Honoré de Balzac
Eine dunkle Geschichte Vier Novellen
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Honoré de Balzac
Eine dunkle Geschichte Vier Novellen
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Inhalt Der Diamant .................................. 3 Die alte Jungfer ........................... 55 Die falsche Geliebte ................... 228 Eine dunkle Geschichte ............ 245
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Der Diamant Le Diamant (La Paix du Ménage), deutsch von Emmi Hirschberg Die Begebenheit, die in den folgenden Blättern dargestellt werden soll, trug sich gegen Ende November des Jahres 1809 zu, in der Zeit, als Napoleons flüchtige Herrschaft den höchsten Gipfel ihres Glanzes erreicht hatte. Die Fanfaren des Sieges von Wagram hallten noch im Herzen der österreichischen Monarchie wider. Der Friede zwischen Frankreich und der Koalition war unterzeichnet. Die Könige und Fürsten kamen herbei, um, gleich Gestirnen, ihre Bahn um Napoleon zu beschreiben, der sich seinerseits ein Vergnügen daraus machte, ganz Europa in seinem Gefolge hinter sich herzuziehen, ein glänzendes Vorspiel zu dem Gepränge, das er später in Dresden entfaltete. Nie hat Paris, nach Aussage der Zeitgenossen, schönere Feste gesehen, als es diejenigen waren, die der Heirat des Herrschers mit der Erzherzogin aus dem Hause Österreich vorangingen und folgten. Nie hatten sich in den größten Tagen der ehemali3
gen Monarchie so viele gekrönte Häupter an den Ufern der Seine zusammengedrängt, und nie war der französische Adel so reich und so glänzend gewesen wie damals. Die Diamanten, im Überfluß an jedem Schmuckstück angebracht, die Goldund Silberstickereien der Uniformen stachen so sehr von der Dürftigkeit der Republik ab, daß man glaubte, auf einmal die Reichtümer des ganzen Erdballs in den Salons von Paris zu erblicken. Eine allgemeine Trunkenheit hatte dieses kurzlebige Kaiserreich ergriffen. Alle Militärs, ihr oberster Herr nicht ausgeschlossen, genossen als Emporkömmlinge die Schätze, die eine Million Soldaten erobert hatte, deren Ansprüche mit einigen Ellen roten Bandes leicht befriedigt wurden. In dieser Zeit trugen die meisten Frauen jene Leichtfertigkeit der Sitten und jene Laxheit in der Moral zur Schau, die die Regierung Ludwigs XV. gekennzeichnet hatten. Sei es nun, um den Ton des verflossenen Königreiches nachzuahmen; sei es, weil gewisse Mitglieder der kaiserlichen Familie das Beispiel dazu gaben, – wie die Frondeurs aus dem Faubourg Saint-Germain es behaupten. – Tatsache ist, daß sich alle Männer und alle Frauen mit einer Kühnheit in die Vergnügungen stürzten, die das Ende der Welt zu verkünden schien. Doch noch einen anderen Grund gab es für diese Ungebundenheit. Die Vorliebe der Frauen für das Militär wurde wie zu einer Raserei und entsprach den Wünschen Napoleons nur zu sehr, als daß er ihr Einhalt geboten hätte. Das häufige Zu-den-Waffen-greifen, wodurch alle Verträge zwischen Europa und Napoleon nur mehr zu Waffenstillständen wurden, zwangen auch die Leidenschaften zu Lösungen, die ebenso plötzlich waren, wie die Entschlüsse des obersten Herrn all dieser Pelzmützen, Wamse und Achselschnüre, die dem schönen Geschlecht so sehr gefielen. Die Herren waren also damals ebenso nomadisch wie die Regimenter. Zwischen dem ersten und dem fünften Bulletin der großen Armee konnte eine Frau nacheinander Geliebte, Gattin, Mutter und Witwe sein. War es die Aussicht auf eine nahe 4
Witwenschaft, auf eine Rente, oder war es die Hoffnung, einen Namen zu tragen, den die Geschichte einst verewigen sollte, was das Militär so begehrenswert machte? Fühlten sich die Frauen zu ihm hingezogen durch die Gewißheit, daß das Geheimnis ihrer Leidenschaft auf den Schlachtfeldern begraben würde, oder muß man die Ursache dieses süßen Fanatismus in dem Reiz suchen, den der Mut für sie besaß? Vielleicht trugen all diese Ursachen, auf die ein künftiger Sittenschilderer des Kaiserreiches gewiß näher eingehen wird, gemeinsam dazu bei, daß die Frauen sich mit so leichter Bereitwilligkeit der Liebe hingaben. Was es auch gewesen sein mag, das eine müssen wir zugeben: die Lorbeeren deckten damals manche Sünden zu, die Frauen bemühten sich voller Eifer um jene kühnen Abenteurer, die ihnen wahre Quellen der Ehre, des Reichtums oder des Vergnügens schienen, und in den Augen der jungen Mädchen bedeutete eine Achselklappe – diese Hieroglyphe der Zukunft – Glück und Freiheit. Ein Zug dieser Epoche, der sehr bezeichnend für sie ist und in unseren Annalen einzig dasteht, war eine ungehemmte Leidenschaft für alles Glänzende. Nie wurde so viel Feuerwerk veranstaltet, nie besaß der Diamant einen so hohen Wert. Die Männer waren nach diesen weißen Kieselsteinen ebenso lüstern wie die Frauen. Vielleicht hatte die Notwendigkeit, die Kriegsbeute in der am leichtesten zu transportierenden Form mitzunehmen, die Edelsteine bei der Armee so zu Ehren gebracht. Ein Mann wirkte damals nicht – wie es heute der Fall wäre – lächerlich, wenn er auf seinem Jabot oder auf seinen Fingern große Diamanten trug. Murat, dieser Südländer, gab dem modernen Militär das Beispiel eines unsinnigen Luxus! – Der Graf von Gondreville – er hatte sich vorher »Bürger Malin« genannt – ein Lucullus jenes konstituierenden Senats, der nichts konstituierte, hatte mit seinem Feste zu Ehren des Friedens nur deshalb so lange gewartet, um desto besser Napoleon den Hof machen zu können, indem er all die Schmeichler, die ihm zuvorgekommen waren, in den Schatten 5
stellte. Die Gesandten aller befreundeten Mächte Frankreichs, die wichtigsten Persönlichkeiten des Kaiserreiches, selbst einige Fürsten waren in diesem Augenblick in den Salons des reichen Senators versammelt. Der Tanz war noch nicht recht im Gange, alles wartete auf den Kaiser, dessen Anwesenheit der Graf versprochen hatte. Napoleon hätte auch sein Wort gehalten, wenn nicht gerade an jenem Abend der Auftritt zwischen ihm und Josephine stattgefunden hätte, der die baldige Scheidung dieses hohen Paares nach sich zog. – Die Nachricht von diesem Ereignis, das damals sehr geheim gehalten wurde (das die Geschichte aber verzeichnet hat), war noch nicht bis zu den Ohren der Höflinge gelangt, es wirkte nur durch die Abwesenheit Napoleons auf die Heiterkeit des Festes beim Grafen von Gondreville. Die schönsten Frauen von Paris, die sich darum bemüht hatten, diesem Feste beiwohnen zu können, wetteiferten in diesem Augenblick an Luxus, Koketterie, Schmuck und Schönheit miteinander. Die haute finance, stolz auf ihre Reichtümer, forderte die glänzenden Generäle und hohen Offiziere des Kaiserreichs, die eben erst mit Orden, Titeln und Auszeichnungen überschüttet worden waren, förmlich heraus. Diese großen Bälle waren für die reichen Familien stets die Gelegenheit, um den Prätorianern Napoleons ihre Erbinnen vorzuführen, in der wahnwitzigen Hoffnung, ihre glänzende Mitgift gegen eine ungewisse Gunst einzutauschen. Die Frauen, die sich allein durch ihre Schönheit stark glaubten, erprobten deren Macht. Dort, wie anderswo auch, war das Vergnügen nur eine Maske. Hinter heiteren und lachenden Gesichtern, hinter ruhigen Stirnen verbarg sich abscheuliche Berechnung; Freundschaftsbezeugungen logen, und mehr als einer mißtraute weniger seinen Feinden als seinen Freunden! – Diese Betrachtungen mußten notwendigerweise vorausgeschickt werden, um die verwickelte Begebenheit, von der auf den folgenden Seiten gesprochen werden soll, zu erklären, sowie auch die freilich
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noch sehr gemilderte Schilderung des Umgangstones, wie er damals in den Salons von Paris herrschte. »Wenden Sie Ihr Auge einmal jener zerbrochenen Säule zu, auf der ein Kandelaber steht, sehen Sie da eine junge Frau mit einer chinesischen Frisur, dort in der Ecke links? Sie hat blaue Glockenblumen in das Büschel kastanienbrauner Haare, das in Locken herabfällt, gesteckt. Sehen Sie nicht? Sie ist so blaß, daß man sie für krank halten möchte; sie ist sehr klein und ganz allerliebst. Jetzt wendet sie uns den Kopf zu; ihre blauen, mandelförmigen und entzückend sanften Augen scheinen wie zum Weinen geschaffen zu sein. Aber sehen Sie nur, sie bückt sich, um Frau von Vaudremont durch dieses Labyrinth von auf- und abwogenden Köpfen, deren hohe Frisuren ihr den Durchblick erschweren, zu erspähen.« »Ah, jetzt sehe ich sie, mein Lieber! Du hättest sie mir nur als die bleicheste aller hier anwesenden Frauen bezeichnen sollen, dann hätte ich sie gleich erkannt; sie ist mir schon aufgefallen; sie hat den schönsten Teint, den ich je bewundert habe. Von hier aus wirst du wohl auf ihrem Hals die Perlen kaum erkennen können, die die Saphire ihres Halsbandes voneinander trennen. Sie muß entweder sehr tugendhaft sein oder sehr kokett, denn kaum gestatten die Rüschen ihres Mieders, daß man die Schönheit ihres Körpers ahnt. Welche Schultern! Wie lilienweiß!« »Wer ist sie?« fragte derjenige, der zuerst gesprochen hatte. »Ich weiß es nicht.«
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»Aristokrat! Sie wollen wohl alle für sich behalten, Montcornet?« »Es steht dir gut, mich zu verspotten!« erwiderte Montcornet lächelnd. »Glaubst du das Recht zu haben, einen armen General wie mich zu verspotten, weil du als glücklicher Nebenbuhler von Soulanges dich nicht einmal herumdrehen kannst, ohne Frau von Vaudremont in Aufregung zu versetzen? Oder aber, weil ich erst vor einem Monat in dies gelobte Land gekommen bin? Ihr seid unverschämt, ihr Verwaltungsbeamte, die ihr auf euren Stühlen sitzt, während wir im Granatfeuer stehen! Geh, mein Herr Finanzsekretär, laßt uns die Ähren auf dem Felde auflesen, dessen unsicherer Besitz euch erst dann bleibt, wenn wir es geräumt haben. Zum Teufel auch, ein jeder muß leben! Würdest du die deutschen Frauen kennen, ich glaube, du würdest ein gutes Wort für mich einlegen bei der Pariserin, die du liebst.« »General, da Sie diese Frau, die ich hier zum erstenmal erblicke, schon den ganzen Abend zu beobachten scheinen, so haben Sie, bitte, die Güte mir zu sagen, ob Sie sie schon haben tanzen sehen.« »Oh, mein lieber Martial, wo kommst du her? Wenn man dich mit einer diplomatischen Mission betraute, ich prophezeite dir keinen Erfolg! Siehst du denn nicht drei Reihen der unerschrockensten Pariser Koketten zwischen ihr und dem Schwarm von Tänzern, der unter dem Kronleuchter herumsummt, und mußtest du nicht erst dein Lorgnon zu Hilfe nehmen, um sie überhaupt in der Ecke bei jener Säule zu entdecken, wo sie, trotz der Lichter, die über ihrem Haupte erstrahlen, wie im Dunkel begraben zu sein scheint? Zwischen ihr und uns blitzen so viele Diamanten und so viele Blicke, wehen so viele Federn, wogen so viele Spitzen, Blumen und Besätze, daß es ein wahres Wunder wäre, wenn ein Tänzer sie inmitten dieser Gestirne bemerken würde. Wie, Martial, erkennst du in ihr nicht die Frau irgendeines Unterpräfekten aus
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den Departements von Lippe oder Dyle, die hier versucht, ihren Gatten zum Präfekten zu machen?« »Das soll er werden!« sagte der Finanzsekretär lebhaft. »Das bezweifle ich noch,« erwiderte der Kürassierobrist lächelnd. »Sie scheint mir in der Intrige ein ebensolcher Neuling zu sein wie du in der Diplomatie. Ich wette, Martial, du weißt nicht einmal, wie sie dort hinten hingekommen ist.« Der junge Sekretär betrachtete den Gardeobristen mit einer Miene, die sowohl Verachtung als auch Neugier verriet. »Nun,« fuhr Montcornet fort, »sie ist sicherlich pünktlich um 9 Uhr gekommen, als erste vielleicht und wird die Gräfin von Gondreville, die nicht zwei Gedanken aneinanderreihen kann, in die größte Verlegenheit versetzt haben. Von der Dame des Hauses links liegen gelassen, von jeder neu Angekommenen von einem Stuhl zum andern bis in das Dunkel jener Ecke rückwärts gedrängt, wird sie sich dort haben einschließen lassen, ein Opfer der Eifersucht dieser Damen, die nichts sehnlicher wünschen, als dieses ihnen gefährliche Gesicht auf solche Art unschädlich zu machen. Sie wird keinen Freund gehabt haben, der ihr Mut gemacht hätte, den Platz zu verteidigen, den sie anfangs eingenommen haben muß, und jede dieser perfiden Tänzerinnen wird den Herren ihrer Bekanntschaft unter Androhung der fürchterlichsten Strafen den Befehl gegeben haben, unsere arme Freundin nicht aufzufordern. So haben sich diese harmlos und unbefangen erscheinenden Gesichter gegen die Unbekannte verbündet; und dabei mag keine von diesen Frauen dort unten etwas anderes gesagt haben, als nur: ›Kennen Sie diese kleine blaue Dame?‹ Höre, Martial, willst du in einer Viertelstunde mehr verführerische Blicke auf dich lenken und von mehr herausfordernden Fragen überschüttet werden, 9
als dir in deinem ganzen Leben vielleicht je zuteil geworden, so versuche, den dreifachen Wall, der die Königin von Dyle, Lippe oder Charente verteidigt, zu durchdringen. Du wirst sehen, wie die dümmste dieser Frauen sogleich eine List erfindet, die den entschlossensten Mann verhindert, unsere bedauernswerte Unbekannte ans Licht zu ziehen. – Findest du nicht, daß sie etwas elegisch aussieht?« »Glauben Sie, Montcornet? So wäre sie also eine verheiratete Frau?« »Warum sollte sie nicht auch Witwe sein?« »Dann wäre sie herausfordernder,« meinte der Finanzsekretär lachend. »Vielleicht ist sie eine jener Witwen, deren Gatten beim Hazardspiel sitzen,« entgegnete der schöne Kürassier. »Seit dem Frieden gibt es tatsächlich viele solcher Witwen,« erwiderte Martial. »Aber, mein lieber Montcornet, was sind wir doch für zwei Einfaltspinsel! Dieses Haupt drückt noch zu viel Unbefangenheit aus, es liegt noch zu viel Jugend und Herbheit auf dieser Stirn und um diese Schläfen, als daß es eine verheiratete Frau sein könnte. Welch ein gesunder Teint! Nichts ist welk an den Linien um die Nase. Die Lippen, das Kinn, alles an diesem Gesicht ist frisch wie die Knospe einer weißen Rose, wenn auch das Antlitz von dem Schleier der Traurigkeit wie verhangen ist. Was mag dieses junge Geschöpf zum Weinen bringen?« »Die Frauen weinen um so geringer Ursachen willen,« sagte der General.
