stets dem Licht zugewandt, ist immer aufrichtig und unversöhnlich gegenüber der Trägheit und dem Dogmatismus des Denkens.
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Das finde ich in Deinem Buch, so fasse ich es auf. Und das
ist für mich entscheidend. Auf Wiedersehen.
Ich denke, die russische Übersetzung des ,Ulugh-Beg' ist zu
verlässig.“
1976
Wir verändern die Welt, die Welt verändert uns (Aus einem Gespräch mit Wladimir Korkin)
Eines der wichtigsten sittlich-philosophischen Probleme birgt das Verhältnis des Menschen zur Welt. Was meinen Sie, Tschingis Torekulowitsch: Dringt die heutige Literatur tief ge ntig in diese Problematik ein? Die echte, wirklich realistische Literatur — sei's die „Dorf prosa“ von Astafjew, Below, Nossow, Rasputin, die „Kriegsprosa“ von Bondarew, Bykau, Bogomolow, die „in tellektuelle“ Prosa von Katajew oder Trifonow — zweifel los ... Die Helden dieser Prosa sind Menschen, die leiden schaftlich um sittliche Probleme ringen, die erfüllt sind von innerer Schönheit, sich durch Würde und Mannhaftigkeit auszeichnen, an das Morgen denken. Und solche Menschen der Zukunft braucht ein Schriftsteller heute nicht zu erfin den — sie kommen aus dem Leben. Nehmen wir nur Gagarin — er wurde zur Legende, zur Ver körperung der phantastischsten Sehnsüchte der Erdenbe wohner, und seine persönlichen Eigenschaften wurden zu einem strengen Maßstab für die menschliche Persönlichkeit im zwanzigsten Jahrhundert überhaupt. Gewollt oder unge wollt — der heutige Schriftsteller kann nicht umhin, die gei stige Welt seines Helden ins Verhältnis zu setzen zu den mit Herz und Verstand gewonnenen Erfahrungen der Mensch heit auf ihrem unwahrscheinlich schweren Weg zu den Ster nen. Zu sich selbst. Ist dies nicht einer der Gründe, warum der Held der zeitgenös sischen Literatur sich gleichermaßen an die Erde wenden kann, an die Sterne und an die „Schatten vergessener Ahnen“? Und
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das wird nicht ah Anleihe beim romantischen Stil aufgefaßt. Meines Erachtens ist das eine neue Qualität des modernen Rea lismus. Oder im Gegenteil eine alte Qualität, die wir zeitweilig in unserem Streben, pedantisch-seriöse, ehern reale Realisten zu sein, vergessen hatten. Jetzt aber entsinnen wir uns ihrer wieder, spüren wir das Bedürfnis, zu ihr zurückzukehren. Apropos „Schatten vergessener Ahnen“... Ich gestehe, als ich versuchte, die Natur Ihres Schaffens zu erfassen, wandte ich mich der Poesie zu, den rätselhaften Zeilen Pasternaks: „Oh, macht nicht dies vielleicht den ganzen Shakespeare aus, daß Hamlet ungezwungen mit dem Schatten plaudert?“ Zunächst irritierte mich das, wie mir schien, ironische „ungezwun gen“... Aber gerade in diesem „ungezwungen“, das heißt — so verstehe ich den Dichter — in jener Unbefangenheit, jener inneren Freiheit und Natürlichkeit, mit der sich Hamlet an den Schatten wendet (ohne auch nur einen Augenblick zu zweifeln, ob er ein Recht dazu hat), äußert sich ja die uner hörte Kraft der Kunst, das Shakespearesche Genie. Ein Dichter kann jede, sogar eine höchst unwahrscheinliche Si tuation wählen. Hauptsache, wir Leser glauben ihm. Ich denke — und die großen epischen Werke bestätigen es —, daß wahrhaft bedeutsame künstlerische Leistungen niemand vollbringen kann, der nicht zu den Gipfeln menschlichen Geistes strebt. Gerade das — den Höhenflug des menschli chen Geistes zu erkennen und zu verdeutlichen — ist ent scheidend. Mir scheint, der moderne Realismus hat dem Seelischen einen höheren Rang zugewiesen — es ist eine un abdingbare Voraussetzung für die künstlerische Erkenntnis der Wirklichkeit, unserer Zeit... Leonid Leonow war es wohl, der Gagarins Flug mit dem Ausspruch begrüßt hat, die Menschheit sei in den Kosmos geflogen, um sich selbst von der Seite zu betrachten. Wozu das den modernen Realismus verpflichtet, ist klar
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Wir sprachen bereits über die Größe einfacher Menschen. Viel leicht ist alles noch einfacher: einfache Menschen gibt es heute einfach nicht? Je nachdem, was man unter Einfachheit versteht... Für mich ist eines unbestreitbar: Was die „Vollkommenheit“ des modernen Realismus betrifft, so kann man heute schon die sozial-philosophische Konzeption vom Menschen, vom Menschen als Persönlichkeit, nicht auf eine arithmetische Wahrnehmung der Wirklichkeit gründen. Die „höhere Ma thematik“ des Realismus liegt gerade in der echten Poesie, die die Helden der zeitgenössischen Literatur verkörpern und tragen, indem sie mit dem Herzen „denken“. Mehr noch: Diese poesievollen Herzensgedanken der Helden un serer Zeit kann man nicht zum Ausdruck bringen, ohne sich auf Vergangenes zu stützen. Ist es nicht verblüffend, daß ein Korn, das Jahrtausende in einer ägyptischen Pyramide lag, eine Ähre hervorbringt? Das Dichterwort ist nicht minder lebenskräftig ... Auch da ist es mitunter nützlich, im „Korn kasten“ nachzusehen. Bekanntlich erweist sich ein „uraltes“ Wort nicht selten als höchst „zeitgemäß“. Wenn ich recht verstehe, geht es hier nicht nur um das „Problem des Wortschatzes“, sondern auch um das „Problem des Gedächt nisses“? Wenn ich vom „uralten Wort“ spreche, meine ich nicht das Wort im eng philologischen, sondern im weitesten, allum fassenden Sinn. Das Wort speichert in sich die Geschicke der Welt. Über ein Wort zu sprechen heißt also, darüber zu sprechen, was das Gedächtnis der Menschheit, das Gedächt nis der Kunst bewahrt. In diesem Fall bedeutet „ Gedächtnis „ also auch „ Gewissen „? Zweifellos. „Leb und vergiß nicht“ — da haben wir, scheint mir, eine der sittlich-philosophischen Ideen realistischer Kunst vor uns, exakt und streng formuliert im Titel des be kannten Romans von Valentin Rasputin. Das Gedächtnis ist der Prüfstein der menschlichen Persönlichkeit, ihres Seelen lebens. „Gedächtnis“ — das ist nicht etwas so Einfaches, wie
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es auf den ersten Blick scheinen mag; es verlangt den Mut, sich seinem Gewissen zu stellen, dessen Stimme nicht zu un terdrücken, sich seinen hartnäckigen und oft erbarmungslo sen Fragen nicht zu entziehen zu suchen ... Ein solcher sittlicher Maximalismus ihrer Helden zeichnet die besten Werke der heutigen Schriftsteller aus, durch dringt, so meine ich, zum Beispiel Bondarews Roman „Das Ufer“. Wenn aber nun ein Held nichts zu bereuen bat, weder sich rechtfertigen noch mit einem mißlungenen Leben rechten muß, was bedeutet ihm das „Gedächtnis“? Ich will die Frage mit einer Gegenfrage beantworten: Hat jeder heute die Möglichkeit, in den Kosmos zu fliegen? Na türlich nicht... Also bleiben die Geheimnisse des Weltalls, die sich dem Kosmonauten offenbaren, für die meisten Menschen unzugänglich? Sie müßten es bleiben ... Wäre nicht das Gedächtnis. Der Kosmonaut bewahrt, was er sah, in seiner Erinnerung. Und er gibt es gewissermaßen an uns alle weiter. So beflügelt das Gedächtnis die Menschheit auch noch im wahrsten Sinn des Wortes: Ihm danken wir unsere Verbindungen zur Welt, es hilft uns, die Alltäglichkeit zu überwinden und uns emporzuschwingen zu den Höhen des Geistes ... Ein Mensch ohne Gedächtnis, ohne Geschichte, ohne gei stige Biographie, die ihren Niederschlag gefunden hat in Bil dern der großen Kunst — in den alten Mythen, den Legen den, der Klassik —, ist zu geistiger Armut verurteilt, ist nicht darauf vorbereitet, das höchst komplizierte Leben unserer Zeit zu erfassen. Der heutige Realismus ist gerade von dem Bestreben beseelt, dem Menschen die Geschichte, ein in sich geschlossenes Weltempfinden „wiederzugeben“, ihm unübersehbare gei stige Horizonte zu eröffnen. Letzten Endes geht es darum, ob Verstand, Kultur, Kunst angesichts des unversöhnlichen Gegensatzes polarer Kräfte, angesichts der scharfen Konfrontation der Ideologien den
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Geist des Humanismus bewahren und weiterentwickeln können — nur dann wird sich der Mensch als denkendes Wesen behaupten. Dieser Weg ist der einzige, einen anderen gibt es nicht. 1978
Mensch und Welt in
der Prosa der siebziger Jahre
(Gespräch mit Heinz Plavius)
Zu Beginn unseres Gesprächs darf ich Ihnen die Grüße und die Verehrung vieler Leser aus der DDR übermitteln. Um dasfitr Sie auch optisch zum Ausdruck zu bringen, habe ich etwa ein Dutzend Fragen mitgebracht. Viele Ihrer Freunde, so auch die Redaktion der „Weimarer Beiträge“, teilen meinen Wunsch, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Die Bitte um dieses Ge spräch (dessen Zustandekommen an dieser Stelle auch A. Ka zewa zu danken ist) möge Ihnen die Gewißheit vermitteln, daß die kulturelle, literarische Gemeinsamkeit zwischen unseren Ländern inzwischen so groß ist, daß Ihre Probleme auch unsere Probleme sind. Das betrifft zum Beispiel die heutige Situation der Prosa, die Faktoren, die auf ihre Bewegung und Veränderung in den sieb ziger Jahren einwirken. In unseren literarischen Debatten herrscht mit einer Reihe von Nuancen die Meinung vor, daß die Literatur insgesamt, darun ter natürlich die Prosa, sichtbare Wandlungen durchmacht. Wenn über die Ursachen gesprochen wird, ist immer sehr schnell die Rede von den Massenmedien und der Informations flut, von den Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Tiefgreifend scheinen mir die Folgen, die sich aus der Verände rung des Charakters der Arbeit ergeben. Wenn sich in einem langen historischen Zeitraum die Ablösung der Handarbeit vollzieht und der Mensch, wie Marx es ausdrückte, neben den Produktionsprozeß tritt, so ergeben sich daraus nicht nur Ände rungen der Arbeitsweise, sondern der Lebensweise insgesamt,
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was für die literarische Arbeit bereits von unmittelbarer Bedeu tung ist. Sichtbare Veränderungen der Prosa leiten sich auch aus neuen Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wissenschaß her. Wir leben in einer Zeit, die stark vom Rationalismus bestimmt ist, und die Rolle der Wissenschaften wächst weiter, mit Not wendigkeit. Gleichzeitig beschäftigen sich die Wissenschaften, vor allem die Naturwissenschaften, aber auch die von der Ge sellschaft mehr und mehr mit speziellen Fragen, für deren Ver ständnis kaum breite Voraussetzungen vorhanden sind. Das trifft auch für die Mehrzahl der von Philosophen, Soziologen usw. erörterten Probleme zu. Durch diese Entwicklung ist, scheint mir, eine Lücke sichtbar geworden. Bestimmte sehr ele mentare, das tägliche Leben und Sterben betreffende Fragen bleiben unerörtert. Im Mittelalter war dafür die Religion zu ständig, mit der Aufklärung wurde es die Philosophie. Es ist noch nicht klar, wer im Zuge der großen gesellschaftlichen Um wälzungen, in denen wir stehen, diese „Stelle“besetzt. Ich habe fast den Eindruck, daß sich aus dieser Situation eine Chance für die Kunst insgesamt, speziell auch für die Prosa ergibt. Eben weil sich diese Lücke aufgetan hat, weil aber auf der anderen Seite das Bedürfnis nicht versiegt ist, so alltägliche Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens, nach dem Tod und nach der Spur, die jeder hinterläßt, zu erörtern, ebendeshalb drängen sich solche Fragen mehr und mehr in die Prosa. In diesem Sinne verändert sie heute ihren Charakter und ihr Erscheinungsbild. Wenn ich von einer Chance gesprochen habe, so meine ich da mit auch, sie hat ganz gewiß ihre Zukunft. „Wenn wir unser Gespräch in dieser Richtung führen, ver spricht es interessant und vielleicht sogar bedeutsam zu wer den, denn die gegenwärtige Literatur und Kunst hat fast al les zum Inhalt, was den Menschen von heute angeht, sein Dasein, seine Wirklichkeit. Mir scheint, die Wissenschaften über die Natur, aber auch die Gesellschaftswissenschaften haben sich in einem solchen Maß in die Erforschung ihres Gegenstandes vertieft, haben sich so stark spezialisiert, daß
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sie für viele Menschen unzugänglich, ja unverständlich wer den. Zugleich aber ist das Bedürfnis spürbar, die Welt in ihrer Einheit, sie als Ganzes und nicht nur in ihren Teilen zu sehen. Wenn dies früher Sache von Religion und Philoso phie war, so fällt diese Mission heute mehr und mehr in die Kompetenz der Literatur und hier vor allem der Prosa, aber das kann man nicht begrenzen, man muß sogar die Litera turwissenschaft und die Kritik mit einbeziehen. Was sich vollzieht, ist das Durchdenken unserer Wirklich keit, ein Prozeß, in dem uns unser eigenes Leben bewußt wird. Wer sind wir in diesen siebziger Jahren, was stellt die Welt im ganzen dar, was die menschliche Gesellschaft kon kret in den beiden Weltsystemen, was bringen, genauer ge sagt, die einzelnen Bestandteile und Gesellschaften in das sozialistische Weltsystem ein? Und endlich: Was oder wer ist der Mensch? Ich denke, Literatur hat es immer mit allen diesen Schichten zu tun, sie denkt global. Aber ihr Ziel muß durch alle diese Schichten hindurch immer die einzelne menschliche Persön lichkeit sein. Das ist ihr Hauptziel, ihr Fixpunkt, ihr Grundpfeiler. Wenn die Literatur bis zu diesem Punkt vor gestoßen ist, wenn sie die Wechselbeziehungen der Persön lichkeit mit gesellschaftlichen Institutionen, mit der Um welt, mit anderen Menschen, kurz, mit der Wirklichkeit zei gen will, dann stellt sich als Erfordernis die intensive künst lerische Erforschung ebendieser vielfältigen Berührungs punkte der Persönlichkeit mit der Welt ein. Die menschliche Einzelpersönlichkeit ist einem Fokus ver gleichbar, in dem alle Wirkungen der Realität gebündelt werden und deren Erforschung es uns ermöglicht, Inhalt, Wesen und Tendenzen der Wirklichkeit und des Menschen zu erkennen. Das klingt vielleicht alles abstrakt, aber gerade das ist der Gegenstand kluger, großer Prosa. Ich möchte un terstreichen, ich spreche von kluger Prosa, denn es gibt — bei uns wie bei Ihnen — auch andere Arten von Prosa. Es gibt eine Prosa mit spekulativem Charakter. Sie zehrt ein
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fach von unseren guten Ideen und Absichten, sie lebt davon, daß sie ihre Loyalität gegenüber bestimmten Tendenzen und Erscheinungen hervorkehrt; dabei fehlt es ihr an künst lerischer Kraft und Fülle. Aber sie lebt, ich sehe sie um mich herum, ich sehe Menschen, die ihren Weg in Literatur und Kunst auf diese Weise gehen. Sie haben sicher auch ihre Überzeugungen ... Ich kann nur sagen, daß mich persönlich so eine Prosa nicht überzeugt. Ich glaube fest daran, daß — bei allem Reichtum, bei aller Vielfalt der Talente, Begabungen, Richtungen, Stile — sich die hauptsächlichen, die bestimmenden Tendenzen herausschälen müssen. Das geschieht in der Regel dann, wenn sich hervorragende Künstlerpersönlichkeiten zu Wort melden. Etwa Brecht, der eine ganze Epoche verkörpert. Ich habe mich seiner nicht zufällig erinnert, denn er hat die neue Epoche des Sozialismus mit tiefem menschlichem Verständ nis angenommen, und er vermochte zugleich ihrer inneren Dramatik in seiner Kunst, in seiner Weltanschauung Aus druck zu verleihen. Wenn wir also über so allgemeine Fra gen sprechen, was müßte ich unbedingt sagen mit Blick auf den Leser in der DDR (und ich habe dabei den belesenen Bücherfreund im Auge, einen konkreten Adressaten sozusa gen)? Er wie ich, wir müssen davon ausgehen, daß die DDR eine völlig neue historische Erscheinung ist, als Staat und als Gesellschaft. Die DDR liegt an der Grenze zweier Welten. Deshalb empfinden, ja sehen die Menschen die Welt dort anders, dadurch erhält ihr allgemeines Weltbild gewisse eigene Züge. Das ist beileibe nichts Besonderes, so muß es sein. Ich lebe tief im Inneren Asiens, ich bin in einer be stimmten Zeit, unter bestimmten Bedingungen aufgewach sen. Deshalb habe ich mich in einer ganz bestimmten^Weise entwickelt. Sie sind Europäer. Neben allem anderen haben sie den Einfluß der Kultur, der Kunst Ihres Vaterlandes er fahren, und sicher ist auch das übrige Europa nicht spurlos an Ihnen vorübergegangen. Mit dem deutschen Volk, das heißt auch mit der DDR, ist das Beste verbunden, was der
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menschliche Geist hervorgebracht hat. Zugleich hat mit der DDR ein ganz neuer Abschnitt der Entwicklung begonnen, eine neue Etappe der gesellschaftlichen Gestaltung. Das er öffnet neue Perspektiven. Deshalb ist die grundlegende Ten denz in Ihrem Land, in der geistigen Haltung und im Welt verständnis der Menschen wie bei uns sozialistisch bestimmt. Das macht heute schon unsere Nähe aus, wir stehen im sel ben Glied. Andererseits möchte ich nicht, daß wir uns völlig gleichen. Wir brauchen die Unterschiede, weil uns das rei cher macht und unsere geistigen Potenzen vervielfältigt. Wenn wir all dies im Auge haben, dann ergibt sich, daß wir als Künstler gemeinsam sehr ernst darüber nachdenken müs sen, welches die neuen Möglichkeiten unserer Kunst und Li teratur sind: Was vermag die Kunst, was kann von ihr er wartet werden, was muß sie sagen und wie, damit nicht nur die einmalige Bedeutung unserer Zeit erfaßt wird, damit auch, was sie sagt, nicht zu leicht befunden wird, sondern, im Gegenteil, in die Waagschale fällt? Zugleich müssen wir uns bewußt machen, was wir aus diesen oder jenen Gründen noch nicht bewältigen konnten. Ursachen dafür kann es ver schiedene geben, denn die Entwicklung von Literatur und Kunst ist im allgemeinen ein komplizierter Vorgang. Keine Gesellschaft, auch nicht die ideale, kann solche Bedingun gen schaffen, unter denen der Künstler, einem Schmetter ling gleich, von Blüte zu Blüte gaukelt, durch nichts beunru higt, ohne Widersprüche im Geiste, ohne den Versuch, sein Verhältnis zu dem und jenem zu fixieren — all das ist un denkbar. Keine Gesellschaft, auch nicht die sozialistische, die sehr viel für das Volk, für die Klasse tut, dafür, daß der Mensch wahrhaft zum Menschen werden kann, daß er mit Würde arbeiten und leben kann, ist imstande, ideale, keimfreie Be dingungen für das Wirken der Künste zu schaffen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem System des Westens und unserer sozialistischen Gesellschaft. Den grundlegenden Unterschied zwischen ihnen sehe ich zum
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Beispiel darin, daß zum Menschen bei uns das Gefühl der Würde gehört. Er lebt vielleicht in manchem nicht so reich, noch hat nicht jeder sein Auto ... Aber er hat es nicht nötig, vor irgendeinem Boß zu katzbuckeln, weil er weiß, daß er letzten Endes Hauptperson ist. Er weiß, ohne ihn kann kein Direktor, kein Chef die Sache bewegen, ohne ihn stellen sie eigentlich herzlich wenig dar. Das ist das Wesentliche, und das ist gut so. Aber, um wieder auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, Literatur und Kunst sind nicht lebensfähig, wenn sie auf die Gestaltung unserer inneren Widersprüche verzichten, im Kulturellen wie auch im Sozialen. Warum? Der Sozialismus ist schließ lich eine komplizierte Erscheinung, dafür gibt es kein Re zept. Wir haben über die Beziehung zwischen Literatur und Philo sophie gesprochen. Wie sehen Sie diesen Bezug? Ich habe den Eindruck, daß bei uns diese Beziehung fast vollständig abgeris sen ist, und mir scheint, daß wir damit eine unserer guten Tra ditionen vernachlässigen. Die Frage stellt sich grundsätzlich. Mit jeder Revolution be ginnt das Leben der Gesellschaft auf genuin neuen Grundla gen. Alles wird umgebaut, der Boden wird nationalisiert usw., neue Gesetzmäßigkeiten beginnen zu wirken, neue Wechselbeziehungen entstehen. In dieser anfänglichen Etappe trägt die Literatur, speziell auch die Prosa, einen überwiegend beschreibenden Charak ter. Sie folgt dem Neubeginn, begeistert sich am Aufbruch, am Heroismus, wo Spontanes und Bewußtheit sich vermi schen, Altes zerbrochen wird, der Aufbau von Neuem be ginnt. Das ist gewissermaßen das Handlungsfeld, auf dem die Literatur sich entfaltet. Diese Literatur hat im allgemei nen keinen Sinn für Philosophie. Das alles — die realen Vor gänge wie ihre literarische Darstellung — ist sozusagen Roh material für die zukünftige philosophische Gestaltung. Andererseits herrschen in dieser Zeit des Neubeginns in vie lem klare Verhältnisse: hier ist der Klassenfeind, der zu be
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kämpfen ist; vor dir steht als Aufgabe die Industrialisierung, also mußt du Werke und Fabriken bauen ... Heute leben wir in einer komplizierteren Zeit. Viele junge Leute blicken nach der Lektüre von Werken aus jenen Jah ren voll Neid, sagen wir, auf Tschapajew, auf Kortschagin. Das ist verständlich, da kann man schon neidisch werden. Trotzdem, scheint mir, ist es heute nötig, interessanter zu le ben, weil alles wesentlich komplizierter geworden ist. Es gibt so unendlich vieles, worüber der Mensch nachdenken, was ihn geistig beschäftigen kann, was zu analysieren ist, wo er nach Ursachen forschen kann. All dies aber führt ihn zu gleich immer wieder zu sich selbst zurück, zu der Frage, wer er ist, wie er zu dem geworden ist, der er ist, heute, in diesen siebziger Jahren. Sobald die Literatur sich mit diesen Fragen beschäftigt, kommt sie nicht mehr mit dem Arsenal künstlerischer Mittel aus, über das wir am Anfang verfügten. Ich schmähe diese Periode nicht, im Gegenteil, ich sage ja, das ist gesetzmäßig. Ohne sie wären wir heute nicht, was wir sind. Genau, das ist eine Evolution. Erhalten haben sich natürlich aus dieser Zeit die allgemeinen ideellen Grundlagen, die da mals, am Neubeginn, verkündet wurden, die zur Grundlage der Gesellschaft insgesamt gehören. Die Hauptideen wur den erhalten und entwickelt, aber auf ihrem Hintergrund vollzieht sich eine Differenzierung des gesamten Lebens, al ler Sphären der Gesellschaft. Das geistige Leben wird kom plizierter. Oder nehmen wir ein elementares Beispiel. Vor zwanzig, geschweige denn vor vierzig Jahren gab es den Be griff Umweltschutz noch nicht. Niemand hat auch nur im Traum an so etwas gedacht. Wenn man so will, gab es ja mehr als genug Natur: Boden, Fische ... Das Problem als solches bestand noch nicht. Deshalb war der Mensch auch nicht dem Zweifel und der Unruhe ausgesetzt, die er heute verspürt. Ohne die Natur, ohne ihre Ressourcen kann er nicht auskommen. Während er sie sich zunutze macht, ist ihm heute aber schon das Problematische seines Tuns be
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wußt. — Nehmen wir ein weiteres Beispiel von vielen, neh men wir die Schule, Erziehungsfragen. Die Beziehungen zwischen den Generationen sind heute ganz andere, sie än dern sich zwangsläufig. Als Reiselektüre habe ich Tendrjakotes Erzählung „Die Nacht nach der Abschlußfeier“ gelesen ... Sie befaßt sich mit genau dieser Frage. — Heute greift vieles, was Pädagogik und Erziehung betrifft, ineinander über, so gar der zu Erziehende wirkt auf den Erzieher ein. Weiter. Die wissenschaftlich-technische Revolution bringt uns eine kolossale Menge technischer Entwicklungen. In ihrem Ge folge wächst die Informiertheit. Einen solchen Grad von In formation wie heute hat noch keine Generation erlangt. Un bekannt war bisher auch das Ausmaß von Kontakten und die damit verbundene Kommunikation. Nur als Beispiel: Vor Ihnen war Antonioni hier, vor ihm Genossen aus Un garn, Japaner waren hier — auch in unserem kleinen Land spüren wir Tag für Tag diesen Rhythmus der Gegenwart, spüren wir die Verbindung zur Welt und verkehren mit ihr. All das kann natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Im Ergeb nis dieser und vieler anderer Vorgänge wird die Literatur philosophisch angereichert, was nicht heißt, daß sie die Ge stalt philosophischer Traktate annimmt. Sie muß natürlich Literatur bleiben, das heißt auch weiterhin Erlebtes, Emp fundenes gestalten, Gefühle von Menschen, Konflikte, Handlungen und die mit alldem zusammenhängende gei stige Welt. All dies konnte die Literatur früher — ich verein fache — sehr einfach beschreiben: Er hat sich in sie verliebt, sie in ihn, oder sie haben sich getrennt usw. Heute können wir den Leser damit nicht mehr bereichern, das wird ihn nicht erregen und gefangennehmen. Heute braucht die Lite ratur außer diesem die Weltempfindung, das komplizierte Weltverständnis und den philosophischen Geist des Zeitge nossen, des Menschen der Gegenwart. Wenn die Literatur, wenn die Prosa dies einbringt, dann wird sie zur Herrscherin des Geistes. Nach meiner Überzeu
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gung ist das Werk von Thomas Mann dafür eins der besten Beispiele der gesamten Weltliteratur. Ich muß sagen, ich lese nicht nur seine Werke sehr gern, sondern auch seine Briefe. Sie sind für mich anregender Gegenstand zu vielfältigen Überlegungen. Thomas Mann gehört zu jenen großen Künstlern, die man nur als einzigartiges Phänomen bezeich nen kann. Es möchte scheinen, nach Thomas Mann müßte nun jemand kommen, der sich noch höher erhebt. Und so zusagen für den Fortschritt sorgt. Aber davon ist bislang nichts zu spüren. Ich will nicht gefade sagen, es vollzieht sich ein Rückschritt, aber wir haben eine Stagnation zu ver zeichnen, und die wird bis zu dem Zeitpunkt dauern, da sich ein Künstler ähnlichen Ranges ankündigt. Der aber wird kein Thomas Mann sein, sondern sich völlig von ihm unter scheiden. Ist es nicht ganz natürlich, daß jede Literatur, was ihre ästheti sche Qualität betrifft, in sich inhomogen ist? In jeder Literatur gibt es Werke von -verschiedenen Graden. Ich bin weit davon entfernt, schematisieren zu wollen, aber ganz einfach gesagt, es gibt verschiedene Arten oder gar Sorten von Literatur. Da ist etwa die Literatur, für die beispielsweise Thomas Mann oder auch Brecht stehen und der man eine Pionierjunktion zuschrei ben könnte. Das ist die Literatur, in der Neuland betreten und die großen Entdeckungen gemacht werden. Ihr folgt — und das hat nichts mit einem moralisch-ästhetischen Makel zu tun! — eine Literatur... ... das sind Epigonen im positiven Sinn ... ... die diese großen Entdeckungen aufgreift, die dafür sorgt, daß sie massenzugänglich, daß sie verbreitet werden. Mir scheint, keine dieser Arten von Literatur ist allein denkbar, sie sind aufeinander angewiesen, keine kann ohne die andere exi stieren. — Was jedoch unumgänglich ist: über ihre Wechselwir kung, über ihre Besonderheiten muß in beider Interesse gespro chen werden, ohne hier „Hosianna!“ zu schreien und dort „Kreuzigt sie!“. Sie haben völlig recht. In unserer sowjetischen Literatur
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kann man das verfolgen. Da gibt es bestimmte Höhepunkte, sagen wir Scholochow, Leonow, Pasternak, Majakowski. Nach ihnen sind ähnliche Höhepunkte vorläufig nicht vor handen. Aber natürlich haben wir viele interessante und vor zügliche Schriftsteller, Dichter, die sich ihrer Sache mit Hin gabe widmen. Aber sie erreichen nicht diese Höhen, und wir haben es, strenggenommen, mit epigonalen Erscheinungen zu tun. Aber sie tun eine gute, wichtige Sache, sie vermitteln und vertiefen, sie verarbeiten jene Erfahrungen, die diese Künstler zugänglich gemacht haben. Ein weiterer Grundfiir diese Differenzierung innerhalb der Li teratur liegt wohl im Leser, der sich in seinen Interessen und Erwartungen, in Bedürfnissen und Ansprüchen tausendfach unterscheidet. Vollkommen richtig. Ich bin damit völlig einverstanden. Das beschreibt einfach den tatsächlichen Zustand. Aber wir müs sen noch weiter gehen. Es existiert auch noch die dritte, die vierte Sorte. Das ist schon die offen „spekulative“ Literatur, die im Westen als kommerzielle und Massenliteratur zum Beispiel mit Pornographie spekuliert. Bei uns ist das jene Li teratur, die einfach auf die Aktualität und die Notwendig keit bestimmter Themen setzt und die talentlos gemachte und oberflächliche Beschreibungen für Literatur ausgibt. Das wird gedruckt und gelesen, ich lasse jetzt dahingestellt sein, was dabei größer ist, der Nutzen oder der Schaden. Aber wie man im Wald mit hohen Bäumen nicht ohne Ge sträuch auskommt, so ist es auch hier. Warum? Literatur ist nicht nach einer Fasson denkbar. Sie kann nicht über einen Kamm geschoren werden, selbst wenn jemand das wollte. Auf dem Schriftstellerkongreß kann man sich wohl über ge meinsam Interessierendes verständigen, aber selbst dort ist jeder er selbst, vom Schaffensprozeß ganz zu schweigen. Auf dem Kongreß haben wir unsere Meinungen ausge tauscht: wie soll sich die Literatur weiterentwickeln, welche Tendenzen liegen vor, welche müssen politisch-ideologisch und künstlerisch gestärkt werden, weil sie auf Bedürfnisse
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unserer Gesellschaft antworten. Aber wie das dann in der konkreten Arbeit, wie es in Bildern und Gestalten umgesetzt wird, das ist schon Angelegenheit jedes einzelnen. Nicht schwer ist es, darüber zu sprechen, daß es Sache des Autors ist, was und wie er schreibt, daß es keinen Leisten gibt, über den so verschiedenartige Persönlichkeiten geschlagen wer den könnten. Im Gegenteil, wir sind froh, daß in letzter Zeit sehr viel über die Verschiedenheit, über die Vielfalt von Hand schriften gesprochen wird. Aber wenn die Vielfalt wächst, wächst auch die Möglichkeit zu vergleichen. Das Bild diffe renziert sich. Innerhalb der Verschiedenheit machen sich Ni veau-Unterschiede bemerkbar, es zeigt sich, daß es gute und weniger gute Werke gibt. Damit ergibt sich die Frage der Kri terien ... In der Literatur wirken die verschiedensten Kräfte. Einige auszuschließen, so daß ein Normal- oder Idealzustand ent stünde, ist undenkbar, denn das wäre ein Abstraktum. Ne ben den wirklichen, begabten Künstlern gibt es in der Litera tur viele Leute; die Auch-Literaten sind. Natürlich bestim men sie das Wetter mit. Mitunter ergeben sich für sie sogar — obwohl niemand das bewußt betreibt — günstige Um stände. Durch das Aufkommen der Massenmedien entste hen zum Beispiel paradoxe Situationen. Es kann passieren, daß große, künstlerisch wertvolle Werke nur geringe Beach tung erfahren. Auf der anderen Seite werden leicht-fertige Bestseller oder unsere Literatur zu sogenannten aktuellen Themen weit verbreitet und propagiert, es wird so etwas wie eine Meinung um sie geschaffen. Was soll man dazu sagen? Das ist das lebendige Leben. Manches gelingt, anderes ge lingt nicht. Mir persönlich scheinen manche Dinge nicht auf dem richtigen Gleis, ich würde für vernünftige Korrekturen plädieren. Andere wiederum halten das für normal, ihnen ist sogar wohl dabei. Sicher ist, wir müssen damit leben. Was aber dazu gehört: wir müssen auch darüber reden. Reden muß man darüber, und nicht einfach so, sondern sehr
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nachdrücklich. Wir jedoch versuchen den Anschein zu er wecken, alles sei friedlich und ruhig. Das jedoch ist das Schlimmste. Ich bin dafür, daß die Parteipresse scharfe Arti kel veröffentlicht, Artikel, die zu gründlichem Nachdenken anregen. Und zwar nicht nur, wenn ein Werk erscheint, das ideell für uns nicht akzeptabel ist. Daneben gibt es ja noch eine andere Gefahr, die von grauen, mittelmäßigen Werken ausgeht. Sie verderben den Geschmack der Menschen, sie bewirken eine „Erziehung“ des Lesers, daß der dann nicht in der Lage ist, Thomas Mann aufzunehmen. Sie werden durch das Mittelmaß nicht darauf vorbereitet. Nehmen Sie irgendeinen dieser Standardschriftsteller. Der spricht sehr richtige Ideen aus, aber schreibt sehr schlecht, der lebt reich lich unbekümmert, von ihm wird auch nicht viel verlangt. Aber seine Produkte verhindern im Grunde die Hinwen dung des Lesers zur ernsthaften Literatur. Für mich aber ist bedrückend, daß ein Mensch auf dieser Welt lebt, daß er sie wieder verläßt, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, zu be greifen, wer Dostojewski ist, welche Größe im Werk von Hemingway liegt, von Tolstoi wäre in diesem Zusammen hang zu reden, daran soll uns die Tolstoi-Mode nicht hin dern, die ein wenig überdeckt, daß Tolstoi neben wahrhaft großen Werken auch weniger bedeutende hinterlassen hat. Ich verstehe Ihre Gedanken so, daß Literatur als ihr Lebensele ment Öffentlichkeit braucht, weil sie ihrem ganzen Wesen nach eine öffentliche Angelegenheit ist, sie ist in diesem Sinne als spezifisches Organ sozialistischer Demokratie zu verstehen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Frage zurück kommen, die Sie schon mehrfach berührt haben. Sie sprachen von den Besonderheiten der Prosa der siebziger Jahre. Viel leicht könnten wir versuchen, diese ein wenig näher zu bestim men. Es ist wichtig, unsere literarischen Bemühungen historisch zu begreifen. In jedem Fall können wir davon ausgehen, daß sich die Menschheit vervollkommnet. Es gibt immer neue Fortschritte. Das gilt auch für die literarischen Techniken.