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»Ich weiß nicht,« begann Martial wieder, »aber sie weint gewiß nicht, weil man sie nicht zum Tanz auffordert; ihr Kummer stammt nicht von heute. Man sieht, daß sie sich aus Vorbedacht für heute abend so schön gemacht hat. Ich möchte wetten, sie liebt schon.« »Bah, vielleicht ist sie die Tochter irgendeines deutschen Duodezfürsten; keiner spricht mit ihr«, sagte Montcornet. »Wie unglücklich ist ein armes Mädchen dran,« nahm Martial wieder das Wort. »Besitzt jemand mehr Anmut und Feinheit, als unsere kleine Unbekannte? Und keine von diesen Megären, die um sie herumstehen und sich für zartfühlend halten, richtet ein Wort an sie. Wenn sie sprechen würde, könnten wir sehen, ob sie schöne Zähne hat.« »Sieh an, du kochst ja über, wie Milch bei der geringsten Temperatursteigerung!« rief der Obrist aus, ein wenig gekränkt, in seinem Freunde so prompt einem Nebenbuhler zu begegnen. »Wie!« sagte der junge Sekretär, ohne die Worte des Generals zu bemerken und sein Lorgnon auf alle Personen richtend, die um sie herum tanzten, »wie! kein Mensch hier sollte uns den Namen dieser exotischen Pflanze nennen können?« »Ach, sie wird irgendeine Gesellschaftsdame sein,« sagte Montcornet. »So, eine Gesellschaftsdame, mit Saphiren geschmückt, die einer Königin würdig sind, und in einem Kleid aus echten Spitzen? Das machen Sie andern weis, General! Sie werden auch nicht sehr groß in der Diplomatie sein, wenn Sie in Ihren Mutmaßungen in einer Minute von der deutschen Prinzessin zur 11
Gesellschaftsdame übergehen!« Der General Montcornet hielt einen kleinen dicken Herrn am Arm fest, dessen graue Haare und kluge Augen man an allen Türecken erblickte, und der sich ohne Umstände in die verschiedenen Gruppen mischte, wo er überall ehrerbietig aufgenommen wurde. »Gondreville, lieber Freund,« sprach ihn Montcornet an, »wer ist die entzückende kleine Frau, die da unter dem riesigen Kandelaber sitzt?« »Der Kandelaber? Ravario, mein Lieber, Isabey hat die Zeichnung dazu gemacht.« »Oh, ich habe deinen Geschmack und deinen Kunstsinn an dem Stück schon bewundert, aber die junge Frau darunter?« »Die kenne ich nicht. Sie ist sicherlich eine Freundin meiner Frau.« »Oder deine Geliebte, alter Spitzbube!« »Nein, auf mein Ehrenwort. Die Gräfin von Gondreville ist die einzige Frau, die es fertig bringt, Leute einzuladen, die niemand kennt.« Trotz dieser bitteren Bemerkung hatte der dicke kleine Herr ein Lächeln auf den Lippen, das die Vermutung des Kürassierobristen hervorgerufen hatte. – Dieser traf in einer benachbarten Gruppe wieder mit Martial zusammen, der dort seinerseits vergeblich versucht hatte, näheres über die Unbekannte zu erfahren. Er nahm ihn beim Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Nimm dich in acht, mein lieber Martial. Frau von Vaudremont beobachtet dich seit einigen Minuten mit verzweifelter 12
Aufmerksamkeit. Sie ist eine Frau, die schon aus der Bewegung deiner Lippen errät, was du zu mir sagst. Unsere Augen blicken schon zu vielsagend; sie hat sehr wohl die Richtung derselben bemerkt und verfolgt, und ich glaube, sie ist im Augenblick noch viel mehr mit der kleinen blauen Dame beschäftigt als wir.« »Eine alte Kriegslist, mein lieber Montcornet. Was geht mich das übrigens an? Ich bin wie der Kaiser: wenn ich Eroberungen mache, dann halte ich sie auch fest!« »Martial, deine Eitelkeit verlangt eine Lehre! Wie, du Wicht, du hast das Glück, der zukünftige Gatte von Frau von Vaudremont zu sein, einer Witwe von 22 Jahren, mit einer Rente von 4000 Napoleons ausgestattet, einer Frau, die dir Diamanten an die Finger steckt, welche so schön sind, wie dieser hier,« fügte er hinzu, indem er die linke Hand des Finanzsekretärs ergriff, der sie ihm bereitwillig überließ, »und du willst noch den ›Lovelace‹ spielen, als wenn du Obrist wärest und verpflichtet, den militärischen Ruf in der Garnison aufrecht zu erhalten. Pfui! denke doch an alles, was du verlieren kannst.« »Wenigstens meine Freiheit werde ich nicht verlieren,« erwiderte Martial, gezwungen lachend. Er warf Frau von Vaudremont einen leidenschaftlichen Blick zu, auf den sie nur mit einem ängstlichen Lächeln antwortete, denn sie hatte bemerkt, wie der Obrist den Ring des Sekretärs betrachtete. »Höre, Martial,« nahm der Obrist wieder das Wort, »wenn du um meine junge Unbekannte herumflatterst, werde ich mich an die Eroberung von Frau von Vaudremont machen.« »Das sei Ihnen gestattet, lieber Kürassier, aber Sie werden nicht so viel erreichen,« sagte der junge Finanzsekretär, indem er den wohlgepflegten Nagel seines Daumens unter einen sei13
ner oberen Vorderzähne legte, von wo er ihn mit einem lustigen Geräusch fortschnellte. »Bedenke, daß ich Junggeselle bin,« sagte der Obrist, »daß der Säbel mein ganzer Reichtum ist und daß mich so herausfordern bedeutet, Tantalus vor ein Festmahl setzen, das er verschlingen wird!« »Brrrr!« Diese spöttische Anhäufung von Konsonanten diente als Antwort auf die Herausforderung des Generals, den sein Freund vergnüglich von oben bis unten maß, ehe er ihn verließ. Der Mode jener Zeit entsprechend mußte ein Mann auf einem Ball ein paar Kniehosen aus weißem Kaschmir tragen und seidene Strümpfe. Dieser hübsche Anzug ließ die vollendeten Formen Montcornets gut zur Geltung kommen. Er war damals 35 Jahre alt und zog alle Blicke durch die hohe Gestalt auf sich, wie sie ein Kürassier der kaiserlichen Garde haben mußte. Seine stattliche Erscheinung, die, trotz einer gewissen Fülle, die er vom Reiten bekommen hatte, noch recht jugendlich wirkte, wurde durch die schöne Uniform noch gehoben. Der schwarze Schnurrbart erhöhte den offenen Ausdruck seines echt militärischen Gesichts, dessen Stirn breit und offen, dessen Nase gebogen und dessen Mund üppig rot war. Montcornets Auftreten – Ausdruck einer gewissen Vornehmheit, die er seiner Gewohnheit: Befehle zu erteilen, verdankte – konnte einer Frau wohl gefallen, wenn sie nur klug genug war, keinen Sklaven aus ihrem künftigen Gatten machen zu wollen. – Der Obrist lächelte, als er den Finanzsekretär betrachtete, einen seiner besten Schulkameraden, dessen kleine schlanke Figur ihn zwang, den freundschaftlichen Blick als Antwort auf diesen Spott etwas nach unten zu richten. Der Baron Martial de la 14
Roche-Hugon war ein junger Provenzale, den Napoleon protegierte und der zu irgendeinem glänzenden Gesandtschaftsposten ausersehen schien. Er hatte es dem Kaiser durch seine italienische Liebenswürdigkeit angetan, durch seine Begabung für Intrigen, durch die gesellschaftliche Beredtsamkeit und gewandtes Auftreten, das so leicht als Ersatz genommen wird für die bedeutenden Gaben eines soliden Mannes. Obgleich lebhaft und jung, besaß sein Gesicht doch jenen unbeweglichen Ausdruck, der einer der unerläßlichen Eigenschaften des Diplomaten ist und der es ihm ermöglicht, seine Erregungen zu verbergen, seine Gefühle zu verhüllen, wenn dieser Gleichmut nicht am Ende das Fehlen jeder Erregung und den Mangel jeden Gefühls bedeutet! Das Herz der Diplomaten ist ein unergründliches Rätsel, haben sich doch die drei bedeutendsten Gesandten jener Zeit sowohl durch Ausdauer im Haß als auch durch romantische Neigungen ausgezeichnet. – Martial jedoch gehörte zu der Menschenklasse, die fähig ist, mitten im leidenschaftlichsten Genuß ihre Zukunft zu berechnen; er hatte die Welt schon durchschaut und verbarg seinen Ehrgeiz unter der Selbstzufriedenheit des Glücksritters und seine Talente unter scheinbarer Mittelmäßigkeit, denn er hatte erkannt, wie schnell die Leute vorwärts kamen, die den Meister am wenigsten in den Schatten stellten. Die beiden Freunde mußten sich trennen und schüttelten einander herzlich die Hand. Die Musik, die den Damen einen neuen Tanz ankündigte, zu dem sie sich aufstellen mußten, vertrieb die beiden Herren von dem Platze, auf dem sie mitten im Salon geplaudert hatten. Diese eilige, zwischen zwei Tänzen stattfindende Unterhaltung wurde vor dem Kamin des großen Salons im Hotel de Gondreville geführt. Die Fragen und Antworten dieses Geplauders wurden, wie es auf Bällen so üblich ist, von jedem der beiden Sprecher dem Nachbarn ins Ohr geflüstert. Doch die Armleuchter und Kerzen auf dem Kamin warfen ihr 15
grelles Licht derart auf die beiden Freunde, daß ihre allzu hell beschienenen Gesichter trotz ihrer diplomatischen Beherrschtheit weder der klugen Gräfin noch der arglosen Unbekannten den nicht mißzuverstehenden Ausdruck ihrer Gefühle verbergen konnten. Dieses Auskundschaften der Gedanken ist für den Unbeteiligten vielleicht ein Vergnügen, das die Gesellschaft ihm bietet. Manch betrogener Dummkopf jedoch muß sich langweilen, ohne daß er wagt, es einzugestehen. Um die volle Bedeutung dieser Unterhaltung zu begreifen, muß ein Ereignis erzählt werden, das wie mit unsichtbaren Banden die einzelnen Personen dieses kleinen Dramas, die bisher noch im Salon verstreut waren, miteinander verbinden sollte. – Ungefähr gegen 11 Uhr abends, in dem Augenblick, als sich die Tänzerinnen auf ihre Plätze begaben, sahen die Gäste des Hotel Gondreville die schönste Frau von Paris hereinkommen, die Königin der Mode, die einzige, die dieser glänzenden Versammlung noch gefehlt hatte. Sie hatte es sich von jeher zum Gesetz gemacht, immer erst in dem Augenblick zu erscheinen, wo ein Salon jene belebte Bewegtheit zeigt, bei der die Frauen nicht mehr lange die Frische ihres Gesichtes und ihrer Toiletten zu bewahren vermögen. Dieser flüchtige Augenblick ist wie der Frühling eines Balles; eine Stunde später, wenn das Vergnügen vorbei ist, wenn die Ermüdung eintritt, ist alles verwelkt. – Frau von Vaudremont beging nie den Fehler, so lange auf einem Fest zu bleiben, bis ihre Blumen welk, ihre Locken unordentlich, ihre Besätze zerknittert waren, bis ihr Gesicht ebenso übermüdet aussah wie die anderen, die, vom Schlaf fast übermannt, sich seiner nicht immer erwehren können. Sie hütete sich wohl, gleich ihren Rivalinnen, ihre verschlafene Schönheit zu zeigen, sie erhielt den Ruf ihrer Koketterie geschickt dadurch aufrecht, daß sie einen Ball ebenso leuchtend verließ, wie sie ihn betreten hatte. Die Frauen flüsterten sich mit einem Gefühl von Neid zu, daß sie so vielerlei Schmuck anlege, als 16
sie an einem Abend Bälle besuche. Diesmal sollte Frau von Vaudremont jedoch nicht nach eigenem Belieben den Salon verlassen, den sie im Triumph betreten hatte. Einen Augenblick stand sie auf der Schwelle der Tür und warf flüchtige, aber durchdringende Blicke auf die anwesenden Frauen, deren Toiletten sie dabei prüfte, um sich zu überzeugen, daß die ihre alle anderen in den Schatten stellte. Die berühmte Kokette, die von einem der tapfersten Infanterie-Generäle der Garde, einem Günstling des Kaisers, dem Grafen von Soulanges, am Arm geführt wurde, bot sich der Bewunderung der ganzen Versammlung dar. Die vorübergehende und zufällige Verbindung dieser beiden Persönlichkeiten hatte zweifellos etwas Geheimnisvolles. Als Herr von Soulanges und Frau von Vaudremont angekündigt wurden, standen einige Damen, die bisher als Mauerblümchen auf ihren Plätzen gesessen hatten, auf, die Herren kamen aus den anstoßenden Sälen und drängten sich an die Türen des Hauptsaales. Ein Witzbold – wie sie bei einer so zahlreichen Versammlung nie zu fehlen pflegen – sagte, als er die Gräfin und ihren Kavalier hereinkommen sah: die Damen sind ebenso neugierig, einen Mann zu sehen, der seinen Leidenschaften treu bleibt, wie die Männer eine schöne, schwer zu fesselnde Frau. Obgleich der Graf von Soulanges, ein Mann von ungefähr 32 Jahren, jenes nervöse Temperament besaß, das bei den Männern die großen Fähigkeiten hervorbringt, sprachen seine hagere Gestalt und sein blasser Teint wenig zu seinen Gunsten. Seine schwarzen Augen deuteten auf große Lebhaftigkeit, aber in Gesellschaft war er schweigsam, und nichts ließ ahnen, daß er bei den gesetzgebenden Versammlungen der Restauration als einer der geschicktesten Redner der Rechten glänzen sollte. Die Gräfin von Vaudremont, eine große, etwas üppige Frau mit blendend weißer Hautfarbe, verstand ihren Kopf gut zu tragen und besaß den großen Vorzug, durch die Anmut ihres Auftre17
tens zu bezaubern. Sie gehörte zu jenen Geschöpfen, die alle Versprechungen, die ihre Schönheit macht, erfüllen. Dieses Paar, das für einige Augenblicke der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit wurde, ließ die Neugier sich jedoch nicht lange auf seine Kosten unterhalten. Der Obrist und die Gräfin begriffen anscheinend völlig, daß der Zufall sie in eine peinliche Lage versetzt hatte. Als Martial sie kommen sah, ging er auf die Gruppe von Herren zu, die am Kamin standen, und begann durch ihre Köpfe hindurch, die ihm als Verschanzung dienten, sie mit jener eifersüchtigen Aufmerksamkeit zu beobachten, wie sie das erste Feuer der Leidenschaft eingibt: eine geheime Stimme schien ihm zu sagen, daß der Erfolg, dessen er sich rühmte, vielleicht doch kein ganz sicherer war. Doch das Lächeln kühler Höflichkeit, mit dem die Gräfin Herrn von Soulanges dankte, und die Handbewegung, mit der sie ihn verabschiedete, während sie sich neben Frau von Gondreville setzte, lösten wieder alle Muskeln, die die Eifersucht in seinem Gesicht angespannt hatte. Dann aber erblickte er zwei Schritte von dem Diwan, auf dem Frau von Vaudremont Platz genommen hatte, Soulanges, der den Blick nicht verstanden zu haben schien, mit dem die junge Kokette ihm bedeutete, daß sie beide eine lächerliche Rolle spielten; und wieder zog der provenzalische Feuerkopf die schwarzen Augenbrauen zusammen, die seine blauen Augen beschatteten, strich mit Haltung über die Locken seines braunen Haares und beobachtete, ohne die Erregung, die sein Herz schlagen machte, zu verraten, das Benehmen der Gräfin und des Herrn von Soulanges, während er sich dabei mit seinem Nachbarn unterhielt. Er drückte dem Obristen, der die alte Bekanntschaft mit ihm wieder erneuert hatte, die Hand, hörte ihm jedoch zu, ohne seine Worte zu verstehen, so sehr war er innerlich beschäftigt. Soulanges warf ruhige Blicke auf die vierfache Reihe von Damen, die den riesengroßen Salon des Senators einrahmte, bewunderte ihren Diamanten und Rubinenschmuck, ihre goldenen Gehänge und 18
geputzten Köpfe, deren Glanz das Feuer der Kerzen, das Kristall der Leuchter und die Vergoldungen fast verblassen ließ. – Die unbekümmerte Ruhe seines Nebenbuhlers ließ den Finanzsekretär die Haltung verlieren. Nicht imstande, die geheime Ungeduld, die ihn erfüllte, zu beherrschen, ging Martial auf Frau von Vaudremont zu, um sie zu begrüßen. Als Soulanges den Provenzalen erblickte, warf er ihm einen finsteren Blick zu und wandte dann ungezogen den Kopf zur Seite. Eine tiefe Stille herrschte im Saal, in dem die Neugier ihren Höhepunkt erreicht hatte. Alle diese vorgestreckten Köpfe zeigten die wunderlichsten Mienen; jeder fürchtete und erwartete einen jener Auftritte, die wohlerzogene Leute immer zu vermeiden suchen. – Auf einmal wurde das bleiche Antlitz des Grafen von Soulanges so rot wie seine roten Aufschläge, doch senkte sich sein Blick sogleich zu Boden, um die Ursache seiner Unruhe nicht erraten zu lassen. – Als er jene Unbekannte bescheiden am Fuße des Kandelabers erkannt halte, ging er mit traurigem Gesicht an dem jungen Sekretär vorbei und flüchtete sich in einen der Spielsäle. Martial und alle Anwesenden glaubten, Soulanges räume ihm offiziell das Feld, aus Furcht vor der lächerlichen Rolle, die verabschiedete Liebhaber immer spielen. Der Finanzsekretär hob stolz den Kopf und blickte auf die Unbekannte; und als er dann neben Frau von Vaudremont Platz genommen hatte, hörte er ihr so zerstreut zu, daß er die Worte, die die Kokette hinter ihrem Fächer zu ihm sprach, gar nicht verstand. »Martial, Sie täten mir einen Gefallen, wenn Sie heute abend den Ring, den Sie mir entrissen haben, nicht tragen würden. Ich habe meine Gründe dafür, die ich Ihnen auseinandersetzen werde, wenn wir uns zurückziehen ... Sie werden mich zur Fürstin von Wagram begleiten.«
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»Warum ließen Sie sich vom Obristen am Arm führen?« fragte der Baron. »Ich traf ihn in der Vorhalle,« erwiderte sie; »aber verlassen Sie mich jetzt, man beobachtet uns.« Martial trat wieder zu dem Kürassierobristen. Die kleine, blaue Dame war die gemeinsame Ursache der Unruhe, die den Kürassier, Soulanges, Martial und Frau von Vaudremont so verschieden erregte. Als die beiden Freunde, deren Unterhaltung mit einer Herausforderung geendigt halte, sich voneinander trennten, stürzte der Finanzsekretär auf Frau von Vaudremont zu und wußte ihr einen Platz in der glänzendsten Quadrille einzuräumen. Begünstigt durch eine Art Rausch, in den der Tanz jede Frau versetzt, und bei dem die Männer in ihrer eleganten Kleidung nicht weniger anziehend wirken als die Frauen, konnte sich Martial ungehindert dem Reiz hingeben, mit dem die Unbekannte ihn zu sich hinzog. War es ihm auch gelungen, die ersten Blicke, die er auf die Unbekannte warf, den lebhaften Augen der Gräfin zu verheimlichen, so wurde er doch bald auf frischer Tat ertappt. Und wenn eine erste Zerstreutheit noch entschuldbar blieb, so war sein beharrliches Schweigen auf die verführerischste aller Fragen, die eine Frau einem Mann stellen kann: »Lieben Sie mich heute abend?« nicht zu rechtfertigen. Je verträumter er wurde, desto dringlicher und gereizter wurde die Gräfin. Während Martial tanzte, ging der Obrist von Gruppe zu Gruppe, um Auskünfte über die junge Unbekannte einzuziehen. Nachdem er die Liebenswürdigkeit aller Anwesenden erschöpft hatte, selbst die der Gleichgültigsten, wollte er sich gerade entschließen, einen Augenblick, an dem die Gräfin von Gondreville frei schien, zu benutzen, um sie selbst nach dem Namen der geheimnisvollen Dame zu fragen, als er plötzlich 20
einen leeren Raum zwischen der zerbrochenen Säule, die den Kandelaber trug, und den daneben stehenden Sesseln bemerkte. Der Obrist benutzte den Augenblick, wo der Tanz einen großen Teil der Stühle frei ließ, die, gleich Festungslinien, von den Müttern und den älteren Damen verteidigt wurden, und unternahm es, diese mit Schals und Tüchern bedeckte Schanze zu überschreiten. Er sagte den Matronen Liebenswürdigkeiten; und von einer Dame zur andern, von einer Höflichkeit zur andern gelangte er auf den leeren Platz neben der Unbekannten. Auf die Gefahr hin, an den Greifen, und Fabeltieren des riesigen Kandelabers anzuhaken, blieb er dort unter dem Glanz und dem Wachs der Kerzen stehen, zum großen Ärger Martials. Er war ein zu gewandter Gesellschafter, als daß er die kleine blaue Dame, die rechts von ihm saß, so unvermittelt angesprochen hätte; er wandte sich daher zunächst an eine ziemlich Häßliche zu seiner Linken und begann: »Ein sehr schöner Ball, nicht wahr, gnädige Frau? Welch ein Luxus, welch eine Bewegung! Auf Ehre, hier gibt es nur hübsche Frauen; und wenn Sie, meine Gnädige, nicht tanzen, so hatten Sie sicher keine Lust dazu?« Das Anknüpfen dieser abgeschmackten Unterhaltung hatte den Zweck, seine Nachbarin zur Rechten zum Sprechen zu bringen, die ihm jedoch – schweigsam und innerlich beschäftigt, wie sie war – nicht die leiseste Aufmerksamkeit schenkte. Der Offizier hatte noch eine ganze Reihe von Phrasen bereit, die zum Schluß mit der Frage endigen sollten: »und Sie, gnädige Frau?«, von der er sich sehr viel versprach. Aber ein sonderbares Erstaunen ergriff ihn, als er ein paar Tränen in den Augen der Unbekannten erblickte, die ganz von Frau von Vaudremont gefangen genommen schien.
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»Gnädige Frau sind gewiß verheiratet?« fragte der Obrist endlich mit unsicherer Stimme. »Ja, mein Herr,« antwortete die Unbekannte. »Ihr Herr Gemahl ist sicher auch zugegen?« »Ja, mein Herr.« »Und warum bleiben Sie an diesem Platz hier, gnädige Frau? Sicherlich aus Koketterie.« Die Bekümmerte lächelte traurig. »Gestatten Sie mir, gnädige Frau, daß ich Sie zum nächsten Tanz auffordere; ich werde Sie dann bestimmt nicht wieder hierher zurückführen. Ich sehe neben dem Kamin noch eine leere Ottomane, kommen Sie dorthin. Wo so viele herrschen wollen und die Ausgelassenheit das Zepter führt, sehe ich nicht ein, warum Sie sich weigern sollten, die Königin des Balles zu werden, wozu Ihre Schönheit Ihnen ein Anrecht gibt.« »Mein Herr, ich tanze nicht.« Der kurze Ton in den Antworten dieser Frau war so hoffnungslos, daß der Obrist seinen Platz aufgeben mußte. Martial, der die letzte Frage des Obristen und den Korb, den dieser bekam, erraten hatte, lächelte und strich sich über das Kinn, wobei er den Ring, den er am Finger trug, blitzen ließ. »Worüber lachen Sie?« fragte ihn die Gräfin von Vaudremont. »Über den Mißerfolg des armen Obristen, er hat einen Metzgergang gemacht.«
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»Ich hatte Sie gebeten, Ihren Ring abzuziehen,« unterbrach ihn die Gräfin. »Das habe ich nicht gehört.« »Wenn Sie heute abend auch nichts hören, Herr Baron, so scheinen Sie dafür um so mehr zu sehen,« antwortete Frau von Vaudremont etwas verletzt. In diesem Augenblick sagte die Unbekannte zum Obristen: »Dort ist ein junger Mann, der einen sehr schönen Diamanten trägt.« »Ja, wundervoll ist der Stein,« antwortete Montcornet. »Der junge Mann ist der Baron Martial de la Roche-Hugon, einer meiner intimsten Freunde.« »Ich danke Ihnen, daß Sie mir seinen Namen genannt haben,« erwiderte sie; »der Herr scheint sehr liebenswürdig zu sein.« »Das wohl, aber ein bißchen leichtsinnig.« »Man könnte fast annehmen, daß er der Gräfin von Vaudremont sehr nahe steht,« fuhr die junge Dame fort und sah den Obristen dabei prüfend an. »Überaus nahe.« Der Unbekannte erbleichte. ›So scheint sie diesen Teufel von Martial zu lieben,‹ dachte der General.
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»Ich glaubte Frau von Vaudremont seit langem mit dem Grafen von Soulanges liiert,« nahm die junge Frau wieder das Wort, von dem inneren Schmerz, der den Ausdruck ihres Gesichtes ganz verändert hatte, wieder etwas erholt. »Seit acht Tagen hintergeht ihn die Gräfin,« erwiderte der Obrist. »Doch Sie müssen den armen Soulanges gesehen haben, als er hereinkam; er versucht noch immer, nicht an sein Mißgeschick zu glauben.« »Ich habe ihn gesehen,« sagte die blaue Dame. Dann fügte sie ein: »Mein Herr, ich danke Ihnen« hinzu, das im Ton einer Verabschiedung gleichkam. In diesem Augenblick ging der Tanz zu Ende; enttäuscht konnte sich der Obrist nur noch zurückziehen, wobei er sich jedoch wie zum Trost sagte: ›Sie ist verheiratet.‹ »Nun, mutiger Kürassier!« rief der Baron aus und zog den Obristen in eine Fensternische, um von dort die erfrischende Luft der Gärten zu genießen, »wie weit sind Sie?« »Sie ist verheiratet, mein Lieber.« »Was tut das?« »Zum Teufel auch, ich habe Lebensart!« antwortete der Obrist. »Ich halte mich jetzt nur noch an die Frauen, die ich auch heiraten kann. Außerdem hat sie mir erklärt, sie tanze nicht.« »Obrist, wetten wir Ihren Apfelschimmel gegen 100 Napoleons, daß sie heute abend noch mit mir tanzt?«
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»Gut,« sagte der Obrist, und schlug in die Hand des jungen Fanten ein. »Inzwischen will ich Soulanges aufsuchen; vielleicht kennt er diese Dame, die sich für ihn zu interessieren scheint.« »Mein Lieber, Sie haben schon verloren,« sagte Martial lachend. »Meine Augen sind den ihren begegnet, und auf diese Sprache verstehe ich mich. Sind Sie mir auch nicht böse, lieber Obrist, wenn ich mit ihr tanze, nachdem Sie einen Korb von ihr bekommen haben?« »Nein, nein, wer zuletzt lacht, lacht am besten Übrigens, Martial, ich bin kein Spielverderber, ich mache dich nur noch darauf aufmerksam, daß sie Diamanten sehr liebt.« Bei diesen Worten trennten sich die Freunde. Montcornet ging in den Spielsaal, wo er den Grafen von Soulanges an einem Spieltisch sitzen sah. Obgleich zwischen den beiden Militärs nur jene übliche Freundschaft bestand, wie sie gemeinsame Kriegsgefahren und Dienstpflichten mit sich bringen, war der Kürassierobrist doch schmerzlich berührt, den Artillerieobristen, den er als einen klugen Mann kannte, in ein Spiel verwickelt zu sehen, das ihn vollständig ruinieren konnte. Die Goldstücke und Banknoten, die auf dem verhängnisvollen Tuche ausgebreitet waren, bezeugten die Wut des Spieles. Ein Kreis schweigsamer Herren stand um die Spieler am Tische. Wohl ertönten ab und zu Rufe, wie sie das Spiel so mit sich bringt: Passe! Trumpf! Tausend Louis! Gehalten! Aber wenn man die fünf unbeweglichen Personen sah, schien es, als sprächen sie nur mit den Augen. Als der Obrist, den Soulanges Blässe erschreckte, zu ihm trat, hatte der Graf gerade gewonnen. Der Marschall Graf von Isemberg und der berühmte Bankier Keller standen auf, sie hat25
ten bedeutende Summen verloren. Soulanges wurde noch finsterer, als er die Menge Gold und Papier, ohne sie zu zählen, einsteckte; ein Zug bitterer Verachtung lag auf seinen Lippen, er schien das Glück zu verwünschen, anstatt ihm für seine Gunst zu danken. »Kopf hoch, Soulanges, Kopf hoch!« sagte der Obrist zu ihm. Und dann, in der Meinung, ihm einen besonderen Dienst zu erweisen, wenn er ihn vom Spiel fortzog, fügte er hinzu: »Kommen Sie, ich kann Ihnen eine gute Nachricht bringen, aber unter einer Bedingung!« »Und die wäre?« fragte Soulanges. »Mir die Frage, die ich an Sie richten werde, zu beantworten.« Der Graf von Soulanges erhob sich rasch, tat seinen Gewinn höchst sorglos in ein Taschentuch, mit dem er krampfhaft gespielt hatte und blickte so finster drein, daß keiner der Spieler es wagte zu beanstanden, daß er den Gewinn einsteckte, ohne Revanche zu geben. Die Gesichter schienen sich vielmehr zu erhellen, als dieser düstere und vergrämte Kopf sich nicht mehr in dem Lichtkreis befand, den die Spiellampe auf dem Tische beschrieb. »Dieses verteufelte Militär versteht sich untereinander, wie Taschendiebe auf einem Jahrmarkt,« sagte leise ein Diplomat aus dem Kreise der Zuschauer und nahm den Platz des Obristen ein. Ein einziges fahles und müdes Gesicht drehte sich nach dem neuen Ankömmling um und warf ihm einen Blick zu, der aufblitzte und wieder erlosch wie das Feuer eines Diamanten.
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»Wer Militär sagt, sagt nicht Zivil, Herr Minister!« »Mein Lieber,« sagte Montcornet zu Soulanges und zog ihn in eine Ecke, »heute früh hat der Kaiser voller Lob von Ihnen gesprochen. Ihre Beförderung zum Marschall ist nicht mehr zweifelhaft.« »Der Chef mag die Artillerie nicht.« »Ja, aber er vergöttert den Adel, zu dem auch Sie gehören. Der Chef hat gesagt,« fuhr Montcornet fort, »daß diejenigen, die sich während des Feldzuges in Paris verheiratet haben, nicht als in Ungnade gefallen angesehen werden sollen. Nun?« Der Graf von Soulanges schien von alledem nichts zu begreifen. »Und nun hoffe ich auch,« schloß der Obrist, »daß Sie mir sagen werden, ob Sie eine reizende junge Frau kennen, dort am Fuße eines Kandelabers.« Bei diesen Worten belebten sich die Augen des Grafen; mit unerhörter Heftigkeit ergriff er die Hand des Obristen. »Mein lieber General!« sagte er zu ihm mit merklich veränderter Stimme, »wenn ein anderer als Sie diese Frage an mich gerichtet hätte, würde ich ihm mit diesem Haufen Gold den Schädel einschlagen! Bitte, lassen Sie mich allein; ich möchte mir heute abend lieber eine Kugel durch den Kopf jagen, als ... Alles, was ich sehe, ist mir verhaßt; ich will auch lieber fortgehen. Diese Freude, diese Musik, diese dummen lachenden Gesichter bringen mich um.«
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»Mein armer Freund!« erwiderte Montcornet mit sanfter Stimme und schlug freundschaftlich in Soulanges Hand ein. »Sie sind aufgeregt. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteilte, daß Martial kaum noch an Frau von Vaudremont denkt, daß er sich vielmehr in jene kleine Dame verliebt hat!« »Wenn er mit ihr spricht,« rief Soulanges aus, stotternd vor Wut, »dann schlage ich ihn so platt wie seine Brieftasche, und wäre er im Schoße des Kaisers.« Und wie ohnmächtig fiel der Graf in den Lehnstuhl, zu dem ihn der Obrist geführt hatte. Letzterer zog sich langsam zurück; er merkte, daß Soulanges von zu heftigem Zorn ergriffen war, als daß ihn ein Scherz oder die Bemühungen eines oberflächlichen Freundes hätten beruhigen können. Als Montcornet in den großen Tanzsaal kam, war Frau von Vaudremont die erste, die er erblickte, und er bemerkte auf ihrem sonst so ruhigen Gesicht Spuren einer schlecht verhehlten Aufregung. Ein Sessel neben ihr war frei, und er setzte sich zu ihr. »Ich wette, es quält Sie etwas!« sagte er. »Nichts von Belang, General. Ich wäre gern von hier fortgegangen, ich habe versprochen, auf den Ball der Großherzogin von Berg zu kommen und muß vorher noch zur Fürstin von Wagram. Herr de la Roche-Hugon, der dies weiß, vertreibt sich jedoch die Zeit damit, alten Damen den Hof zu machen.« »Das ist nicht ganz der Grund Ihrer Verstimmung, und ich wette 100 Louis, daß Sie heute abend hierbleiben werden.« »Unverschämter!« »So habe ich also recht gehabt?« 28
»Nun, woran habe ich also gedacht?« erwiderte die Gräfin und schlug dem Obristen mit dem Fächer leicht auf die Finger. »Ich könnte Sie belohnen, wenn Sie es erraten.« »Darauf gehe ich nicht ein, ich bin zu sehr im Vorteil.« »Eingebildeter!« »Sie fürchten, Martial zu den Füßen von ...« »Von wem?« fragte die Gräfin, indem sie sich überrascht stellte. »... von jenem Kandelaber zu sehen,« erwiderte der Obrist und zeigte auf die schöne Unbekannte, wobei er die Gräfin mit quälerischer Aufmerksamkeit beobachtete. »Sie haben es erraten,« gab die Kokette zu und verbarg ihr Gesicht hinter dem Fächer, mit dem sie zu spielen begann. »Die alte Frau von Lansac, die, wie Sie wissen, boshaft wie ein alter Affe ist,« fuhr sie nach kurzem Schweigen fort, »hat mir soeben gesagt, daß es für Herrn de la Roche-Hugon etwas gefährlich wäre, dieser Unbekannten, die heute wie ein Störenfried hier erschienen ist, den Hof zu machen. Ich sähe lieber dem Tod ins Angesicht, als in dies grausam schöne und gespensterhaft bleiche Antlitz. Frau von Lansac,« fügte sie dann mit einem Ausdruck von Verachtung hinzu, »die nur auf Bälle geht, um alles zu beobachten, während sie so tut als schliefe sie, hat mich heftig beunruhigt. Martial wird dieser Streich, den er mir spielt, teuer zu stehen kommen. Da Sie jedoch sein Freund sind, General, so veranlassen Sie ihn bitte, mir nicht so viel Kummer zu bereiten.«
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»Ich sprach soeben einen Mann, der sich nichts Geringeres vorgenommen hat, als ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen, wenn er mit jener kleinen Dame spricht. Dieser Mann hält sein Wort. Doch wie ich Martial kenne, wird ihn diese Gefahr nur noch mehr reizen. Zudem haben wir noch gewettet ...« Hier senkte der Obrist die Stimme. »Wirklich?« fragte die Gräfin. »Auf mein Ehrenwort.« »Dank, General!« sagte Frau von Vaudremont und warf ihm einen Blick voller Koketterie zu. »Würden Sie mir die Ehre erweisen, mit mir zu tanzen?« »Ja, aber erst den zweiten Tanz. Während des ersten muß ich herausbekommen, was aus dieser Intrige wird, und wer die kleine blaue Dame ist, sie sieht sehr gescheit aus.« Der Obrist, der merkte, daß Frau von Vaudremont allein sein wollte, entfernte sich, voller Befriedigung, den Anschlag so gut vorbereitet zu haben. Auf Festen trifft man immer Damen, die, gleich Frau von Lansac, damit beschäftigt sind, wie alte Seeleute vom Ufer des Meeres aus die jungen Matrosen zu beobachten, wie sie mit den Stürmen fertig werden. In diesem Augenblick konnte Frau von Lansac, die sich für die Personen dieses Dramas zu interessieren schien, leicht den Kampf erraten, dem die Gräfin von Vaudremont zum Opfer gefallen war. Die junge Schöne mochte sich noch so anmutig fächeln, den jungen Leuten, die sie grüßten, noch so liebenswürdig zulächeln und alle Listen an30
wenden, deren eine Frau sich bedient, wenn sie ihre Erregung verbergen will; diese Matrone, eine der gescheitesten und boshaftesten Herzoginnen, die das 18. Jahrhundert dem 19. hinterlassen hatte, vermochte trotzdem in ihrem Herzen und in ihren Gedanken zu lesen. Die alte Dame verstand die leiseste Bewegung, die die Regungen der Seele verrät. Die kleinste Falte, die jene weiße und reine Stirn furchte, das unmerkliche Zittern der Backenknochen, das Spiel der Augenbrauen, das geringste Erzittern der brennend roten Lippen, waren für die Herzogin wie Buchstaben in einem Buche. Die einstige Kokette saß in ihrem bequemen Lehnstuhl, den ihr Kleid ganz ausfüllte, und unterhielt sich mit einem Diplomaten, der ihren vortrefflich erzählten Anekdoten gern zuhörte, während sie sich selbst in der jungen Kokette bewunderte; sie gefiel ihr, wie sie so gut ihren Schmerz und den Kummer ihres Herzens zu verbergen verstand. Frau von Vaudremont war in der Tat ebenso unglücklich, wie sie heiter erschien: sie hatte geglaubt, in Martial einen Mann von Fähigkeiten gefunden zu haben, mit deren Hilfe sie ihr Leben durch alle Zauber der Macht verschönen würde. In diesem Augenblick erkannte sie einen Irrtum, der für ihren Ruf ebenso vernichtend war wie für ihre Eigenliebe. Bei ihr, wie bei den andern Frauen dieser Epoche, erhöhte die Plötzlichkeit der Leidenschaft ihre Intensität. Wer oft liebt und schnell, leidet nicht weniger als der, den eine einzige Leidenschaft verzehrt. Die Vorliebe der Gräfin für Martial war freilich erst von kurzer Dauer, aber jeder Chirurg weiß, daß die Amputation eines gesunden Gliedes viel schmerzhafter ist als die eines kranken. Frau von Vaudremonts Neigung für Martial hatte die besten Aussichten gehabt, während ihre vorhergehende Leidenschaft hoffnungslos gewesen war und durch Soulanges Gewissensqualen verbittert wurde. Die alte Herzogin erspähte den rechten Augenblick, um die Gräfin zu sprechen und beeilte 31
sich, ihren Gesandten zu verabschieden; denn angesichts entzweiter Liebender verblaßt jedes andere Interesse, selbst bei einer alten Dame. Sie warf, um den Kampf herauszufordern, einen hämischen Blick auf Frau von Vaudremont, der die junge Kokette befürchten ließ, ihr Schicksal in den Händen der alten Witwe zu sehen. Frauen können einander Blicke zuwerfen wie Feuerbrände im letzten Akt eines Dramas. Man muß diese Herzogin gekannt haben, um das Entsetzen zu verstehen, das der Ausdruck ihres Gesichtes der Gräfin einflößte. Frau von Lansac war groß, ihre Züge besagten, daß sie einmal hübsch gewesen sein mußte. Sie legte so stark auf, daß ihre Runzeln kaum noch zu sehen waren; ihre Augen bekamen dadurch jedoch keinen unnatürlichen Glanz, sondern wurden nur um so matter. Sie trug viele Diamanten und zog sich geschmackvoll genug an, um nicht lächerlich zu wirken. Ihre spitze Nase verriet scharfen Witz. Ein gut gearbeitetes Gebiß erhielt dem Mund einen Zug von Ironie, der an Voltaire erinnerte. Doch milderte die ausgesuchte Höflichkeit ihres Auftretens das Boshafte ihres Charakters, und man konnte ihr keine direkte Schlechtigkeit nachsagen. Die grauen Augen der alten Dame belebten sich, ein triumphierender Blick, von einem Lächeln begleitet, das sagte: »ich hatte es dir verheißen!« durchquerte den Saal und rief das Rot der Hoffnung auf den bleichen Wangen der jungen Frau hervor, die am Fuße des Kandelabers seufzte. Diese Verbindung zwischen Frau von Lansac und der Unbekannten konnte dem geübten Auge der Gräfin von Vaudremont nicht entgehen, und sie ahnte ein Geheimnis, das sie ergründen wollte. In diesem Augenblick wandte sich der Baron de la RocheHugon, nachdem er alle alten Damen gefragt hatte, ohne den Namen der blauen Unbekannten zu erfahren, in voller Verzweiflung an die Gräfin von Gondreville, von der er jedoch eine wenig befriedigende Antwort erhielt: 32