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Aber das gilt natürlich .auch im inhaltlich-künstlerischen Sinn. Ich habe zum Beispiel große Achtung vor den Schrift stellern des Mittelalters. Aber es ist heute nicht mehr mög lich, so zu schreiben, wie sie geschrieben haben. Das hängt natürlich auch vom Genre ab, aber wenn wir das realistische Erzählen nehmen, so kommt man nicht umhin zu sagen, wir sind weit fortgeschritten. Der Schriftsteller früherer Jahr hunderte gab sich oft einfach, manchmal sogar primitiv. Erinnern Sie sich an bestimmte Angewohnheiten, im Titel oder Untertitel bereits die ganze Geschichte anzugeben — weitere Lektüre erübrigt sich. Wenn wir über die heutige Prosa sprechen — ich meine die auf der ganzen Welt, die Prosa in ihren besten Ausprägungen —, dann müssen wir er kennen, daß sie in hohem Maße lebendig und lebenserfüllt ist, unser Leben sehr treffend und genau gestaltet, sich um das Wesen des Menschen, seine Psychologie wie auch sei nen äußeren Habitus bemüht. Sie erforscht seine verborgen sten Gedanken. Man kann der früheren Literatur ähnliche Bestrebungen nicht absprechen. Aber wie kam das zum Aus druck? Der innere Gedanke im Drama beispielsweise er schien unter der Regieanweisung „zur Seite“. Dieser mecha nische Zug bestimmte auch das Niveau der Prosa. Wir wis sen heute von der Bedeutung, die der inneren Arbeit, dem Verborgenen zukommt. Wir sitzen hier und sprechen über diese Dinge, aber in uns vollziehen sich zur gleichen Zeit noch andere Vorgänge, laufen Gedanken und Empfindun gen ab, ausgelöst von dem, was uns allein betrifft, was uns beunruhigt. Die Prosa von heute ist in der Lage, das zu ver mitteln. Sie kann die tieferen Schichten oder Strömungen der Gedanken erfassen, sie kommt ohne diesen Untertext nicht mehr aus. Als Sie über den Beginn unserer Literatur sprachen, gebrauch ten Sie den Begriff des Beschreibens. Er spielt auch in unseren Diskussionen eine Rolle. Vielleicht kann Beschreibung auch ein Durchgangsstadium zur Gestaltung sein, zu wirklichem Realismus. Denn Lenin, als er von der Erkenntnis neuer Ge
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genstände sprach, wies darauf hin,, daß jede Erkenntnis von außen beginnt. Die Erfassung der äußeren Schichten, der Ober fläche aber schlägt sich wohl mit Notwendigkeit als Beschrei bung nieder. Nehmen wir ein Beispiel. Wir kennen alle „Wie der Stahl ge härtet wurde“ von Ostrowski, und wir schätzen den Roman als ein Werk der sowjetischen Klassik. Mit ihm sind wir gei stig und moralisch groß geworden. Jeder kennt das schwere Leben Ostrowskis, weiß, unter welchen Bedingungen er ge schrieben hat. Aber wenn davon zu abstrahieren ist, sobald er als Schriftsteller beurteilt wird, wenn zu sprechen ist über die Genauigkeit der Sprache, über Gedankentiefe, über die bildhafte Gestaltung und ihren Reichtum, dann kann sich der Autor von heute schon nicht mehr erlauben, so zu schreiben, wie Ostrowski allein zu schreiben vermochte. Hier ist die Entwicklung nun wirklich weitergegangen. Da es sich um einen gesetzmäßigen Prozeß handelt, liegt über haupt kein Grund vor, beleidigt zu sein, wenn so etwas aus gesprochen wird. Mancher aber meint, superwachsam sein zu müssen, und beginnt zu schreien, als würde ein Heilig tum angetastet. Ich habe diese Absicht nicht. Ostrowski wird seine Bedeutung behalten. Irgendwie ist das unumgänglich. Nach uns wird es dieselben Überlegungen geben. Da wird man prüfen, wo die wirkli chen Höhepunkte im 20. Jahrhundert lagen. Manches wird sich als schwach und zu einfach darstellen, was uns heute noch als groß und bedeutend erscheint. — Ich hatte kürzlich Gelegenheit, auf einer Konferenz junger Autoren aus Asien und Afrika in Taschkent zu sprechen. In meinem Beitrag habe ich versucht, eine These zu begründen und sie den jun gen Kollegen nahezubringen. Die Literatur hat es immer mit dem menschlichen Ich zu tun. Immer wieder dieses Ich — Ich — Ich. Millionen Werke über dieses Ich. Dieses mensch liche Ich ist so vielseitig, so vielgestaltig — es ist unerschöpf lich. Auch nach uns werden noch viele schreiben. Immer und immer wieder über dieses Ich. Die tiefste Ursache dafür ist
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die Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit des menschlichen Ich. „Wenn wir angesichts dieser Tatsache sagen, unser sozialisti scher Realismus habe alle Höhen und Tiefen hinter sich, dann ist das ein großer Irrtum. Unser sozialistischer Realis mus tut seine ersten zaghaften Schritte. Er muß noch sehr viel tun und erkennen und erforschen, um die Höhe, sagen wir, des kritischen Realismus zu erreichen, um ihm an Kraft und Einfluß gleichzukommen. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir uns nach Jahrzehnten der Entwicklung des sozialistischen Realismus, nachdem er auch im Weltmaßstab zur wichtigsten Kunstrichtung geworden ist, dar über -verständigen, in welchem Stadium seiner Entwicklung wir uns heute befinden. Das ist auch wichtig angesichts der vie len Gemeinsamkeiten, wie sie sich in der Kunstentwicklung der sozialistischen Länder zeigen. Über die erste Periode hatten wir bereits gesprochen und stimmen wohl auch überein. Sie ist Voraussetzung, und ohne sie ist eine weitere Entwicklung nicht denkbar. Mir scheint, wir befinden uns mitten in einer zweiten Periode, die Sie vorhin schon in wesentlichen Zügen charakterisiert haben. Objektiv und subjektiv ist unsere Kunst souveräner geworden. Ich will noch ein Moment hinzufügen, das sich aus der DDR-Kunstentwicklung der letzten Jahre ab leiten läßt. Wir beobachten in der Literatur, aber auch in ande ren Künsten, ein sehr breites, intensives Aufgreifen von Kunst erfahrungen aus der Vergangenheit, etwa aus der Romantik, aber auch aus durchaus fremden und ganz anderen Kulturkrei sen. Es ist wohl so, daß der Realismus als künstlerische Methode sich allein als historisch offen Jür Veränderungen, für die Auf nahme auch fremder Erfahrungen gezeigt hat. Diese Fähigkeit besitzt auch der sozialistische Realismus, und vielleicht ist es möglich, die gegenwärtige Etappe seiner Entwicklung so zu be stimmen: Auf dem Hintergrund seiner gewachsenen Souve ränität nimmt er jetzt die Erfahrungen der gesamten Weltkultur in sein Arsenal auf. Das erst schafft die Voraussetzungen dafür, daß er aus dem frühen Stadium seiner Entwicklung heraustritt
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und mit der Reife sich auch die notwendigen Höhepunkte ein stellen. Hier bin ich nicht ganz mit Ihnen einverstanden. Es ist sicher so, daß der sozialistische Realismus das Recht hat, die be sten Erfahrungen der Vergangenheit in sich aufzunehmen, darunter auch solche wie die der Ritterromane, Legenden, Mythen ... Der sozialistische Realismus muß alles aufheben und in seiner „Mühle“ prüfen. Das ist natürlich ein grober, ein primitiver Vergleich. Alles tun wir in diese Mühle: Mais und Hafer, Erbsen und Weizen ... und aus alledem backen wir dann ein neues Brot. Doch lassen wir diesen Vergleich. Tatsächlich hat der sozialistische Realismus das gesetzmä ßige Recht, als Erbe alles dessen anzutreten, was vor ihm war. Aber er muß sein Eigenes hinzufügen, das, was er auf Grund seiner eigenen Erfahrungen erkennt und in die Lite ratur einzubringen vermag. Die Gefahr besteht wirklich im Schematisieren. Schon wenn man von Etappen spricht, ent steht der Eindruck, viele der in Wirklichkeit simultan vor sich gehenden Prozesse vollzögen sich nacheinander. Sie haben kürzlich in einem Interview für „Woprossy Litera tury“(8/1979) gesagt (und ich benutze, formal zu Recht, für die Übersetzung Ihres Gedankens ein Wort, das den Sinn meiner Frage verdeutlicht): „Das Leben, die Geschichte reproduzie ren [hier könnte mit gleichem Recht stehen: widerspiegeln, H. P.] kann nur die Prosa. Insbesondere der Realismus. Er ist die Krone jeglicher Kunst. Ihr Stützpfeiler.“ Diesen Gedanken zitiere ich deshalb, weil nach meiner Meinung die Züge von Mittelmaß, über die wir schon gesprochen haben, auch von be stimmten theoretischen Prämissen gedeckt oder gar gefördert werden. Denken Sie nur an jene Definition, die unter Realis mus die Widerspiegelung des Lebens in den Formen des Lebens selbst verstand. Veranlaßt nun die Verwendung des Terminus „widerspiegeln“, „reproduzieren“die Literatur nicht zu einem passiven Verhältnis gegenüber der Wirklichkeit? Kein Terminus ist ohne bestimmte Konventionen denkbar. Es kann sich nur darum handeln, gedanklich zu reproduzie
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ren, ideell [um den Sinn von Aitmatows Aussage zu erhalten, muß hier „reproduzieren“ erscheinen, die Verwendung von „widerspiegeln“ würde eine Tautologie ergeben, H. P.]. Die Wirklichkeit zu reproduzieren ist nicht möglich. Wohl aber können wir sie uns ideell, gedanklich, in (Form von) Gedan ken vor Augen führen. Ich finde oder erfinde gedanklich ideelle Bilder. Sie lesen diese Bildsymbole, und nun entste hen vor Ihrem geistigen Auge bestimmte Bilder wirklichen Lebens. Nimmt man die Sache so, dann verfügt die Prosa über die meisten Möglichkeiten, denn sie hat keinerlei Schranken wie zum Beispiel Versmaß und Rhythmus. Und dann muß man natürlich berücksichtigen, daß die Prosa dem menschlichen Denken sehr nahe steht, dem alltägli chen, gewöhnlichen Bewußtsein. Anders ausgedrückt, die Prosa steht dem „Bewußtseinsstrom“ am nächsten. In dem zitierten Satz hieß es „nur die Prosa“. Ist das nicht zu ausschließend? Gut, sagen wir in erster Linie die Prosa. Natürlich kann man andere Gattungen nicht ausschließen. Auch das Theater ist dazu imstande. Aber gewöhnlich nimmt es einen bestimmten Ausschnitt. Der Film kann es. Er kann sogar manchmal et was zeigen, was die Prosa nicht kann. Und das ist auch in anderen Gattungen so. Aber letzten Endes, wenn der Mensch mit sich allein bleibt, wenn er kein Theater hat, kei nen Film, nichts, dann bleibt ihm das Buch als Grundlage seines geistigen Selbstausdrucks. Könnte man in diesem Sinne von der Prosa als der Mutter aller Künste sprechen? Ja, heute trifft das zu. Sie ist die große Sammlerin und zu gleich die große Anregerin, sie sammelt und befruchtet. Wir haben über Prosa gesprochen und sind zu dem Ergebnis ge kommen, daß die moderne Prosa nur denkbar ist, wenn sie die ganze Welt mitdenkt. Das istfiir mich ein wichtiger Gedanke. In Ihren Äußerungen zur Kunst — so zum Beispiel auch in der zitierten Passage — kann man öfter darauf stoßen, daß Sie, von Prosa sprechend, sehr unvermittelt zum Begriff des Realismus
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übergehen. Ist vielleicht im Lauf der Geschichte eine ständige Annäherung von Kunst und Realismus zu beobachten? Der Realismus ist in der Lage, die Erfahrungen seiner realistischen Vorstadien au/zunehmen. Er ist auch fähig, das zeigen beson ders die gegenwärtigen Erfahrungen, sich die künstlerischen Erfahrungen benachbarter und sogar fremder Richtungen zu eigen zu machen. Diese Gedanken sind mir nicht fremd. Ich bin freilich kein Theoretiker, aber natürlich kann ich mich bestimmten theo retischen Überlegungen nicht entziehen. Hier muß ein Ur teil über ein Werk abgegeben, dort über Entwicklungswege mitberaten und entschieden werden. Dabei sind die Erfah rungen unserer Literatur und der ausländischen, speziell der sozialistischen Literatur, zu berücksichtigen. Die öfter anzu treffende Meinung, der sozialistische Realismus sei ein voll kommen erprobtes und abgeschlossenes System der künstle rischen Wahrnehmung und Aneignung der Welt, gefällt mir gar nicht. Nach meiner Überzeugung befindet sich der so zialistische Realismus selbst in ständiger Entwicklung. Wenn wir außerdem davon ausgehen, daß der sozialistische Realismus der Hauptweg in der künstlerischen Entwicklung unseres Jahrhunderts ist, so geht schon aus dieser „Einord nung“ hervor, daß er aus vielen anderen benachbarten, sich parallel entwickelnden Stilarten und Methoden der Kunst viele Erfahrungen verarbeiten und in sich aufnehmen muß. Romantik, Klassik und auch verschiedene Modernismen sind nicht so fremd, wie manche das gern hinstellen möch ten. Die Apostel eines „reinen“ sozialistischen Realismus, der nicht fähig ist, auch andere Erfahrungen fruchtbar zu machen, fügen uns meiner Meinung nach Schaden zu. Sie setzen uns Grenzen, hindern uns daran, neue Farben, neue Kräfte zu erschließen. Vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang etwas zu den sicher sehr komplizierten Beziehungen zu spätbürgerlichen Kunstrichtungen sagen? Es ist, glaube ich, nicht richtig, den Abstraktionismus rund
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weg abzulehnen. Nehmen wir den Abstraktionismus in der bildenden Kunst. Er hat natürlich seine inneren Beziehun gen zur künstlerischen Weltsicht der Gegenwart insgesamt, Beziehungen zur Musik, zum Theater, zur Literatur und hier natürlich auch zur Prosa. So habe ich zum Beispiel auf meiner Reise durch die USA viel Interessantes gesehen. Sie haben dort nicht nur eigenar tige Dinge, sondern auch echte Leistungen in der Entwick lung von Kunst und Literatur aufzuweisen. Vieles davon ge fällt mir nicht, aber selbstverständlich trifft auch das Gegen teil zu. Es gibt sehr gesunde Erscheinungen, denen man viel Sympathie entgegenbringen kann. Ich habe mich dort sehr oft bei folgendem Gedanken er tappt: Also diese Kunst ist abstrakt, Werke der bildenden Kunst, speziell auch der Skulptur — das sind Werke der Kunst im weitesten Sinne, Werke des Design, der städtebau lichen Gestaltung, des Interieurs und Exterieurs usw. Was ich dort an abstrakten Werken gesehen habe, hat mich auf höchst eigenartige Weise berührt. Die abstrakte Richtung war für mich immer etwas durchaus Fremdes oder, vielleicht genauer, etwas weit Entferntes. Ich war darauf offensicht lir i nicht vorbereitet, und so ergaben sich unerwartet über rr Behende Wirkungen. Als ich auf Boulevards, auf Alleen, in oiseen, Museumsgärten solche Werke erblickte, und zwar . ^eben ausgemacht realistischen Plastiken, hat mich das in Unruhe versetzt. Plötzlich fragte ich mich: wo ist nun die Kunst und wo der Naturalismus? Da gibt es in Washington das Museum für moderne Kunst, mit einem sehr großen Park, mit grünen Lichtungen und Waldwiesen. Die ver schiedenen Kunstepochen haben ihre eigenen Gebäude und Säle, für die Kunst ist ein großer Komplex vorhanden. Vor dem Eingang des Museums steht die Skulptur eines älteren Mannes, in einem altmodischen Mantel. Bevor ich mir ihn näher ansah, bin ich lange um eine andere Figur gekreist. Das war vollkommen unwahrscheinlich. Ein Gebilde, zu sammengesetzt aus Segmenten von Gasleitungsrohren mit
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riesigem Durchmesser, die Segmente dünn wie Wurstschei ben. Das so entstandene Gebilde wirkte verändernd auf die gesamte Umgebung, auf den Raum. Das Ganze steht, rot angestrichen, auf einem Granitpostament. Wie gesagt, ich war — und bin vielleicht heute noch — nicht vorbereitet, ich verfüge über keine Terminologie, um zu er klären, was das ist. Ich weiß nur, ich war von ganzem Her zen entzückt, weil diese modernistisch abstrakte Skulptur verändernd auf den gesamten Raum wirkte. Nicht mehr als hundert Meter davon entfernt stand grünspanüberzogen und traurig-verzagt besagte Bronzefigur. Dieses Nebenein ander hat mich in Schrecken versetzt. Ich entschloß mich, festzustellen, was denn diese Figur darstellt: offensichtlich eine wertvolle alte Arbeit, dachte ich. Stellen Sie sich vor, es war Balzac von Rodin! Rodin! Unser Abgott! Natürlich gibt es von ihm unterschiedliche Werke, doch niemand wird es einfallen, sein Genie zu leugnen. Aber dort, an dieser Stelle, hätte man seine Arbeit auf keinen Fall aufstellen dürfen. Dort, wo alles nach Gegenwart schreit, mit ihren modernen Linien, ihrem elementaren Anspruch, dort steht die traurige Figur unseres großen Klassikers Balzac. Das hat auf mich wie ein Schock gewirkt und mir die Augen geöffnet. Ich will mit alldem nur sagen, wenn wir von Realismus sprechen, von Wahrheitsgehalt, dann müssen wir das schöpferisch ver stehen, wir dürfen keine Schmalspurigkeit zulassen, keine vereinfachenden Gegenüberstellungen. Deshalb denke ich, der sozialistische Realismus darf sich keine Selbstbeschrän kungen auferlegen, weil Selbstbeschränkung immer zur Verarmung führt. Mit anderen Worten, wir müssen uns viele gesunde und interessante Erfahrungen erobern und nutzbar machen im Sinne unseres generellen Ziels. Dieses große Ziel des sozialistischen Realismus aber ist, denke ich, der Humanismus, ist die Entdeckung der Schönheiten dieser gegenwärtigen Welt und des Menschen von heute. Dahin strebt alles, und dafür gilt es, alles zu mobilisieren. Das Er lebnis in Washington steht nicht allein, ganz ähnlich erging
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es mir in Chikago, in New York, und jedesmal hatte ich das Gefühl, ich stoße mit einem Findling zusammen, jedesmal entstand die gleiche Unruhe. Analog liegen die Dinge, wenn wir uns unserer geliebten Li teratur zuwenden. Nehmen wir die Methode, den Stil oder einfach die Schreibweise eines Schriftstellers wie des Japa ners Kobo Abe. Mir scheint jedesmal, er schreibt auf völlig unwahrscheinliche Weise. Teils lese ich das mit großem In teresse, manches ist mir nicht verständlich, manches ist bei ihm vielleicht aufgesetzt oder bedrückend. Aber ich als Künstler habe doch kein Recht, ihn abzulehnen, weil er ein ganz anderer Künstler ist. Alles in allem ist er ein Künstler, der aus tiefer Zuneigung zum Menschen schreibt. Das aber ist für mich die Hauptsache. Und wenn die Hauptsache stimmt, dann hat er das Recht, die Welt auf seine Weise zu sehen, sie auf seine Weise darzustellen. Ich erinnere mich an eine Szene, in der ein Erschlagener, also eine Leiche, denkt. Es scheint, als passe so etwas nicht zum Realismus. Aber es scheint eben nur. Das ist der Leichnam eines Ertrunkenen, der in Wirklichkeit ermordet wurde. Der Mörder aber wollte den Anschein erwecken, der Ermordete sei einfach ertrunken. Der Ermordete kommentiert die Handlungen des Mörders. Also etwa: Ich weiß, du wirst mir jetzt Wasser ein trichtern, du wirs't dabei sehr erregt sein, du wirst alles versu chen, um einen Mordverdacht auszuschließen. Aber du hast übersehen, daß das Plankton bis in die Kapillargefäße der Lungen dringt, wenn der Ertrinkende schluckt. Wenn nun die gerichtsmedizinische Untersuchung bei mir genau ist, wird sie feststellen, daß in meinen Kapillaren kein Plankton enthalten ist. Deshalb ist es unausbleiblich, daß du in große Gefahr gerätst usw. usf. Noch einmal also: Man könnte mei nen, ein realistischer Künstler kann so etwas nicht schreiben. Aber trotzdem akzeptiere ich das, denn das ist eine so kom plizierte, in die Feinheiten gehende Schreibweise, eine so differenzierte Gestaltung des Anliegens, daß man von ihr überzeugt wird und ihr zustimmt.
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Ein ähnliches Buch ist „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Ga briel Garcia Mdrquez, in dem ja auch — um nur diese Äußer lichkeit zu nennen — längst Verstorbene als handelnde Person wirken, was wohl in diesem Falle ein Ausdruck des Innewer dens der Geschichte auf diesem Kontinent, ein Ausdruck erwa chenden Selbstbewußtseins ist, Unbedingt. „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist ein hervorra gendes literarisches Werk, das uns etwa sagt: Also, Freunde, laßt sie hinter euch, die Paragraphen und überhaupt alles, was euch fesselt. Hierzu ist allerdings zu bemerken, nicht je der kann das machen. Die Natur des Künstlers muß die ent sprechenden Anlagen aufweisen. Ich zum Beispiel kann das nicht, und ich werde deshalb auch nie so schreiben. Ich muß so arbeiten, wie es mir organisch eigen ist. Ich muß entspre chend meiner Denkweise, meiner Sehweise arbeiten, ich muß gewissermaßen die Menschenliebe auf meine Art ge stalten. Dabei ist interessant, daß Sie fähig sind, die ganz andere Art zu verstehen und aufzunehmen. Ich nehme das auf, weil es ein anderer Stil, eine andere Me thode ist, ein anderes Herangehen. Ja, weil ich bei allem An derssein mit ihnen einen Berührungspunkt habe: wo wir das Wort zur Verteidigung der menschlichen Persönlichkeit ge brauchen. Wenn dieser Berührungspunkt vorhanden ist, _kann alles andere auseinandergehen, das ist dann für mich nicht fremd. Wenn wir in diesem Sinne vom sozialistischen Realismus sprechen, dann müssen wir sagen, daß er natür lich schon kräftig dabei ist, reicher zu werden. Denn solche Erscheinungen können wir unmöglich in irgendeinen bür gerlichen Sack stecken. Das wirkt in unserem Sinne, das ar beitet für uns, für unsere Ideen und Anschauungen. Wir sind damit quasi zu einem Problem gelangt, das für unser Realismus-Verständnis von Bedeutung ist. Ich meine die Frage, die im Russischen mit dem Begriff uslownost (dt. Bedingtheit, Annahme, Konvention) umschrieben wird. In der sowjetischen Diskussion der letzten Jahre spielt der Begriff ständig eine
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Rolle. Sie selbst haben soeben in Ihren Ausführungen ein prak tisches Beispiel von uslownost angeführt, als sie die Szene aus Köbo Abes Roman schilderten. Mit bei uns gebräuchlichen Be griffen auszudrücken, was hier vor sich geht, würde man am ehesten sagen, es handelt sich um ein künstlerisches Mittel, das von der Annahme ausgeht, ein Toter könne sprechen. Rein physiologisch gesehen, scheidet das natürlich aus, Sie haben daraufhingewiesen. Wenn jedoch in der Anwendung dieses Mittels durch den Autor ein Moment von Realismus enthalten ist, so kommt er in unserer Hauptthese sehr unvermittelt zum Ausdruck: die ganze Welt muß anwesend sein. Wenn ich sie, was nicht frei von Banalität ist, sehr unvermittelt auf den vor liegenden Fall übertragen darf, kommt heraus, heute einen Mord zu begehen ist zwar nicht schwer, aber ihn zu ver schleiern um so mehr, da dem Zufall heute viel leichter auf die Sprünge zu kommen ist, da die heutige Welt über Mittel und Methoden (und sei es auch „nur“ der Kriminalistik!) verfügt, dem noch so Verborgenen auf die Spur zu kommen. Und, was nicht unwichtig ist, da die Welt, in diesem Fall die Masse der Menschen, von der Existenz dieser Möglichkeiten informiert ist, treffen solche Mittel auf Verständnis und Aufnahmebereit schaft. Es wird sozusagen mitgedacht. Allgemein gesprochen treffen daher derartige Mittel nicht auf Ablehnung und rufen kein Befremden hervor. Die DDR-Literatur der letzten Jahre hat sich in verstärktem Maß solcher Mittel bedient. Ich kann mich in diesem Zusammenhang kurz fassen, da bei uns in letz ter Zeit mehrfach darüber geschrieben wurde. Es handelt sich um die Verwendung von Legenden und Märchen, um phanta stische Annahmen von Als-ob-Situationen, häufig verwendet werden spielerische Elemente, Symbole, Parabeln usw. Wollte ich nun für alle diese erwähnten künstlerischen Mittel einen approbierten Begriff suchen, so käme ich als deutsche Ent sprechung von uslownost am ehesten auf den Brechtschen Be griff Verfremdung. Ich will mir aber einen weiteren Exkurs er sparen, der nötig wäre, um den bisherigen, m. E. zu einge schränkten Gebrauch dieses Begriffs zu erklären, ich will viel
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mehr wieder zum Gegenstand unseres Gesprächs zurückkehren. In dem schon mehrfach erwähnten Interview sagen Sie: „Der Realismus zeichnet sich durch große Vorzüge aus, denn andere künstlerische Methoden sind durch vielerlei uslownost gekenn zeichnet (schließen eine Konvention mit uns), und nur die rea listische Prosa kommt ohne diese Konvention aus. In einer sol chen Prosa kann man nicht nur über sich sprechen, immer, so gar bei einer Beichte, spricht man mehr über die Welt.“ Ich stimme natürlich zu, was die Vorzüge des Realismus angeht. Wie aber ist zu verstehen, daß der Realismus, w&nn ich es ein wenig anders formulieren darf, sich keiner uslownost bedient, denn wir stimmen ja andererseits darin überein, daß es unserem Realismus sehr gut zu Gesicht steht, wenn er seine Möglichkei ten erweitert. Wir müssen wohl präzisieren, daß der Realismus ohne us lownost nicht auskommt. Wenn schon davon die Rede ist, muß man sagen, das, was wir insgesamt als Kunst bezeich nen, ist ohne uslownost, ohne Verfremdung oder Fiktion nicht denkbar. Bitte sehr, hier hängt ein Bild, auf dem Berge dargestellt sind, eine Landschaft. — Natürlich ist das nicht die Wirklichkeit selbst, obwohl unser Gehirn, unsere Sinne so entwickelt sind, daß ich mich an dem Bild erfreuen kann und meine Vorstellungskraft das Dargestellte in mir leben dig werden läßt. Das ist mir bekannt, oder es ist mir nahe. Ähnliches vollzieht sich im Ballett, in dem das Element der Verfremdung, der Fiktion sehr stark ist. Es hat seine Eigen heiten, das plastische Moment, Grazie, Bewegung, Rhythmus, Tempo, die mit Hilfe des Körpers dargestellte Leidenschaft, Trauer. Das alles bin ich in der Lage aufzu nehmen, zu verstehen, obwohl ich mir natürlich ständig be wußt bin, daß all dies eine Sache der Übereinkunft ist, auf einer Konvention beruht. In Wirklichkeit teilen sich die Menschen nicht über den Umweg des Tanzes mit. Derselbe Vorgang im Theater. Du gehst hin und weißt, da ist ein Vor hang, der hebt sich, gleich kommen die Schauspieler zum Vorschein, sie werden spielen, etwas darstellen usw.
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Es wäre demnach töricht, gegen diese Übereinkunft — Kon vention — Verfremdung — Fiktion — uslownost in der Kunst aufzutreten, ohne sie ist Kunst nicht denkbar. Das alles soll wahr sein. Es erhebt sich aber dann die Frage, mit welcher Meisterschaft man sich dieses Kunstfaktors bedient... ... und in welcher Struktur dies erfolgt... ... richtig, in welcher Struktur. Wenn wir nun die Prosa betrachten — nicht, weil ich als Pro saiker mein eigenes Metier herausheben möchte, nicht, weil ich der Meinung bin, die Prosa sei überhaupt das Wichtig ste —, so muß ich von mir sagen, daß dieses“ Moment natür lich in dem eben genannten allgemeinen Sinn wirksam ist. Aber, sagen wir, in einem speziellen Sinn, also etwa der for cierten Verwendung von Symbolen, Parabeln usw., also des ganzen großen Arsenals, das wir darunter verstehen — in diesem speziellen Sinn vermeide ich nach Möglichkeit die Verwendung dieser Mittel. Warum? Weil sie „primitivie rend“ wirken. Wenn sie aber unumgänglich sind? Wenn es ohne ihre Hilfe nicht möglich ist, die Absicht zu verwirklichen? Wenn dieser Fall eintritt, geht die Kunst zu einer Sprache der Symbole und anderer Verfremdungen über. Wenn es aber möglich ist, ohne sie auszukommen, wenn der Künstler andere Lösungen findet, dann, scheint mir, ist es besser, ohne sie auszukommen. Nehmen Sie einige meiner eigenen frühen Sachen — ich habe keinen Grund, mich von ihnen zu distanzieren —, sie sind in einem, sage.n wir, romantisierenden Stil geschrieben. Heute würde ich sie zweifellos nicht mehr so schreiben. Bei alledem weiß ich sehr gut, diese frü hen Sachen hatten einen sehr breiten Leserkreis, ich kenne die Resonanz sehr gut, zum Beispiel aus Briefen, die mir ganz verschiedene Menschen, vom Kind bis zum Greis, ge schrieben haben. Und ich weiß, das ist ja nachprüfbar; jetzt, bei der heutigen Art zu schreiben, habe ich weniger Leser. Aber das betrübt mich nicht. Ich weiß schließlich, ich be wege mich heute in einer komplizierten Sphäre. Ich rechne
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deshalb auch mit einem anderen Leserkreis, mit Menschen, die nicht nur eine andere Bildung haben, sondern die für diese Art Lektüre auch eine bestimmte Vorbereitung mit bringen. Und darunter verstehe ich nicht nur eine bestimmte Qualifikation im Bücherlesen, ich meine primär Lebenser fahrung, das Vertrautsein mit Fragen, die die Welt bewegen. Das sind die Überlegungen, aus denen heraus ich versuche, ohne Verfremdungen (in dem erwähnten speziellen Sinn) auszukommen. Ich versuche das in einer Erzählung, an der ich zur Zeit arbeite. Die Handlung spielt auf dem Meer, in einem Boot zwischen wenigen Personen. Es ist eine Art Grenzsituation. Das Boot ist die Welt. Es ist für mich un denkbar, den Zugang zu ihren elementaren Problemen durch Symbole oder ähnliches zu verstellen. Ich sehe meine Aufgabe darin, meinen Zeitgenossen zu prüfen, alles das zu zeigen, was ihn im Innersten bewegt, seine Geisteshaltung, seine Daseinsberechtigung. — Damit sind wir wieder bei einem Wesenszug der heutigen Prosa. Sie prüft — und jede Prüfung ist zugleich eine Selbstüberprüfung —, inwieweit das Tun und Lassen unserer Zeitgenossen, unser eigenes Tun den allgemeinen Erfordernissen, die sich wiederum aus der historischen Mission der Arbeiterklasse ergeben, ent spricht. Sie hilft aussondern oder erkennen, was am wichtig sten ist. Sie ist beteiligt an dem Versuch, die Generallinie der Entwicklung abzustecken, was ja in höchstem Grade kom pliziert ist. Dabei können leicht Vulgarisierungen unterlau fen, eingleisige oder ungenügend weitsichtige Versuche, die von dem oder jenem aktuellen Tagesbedürfnis ausgehen. Vor solchen Versuchen müssen wir uns hüten, sie sind das Ergebnis von Agiotage und Hektik. Vielleicht vollziehe ich jetzt einen Gedankensprung, doch ich .glaube, es gehört zusammen. Ich möchte Sie bitten, Ihre Mei nung zum Begriff Gegenwart, zu seiner Bedeutung für die Lite ratur zu sagen. Ich meine, der Begriff sollte nicht allein das Prä sens, die unmittelbare Gegenwart, umfassen. Auch ein histori scher Roman kann ein Gegenwartsroman sein ...
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Natürlich! Unter Gegenwart nur den jeweiligen Augenblick zu verstehen führt zu kurzsichtigen und halbfertigen Pro dukten. Gegenwart kann für den Prosaiker nichts anderes sein als eine Denkweise oder besser: die Art und Weise, sein Thema, seinen Stoff zu analysieren und zu gestalten. Ein so genannter historischer Roman kann und muß den Stempel der Gegenwart tragen. Nehmen wir Omar Hajam. Er hat für seine Zeit Gegenwart zum Ausdruck gebracht und bleibt deshalb auch für uns von Bedeutung. Aber wodurch unter scheiden wir uns von ihm? Dadurch, daß wir heute zum Bei spiel solche künstlerischen Bilder gebrauchen, die ihm nicht einmal im Traum eingefallen wären, und zwar nicht aus sub jektivem Unvermögen, sondern weil er in einer anderen Epoche lebte. Seither ist die Welt komplizierter geworden, es haben sich neue Erfahrungen angesammelt, und sie gehen ein in meine Kunstausübung, sie führen zu einem neuen Kunstdenken. Ich bin in dem Maß gegenwartsverbunden, wie ich der Denkungsart meiner Zeitgenossen nahekomme, wie ich ihr verbunden bin. Das ist die eine Art, Gegenwart zu begreifen. Wenn man den Gegenwartsbezug nur zum Heute und zum Gestern sieht, dann ist das ein enger, begrenzter Gesichts punkt. Über diese Frage habe ich übrigens auf dem kürzlich in Taschkent abgehaltenen Treffen junger Schrifsteller Asiens und Afrikas gesprochen. Diese Rede variiert unter einem bestimmten Aspekt das Haupt thema Ihrer Überlegungen und ergänzt es in manchem. Sie gibt vor allem eine Zusammenfassung der wichtigsten Ursachen für Veränderungen in der Prosa. Sie fixiert ihre Verpflichtung, in dem schon genannten Sinn gegenwärtig zu schreiben. Sie un terstreicht, daß Gegenwart eigentlich kein Thema darstellt, das ja immer seine Umgrenzungen hat, sondern daß es sich dabei vielmehr um eine Haltung handelt, von der aus allein die Be wältigung dieses oder jenes Themas möglich ist. Von da aus ge sehen, würde ich gern Ihre grundsätzliche Meinung zu der
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Frage wissen, ob man dem Schriftsteller überhaupt Themen „vorgeben“ kann. Also, zur Frage der Themen. — Wir versammeln uns auf Kongressen, auf Konferenzen, wir treffen uns auf Ver sammlungen. Dort werden in dieser Hinsicht viele Aufrufe erlassen, der Art: Genossen, von uns erwartet das Thema des heutigen Dorfes seine Gestaltung, das Thema der Ar beiterklasse usw. Das ist im Prinzip schon alles richtig, aber vorläufig sind das nicht mehr als Deklarationen, Appelle. Für mich stellt sich die Sache so dar: das steht auf unserer allgemeinen Tagesordnung. Was gelangt auf die Tagesord nung? Die brennenden, aktuellen Fragen, die nach einer Lö sung verlangen und deshalb beredet sein wollen. Vor dersel ben Situation steht auch die Kunst. Hier steht als erster Punkt auf der Tagesordnung die Gestaltung der Arbeiter klasse. Gut, das ist richtig, denn das ist die Klasse, die den materiellen Reichtum, die Grundlage der Gesellschaft, her vorbringt und den größten Teil dieser Gesellschaft bildet. Die Tagesordnung nun ist das eine, aber die Redner sind das andere. Zu demselben ersten Punkt der Tagesordnung kön nen Hunderte und Tausende Redner sprechen, und jeder von ihnen hat seine Meinung und sein Verhältnis dazu. Hier ergibt sich eine sehr delikate Situation. Wir können die Ta gesordnung festlegen, aber nicht die Beiträge der Redner — der Künstler und Schriftsteller. Jeder muß für sich wissen und entscheiden, ob für ihn dieser oder jener Tagesord nungspunkt zutrifft, ob er zu Punkt eins vorbereitet ist oder ob der ihm fremd bleibt und statt dessen Punkt zwei, drei oder zehn der Tagesordnung seinem Naturell entsprechen. Das muß er selbst entscheiden. Wer sich für Punkt eins entscheidet, dem werden wir selbst verständlich dankbar sein und ihn unterstützen. Doch das heißt wiederum nicht, daß anderslautende Entscheidungen von geringerem Wert für uns sind. So zu denken würde so fort zu Vulgarisierungen führen, was durchaus zu beobach ten ist, bei uns, bei Ihnen und anderswo. Das führt dann
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dazu, daß Werke als erstrangige Leistungen ausgegeben werden, ohne danach zu fragen, was aus dem Thema ge macht wurde. Aber eben der zweite Teil der Frage ist ent scheidend, läßt man ihn außer acht, dann fällt ein Schatten auf die tatsächlich vorhandenen Leistungen. An ihnen kön nen wir uns freuen, aber schwache Leistungen muß man kri tisieren und zu bessern trachten. In unseren Literaturen gibt es viele Versuche, das Thema Ar beit und Arbeiterklasse 2u gestalten. Es gibt aber auch — man könnte das zitieren — die häufig geäußerte Meinung, die Be wältigung dieses Themas sei ungenügend, bereite -viele Schwie rigkeiten. Beim Nachdenken über die Ursachen kommt man auf die zu enge, eben lediglich thematische Fassung. Sie haben auf die Erscheinung des Vulgarisieren! hingewiesen. Mir scheint, es gibt aber auch noch andere Gründe. Einmal ist dieser Gegenstand, historisch gesehen, noch sehr jung. Zum anderen verbinden sich mit dem Thema gewichtige, weitverzweigte hi storische Prozesse und damit wiederum so schwerwiegende Be griffe wie der der historischen Mission der Arbeiterklasse. Man wird keinen dieser Gründe allein verantwortlich ma chen können, obwohl sie alle zusammen zu sehen nicht dazu führen darf, daß eine Art Anonymität entsteht, bei der man über konkrete Gründe nicht mehr spricht. Ja, ich stehe nicht an, zum wiederholten Mal zu erklären, wir befinden uns als Gesellschaft wie auch in der Kunst in einem frühen oder jun gen Stadium der Entwicklung. Was sind historisch gesehen schon fünfzig oder sechzig Jahre. Natürlich repräsentieren sie einen ungeheuren Fortschritt. Aber wir dürfen doch nie vergessen, daß wir etwas ganz Neues angefangen haben, et was, was noch nie da war. Dazu gehört im Praktischen wie im Theoretischen ein Ausmaß des Suchens, wie es bisher in der Geschichte unbekannt war. Das ist nicht weiter verwun derlich, wollen wir doch möglichst wenig Fehler machen. Aus diesem objektiven — und berechtigten — Umstand er klärt sich manche Vorsicht, manches Zögern. Mitunter geht die objektiv berechtigte Vorsicht in subjektives Vorsichtig
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sein über, was man auch mit Begriffen wie Feigheit ausdrük ken könnte. So gab es Auffassungen, die die Gestaltung un serer Probleme vom Standpunkt der Arbeiterklasse für un vereinbar mit der Herausarbeitung allgemeinmenschlicher Ideen hielten.. Wenn ich jedoch Marx richtig verstanden habe, so war für ihn die Befreiung des Proletariats historisch mit der Herausbildung des allgemeinmenschlichen Wesens verbunden, das freilich kein Abstraktum ist. Das Interes sante an unserer Zeit ist gerade, daß vor uns als reale Auf gabe steht, was vor mehr als hundert Jahren theoretisch kon zipiert wurde. Ich würde dem ein wenig widersprechen, was Sie über das Lastende der großen Worte gesagt haben. Si cher, wenn es nur Worte wären, träfe das zu. Aber es steckt in dem Wort, natürlich auch im real-historischen Prozeß, ja tatsächlich Größe. Was uns in unseren Werken über die Ge genwart oft fehlt, ist der wirklich große Atem, ist der Ver such, die wirklich ganz großen Ideen und Vorgänge aufzu greifen und sie mit künstlerischer Tiefe und Vielschichtig keit zu gestalten. Zu alldem kommt noch etwas anderes hinzu. Der Idealfall ist, man kennt, worüber man schreibt, ist mit ihm aufge wachsen. Thomas Mann hat über Lübeck als geistige Le bensform geschrieben. Das ist ein sehr treffender Ausdruck, „geistige Lebensform“. Dabei muß das nicht immer ein geo graphisch bestimmter Ort sein, obwohl auch für mich ein sol cher Ort eine bestimmende Rolle spielt, mein heimatlicher Ail Scheker. Doch es kommt nicht auf eine geographische oder sozial bestimmte Lebensform an, es kommt darauf an, daß sich unter dem Einfluß von Traditionen, eines bestimm ten gesellschaftlichen Milieus, praktischer und geistiger Er fahrungen, unter der Einwirkung der weltbewegenden Pro zesse, deren Zeuge und Teilnehmer einer ist, eben eine gei stige Lebensform herausbildet, die sozusagen der Mutterbo den ist, auf dem sich das Talent entfaltet. Hier hat jeder Autor verschiedene Quellen und Stränge, und jeder muß entsprechend seinen Möglichkeiten arbeiten, muß sich Re
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chenschaft darüber ablegen, was er zu leisten vermag und wo er überfordert ist. Werke, noch dazu bedeutende, über die Arbeiterklasse entstehen nicht durch noch so wohlge meinte Aufrufe, und auch Aufträge werden sie uns nur dann bescheren, wenn die inneren Voraussetzungen gegeben sind. So gesehen, ist die Entstehung ernsthafter Werke voll tiefem Realismus zu diesem wichtigen Thema eine Sache des allge meinen kulturellen Klimas in der Gesellschaft insgesamt, speziell auch in der Arbeiterklasse selbst. Das heißt, ohne die sicher notwendigen Beziehungen von Schriftstellern zu Be trieben usw. gering zu schätzen, müssen in viel stärkerem Maße die kulturellen, literarischen Potenzen im gesamten Volk gesucht und gefördert werden. Auch das ist keine An gelegenheit, die primär durch Aufrufe oder Schulungen ge löst werden kann. Ich habe den Ausdruck Klima nicht zufäl lig gebraucht. Ein günstiges Klima ist im großen wie im klei nen die entscheidende Voraussetzung für ein Aufblühen der Kunst. Wenn ich jetzt nach weiteren Themen, diefiirdie kommende Literaturentwicklung wichtig werden, frage, so geschieht das nicht in der Absicht, die Positionen eins bis zehn der Tagesord nung auszufüllen, möglichst nach der Rangfolge ihrer Wichtig keit. Aber wie steht es zum Beispiel mit der Umweltproblematik? Und wie, um etwas ganz anderes anzuführen, mit dem Sachfe tischismus, der andernorts auch Konsum- oder Verbraucherhal tung genannt wird? Beides sind sehr wichtige Themen für unsere Kunst. Ich will jetzt gar nicht im allgemeinen darüber sprechen, zumal wir das Umweltthema schon berührt haben. Sie wissen um die Vorgänge, die sich um den Baikalsee abgespielt haben. Na türlich haben dabei auch Spezialisten, Wissenschaftler eine Rolle gespielt, aber zu einer Volksangelegenheit wurde das in dem Augenblick, als die Kunst mit ihren spezifischen Mit teln sich des Problems annahm. Ich selbst habe mich vor Jah
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ren in einem Interview für die „Literaturnaja Gaseta“ für die Erhaltung der Naturschönheiten des Fergana-Tals einge setzt. Ich halte solches Engagement für selbstverständlich, mehr noch, hier zeigt sich konkret etwas von der Chance für Literatur, wie sie aus der jetzigen Weltsituation entspringt. Ähnlich wichtig ist auch das Aufgreifen der Verbraucherhal tung. Sie hat ja so viele Aspekte, daß wir das hier gar nicht erschöpfen können. Natürlich können wir eine solche Hal tung nicht gutheißen. Zugleich heißt das nicht, zur Askese aufzurufen. Die die materiellen Reichtümer erzeugen, ha ben logischerweise das Recht, sie auch in Anspruch zu neh men. Wo aber liegt die Grenze, wer legt fest, was Askese ist und was Verbraucherideologie? In die Frage spielt naturge mäß hinein, daß diese Haltung vom Westen als Element des Klassenkampfes benutzt wird. Wir müssen also zusätzlich ^noch die Grenze zwischen Abwehr feindlicher Einflüsse und eigenem Interesse finden. Weiter. In manchem unserer Län der, wozu das verschweigen, existiert noch ein Nachholebe darf in materiellen Fragen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich auch, daß es sich um ein Generationsproblem handelt. In der jüngeren Generation, für die Sozialismus und Wohlstand selbstverständlich sind, ist eine ganz andere psychologische Einstellung entstanden als in der älteren. Ich kann mir vor stellen, daß das bei Ihnen zu Hause bereits stärker ausge prägt ist als bei uns. Das sind nur einige Seiten der Sache, aber schon jede für sich genommen ist kompliziert genug. Nimmt man sie alle zusammen, zeigt sich, das ist einer der großen — hier im Sinne von: komplizierten, komplexen Gegenstände. Und auch hier erhebt sich wieder die Frage, welche Einzeldisziplin sich ihrer annehmen soll oder kann. Ich will die Literatur gar nicht über andere erheben, aber sie ist tatsächlich eins der wenigen Organe und zumindest im Augenblick am geeignetsten, solche Fragen aufzugreifen und zu behandeln. Das übrigens auch aus dem Grunde, weil niemand von ihr Rezepte, fertige Lösungen oder ähnliches erwartet. Ihre Sache ist es lediglich — und das ist nicht we
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nig! —, vor der Öffentlichkeit der Gesellschaft als Forum der Erörterung zu dienen. Was kann sie gegen die Einseitigkeiten von Askese oder Wohlstandsfetischismus für ein Kriterium stellen? Auf die Dauer, scheint mir, nur das der Vernunft. Vernunft verstehe ich nicht nur als ein Element unserer Weltanschauung, ich sehe in ihr auch ein Prinzip, das Verarmung verwirft und ge gen Verfettung einen Damm errichtet. Kommt es als Prinzip in der Literatur zum Tragen, wird sich damit wiederum ihr analytisch-fragender, ihr philosophischer Charakter verstär ken. Von welcher Seite wir die Sache immer angehen, im mer stoßen wir auf die neuen Anforderungen und die neuen Möglichkeiten der heutigen Prosa. Ich habe nach diesem Thema auch deshalb gefragt, weil es in unserer Literatur bisher kaum eine Rolle spielt, während ich weiß, daß es in der sowjetischen Literatur, speziell in der Dra matik, aber auch in der Prosa, zum Beispiel bei Trifonow, einen wichtigen Platz einnimmt. Über dieses Thema erfolgt nach meiner Beobachtung die Auseinandersetzung mit klein bürgerlichen Haltungen, die im Gefolge der Wohlstandssitua tion möglich sind. Nun haben Sie eben -vom Kriterium Ver nunft gesprochen. Das veranlaßt mich zu noch einer ThemenFrage, zu der nach der Gewichtigkeit des Gewissens, dies, wie Marx es -versteht: „... das Gewissen hängt mit dem Wissen und der ganzen Daseinsweise eines Menschen zusammen.“ [MEW, Bd. 6, S. 129-130.] Wenn in der Prosa die ganze Welt mitgedacht werden muß, wenn sich das Gewissen aus der gan zen Daseinsweise des Menschen ergibt, dann kann wohl Prosa ohne Erforschung des Gewissens nicht auskommen. Sie selbst haben mehrfach auf das Problem hingewiesen, zum Beispiel als Sie Dostojewski das Recht zusprachen, das Gewissen der Er niedrigten und Beleidigten zu sein. Und zum Abschluß der Dis kussion um den,, Weißen Dampfer“ haben Sie „das Problem des Gewissens als eine der wichtigsten Funktionen des Be wußtseins“ bezeichnet, „als eine der Eigenschaften, die den Menschen von allem anderen auf der Welt unterscheidet“.