»Diese Dame wurde mir von der ehemaligen Herzogin von Lansac vorgestellt.« Als der Finanzsekretär sich ganz durch Zufall dem Lehnstuhl der alten Dame zuwandte, überraschte ihn der Blick der Verständigung, den sie der blauen Dame zuwarf, und obgleich er seit einiger Zeit ziemlich schlecht mit der ehemaligen Herzogin stand, entschloß er sich doch, sie anzusprechen. Sie sah den Baron eifrig um ihren Stuhl herumschleichen, lachte mit hämischem Spott und betrachtete dann Frau von Vaudremont mit einem Ausdruck, der wiederum den Obristen Montcornet lachen machte. ›Wenn die alte Hexe ein freundliches Gesicht macht, wird sie mir sicherlich einen schlechten Streich spielen,‹ dachte der Baron. »Gnädige Frau,« wandte er sich an sie, »man hat mir gesagt, Sie bewachten einen kostbaren Schatz.« »Halten Sie mich für einen Drachen?« fragte die alte Dame. »Doch von wem sprechen Sie?« fügte sie dann mit süßer Stimme hinzu, die Martial wieder Hoffnung machte. »Von jener kleinen unbekannten Dame, die die Eifersucht all dieser Koketten dort hinten hin verbannt hat. Sie kennen sicher ihre Familie.« »Ja,« sagte die Herzogin, »doch was wollen Sie von einer Erbin aus der Provinz, die seit kurzer Zeit verheiratet ist; ein Mädchen aus guter Familie, die man hier nicht kennt, sie geht nirgends hin.« »Warum tanzt sie nicht? Sie ist so schön! – Wollen wir Frieden miteinander schließen? Wenn Sie die Güte haben, mich über alles zu unterrichten, was mich interessiert, so gebe ich Ihnen 33
mein Ehrenwort, daß ein Gesuch um Wiedererstattung der Wälder von Navarreins beim Kaiser aufs wärmste unterstützt werden soll.« Die jüngere Linie des Hauses Navarreins (mit dem Wappen von Lansac: Balken mit Silberecken in blauem Felde, von sechs ebenfalls silbernen Fahnenstangen eingerahmt), und die Liaison der alten Dame mit Ludwig XV. hatten ihr den Titel einer Herzogin eingebracht; und da die Navarreins noch nicht heimgekehrt waren, schlug ihr der Finanzsekretär ganz einfach eine Gemeinheit vor, als er sie mit der Rückforderung eines Besitztums köderte, das der älteren Linie gehörte. »Mein Herr,« antwortete die alte Dame mit trügerischem Ernst, »bringen Sie mir Frau von Vaudremont. Ich verspreche Ihnen, ihr das Geheimnis zu enthüllen, das unsere Unbekannte so interessant macht. Sehen Sie nur, alle Herren auf dem Ball hier sind genau ebenso neugierig wie Sie selbst. Unwillkürlich blicken alle Augen nach dem Kandelaber, an dem sich mein Schützling ganz bescheiden hingesetzt hat; sie sammelt all die Huldigungen ein, um die man sie hat bringen wollen. Glücklich der, den sie sich zum Tänzer wählen wird!« Hier hielt sie inne, heftete ihre Blicke auf die Gräfin von Vaudremont und gab ihr damit zu verstehen: »Wir sprechen von Ihnen!« Dann fuhr sie fort: »Ich denke mir, Sie hören den Namen der Unbekannten lieber aus dem Munde Ihrer schönen Gräfin als aus dem meinen.« Die Haltung der Herzogin war so herausfordernd, daß sich Frau von Vaudremont erhob, zu ihr begab und auf dem Stuhl Platz nahm, den Martial ihr anbot. Ohne den Baron zu beachten, sagte sie lachend zu der alten Dame:
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»Ich habe erraten, gnädige Frau, daß von mir die Rede war; aber ich muß meine Dummheit schon eingestehen, ich weiß nicht, ob Sie gut oder schlecht von mir sprechen.« Mit ihrer dürren runzligen Hand drückte Frau von Lansac die hübsche Hand der jungen Frau und sagte leise in mitleidigem Ton zu ihr: »Arme Kleine.« Die beiden Frauen blickten einander an. Frau von Vaudremont begriff, daß Martial überflüssig war, und verabschiedete ihn, indem sie ihm in gebieterischem Tone sagte: »Lassen Sie uns allein!« Der junge Sekretär, wenig glücklich darüber, die Gräfin in dem Banne der gefährlichen Sibylle zu sehen, die sie zu sich herangezogen halte, warf ihr einen jener Blicke zu, die über ein verblendetes Herz Gewalt haben, die jedoch lächerlich wirken, sobald eine Frau den Geliebten mit kritischen Augen zu betrachten beginnt. »Sind Sie so eingebildet, daß Sie sogar den Kaiser kopieren?« fragte Frau von Vaudremont und wandte ihren Kopf dreiviertel zur Seite, um den Finanzsekretär mit höhnischer Miene anzusehen. Martial besaß zu viel gesellschaftliche Gewandtheit, zu viel Scharfsinn und Berechnung, als daß er sich der Gefahr ausgesetzt hätte, es mit einer Frau zu verderben, die am Hofe so gut angeschrieben war und die der Kaiser verheiraten wollte. Er rechnete zudem noch auf die Eifersucht, die er in ihr zu entfachen gedachte, als auf das beste Mittel, um die geheime Ursa35
che ihrer Kälte zu ergründen, und entfernte sich um so lieber, als gerade in diesem Augenblick ein neuer Tanz alles wieder in Bewegung setzte. Der Baron schien den Tanzenden Platz machen zu wollen: er lehnte sich gegen eine Marmorkonsole, kreuzte die Arme über der Brust und war ganz in das Gespräch der beiden Damen vertieft. Von Zeit zu Zeit folgte er den Blicken, die beide wiederholt auf die Unbekannte warfen. Während der Baron die Gräfin mit dieser neuen Schönheit verglich, die ein Geheimnis so anziehend machte, verfiel er in eine häßliche Berechnung, die bei den Günstlingen der Frauen häufig ist: er schwankte zwischen einem Vermögen, das er erraffen, und einer Laune, die er befriedigen wollte. Der Glanz der Lichter hob sein sorgenvolles und düsteres Gesicht von den weißen Moirévorhängen, die sein dunkles Haar streiften, so gut ab, daß er wie ein böser Dämon aussah. Die rechte Schulter leicht gegen die Türfüllung zwischen Tanzund Spielsaal gelehnt, konnte der Obrist unbemerkt unter seinem dicken Schnurrbart lachen; er genoß das Vergnügen, das Gewoge des Balles zu beobachten; er sah hundert hübsche Köpfe sich nach den Launen des Tanzes wiegen, er las auf einigen Gesichtern, wie auf denen der Gräfin und seines Freundes Martial, das Geheimnis ihrer Erregung und fragte sich, den Kopf wendend, was wohl für eine Beziehung bestehen möge zwischen dem düsteren Ausdruck des Grafen von Soulanges, der immer noch in seinem Lehnstuhl saß, und den traurigen Zügen der Unbekannten, auf deren Antlitz abwechselnd Hoffnung und Angst sichtbar wurde. Montcornet stand da wie der König des Festes; er sah in diesem lebenden Bilde ein Spiegelbild der Welt, und er lachte darüber, während er das interessierte Lächeln von hundert strahlenden und geschmückten Frauen einsammelte. Ein Obrist der kaiserlichen Garde, ein Posten, der den Grad eines Brigadegenerals in sich schloß, war sicherlich eine der besten Partien der Armee. – Es war gegen 36
Mitternacht; Unterhaltung, Spiel, Tanz, Koketterie, Interessen, Bosheit und Intrigen, alles hatte jenen Grad von Erhitzung erreicht, der einem jungen Manne den Ausruf entlockt: »Welch ein schöner Ball!« »Mein liebes Herz,« sagte Frau von Lansac zur Gräfin, »Sie sind in einem Alter, in dem ich viele Fehler begangen habe. Als ich Sie eben tausend Tode habe erleiden sehen, kam mir der Gedanke, Ihnen ein paar wohltuende Ratschläge zu geben. Wenn man mit zweiundzwanzig Jahren Fehler macht, bedeutet das nicht, seine Zukunft zerstören, das Kleid zerreißen, das man anziehen will? Meine Liebe, wir lernen erst sehr spät, es anzuziehen, ohne es zu zerdrücken. Wenn Sie fortfahren, sich geschickte Feinde und ungeschickte Freunde zu machen, werden Sie sehen, was für ein Leben Sie eines Tages führen müssen.« »Ach, gnädige Frau, eine Frau hat es nicht leicht, glücklich zu sein, nicht wahr?« rief die Gräfin naiv aus. »Mein Kind, in Ihrem Alter muß man zwischen dem Vergnügen und dem Glück wählen. Sie wollen Martial heiraten, der für einen guten Ehemann nicht dumm genug und für einen Liebhaber nicht leidenschaftlich genug ist. Er hat Schulden. Er ist imstande, Ihr Vermögen durchzubringen. Doch das wäre noch nichts, wenn er Sie wenigstens glücklich machte. Sehen Sie nicht, wie alt er aussieht? Dieser Mensch muß oft krank gewesen sein; er verbraucht seine letzten Kräfte. In drei Jahren ist er erledigt. Als Ehrgeiziger hat er angefangen, vielleicht bringt er es noch zu etwas; ich glaube es aber nicht. Was ist er denn? Ein Intrigant, der einen ausgezeichneten Geschäftssinn und die Gabe hat, angenehm zu plaudern. Aber er ist zu abenteuerlich, um wahre Verdienste zu besitzen; er wird es nicht weit bringen. Und dann, schauen Sie ihn doch an: liest man 37
nicht auf seiner Stirn, daß er im Augenblick nicht die schöne junge Frau in Ihnen sieht, sondern die Besitzerin von zwei Millionen? Er liebt Sie nicht, meine Liebe, er berechnet Sie, als handelte es sich um ein Geschäft. Wenn Sie sich verheiraten wollen, nehmen Sie einen älteren angesehenen Mann, der sich schon auf der Mitte seines Weges befindet. Eine Witwe darf aus ihrer Heirat keine Liebesgeschichte machen. Geht eine Maus zweimal in die gleiche Falle? Jetzt muß ein neuer Ehekontrakt eine Spekulation für Sie sein; und wenn Sie sich wieder verheiraten, müssen Sie wenigstens die Aussicht haben, daß man Sie eines Tages Frau Marschall nennt. – Wollen Sie jedoch die schwere Rolle einer Koketten spielen und nicht wieder heiraten,« fuhr die ehemalige Herzogin, gutmütig fort, »so verstehen Sie es, meine arme Kleine, besser als jede andere, Gewitterwolken aufzutürmen und wieder zu verteilen. Aber ich beschwöre Sie, machen Sie sich nie ein Vergnügen daraus, den ehelichen Frieden zu stören, Familien und glücklich verheiratete Frauen unglücklich zu machen. Ich habe einst auch diese gefährliche Rolle gespielt. Mein Gott, für den Triumph der Eigenliebe richtet man oft arme tugendhafte Geschöpfe zugrunde. – Denn es gibt wirklich tugendhafte Frauen – und man zieht sich tödlichen Haß zu. Etwas zu spät habe ich, nach dem Ausspruch des Herzogs von Alba, erfahren, daß ein Lachs besser ist als tausend Frösche. Eine wirkliche Liebe verschafft tausendmal mehr Freuden als die flüchtigen Leidenschaften, die man entfacht. Ja, ich bin hierhergekommen, um Ihnen eine Predigt zu halten. Sie sind der Grund, daß ich heute in diesem Salon erschienen bin, in dem es nach Plebs riecht. Habe ich nicht sogar Schauspieler hier gesehen? In seinem Boudoir empfing man sie wohl früher; aber im Salon, pfui! Warum sehen Sie mich so erstaunt an? – – Hören Sie,« fuhr die alte Dame fort, »wenn Sie die Männer zum besten haben wollen, betören Sie nur die Herzen derjenigen, deren Leben noch nicht fest gegründet ist, die noch keine Pflichten zu erfüllen haben; die 38
andern verzeihen uns die Verirrungen nicht, die sie glücklich gemacht haben. Lernen Sie von diesem Grundsatz, den ich meinen alten Erfahrungen verdanke. Der arme Soulanges z.B., dem Sie den Kopf verdreht haben und den Sie seit fünfviertel Jahren, Gott weiß wie, betören! Wissen Sie auch, daß Ihre Anschläge auf sein ganzes Leben Einfluß haben? Seit zweieinhalb Jahren ist er verheiratet, wird von einem entzückenden Geschöpf vergöttert, das er liebt und das er betrügt. Sie lebt unter Tränen und in der bittersten Einsamkeit. Soulanges hat Gewissensbisse gehabt, die grausamer waren als seine Freuden süß. Und Sie, kleiner Schlaukopf, haben ihn verraten. Kommen Sie, sehen Sie sich Ihr Werk an.« Die alte Herzogin nahm Frau von Vaudremont bei der Hand und sie standen beide auf. »Sehen Sie,« sagte Frau von Lansac und wies mit den Augen auf die blasse, unter dem Glanz der Lichter zitternde Unbekannte, »das dort ist meine Großnichte, die Gräfin von Soulanges. Endlich hat sie meinem Drängen heute nachgegeben und hat ihr Schmerzenszimmer verlassen, wo ihr der Anblick ihres Kindes nur schwachen Trost gewährt. Sehen Sie sie? Sie finden sie gewiß entzückend! Sagen Sie selbst, wie sehr sie es gewesen sein muß, als Glück und Liebe ihren Glanz über ihr jetzt so bleiches Gesicht breiteten.« Die Gräfin wandte schweigend den Kopf und schien in ernstes Nachdenken versunken. Die Herzogin führte sie weiter bis zum Spielsaal; und nachdem sie hineingeschaut hatte, als suche sie jemand, sagte sie mit tiefer Stimme: »Und dort ist Soulanges.« Die Gräfin schauerte zusammen, als sie in der dunkelsten Ecke des Saales das blasse und verzerrte Gesicht Soulanges' im Lehnstuhl erblickte. Die Kraftlosigkeit seiner Glieder und die 39
Unbeweglichkeit seiner Stirn offenbarten seinen ganzen Schmerz. Die Spieler kamen und gingen an ihm vorüber, ohne ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken als einem Toten. Das Bild der jungen Frau in Tränen und des düsteren und finsteren Gatten, die inmitten dieses Festes wie die zwei Hälften eines vom Blitze gespaltenen Baumes voneinander getrennt waren, besaß für die Gräfin vielleicht etwas Prophetisches. Sie fürchtete darin ein Bild der Vergeltung zu sehen, das die Zukunft für sie bereit hielt. Ihr Herz war noch nicht so verhärtet, daß ihm Gefühl und Nachsicht gänzlich fehlten, und sie drückte der Herzogin die Hand, indem sie mit einem Lächeln, in welchem eine gewisse kindliche Anmut lag, dankte. »Mein liebes Kind,« flüsterte ihr die alte Dame ins Ohr, »denken Sie von nun an daran, daß wir es ebensogut verstehen, die Huldigungen der Männer zurückzuweisen wie sie anzulocken.-' – – »Sie gehört Ihnen, wenn Sie kein Dummkopf sind!« Diese letzteren Worte wurden von Frau von Lansac dem Obrist Montcornet zugeflüstert, während sich die schöne Gräfin ganz dem Mitgefühl hingab, das ihr der Anblick Soulanges' eingeflößt hatte. Denn sie liebte ihn noch aufrichtig genug, um ihn wieder glücklich wissen zu wollen, und sie nahm sich im Innern vor, die unwiderstehliche Macht, die ihre Verführungskünste noch auf ihn ausübten, aufzubieten, um ihn seiner Frau zurückzugeben. »Oh, wie werde ich ihm predigen!« sagte sie zu Frau von Lansac. »Tun Sie das nicht, meine Liebe!« rief die Herzogin aus und setzte sich dabei wieder auf ihren Sessel. »Suchen Sie sich einen guten Gatten und verschließen Sie meinem Neffen Ihr 40
Haus. Bieten Sie ihm auch nicht einmal Ihre Freundschaft an. Glauben Sie mir, mein Kind, eine Frau will nicht von einer anderen das Herz des Gatten zurückbekommen; sie ist hundertmal glücklicher, wenn sie glaubt, es selbst wiedererobert zu haben. Indem ich meine Nichte hierher führte, habe ich ihr, wie ich glaube, ein ausgezeichnetes Mittel an die Hand gegeben, die Liebe ihres Gatten wiederzugewinnen. Ich erbitte von Ihnen als Mitwirkung nur, daß Sie den General reizen.« Und als ihr die Herzogin den Freund des Finanzsekretärs zeigte, lächelte die Gräfin. – »Nun, gnädige Frau, wissen Sie jetzt endlich den Namen jener Unbekannten?« fragte der Baron die Gräfin etwas gereizt, als diese wieder allein war. »Ja,« erwiderte Frau von Vaudremont und sah Martial dabei fest ins Auge. Auf ihrem Gesicht lag ebensoviel Verschlagenheit wie Heiterkeit. Das Lächeln auf Lippen und Wangen, der feuchte Glanz ihrer Augen glichen den Irrlichtern, die den Wanderer verwirren. Martial, der sich immer noch geliebt glaubte, nahm jene kokette Haltung ein, in der ein Mann sich so gern der Geliebten gegenüber präsentiert, und sagte mit Selbstzufriedenheit: »Und werden Sie mir nicht zürnen, wenn mir sehr viel daran liegt, diesen Namen zu wissen?« »Und werden Sie mir nicht zürnen,« erwiderte Frau von Vaudremont, »wenn ich Ihnen denselben aus einem letzten Rest von Liebe nicht sage, und wenn ich Ihnen verbiete, dieser 41
jungen Dame das geringste Entgegenkommen zu zeigen? Sie setzen vielleicht Ihr Leben aufs Spiel.« »Gnädige Frau, heißt Ihre Gunst verlieren nicht mehr verlieren als das Leben?« »Martial,« sagte die Gräfin streng, »es ist Frau von Soulanges. Ihr Gatte jagt Ihnen eine Kugel ins Gehirn, wenn Sie eines haben.« »Oh, oh,« rief der junge Fant lachend aus, »der Obrist sollte denjenigen in Frieden lassen, der ihm Ihr Herz geraubt hat, und sich um seiner Frau willen schlagen? Was für eine Umkehrung der Grundsätze! Ich bitte Sie, erlauben Sie mir, mit der kleinen Dame zu tanzen. Auf diese Weise können Sie einen Beweis dafür bekommen, wie wenig Liebe dieses kalte Herz für Sie birgt; denn wenn es der Obrist unrecht findet, daß ich mit seiner Frau tanze, nachdem er gelitten hat, daß ich Sie – – –« »Aber sie ist verheiratet!« »Ein Hindernis mehr, das zu überwinden mir Vergnügen macht.« »Aber sie liebt ihren Gatten.« »Ein amüsanter Einwurf.« »Ach,« sagte die Gräfin mit bitterem Lächeln, »ihr straft uns ebensosehr um unserer Fehler wie um unserer Reue willen.« »Seien Sie mir nicht böse,« sagte Martial lebhaft, »oh, ich beschwöre Sie, verzeihen Sie mir. Sehen Sie, jetzt denke ich schon nicht mehr an Frau von Soulanges.« 42
»Sie verdienten wohl, daß ich Sie zu ihr hinschickte.« »Gut, ich gehe!« sagte der Baron lachend, »und kehre verliebter in Sie als je zurück. Sie werden sehen, daß die hübscheste Frau der Welt sich nicht eines Herzens bemächtigen kann, das Ihnen gehört.« »Das heißt so viel, als daß Sie das Pferd des Obristen gewinnen wollen.« »Oh, der Verräter!« antwortete er lachend und drohte seinem Freund, der lächelte, mit dem Finger. Der Obrist kam heran, der Baron überließ ihm den Platz neben der Gräfin, zu der er in herausforderndem Tone sagte: »Und hier, gnädige Frau, ist ein Mann, der sich gebrüstet hat, an einem Abend Ihre Gunst erringen zu können!« Er war, als er fortging, stolz darauf, daß er sowohl die Eigenliebe der Gräfin gereizt wie auch Montcornet geschadet habe. Aber trotz seiner gewöhnlichen Schlauheit hatte er die Ironie nicht gemerkt, die in Frau von Vaudremonts Worten gelegen halte, und auch nicht, daß sie seinem Freunde ebensosehr entgegenkam, wie sein Freund ihr, ohne daß sie es beide gewahr wurden. In dem Augenblick, als sich der Finanzsekretär dem Kandelaber tänzelnd näherte, unter dem die Gräfin von Soulanges blaß und furchtsam saß, nur in den Augen Leben verratend, trat ihr Gatte mit leidenschaftlich glühenden Augen in die Tür des Saales. Die alte Herzogin, die alles bemerkte, stürzte auf ihren Neffen zu, bat ihn um seinen Arm und um ihren Wagen, um nach Hause zu fahren. Sie gab vor, sich tödlich zu langweilen, und hoffte, auf diese Weise einen peinlichen Auftritt zu verhindern. Ehe sie den Saal verließ, machte sie ihrer 43
Nichte ein besonderes Zeichen des Einverständnisses und wies auf den Kavalier, der gerade im Begriff war, sie anzusprechen. Dieses Zeichen schien zu sagen: »Da ist er, räche dich!« Frau von Vaudremont hatte den Blick zwischen Tante und Nichte aufgefangen; ein Licht ging plötzlich in ihrer Seele auf. Sie fürchtete, von dieser alten Dame, die so klug war und in Ränken so bewandert, genarrt worden zu sein. ›Diese durchtriebene Herzogin‹, sagte sie sich, ›hat sich vielleicht ein Vergnügen daraus gemacht, mir Moral zu predigen, während sie mir auf ihre Weise einen bösen Streich spielt.‹ Bei diesem Gedanken war Frau von Vaudremonts Eigenliebe vielleicht noch mehr beteiligt als ihre Neugier, das Durcheinander dieser Intrige entwirrt zu sehen. Die innere Erregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, ließ sie fast die Fassung verlieren. Der Obrist, der sich die Befangenheit in Reden und Benehmen der Gräfin zu seinen Gunsten auslegte, wurde nur noch eifriger und dringlicher. Die alten blasierten Diplomaten, die sich damit unterhielten, das Spiel der Physiognomien zu studieren, hatten noch nie so viele Intrigen zu beobachten und zu enträtseln gehabt. Die Leidenschaft, die diese beiden Paare erregte, vervielfältigte sich bei jedem Schritt in diesen Sälen, indem sie sich auf den verschiedenen Gesichtern in den verschiedensten Spielarten zeigte. Das Schauspiel so vieler lebhafter Leidenschaft, all diese Liebeskämpfe, soviel süße Vergeltung und grausame Gunst, all diese flammenden Blicke, all dieses brennende Leben, das um sie her flutete, ließ sie ihre eigene Unfähigkeit nur um so lebhafter empfinden. Endlich hatte der Baron neben der Gräfin von Soulanges Platz nehmen können. Seine Augen glitten verstohlen über einen taufrischen Hals, der wie nach Wiesenblumen duftete. Er bewunderte in der Nähe die Schönheiten, die er schon von ferne 44
angestaunt hatte. Er konnte sich an dem Anblick eines schön beschuhten Fußes freuen, konnte eine schlanke, anmutige Gestalt mit den Augen messen. In jener Zeit trugen die Frauen ihre Kleider direkt unter der Brust gegürtet, frei nach den griechischen Statuen; eine erbarmungslose Mode für Frauen, deren Wuchs nicht ganz einwandfrei war. Während Martial einen verstohlenen Blick auf diesen Busen warf, war er von der Vollkommenheit der Formen der Gräfin ganz hingerissen. »Gnädige Frau, Sie haben heute abend nicht ein einziges Mal getanzt!« sagte er mit süßer und schmeichlerischer Stimme; »ich nehme an, daß es nicht die Schuld der Tänzer ist?« »Ich besuche nie Gesellschaften und bin unbekannt hier,« antwortete Frau von Soulanges kühl. Sie hatte den Blick ihrer Tante, der sie aufforderte, mit dem Baron schönzutun, nicht verstanden. Da ließ Martial den schönen Diamanten, der seine linke Hand schmückte, absichtlich spielen. Das Feuer, das von dem Stein ausging, schien ein plötzliches Licht in der Seele der jungen Gräfin zu entzünden; sie errötete und sah den Baron mit einem unergründlichen Ausdruck an. »Tanzen Sie gern?« fragte der Provenzale und versuchte, die Unterhaltung wieder anzuknüpfen. »O ja, sehr gern!« Bei dieser unerwarteten Antwort trafen sich ihre Blicke. Der junge Mann, überrascht durch den energischen Ton, der eine vage Hoffnung in seinem Herzen erweckte, sah sofort fragend in die Augen der jungen Frau. »Gnädige Frau, ist es nicht allzu kühn, wenn ich Sie bitte, beim nächsten Tanz Ihr Partner sein zu dürfen?«
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Eine kindliche Verwirrung ließ die bleichen Wangen der Gräfin erröten. »Aber ich habe schon einen andern Herrn, einen General, abgewiesen.« »War es dieser große Kavallerie-Obrist, den Sie dort unten sehen?« »Ja, eben derselbe.« »Oh, das ist mein Freund, befürchten Sie nichts! Gewähren Sie mir die Gunst, auf die ich zu hoffen wage?« »Ja, gern!« Diese Stimme rief eine so neue und tiefe Erregung in ihm hervor, daß sein blasiertes Herz ganz erschüttert wurde. Ihn überkam eine kindliche Scheu, er verlor seine Sicherheit, sein südliches Blut erhitzte sich; er wollte sprechen, seine Worte erschienen ihm banal im Vergleich zu den feinen und geistreichen Antworten der Gräfin von Soulanges. Es war daher ein Glück für ihn, daß der Tanz begann. Als er neben seiner schönen Tänzerin stand, fühlte er sich erleichtert. Für viele Männer ist der Tanz eine Art, sich zu geben; sie glauben, wenn sie die Anmut ihres Körpers entfalten, viel stärker auf die Herzen der Frauen zu wirken, als durch ihren Geist. Der Provenzale wollte in diesem Augenblick gewiß alle seine Verführungskünste spielen lassen, nach der Anmaßung seiner Bewegungen und Gesten zu schließen. Er hatte seine Beute in die Quadrille geführt, in der die schönsten Frauen des Festes es sich in den Kopf gesetzt hatten, besser zu tanzen als alle übrigen. Als das Orchester das Vorspiel für die erste Figur anstimmte, empfand der Baron eine unbeschreibliche Befriedigung seines Ehrgei46
zes; denn als er die Tänzerinnen, die in diesem gefürchteten Karree standen, betrachtete, bemerkte er, daß die Toilette der Frau von Soulanges selbst diejenige der Frau von Vaudremont ausstach, die – vielleicht absichtlich – mit dem Obristen dem Baron und der blauen Dame gegenüberstand. Die Blicke aller hefteten sich einen Augenblick auf Frau von Soulanges; ein schmeichelhaftes Geflüster ließ erkennen, daß sie der Gegenstand der Unterhaltung zwischen jedem Tänzer und seiner Dame war. Die junge Frau war so vielen neidischen und bewundernden Blicken ausgesetzt, daß sie – verwirrt über einen Triumph, dem sie sich hatte entziehen wollen – bescheiden die Augen senkte, errötete und dadurch nur noch entzückender wurde. Wenn sie ihre bleichen Augenlider aufschlug, war es nur, um ihren berauschten Tänzer anzusehen, wie um ihm den Ruhm dieser Huldigungen zurückzugeben, ihm zu sagen, daß sie die seinen allen anderen vorziehe. Sie legte Unschuld in ihre Koketterie, oder vielmehr, sie schien sich der naiven Bewunderung hinzugeben, mit der die Liebe junger Herzen vertrauensvoll beginnt. Als sie tanzte, konnten die Zuschauer leicht glauben, sie entfalte ihre Reize nur für Martial; und obgleich sie zurückhaltend war und ein Neuling in den Gewohnheiten des Salons, verstand sie es doch, wie die gescheiteste Kokette, zur rechten Zeit die Augen auf ihn zu richten, um sie mit geheuchelter Bescheidenheit wieder zu senken. Als bei den neuen Touren der vom Tänzer Trenis erfundenen und nach ihm benannten Quadrille Martial einmal dem Obrist allein gegenüberstand, sagte er lächelnd zu ihm: »Ich habe dein Pferd gewonnen.« »Ja, aber du hast 40 000 Franken Rente verloren,« erwiderte der Obrist und zeigte auf Frau von Vaudremont.
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»Ach, was macht mir das! Frau von Soulanges ist Millionen wert.« Am Schlüsse dieses Tanzes klang an allen Ohren Geflüster. Die wenigst schönen Frauen entrüsteten sich vor ihren Tänzern über das entstehende Verhältnis zwischen Martial und der Gräfin von Soulanges. Die schönsten waren über eine solche Leichtfertigkeit erstaunt. Die Männer begriffen das Glück des jungen Sekretärs, an dem sie nichts Verführerisches fanden, nicht. Einige nachsichtige Frauen meinten, man dürfe die Gräfin nicht zu übereilt beurteilen: die Jugend wäre recht unglücklich daran, wenn ein beredter Blick oder ein anmutig ausgeführter Pas schon genügen sollte, eine Frau zu kompromittieren. Nur Martial war sich der ganzen Tragweite seines Glückes bewußt. Als beim letzten Moulinet der Damen seine Finger diejenigen der Gräfin drückten, glaubte er durch das feine und parfümierte Leder der Handschuhe hindurch zu fühlen, wie die Finger der jungen Frau seinen warmen Druck erwiderten. »Gnädige Frau«, sagte er zu ihr, als der Tanz zu Ende war, »kehren Sie nicht in jene abscheuliche Ecke zurück, in der Sie bisher Ihr Gesicht und Ihre Toilette vergraben haben. Ist Bewunderung das einzige, was Ihnen die Diamanten, die Ihren so weißen Hals und Ihre so schön geschlungenen Haare schmücken, einbringen? Kommen Sie ein wenig durch die Säle, damit Sie das Fest und sich selber genießen.« Frau von Soulanges folgte ihrem Verführer, der glaubte, daß sie ihm um so sicherer gehören würde, wenn er sie erst kompromittiert hätte. So gingen sie beide mehrmals durch die Gruppen, die die Säle des Hauses füllten. Die Gräfin von Soulanges blieb jedesmal, ehe sie in einen neuen Saal trat, ängstlich einen Augenblick stehen und ging erst dann hindurch, 48
wenn sie mit vorgestrecktem Hals einen Blick auf alle anwesenden Herren geworfen hatte. Diese Furcht, die die Freude des kleinen Barons nur erhöhte, schien sich immer erst zu legen, wenn er seiner zitternden Gefährtin gesagt hatte: »Seien Sie unbesorgt, er ist nicht da.« So kamen sie in eine riesige Bildergalerie, die in einem Seitenflügel des Hauses lag, und wo man sich schon im voraus an den Anblick eines für 300 Personen angerichteten Büfetts laben konnte. Da das Essen beginnen sollte, zog Martial die Gräfin in ein ovales Boudoir, das nachdem Garten zu lag, und in welchem die seltensten Blumen und Gewächse eine duftende Laube unter prunkvollen blauen Vorhängen bildeten. Das Geräusch des Festes erstarb hier. – Die Gräfin zitterte beim Eintreten und weigerte sich hartnäckig, dem jungen Manne zu folgen. Als sie jedoch in einen Spiegel schaute und dort Zeugen erblickte, setzte sie sich ziemlich beruhigt auf eine Ottomane. »Dieses Zimmer ist entzückend,« sagte sie und bewunderte einen hellblauen Vorhang, der mit Perlenschnüren gehalten wurde. »Alles atmet hier Liebe und Wollust!« sagte der junge Mann tief ergriffen. Bei dem magischen Licht, das hier herrschte, betrachtete er die Gräfin und entdeckte in ihrem sanft bewegten Gesicht einen Ausdruck von Verwirrung, Scham und Verlangen, der ihn ganz entzückte. Die junge Frau lächelte, und dieses Lächeln schien dem Kampf der Gefühle in ihrem Herzen ein Ende zu setzen. Sie ergriff auf die bezauberndste Weise die linke Hand ihres Verehrers und zog ihm den Ring vom Finger, auf den ihre Augen sich geheftet halten.
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»Der schöne Diamant!« rief sie mit dem kindlichen Ausdruck eines jungen Mädchens aus, das den Reiz einer ersten Versuchung empfindet. Martial war von der unbeabsichtigten und doch so betörenden Liebkosung der Gräfin, mit der sie ihm den Ring vom Finger zog, ganz benommen; er blickte sie mit Augen an, die ebenso funkelten, wie der Diamant. »Tragen Sie ihn, zur Erinnerung an diese himmlische Stunde und aus Liebe zu...« Sie sah ihn so verzückt an, daß er den Satz nicht beendete, sondern ihr die Hand küßte. »Sie geben ihn mir?« fragte sie und sah erstaunt aus. »Ich würde Ihnen gern die ganze Welt zu Füßen legen.« »Sie scherzen wirklich nicht?« fuhr sie fort mit vor allzu lebhafter Befriedigung veränderter Stimme. »Werden Sie nur meinen Diamanten annehmen?« »Werden Sie ihn nie von mir zurückfordern?« fragte sie. »Niemals!« Sie steckte den Ring an ihren Finger. Martial, der schon auf ein nahes Glück rechnete, machte eine Bewegung, als wollte er der Gräfin seinen Arm um die Taille legen; sie aber erhob sich plötzlich und sagte mit klarer Stimme, ohne jede Erregung: »Mein Herr, ich nehme diesen Diamanten mit um so geringerem Bedenken an, als er mir gehört.«
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Der Finanzsekretär blieb sprachlos. »Herr von Soulanges nahm ihn kürzlich von meinem Toilettentisch und sagte mir dann, er hätte ihn verloren.« »Sie befinden sich in einem Irrtum, gnädige Frau,« sagte Martial gereizt, »ich erhielt diesen Ring von Frau von Vaudremont.« »Ganz recht,« erwiderte sie lachend. »Mein Mann hat sich diesen Ring von mir entliehen, er hat ihn ihr gegeben, und sie hat ihn Ihnen geschenkt. Mein Ring hat eine Rundreise gemacht, das ist alles. Dieser Ring wird mir vielleicht alles das sagen, was ich noch nicht weiß, er wird mich das Geheimnis lehren, immer zu gefallen. Mein Herr,« fuhr sie dann fort, »hätte der Ring nicht mir gehört, ich wäre nicht so kühn gewesen, das können Sie mir glauben; denn eine junge Frau soll sich, so sagt man, bei Ihnen Gefahren aussetzen. Aber sehen Sie,« fügte sie hinzu und ließ eine Feder, die unter dem Stein verborgen war, aufspringen, »hier innen ist noch die Haarlocke von Herrn von Soulanges.« Und damit entschlüpfte sie so schnell in die Säle, daß ein Versuch, sie einzuholen, vergeblich schien. Martial war ganz verdutzt. Seine Abenteuerlust war dahin. Das Lachen der Frau von Soulanges hatte übrigens ein Echo in dem kleinen Gemach gefunden; der junge Fant erblickte zwischen zwei hohen Blumenkübeln den Obristen und Frau von Vaudremont, die aus vollem Herzen lachten. »Willst du mein Pferd haben, um deiner Eroberung nachzujagen?« fragte der Obrist.