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Es wäre vielleicht nicht richtig, die Frage des Gewissens als ein Thema der Literatur zu bezeichnen, denn Thema bedeu tet auch immer eine Grenze, die zwar weitgezogen sein kann, aber absteckbar ist. Die Frage des Gewissens in der Li teratur stellt sich dagegen bei jedem Thema. Sie ist ein inne res Prinzip der Literatur, weil sie sich auf immer andere Weise in jedem menschlichen Leben stellt. Gewissen ist, wenn ich es in einfachster Weise fasse, eine innere Bremse: Was ist erlaubt, und was ist verboten? Was ist schön, was ist häßlich? Einen Menschen umbringen, wenn du Gewissen hast, hat zur Folge, daß du dich danach selbst umbringst. Hast du kein Gewissen, kannst du danach ruhig schlafen. Und so in allen Fragen. Du kannst jemanden kränken durch ein unbedachtes Won. Hast du ein Gewissen, wirst du dich morgen bei ihm entschuldigen. Das sind elementare Erschei nungsformen von Gewissen. Darüber erheben sich große und größere Kategorien, soziales Gewissen — in der Fami lie, in der Gesellschaft, mit verschiedenen menschlichen Nu ancen. Deshalb kann die Literatur gar nicht anders, als stän dig Gewissensfragen aufzuwerfen und für das Gewissen ein zutreten. Doch eigenartig, wir verstehen alle, was das ist, Gewissen, wir sind alle dafür, alle sind damit ausgestattet, aber ständig ereignen sich Erschütterungen, nach denen sich die Mensch heit erschreckt fragt, wo das Gewissen geblieben ist. Kata strophen spielen sich ab, verheerende Schrecknisse. Sie füh ren uns auf uns selbst zurück, auf das Gewissen. Das Gewis sen ist das Ich. Mein Ich ist das Gewissen. Dieses Ich, wenn es Kontakt mit anderen aufnimmt, läßt sich dabei in erster Linie vom Gewissen leiten. Im Vergleich dazu sind dann die Sachbeziehungen schon sekundär, abgeleitet. Abgeleitet vom Gewissen, ergeben sich auch andere Eigenschaften wie Prinzipienfestigkeit oder Nachgiebigkeit, Höflichkeit oder Unfreundlichkeit. Sie alle werden vom Gewissen, dem Kern des Ich, bestimmt. So wie es in mir entwickelt ist, wird sich auch die Art meines Verhaltens zu anderen Individuen aus
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prägen. Logisch, daß es uns in Millionen von Varianten und konkreten Erscheinungsformen entgegentritt. Und Literatur und Kunst haben gerade dies von Anfang an zu einem Hauptgegenstand ihrer Sorge gemacht. Bei Dostojewski ist es Mitleiden und Anteilnahme, die er für die Erniedrigten empfindet und erweckt. Er hat die im Auge, die aus histori schen oder sozialen Ursachen niedergedrückt, die der menschlichen „Werte beraubt sind. Um die Würde des Men schen in anderen und in sich selbst zu erhalten, muß man verstehen, daß diese Würde nur dank einer Wechselwirkung existiert. Wenn ich die Würde eines anderen Menschen ver letze, muß ich mir nicht einbilden, meine eigene Würde bliebe unangetastet. Das alles gehört zur Sphäre des Gewis sens, und ich stehe auf dem Standpunkt, es gehört zu den heiligen Pflichten des sozialistischen Realismus, dafür zu kämpfen. Wenn dafür früher die Kirche, die Religion einge treten sind — jetzt ist das unsere Pflicht. Da dürfen wir keine Ruhe geben. Ich erinnere mich, kürzlich war in der „Literaturnaja Gaseta“ ein großer Bericht meines Freundes Arkadr Waksberg unter dem Titel „Hurrikan“. Eine Gruppe junger Touristen brach in die Berge auf. Unter normalen, alltäglichen Bedingungen waren das ordentliche Leute, ein Ingenieur, ein Laborant usw., sicher freundliche, entgegenkommende Menschen. Sie waren also unterwegs, hoch in den Bergen, als plötzlich ein Wettersturz erfolgte, ein Kälteeinbruch, Schneesturm. Un ter ihnen waren zwei Freunde. Im Sturm verlor einer den Halt, stürzte und hing am Seil über dem Abgrund. Er zeigte Gewissen. Er forderte die anderen auf, sich zu sichern und ihm dann zu Hilfe zu kommen. Die anderen aber dachten nur an sich, sie vergaßen ihn, er erfror. Als es den anderen endlich gelang, ein Feuer zu entfachen, verdrängten die Kräftigen die Schwachen vom Feuer. Hier erlitt das Gewis sen eine Niederlage. Über solche Erscheinungen schreiben wir oft, man darf sie nicht verschweigen. Da war plötzlich eine Situation entstan
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den, der sich jeder stellen mußte. Solche Prüfungen zeigen den Wert dessen an, was wir erreicht haben. Und wir müssen davon ausgehen, daß das Gewissen ständigen Prüfungen ausgesetzt ist. Kein Tag im Leben geht vorüber, an dem das nicht stattfinden würde. Man muß nur entsprechend bewußt leben. Nimmt man die größeren Maßstäbe, die Beziehungen zwischen Völkern und Gesellschaftssystemen, dann wird das eher sichtbar. Und manchmal kommt die Menschheit mit Würde davon, aber manchmal läßt sie Federn. Becher hat vom Schriftsteller verlangt, sich, wenn nicht in al len, so doch in mehreren Genres auszudrücken. Seine Begren zung in der Breite, so meinte er, könne auch eine Begrenzung in der Tiefe nach sich ziehen, es bleibe ihm selbst verborgen, was unausgeschöpft bleibt. Übrigens hat auch Gorki sinngemäß gesagt, ein professioneller Schriftsteller müsse alles können. Von Ihnen wissen wir, daß Sie sich mit Prosa und Publizistik, dem Essay, aber auch mit Dramatik und mit Literatur für den Film beschäftigen. Wie steht es mit der Lyrik, und was halten Sie von Bechers und Gorkis Auffassung? Ich meine, Becher und Gorki hatten recht, denn im Idealfall ist es natürlich gut, wenn der Schriftsteller sich in vielen Genres auszudrücken vermag, wenn er wie der vielarmige Shiva in der Lage ist, mit einer Hand Prosa zu schreiben, mit der anderen Dramatik und Publizistik, mit der dritten Es says, Memoiren usw. Das ist vergleichbar der Situation eines Menschen, der viele Sprachen kennt. Mit ihrer Zahl wächst die Möglichkeit, die Welt aufzunehmen und sich mitzutei len. Das alles unter einer Bedingung. Er darf keine NiveauUnterschiede zulassen. Wenn er ein Hansdampf-in-allenGassen ist und alles, was er schreibt, an der Oberfläche bleibt, dann sollte er sich auf eins beschränken und dies gründlich tun. Was mich selbst betrifft, so würde ich nicht sagen, daß ich sonderlich gewandt bin. Aber was ich anfasse, versuche ich gewissenhaft zu machen. Mein erstes Feld ist die Prosa. An zweiter Stelle steht schon die Publizistik — Ar tikel, Reden, Interviews. Das Interview hat sich für mich zu
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einer Art Genre entwickelt, weil ich sehr oft — oft auch ge gen meinen Willen — in diese Lage komme. Aber wie Sie si cher feststellen konnten, nehme ich es sehr ernst. Um es noch einmal zu sagen, im Prinzip kann es nur von .Vorteil für den Autor sein, wenn er viele Genres beherrscht, auch die Lyrik... ... Sie haben keine Gedichte geschrieben? Nein, niemals. Zu jeder Sache muß man sich ernst verhalten, man muß seine Grenzen und Möglichkeiten kennen. Ich schreibe keine Gedichte und träume auch nicht davon, wel che zu schreiben. In der Inszenierung des Moskauer „Sowremennik“ habe ich Ihr Stück „Der Aufstieg auf den Fudschijama“ gesehen. Von der Inszenierung hatte ich den Eindruck, sie reiche an das Niveau der literarischen Vorlage nicht heran. Sie geben hier Ihren subjektiven Eindruck wieder, bei ande ren kann das durchaus anders sein. Für mich hat sich bei die ser Gelegenheit die Dramatik als eine höchst eigenartige Sa che herausgestellt. Um beim Äußerlichen anzufangen, der Text umfaßt nicht mehr als siebzig Seiten, aber um sie herum entfalten sich dann Scherereien, die für siebzig Werst ausreichen — all diese Instanzen, der Lärm, die Vorbereitun gen, Proben usw. Danach beschloß ich, mich nie wieder da mit zu befassen. Auch im vorliegenden Fall handelte es sich ursprünglich um Material für einen Kurzroman. Als das Theater mich drängte, habe ich den Stoff meinem Freund, dem kasachischen Dramatiker Kaltai Muhamedshanow, er zählt, der dann zu meinem Mitautor wurde. Er schrieb eine erste Variante nieder, die habe ich ins Russische übersetzt. So haben wir uns gegenseitig ergänzt, und es entstand das Stück. Während der Arbeiten an der Inszenierung stießen wir auf alle möglichen Schwierigkeiten, so daß der Gedanke aufkam, mich nicht weiter damit zu beschäftigen. Dann aber, als ich in Amerika war und im Washingtoner Theater „Arena Stage“ die Premiere stattfand, als ich sehen konnte, wie die Zuschauer eines so fernen Landes, einer an
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deren „Welt das Stück aufnahmen, wie es sie bewegte, wieviel Nachdenklichkeit es in ihnen hervorrief, überdachte ich meinen Entschluß. Vielleicht war mein Gedankengang doch nicht richtig. Solche Erlebnisse beweisen, daß die Sache durchaus wert ist, sich damit zu beschäftigen. Wenn auch vorläufig Zeit und Hände nicht ausreichen. Da wir schon mehrfach die Frage der verschiedenen Entwick lungsetappen der sozialistischen Kunst und damit im Zusam menhang auch die Frage nach dem Fortschritt berührt haben, möchte ich an dieser Stelle eine der angekündigten Fragen ein ßigen, nämlich die von Henryk Keisch: Mit den Worten Fort schreiten, Fortschritt, sagte er, verbinden wir in der Regel et was Positives. Die Frage ist, ob alles, was wir in der Geschichte beobachten, wirklich ein Fortschritt ist. Wenn er in der Tech nik meßbar ist, so fragt es sich, ob das auch in bezug auf den Menschen gesagt werden kann. Ihr Freund Keisch ist offenbar ein kluger Mensch, denn er hat eine ebenso schwierige wie wichtige Frage aufgeworfen. Wir wissen, die wissenschaftlich-technische Revolution führt nicht nur zu einer Umwälzung in Technik und Wissen schaft, sondern auch der übrigen Verhältnisse. Vor dem Menschen taucht daher das Problem auf, wie er sich zu die sen neuen Erscheinungen verhalten soll. Erstens trägt die wissenschaftlich-technische Revolution eine sehr kräftige Dosis Rationalismus in unser Leben. Müssen wir uns dem unterwerfen? Müssen wir Gefühle, Emotionen einbüßen und uns dem Rationalismus ausliefern? Diese Frage erhebt sich doch. Zweitens, die wissenschaftlich-technische Revo lution hat ein moralisches Zurückbleiben bloßgelegt. Die Menschheit bleibt in sittlicher Hinsicht hinter den Leistun gen zurück, die sie mit Hilfe ihres Verstandes und ihrer Hände vollbringt. Es entsteht eine Kluft. Unsere kosmische Epoche, da der Mensch den Fuß auf den Mond setzt, da Automaten Bodenproben von unerforscht weiten Sternen holen, da die Macht des Menschen ungeahnt wächst, eilt voran. Man möchte meinen, da darf es schon kein Verbre
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chen mehr geben, keine selbstsüchtigen Interessen, kein Ge fühl für Rache oder Ärger. Wie Götter müssen sich die Men schen fühlen. Was aber geht tatsächlich auf der Welt vor? Die Kriminalität steigt überall, die Sitten verfallen. Viele sind von Unruhe erfaßt, wie es weitergehen wird, warum der Mensch sich von so abscheulichen Seiten zeigt. Natür lich hat jede Gesellschaft ihre guten Seiten und streicht sie auch heraus. Tatsächlich aber ist diese Unruhe vorhanden. Stellen wir die Frage zum Beispiel so: Der alten Generation, wie ich sie noch aus meiner Kindheit kenne, würde ich heute mehr vertrauen als meinen Zeitgenossen. Warum? Sie hatte sich ihre Ganzheit stärker bewahrt, bei ihr galt Gewissen, Reinheit noch etwas. Natürlich hatte sie ebenfalls ihre Pro bleme, ihre Fehler. Aber was sich jetzt abspielt, versetzt mich stärker in Unruhe. Ich weiß, das hängt von vielen Ursachen ab, von historischen, sozialen, persönlichen, alltäglichen ... Aber das macht einem die Sache nicht leichter! Die Unruhe darüber ist permanent da, wie der Weg zum Menschen zu finden ist, wie es gelingt, ihn zu überzeugen, daß er an sich selbst mit Achtung denkt. Wenn er das nicht tut, läßt er sich gehen, verliert sein Gewissen, kann in den Abgrund des Ver brechens geraten. Mir scheint, das ist ein Grund, Literatur zu machen. Richtig, Literatur und Verteidigung der Sittlichkeit sind so gut wie Synonyme. Das läßt mich gleich zu einem dazugehörigen Problem kom men. Kann oder muß man gar von der Literatur verlangen, Modelle zu gestalten?Ich habe keine Utopien im Auge,'aber ist es nicht Sache der Literatur, gerade wenn es um Sittlichkeit geht, bestimmte Modelle, wünschenswerte Zustände zu gestal ten, die dem Volk zur Debatte und Beurteilung überantwortet werden, in deren Verlaufsich Neigungen und Wünsche artiku lieren, die als feststehende Größen in die Zukunftsplanung der Gesellschaß aufgenommen werden könnten? Auf diese Weise würde sich nicht nur konkretisieren, was als neue Funktion der Literatur in unserer Gesellschaft bezeichnet wird, es würde sich
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auch — was bei uns sehr notwendig wäre — die öffentliche Au torität der Kunst heben. Es gibt ein ganzes System von Faktoren, die in dieser Hin sicht wirken: Administration, Presse, Rundfunk, Fernsehen. Das alles sind ihrer Natur nach massenwirksame Faktoren. Außer ihnen aber existieren intim wirkende Agenzien. Die Literatur gehört zu ihnen. Sie spricht den Menschen unmit telbar an. Da sie neben der individualisierenden Seite immer auch allgemeine Fragen angehen muß, wird sie ohne Mo delle nicht auskommen. Da wir nun schon begonnen haben, die Fragen Ihrer Freunde zu behandeln, wollen wir doch damit fortfahren. Ich bekenne, daß mir der Einfall gefällt, und bin neugierig auf die Fragen. Sehr gern. Ich beginne mit einer scherzhaften Frage mit ernstem Hintergrund. Herbert Nachbar fragt, warum Sie noch nicht den Nobelpreis erhalten haben. Ich habe darüber noch nie nachgedacht. Wenn aber meine Freunde — wie Herbert — darüber nachdenken, dann möchte ich ihn fragen, warum das so ist. Die große Frage ist doch, ob ich seiner würdig bin. Darüber müßte er erst nach denken. Wie ich ihn kenne, ist die Frage nicht nur das Resultat von Nachdenken, sondern auch seiner Überzeugung. Lassen wir den Punkt, ich möchte nur sagen, mir gefällt der Ton dieses freundschaftlichen Scherzes. Ich mag Scherze, um so mehr, wenn es sich um so freundliche handelt. Ich möchte ihn deshalb herzlich grüßen. Das Leben wird zeigen, wie das endet. Herbert Nachbar hatßir alle Fälle noch eine Frage mitgegeben, hat aber ausdrücklich gebeten, sie nicht im autobiographischen Sinn zu verstehen: Wie weit prägt Ihre Kindheit Ihre Kinderfi guren? Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich habe dazu auch in dem erwähnten Interview einiges gesagt. Es heißt dort unter an derem: Die Eindrücke aus der Kindheit und Jugend sind
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wirklich sehr wichtig für das schöpferische Leben des Schriftstellers. Das ist jene reine Quelle, ist der Brunnen, aus dem er ständig Gedanken, Bilder, die Erinnerung an Men schen schöpft. Kindheit und Jugend, das sind die Jahre, in denen sich die Disposition für die Aufnahme der Schönheit dieser Welt entwickelt... Nebenbei bemerkt, darüber, wie wichtig für den Schriftsteller die Kindheitsjahre sind, wurde viel geschrieben, hier werden wir Amerika nicht mehr ent decken. Die Kindheitseindrücke bleiben fürs ganze Leben. Ich habe exotische Länder besucht, von denen ich schon als Junge geträumt habe — Afrika, Indien. Ich war bestrebt, so viel wie möglich zu sehen, zu verstehen. Aber heute, bei dem Versuch, über das Gesehene zu erzählen, muß ich das Ge dächtnis anstrengen, muß Bilder heraufrufen. Natürlich hätte dieses Fremde, schon im reiferen Alter Gesehene mir näherkommen können. Aber dafür hätte es mich von Kind heit an umgeben müssen. Es müßte Heimat sein. Das Wort Heimat brauche ich auch heute nur zu hören, und schon taucht in meinem Bewußtsein ungewollt die Heimat meiner Kindheit auf, sofort und unwillkürlich ... Und dieses Land meiner Kindheit wird mir niemals über, immer ist die Erin nerung daran frei und unbeschwert. Besonders anschaulich macht sich das vielleicht in meiner letzten Erzählung, „Frühe Kraniche“, bemerkbar. Alles das, was meine jungen Helden erleben, steht so oder anders in Beziehung zu mir, zu meiner Lebenserfahrung. Was nicht heißt, daß sich das auch auf die konkreten Situationen er streckt. Sie waren anders. Aber trotzdem, die Quelle dafür ist die Kindheit. Wenn man so will, die Kindheit tragen wir immer mit uns, wenn wir genau hinsehen. Sie formt die zu künftige Persönlichkeit, sie bildet — wie bei den Genen — bestimmte Anlagen für die Zukunft heraus. Alles, was der Mensch in der Kindheit erfährt und erleidet, alle Schmer zen, aller Kummer und alle Entdeckungen bleiben ihm für immer erhalten. Sie sind der Nährboden für die Phantasie, für Erinnerungen und menschliche Beziehungen, sie bilden
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so die eigentliche Wirklichkeit seines Lebens. Eben, auf der Fahrt hierher, sah ich auf der Straße ein junges Paar, ein Mädchen, einen Jungen, offensichtlich glücklich. Sie waren allein, der Tag so klar und rein. Ich freute mich für sie, aber zugleich befiel mich Trauer über meine Jugend. Ich dachte an die Zeit, da ich auch so ging. Aber damals war ich noch dumm, ich kannte noch nicht den Wert all dessen, ich war noch wie in Fesseln, unbeholfen, und mir war der Genuß nicht bewußt, der in dieser Entrücktheit und Intimität liegt. Ich dachte über den Jungen nach, darüber, daß er leider noch viel wird erleben müssen, um, sich erinnernd, Leid und Freude zu begreifen. Inge Janke fragt Sie: Wie arbeiten Sie? Planen Sie ein Werk über eine lange Zeit, betreiben Sie eine systematische Vorberei tung, oder arbeiten Sie spontan, intuitiv? Jedes neue Werk ist ein Neuanfang. Irgend jemand hat sehr richtig gesagt, ein Schriftsteller ist immer ein anfangender Schriftsteller. Er kann schon viele Erfahrungen haben, er kann soeben ein großes Werk abgeschlossen haben, trotz dem ist er, sagen wir, vor jeder neuen Erzählung ein Neu ling. Denn jedes neue Werk entsteht auf eigene Weise. Manchmal geht das wirklich spontan zu, intuitiv, ausgehend von einem Wort, einem Laut, einer Einsicht entstehen be stimmte Bilder, und sie rufen andere Erfahrungen ab. Manchmal entsteht eine poetische Idee auch auf logischem Weg, durch Nachdenken, durch Analyse der Wirklichkeit und das Bemühen, ihren tieferen Gehalt aufzudecken. Ich weiß nicht, ob eins schlechter ist und das andere besser. Mir scheint, jedesmal, wenn ein Vorhaben Gestalt annimmt, zeugt das davon, daß da noch Früchte zu erwarten sind, daß Potenzen da sind. Das Schreiben wird von vielen Autoren als Erkenntnisprozeß angesehen. Wissen Sie am Beginn immer schon, was am Ende herauskommen wird? Eigentlich weiß ich das, nicht immer freilich. Natürlich erge ben sich im Schreibprozeß Veränderungen, Korrekturen.
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Aber im Prinzip sollte der Autor wissen, warum und wozu er schreibt. Ich muß schon wissen, wenn ich mich von diesem Punkt abstoße, wohin ich gelange. Das schließt Zickzackbe wegungen oder Abweichungen vom Wege nicht aus, die auch mit neuen Erkenntnissen verbunden sein können. Zwei Kollegen haben gebeten, Sie zum Verhältnis von Litera tur und Film zu fragen, Friedel Wangenheim: Was halten Sie von der filmischen Umsetzung der nach Ihren Werken gedreh ten Filme? Und: Beabsichtigen Sie einen Stoff originär für den Film—also ohne den,, Umweg „über die Prosa — zu schreiben? Zunächst einmal möchte ich sagen, daß Werke von mir oft verfilmt wurden. Mein Verhältnis zu den einzelnen Ergeb nissen ist differenziert, wenn sie gut sind, freue ich mich, und ich bin traurig, wenn es anders ist. Aber es ist meine Überzeugung, daß man eine Vielzahl von Versuchen unter nehmen muß. Das ist wie im Sport. Ehe der Hochspringer eine bestimmte Höhe überspringen kann, muß er es hun dertmal versuchen. Jeder wird verstehen, daß dies ein pri mitiver Vergleich ist, aber auch bei Verfilmungen muß man viele Versuche anstellen, um zum Erfolg zu kommen. Mit den Versuchen wächst die Erfahrung, und dann stellt sich plötzlich Erfolg ein, es kann sogar passieren, daß die Erwar tungen übertroffen werden. So war es mit dem „Weißen Dampfer“. Unter der Regie von Bolot Schamschijew ist das nach meiner Überzeugung und auch nach Meinung vieler anderer ein großer Erfolg des kirgisischen Films geworden. Freilich, hätten wir uns davor hingesetzt und nichts getan, als uns den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es gut wird oder mißlingt, ob wir es versuchen sollen oder nicht, dann wäre uns das vielleicht nicht gelungen. Man muß also immer wie der denselben Punkt anvisieren, muß probieren, immer mit dem Ziel, eine äquivalente und vielleicht sogar eine mehr als äquivalente Umsetzung in die Sprache des Films zu finden. Dann tritt ein, daß die Literatur ihr zweites Leben enthält, ein Leben auf der Leinwand, das dem Buch weitere Hori zonte eröffnet.
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Da es hier um das Verhältnis von Literatur und Film geht, möchte ich, weil ich den Vergleich für wichtig halte, einen Satz aus Ihrem Interview in „Woprossy Literatury“ einfügen. Es heißt dort: „Wenn der heutige Film einem Schiff vergleichbar ist, mit Masten, Rudern und den dazugehörigen Ausrüstungen, dann ist die Literatur der Motor dieses Schiffs. Besonders heute.“ Ich finde den Vergleich deshalb so treffend, weil er ins Bewußtsein rückt, was häufig vergessen wird: Beide zusammen vervielfachen die Möglichkeiten, eins ohne das andere ist nicht denkbar. Doch von der Frage ist noch ein Teil offen, wie steht es mit einem Originalstoff für den Film? Das steht vorläufig noch nicht in meinen Plänen, und wenn, dann stelle ich mir das nur in Form einer Mitautorenschaft vor, zusammen mit meinen Freunden. Da haben wir freilich ein ganz großes Vorhaben, einen Film über TschinggisChan. Das ist nur als gigantischer Mehrteiler vorstellbar. Es existiert eine Konzeption, wie die Sache anzupacken wäre. Unsere Idee läuft darauf hinaus, zu zeigen, daß kein einzi ger großer Feldherr und Eroberer in der Lage war, sein Ziel zu erreichen. Letzten Endes zerstören sich alle diese Versu che selbst, denn hier wirkt die Kraft des Bösen und nicht des Guten. Das gibt natürlich nur eine sehr oberflächliche Be schreibung, ich wollte lediglich andeuten, wir haben diese Idee und eine Konzeption, wir denken nach, sind aber vor läufig noch mit anderen Arbeiten befaßt. Das wird ein Origi nalstoff werden, der vollständig unter dem Aspekt des Films erarbeitet wird. Noch eine zweite Frage, die von Ruth Herlinghaus stammt: Wie sehen Sie das Verhältnis von Literatur und Film? Was bedeutet Literatur für den Film und was Film für die Litera tur? Auch eine interessante Frage. Zu ihr habe ich mich schon mehrfach geäußert. Literatur und Film stehen heute in sehr enger Wechselbeziehung. Die weitere Entwicklung läuft offensichtlich darauf hinaus, daß sie in sehr enger Tuchfüh lung miteinander leben werden. Sie kommen ohne einander
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nicht aus. Das betrifft besonders den Film, der in starker Ab hängigkeit von der Literatur steht. Warum? Weil die echte Filmkunst bestrebt ist, eine gedankenreiche Kunst zu wer den. Sie will nicht einfach eine Abbildung von Bewegungen, sie will die Gedanken, das Innenleben des Menschen entdek ken. Dafür aber ist eine große Literatur notwendig. Die Er fahrungen des Films auf der ganzen Welt zeigen, daß das der Weg ist. Die besten Leistungen des Films sind immer irgendwie mit Literatur als Quelle verbunden. Deshalb müs sen wir ins Kalkül ziehen, daß diese Tendenz in Zukunft zunehmen wird. Wenn wir an die Prozesse in der Prosa den ken, über die wir gesprochen haben, stellen wir fest, es han delt sich um Prozesse, die parallel verlaufen und sich wech selseitig durchdringen. Sicher muß es auch Filme zur Unterhaltung des Zuschauers geben. Aber in allen Künsten — übrigens auch auf theoreti schem Gebiet — muß es fortgeschrittene Kräfte geben, sol che, die ernsthaft neue Wege abstecken. Verschiedentlich haben Sie über den Platz des Krieges in Ihren Werken gesprochen. Ihre Absicht in „Frühe Kraniche“ war es, nicht den Krieg selbst zu gestalten. Aber er ist, wie Sie sagten, anwesend. Das charakterisiert wohl überhaupt seinen Platz in Ihrem Werk. Vielleicht kann man damit die Frage von Helmut H. Schulz verbinden. Er erinnert sich an eine Rede, in der Sie darüber gesprochen haben, daß wir in unserer Kunst ein neues Verhältnis zur Tragödie brauchen. Seine Bitte geht dahin, et was näher zu erläutern, worin Sie diese Notwendigkeit sehen. Mein Ausgangspunkt dabei ist allgemeiner Natur. Das ist eine sehr große Frage der Kunst. Wir müssen davon ausge hen, daß das Leben neben Freuden, Bejahung und Optimis mus immer auch die menschliche Tragödie in sich birgt. In ganz verschiedenen Formen, in großen und alltäglichen. Als Tragödie der menschlichen Persönlichkeit, die sich mitunter sogar unabhängig von den konkreten Bedingungen ereignen kann. Entweder findet der Mensch seinen Platz, seine Berufung
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im Leben, trifft auf Menschen, mit denen er eins wird, eine geistige Einheit bildet, oder er findet all dies nicht. Tragö dien können auch im großen Maßstab auftreten, als Kriege, als Ereignisse der Natur, Katastrophen ... Doch all das bleibt noch an der Oberfläche. In der Tiefe liegt die Tragödie des Menschen selbst. Der Mensch wird geboren, nimmt seinen Lebensweg und muß ihn vollenden. Darin liegt die größte Tragik beschlossen, und wir haben nicht das Recht, das aus unserem Denken auszuschließen, obwohl wir uns darüber mit allem mögli chen Zuspruch hinwegtrösten. Aber wenn wir ehrlich dar über nachdenken, ist der Mensch seiner ganzen Anlage nach tragisch bestimmt. Die Welt verlassen zu müssen ist für ihn selbst und für andere tragisch. Das ist eigentlich die elemen tare Begründung dafür, daß das Tragische zum menschli chen Wesen gehört. Betrachten wir nur die Meisterwerke der Weltliteratur, Shakespeare oder Tolstoi, dann haben wir es mit Tragödien zu tun. Soviel vielleicht heute zu diesem Problem. Haben wir nun die Fragen Ihrer Freunde beantwortet? Nein, es ist noch eine geblieben, die von dem mir am nächsten stehenden Menschen stammt, von meiner Frau. Das finde ich sehr schön. Als ich sie fragte, sagte sie sehr spontan: Lenin hatte die Idee von einer proletarischen Weltkultur. Sie möchte gern von Ih nen hören, welchen Stand wir bei der Verwirklichung dieser Idee erreicht haben. Die Ideen von einer Weltgemeinschaft und einer Weltkultur gehören vielleicht überhaupt zu den bedeutendsten der Menschheit. Lenin hat sie ausgesprochen. An das Durchden ken dieser Probleme muß man sicher schöpferisch herange hen. Zum Beispiel heißt das ja nicht, daß alle nur eine Spra che sprechen werden, ein und dieselben Lieder singen. Die künstlerische Kultur kann und wird nicht überall die gleiche sein. Gemeint sind damit sicherlich die allen gemeinsame Tendenz und die Prinzipien des Humanismus. Ich jedenfalls
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sehe die Menschheit auf diesem Weg — einem schweren Weg, qualvoll, nicht ohne Fehler. Aber von verschiedenen Seiten streben wir alle diesem Ziel entgegen. Und ich denke auch, die sozialistische Gesellschaft, die sozialistische Ge meinschaft ist der Beginn, ist das erste Operationsfeld, von dem aus die Arbeit zur Verwirklichung dieser allgemein menschlichen Kultur in Angriff genommen wird. Ich will mich jetzt nicht an dem Wort proletarisch reiben. Wenn es eine allgemeine, umfassende Kultur sein wird, wird sie das proletarische Moment in sich einschließen. Damit sind die Fragen meiner Genossen und Freunde behan delt. Nun möchte ich zu einer anderen Frage kommen. Welche Bedeutung messen Sie der Literaturkritik, dem Meinungsstreit zu? Wir haben bei uns die Diskussion zum,, Weißen Dampfer“ veröffentlicht, die in der „Literatumaja Gaseta“ geßihrt wor den ist. Ich könnte auch andere Beispiele nennen. Das hat bei uns großen Eindruck hinterlassen, weil hier ruhig und sachlich unterschiedliche Meinungen mit gegenseitiger Achtung ausge sprochen wurden. Mir scheint, wenn man ein Kunstwerk auf eine Meinung festlegen will, widerspricht das dem Wesen der Kunst. Ich denke, es gehört zum normalen und natürlichen Ent wicklungsprozeß der Kultur und Kunst, wenn über ihre Werke diskutiert wird, wenn debattiert und gestritten wird, auch um einzelne Werke. Mir scheint, es muß die Möglitfh keit geschaffen werden, die verschiedenen Standpunkte zu äußern. Das schließt nicht aus, daß zum Schluß, wenn alles ausgesprochen ist, wenn man einen Überblick hat, irgendwer — eine Redaktion oder eine Persönlichkeit — es auf sich nimmt, sozusagen die Summe zu ziehen. Aus den vielen Standpunkten sollte das Dominierende abgeleitet werden. Wenn das wirklich ein fruchtbarer Vorgang war, wird es der weiteren Entwicklung dienlich sein, wird dem Neuen, das in dem entsprechenden Werk enthalten ist, helfen, sich durch zusetzen. Leere Wongefechte und Streitereien werden von selbst einschlafen. Es ist natürlich nicht wünschenswert,
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über Werke der Kunst einhellige Meinungen herbeiführen zu wollen. Sobald ein Werk zum Muster- oder Lehrbuch ge macht wird, ist das sein Tod, sei es auch noch so talentvoll geschrieben. Es stirbt, weil ihm der Zusammenstoß der Mei nungen fehlt, aus dem jene Funken springen, die das Werk lebendig erhalten. Ich erinnere mich an einen Meinungsaus tausch über ein bedeutendes Werk der russischen Literatur, das „Igorlied“. Darüber gibt es, wie über viele große Werke, eine ganze Wissenschaft. Nun gibt es Leute, die meinen, man könne es nur im positiven Sinne auslegen, da sei nichts strittig, da könne es keine verschiedenen Meinungen geben, denn das sei ja ein Werk, das sich bewährt habe. Es gibt aber auch einen anderen Standpunkt, der sich bemüht, jedem Wort, jedem Bild immer neue Bedeutung abzugewinnen, in dem die verschiedensten historischen Tatsachen, Meinun gen und Interpretationen in die Betrachtung einbezogen werden. Ich ziehe diesen zweiten Standpunkt vor, weil er das Werk zu leben zwingt, es geistig lebendig erhält. Wenn es dagegen unstrittig, makellos, für vollkommen genommen wird, ist es ein Muster, wird museal. So geht es jeder Literatur, die diese Art von Anerkennung erhält, zu der niemand mehr eine Meinung, geschweige denn eine strittige, vorbringt. Das kann auch dem genialsten Werk schaden. Der Zustand der Literaturkritik und des öffentlichen Gesprächs über Literatur hängt — wie die Literatur — wohl aufs engste mit der gesellschaftlichen Situation insgesamt zusammen. Franz Fühmann formulierte auf dem VIII. Schriftstellerkongreß der DDR sinngemäß, Literaturkritik müsse Gesellschaftskritik ein schließen. Man kann nicht erwarten, daß die Literaturkritik wie eine Insel mitten aus einem Meer von Glätte hervorgeht. Die Literatur selbst ist ohne kritisches Verhältnis zur Wirklich keit nicht denkbar. Mir scheint, das Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit ist — wieder einmal — zum entscheidenden Pro blem des Kunstfortschritts geworden. Hier sind, glaube ich, einige Fragen herangereift, über die wir sprechen müssen.