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Nur der guten Miene, mit der der Baron die Neckereien der Frau von Vaudremont und des Generals Montcornet ertrug, verdankte er es, daß sie über diesen Abend Stillschweigen bewahrten, an dem ihr beiderseitiger Freund sein Schlachtroß gegen eine junge, reiche und schöne Frau eingetauscht hatte. Während die Gräfin von Soulanges den Weg zurücklegte von der Chaussée d'Antin bis zum Faubourg Saint-Germain, wo sie wohnte, mußte ihre Seele die lebhaftesten Ängste durchmachen. Ehe sie das Hotel Gondreville verlassen hatte, war sie durch alle Säle geeilt, ohne ihre Tante oder ihren Gatten zu finden, die ohne sie fortgegangen waren. Schreckliche Ahnungen quälten ihr argloses Herz. Als Zeugin der Leiden, die ihr Mann seit dem Tage durchmachte, an dem Frau von Vaudremont ihn vor ihren Triumphwagen gespannt hatte, hoffte sie voll Vertrauen, daß eine baldige Reue ihr den Galten zurückbringen würde. Nur mit größtem Widerwillen hatte sie in den Plan ihrer Tante, der Frau von Lansac, eingewilligt, und jetzt fürchtete sie, ein Unrecht begangen zu haben. Dieser Abend hatte ihre reine Seele tief betrübt. Von der leidenden und düsteren Miene des Grafen von Soulanges erschreckt, wurde sie es noch mehr durch die Schönheit ihrer Nebenbuhlerin; und die Verderbtheit der Welt hatte ihr das Herz zugeschnürt. Als sie über den Pont Royal fuhr, warf sie die entweihte Haarlocke, die unter dem Diamanten gelegen hatte und die ihr einst als Pfand reiner Liebe gegeben worden war, aus dem Wagen. Sie weinte, als sie an all die Leiden dachte, die sie seit so langer Zeit hatte erdulden müssen; sie zitterte bei dem Gedanken, daß jede Frau, die den ehelichen Frieden erhalten will, gezwungen ist, tief in ihrem Herzen, und ohne zu klagen(?) Ängste auszustehen, ebenso grausam wie die ihren. »Ach,« sagte sie zu sich, »wie machen es nur die Frauen, die nicht lieben? Wo nehmen sie ihre Nachsicht her? Ich kann 52
nicht glauben, daß – wie die Tante sagt – die Vernunft genügt, um sie in solcher Ergebenheit in ihr Schicksal zu unterstützen.« Sie seufzte noch, als ihr Kammerjäger den eleganten Wagenschlag herunterließ, von dem sie in die Vorhalle ihres Hauses trat. Sie eilte die Treppe hinauf, und als sie in ihr Schlafgemach kam, zitterte sie vor Schreck, da sie ihren Gatten am Kamin sitzen sah. »Seit wann, meine Liebe, besuchen Sie Bälle ohne mich, und ohne es mir zu sagen?« fragte er mit seltsamer Stimme. »Sie müssen wissen, daß eine Frau ohne ihren Gatten immer deplaciert ist. Sie haben sich in Ihrer dunklen Ecke überaus kompromittiert.« »Ach, mein lieber Léon,« sagte sie mit zärtlicher Stimme, »ich konnte der Freude nicht widerstehen, dich zu sehen, ohne daß du mich sahst. Meine Tante hat mich auf diesen Ball geführt, und ich bin sehr glücklich dort gewesen.« Dieser Ton nahm dem Gesichtsausdruck des Grafen seine gekünstelte Strenge; hatte er sich doch eben erst, während er auf die Rückkehr seiner Frau wartete, die bittersten Vorwürfe gemacht: denn sie hatte auf dem Ball sicher von seiner Untreue erfahren, die er hoffte, ihr verbergen zu können; und nun wollte er versuchen, wie es Liebende zu tun pflegen, die sich einer Schuld bewußt sind, dem nur allzuberechtigten Zorn der Gräfin dadurch zu entgehen, daß er als erster sie mit Vorwürfen überhäufte. – Schweigend betrachtete er seine Gattin, die in ihrem kostbaren Staat noch schöner erschien als sonst. Die Gräfin, glücklich ihren Gatten lächeln zu sehen und ihn zu dieser Stunde in einem Zimmer zu treffen, in das er seit einiger Zeit weniger oft gekommen war, sah ihn so zärtlich an, daß sie errötete und die Augen niederschlug. Diese Milde berauschte Soulan53
ges um so mehr, als sie auf die Qualen folgte, die er während des Balles hatte erdulden müssen. Er ergriff die Hand seiner Frau und küßte sie voll Dankbarkeit: ist in der Liebe nicht oft Dankbarkeit? »Hortense, was hast du da am Finger, das meinen Lippen so weh getan hat?« fragte er lachend. »Das ist mein Diamant, den du verloren zu haben meintest und den ich wiedergefunden habe!« Der General Montcornet heiratete übrigens Frau von Vaudremont nicht, trotz des guten Einvernehmens, in dem beide eine Zeitlang lebten; denn sie wurde eines der Opfer jener schrecklichen Feuersbrunst auf dem berühmten Ball, den die österreichische Gesandtschaft zu Ehren der Vermählung des Kaisers Napoleon mit der Tochter des Kaisers Franz II. gab.
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Die alte Jungfer Für Monsieur Eugene-Auguste-Georges-Louis Midy de la Greneraye Surville Ingenieur beim Königlichen Amt für Straßen- und Brückenbau Als ein Zeugnis der Zuneigung seines Schwagers De Balzac
Gewiß sind viele Leute in bestimmten Provinzen Frankreichs einigen Chevaliers de Valois begegnet, denn es gab einen in der Normandie, ein anderer lebte in Bourges, ein dritter erfreute sich ums Jahr 1816 in der Stadt Alençon bester Gesundheit, und im Süden des Landes ließe sich vielleicht auch noch einer finden. Aber die Aufzählung dieses Stammes der Valois ist hier ohne Bedeutung. Alle diese Chevaliers, unter denen es sicher welche gab, die so Valois waren, wie Ludwig XIV. Bourbone war, kannten sich so wenig, daß es überflüssig gewesen wäre, ihnen voneinander zu erzählen. Im übrigen ließen sie alle Bourbonen vollkommen unbehelligt auf dem Throne Frankreichs, denn es ist nur allzusehr erwiesen, daß Heinrich IV. König wurde, weil es in der älteren, Valois genannten Linie der Orléans keinen männlichen Erben gab. Wenn es Abkömmlinge 55
der Valois gibt, so stammen sie alle von Charles de Valois, Duc d'Angoulême, Sohn Karls IX. und der Marie Touchet, dessen männliche Nachkommenschaft, bis zum gegenteiligen Beweis, in der Person des Abbé de Rothelin erloschen ist; die Valois-Saint-Remy, die von Heinrich II. abstammen, haben gleichfalls bei der berüchtigten Lamothe-Valois, die in die Halsbandaffäre verwickelt war, aufgehört zu bestehen. Jeder dieser Chevaliers war, wenn die Berichte zutreffend sind, wie der von Alençon, ein alter, langer, dürrer Edelmann ohne Vermögen. Der von Bourges hatte in der Emigration gelebt, der aus der Touraine hatte sich versteckt, der von Alençon hatte in der Vendée Krieg geführt und sich ein bißchen als Chouan aufgespielt. Der überwiegende Teil der Jugend dieses letzteren hatte sich in Paris abgespielt, wo ihn die Revolution inmitten seiner Eroberungen im Alter von dreißig Jahren überrascht hatte. Da der Chevalier de Valois aus Alençon bei der hohen Aristokratie der Provinz als echter Valois galt, so tat er sich, gleich seinen Namensvettern, durch ausgezeichnete Manieren hervor und trat als Mann der oberen Gesellschaft auf. Er dinierte alle Tage auswärts und spielte alle Abende Karten. Dank einem seiner Fehler, welcher darin bestand, eine Menge Anekdoten über die Regierung Ludwigs XV. und die Anfänge der Revolution zu erzählen, hielt man ihn für einen sehr geistreichen Menschen. Wenn man diese Histörchen zum erstenmal hörte, fand man, daß sie sehr gut vorgetragen waren. Der Chevalier de Valois hatte überdies die Tugend, niemals seine eigenen Bonmots zu wiederholen und niemals von seinen Liebesangelegenheiten zu reden; doch sein Schöntun und Lächeln begingen hierbei entzückende Indiskretionen. Dieser biedere Herr machte sich das Vorrecht der alten Voltairianer zunutze, niemals in die Messe zu gehen, welche Irreligiosität man ihm wegen seiner großen Hingebung an die Partei des Königs nachsah. Eine der auffälligsten seiner anmutigen Ges56
ten war die, wahrscheinlich bei Mole abgeschaute Art, aus einer alten goldenen Tabaksdose zu schnupfen, die mit dem Porträt der Fürstin Goritza geschmückt war, einer reizenden Ungarin, die zu Ende der Regierung Ludwigs XV. wegen ihrer Schönheit berühmt gewesen war. Er war in seiner Jugend mit dieser berühmten Ausländerin sehr verbunden gewesen und sprach stets mit Rührung von ihr; auch hatte er sich um ihretwillen mit Monsieur de Lauzun geschlagen. Um jene Zeit zählte er etwa achtundfünfzig Jahre, doch gab er nur fünfzig an, und er konnte sich diese harmlose Unterschlagung erlauben, denn von den Vorzügen, die mageren blonden Menschen häufig zufallen, erfreute er sich einer noch jugendlichen Gestalt, die sowohl Männern wie Frauen das Aussehen des Alters erspart. Ja, wisset, das ganze Leben oder vielmehr die ganze geschmeidige Haltung, die der Ausdruck des Lebens ist, hat ihren Sitz in der Gestalt. Zu den Eigentümlichkeiten des Chevaliers muß man die gewaltige Nase rechnen, mit der ihn die Natur ausgestattet hatte. Diese Nase teilte sein blasses Gesicht nachdrücklich in zwei Partien, die einander nicht zu kennen schienen und von denen sich die eine während der Verdauung stark rötete. Dieser Umstand ist erwähnenswert in einer Zeit, in der sich die Physiologie so sehr mit dem menschlichen Herzen beschäftigt. Dieses Erglühen ging auf der linken Seite vor sich. Obwohl die langen und dünnen Beine, der schmächtige Körper und der fahle Teint des Monsieur de Valois keine robuste Gesundheit verrieten, so aß er nichtsdestoweniger wie ein Menschenfresser und behauptete, wahrscheinlich um seinen ungeheuren Appetit zu entschuldigen, an einer Krankheit zu leiden, die man in der Provinz mit dem Namen »hitzige Leber« bezeichnet. Die flammende Röte bestätigte solche Behauptungen; allein, wo die Mahlzeiten aus dreißig oder vierzig Gerichten bestehen und vier Stunden dauern, muß man den Magen des Chevaliers als eine Wohltat be57
trachten, mit der die Vorsehung diese gute Stadt begnadet hatte. Nach der Meinung einiger Ärzte deutete die linksseitige Röte auf ein zu weites Herz. Das galante Leben des Chevaliers machte diese wissenschaftlichen Feststellungen, für die sich der Historiker zum Glück nicht sonderlich verantwortlich fühlt, sehr wahrscheinlich. Trotz dieser Symptome war Monsieur de Valois von nerviger, infolgedessen äußerst lebhafter Natur. Wenn seine Leber hitzig war, so brannte sein Herz nicht weniger stark, um eine alte Redewendung zu gebrauchen. Wenn sein Gesicht einige Runzeln aufwies und seine Haare mit Silberfäden durchzogen waren, so erkannte ein kundiger Beobachter darin die Merkmale der Leidenschaft und die Spuren des Vergnügens. In der Tat waren die Krähenfüße und Stirnrunzeln von der eleganten Art, die am Hofe der Cythera so geschätzt wird. Alles ließ bei dem koketten Chevalier auf den Frauenhelden, den »ladies man«, wie die Engländer sagen, schließen: er wusch sich so sorgfältig, daß es ein Vergnügen war, seine Wangen anzuschauen; sie schienen mit einem wunderkräftigen Wasser abgerieben zu sein. Der Teil des Kopfes, den die Haare nicht mehr bedecken wollten, glänzte wie Elfenbein. Seine Brauen wie seine Haare täuschten durch die Regelmäßigkeit, die ihnen der Kamm verliehen hatte, die Jugend vor. Seine Haut, die schon von Natur so weiß war, schien durch irgendein Geheimmittel noch, weißer geworden zu sein. Ohne daß der Chevalier von Parfüm Gebrauch gemacht hätte, strömte er einen erfrischenden Duft von Jugendlichkeit aus. Seine Hände waren gepflegt wie die einer Modepuppe und zogen den Blick durch die Form ihrer rosigen Nägel auf sich. Kurz, ohne seine überragende, an Größe unvergleichliche Nase, hätte man ihn zierlich nennen können.
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Doch kann man nicht umhin, dieses Porträt durch das Eingeständnis einer Schwäche zu beeinträchtigen: der Chevalier stopfte Watte in seine Ohren und trug überdies zwei kleine, sehr kunstvoll gearbeitete Ohrringe, die in Diamant gefaßte Negerköpfe darstellten; doch legte er so großen Wert darauf, daß er dieses eigentümliche Anhängsel mit der Behauptung rechtfertigte, seitdem seine Ohrläppchen durchstochen seien, habe er keine Migräne mehr; er hatte also an Migräne gelitten. Wir geben den Chevalier also keineswegs für das Idealbild eines Mannes aus; im übrigen, muß man nicht den alten Junggesellen, denen soviel Blut vom Herzen ins Gesicht schießt, ein paar solche entzückend lächerliche Absonderlichkeiten, die vielleicht auf zarten Geheimnissen beruhen, nach sehen? Der Chevalier de Valois machte übrigens diese Negerköpfe durch so viele andere Vorzüge wieder wett, daß die Gesellschaft sich dafür genügend entschädigt finden sollte. Er gab sich wirklich große Mühe, seine Jahre zu verbergen und seinen Bekannten zu gefallen. Da war in erster Linie die außerordentliche Sorgfalt, die er auf seine Wäsche verwandte, dieses einzige Mittel, mit dem sich heutzutage Leute von guter Lebensart in ihrer Kleidung auszeichnen können! Die des Chevaliers war stets von aristokratischer Feinheit und Weiße. Was seinen Rock anging, so war er zwar immer abgetragen, aber von bemerkenswerter Sauberkeit, ohne Flecken und Falten, Die Konservierung seiner Kleidungsstücke grenzte sogar ans Wunderbare für diejenigen, die die saloppe Gleichgültigkeit des Chevaliers für diese Seite der Mode bemerkten; er ging zwar nicht so weit, sie mit einem Stück Glas abzuschaben, ein Verfahren, das vom Prinzen von Wales erfunden worden ist; immerhin setzte Monsieur de Valois seine ihm eigene Geckenhaftigkeit darein, die Grundelemente hoher englischer Eleganz nachzuahmen, was von den Leuten von Alençon wohl kaum gebührend gewürdigt werden konnte. Ist die Welt nicht denen 59
Achtung schuldig, die sich ihretwegen so sehr in Unkosten stürzen? Handeln solche Leute nicht nach jener schwierigsten Vorschrift des Evangeliums, die befiehlt, Böses mit Gutem zu vergelten? Dieses frische, gepflegte Äußere paßte gut zu den blauen Augen, den blendend weißen Zähnen, der blonden Erscheinung des Chevaliers. Nur hatte dieser Adonis im Ruhestand nichts Männliches in seinem Auftreten, und die Künste der Toilette mußten ihm dazu dienen, die im Kriegsdienst der Galanterie erworbenen Schäden zu verdecken. Um nichts ungesagt zu lassen: die Stimme stand im Widerspruch zu der blonden Zartheit des Chevaliers. Ohne der Meinung einiger Kenner des menschlichen Herzens beizupflichten, welche sagten, die Stimme des Chevaliers entspräche seiner Nase, mußte man sich doch über den Umfang und die Tragkraft seines Organs wundern. Die Stimme besaß zwar nicht das Volumen eines mächtigen Basses, gefiel aber durch eine hübsche Mittellage, war ausdauernd und zart, durchdringend und doch samtweich wie der Klang des Englischhorns. Der Chevalier hatte die lächerliche Tracht, die einige monarchisch gesinnte Männer beibehalten hatten, abgelegt und sich offen der herrschenden Mode angeschlossen; er trug stets einen kastanienbraunen, mit goldenen Knöpfen besetzten Rock, leicht anliegende Kniehosen aus einem festen, seidenartigen Stoff mit goldenen Schnallen, eine weiße Weste ohne Stickerei und als letztes Überbleibsel der vormaligen französischen Mode eine geknotete Krawatte ohne Hemdkragen, auf die er um so weniger hatte verzichten können, als sie ihm gestattete, den Hals eines weltlichen Abbé zu zeigen. Seinen Schuhen gereichten viereckige, bei der gegenwärtigen Generation in Vergessenheit geratene goldene Schnallen zur Zierde, die sich vom lackierten schwarzen Leder abhoben. Gleichfalls eine Reminiszenz an die Mode des achtzehnten Jahrhunderts, das die »Incroyables« unter dem Direktorium nicht mißachteten, war die Gepflogenheit des Chevaliers, zwei Uhrketten zu tragen, die zu beiden Seiten aus 60
seinen Westentäschchen heraushingen. Dieses Übergangskostüm, das zwei Jahrhunderte miteinander verband, trug der Chevalier mit jener Grazie eines echten Marquis, deren Geheimnis an dem Tage verlorenging, als Fleury, der letzte Schüler Molés, von der französischen Bühne abtrat. Das Privatleben dieses alten Junggesellen lag dem Anschein nach vor aller Augen offen da, war aber in Wirklichkeit sehr geheimnisvoll. Er bewohnte ein bescheidenes Logis - taktvoll ausgedrückt -, das in der Rue du Cours im zweiten Stock eines Hauses gelegen war, das Madame Lardot, der meistbeschäftigten Feinwäscherin der Stadt, gehörte. Das erklärte die auserlesene Feinheit seiner Wäsche. Das Unglück wollte, daß Alençon eines Tages Grund hatte anzunehmen, der Chevalier habe sich nicht immer so aufgeführt, wie es sich für einen Edelmann ziemt, und habe in seinen alten Tagen eine gewisse Césarine, die Mutter eines Kindes, das die Frechheit gehabt hatte, ungerufen zur Welt zu kommen, geheiratet. »Er hatte«, sagte ein gewisser Monsieur du Bousquier, »derjenigen seine Hand gereicht, die so lange das Eisen für ihn heiß gemacht hat.« Diese abscheuliche Verleumdung trübte die alten Tage des zarten Edelmannes um so mehr, als ihm dadurch, wie diese Geschichte zeigen wird, eine lang gehegte Hoffnung, der er manches Opfer gebracht hatte, vereitelt wurde. Madame Lardot vermietete an den Chevalier de Valois zwei Zimmer im zweiten Stock ihres Hauses für den mäßigen Preis von hundert Francs im Jahr. Der würdige Edelmann, der alle Tage auswärts speiste, kam nur zum Schlafengehen nach Hause. Seine einzige Ausgabe war daher sein Frühstück, das unabänderlich aus einer Tasse Schokolade bestand, der Butter und Obst, je nach der Jahreszeit, beigegeben waren. Er ließ nur im strengsten Winter heizen und dann auch nur zum Aufstehen. Zwischen elf und 61
vier Uhr ging er spazieren, las die Zeitungen und machte Besuche. Gleich bei seiner Niederlassung in Alençon hatte er seine Armut hochherzig eingestanden und gesagt, daß ihm als einziger Überrest seines ehemaligen Reichtums eine Leibrente von sechshundert Livres geblieben sei, die ihm sein früherer Geschäftsführer, bei dem die Papiere lagen, in vierteljährlichen Raten übermitteln ließ. In der Tat händigte ihm ein Bankier der Stadt alle drei Monate hundertfünfzig Livres aus, die von einem gewissen Bordin in Paris, dem letzten Prokurator des Châtelet, abgeschickt waren. Jeder wußte diese Einzelheiten, dank der tiefen Verschwiegenheit, um die der Chevalier die erste Person, die sein Vertrauen empfing, gebeten hatte. Monsieur de Valois erntete die Früchte seines Mißgeschicks: man deckte ihm den Tisch in den ersten Häusern Alençons und lud ihn zu allen Abendgesellschaften ein. Seine Talente als Spieler, Erzähler, liebenswürdiger und guter Gesellschafter waren so geschätzt, daß alles verfehlt schien, wenn er nicht zugegen war. Die Hausherren und die Damen konnten seine gutheißende Kennermiene nicht missen. Wenn der alte Chevalier zu einer jungen Frau auf einem Balle sagte: »Sie sind zum Entzücken gekleidet!«, so beglückte dieses Lob sie mehr als der Neid ihrer Rivalin. Monsieur de Valois war der einzige, der gewisse Wendungen der alten Zeit in der richtigen Weise aussprechen konnte. Die Worte ›mein Herz, mein Juwel, mein liebes Kind, meine Königin‹, alle die verliebten Kosenamen der Jahre um 1770, gewannen in seinem Munde einen unwiderstehlichen Reiz; kurz, er hatte das Vorrecht der Superlative. Seine Komplimente, mit denen er übrigens geizte, verschafften ihm die Gunst der alten Damen; sie schmeichelten aller Welt, selbst den Herren der Verwaltung, die er nicht brauchte. Sein Betragen beim Spiel war von einer Vornehmheit, die man überall anerkannt hatte. Er beklagte sich nie, er lobte seine Gegner, wenn sie verloren; er unternahm niemals, seine Partner zu erziehen, indem er ihnen zeigte, wie sie ihre Trümpfe hätten aus62