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Auf einen Aspekt hat Franz Fühmann kürzlich hingewiesen. Er sprach von seinen Beobachtungen unter Bergarbeitern. Unter sich sprechen sie eine Sprache — treten sie ins Zimmer des Chefs, wird sie sofort anders. Unter sich haben sie einen Um gang, sind sie auf der Versammlung, verabschieden sie einen Beschluß, ändert sich alles, ihre Gesten, ihr Gebaren, ihre Hal tung. Es sei, als wechselten sie von einem Medium ins andere. Es sei wie mit dem Stock, der ins Wassergehalten wurde, wo er zu sein scheine, ist er nicht, und da, wo er ist, scheine er nicht zu sein. Es gebe in unserer Wirklichkeit so etwas wie zwei Wirk lichkeiten, was durchaus nicht ohne Beunruhigung zu konsta tieren sei, wenn man an unsere Persönlichkeitsauffassung denke. Der Versuch, das Verhältnis der Kunst zum wirklichen Le ben tiefer zu erklären und zu analysieren, die ganze Wirk lichkeit einzubeziehen, das ist sicher eine der interessante sten Fragen, um Glaubwürdigkeit und Wahrheitstreue der Kunst festzustellen. Es ist doch so, nicht die gesamte Wirklichkeit, nicht das ganze Leben, das wir spontan wahrnehmen, kann meines Erachtens zum Gegenstand der Kunst werden. Wahrschein lich sogar bei weitem nicht. Wahrscheinlich gibt es be stimmte Erscheinungsformen des menschlichen Lebens und der Wirklichkeit, die sehr plastisch sind, die mit ihren Far ben und Bildern wie von selbst zur Darstellung durch die Kunst drängen. Sobald wir versuchen, bestimmte Grenzen zu überschreiten, verletzen wir das Wesen der Kunst. Mir scheint, für verschiedene Lebenssphären gibt es auch ver schiedene Kunstmittel. Niemand wird auf die Idee verfallen, die Mittel des Balletts zu benutzen, wenn ein Arbeiter das Zimmer des Direktors betritt, um über seine Arbeitserfolge zu berichten. Das Ballett hat eben seine Sphäre, sein Ele ment — Legenden, Märchen, den Ausdruck von Gefühlen» die nicht in dem Sinne konkretisiert werden, daß sie mit dem oder jenem Beruf zusammenhängen. Oder es gab bei uns den Versuch, in der Oper einen Politiker Theorien singen
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zu lassen, in Arien wurden Thesen über die Bedeutung der Revolution unterbreitet. Das war natürlich blühender Un sinn. Was Sie von Fühmann erzählt haben, das gehört schon in das Gebiet, wie sich Menschen geben, aufführen, betragen. Das charakterisiert ihre Psychologie, ihre Anpassungsfähig keit, ihr Vermögen, sich auf private und gesellschaftliche Si tuationen einzustellen. Wenn man zum Beispiel das Leben von Bergleuten gut kennt, ihre Bräuche, ihre Arbeit, ihren Charakter, dann weiß man auch, wenn sie arbeiten und mit einander verkehren, ist das eine Sache. Da wird anders ge sprochen, da kommen Flüche vor, jemand wird zum Teufel geschickt. All das ist normal. Dieses Stück Leben kann Ge genstand von Kunst werden, und der Künstler kann es ge stalten, nicht indem er es naturalistisch abfotografiert, son dern indem er diese Atmosphäre einfängt. Kommen diesel ben Leute in eine andere Situation — eine Versammlung, eine Diskussion über gesellschaftliche Fragen —, dann glaubt man plötzlich, andere Menschen vor sich zu haben. Dafür habe ich Verständnis, das kann wohl nicht anders sein. Zu Hause in der Familie, das ist eine Sache, im Dienst eine andere. Noch anders ist es, wenn wir verantwortungs volle gesellschaftliche Dinge wahrnehmen. In jeder Sphäre kann unser Verhalten „wahr“ sein, aber jede dieser Wahr heiten verlangt ein anderes Verhalten. Zu Hause kann ich mich leger verhalten, und darin steckt eine angemessene Wahrheit. Die Situation in einer Diskussion verlangt von mir Verantwortung, also ein anderes Verhalten mit der ihm angemessenen Wahrheit. Das geht so weit, daß ich mich an ders bewege, meine Gedanken anders formuliere, ich ziehe die Reaktion meiner Zuhörer ins Kalkül, meine Worte wähle ich, um mein Ziel zu erreichen. Alles das ist normal. Aber außerdem kann es durchaus noch zusätzliche Faktoren geben, die der Künstler sehr aufmerksam analysieren und klären muß. Dabei stellt sich dann — möglicherweise — her aus, daß es tatsächlich zwei Wirklichkeiten gibt. Vielleicht
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ist die eine die falsche? Oder sie ist heuchlerisch? Oder sie ist die Vorzeige-Wirklichkeit, die, in der etwas zur Schau ge stellt werden soll? Ich möchte vor allem zur dritten Art etwas sagen. Ja, in un serem gesellschaftlichen Leben, darin, wie die Eirizelpersön lichkeit sich gegenüber der Gesellschaft in Szene zu setzen versucht, kann man durchaus Züge von Zurschaustellung antreffen. Ich meine, das ist kein Charakteristikum, welches nur auf unsere Gesellschaft zutrifft, das hat es auch in frühe ren Zeiten gegeben und gibt es in anderen Gesellschaftsord nungen. All das ist recht kompliziert, um so mehr, als dabei auch soziale Momente eine Rolle spielen können. Sie kön nen dem Menschen die eine oder andere Haltung diktieren. Auch darüber muß gesprochen werden, durch die Einbezie hung solcher Erscheinungen kann ein höherer Wahrheitsge halt in der künstlerischen Gestaltung erreicht werden. Un terlassen wir die Analyse dieser Seite, obwohl wir doch alle von ihrer Existenz wissen, fügt das dem Realismus unserer Kunst Schaden zu, werden wir den Leser nicht überzeugen. Kunst duldet in dem Sinn keine Willkür, sie kann nicht die unbequemen Seiten einfach weglassen. Jeder weiß das aus eigener Erfahrung. Man braucht nur vor eine große Ver sammlung zu treten, schon laufen die Gedanken anders, man braucht eine bestimmte Terminologie, die Darlegung der Gedanken folgt gewissen Formen. Sie haben die soziale Seite der Sache erwähnt. Es gibt praktisch wirkende Faktoren, die bestimmte Verhaltensmusterprägen. Das sind dieselben Erscheinungen, die in einzelnen Teilen der Gesellschaft so etwas wie soziale Hierarchien entstehen lassen. Nehmen wir zum Beispiel die Armee. Dort ist durch die militärische Disziplin einfach festgelegt, wie die Men schen miteinander umzugehen haben, unabhängig vom Charakter, vom Habitus des einzelnen. Dort wird es beson ders gravierende Unterschiede geben, etwa zwischen dem häuslichen und dem dienstlichen Verhalten, weil die Mög lichkeiten sehr verschieden sind, seine individuellen Qualitä
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ten zu zeigen. Dieses spezifische Milieu verlangt nun einmal strenge Disziplin und damit in gewisser Weise eine Nivellie rung. Wenn ich mich recht erinnere, gehört es zu Ihren ästhetisch-, poetologischen Überzeugungen, daß etwas erst dann Kunst wird, wenn die Wirklichkeit in ihr in veränderter Form auf taucht. Das ist übrigens auch einer von Brechts ästhetischen Grundsätzen. Ich bestehe auf diesem Standpunkt, und zwar weil ich auch die Erfahrungen vieler meiner Kollegen kenne. Nehmen wir an, da lebt ein bekannter Mann, der Öffentlichkeit als ein ausgezeichneter Hirt bekannt, er betreut soundso viel Schafe, hat Orden und Auszeichnungen. Auch seine Eigen arten sind nicht unbekannt, seine Gewohnheiten. Man weiß von seiner Familie. Und nun faßt irgend jemand ins Auge, über diesen Mann zu schreiben, und er schreibt gewissen haft, so wie es ist, er beschreibt seine Arbeit, seine gesell schaftliche Aktivität, sein Verhältnis zu Frau und Kindern, seine Freizeitgewohnheiten usw. Alles so, wie es ist. Aber in der Kunst reicht das nicht aus. Sie kommt ohne geistigen Gehalt, ohne Idee nicht aus. Diese Beschreibung ist vom Künstler nicht durchlitten. Alle diese Einzelheiten müssen bestimmte Widerstände überwinden. Nach meiner Meinung ist künstlerisches Schaffen immer mit der Überwindung von Barrieren verbunden. Keine äußeren Barrieren, sondern Barrieren im Schaffen. Wer solchen Widerständen nicht ausgesetzt ist, bei dem wird sich kein schöpferischer Prozeß vollziehen, sondern er wird es bestenfalls zum Zeitungsbe richt bringen. Ein Kunstwerk aber muß vom Künstler ausgetragen wer den, es muß ihn nicht nur beschäftigt, es muß ihn erregt ha ben. Sein Vorhaben muß ihn gequält und in Zweifel gestürzt haben. Es muß alle seine Gedanken und Ideen beansprucht haben. Und zu dieser ganzen Kette von objektiven Kriterien muß als Krönung noch eine hochgradige Inspiration hinzu kommen, um das Material umzuformen und es aus der
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Sphäre der Alltäglichkeit herauszuheben. Im Ergebnis geht dieser Mann nicht mehr einfach nach Hause oder zur Ver sammlung, sondern jeder seiner Schritte steht unter dem Stern von Entscheidungen, die für ihn lebenswichtig sind. Natürlich erscheinen bei uns Tag für Tag Bücher des einfa chen Typs, und die Kritik fördert sie sogar unter der Devise, daß wieder ein Werk über einen guten Arbeiter erschienen ist. In Wahrheit aber ist das kein Werk, es ist lediglich abge schrieben, ein Abklatsch. Sobald diese Dinge zur Sprache kommen, ist die Theorie — und nicht nur sie —immer sehr schnell mit dem Wort vom schöpferi schen Prozeß bei der Hand. Das ist jedoch ein allgemeiner Be griff, der über die wirklichen Vorgänge nicht sehr viel Auf schluß bringt. Sie haben vorhin schon einige objektive Krite rien und die subjektive Hauptbedingung genannt, die diesen schöpferischen Prozeß ausmachen. Man spricht oft auch vom Geheimnis der Kunst — ist es berechtigt, gerade in dieser Zone des schöpferischen Prozesses von „ Geheimnis“ zu sprechen? Aber natürlich! Das ist doch von Geheimnissen umgeben. Künstlerisches Denken und Schaffen ist doch nicht spontan beziehungsweise aus dem Nichts entstanden. Es ist doch si cher aus urfrühen menschlichen Erfahrungen entstanden, die von Geheimnissen umhüllt sind, aus dem Versuch, mehr zu sehen, es durch Zeichnung oder Formung zu bannen oder anzubeten. Aus vielen solchen Dingen hat sich allmäh lich das künstlerische Denken herausgebildet. Und deshalb hat auch der künstlerische Denkprozeß selbst etwas Ge heimnisvolles. Das ist kein Vorgang mit dem Stempel „se cret“. Das sind innere Triebkräfte, die den Künstler dazu bringen, das Leben auf diese einmalige Weise zu sehen, es mit Temperament und Leidenschaft in Bilder und Gestalten umzusetzen. Wenn wir das Wort Geheimnis gebrauchen, muß man, glaube ich, hinzusetzen, daß es nicht darum geht, die Sache in Nebel zu hüllen. Das ist in der Vergangenheit, von bürgerlicher Seite, oft genug getan worden. Ich halte die Erörterung dieses Pro
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blems deshalb für wichtig, weil damit einerseits vordergründige Versuche, die Kunst in Rationalismus aufzulösen, fragwürdig gemacht werden. Andererseits erklären sich aus diesem Tat bestand auch manche Schwierigkeiten der Kunstwissenschaften und der Kritik, sie erklären sich zumindest zu einem Teil dar aus, wenn man auch ihre tatsächlich existierenden Mängel nicht unter der Tarnkappe „Geheimnis“ verstecken darf. Das hat etwas für sich. Ich möchte aber den begonnenen Ge danken noch weiterführen. Ich denke an das Phänomen des Schamanismus. Das gibt es bei vielen Völkerschaften des Nordens bis heute. Einst haben aber alle Völker dieses Sta dium durchlaufen. Vor der Entstehung der Religionen — des Christentums usw. — war der Schamanismus weitverbreitet. Der Schamane war für mich ein Künstler. Was war er nicht alles: Denker, Gestalter, Schauspieler, Prophet, Tänzer — alles in einem. Er hat, glaube ich, künstlerisch gedacht, in Bildern. Er sprach von Kräften, guten und bösen Geistern, natürlichen und übernatürlichen, die er anrief, die er zu überreden trachtete. Er verfiel in Ekstase, glaubte an seinen Zauber. Alles zusammen wirkte auf seine Mitmenschen. Im Schamanen nur den Betrüger oder Dummkopf zu sehen ist nicht richtig, er war ein aktiver Denker mit künstlerischem Einschlag. All das heißt nun nicht, künstlerisches Denken sei Schamanismus. Natürlich ist das ein völlig anderes Niveau. Ich will nur sagen, wie der Schamanismus seine Eingebung hat, seine innere Intuition, die man nicht herauspräparieren und anderen zeigen kann, weil sie im Gehirn oder in der Seele oder im bildhaften Denken wirkt, so ist auch der Künstler veranlagt. Deshalb entstehen so große Schwierig keiten, wenn man es erklären will. Vielleicht kommen wir noch einmal auf die Barrieren zurück. Könnte zum Beispiel die poetische Grundidee, manchmal spricht man auch von einer „Überidee“, eine von diesen Barrie ren sein? Hier ist das Leben des Hirten, da die poetische Idee, und diese Idee prüft nun alle Einzelheiten dieses Lebens, sie ordnet sie neu, entdeckt — weil sie als Widerstand wirkt — in
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nere, verborgene Eigenschaften. Ich könnte auch Ihren Ver gleich mit der Mühle noch einmal aufgreifen. Alle Lebenstat sachen müssen durch die Mühle der Idee, wenn ein Kunstwerk entstehen soll. Auch so ist der Vorgang vorstellbar. Denn die poetische Idee im allgemeinen und für das konkrete Werk lebt offen sichtlich in jedem Künstler. Zum Beispiel heute, beim Spa ziergang, bot sich uns der Anblick der Berge, die Sonne fiel auf ihre schneebedeckten Gipfel, die klare blaue Luft — alles das kann eine poetische Idee, wenn sie in uns lebt, zur Ge staltung drängen. Es ist die das gesamte Material organisierende Idee, ohne die kein einziges Detail des Werkes leben kann, eine Idee, auf die alle Handlungen und Gestalten, alle Bilder und Metaphern be zogen sind. Eine solche Idee könnte als Barriere oder Wider stand, wie Sie sagten, als Prüffeld oder Transformator auf dem Weg von der Wirklichkeit zur Kunst wirken. Das Wort Barriere habe ich offensichtlich in einem recht un bestimmten Sinn gebraucht. Meine persönliche Erfahrung sagt mir folgendes. Beim Nachdenken über ein neues Vor haben gehen komplizierte Dinge vor sich. Würde ich auf keinerlei Hindernis stoßen, bei der Suche keinen Schwierig keiten begegnen, dann wäre ja alles sehr einfach. Nehmen wir an, ich will die Geschichte dieses Menschen schreiben. Er interessiert mich, weil er im Krieg war, später knüpfte er Beziehungen zu einer Frau an, dann nahm sein Leben diese oder jene Wandlung usw. Schön und gut, aber das ist noch kein Vorhaben. Das wird es erst, wenn ich den oder die Punkte herausgefunden habe, die von echtem Interesse sind, wenn plötzlich rundum alles in neuen Farben zu leuchten beginnt, wenn ich den wirklichen Menschen als außerge wöhnlichen Menschen zeigen kann, der Aufschluß über seine Welt oder seine Epoche gibt. Er kann auch ein Aus druck des Sittenverfalls sein, ein Mensch, der in dieser oder jener Gesellschaft unerwünscht ist. Damit all dies gelingt, bedarf es natürlich einer Idee, meiner Idee. Darüber muß ich
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mir den Kopf zerbrechen, ich muß mich hineinversetzen, das alles muß geistig hin und her gewendet werden. Alles das arbeitet in mir, vor Beginn des Schreibens, während des Schreibens. Und das ist das, was ich Überwindung der Bar rieren nenne. Ich kenne sie nicht, habe nur eine Ahnung von ihnen. Das zwingt mich, genauer hinzusehen. Nehmen wir die Beziehung zu der Frau. Was zieht ihn zu ihr, wer ist sie? Welches einmalige Ereignis hat zuwege gebracht, sie zu ver binden? Oder umgekehrt, was hat sie vielleicht getrennt? Das sind die Barrieren. Alles das muß ich in Erfahrung brin gen, ich muß mich mit meinen Gefühlen und Gedanken her antasten. Wenn jedoch alles das auf den ersten Blick klar und einfach erkennbar ist, werde ich nicht schreiben. Weil ich nichts zu überwinden habe. Jene aber, die sich mit einfa chen fotografischen Aufnahmen des Lebens begnügen, ha ben diese Barrieren nicht. Sie wissen alles schon vorher: ein guter Mensch, ein fleißiger Arbeiter, ein vorbildlicher Fami lienvater usw. Das hat wenig Sinn. Was halten Sie von Literaturwissenschaft und -kritik? Früher war mein Verhältnis dazu recht ruhig, fast gleichgül tig. Das hing offenbar damit zusammen, daß dies ein Niveau der Kritik war, das man Rezensionsniveau nennen könnte. Es handelte sich um oberflächliche Betrachtungen und Be wertungen von Werken. Heute aber, da ich älter geworden bin und eine gewisse Reife erlangt habe, ist für mich die Lek türe von fundierten Werken der Kritik unerläßlich gewor den. Werke, in denen tiefe Analyse und weitreichende Ver allgemeinerungen Hand in Hand gehen. Und dies nicht nur über einzelne Werke, sondern übergreifend, bezogen auf Prozesse und Tendenzen. Solche Werke zwingen mich zum Nachdenken, zum Umdenken. Vielleicht kennen Sie meine Erzählung „Äug in Auge“, eine Erzählung über einen Deser teur, überhaupt die erste Erzählung von mir. Es wird er zählt, wie er im Transportzug an seinem Heimatort vor überfährt und den Zug später bei einem Halt verläßt. Es folgt dann seine weitere Geschichte. Als ich das schrieb,
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hatte ich wenig literarische, aber auch wenig Lebenserfah rungen. Ein ähnliches Sujet hat kürzlich Rasputin in „Leb und vergiß nicht“ behandelt. Dazwischen liegen zwanzig Jahre. Natürlich hat sich die Literatur in dieser Zeit entwik kelt, die künstlerische Erfahrung unserer Literatur ist rei cher geworden. Wollte ich heute dieses Sujet aufgreifen, ich würde es natürlich auch ganz anders anfassen. Denn in die sen Jahren habe ich mir viel erklären können, habe ich mehr verstehen gelernt. Und das auch mit Hilfe der Literaturwis senschaft und der Kritik. Sie veranlaßt zu solchen Überle gungen und Gedanken, die mich sicher in die Lage verset zen, die Erzählung besser zu schreiben. Schon nicht mehr mit der linken, sondern mit der rechten Hand, wie man so sagt. Wie ist Ihr Eindruck vom gegenwärtigen weltliterarischen Prozeß? Welches sind Ihrer Meinung nach die bestimmenden Richtungen, wo sehen Sie herausragende Erscheinungen? Dazu werde ich kaum etwas Neues, Unerwartetes sagen können, denn da gibt es Menschen, die sich speziell mit der Weltkunst beschäftigen. Mir scheint, wir leben in einer sehr interessanten Epoche. Heute ist unübersehbar geworden, wer alles schreibt und was alles veröffentlicht wird. Wie viele Verlage gibt es in jedem Land. Im Westen sind es unzählige, große und kleine. Sie alle bringen heute ein Meer von Bü chern heraus. In Ankara lagen vier Verlage in einer Straße nebeneinander, und alle vier führten Verhandlungen mit mir, hatten ihre Absichten und Ziele. Richtig betrachtet, ist das zu einer notwendigen Bedingung im Leben des moder nen Menschen geworden. Ohne Bücher ist dieses Leben schwer vorstellbar. Deshalb befindet sich die Literatur heute mitten in einem Boom. Noch niemals hat die Welt solche Berge von Büchern gekannt. Vorgestern habe ich Sie auf eine Versammlung von Menschen aufmerksam gemacht. Nachts stellen sich die Menschen vor dem Buchladen an, in dem Vorbestellungen angenommen werden. Früher stand man so nach Kartoffeln an. Man muß sich das vorstellen: sie
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schlafen nicht, stellen sich an, fertigen Listen an, geben Nummern aus — alles für Bücher! Eigenartig und unge wöhnlich! Ich erwähnte das lediglich als Symptom. Die Literatur selbst aber entwickelt sich heute ganz stür misch und hat Ergebnisse hervorgebracht, von denen die Li teratur früher keine Ahnung hatte. Weltliteratur vor dreißig Jahren — das war die angloamerikanische, französische, deutsche, italienische, russische und spanische Literatur. Von ihr wurde der Begriff Weltliteratur bestimmt. Würde man Weltliteratur heute auch noch so verstehen, wäre das sehr einseitig. Im Zusammenhang mit dem revolutionären Prozeß, mit der nationalen Befreiungsbewegung usw. sind viele Völker er wacht. Ihre Entwicklung stellt sie zwangsläufig vor die Frage: Wer sind wir? Sie müssen sich ihrer selbst bewußt werden. Selbstbewußtsein gewinnen. Sie haben begriffen, daß sie ihre Sprache entwickeln müssen, um mitreden zu können. Deshalb hat sich ein regelrechter Strom neuer Völ ker und Nationen ergeben. Allein wieviel afrikanische Schriftsteller sind in die Arena getreten. Dasselbe vollzieht sich auf dem Gebiet des Films. Heute gibt es kein Land, reich oder arm, das sich nicht auch auf der Leinwand artiku lieren würde. Dieser weltumspannende Strom, dieses allge meine Erwachen des künstlerischen Denkens 'hat zu ver schiedenen Ergebnissen geführt. Einerseits beobachten wir die Entwicklung einer Massenkul tur, die von bestimmten politischen Kräften, die von Kultur nur Zerstreuung erwarten und Ablenkung von den haupt sächlichen Lebensproblemen, für ihre Absichten ausgenutzt wird. Aber auf der anderen Seite sehen wir im weltliterari schen Prozeß ein Erstarken der echten künstlerischen Kräfte. Ich möchte das besonders für die Prosa konstatieren, denn die Lyrik ist dank ihrer Besonderheiten schwer über setzbar. Prosa aber wird viel gelesen und gestattet einen Überblick. So ist die lateinamerikanische Prosa ein völlig neues Phänomen. Solche Erscheinungen berechtigen wohl
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zu dem Schluß, daß in diesem Prozeß das Positive über wiegt, was nicht heißt, daß es nicht auch negative Tenden zen gibt, besonders dort, wo das Buch zum Gegenstand des Busineß, wo es vermarktet wird. Direkt oder indirekt leiden darunter auch Künstler von großer Potenz. Am selben Tisch hat vor wenigen Tagen Michelangelo An tonioni gesessen. Zusammen mit ihm war ein sehr begabter Schriftsteller gekommen, Tonino Guerra, Mitautor Fellinis beim Szenarium „Amarcord“. Unser Gespräch berührte ver schiedene Gegenstände. Antonioni gab seiner tiefen Beunru higung über die Situation der jungen Filmkunstgeneration Ausdruck. Im Westen, erzählte er, leben sie einsam, vonein ander isoliert. Um einen Film zu machen, braucht man Geld. Der junge Regisseur entschließt sich, Mittel mit kommer ziellen Filmen zu beschaffen, er dreht einen Unterhaltungs film, einen Krimi, einen Porno. Er glaubt, dann die Mittel für einen ernst zu nehmenden künstlerischen Film zusam menzuhaben. Aber das ist nach Antonioni ein Teufelskreis. Sie versuchen, ihr ganzes Leben lang, aus diesem Kreis aus zubrechen, und werden darüber zu Pfuschern. Auf diese Weise bringen sie der Kunst mehr Schaden als Nutzen, ob wohl sie doch mit den besten Absichten angetreten sind. Und diese Tendenz verbreitert sich und wächst. Denn viele von ihnen schwimmen mit dem Strom, nachdem sie von den süßen Früchten leichter Arbeit gekostet haben. Es gelingt nur wenigen talentierten Einzelgängern, die besonders zäh sind, sich aus diesem Sumpf herauszuarbeiten. Sicher geht es in der Literatur ähnlich zu. Es wäre auch naiv, wollte man denken, alles ginge ruhig und glatt ab. Auch auf dieser Ebene vollzieht sich die Entwick lung gegen Widerstände und durch die Überwindung vieler Hemmnisse. Vielleicht gehört das sogar dazu, wenn ein gro ßer Künstler heranwachsen soll. Das gibt mir die Gelegenheit, noch eine Frage anzufügen. Wenn ich die Prosa über den Zeitraum der letzten Jahrzehnte betrachte, entsteht bei mir der Eindruck, daß es kaum noch so
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breit angelegte und den Gegenstand zugleich erfassende epische Werke gibt, wie sie etwa im Werk von Hemingway, Faulkner oder Thomas Mann vorliegen. Mir scheint, im Westen sind heute vergleichbare Veranla gungen nicht zu erkennen. Natürlich können sie auch nicht jeden Tag auftauchen. Andererseits ist mein Eindruck aus dem, was ich lese, was mir zugänglich ist, daß sich innerhalb des künstlerischen Schaffens eine starke Spezialisierung vollzieht. Die Ausschnitte werden immer kleiner, wenn auch festzustellen ist, daß die Sorgfalt, mit der diese behandelt werden, wächst. Der Schriftsteller wählt ein kleines Feld, um es desto gründlicher bearbeiten zu können. Deshalb kann er sich auch nicht mit Thomas Mann oder Faulkner messen. Vorläufig jedenfalls. Übrigens hat Hemingway gesagt, um. ein großer Schriftstel ler zu werden, muß man lange leben. Das möchte zwar je der, doch ist das nicht von ungefähr gesagt. Denn Reife kommt mit dem Alter. Besonders in der Prosa, wo es darum geht, diese Welt zu umfassen. 1977
Das Gesetz der universellen
Anziehungskraft
(„Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ — Aufgaben und Verantwortung der Literatur in unserer 'Zeit) Die Literatur ist mein Leben. Wer von uns kann das von sich schon sagen, wenn er die wahrhaft großen Beispiele eines leidenschaftlichen Dienstes an der Literatur vor Augen hat, deren es so viele gibt in der Geschichte der Menschheitskul tur? Überdies: Wer von den Schriftstellern, die man zu „Propheten“, zu „Gebietern über das Denken“, zu „Genies“ erklärt hat, dachte so über sich selbst? Wir, ihre dankbaren Nachfahren, sagen: „Die Literatur war sein Leben“ oder „Er hatte sich voll und ganz der Literatur geweiht“ und bezei gen so unsere Bewunderung für jene Schöpfer unsterb licher Werke, die allen Versuchungen, Schwierigkeiten und mitunter auch Verfolgungen zum Trotz den heili-. gen Namen Künstler in unvergänglicher Reinheit bewahr ten. Wenn ich mich dennoch zu diesem Thema äußere, so nur deshalb, weil ich als professioneller Literat dem Leser einige Überlegungen mitteilen möchte, die, wie mir scheint, für beide Seiten von Interesse sind, und zwar im Sinne Twar dowskis, der den Leser „mein Freund und höchster Richter“ nannte. Zugegeben, dabei ist auch ein gewisser „Eigen nutz“ : Ich bebe nicht vor dem „höchsten Richter“, möchte jedoch, daß sein Urteil gerecht ist, daß wir die gleiche Spra che sprechen und einander auf Anhieb verstehen. Diese Sprache kann nicht die gängige Alltagssprache, sondern muß die Sprache der Poesie sein, denn in ihr offenbaren sich die wahre Natur und das Wesen der Kunst. Wie die Schrift
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steller zu allen Zeiten kann ich nicht umhin, über die Rolle und den Standort der Literatur im geistigen Leben der Gesell schaft nachzudenken. Man könnte meinen, das sei eine rein professionelle Angelegenheit — sozusagen, was einem auf der Seele brennt... Dabei hängt gerade davon, wie ein Le ser ein Kunstwerk aufnimmt, was er von ihm erhofft, erwar tet und was er herbeisehnt, welche Möglichkeiten er ihm zu schreibt, nicht nur das Schicksal dieses oder jenes Buches ab, sondern mitunter sogar das Schicksal des Schriftstellers. Letzten Endes — das Schicksal der ganzen Literatur. Aber doch auch das Schicksal des Lesers. Hier gibt es eine Rück kopplung. Ich will nicht prophezeien und schon gar nicht verallgemeinern, doch ich glaube, daß ein Mensch, der Zu gang gefunden hat zu Tolstoi oder Tschechow, zu Scholo chow oder Katajew (sie müssen gar nicht immer seine Lieb lingsschriftsteller sein), tiefer zu denken und zu fühlen ver mag, folglich interessanter lebt als jemand, für den es nur Krimis gibt, diese im Grunde anonyme Fließbandproduk tion, denn hierbei ist die Persönlichkeit des Verfassers un wesentlich. Sie würde den Leser ohnehin nur stören. Er hält nicht Zwiesprache mit einem vertrauten Gesprächspartner, den er gesucht und endlich gefunden hat, sondern begnügt sich mit einem Nervenkitzel. Als Liebhaber „leichter“ Un terhaltungsliteratur pflegt er in der Regel auch im Umgang mit anderen nur leichte, oberflächliche, flüchtige Bezie hungen. Heute, im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revo lution, einer nie dagewesenen Informationsexplosion, einer stürmischen und allseitigen Entwicklung der Massenkom munikationsmittel, steht die Literatur vor einer äußerst ernsthaften Bewährung, sollen sich ihre moralisch-ästheti schen Werte und Eigenschaften, soll sich das unerschöpfli che geistige Potential, das ihr Wesen und ihren Inhalt aus macht, in neuer Qualität als unvergänglich, einmalig und unersetzbar erweisen. Noch gar nicht lange ist es her, daß
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Skeptiker im Westen, aber auch bei uns den unausbleib lichen Niedergang der Literatur als wahrhaft zeitgenös sischer Kunstgattung, die den Bedürfnissen der Epoche, dem Geschmack des Menschen im zwanzigsten Jahr hundert entspricht, voraussagten, das Verschwinden“ des Buches in seiner heutigen Form als kurioser Anachronis mus ... Die Katastrophe schien vorherbestimmt zu sein — jedenfalls für die westliche Phantasie: Der Roman ist tot. Das Tempo und der Rhythmus des turbulenten Lebens haben sein Herz überfordert. Der Leser kann frohlocken: Er braucht keine „dicken“, „ernsten“ Bücher zu lesen, muß sich nicht durch den Stil der Klassik hindurchquälen, ständig in Gefahr, von der Hoch spannung der darin enthaltenen Gedanken und Gefühle ein Trauma zu erleiden — der „Telegrammstil“ ist ja viel einfa cher und angenehmer. Mag sein, ich übertreibe. Aber schließlich sind die bürgerli chen Theoretiker einer „neuen Kunst“ — natürlich in der scheinbar besten Absicht und den Bedürfnissen, dem Wunsch des Lesers entsprechend — mit Freuden bereit, ihm die Liebe zur „alten“ Denkweise auszutreiben, stört diese doch den Lebensgenuß, da sie Begriffe beinhaltet wie Wahr heit, Gewissen, Humanismus. Berührt mich das persönlich als Schriftsteller, als Mensch? Was die Menschenwürde erniedrigt, sie verletzt — wann und wo immer das geschieht, in welcher Form und mit wel chen Methoden — muß alle ehrlichen Menschen auf Erden empören, in erster Linie die Schriftsteller. Mich als sowje tischen Schriftsteller um so mehr, weil dergleichen den Be dingungen des sozialistischen Zusammenlebens einfach wi derspricht. „Horrorroman“ oder „ernste“ Literatur? Nicht das ist die Alternative. Das „heilige“ Ziel der Pornoliteratur beispiels weise ist ja gerade sehr ernst — sie will im Unterbewußtsein der Menschen grobe, ursprüngliche Instinkte wecken, will
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ihn zum Tier machen. Und vor allem ihn davon überzeugen, das sei modern, entspreche dem Geist der Epoche. Der Kernpunkt des Konflikts liegt woanders: Menschlich keit oder Grausamkeit, Wahrheit oder Lüge, Gut oder Böse, Pseudoromantik oder Realismus? Darum ist es beschämend, ruhig, sorglos und unbeteiligt zu zusehen, wie vor unseren Augen ein „Jahrhundertverbre chen“ geschieht — ein Anschlag auf den Menschen, auf seine Persönlichkeit, auf sein Heiligstes, seine Seele, ein An schlag, der aus ihm einen Feind der Freiheit und des Huma nismus macht, grausam und gleichgültig gegenüber dem eigenen Leben, dem Leben anderer, dem Leben insgesamt. Was kann, was muß wahre Literatur gerade heute leisten, da die Hamletfrage „Sein oder Nichtsein?“ — über die Erlebnis sphäre des einzelnen hinaus — zum brennenden Problem für die gesamte Menschheit geworden ist, geht es doch darum, den Frieden auf Erden zu erhalten? Aufgabe der Literatur ist es, die Menschen zu einen. Sie im Streben nach Wahrheit und sozialer Gerechtigkeit, in unver siegbarer und unauslöschlicher Liebe zum Leben, zum Frie den, zur Zunkunft zusammenzuschließen; ihretwillen muß der Mensch, wenn er ein wahrer Mensch ist, bereit sein, alle äußeren Hindernisse ebenso zu überwinden wie die eigene Verzweiflung, Leid und Trauer. Darüber dachte Tolstoi nach — leidenschaftlich und voller Qual. Diese Idee hinter ließ er den Menschen als Vermächtnis, in der Zuversicht, daß die von der Kunst ausgehende Kraft ansteckend, daß die Kunst berufen ist, im Menschen Liebe zu wecken für das Le ben in all seinen Erscheinungsformen. Die Sittlichkeit der Literatur besteht darin, daß sie an die be sten Eigenschaften im Menschen appelliert, an seine Würde und Ehre, daß sie ihm die grenzenlosen Horizonte und die Schönheit der Welt eröffnet, daß sie ihn über sich selbst nachdenken läßt, daß sie ihn dem Dunkel der Einsamkeit entreißt und ihm hilft, das Leben sinnvoll zu gestalten. Nur
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so kann Literatur bestehen. Und nicht nur bestehen;, sondern auch siegen. Jeder ehrliche Künstler hat die Pflicht, dem Menschen be ständig, unermüdlich und unbeirrbar bewußt zu machen (selbst wenn dieser es gar nicht wissen möchte), wer er ist. Ihn und sich selbst daran zu erinnern, auf daß wir ja nicht vergessen: Wir sind Menschen, Brüder im Geist. Vielleicht sind wir die einzigen vernunftbegabten Wesen im unendlichen All. Sollte dieser lebenspendende Quell von Licht und Güte versiegen können? Sollten wir wirklich fähig sein, mit der wollüstigen Verzweiflung von Selbstmördern das aus freiem Willen zu verursachen? Wir müssen uns Re chenschaft ablegen und uns klar vor Augen halten, daß die Planktonschicht der von der Menschheit im Laufe von Jahr tausenden unter größten Mühen geschaffenen Zivilisation allzu dünn ist, fast unsichtbar im Maßstab des Universums. Müßten wir sie darum nicht um so höher schätzen? Ich spreche von dem, was meines Erachtens jeden Menschen am tiefsten bewegt und für uns Schriftsteller das wesentlich ste ist. Wir Zeitgenossen sind verpflichtet, über unser Menschsein nachzudenken, unser Schicksal selbst zu ent scheiden. Denken heißt, intensiver zu leben und zu handeln. Dazu gehört auch, Literatur zu schaffen und die Literatur weiterzuentwickeln, eingedenk dessen, daß sie von alters her die hohen Bestrebungen des menschlichen Geistes, die Poesie der Wahrheit, des Glaubens an den Menschen und an die Zukunft bewahrt. Und was die „Theoretiker“ der Kunst anbelangt, die der Li teratur so manche Totenmesse gehalten haben, können wir ihnen sogar dankbar sein: Der blinde Extremismus dieser Zerstörer der „alten“ Kultur zeitigte eine scharfe Gegenre aktion, einen behutsameren Umgang mit den unermeßli chen geistigen Schätzen der Menschheit. In ebendieser Zeit, anderthalb Jahre von seiner Familie und der ganzen Welt zurückgezogen, schuf Gabriel Garcia Mär
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quez — ob er nun vom „Begräbnis“ des Romans nichts wußte oder den Gerüchten keinen Glauben schenken wollte — in einer schöpferischen Ekstase den/großen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts: „Hundert Jahre Einsamkeit“. Einen Roman, der die Menschen verbindet. Zweifellos ist er den Lesern in verschiedenen Ländern so nah und verständ lich, weil in ihm ein unzähmbarer Geist brodelt und flammt, der Glaube an die Gesetzmäßigkeit der revolutionären Um gestaltung der Welt, weil der Wind -der Freiheit darin tost, der den Moder eines abgestandenen Lebens hinwegfegt und vernichtet, weil eine gewaltige Symphonie zum Ruhm des Menschen aus ihm ertönt. Natürlich denke ich,.viel nach über den Internationalismus der Literatur, über seine Natur und Eigenart, über die Ein zigartigkeit des Internationalismus der Sowjetliteratur; die sen Internationalismus hat die Oktoberrevolution als eine der neuen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten fest in un ser Leben eingebracht. Der internationale Charakter der So wjetliteratur ist einzigartig — keine spontane, sondern eine bewußt gelenkte Erscheinung, und schon diese Besonder heit setzt gewaltige Potenzen frei. Jeder sowjetische Schrift steller sieht sich als Glied einer einheitlichen multinationalen Gemeinschaft, als Vertreter eines brüderlichen Bundes sich gegenseitig bereichernder Literaturen, in deren Mittelpunkt dank ihrem „Dienstalter“ und ihrem Erfahrungsschatz die große russische Literatur steht: Sie gab der Welt Puschkin und Tolstoi, Tschechow und Dostojewski und ist jetzt Kata lysator der gesamten kulturhistorischen Entwicklung der Sowjetliteratur. Die Methode des sozialistischen Realismus — die fortschritt lichste und fruchtbarste Methode der zeitgenössischen Lite ratur — ist keine Abstraktion, keine Erfindung von Litera turwissenschaftlern, sondern ein lebendiger Quell unserer Kunst; als Methode der sittlich-philosophischen Forschung, der Welterkenntnis und der poetischen Weltsicht, der Men
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schenbetrachtung im Licht grandioser historischer Ereig nisse und des realen Lebens befindet sie sich in steter Bewe gung, im Höhenflug, in der Blütezeit einer Jugend, die glücklich ist, weil alles noch vor ihr liegt. Aber wie jeder Pro zeß hat die multinationale Sowjetliteratur ihre Schwierigkei ten und Widersprüche. Man darf sie nicht verschweigen. Ja, wir erhielten die Möglichkeit, unsere eng nationalen Gren zen zu überwinden, ja, wir haben sie gesprengt und sind hin ausgetreten in die weite Welt. Doch die gegenwärtige litera rische Situation hat auch negative Seiten. Noch immer gibt es eine zweitrangige Literatur, deren Produkte nicht Kunst sind, nur Surrogat. Unbeirrt müssen wir unsere Literatur von Farblosigkeit und Plattheit, von Schematismus und the matischen Spekulationen befreien — von allem, was diesen hohen Anspruch diskreditiert. Ich persönlich kann mich über die Kritik nicht beklagen. Vielleicht darf ich daher einige unvoreingenommene Worte dazu sagen. Leider muß ich der Meinung widersprechen, die heutige Kritik habe die Literatur „überholt“, sie sei nun „in teressanter“. Überhaupt will mir nicht recht einleuchten, wie so etwas sein kann, denn schließlich ist Kritik nicht möglich ohne das „Vorhandensein“ von Kunst. Daß aber die Kritik offenkundig zurückbleibt, kommt vor. Und gar nicht selten. So ist in letzter Zeit eine ganze Reihe von Werken erschienen, über die die Leser streiten und lei denschaftlich diskutieren, die Kritik aber hüllt sich in Schweigen. Und warum? Häufig resultiert das Schweigen aus der Scheu, der Angst, sich zu irren, wenn man als erster das Wort ergreift. Mag es ein anderer riskieren, dann sehn wir weiter — solche Logik verbirgt sich wohl dahinter. Noch schlimmer ist es, wenn man den „Elefanten“ nicht sieht und so tut, als existiere das eine oder andere erschienene Werk überhaupt nicht. Ein solches „Prinzip“ kann leider nur Är ger, Befremden, Verdächtigungen und Gerüchtemacherei hervorrufen — nicht nur bei den Lesern, die ein „kompeten
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tes“ Wort hören und ihre Meinung mit der eines anerkann ten Fachmanns vergleichen wollen, sondern auch unter den Schriftstellern. Ein solches Totschweigen nutzt der Kritik selber nicht. Muß ich mir nicht Gedanken machen über die ses Problem? Schließlich ist die Kritik Teil der Literatur und damit ein Stück meines Lebens. Kann mir also die unge rechte Beurteilung der Arbeit eines Kollegen gleichgültig sein, berührt sie nicht auch mich selbst? Es ist schlecht, wenn ein talentvoll geschriebenes Werk ver rissen wird. Aber das wird es überstehen — wie man so sagt: Ein Geprügelter ist soviel wert wie zwei nicht Geprügelte. Schlimmer ist es schon, wenn kraft verschiedener Umstände ein schwaches Buch über den grünen Klee gelobt und als beispielhaft hingestellt wird. Diese Sünde begeht des öfteren die „lokale“ Kritik, offenbar aus Lokalpatriotismus: Ist es nicht schön, einen Puschkin sein eigen zu nennen, und sei's auch nur als Gebietsgröße? Aber gibt es eine solche Sünde etwa nur in der lokalen Kritik? Verwaschene Bewertungs kriterien, verzerrte Vorstellungen von echter schöngeistiger Literatur disqualifizieren die Kritik, die der schönen Litera tur mitunter Werke zurechnet, die mit ihr nichts zu tun ha ben und deren Verfasser, setzte man ihnen nicht erst solche Flausen in den Kopf, sich gar nicht als „Schriftsteller“ ausge ben würden. Ich sage das nicht aus Mißgunst. Um die Litera tur tut es mir leid. Skizzen, hochgejubelt mit Epitheta wie „künstlerische“, „lyrische“, „dramatische“, sind ihrer Natur nach dennoch keine Erzählungen, keine Kunst, müssen ja auch keine sein. Sonst erfüllt dieses Genre nicht seine Be stimmung. Das gleiche gilt für die Publizistik. Publizistik ist Arbeit für den Tag. Schon höre ich scharfe Proteste. Aber niemand be zweifelt doch die Bedeutung dieses kämpferischen, operati ven Genres. Nur — jedem seines. Ich will lieber sagen, wie ich mir das Verhältnis von Publizistik und schöner Literatur vorstelle — als Verhältnis von Pflug und Vorschäler. Der Vorschäler beseitigt das Unkraut, das Pflugschar durch
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pflügt das Feld tief und gründlich. Jeder hat seine klar umris sene Aufgabe. Ist es etwa für den „Vorschäler“ kränkend, das Feld zu säubern? Glücklicherweise sind Vorschäler und Pflug keine Menschen, sie rechnen nicht mit Ruhm. Doch ich glaube, auch die Menschen finden leicht eine gemein same Sprache. Ich will meinen Gedanken an einem Beispiel erläutern. Vor kurzem wurde die ganze Welt durch die tra gische Entführung und den Mord an Aldo Moro erschüttert. Tausende von Artikeln, Reportagen, Skizzen erschienen in Zeitungen und Zeitschriften — nicht nur in Italien, sondern in allen Ländern der Welt. Diese Tragödie erschreckte, be wegte, berührte alle. Würde es die Journalisten „kränken“, wenn ein Künstler die zahllosen gesammelten Fakten verall gemeinerte und ein Werk von shakespearescher Kraft schüfe? Oder müßten die Italiener verletzt sein, wenn dieser Schriftsteller Bürger eines anderen Landes wäre? Ich glaube, alle wären ihm dankbar, denn er würde eine Tragödie ge stalten, die „alle berührt“. Sollte ich versuchen, über dieses Thema zu schreiben? Ich weiß es nicht. Doch ohne Zweifel hat mich die „italienische Tragödie“ als Schriftsteller und Mensch emotional stark be einflußt. Und sie hat auch auf meine Arbeit an dem Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ eingewirkt. Einge wirkt vielleicht insofern, als ich mich mit um so größerer Liebe dem „einfachen“ Menschen zuwandte, dem Grausam keit und Bosheit, Neid, Machtgier und Karrierismus we sensfremd sind und der diese schöne Welt, in der wir leben, mit seinen Händen schafft. Mich schmerzt, daß hier, auf un ser aller Erde, zur gleichen Zeit so entsetzliche Dinge ge schehen können. Auf wem ruht die Welt? Ich brauchte mir nur diese Frage zu , stellen, da zeichnete sich in meiner Vorstellung auch schon das Bild eines Menschen ab, der später in SchneesturmEdige Gestalt annahm. Was steckt dahinter? Eine- im Grunde bekannte Metapher, vom häufigen Gebrauch viel
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leicht etwas abgegriffen. Doch ich habe sie,'ihren poetischen und philosophischen Gehalt, gewissermaßen neu „ent deckt“. Poesie und Philosophie trafen sich, wurden eins. Da wußte ich bereits, was aus dieser Metapher hervorgehen würde. Ich habe es schon oft gesagt und bin bereit, es zu wiederholen: Die Gestalt des Schneesturm-Edige steht für mein Verhältnis zum Grundprinzip des sozialistischen Rea lismus; dessen Hauptforschungsobjekt aber war und bleibt der arbeitende Mensch. Für Schneesturm-Edige ist die Ar beit kein Existenzmittel, sie ist vor allem sein Lebensinhalt, seine Berufung, seine Pflicht vor den Menschen. Er ist frei in seiner Wahl. Diese Wahl erfordert Tapferkeit und Hochher zigkeit. Daher ist er ein wahrer Mensch. Fremd sind ihm Ei gennutz und Habgier. Jedes Privileg, das er erhalten könnte, würde ihn in seiner Würde kränken. Vor allem aber fühlt er sich dank dieser Einstellung zur Arbeit fest mit seiner Epo che, mit seinem Volk verbunden. Ohne sie kann er sich sein Leben, sein Schicksal nicht vorstellen. Nur so vermag er zu denken. Denn Denken ist für einen Mann vom Schlage Edi ges nicht gleichbedeutend mit müßigen Erörterungen, mit leerem Geschwätz, ob mit oder ohne Anlaß. Und sein „letz tes“ Wort entringt sich seiner Seele im schmerzlichsten Mo ment seines Lebens — angesichts der unerbittlichen Ewig keit: Es ist an seinen verstorbenen Freund Kasangap gerich tet und an alle Lebenden, denn dieses Wort ist Ediges Pflicht. Seine Pflicht, von dem großen und weisen Leben eines Manns der Arbeit zu berichten. Ediges „letztes“ Wort ist zugleich sein „erstes“, jedenfalls das erste „vernehmbare“. Was Edige nicht sagt, mußte ich sagen, der Schriftsteller. Je der hat seine Pflicht. Und Edige? Er wird schweigend wei terleben, wird die Welt „auf seinen Schultern tragen“ — selbst ein Beweis für die Kraft und Schönheit des menschli chen Geistes. Zu sich, zu seinem Menschlichsein, gelangt er durch viele Prüfungen — Krieg, Hunger, Schneestürme, eine bittere Liebe; doch all dies nimmt er als unabwendbar hin, weder verflucht er sein „unglückliches“ Los, noch rächt
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er sich am Leben. Für mich verkörpert er sozusagen das ge netische Menschlichsein. Indem er zu sich findet, gelangt er zu den Menschen, in die Zukunft. Ein Kinderlächeln rettet ihn in einem schweren Augenblick. Aber auch sein strenges Schweigen hilft den Menschen leben. An seiner Seite muß man einfach besser werden. Und schließlich: Wozu brauchte Edige den Krieg? Er hat gar keine Zeit, daran zu denken. Sein Leben folgt dem ober sten Gesetz der Arbeitsleute: dem Streben nach Frieden, dem Streben zueinander. Das ist für ihn das Gesetz der uni versellen Anziehungskraft. Edige träumt davon, in die toten Sary-Ösek-Steppen das „Paradies“ zurückzuholen, das diese einst waren. Davon hatte ihm ein anderer Freund erzählt, der russische Geologe Jelisarow. Was kann „interessanter“ sein, als in einer Sand wüste einen lebendigen, wunderschönen Garten zu schaf fen? Unseren Planeten zu vernichten ist wahrscheinlich leichter angesichts der heutigen Waffen. Aber das ist un denkbar für Edige. Undenkbar für normale Menschen. Ich möchte, daß Menschen wie Edige lange leben, daß sie noch Enkel und Urenkel erleben und ihnen die Schönheit ihrer Seele vererben. Wie empfinde ich als Schriftsteller mein Alter? Ich meine das schöpferische Alter. Alexander Block sagte einmal, ein Schriftsteller sei eine „mehrjährige Pflanze“. Wir müssen uns für ein „langes“ Leben rüsten. Traurig ist nur, daß wir nicht merken, wie wir altern, wie Gefühle erlöschen. Ehe man sich's versieht, ist man ein Greis, möchte die Jungen be lehren, ihnen Erfahrungen vermitteln, herummeckern. Und, was das traurigste ist — ohne das Bedürfnis, sich über die un sterbliche Poesie des Daseins zu wundern. Gibt es da einen Ausweg? Mir scheint, man muß sich bewußt dazu anhalten, die Welt dramatisch wahrzunehmen. Ein Künstler, der die Dramatik des Seins versteht, besiegt das Alter.
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Außerdem denke ich, daß jeder Schriftsteller, unabhängig von seinem Alter, die Notwendigkeit spüren muß, immer wieder die tiefen Gedanken und Gefühle zu erleben, die wiederum Block so in Worte gefaßt hat: „Ich diene der Lite ratur.“ Als dieser Text bereits gesetzt war, erreichte mich die bittere Nachricht vom Ableben Juri Trifonows. Ein neuerlicher Beweis, wie jäh und erbarmungslos das Le ben enden kann. Dadurch aber wird es um so teuerer. Trifo now, ein großer Meister des „Wortes, war ein Schriftsteller mit feinstem Gespür für die Gegenwart. Daher sind aus sei ner Feder bedeutende Werke hervorgegangen, die die Kom pliziertheit unserer Tage spiegeln. Ja, er hat der Literatur ge dient, bis zu seinem letzten Atemzug. Das sage ich voller Schmerz und Stolz. 1981
Rede auf dem
7. Schriftstellerkongreß
der UdSSR
Dieser Tage las ich das Buch eines Wissenschaftlers über Langlebigkeit. Es fesselte mich viel mehr als irgendein Best seller. Und ich dachte: So muß man schreiben, damit der Le ser das jeweilige Werk als lebensnotwendig begreift, damit er sich bis zur letzten Zeile nicht losreißen kann, bedauert, daß das Buch zu Ende ist, und noch lange über das Gelesene nachdenkt. Eine Utopie? Ja, aber auch eine Utopie braucht man im Leben. Ein Buch, mit dem man sich an den Leser wendet, muß für ihn bestimmt sein wie eine Offenbarung, wie eine Art Bibel. Jedes neue Buch. Selbst wenn das uner reichbar bleibt. Darin sehe ich ein Gesetz der Kunst, das Ge setz der Arbeit eines Künstlers. Was hat mich nun an dieser wissenschaftlichen Arbeit derart begeistert und ergriffen? Die Poesie der Philosophie! Zwar liegt mir der Gedanke fern, ein solches Buch mit einem Werk der schönen Literatur zu vergleichen — das sind zwei ganz verschiedene Elemente —, doch es gibt eine große Ei genschaft, genauer, einen Vorzug der Kunst. Ein wahres Kunstwerk endet nicht mit der letzten Seite, erschöpft sich nicht mit der Geschichte der Helden, sondern bewegt das Herz und das Bewußtsein des Lesers, lebt und wirkt weiter als innere Kraft, als Qual und Licht des immer wachen Ge wissens, als Poesie der Wahrheit, die keineswegs eine wol kenlose, rosarot gefärbte Wahrnehmung der Welt bein haltet, sondern auch Leiden und die kühne Überwindung einer Tragödie, die im Leben eines jeden unvermeidlich ist.
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Gewiß, über die Bestimmung und die Natur des künstleri schen Schaffens hat man sich zu allen Zeiten geäußert — Berge von Arbeiten gibt es darüber. Dennoch — und das ist eine weitere unbestreitbare Eigenschaft der Kunst —, das Nachdenken über die Wege und Schicksale der Literatur darf nie enden, denn jede Zeit hat ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Hoffnungen. Zweifellos hat auch diesmal jeder von uns bei der Vorberei tung auf den Kongreß über die Zeit, in der wir leben, nach gedacht — gibt es doch in der Vergangenheit und Gegen wart von Individuum und Gesellschaft, in dem, was die Welt des Menschen ausmacht und von jeher in den zwei Begriffen „Gut“ und „Böse“ aufgeht, nichts, das keine Beziehung hätte zu Literatur und Kunst. Darüber muß man — der Unendlichkeit des Lebens ver pflichtet — ständig nachdenken. Und aus diesen hohen Ge danken kristallisiert sich der künstlerische Einfall — die Idee, der Inhalt, die Form eines Werkes. Daraus resultiert unsere Verantwortung — die Verantwortung von Kunst schaffenden ihrer Zeit. Während ich darüber nachdenke, wieder und wieder meine Beobachtungen mit der Realität vergleiche, mit den Vorgän gen, den vom Sozialismus verkündeten Ideen und ihrer Ver wirklichung, frage ich mich: Wie leben wir, wohin bewegen wir uns, was erwartet uns morgen, wie können wir den Men schen besser nützen in ihrem Streben, ein möglichst gerech tes, kluges und schönes Leben auf Erden zu schaffen? Denn genau darum geht es: um die uralte, unbezähmbare, ständig entgleitende und wie Phönix aus der Asche steigende große und heilige Hoffnung auf Glück — Glück für alle, allerorten und immer. Das ist die unsterbliche und mächtige Illusion ewigen Kampfgeistes. Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit dein Wort in der Kunst wahr ist, historisch und ästhetisch wahr, inwieweit es den Idealen und der Realität entspricht, den Bedürfnissen der Gesellschaft, deren Bürger du bist, und vor allem — in
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wieweit es die epochalen Errungenschaften der Oktoberre volution fördert. Solchen Forderungen gerecht zu werden ist nicht so einfach, bisweilen qualvoll, denn unsere Gegenwart ist kompliziert, widersprüchlich und vielgesichtig. Allenthalben verflechten sich bunt verschiedenartige private, soziale und historische Lebensäußerungen, harren ihrer künstlerischen Erfor schung, und das unter dem Gesichtspunkt poetischer und philosophischer Erfahrungen der ganzen Welt. Nur dann, wenn der Künstler nicht einfach Szenen aus dem Alltag festhält, sondern zugleich als engagierter Bürger auf tritt, als Richter, Beschuldigter und Prophet in einer Person, der in seiner schöpferischen Hypostase Jesus und Pontius Pilatus vereint, verlebendigt sich in den Gestalten und ihren Handlungen die Erfahrung der Zeit — über einen langen Zeitraum, für viele Generationen. Das vermochte Tolstoi, das gelang Dostojewski, Gorki, Scholochow. Und nur so, denke ich, durch die Erneuerung und Weiterentwicklung der künstlerischen Traditionen und ohne die geringste Ab weichung von den revolutionären Ideen — haben wir doch ein neues Zeitalter ausgerufen und tragen dafür die Verant wortung — könnten wir die geistigen Ansprüche des Men schen von heute befriedigen. Er, unser Zeitgenosse, ist es ja, der die Kompliziertheit der heutigen Welt verkörpert und immer wieder, zwangsläufig, zu der ewigen Frage vorstößt: Wer bin ich, und wie wurde ich so, was stelle ich dar am Vorabend des neuen Jahrtausends auf Erden? So also, denke und hoffe ich, lautet die Frage letzten Endes für viele von uns: Was sollen wir schreiben, wie und warum? Leute, die schreiben, gibt es viele. Richtig ist auch, daß wir alle von edlen Vorsätzen erfüllt sind. Aber längst nicht alles Gedruckte hat mit wahrer Literatur zu tun. Die Aktualität einer Idee, die Bedeutung eines Themas allein sind kein Selbstwert, um dessentwillen es lohnen würde, ein Buch zu schreiben. Das muß man offen aussprechen, den Schein darf man nicht für das Sein ausgeben.
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Gegenstand der Kunst sind nicht irgendwelche Positionen des thematischen Perspektivplans, sondern die brennenden Probleme unserer Existenz, die Widersprüche und Kon flikte der Epoche, das System der Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft und die sich daraus erge benden Schicksale, Geschichten, Charaktere und Handlun gen der Menschen. Kunst basiert auf der Synthese von Problemen und Konflik ten — diesem ihrem Nährboden entspringen die Charaktere von Gegenwart und Zukunft. Wenn wir diese Gesetzmäßigkeit mißachten und aus rein thematischen oder anderen Erwägungen etwas rühmen oder schönfärben, dann ist das Lobhudelei. Solche Lobhudelei er zeugt sogar einen eigenen Stil — schwülstig und primitiv zu gleich —, den Stil einer falschen Romantik. Der Mensch will die Wahrheit über sich wissen. Mitunter wohl auch eine bittere, denn indes er nach dem Ideal strebt, möchte er doch wissen, wogegen der menschliche Geist seit Urzeiten in sich selbst ankämpft. Das aber kann man nur mit den Mitteln des wahren Realismus gestalten. Einige Worte zur „Dorfprosa“, und zwar unter folgenden Gesichtspunkten. Die sogenannte Dorfprosa, für die die Kritik nun mal keine bessere Definition fand, wurde aller Todsünden bezichtigt, darunter auch der Nostalgie, der Sehnsucht nach dem patriarchalischen Leben, der Be schränktheit, der Konfrontation von Dorf und Stadt und so weiter und so fort. Aus Angst, uns am Feuer zu verbrennen, haben wir uns einfach eingeredet, dieses Feuer sei kein Feuer. Heute aber ist klar, daß die besten Werke dieser Prosa aus der Lebensnotwendigkeit entstanden sind, auf die dramatischen Ereignisse zu reagieren, die das Nachkriegs dorf erlebte, aus der Notwendigkeit, jene geistigen, sittli chen, ethischen, arbeitsbezogenen Traditionen und Werte zu wahren — mehr noch, in neuer Qualität, unter neuen hi storischen Bedingungen wiederzubegründen —, die der Prü fung durch die Zeit standgehalten hatten.