spielen sollen. Wenn sich beim Kartenmischen langatmige, abstoßende Auseinandersetzungen entspannen, zog der Chevalier mit einer Gebärde, die Molés würdig gewesen wäre, seine Tabaksdose hervor, betrachtete die Fürstin Goritza, öffnete würdevoll den Deckel, nahm seine Prise zwischen die Finger, hob sie in die Höhe, rieb sie, formte sie zu Klümpchen; wenn dann die Karten ausgegeben waren, hatte er die Höhlen seiner Nase vollgestopft und die Fürstin, immer zur Linken, in seine Westentasche gesteckt. Nur ein Edelmann des ›guten‹ Zeitalters - im Gegensatz zum ›großen‹ Zeitalter - konnte dieses Mittelding zwischen einem geringschätzigen Stillschweigen und einer boshaften Bemerkung, die nicht verstanden worden wäre, zuwege bringen. Er nahm mit den Stümpern fürlieb und wußte seinen Vorteil aus ihnen zu ziehen. Sein entzückender Gleichmut entlockte vielen die Äußerung: »Ich bewundere den Chevalier de Valois!« Seine Unterhaltung, seine Manieren, alles an ihm schien, wie seine Person, blond zu sein. Er bemühte sich, weder bei Herren noch Damen Anstoß zu erregen. Gleicherweise nachsichtig gegen organische Fehler wie geistige Defekte, hörte er mit Hilfe der Fürstin Goritza geduldig die Leute an, die ihm ihre kleinen Leiden des Provinzlebens vortrugen: das schlecht gekochte Frühstücksei, die sauer gewordene Salme im Kaffee, possierliche Einzelheiten, die die Gesundheit betrafen, das plötzliche Auffahren aus dem Schlaf, die Träume, die Besuche. Der Chevalier verfügte über einen schmachtenden Blick, ein klassisches Mienenspiel, um Mitleid zu fingieren, so daß er ein köstlicher Zuhörer war. Er konnte ein ›Ach!‹, ein ›Was!‹, ein ›Wie ging das zu?‹ im richtigen Moment verblüffend vorbringen. Er starb, ohne daß jemand auf den Verdacht gekommen wäre, daß er, während er diese albernen Ergüsse über sich ergehen ließ, sich die glühendsten Kapitel seines Romans mit der Fürstin Goritza ins Gedächtnis zurückrief. Hat man jemals bedacht, welche Dienste ein erloschenes Gefühl der Gesellschaft leisten kann, in welchem Maße die Liebe der 63
Gesellschaft zugute kommt und ihr nützlich ist? Dies kann zur Erklärung dienen, warum der Chevalier, trotz seiner beständigen Gewinne, der Liebling der Stadt blieb, denn er verließ niemals einen Salon, ohne ungefähr sechs Livres gewonnen zu haben. Daß er verlor, kam sehr selten vor, und dann machte er immer viel Aufhebens davon. Alle, die ihn gekannt haben, gestehen ein, daß sie nirgends, selbst nicht im Ägyptischen Museum in Turin, eine so nette Mumie gesehen hätten. In keinem Lande der Welt nimmt das Schmarotzertum so angenehme Formen an. Nie hat sich der konzentrierteste Egoismus dienstfertiger, weniger verletzend gezeigt als bei diesem Edelmann; er war so viel wert wie eine aufopfernde Freundschaft. Wenn jemand Monsieur de Valois um eine kleine Gefälligkeit bat, die diesen Mühe gekostet hätte, so verließ dieser Jemand den guten Chevalier niemals, ohne von ihm entzückt zu sein, in keinem Fall aber ohne die Überzeugung, daß er in der Sache nichts tun könne oder sie durch seine Einmischung verdorben hätte. Um die problematische Existenz des Chevaliers zu erklären, muß der Chronist, dem die Wahrheit, diese grausame Geliebte, das Messer an die Kehle setzt, bekennen, daß Alençon unlängst nach den ruhmreich traurigen Julitagen erfahren mußte, daß die Summe, die Monsieur de Valois beim Spiel zu gewinnen pflegte, sich vierteljährlich auf ungefähr einhundertfünfzig Taler belief und daß der geistreiche Chevalier den Mut gehabt hatte, sich selbst seine Leibrente zuzuschicken, um in einem Lande, wo man das Habet liebt, nicht ohne Hilfsquellen zu erscheinen. Viele seiner Freunde - man beachte, daß er schon tot war bestritten diese Behauptung steif und fest, hielten sie für eine Fabel und blieben dabei, daß der Chevalier ein achtbarer, würdiger Edelmann gewesen sei, den die Liberalen verleumdeten. Zum Glück für diese durchtriebenen Spieler gibt es in der Galerie immer Leute, die ihnen Beistand leisten. Sie leugnen hartnäckig ein Unrecht, weil sie sich schämen, ihm Vorschub 64
geleistet zu haben; man betrachte dies nicht als Eigensinn, die Leute wissen, was sie ihrer Würde schuldig sind. Die Regierungen gehen ihnen mit gutem Beispiel in dieser Tugend voran, welche darin besteht, ihre Toten bei Nacht und Nebel zu begraben, ohne das ›Tedeum‹ ihrer Niederlagen zu singen. Wenn sich der Chevalier also wirklich diesen gerissenen Streich erlaubt haben sollte, der ihm übrigens sicherlich die Achtung des Chevaliers de Grammont, ein Lächeln des Barons de Faeneste, einen Händedruck des Marquis de Monçada eingetragen hätte, war er darum weniger der liebenswürdige Gast, der geistreiche Mann, der unverwüstliche Spieler, der reizende Erzähler, der das Entzücken von Alençon ausmachte? Inwiefern ist überhaupt diese Handlungsweise, die unter dem Gesetz des freien Willens steht, mit den eleganten Sitten eines Edelmanns unvereinbar? Wenn soundso viele Leute genötigt sind, andern Renten auszuzahlen, was ist natürlicher, als daß man seinem besten Freunde freiwillig eine zukommen läßt? Aber Laios ist tot... Nach etwa fünfzehn Jahren einer solchen Lebensweise hatte der Chevalier zehntausend und einige hundert Francs zusammengebracht. Bei der Wiederkehr der Bourbonen hatte ihm ein alter Freund, der Marquis de Pombreton, ehemaliger Leutnant bei den schwarzen Musketieren, wie man sagt, zwölfhundert Pistolen, die der Chevalier ihm geborgt hatte, damit er emigrieren könne, zurückgegeben. Dieses Ereignis erregte Aufsehen; es wurde späterhin den vom ›Constitutionel‹ erfundenen Spöttereien über die Art, wie manche Emigranten ihre Schulden bezahlten, entgegengehalten. Wenn jemand diesen edlen Zug des Marquis de Pombreton gegen den Chevalier erwähnte, errötete dieser bis zu seiner rechten Seite. Jedermann freute sich damals für Monsieur de Valois, welcher zu den Geldleuten ging und sich mit ihnen darüber beriet, wie er diesen Rest seines Vermögens verwenden solle. Er setzte seine Hoffnung auf die Restauration und legte das Geld in Staatspapieren an zu einer Zeit, da die Renten sechsundfünfzig Francs fünfund65
zwanzig Centimes betragen. Die Messieurs de Lenoncourt, de Navarreins, de Verneuil, de Fontaine und de La Billardière, mit denen er, wie er sagte, bekannt war, verschafften ihm eine Pension von hundert Talern aus der Schatulle des Königs und schickten ihm das Kreuz des heiligen Ludwig. Niemals erfuhr man, auf welche Weise der alte Chevalier zu dieser Auszeichnung gekommen war; aber es steht fest, daß das Patent des Kreuzes des heiligen Ludwig ihn befugte, sich auf Grund seiner in den katholischen Armeen des Westens geleisteten Dienste den Titel eines Oberst a.D. beizulegen. Außer seiner fingierten Leibrente, um die sich niemand mehr kümmerte, hatte der Chevalier also verbürgtermaßen tausend Francs Einkünfte. Trotz dieser Verbesserung seiner Lage änderte er in nichts seine Lebensweise oder seine Manieren; nur daß das rote Band sich prachtvoll auf seinem kastanienbraunen Rock ausnahm und sozusagen die Physiognomie des Edelmanns vervollständigte. Vom Jahre 1802 an verschloß der Chevalier seine Briefe mit einem sehr alten goldenen Siegel, das schlecht graviert war, aber auf dem die Castéran, die d'Esgrignon, die Troisville sehen konnten, daß sein Wappen in zwei Hälften geteilt war und auf der einen den Balkenstreifen in rotem Felde, auf der andern fünf goldene durchbrochene Rauten, die zu einem Kreuz zusammengefügt waren, führte; das Wappenbild hatte ein schwarzes Haupt mit silbernem Kreuz und war bekrönt mit dem Ritterhelm. Die Devise war: Valeo. Mit diesem edlen Wappen durfte und konnte der Bastard der Valois alle königlichen Karossen der Welt besteigen. Viele Leute haben die behagliche Existenz dieses alten Junggesellen, die an gutgespielten Boston-, Tricktrack-, Reversi-, Whist- und Pikettpartien, an gut verdauten Diners, anmutig geschnupften Tabakprisen und angenehmen Spaziergängen reich war, beneidet. Fast ganz Alençon glaubte, daß dieses Leben frei von Ehrgeiz und ernsteren Interessen gewesen sei; aber kein Mensch hat ein so ruhiges Leben, wie es die Neider hinstellen. Man 66
wird in den weltvergessensten Winkeln menschliche Mollusken, anscheinend tote Rädertierchen finden, die eine Leidenschaft für Schmetterlinge oder Muscheltiere haben und sich unendlichen Leiden aussetzen, um irgendeinen Falter oder die Concha veneris zu erlangen. Der Chevalier führte nicht nur sein zurückgezogenes Muscheldasein, sondern er nährte auch einen ehrgeizigen Wunsch, den er mit einer Beharrlichkeit verfolgte, die des Papstes Sixtus V. würdig gewesen wäre: et wollte sich mit einer reichen alten Jungfer verheiraten, ohne Zweifel in der Absicht, sich auf diese Weise Zutritt zu den höheren Sphären des Hofes zu verschaffen. Dies war das Geheimnis seiner königlichen Haltung und seines Aufenthaltes in Alençon. An einem Mittwoch zu sehr früher Stunde, gegen Mitte des Frühlings anno 16 - dies war seine Art zu reden -, hörte der Chevalier im Augenblick, als er seinen Schlafrock aus grüngeblümtem alten Damast anzog, trotz der Watte in seinen Ohren, den leichten Schritt eines jungen Mädchens, das die Treppe heraufkam. Drei sanfte Schläge ertönten an seiner Tür; dann glitt eine junge Schöne, ohne eine Antwort abzuwarten, wie ein Aal in das Zimmer des alten Junggesellen. »Ach, du bist es, Suzanne!« sagte der Chevalier de Valois, ohne sich in seinem Geschäft, das darin bestand, daß er die Klinge seines Rasiermessers an einem Riemen abzog, zu unterbrechen. »Was willst du hier, kleiner süßer Schelm?« »Ich komme, um Ihnen etwas zu sagen, was Ihnen vielleicht ebensoviel Vergnügen als Kummer machen wird.« »Handelt es sich um Cesarine?«
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»Ich kümmere mich viel um Ihre Cesarine!« versetzte sie mit einer Miene, die schmollend, ernst und sorglos zugleich war. Diese reizende Suzanne, deren komisches Abenteuer einen so großen Einfluß auf das Schicksal der Hauptpersonen dieser Geschichte üben sollte, war eine Arbeiterin von Madame Lardot. Ein Wort zuvor über die Topographie des Hauses. Die Arbeitsräume nahmen das ganze Erdgeschoß ein. Der kleine Hof diente dazu, daß dort auf Leinen die gestickten Taschentücher, die Kragen, Spenzer, Manschetten, die Hemden mit gefältelten Krausen, die Krawatten, die Spitzen, die gestickten Kleider, all die feine Wäsche der besten Häuser der Stadt zum Trocknen aufgehängt wurden. Der Chevalier behauptete, an der Zahl der Untertaillen der Frau des Obersteuereinnehmers ihre Liebesränke verfolgen zu können, denn bestimmte Hemden mit Krausen und Krawatten standen in Wechselbeziehung zu den Untertaillen und Spitzenkragen. Obwohl also der Chevalier an dieser wechselseitigen Übereinstimmung alle Rendezvous der Stadt erraten konnte, so beging er doch niemals eine Indiskretion; er bildete niemals ein verfängliches Epigramm, was ihm die Tür eines Hauses verschlossen hätte (und er hatte Witz!). Man muß Monsieur de Valois durchaus für einen Mann von überlegener Lebensart halten, dessen Talente sich nur leider, wie die vieler anderer, in der Enge der Lebensumstände verloren haben. Nur erlaubte sich der Chevalier - schließlich war er doch ein Mann - manchmal gewisse bedeutsame Blicke, die die Frauen erzittern machten; doch liebten sie ihn um so mehr, nachdem sie erkannt hatten, wie tief seine Verschwiegenheit und wie groß seine Vorliebe für die reizenden Schwächen war. Die Erste Arbeiterin, das Faktotum der Madame Lardot, ein altes Mädchen von fünfundvierzig Jahren, die zum Erschrecken häßlich war, wohnte Tür an Tür mit dem Chevalier. Über ihnen 68
waren nur noch Dachstuben, wo die Wäsche im Winter trocknete. Jede Wohnung bestand, wie die des Chevaliers, aus zwei hellen Zimmern, von denen das eine auf den Hof, das andere auf die Straße ging. Unter dem Chevalier wohnte ein alter Paralytiker, der Großvater Madame Lardots, namens Grévin, ein ehemaliger Seeräuber, der unter dem Admiral Simeuse in Indien gedient hatte; er war taub. Was Madame Lardot anging, die die andere Wohnung im ersten Stockwerk bewohnte, so hatte sie eine so große Schwäche für Leute von Stand, daß sie in bezug auf den Chevalier für blind gelten konnte. Für sie war Monsieur de Valois ein absoluter Monarch, und alles, was er tat, war wohlgetan. Hätte eine ihrer Arbeiterinnen sich etwas mit dem Chevalier zuschulden kommen lassen, so hätte sie gesagt: »Er ist so liebenswürdig!« Obwohl also dieses Haus, wie übrigens alle Häuser der Provinz, gleichsam aus Glas war, so war es doch, bezüglich Monsieur de Valois', verschwiegen wie eine Diebeshöhle. Der Chevalier, der der geborene Vertraute der kleinen Intrigen der Plättstube war, ging nie an deren Tür vorbei, die größtenteils offenblieb, ohne seinen kleinen Kätzchen etwas zu schenken: Schokolade, Bonbons, Bänder, Spitzen, ein goldenes Kreuz, allerlei Tand, wonach diese kleinen Mädchen närrisch sind. Der Chevalier wurde darum auch von ihnen angebetet. Die Frauen haben einen Instinkt für jene Männer, die sie allein deswegen, weil sie einen Rock tragen, vergöttern, die glücklich in ihrer Nähe sind und nicht daran denken, töricht Vorteil aus ihrer Galanterie ziehen zu wollen. Sie haben in diesem Punkt den Spürsinn des Hundes, der in einer Gesellschaft geradeswegs auf den Mann zugeht, dem die Tiere heilig sind. Der arme Chevalier hatte sich aus seinem früheren Leben das Bedürfnis bewahrt, das den Grandseigneur verriet, die Frauen unter seinen galanten Schutz zu nehmen. Stets dem System des ›petite-maison‹ treu, liebte er es, die Frauen, die einzigen Wesen, die zu empfangen verstehen, weil sie immer vergüten können, zu bereichern. Ist es nicht seltsam, 69
daß in einer Zeit, wo die Schüler, wenn sie die Schule hinter sich haben, sich daranmachen, Mythen und Symbole aufzustöbern und auszulesen, noch keiner daran gedacht hat, die Liebesspiele des achtzehnten Jahrhunderts zu erklären? Waren sie nicht das Turnier des fünfzehnten Jahrhunderts? Um 1550 schlugen sich die Ritter für die Damen; 1750 führten sie ihre Mätressen nach Longchamp; heute lassen sie ihre Pferde rennen; zu allen Zeiten ist der Edelmann bemüht gewesen, sich eine Lebensweise zu schaffen, die ihm allein zu eigen war. Die Schnabelschuhe des vierzehnten Jahrhunderts waren die roten Absätze des achtzehnten, und der Luxus der Mätressen von 1750 war eine ähnliche Zurschaustellung wie die Gefühle der fahrenden Ritter. Aber der Chevalier konnte sich nicht mehr für eine Geliebte ruinieren. Anstatt der in Banknoten eingewickelten Bonbons bot er galant eine Tüte mit frischen Pfeffernüssen. Zur Ehre Alençons sei es gesagt, daß dieses Gebäck mit größerer Freude entgegengenommen wurde, als die Duthé ihrerzeit vom Comte d'Artois eine Toilettengarnitur aus vergoldetem Silber oder eine Equipage empfing. All diese Grisetten hatten die gefallene Majestät des Chevaliers de Valois begriffen und wahrten die tiefste Verschwiegenheit über ihre gemeinsamen Heimlichkeiten. Wenn man sie in einigen Häusern der Stadt über den Chevalier de Valois befragte, so machten sie ihn alt und sprachen ehrbar von ›Monsieur‹, er wurde dann ein ehrwürdiger Edelmann, der ein geradezu heiliges Leben führte; aber zu Hause hätten sie sich auf seine Schulter gesetzt, wie Papageien. Er liebte es, die Geheimnisse zu erfahren, welche die kleinen Wäscherinnen in den Haushalten entdeckten; sie kamen daher des Morgens, ihm den Klatsch von Alençon zu hinterbringen. Er nannte sie seine Zeitungen im Unterrock, seine lebenden Feuilletons. Niemals hatte Monsieur de Sartine solche geschickten und so billige Spione, die gleichviel Spitzbüberei entfalteten und doch soviel Ehre bewahrten. Während
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seines Frühstücks amüsierte sich der Chevalier also auf eine unvergleichbare Weise. Suzanne, einer seiner Lieblinge, klug, ehrgeizig, hatte das Zeug zu einer Sophie Arnould in sich und war überdies schön wie die schönste Kurtisane, die Tizian jemals auf schwarzen Samt zu betten gewünscht hätte, damit sie seinem Pinsel helfe, eine Venus zu schaffen; doch sündigte ihr Gesicht, das in der Bildung der Stirn und der Augen Feinheit hatte, durch die gewöhnlichen Umrisse seiner untern Partie. Es war die normannische Schönheit, frisch, blendend, strotzend, das Fleisch von Rubens, das mit den Muskeln des Herkules Farnese vermählt werden mußte, und nicht die Venus von Medici, diese anmutsvolle Frau Apollos. »Nun, meine Kleine, erzähle mir dein großes oder kleines Abenteuer!« sagte der Chevalier. Was den Chevalier von Paris bis Peking ausgezeichnet hätte, war die väterliche Art seines Umgangs mit diesen Grisetten. Sie erinnerten ihn an die Dämchen von ehemals, jene berühmten Königinnen der Oper, die während eines guten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts in ganz Europa berühmt waren. Es ist nicht zu leugnen, daß der Edelmann, der vormals mit dieser weiblichen Nation gelebt hatte, die, wie alle großen Dinge - die Jesuiten und die Freibeuter, die Abbés und die Steuerpächter nunmehr in Vergessenheit geraten ist, eine unwiderstehliche Gutmütigkeit, eine graziöse Leichtigkeit, eine Ungeniertheit ohne allen Egoismus erlangt hatte. Es war das Inkognito Jupiters bei Alkmene, des Königs, den man foppen darf, der die Göttlichkeit seiner Blitze zu allen Teufeln fahren läßt und seinen Olymp mit Torheiten, kleinen Soupers, besonders aber, fern von Juno, mit allerhand Weiblichkeiten verjubeln will. Trotz seines alten Schlafrocks aus grünem Damast, trotz der 71
Kahlheit des Zimmers, in dem er empfing, wo anstatt eines Teppichs eine schlechte Decke auf dem Boden lag, wo fettige alte Sessel standen, die Wände mit einer Herbergstapete beklebt waren, auf der hier die Profile Ludwigs XVI. und seiner Familie in einer Trauerweide eingezeichnet waren, dort die Heilige Schrift in Form einer Urne aufgedruckt war, kurz, alle Sentimentalitäten, die der Royalismus unter der Schreckenszeit erfunden hatte; trotz seiner Altersspuren atmete der Chevalier, der sich vor einem mit schlechten Spitzen gezierten alten Toilettentisch rasierte, achtzehntes Jahrhundert. Die ganze leichtfertige Anmut seiner Jugend tauchte wieder auf, er schien dreihunderttausend Livres Schulden reich zu sein und sein Visà-vis vor der Tür stehen zu haben. Er war so groß wie Berthier, der bei der Niederlage von Moskau seine Befehle den Bataillonen einer Armee erteilte, die nicht mehr existierte. »Monsieur le Chevalier«, sagte Suzanne drollig, »mir scheint, ich habe Ihnen gar nichts zu erzählen, Sie brauchen nur zu sehen.« Und Suzanne stellte sich so, daß ihre Seitenansicht: zu sehen war, um ihren Worten überzeugenden Kommentar beizugeben. Der Chevalier, der, man mag es glauben, ein geriebener Geselle war, senkte, während er das Rasiermesser schräg an seinen Hals hielt, sein rechtes Auge auf das Mädchen und tat so, als ob er sie verstünde. »Nun, nun, mein kleines Herz, wir reden gleich darüber. Aber mir scheint, du führst etwas im Schilde!« »Aber Monsieur le Chevalier, soll ich denn warten, bis meine Mutter mich schlägt und Madame Lardot mich wegjagt? Wenn ich nicht sofort nach Paris gehe, kann ich mich niemals hier verheiraten, wo die Männer so lächerlich sind.« 72
»Mein Kind, was willst du! Die Gesellschaft ändert sich; die Frauen sind nicht weniger als der Adel die Opfer der schrecklichen Unordnung, die sich verbreitet. Nach dem politischen Umsturz kommt der Umsturz in den Sitten. Ach, die echte Frau wird bald nicht mehr existieren (er nahm die Watte heraus, um seine Ohren sauberzumachen); sie wird viel dabei verlieren, daß sie sich in die Empfindsamkeit stürzt; sie wird ihre Nerven peinigen und nichts mehr von dem hübschen kleinen Vergnügen unserer Zeit wissen, das ohne Scham ersehnt, ohne Umstände hingenommen wurde, und wo die Grillen nur ein Weg waren, um ein gewisses Ziel zu erreichen (er putzte seine kleinen Negerköpfe); sie werden eine Krankheit daraus machen, die nur mit einem Aufguß aus Orangenblüten kuriert werden kann. (Er lachte.) Kurzum, die Ehe wird (er nahm die Pinzette, um ein paar störende Haare zu entfernen) etwas sehr Langweiliges werden, und sie war doch so lustig zu meiner Zeit! Die Regierung Ludwigs XIV. und Ludwigs XV., merke dir das, mein Kind, bedeuteten den Abschied der herrlichsten Sitten der Welt.« »Aber Monsieur le Chevalier«, wandte das Mädchen ein, »es handelt sich um die Sitten und die Ehre Ihrer kleinen Suzanne, und ich hoffe, Sie werden sie nicht sitzenlassen.« »Wie denn«, rief der Chevalier, der im Begriff war, seine Frisur zu beenden, »eher will ich doch gleich Jean heißen!« »Ah!« atmete Suzanne auf. »Höre mich an, kleine Heuchlerin!« sagte der Chevalier und streckte sich auf einer breiten Bergère aus, die einstmals ›Duchesse‹ genannt wurde und die Madame Lardot für ihn ausfindig gemacht hatte.