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Dörflich ist diese Prosa hinsichtlich der Geographie und der Lebensweise ihrer Helden, der Bedeutung nach ist sie je doch allgemein menschlich, denn sie stellt Menschen dar und durch sie die Zeit, die Geschichte und, wenn Sie so wol len, Züge der Epoche. Die „Dorfprosa“ wurde eine Art Epos unserer Tage. Besonders hervorheben möchte ich, daß diese mit einigem verstecktem Snobismus als dörflich etikettierte Prosa im Grunde die bedeutendste Errungenschaft der Sowjetlitera tur der siebziger Jahre ist, stellte sie sich doch, wie ich schon sagte, den schmerzlichsten Problemen unserer Tage. Sie ge staltete den tiefen Schmerz des Menschen, sein — wenn Sie so wollen — Schuldgefühl angesichts verwilderter Äcker und ungemähter Wiesen, angesichts des verlorenen Be wußtseins, Hüter des Landes zu sein, Bewahrer und Begrün der einer volkstümlichen Lebensweise. Unter der Feder einer prächtigen Plejade heute wirkender Schriftsteller erreichte die „Dorfprosa“ ästhetische und hi storische Allgemeingültigkeit, und dank der Magie der Kunst markierte diese Welle einen Hauptweg der zeitgenös sischen Literatur, ein neues Niveau des Realismus, der Par teilichkeit und Volkstümlichkeit künstlerischen Schaffens im wahrsten Sinne des Wortes. Die „Dorfprosa“, die vom Volksleben erzählt, wurde zu einem Inbegriff hohen staatsbürgerlichen Verantwortungs bewußtseins, großer Sohnesliebe des Künstlers zum Volk, zu einem Inbegriff seiner aktiven Anteilnahme an den Taten und Schicksalen seiner Zeitgenossen. Und was die nationa len Eigenschaften der Literatur betrifft, so ist gerade die tief lotende nationale Sicht auf das Wesen der Charaktere, die Beziehungen und Traditionen Grundvoraussetzung für jede echte, lebensnahe, der großen Welt zugewandte Kunst. Wer weiß, vielleicht kommt die Zeit, da man unter der Bezeich nung „Dorfprosa“ eine hohe Qualität der Literatur über haupt verstehen wird. Andererseits möchte ich nicht verschweigen, was mich beun
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ruhigt. Allmählich habe ich das Empfinden, es sei an der Zeit, neue „Bohrlöcher“ auf den Feldern der Dorfthematik niederzubringen, denn die alten scheinen schon zu versie gen. Möglicherweise irre ich mich. Jedenfalls ist ein tiefes philo sophisches Durchdenken des sich verändernden Volksle bens auf dem Dorf unumgänglich. Doch worüber wir auch schreiben — sei's über ein Produk tionsthema, ein sittliches oder ein historisches, wie man sie gewöhnlich unterteilt —, stets müssen wir das Wesentliche im Auge behalten: Mensch zu sein ist keine enge Spezialisie rung, der Mensch will die Welt nicht einfach als Schlosser, Architekt, Arzt, Traktorist sehen und wahrnehmen, sondern als ganzheitliche, harmonische Persönlichkeit. In seinem Verhältnis zur Kultur, zu seinen Mitbürgern tritt er eben als Mensch in Erscheinung und nicht als Vertreter dieses oder jenes Berufes. Soll er sich jedoch von der Seite sehen, so muß er sich auf eine höhere Warte erheben, und gerade dafür exi stiert die Kunst; aber auch sie bleibt wirkungslos bei jener engen Spezialisierung, aus der heraus unsere Bücher über Berufe geschrieben werden — über Bauarbeiter, Geologen und so weiter. Unsere erste Pflicht ist, gut zu schreiben. Oder, nach Mär quez' Devise: Gut zu schreiben ist des Künstlers revolutio näre Pflicht. Das erscheint einfach und verständlich. Aber so einfach ist es nicht. Ein Schriftsteller kann noch so oft erklä ren, er sei von einer Idee begeistert — wenn er sie nur illu striert, statt sie mit echter künstlerischer Kraft und Leiden schaft auszudrücken, dann wird er sie sogar noch diskredi tieren. Was aber heißt gut schreiben? Das kann wohl nie mand erschöpfend beantworten. Mir scheint, dazu gehören die Durchschlagkraft eines künstlerischen Einfalls, Über zeugtheit und ein Gedankenflug bis in den Kosmos der ge samten Menschheit, wo sich die geheimsten Bestrebungen des Menschengeschlechts zu einem Knoten vereinen. Eine Hauptaufgabe des Schriftstellers ist es, den sittlichen
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Zustand der Gesellschaft zu diagnostizieren, die Evolution in der geistigen Atmosphäre der Zeit vorauszusehen. In diesem Zusammenhang einige Worte zum Problem des Schullehrers als Erzieher, als Anwalt von Sprache und Lite ratur, als Missionar der Kultur, als die Person in der Gesell schaft, die die Generationen verbindet und das Antlitz der jungen Bürger formt. Ja, ein solches Problem existiert. Nicht etwa, weil es um den Lehrer in unserem Land schlecht be stellt wäre — nein, er steht an seinem Platz, vermittelt Wis sen. Doch Wissen und Erziehung sind bei weitem nicht iden tisch. Ohne natürlich die Familie ausnehmen zu wollen — vom Lehrer hängt es ab, nach welchen sittlichen Prinzipien der Mensch in Zukunft handeln wird, was er lesen wird, ob er Dostojewski und Tolstoi bewältigt oder ob er sich damit begnügt, in früher Jugend Krimis zu konsumieren. Was aber wird er lesen, wird er sich zurechtfinden, eine Aus wahl treffen können in der Literatur seiner Zeit? Damit ein Lehrer wirklich Lehrer ist, muß ihn seine Umgebung achten. Doch der Lehrer unserer Tage ist da in eine schwierige Lage geraten. Er soll über hohe Autorität verfügen, Erzieher, Bei spiel sein, die besten Eigenschaften eines kultivierten Men schen besitzen. Erinnern Sie sich, was der Lehrer zu unserer Schulzeit darstellte, wie er verehrt wurde, besonders auf dem Dorf und besonders im Osten? Er war Lehrer für alle, für die Kleinen wie für die Erwachsenen. Sieht er heute noch so aus, der Schullehrer? Ich wage es nicht zu behaupten. Doch weshalb sollte ich meine Besorg nis verhehlen? Die Lehrer sind eine große Kraft des Landes. Ihr geistiges Potential bestimmt in unserem Leben sehr viel. Das Funda ment des Wissens, der Kultur, des Patriotismus im Be wußtsein der Kinder legt der Lehrer durch sein unmittelba res und alltägliches Bemühen. Selber aber stößt auch er heute auf eine Kraft, die zu überwinden gar nicht so leicht ist. Die Hebung des Lebensniveaus eines Volkes hat nämlich
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auch ihre dialektischen negativen Seiten. Das Leben muß verbessert werden, zweifellos. Die Menschen müssen besser versorgt leben, komfortabler, reicher. Nicht darum geht es. Sorge bereitet etwas anderes. Nicht zufällig heißt es doch wohl bei uns von alters her: „Je satter, desto hochmütiger.“ Wir waren sozial, sittlich und kulturell ungenügend vorbe reitet auf das schnelle Anwachsen der materiellen Möglich keiten, und die Folge ist die Konsumkrankheit bestimmter Bevölkerungsschichten. Daraus wiederum resultieren der Verlust von geistigen Werten, die Schwächung des ideellen Anspruchs, ein Erwerbsdenken im Sinne des berüchtigten „Geb ich dir, gibst du mir“ und andere Übel des Spießer tums bis hin zu Veruntreuung, Spekulation und Bestechlich keit. Mitten in diesem zähflüssigen Strom, der die wahrhaft menschlichen und sittlichen Werte verrückt, steht der Schul lehrer, der keine Mangelwaren „organisieren“ kann und deshalb in den Augen des Spießers wenig gilt, sich nicht recht wohl fühlt. Der Lehrer fängt als erster den Schlag der geistigen An spruchslosigkeit ab; die Attacken des Spießertums wieder holen sich Tag für Tag, und er wird sie nicht abwehren kön nen, wenn ihm nicht alle Kulturschaffenden zu Hilfe eilen. Hier ist schon nicht mehr von der Art und Weise und der Qualität des Literaturunterrichts die Rede — wie eindrucks voll hat darüber doch Fjodor Abramow in seinem ausge zeichneten Beitrag gesprochen! Hier geht es um mehr — nicht um den Unterricht, nicht um den Vorgang, sondern um den Lehrer als Persönlichkeit. Darum der Appell an die gesamte kulturelle Öffentlichkeit. Wir alle sind verpflichtet, das berufliche und soziale Anse hen des Schullehrers zu heben, wenn wir uns als Erzieher Lehrer wünschen, die dazu berufen sind, und keine zufälli gen Leute, denen die Bürde des Pädagogen zur Last wird. Daher wird diese Frage zu einem Problem der Bewerberaus lese für die Pädagogischen Hochschulen, regt sie zum
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Nachdenken über alles an, was mit den Studienzulassungen zusammenhängt. Die Publizistik wie die große Literatur sind dem Schullehrer verpflichtet. Vergessen wir das nicht! So geht das!, wie die Gestalten bei Vonnegut gern sagen. Doch all diese Dinge und Sorgen überschattet heute das schrecklichste Problem. Niemand wurde jemals mit solch einer unwahrscheinlichen, undenkbaren, unvorstellbaren 'Gefahr konfrontiert, die uns alle bedroht. Wie kann der Frieden erhalten werden? Seit langem bangt die Menschheit vor dem Weltende; schon als sie begann, sich ihrer selbst bewußt zu werden, versuchte sie es vorauszusehen und sogar darzustellen. In der Bibel ist es die Sintflut, in anderen Werken sind es alle möglichen Naturkatastrophen, nach der chinesischen Mythologie wird ein gigantisches Krokodil erscheinen, das die Sonne ver schlingt, und alles ist zu Ende. Wie dem auch sei, der Mensch konnte dank seiner Einbil dungskraft nicht umhin, sich den Weltuntergang vorzustel len, aber stets ließ er sich dabei ein Hintertürchen offen, Hoffnung auf eine Auferstehung. Doch keiner vor uns in der Geschichte vermochte sich vor zustellen, keinem kam je in den Kopf, daß das Weltende ein treten kann als Folge einer Selbstvernichtung, eines Selbst mordes des Menschengeschlechts, das in seinem Arsenal todbringende Waffen kosmischen Ausmaßes angehäuft hat. So etwas konnte sich in früheren Zeiten niemand ausmalen. Und für eine Auferstehung entfallen alle Voraussetzungen. Was soll diese Auferstehung, und wo soll sie stattfinden, wenn das geschieht, was Menschen ersinnen — überheblich geworden von der Überfülle an Macht, von ihrer militäri schen Stärke und von der ungestraften Manipulierung des gesellschaftlichen Bewußtseins durch die Massenkommuni kationsmittel? Diese Leute erheben sich sogar über die Göt ter. Mit allem Nachdruck müssen wir darüber reden, die Amerikaner sollen begreifen, daß ihre Administration ein
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Verbrechen vor allem gegen Amerika selbst begeht. Das ist die Logik der Ereignisse. Wir kämpfen für den Frieden, un terstützen unsere sowjetischen Initiativen; da müssen wir nicht nur in publizistischen Beiträgen, sondern auch in der großen Literatur, in menschlichen Schicksalen und Gestal ten diesen tragischen Widerspruch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gedanklich erfassen — den Widerspruch zwi schen der Grenzenlosigkeit des menschlichen Genies und der Unmöglichkeit, dieses Genie zu realisieren, seine Früchte zu nutzen, weil die vom Imperialismus errichteten politischen, ideologischen und rassischen Barrieren es nicht zulassen. Wenn die ökonomischen und ökologischen Bedürfnisse der Menschheit danach verlangen, daß all ihre Potenzen freige setzt werden, weil nur so die Zivilisation auf Erden bewahrt werden kann, dann begeht, wer Zwietracht zwischen den Völkern stiftet und die materiellen Ressourcen, die intellek tuelle Energie für das Wettrüsten vergeudet, ein ungeheuer liches Verbrechen an allen heute lebenden Menschen und ihren Nachkommen. Dieser Vergeudung menschlichen Potentials muß ein Ende gesetzt werden! Der Künstler unserer Tage muß dem Menschen bewußt ma chen, daß es erforderlich ist, den anderen so zu empfinden, sich in ihn hineinzuversetzen und ihn zu verstehen wie sich selbst, er muß sich an die ganze Welt wenden, mit seinem Wort jedes Herz erreichen. Nur dann bleibt die Hoffnung, daß der Mensch der emotio nalen Verarmung, der Vertierung, der technischen Barbarei entgeht und es nicht wagt, auf jenen Atomknopf zu drük ken, von dem alles Leben abhängt. Die Welt ist in Erwartung erstarrt. Die Welt erhebt sich wie eine mächtige, aufschäumende Ozeanwoge, doch die Alarmsignale werden leider zu Rhetorik gewohnter, alltägli cher Situation; sie berühren das Bewußtsein der Leute nur oberflächlich, zwingen sie nur für einen Moment aufzumer
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ken, denn auf sie warten ihr Leben, die Arbeit, die Familie, die üblichen Sorgen, der Alltag. Der Mensch ist geneigt, für den Augenblick zu leben. Litera tur und Kunst sind berufen, die großen Ideen des Humanis mus zu wahren, sie aus der globalen in die private Sphäre zu übertragen, damit einen jeden die Weltprobleme bewegen, als wären es die eigenen. Das ist unsere Mission, unsere Aufgabe, Sache aller Schrift steller und Künstler, in erster Linie aber der sowjetischen, denn es ist eine Prämisse des Sozialismus, daß das Wohler gehen und das Glück der Allgemeinheit mit der Bedürfnis befriedigung und dem Glücksanspruch jedes einzelnen in Einklang zu bringen sind. Das ist unsere Devise, und ich denke, wir werden unver brüchlich daran festhalten. 1981
Anhang
Ein Karawanenführer
des Gewissens
Die Welt- und Kunstsituation an der Wende von den siebzi ger zu den achtziger Jahren markiert der Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ des Kirgisen Tschingis Aitma tow in bahnbrechender Weise, erstaunlich feinfühlig, sor genvoll mahnend und geschichtsphilosophisch tief lotend. Programmatisch wählte Aitmatow als Titel seines zwischen Dezember 1979 und März 1980 geschriebenen Romans eine Pasternak-Zeile, die in wörtlicher Übersetzung „Und länger als ein Zeitalter währt der Tag“ heißt und — nach einer In terpretationsvariante — auf ein Shakespeare-Zitat aus „Ju lius Caesar“ zurückgehen soll: „That we may, lovers in peace, lead on our days to age!“ Im Geiste Shakespeares, den er 1964 einen „Karawanenführer des Gewissens“ nannte, appelliert Aitmatow mit diesem Buch leidenschaftlich an das Weltgewissen, an die Friedensfreunde aller Kontinente, da für Sorge zu tragen, daß unsere Tage nicht in einer apoka lyptischen Katastrophe enden, sondern zukunftsoffen in künftige Epochen überleiten. Wie im „Weißen Dampfer“ (1970) entwickelt Aitmatow auch hier eine Tagesfrage, die tief in ihm wie in uns brennt, aus jahrhundertealter, aber lebendiger Volkserfahrung. Ideeller Ausgangspunkt und Sujetformel des Romans ist die altkasachische Legende von einem unbewußten Mutter mord: Eine kasachische Mutter erfährt, daß ihr in den Stam mesfehden des Mittelalters vermißter Sohn in Gefangen schaft geraten ist und als ein Mankurt Sklavendienste leistet. Mankurt nannte man Gefangene, die, durch unmenschliche
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Torturen ihres Gedächtnisses beraubt, zum hündisch-eifri gen Willensvollstrecker ihres Herrn verwandelt wurden. Die Mutter sucht ihren Sohn-Mankurt in der kasachischen Steppe auf, wo er eine Herde seines Herrn hütet, um ihm Gedächtnis und Freiheitswillen zurückzubringen. Der beun ruhigte Sklavenhalter rüstet seinen Mankurt mit Pfeil und Bogen aus, damit er seine Mutter, die er nicht erkennt, und künftig alle anderen Fremden, die sich der Herde zu nähern wagen, ohne Anruf erschießt. Der Mankurt folgt diesem Be fehl. Dort, wo er seine Mutter tötete, entstand kommenden Geschlechtern zur Mahnung ein heiliger Friedhof der Kasa chen. Auf diesem Steppenfriedhof, dem heute ein Kosmodrom be nachbart ist, will der traditionsbewußte Kasache Edige sei nen Freund Kasangap beerdigen, mit dem er über vierzig Jahre auf einer entlegenen Eisenbahnausweichstation gelebt und gearbeitet hat, an der die Züge ständig von Ost nach West und von West nach Ost vorüberrauschen — einsam in der Steppe, an der Strecke Moskau—Alma-Ata. Die Le gende vom Muttermord des Mankurts wird für Edige in der Rückerinnerung an den verstorbenen Freund, an das eigene Leben und das seiner anderen Gefährten zum sittlichen Prüfstein und Katalysator für heutige, lebenswichtige Pro bleme, deren Lösung nicht länger aufgeschoben werden kann. Wurde wirklich alles Erdenkliche getan, damit das Heroische und Tragische unserer Epoche im Gedächtnis des Volkes bewahrt bleibt und der Zukunft Nutzen bringt? Wurde nicht auch Sabitshan, der Sohn des Verstorbenen, ein Mankurt? In der Stadt dem Leben, den Sorgen und Hoffnungen seiner Vorväter entfremdet, sieht er das Zu kunftsideal in einer nach Computerprogrammen geregelten, mankurtisierten Welt. Und letztlich entpuppt er sich als eine von äußerlichen, kurzlebigen Bedürfnissen gelenkte „leere Seele“. Aber Edige erinnert sich auch an das Frühjahr 1956, •als es ihm gelang, Abutalip zu rehabilitieren, einen ehemali gen Lehrer, dem in der Schicksalslotterie der Zeit ein beson
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ders tragisches Los zuteil wurde: Verwundet geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, floh aus dem Konzentra tionslager zu jugoslawischen Partisanen, befreite mit ihnen kämpfend Belgrad. In einer Atmosphäre gegenseitigen Miß trauens mußte er in den vierziger Jahren seinen Lehrerberuf aufgeben und kam schließlich in eberijene entlegene Eisen bahnausweichstation. Dort versuchte er das Auf und Ab sei nes Schicksals zu ergründen und schrieb es als Lehre für seine Kinder nieder. Von einem argwöhnischen Revisor wurde das erneut mißverstanden. Abutalip starb als ein Op fer von Verleumdungen 1953 in Untersuchungshaft und schien dem Vergessen anheimzufallen. Im Frühling 1956 dann erkannte Edige die ganze Tragik, aber auch die verhei ßungsvolle Perspektive der Epoche. Auch heute ist es ihm Verpflichtung, seinen Kampf für die Bewältigung von Man kurttendenzen fortzusetzen. Symbolisch äußert sich das in seinem Wunsch, den verstorbenen Kasangap unbedingt auf dem heiligen altkasachischen Friedhof beizusetzen. Und die kurze Reise der kleinen Trauerkarawane zu diesem Fried hof dauert länger als ein Zeitalter, weil sie im Nachsinnen Ediges eine Reise ins Innere, in die Geschichte wird. Die Weltsicht des Romanautors Aitmatow aber ist tiefer und umfassender als Ediges Rückschau und Ausblick. In dem Theaterstück „Aufstieg auf den Fudschijama“, das Aitma tow 1973 gemeinsam mit dem kasachischen Dramatiker Kaltai Muchamedshanow schrieb, werden die auch Edige bewegenden Fragen in Versen ausgedrückt, die ein junger Dichter in den Schützengräben des zweiten Weltkrieges schrieb und den gefallenen Soldaten widmete: „Wenn die Sturmglocke schweigt, / Erheben sich die erschlagenen Schatten, / Und in unendlichen Reihen / Marschieren sie lautlos zu mir. / Was kann ich ihnen sagen? / Mit welchen Worten sie trösten, / Sie, die da fielen / In diesem giganti schen Krieg? / Zu gleichen macht alle der Tod. / Nur Men schen sind sie. Erschlagene. / Ein Menschensohn jeder, / Nicht Marschall und nicht Gemeiner. / Was soll ich sagen
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ihnen, / Den hier Versammelten, / Unter denen es schon / Keine Unseren gibt, keine Fremden? / Von wem wurde oben / Der Generationen Schicksal erdacht? / Wo sind die Grenzen des Leidens / Im menschlichen Meer?“ Dieser Dichter zieht aus seinem Erleben und Nachdenken weiter den Schluß, der wiederum Ediges Suche nach Geschichts verständnis und menschlicher Haltung charakterisiert: „Nein, ohne Ende ist der ewige Streit: / Wie aber bleibt ein Mensch ein Mensch? / Auch hier im Kriege noch derselbe Streit: / Wie aber bleibt ein Mensch ein Mensch? / In Sie gesrufen höre ich den Streit: / Wie aber bleibt ein Mensch ein Mensch? / In Todesschreien höre ich den Streit: / Wie aber bleibt ein Mensch ein Mensch? / Auch nach dem Siege bleibt derselbe Streit: / Wie aber bleibt der Mensch ein Mensch? / Und wer verstrickte uns in diesen Streit: / Wie aber bleibt der Mensch ein Mensch? / Wer sandte ihn herab den ewigen Streit: / Wie aber bleibt der Mensch ein Mensch?“ In dem Stück antwortet der Geschichtslehrer Mambet auf all diese Fragen: „Unsere gesellschaftliche Erfahrung er laubt es uns bereits, im Namen aller, des ganzen Menschen geschlechts, zu sprechen. Hat doch noch niemand, noch keine Gesellschaft, solche Wege durchschritten wie wir ... Es geht hier nicht ums Kritisieren. Wir müssen überzeugt sein, daß die von uns durchlebten Jahre in die große Litera tur als Erfahrung der Generation eingehen. Wie haben wir gelebt? Muß man so auch nach uns leben? Auf diese Frage kann die Literatur antworten und nur die Literatur ... Ich möchte vor die Zukunft nicht mit einer Literatur treten, die nichts vermag. Wir haben doch große Zeiten durchlebt... Darum geht es. Die Nachkommen verstehen nicht nur zu würdigen, sondern auch zu richten ... Ich bin Geschichts lehrer und bemühe mich mit allen Kräften, daß die Ge schichte der Menschheit für die Schüler eine Lebenslektion sei und nicht eine bloße Aufzählung, wann welche Kriege stattgefunden haben. Ich will, daß meine Schüler verstehen,
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wie und um welchen Preis die menschliche Gesellschaft zur Einsicht in die Notwendigkeit der internationalen Solidari tät gelangt ist.“ Darum geht es Aitmatow auch in seinem neuen Roman. Doch die Erfahrungen und Einsichten der letzten Jahre, der unmittelbaren Gegenwart veranlaßten den Schriftsteller, diese beunruhigenden Fragen und Überlegungen künstle risch direkt als das globale Menschheitsproblem zu gestal ten. Das erreichte er durch eine in der Art wissenschaftlicher Phantastik geschriebene Antiutopie-Parabel, die innerlich mit der altkasachischen Legende vom Muttermord des Man kurts korrespondiert und die vielschichtige Romankomposi tion krönt. Während die Trauerkarawane noch in der Nähe des Kos modroms weilt und Edige sich vergeblich bemüht, zu dem heiligen Friedhof zu gelangen — er wurde dem Territorium des Kosmodroms einverleibt —, steigen gewaltige, nie gese hene Roboterfaketen mit Atomsprengköpfen in den Him mel. Von einem apokalyptischen Entsetzen gepackt, fliehen Edige, sein Kamel und sein Hund — alles, was kreucht und fleucht — in die Steppe. Der Leser erfährt in knappen, nur die äußeren Vorgänge skizzierenden Sätzen, daß ein paritä tisches sowjetisch-amerikanisches Raumfahrtunternehmen stattgefunden hat und auf Grund unvorhergesehener Ereig nisse abgebrochen werden mußte. Ein von der Erde weit entfernter Stern eines anderen Son nensystems sollte für die Gewinnung neuer Energiequellen erschlossen werden. Plötzlich brach der Kontakt zu den bei den Kosmonauten ab, die mit ihrer Raumstation bereits den vorprogrammierten Zielpunkt erreicht hatten. Nachge schickte Ersatzkosmonauten stellten fest, daß die Vermißten mit vernunftbegabten Lebewesen eines anderen Planeten Funkverbindung aufgenommen hatten und eigenmächtig, ohne die Zentrale auf der Erde zu verständigen, einer Einla dung der Bewohner dieses Planeten zu einem Blitzbesuch gefolgt waren. Sie fanden eine höher entwickelte Zivilisa
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tion vor, die bereits in einer An kommunistischer Gesell schaft ohne Staatsgewalt, Militär, Polizei lebte und so ihre ganze Kraft auf die Sicherung ihrer bedrohten natürlichen Umwelt beziehungsweise die Suche nach neuen Existenz möglichkeiten im All richten konnte. Unsere irdische Zeitsi tuation erweist sich jedoch als noch nicht reif für eine Kon taktaufnahme mit dieser Zivilisation. Das Gleichgewicht der Kräfte, die friedliche Koexistenz könnten dadurch gefähr det werden und einen alles Leben auf unserer Erde vernich tenden dritten Weltkrieg heraufbeschwören. Deshalb bricht die paritätische Raumfahrtbehörde das großangelegte kos mische Forschungsunternehmen ab und beschließt, der Weltöffentlichkeit die Kontaktaufnahme mit den Fremden zu verschweigen. Sie verbietet den beiden Kosmonauten die Rückkehr in unser Sonnensystem und warnt auch den frem den Planeten vor weiteren Kontaktaufnahmen zu Erden menschen. Alles soll bleiben, wie es ist. Um diesen Beschluß durchzusetzen, werden gleichzeitig in der Wüste Nevada und in der Steppe Kasachstans mit Kernwaffen bestückte Roboterraketen gestartet, die einen Ring um unser Sonnen system bilden und bei Annäherung fremder Flugkörper au tomatisch Vernichtungsfeuer speien sollen. An das Gewissen rührende oder zur Vernunft mahnende Antiutopien sind in der Weltliteratur immer dann entstan den, wenn die Menschheit an einem Kreuzweg stand. Die biblische Apokalypse des Johannes von Patmos warnte vor der Höllenfahrt des sich innerlich zersetzenden römischen Kaiserreichs und mahnte siegesbewußt an die urchristliche Alternative. Swifts „Gulliver“ deckte die sogar die menschli che Natur verstümmelnde Perspektive der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals auf. „Die Zeitmaschine“ von H. G. Wells leitete den Zyklus von Antiutopien — Huxley und andere — ein, die die neuartige, dem 20. Jahrhundert eigene Bedrohungen der Menschheit drastisch herausstell ten. An diese weltliterarische Entwicklungslinie, die nicht zuletzt durch die frühe Sowjetliteratur entscheidend mit
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bestimmt wurde, knüpft Aitmatow mit der phantastischen Antiutopie in seinem neuen Roman an: Auch er zeigt die Übermacht der Dingwelt und der schwer durchschaubaren gesellschaftlichen Mechanismen im Schicksal des menschli chen Individuums. Neuartige, kafkaeske Situationen entste hen. Die Gefahr, daß das ganze Leben integralisiert werden könnte, wird beschworen. Zwei Aspekte aber, die die Struk tur des „Werkes bestimmen, unterscheiden Aitmatows Ro man von den Antiutopien aus der ersten Hälfte unseres Jahr hunderts und kennzeichnen ihn als eine künstlerische Zwi schenbilanz unserer Epoche an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren. Noch nie war das Schicksal jedes einzelnen Individuums und der Menschheit als Ganzes so abhängig von der interna tionalen Weltsituation wie heute. Das vom Imperialismus verursachte Wettrüsten — Aitmatow weist in seinem Vor wort zu diesem Roman direkt darauf hin — mit seinen ver heerenden materiellen und seelischen Folgen, der schlei chenden, allein schon durch den Raubbau an der Natur dro henden globalen Katastrophe und vor allem der Gefahr eines dritten Weltkrieges offenbaren alarmierend, daß die lange gültigen und bewährten literarischen Kanons für jene Literatur, die sich als Menschen- und Epochenforschung versteht, heute nicht mehr ausreichen. Aitmatows Roman ist auch in der Suche nach neuen, zeitgemäßen künstlerischen Formlösungen eine Pionierleistung. Einer der ersten sowjetischen Schriftsteller, der aus der neuen Weltsituation des 20. Jahrhunderts radikale Schluß folgerungen in bezug auf die Zerstörung traditioneller lite rarischer Kanons und die Suche nach neuen Prosaformen gezogen hat, war Ilja Ehrenburg. Schon seinem ersten Ro man, „Julio Jurenito“ (1921), über den ersten Weltkrieg liegt die internationale Verflechtung und Abhängigkeit aller L'ebensbeziehungen als Sujet zugrunde. Dessen Fortset zung, der Roman „Trust D. E. oder die Geschichte vom Un tergang Europas“ (1923), ist eine Antiutopie über einen be
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fürchteten zweiten Weltkrieg, die, wie Ehrenburg später be merkte, auch noch heute als eine Warnung vor einem dritten Weltkrieg geschrieben werden könnte. Und in der Groteske „Der VKM“ (Der vervollkommnete kommunistische Mensch, 1921), wird der phantastische Versuch, das ganze Leben zu integralisieren, — eine der ersten Antiutopien die ser Art — künstlerisch ad absurdum geführt. Schließlich fand Ehrenburg mit seinem großen Memoirenwerk „Menschen Jahre Leben“ (1959—1967) zu einer Form des polyphonen Bewußtseinsromans, der sich zwar — wie vorwiegend der Roman des 19. Jahrhunderts — auf ein individuelles Schick sal gründet, aber ein Weltpanorama der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet. Ehrenburgs besondere Lebensge schichte zwischen Ost und West beziehungsweise zwischen West und Ost gibt dafür eine einzigartige Stoffgrundlage. Und die vielen gewichtigen Stimmen aus aller Welt zu den wechselvollen Ereignissen unserer Epoche öffnen dem Leser auch den Blick auf jene verwickelten Zusammenhänge, die, wie Ehrenburg sagt, noch nicht „Eigentum der Geschichts wissenschaft“ geworden sind und die auch der Schriftsteller selbst noch nicht vollständig zu durchschauen vermochte. Auch Aitmatows Buch ist in seinem Kernstück ein polypho ner Bewußtseinsroman: Die Rückerinnerung des alten Edige, seine Bemühungen, die Lebenslinie der Menschen, seines Volkes, der Jahrhunderte zu erfassen — und nicht etwa die Ereignisse selbst —, sind der eigentliche Gegen stand des Romans. Ediges sittliche Fragestellung, sein VonInnen-gelenkt-Sein — all das, was ihn als eine echte Volks figur erscheinen läßt — gibt ihm die Kraft, diese Linie zu er fühlen und unbeirrbar für sie einzutreten. Aber auf Grund der weitgehenden Isolation von der „großen Welt“, die der Wahrung ursprünglicher, bäuerlich-patriarchalischer, „see lischer“ Geschlossenheit zweifellos förderlich ist und des da mit verbundenen intellektuellen Horizonts, reicht diese zen trale Romanfigur nicht aus, um die komplizierte Weltsitua tion in ihren verwickelten internationalen Verflechtungen
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und Motivationen durchschaubar zu machen. Auch die viel schichtig angelegten anderen Romangestalten, mit denen sich Edige auseinandersetzt, sind dazu nicht in der Lage. Daher benötigt Aitmatow die alte Mankurt-Legende und die Antiutopie. Die Legende bestimmt die menschheitsge schichtliche Grundfrage — wie verläuft der Kampf zwischen Gut und Böse? — zum ideellen Ausgangs- und Zielpunkt der Romankomposition und erhellt zugleich die Vergangen heitsebene, den Ursprung dieser Grundfrage. Damit ist der Roman als eine neue Menschheitsdichtung angelegt. Die Antiutopie zeigt den Stand des Kampfes zwischen Gut und Böse in der heutigen „großen Welt“ und beleuchtet die Per spektive. Diese eigenartige Formlösung will bedacht sein. Sie erschließt, vermittelt den objektiven Gehalt des Romans. Die Situation des Menschen und der Welt läßt sich schon längst nicht mehr in einem linearen Geschehnisroman erfas sen. Deshalb wandte sich die große Literatur unseres Jahr hunderts entweder dem Bewußtseinsroman oder epischen Parabeln in Form von Grotesken, Märchen und Mythen zu. Juri Trifonow begründet seinen Bewußtseinsroman mit der Notwendigkeit, ferne Zusammenhänge aufzudecken, die der Leser selbst erschließen soll, die unsichtbaren Fäden, die die Gegenwart mit dem Vergangenen, mit noch fernerer Vergangenheit und mit derZukunft verbinden. Darauf zie len die Bemühungen seiner intellektuellen Helden. „Zeit und Ort“, sich selbst, ihre Epoche, die Geschichte, das „an dere Leben“ zu erfassen. Da dies sein neues Thema, sein Ro mangegenstand ist und seine Helden den Prüfungen, Fra gen, Versuchungen und Zweifeln der „großen Welt“ auf diese Weise ausgesetzt sind, kann sich dieser Roman reali stisch „in punktierten Linien“ entfalten. Aitmatows unmittel bar literarischer Gegenstand, seine künstlerische Weltsicht und Tradition unterscheidet sich davon zwar in wesentli chen Momenten. Das Bewußtsein seiner Helden und seine eigene künstlerische Seh- und Darstellungsweise ist noch stark von den Traditionen der Volksdichtung geprägt. In
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seinem Artikel „Verantwortung für die Zukunft“ (1967) hat Aitmatow die Grenzen dieser Tradition so beschrieben: „Die ersten Prosawerke bei uns in Kirgisien trugen eindeutig folkloristische Züge: märchenhafte Sujets, Helden, die Tu genden oder Laster verkörperten, Hyperbeln, statische Cha raktere ... Ein reifer Realismus erfordert etwas anderes.“ Und in der Debatte um den „Weißen Dampfer“ 1970 er gänzte er: „Ein Märchen ist ein Märchen, es erzählt von Vergangenem ... Wenn eine alte Überlieferung nicht in der Lage ist, an Aufgaben unserer Tage heranzuführen, braucht man sie nicht wieder auszugraben ...“ Im „Weißen Damp fer“ benutzte er die Legende von der Gehörnten Weißen Hirschmutter — einer Menschheitsmutter — als ein Instru ment für die Darstellung des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse heute. Deshalb veränderte er auch den idyllischen Märchenschluß der Legende: Statt das patriarchalisch Gute (Momun) über das patriarchalisch Böse (Oroskul) trium phieren zu lassen, zeigt er, daß diese beiden Extreme der Vergangenheit sich wechselseitig bedingen und daher beide gemeinsam zu überwinden sind. Direkt polemisierte er da mit gegen jene Hüter folkloristischer Traditionen, die vom patriarchalisch Guten eine Lösung der heutigen Mensch heitsfrage erwarten. Aitmatows neue Volksfigur Edige ist der Gestalt des Mo mun darin verwandt, daß auch er noch in Geist und Form der alten Legenden denkt. Dadurch wird die Mankurt-Le gende zu einem notwendigen und organischen Bestandteil des Romans. Aber Edige hat das idyllische Weltbild des Märchens mit der geduldigen Erwartung eines Happy-Ends bereits so weit überwunden, daß er die sittlichen Ideale der Vergangenheit allen Bedrohungen und Versuchungen der Zeit zum Trotz verteidigen kann, ja sogar in der Lage ist, sie in seinem Lebensbereich freisetzen zu helfen, wenn die Zeit dafür heranreift. Gewiß, 1956 sieht er die Welt noch märchenhaft verklärt, heute aber lebt er längst bewußt im „anderen Leben“, das „nach dem Märchen“ kam, das anders
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als gedacht ist und anders bewältigt sein will. Doch die Be drohungen und Versuchungen der „großen Welt“ bleiben dennoch in seinem Leben mehr oder weniger Episoden am Rande. Zwar ist „des Denkens Faden“ bei ihm nicht zerris sen, aber er muß und kann auch in seinem Inneren nicht das durchleben, was heute „der ganzen Menschheit zugeteilt ist“. Aitmatow bemüht sich gewiß — Werner Kaempfe hat das bereits scharfsinnig angemerkt — trotz aller objektiven Grenzen des Stoffs, seiner Volksfigur Edige durch eine tra gische Liebe, durch die verständnisvolle Beziehung zu sei nem die Natur symbolisierenden Kamel (er lehnt ab, es durch Kastration zu bändigen, in einen Mankurt zu verwan deln) und viele andere Details solch einen inneren Reichtum zu verleihen, daß er, in dieser Hinsicht Goethes Faust ver gleichbar, zum menschlichen Prüffeld für die Lösung heuti ger Weltprobleme wird. Doch selbst Goethe, der seinen Faust durch „die kleine und große Welt“, zurück zum anti ken Ursprung europäischer Kultur und zur Zukunftsvision „eines freien Volkes auf freiem Grund“ führt, benötigte für seine Menschheitsdichtung Prolog und Epilog „im Him mel“, da er sich, wie Goethe selbst betonte, bei der Darstel lung von „so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen“ „leicht im Vagen hätte verlieren können“, wenn er nicht sei nen „poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohl tätig beschränkte Form und Festigkeit gegeben hätte“. Aitmatow greift auf die alte Volksdichtung, die Quelle der Kultur seines Volkes, zurück und wählt für die Gestaltung der kaum zu ahnenden Aspekte seiner poetischen Intentio nen — anknüpfend an Tatsächliches, etwa an das SojusApollo-Unternehmen — scharf umrissene zeitgenössische Motive und Formen wissenschaftlicher Phantastik. Das be zieht sich nicht nur auf die Kosmosgeschichte, sondern auch auf das Symbolische in der Gegenwartshandlung, auf die eingestreuten anderen Legenden von tragisch Liebenden und die symbolische Überhöhung der Details wie in der Ka
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melgeschichte, der Beschwörung einer Vision, das ganze Leben zu integralisieren, der Lenkung der Menschen durch Bioströme, der Beschreibung der Eisenbahnstation zwischen Ost und West. Bereits das literarische Credo des jungen Aitmatow lautete: durch das „Nationale das Allgemeinmenschliche“ gestalten. Sein erstes bedeutendes Werk „Dshamila“ (1957) — die Ge schichte vom Ausbruch einer jungen Frau aus der Enge einer kirgisisch-patriarchalischen Großfamilie — wurde zu einem Fanal für die damalige junge Generation in ihrem Streben nach menschlicher Selbstverwirklich'ung auch außerhalb Mittelasiens. Mit „Abschied von Gülsary“ (1966) — dem Be ginn einer neuen Entwicklungsphase in Aitmatows Schaf fen, in der er endgültig in die große Literatur seines Landes und der Welt einging — wurden der nationale und der allge meine Aspekt im Werk des kirgisischen Schriftstellers ausge prägter. Qualvoll und belebend zugleich ist die Rückschau des alten Hirten Tanabai während der letzten Fahrt mit sei nem „Märchenpferd“ Gülsary auf sein eigenes heroisches und tragisches Leben und das seiner Epoche in Revolution, Kollektivierung, Krieg und Nachkriegszeit. Die unverwech selbare Stimme Aitmatows bildete sich heraus, die, wie Wla dimir Lakschin damals schrieb, „die Musik des liedreichen Ostens und gleichzeitig die feinfühlige Seelenstimmung eines zeitgenössischen Künstlers wiedergibt, der alle Freu den und Bitternisse des zwanzigsten Jahrhunderts durch lebt“. Aitmatows Neusicht alter Themen und seine Polemik gegen den traditionellen linearen und monologischen Pro duktions- bzw. Kolchosroman zeitigte hier in der Grund struktur einen modernen polyphonen Bewußtseinsroman, der — durch die Metaphorik kirgisisch-folkloristischer Tra dition geprägt — darauf zielt, wie Lew Arutjunow verallge meinerte, Tanabai zum Überwinden der Umstände zu zwin gen, „die es nach der Idee nicht geben solle und die über die Zerstörung seiner patriarchalischen inneren Geschlossenheit und durch quälende Prüfungen des Geistes zu einem neuen,
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sozialistischen Persönlichkeitsbewußsein führen“. Nach „Abschied von Gülsary“ erklärte Aitmatow, dieses Buch sei für ihn nur „der erste Schritt“ zu einem synthetisierenden Roman über die Epoche: „Längst ist bekannt, daß das Inter esse für die Vergangenheit mit der Verantwortung für die Zukunft verbunden ist. Heute können wir die Vergangen heit in neuem Licht sehen ... Ich möchte ein in vielem auto biographisches Buch schreiben ... über meinen Vater (er war Sekretär eines kirgisischen Gebietskomitees der Partei und kam 1937 ums Leben), über mich, über meine Genera tion, über die Besonderheiten dieser Generation und ihre Traditionsbeziehungen.“ Diese Überlegungen des Jahres 1967 weisen schon unver kennbar in die Richtung des Romans „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“. Zunächst aber folgte „Der weiße Damp fer“ (1970), das künstlerisch bisher wohl geschlossenste Werk Aitmatows, da hier die „Verabschiedung der Mär chenzeit“ in der ihm besonders gemäßen Form einer mär chenhaft stilisierten Parabel erfolgt. Nicht zufällig entstand dieses Meisterwerk nach dem Erscheinen von Michail Bul gakows Nachlaßwerk „Der Meister und Margarita“. Hier fand Aitmatow eines der großen Beispiele — im Vorwort zu seinem neuen Roman beruft sich Aitmatow auch direkt auf Bulgakows Tradition — jener anderen Entwicklungstendenz des Romans im 20. Jahrhundert, die die fernen Zusammen hänge, die unsichtbaren Fäden, die Gegenwart, Vergangen heit und Zukunft miteinander verbind.cn, vornehmlich in Parabeln, im — der Groteske eigenen — Wechsel und in der Überschneidung von Realem und Phantastischem, von Ge genwärtigem, Vergangenem und Künftigem poetisch ver sinnbildlichen will. Als Kirgise und mit der Erfahrung der endsechziger Jahre nahm Aitmatow eigenständig Grund strukturen dieses russischen Faust- und Teufelsromans aus den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts auf: der Ver flechtung des geschichtlichen Urmodells Jesus/Pilatus mit der „Walpurgisnacht“ im Moskau der dreißiger Jahre und
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den Märchen vom Meister und Margarita stellte er die Le gende von der Hirschmutter und der hinkenden Alten, die alptraumhafte „schwarze Messe“ des Oroskul, die die hei lige Legende zurücknehmen soll, und das neue Märchen des Knaben vom Weißen Dampfer zur Seite und gegenüber. Zu gleich werden dadurch schon Grundprobleme und Kompo sitionsmodelle von Aitmatows jüngstem Roman vorgeformt. Die Strukturen des „Weißen Dampfers“ werden dort gleich zeitig mit denen des Bewußtseinsromans „Abschied von Gülsary“ aufgenommen. In diese Entwicklungstendenz von Aitmatows Schaffen deu tete auch das Stück „Aufstieg auf den Fudschijama“ (1973): Die Wiederbegegnung ehemaliger Schul- und Kriegskame raden, der Rückblick auf ihr Leben, ihre Zukunftsvisionen sind in der Art eines polyphonen Bewußtseinsromans dra matisch in Szene gesetzt. Doch was bedeuteten danach die Kindheitsnovelle „Frühe Kraniche“ (1975) und die mytholo gische Geschichte „Scheckiger Hund, der am Meer entlang läuft“ (1977)? Die Novelle erschien zunächst wie ein nach geliefertes Frühwerk Aitmatows, aus der Zeit vor „Abschied von Gülsary“, und die Gestaltung der Mythe vom Clan der Fischfrau wie eine Vorarbeit zum „Weißen Dampfer“. Der sowjetische Literaturkritiker Boris Pankin meinte, Aitma tow hätte mit dem „Weißen Dampfer“ einen solch gewalti gen Sprung gemacht, daß er die Zwischenstufen daraufhin erst nachholen mußte, und schlug vor, künftig die „Krani che“ und den „Scheckigen Hund“ vor dem „Weißen Damp fer“ abzudrucken. Heute, nach dem Erscheinen des neuen Romans, stellen sich diese beiden kleineren Werke als „Zwi schenstufen“ zu einem neuen großen Anlauf dar: Nach der „Verabschiedung der Märchenzeit“ erforderte die Gestal tung des „anderen Lebens“ noch kategorischer, als es Aitma tow schon 1967 betonte, eine Überwindung der dem Mär chen gemäßen Normierungen, statischen Charaktere und Vereinfachungen durch eine psychologisch, sozial und hi storisch differenziertere Analyse. In den „Frühen Krani
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chen“ experimentierte Aitmatow in dieser Hinsicht. Mit dem „Scheckigen Hund“ erprobte er dagegen die Möglich keiten einer zeitgemäßen Wiedergabe eines alten Mythos in dem ihm besonders vertrauten metaphorischen Märchenstil. Diese stilistischen Versuche sind zugleich verdichteter Aus druck neuer ideeller Fragestellungen: Das Heranreifen eines starken, verantwortungsbewußten und selbstlosen Charak ters, der bereit ist, das Kreuz des Lebens auf sich zu nehmen, ist das Thema der „Frühen Kraniche“. Es weist auf Ediges Funktion in dem neuen Roman. Und das Hohelied auf den Clan der Fischfrau, auf die matriarchalische Sittlichkeit und Weltharmonie bildet — ähnlich wie für Rasputin in „Ab schied von Matjora“ und wie der patriarchalische „Kreislauf des Seins“ für Below in „Vorabende“ — einen Ausgangs punkt und ethisch-sozialen Maßstab für die künstlerische Bewältigung der heutigen Weltsituation in „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“. Das offenbart die besondere Struktur des Romans. In „Abschied von Gülsary“ ist das „Märchenroß“ die direkte Verkörperung des ästhetisch-ethischen Ideals des Schrift stellers. Es tritt in seiner kompositionellen Funktion in dieser Hinsicht an die Stelle des unfehlbaren positiven Helden der traditionellen Kolchosromane, gegen die Aitmatow mit die sem Werk polemisiert. Zugleich wird dieses Natursymbol zu einer Art Katalysator, der die Möglichkeiten des Menschen im Guten wie im Bösen deutlicher werden läßt. Die Tragö die des Märchenpferdes — es soll durch Kastration in einen Mankurt verwandelt werden — ist Aitmatows poetischer Be weis für die unbesiegbare Natur und den letztlichen Triumph des Menschlichen. Für den Parteisekretär Tschoro wird selbst das kastrierte „Märchenroß“ noch zu einem be flügelnden Symbol für die Verwirklichung seiner kommuni stischen Ideale. Lachend erklärt er: „Gülsary haßt den Vor gesetzten [den Mankurtmacher — R. S.]. Es ist unbegreif lich. Er gebärdet sich wie wild und läßt ihn nicht an sich heran, man hat alles versucht. Du kannst ihn totschlagen,
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aber er ist nicht zu bewegen. Bei mir geht er gut... Wenn mir manchmal das Herz weh tut, nehme ich Gülsary, er geht seinen Paßgang, und mein Schmerz verfliegt. Schon deshalb bin ich bereit, zeitlebens als Parteisekretär zu arbeiten. Er macht mich gesund!“ Im „Weißen Dampfer“ geht diese äs thetische Idealgestaltung von der beseelten, vermenschlich ten Natur auf den märchenerfüllten Knaben, auf die unver dorbene, ursprüngliche, aber hilflose Menschennatur des Kindes über. Und in Aitmatows letztem Roman übernimmt diese Funktion Edige, das Volksgewissen, der unbeirrbare Gerechte des Märchens und einer, der sich trotz aller Schwierigkeiten, immer strebend um das Menschliche müht. Die folkloristisch-romantisierende Stilisierung dieser Ge stalt in der Art der Idealgestalten aus »Abschied von Gül sary“ und „Der weiße Dampfer“ ist nicht zu übersehen. Auch er ist im wesentlichen die statische Gestalt eines Ge rechten. Seine Psyche wird vorwiegend durch das Metapho rische seiner Handlungen und Umstände erschlossen. Darin eben äußern sich die Grenzen dieser Gestalt für die ihr zuge dachte ideelle Funktion als ein künstlerischer Beweis für den letztlichen Triumph des Menschlichen, der heute — wenn er in Form eines Bewußtseinsromans erbracht werden soll — eine differenzierte psychologische und soziale Analyse er fordert. Aitmatow trägt dieser Welt- und Literatursituation in zweifacher Hinsicht Rechnung: Er bemüht sich — obwohl die Stärke seines Talents in der Metaphorik folkloristischer Tradition liegt —, Edige und seine Umstände differenzierter zu gestalten als die Volksfiguren des Märchens und linearer pseudooptimistischer Literatur in den vierziger und fünfzi ger Jahren. Und um den im Grunde doch romantisierten Charakter des Edige nicht zu verabsolutieren, nicht als einen bereits ausreichenden Beweis für die angestrebte Al ternative hinzustellen, konfrontiert er sein ästhetisches Ideal mit der schonungslos dargestellten Macht der Mankurtwelt aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. So entsteht eine Polyphonie von romantischem Ideal und
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realistischer Jahrhundertbilanz — stilistisch gesehen etwa wie beim jungen Gorki und der frühen Sowjetliteratur. Doch das ist nicht etwa ein illusionärer und Illusionen schaffender „Zusammenfluß von Realismus und Romantik“. Aitmatows literarische Evolution von der 1967, nach „Ab schied von Gülsary“ verkündeten Absicht, einen großen rea listischen Epochenroman zu schreiben, zu „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ ist auch bedenkenswert hinsichtlich allgemeiner innerer Gesetzmäßigkeiten in der jüngsten so wjetischen Literatur. Auch Juri Trifonow dachte ja damals an solch einen Epochenroman als seine künftige literarische Aufgabe. Aber er gelangte schließlich zum „Roman in punk tierter Linie“. Offenbart sich in diesem Widerspruch zwi schen ursprünglicher Absicht und schließlicher künstleri scher Lösung eine neue Entwicklungstendenz in beiden Hauptlinien der Romangeschichte des zwanzigsten Jahr hunderts? Nähert sich der polyphone Bewußtseinsroman dem parabelhaften an? Und kann der Parabelroman in Form von Grotesken, Märchen oder Mythen heute auskommen — noch weniger als zur Zeit Bulgakows —, ohne den polypho nen Bewußseinsroman einzubeziehen? Auf jeden Fall: Ait matows Roman eröffnet neue Entwicklungsmöglichkeiten. Die Romanstruktur in der Tradition von „Der Meister und Margarita“ — und „Der weiße Dampfer“ — zeitigt in Aitma tows jüngstem Roman bedeutsame Proportionsverschiebun gen: Die Vorgeschichte und Sujetformel der Menschheits frage — das Modell Jesus/Pilatus bzw. Gehörnte Weiße Hirschmutter/Lahme pockennarbige Alte — hat bei Bulga kow und auch noch im „Weißen Dampfer“ mehr Gewicht als künstlerischer Beweis für die Grundfrage als die Mankurt legende, da die Gegenwartsebene und die Zukunftsvision — „Walpurgisnacht“ im Moskau der dreißiger Jahre und der Traum vom „ewigen Haus“ bzw. die „schwarze Messe“ Oroskuls und das Märchen des Knaben vom weißen Damp fer — sich auf symbolisch überhöhte individuelle Vorgänge beschränkt. Der Bewußtseinsroman des Edige und noch
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mehr die kosmische Parität-Vision haben dagegen einen un vergleichlich stärkeren allgemeingültigen Charakter für die künstlerische Bestimmung und Bewältigung der heutigen Menschheitsprobleme. Die zwei Aspekte, mit denen Aitma tow die traditionellen Antiutopie-Parabeln aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bereicherte — irtensch liche Alternative der Edigegeschichte und Internationalisie rung der Mankurtgefahr —, erweisen sich also auch als ein Ansatz neuer, denkbarer Evolutionen des Romangenres. Die noch vage, schwer definierbare Verbindung von poly phonem Bewußtseinsroman und Antiutopie mag auch ein Grund dafür sein, daß Aitmatow lange geschwankt hat, wie er seinen neuen Roman betiteln sollte. Die vorletzte Va riante des Titels lautete „Obrutsch“ (Reifen, Reif). Gemeint waren der Reifen, Ring, der bei der Mankurtisierung des Menschen das Gehirn einpreßte, und der Verteidigungsgür tel, den die mit Atomsprengköpfen versehenen Roboterra keten um die Erde bilden. Aber deutet dieser Titel nicht auf eine Weiterentwicklung der traditionellen Antiutopien des zwanzigsten Jahrhunderts hin? Dachte Aitmatow, als er die sen Titel verwarf, an die Einwände, die einst gegen seine Re zeption der Legende von der Gehörnten Weißen Hirsch mutter und der Lahmen Alten, einer Symbolfigur für Ge schichtsnmilismus, gemacht wurden? Auf diese Einwände erwiderte Aitmatow 1970: „Was die ,düsteren Prophezeiun gen der pockennarbigen Lahmen Alten anbelangt, so brau chen sie uns nicht zu schrecken, denn wir sollten darin keine Beschwörung und keinen Fluch sehen, sondern eine War nung. Viele lichte Träume der Menschheit sind in Erfüllung gegangen und werden noch in Erfüllung gehen ... Das heißt jedoch nicht, daß das Böse endgültig besiegt ist. Die Worte der Alten in der Legende sind ein Widerhall schwerer Zeiten ... Das Gewissen und die Pflicht zur Menschlichkeit sind in der Legende zum höchsten sittlichen Prinzip erho ben, dessen Mißachtung zum Dienst am Bösen wird ... Hierin sehe ich wieder die Weisheit des Volkes und keine
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»Ausweglosigkeit. Und darin besteht die lebendige Aktuali tät dauerhafter sittlicher Werte.“ Mit dem Bewußtseinsroman des Edige antwortete Aitmatow künstlerisch auf solche Einwände. Die Pasternak-Zeile, die er schließlich als Titel seines Romans wählte, stammt aus einem 1956 begonnenen Gedicht über die Wintersonnen wende. Es heißt „Einzigartige Tage“ und beschreibt, wie die Sonne das Eis aufzutauen beginnt und wie im Vorgefühl des unausbleiblichen Frühlings der Tag der Liebenden länger als ein Zeitalter währt. Neue Hoffnung keimt auf: „Seid um schlungen Millionen“. In Aitmatows Roman hat Edige im Frühjahr 1956 etwa solch eine belebende Empfindung. Ga lina Nikolajewa hat sie in „Schlacht unterwegs“ (1957) als eine Finallösung der Menschheitsprobleme verklärt. Die Ge schichte ist komplizierter, begreift schließlich Edige. Und dennoch ziehen diese „einzigartigen Tage“ des Frühjahrs 1956 für ihn den Jahrhundertweg. Die Beförderung der dialektischen Aufhebung des Wider spruchs zwischen den überkommenen und zukunftswichti gen sittlichen Werten und der Gefahr globaler Mankurtisie rung und einer apokalyptischen Weltkatastrophe ist das An liegen von Aitmatows Roman. Edige flieht zwar zunächst entsetzt vor Vorboten einer solchen Schreckensvision in die Steppe, aber er gibt nicht auf. Und Aitmatow erfüllt mit sei nem Werk in hervorragender Weise für heute jene Forde rung, die er 1967 in „Verantwortung für die Zukunft“ stellte: „Die Literatur muß selbstlos ihr Kreuz tragen, sie muß in die Kompliziertheit des Lebens eindringen ...“ Und ist nicht das Erscheinen dieses Werkes an der Schwelle der achtziger Jahre ein erstaunlicher neuer Beweis für die Mög lichkeiten der Kunst, für die Kraft des Menschlichen? Berlin, im Dezember 1981
Ralf Schröder
Worterklärungen
Agai Aitschurek Aksakal
Akyn
Apa Aryk Ata Baschkarma agai Boso Chanum Dshigit
Kambar-ata Kurdshun Manas
ehrerbietige Anrede für einen älteren Mann; wörtlich: der ältere Bruder Gestalt aus dem kirgisischen Heldenepos „Manas“ ehrerbietige Anrede für einen älteren oder höherstehenden Mann; wörtlich: Weiß bärtiger Volkssänger, Volkserzähler, Stegreifdich ter der mittelasiatischen Völker, in deren Kunst sich die von Generation zu Genera tion mündlich überlieferte Volkspoesie er halten hat Mutter Bewässerungsgraben Vater etwa: Onkel Vorsitzender leichtes alkoholisches Getränk höfliche Anrede für Frauen; wörtlich: Gattin, Gebieterin junger Bursche; ursprünglich: geschickter, waghalsiger Reiter bei den kaukasischen Bergvölkern kirgisischer Schutzgott der Pferde Satteltasche, Packsack für Lasttiere legendärer Held aus dem gleichnamigen kirgisischen Epos
475
Niwchen Ossoawiachim
Schorpa Semeteh Taiake Tamada Tscholpon-ata Ulugh-Beg
an der Amurmündung und auf Sachalin le bendes Volk Gesellschaft zur Förderung des Flugwe ens und des Luft- und Gasschutzes (1927-1948) Fleischsuppe Gestalt aus dem kirgisischen Heldenepos „Manas“ Onkel mütterlicherseits leitet die Festtafel bei den kaukasischen und mittelasiatischen Völkern mythologischer Beschützer der Pferde eigtl. Muhammad Taratai, Herrscher von Samarkand in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Enkel Timurs
Inhalt
Novellen Frühe Kraniche
7
Russischer Originaltitel: Ранние журавлн Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft
124
Russischer Originaltitel: Пегий пес, бегущий краем мора Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Drama Der Aufstieg auf den Fudschijama
225
(Koautor Kaltai Muhamedshanow) Russischer Originaltitel: Восхождение на Фудэияму Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Über Literatur Ausgewählt von Christina Links
Schnee auf dem Manas-Ata (Erinnerungen an die Zeit der „Frühen Kraniche“) Russischer Originaltitel: Снега на Манас-Ата Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
305
Erdkontakt (Aus einem Gespräch von Viktor Lewtschenko)
330
Russischer Originaltext: Точка присоединения Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Innerer Halt (Aus einem Gespräch mit Larissa Lebedewa)
349
Russischer Originaltitel: Духоьная опора Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
„Aufruhr der Sanftmütigen“ (Vorwort zur russischen Ausgabe von Muchtar Auesows Erzählung)
355
Russischer Originaltitel: Пихая година Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Rechtfertigung für Jahrhunderte unseres Lebens (Gedanken zum Roman „Die Schätze des Ulugh-Beg“ von Adyl Jakubow)
361
Russischer Originaltitel: Оправдание эа прожитые века Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Wir verändern die Welt, die Welt verändert uns (Aus einem Gespräch mit Wladimir Korkin)
364
Russischer Originaltitel: Мы изменяем мир, мир иеменяет нас Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Mensch und Welt in der Prosa der siebziger Jahre (Gespräch mit Heinz Plavius)
369
Das Gesetz der universellen Anziehungskraft („Der Tag zieht den fahrhundertweg“ — Aufgaben und Verantwortung der Literatur in unserer Zeit)
429
Russischer Originaltitel: Закон всемирного тяготения Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Rede auf dem 7. Schriftstellerkongreß der UdSSR
441
Russischer Originaltitel: Выступление на VII сьеэде писателей СССР Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Ralf Schröder: Ein Karawanenführer des Gewissens
455
Worterklärungen
475