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Er zog die prächtige Suzanne zu sich heran und nahm ihre Beine zwischen seine Knie. Das schöne Mädchen, das auf der Straße so hochmütig war, das zwanzigmal das Vermögen, das ihr mehrere Männer von Alençon angeboten, aus Stolz wie aus Geringschätzung gegen ihre Tölpelhaftigkeit ausgeschlagen hatte, ließ es geschehen, Suzanne bot dem Chevalier den Anblick ihres vorgeblichen Fehltritts so herausfordernd, daß dieser alte Sünder, der noch ganz andere Geheimnisse in weit arglistigeren Existenzen; ergründet hatte, die Sache mit einem einzigen Blick durchschaute. Er wußte sehr gut, daß kein Mädchen mit einer wirklichen Schande sein Spiel treibt; doch verschmähte er, das Gebäude dieser hübschen Lüge umzustoßen, indem er es berührte. »Wir verleumden uns«, sagte der Chevalier und lächelte mit unnachahmlicher Feinheit, »wir sind brav wie das schöne Mädchen, dessen Namen wir tragen, wir können uns ohne Furcht verheiraten; aber wir wollen nicht hier vegetieren, wir dürsten danach, nach Paris zu kommen, wo die schönen Geschöpfe reich werden, wenn sie Verstand haben, und wir sind nicht dumm. Wir wollen uns also davon überzeugen, ob die Hauptstadt der Vergnügungen uns jungen Chevaliers de Valois, uns einen Wagen, Diamanten, eine Loge in der Oper vorbehalten hat. Die Russen, die Engländer, die Österreicher haben Millionen ins Land gebracht, auf die uns Mama eine Anweisung ausgestellt hat, indem sie uns schön machte. Kurzum, wir besitzen Patriotismus, wir wollen Frankreich dazu verhelfen, sein Geld aus den Taschen dieser Herren wiederzugewinnen. He, he, liebes kleines Teufelsschläfchen, all das ist nicht schlimm! Die Welt, in der du lebst, wird zwar ein kleines Geschrei erheben, aber der Erfolg wird alles rechtfertigen. Was aber sehr schlimm ist, mein Kind, das ist, kein Geld zu haben, und das ist unser beider Krankheit. Da wir ausnehmend klug sind, haben wir geglaubt, aus unserer allerliebsten Ehre einen 74
Vorteil ziehen zu können, indem wir einen alten Knaben hereinlegen; aber dieser alte Knabe, mein Herz, kennt das A und O der weiblichen Listen, was heißen will, daß du eher einem Spatzen Salz auf den Schwanz streuen kannst, als mich glauben machen, ich sei im geringsten an deiner Sache beteiligt. Geh nach Paris, meine Kleine, geh hin auf Kosten der Eitelkeit eines alten Junggesellen, ich werde dich nicht daran hindern, ich werde dir sogar dazu verhelfen, denn der alte Junggeselle, Suzanne, ist der natürliche Geldschrank eines jungen Mädchens. Aber ziehe mich nicht da hinein! Höre, meine Schöne, die du das Leben so gut kennst, du würdest mir großes Unrecht und großen Kummer antun! Unrecht? Du könntest in einem Lande, wo man auf die Sitten hält, meine Verheiratung verhindern. Kummer? Wahrhaftig, selbst wenn du in Verlegenheit wärst, was ich leugne, Spitzbübin! Du weißt, mein Schatz, daß ich nichts mehr habe, daß ich arm bin wie eine Kirchenmaus. Ja, wenn ich Mademoiselle Cormon heiratete, wenn ich wieder reich würde, würde ich dich sicher Cesarine vorziehen. Du bist mir immer über die Maßen klug und gewitzt vorgekommen, du bist für die Liebe eines großen Herrn wie geschaffen. Ich halte dich für einen so pfiffigen Kopf, daß mich der Streich, den du mir da spielst, gar nicht überrascht, ich habe ihn erwartet. Für ein Mädchen heißt das, alles auf eine Karte setzen. Um so zu handeln, mein Engel, bedarf es geistiger Überlegenheit. Du besitzest also meine ganze Achtung.« Und er gab ihr nach Art der Bischöfe die Bestätigung auf die Wange. »Aber. Monsieur le Chevalier, ich versichere Sie, daß Sie sich irren und daß ...« Sie errötete und wagte nicht fortzufahren; der Chevalier hatte mit einem Blick ihren ganzen Plan erraten und durchschaut.
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»Ja, ich höre dich, du willst, daß ich dir glaube! Nun gut, ich glaube dir. Aber folge meinem Rat, geh zu Monsieur du Bousquier! Bringst du nicht seit fünf oder sechs Monaten Monsieur du Bousquier die Wäsche? Also ich frage dich nicht, was zwischen euch vorgeht; aber ich kenne ihn, er besitzt Eigenliebe, er ist ein alter Hagestolz, er ist sehr reich, er hat zweitausendfünfhundert Livres Rente und gibt keine achthundert aus. Wenn du so klug bist, wie ich annehme, wirst du auf seine Kosten Paris zu sehen bekommen. Geh, mein Hühnchen, umgarne ihn, sei fein wie Seide, und bei jedem Wort mach eine doppelte Schlinge und einen Knoten! Er ist ein Mensch, der den Skandal fürchtet, und wenn er dir Veranlassung gegeben hat, ihn aufs Sünderstühlchen zu bringen ... nun, du verstehst, drohe ihm, daß du dich an die Damen des Wohltätigkeitsvereins wenden wirst! Überdies ist er ehrgeizig. Nun, ein Mann muß durch seine Frau alles erreichen können. Bist du nicht schön, nicht klug genug, um das Glück deines Mannes zu machen? Zum Teufel, du könntest einer Frau von Hof die Stirn bieten!« Suzanne, der die letzten Worte des Chevaliers eine Erleuchtung gebracht hatten, brannte vor Begierde, zu Monsieur du Bousquier zu laufen. Um ihre Eile nicht gar so auffällig zu machen, befragte sie den Chevalier über Paris und half ihm beim Ankleiden. Der Chevalier sah die Wirkung seiner Fingerzeige und wollte Suzanne das Fortkommen erleichtern, indem er sie bat, Cesarine mit der Schokolade heraufzuschicken, die ihm Madame Lardot jeden Morgen bereitete. Suzanne entschlüpfte rasch, um sich zu ihrem Opfer zu begeben, dessen Biographie hier folgt. Als Sprößling einer alten Familie Alençons hielt Monsieur du Bousquier die Mitte zwischen dem Bourgeois und dem kleinen Adligen. Sein Vater hatte das Amt eines Kriminalleutnants 76
bekleidet. Als sich Monsieur du Bousquier nach dem Tode seines Vaters ohne Hilfsquellen sah, war er, wie alle verarmten Provinzler, nach Paris gegangen, um dort sein Glück zu machen. Zu Beginn der Revolution hatte er angefangen, Geschäfte zu machen. Sosehr sich auch die Republikaner alle mit ihrer revolutionären Ehrlichkeit aufs hohe Roß setzten, die Geschäfte jener Zeit waren undurchsichtig. Ein politischer Spion, ein Börsenspekulant, ein Proviantmeister, einer, der im Einverständnis mit dem Syndikus der Kommune Güter der Emigrierten einziehen ließ, um sie zu kaufen und wieder loszuschlagen, ein Minister und ein General, sie machten alle auf gleiche Weise Geschäfte. Von 1793 bis 1799 lieferte Monsieur du Bousquier den Proviant für die französischen Armeen. Er besaß zu jener Zeit ein prächtiges Haus, war einer der Matadore der Finanz, machte Halbpartgeschäfte mit Ouvrard, hielt offene Tafel und führte das skandalöse Leben der Zeit, eine Cincinnatus-Existenz mit Säcken voll Getreide, das ohne Mühe geerntet war, mit gestohlenen Rationen, mit Lustschlößchen voll leichter Mädchen, wo für die Direktoren der Republik große Feste veranstaltet wurden. Der Bürger Bousquier war einer der vertrauten Freunde von Barras, stand auf bestem Fuße mit Fouché, sehr gut mit Bernadotte und dachte Minister zu werden, indem er sich Hals über Kopf in die Partei stürzte, die bis Marengo gegen Bonaparte heimliches Spiel trieb. Wäre nicht der Sturmangriff Kellermanns und der Tod Desaix' dazwischengekommen, so wäre Monsieur du Bousquier ein großer Politiker geworden. Er war einer der hohen Beamten der niemals zur Macht gelangten Regierung, die das Glück Napoleons hinter die Kulissen von 1793 zurücktreten ließ. Der hartnäckig und überraschend errungene Sieg bei Marengo veranlaßte die Niederlage dieser Partei, die fertiggedruckte Proklamationen in Bereitschaft hielt, um, falls der Erste Konsul unterlegen wäre, zum System der Bergpartei zurückzukehren. Vollständig von der Unmöglichkeit eines Sieges überzeugt, spekulierte Monsi77
eur du Bousquier mit dem größten Teil seines Vermögens auf das Fallen der Wertpapiere und hielt zwei Kuriere auf dem Schlachtfeld in Bereitschaft: der erste ritt in dem Augenblick ab, da Melas siegreich war; aber in der Nacht kam der zweite vier Stunden später, um die Niederlage der Österreicher zu verkünden. Du Bousquier fluchte Kellermann und Desaix; dem Ersten Konsul wagte er nicht zu fluchen, denn der war ihm Millionen schuldig. Diese Alternative zwischen einem Gewinn von Millionen und dem völligen Ruin raubte dem Lieferanten seine sämtlichen Fähigkeiten, er war ein paar Tage wie blödsinnig. Er hatte mit dem Leben durch so schwere Exzesse Mißbrauch getrieben, daß er diesen Schlag kraftlos auf sich herabfallen ließ. Er hoffte zwar noch auf die Begleichung seiner Schuldforderungen an den Staat; aber trotz seiner Bestechungsversuche traf ihn der Haß Napoleons gegen die Heereslieferanten, die auf seine Niederlage spekuliert hatten. Monsieur de Fermon, der so scherzhaft ›Fermons la caisse‹ (Schließen wir die Kasse!) genannt wurde, gab Monsieur du Bousquier keinen Sou. Die Unsittlichkeit seines Privatlebens, die Verbindungen dieses Lieferanten mit Barras und Bernadotte mißfielen dem Konsul noch mehr als sein Spiel an der Börse; er strich ihn aus der Liste der Obersteuereinnehmer, in die er vermöge des letzten Restes seines Ansehens als Kandidat für Alençon hineingekommen war. Von seinem Reichtum behielt Du Bousquier zwölfhundert Francs Leibrente in Staatspapieren, eine zufällige Anlage, die ihn vor dem Elend bewahrte. Da seine Gläubiger nicht wußten, welches Resultat die Liquidation haben würde, ließen sie ihm nur tausend Francs konsolidierte Renten; aber sie wurden alle durch die Eintreibung der Rückstände und den Verkauf des Hotel de Beauséant, das Monsieur du Bousquier besaß, bezahlt. So blieb dem Spekulanten, nachdem er knapp am Bankrott vorbeigekommen war, sein Name unversehrt. Ein Mann, der vom Ersten Konsul ruiniert worden und dem der kolossale Ruf, den ihm seine Verbindungen mit 78
den Spitzen der ehemaligen Regierung, seine Lebensweise und seine kurze Macht eingetragen hatten, vorangegangen war, interessierte die Stadt Alençon, wo heimlich der Royalismus herrschte. Der gegen Napoleon aufgebrachte Du Bousquier, der die Nöte des Ersten Konsuls, die Ausschweifungen Josephines und die geheimen Anekdoten aus zehn Jahren Revolution zum besten gab, wurde sehr gut aufgenommen. Zu dieser Zeit trat Du Bousquier, obwohl er gut und gern vierzig Jahre alt war, als ein Mann vor sechsunddreißig Jahren auf, der von mittlerem Wuchs, fett wie ein Heereslieferant war und mit seinen Waden, die eines zotigen Staatsanwalts würdig waren, paradierte; er hatte stark ausgeprägte Gesichtszüge, eine plattgedrückte Nase mit behaarten Nasenlöchern, schwarze Augen mit dichten Brauen, aus denen ein listiger Blick, wie bei Talleyrand, hervordrang, der aber etwas Erloschenes hatte; er behielt den republikanischen Backenbart bei und trug seine braunen Haare sehr lang. Seine Hände, die auf jedem Fingerglied mit einem kleinen Büschel Haare bewachsen waren, zeugten durch dicke blaue, vorspringende Adern von starker Muskelkraft. Er hatte einen Brustkasten wie der Herkules Farnese und Schultern, die die Staatsschuld hätten tragen können. Man sieht solche Schultern heutzutage nur noch bei Tortoni. Diese übermäßig ausgeprägte Männlichkeit fand sich ganz vortrefflich gekennzeichnet durch einen Ausdruck, der im vergangenen Jahrhundert gebräuchlich war, während man ihn heute kaum noch versteht: im galanten Stil der vorigen Epoche hätte Du Bousquier als ein wahrer ›rückständiger Zahler‹ gegolten. Aber so wie bei dem Chevalier de Valois fanden sich auch bei Du Bousquier Anzeichen, die zu dem Gesamteindruck der Person in Widerspruch standen. So hatte der ehemalige Lieferant nicht die Stimme seiner Muskeln. Nicht etwa, daß seine Stimme dünn und kreischend gewesen wäre, so wie sie manchmal aus dem Munde dieser zweibeinigen Robben herauskommt. Sie war im Gegenteil stark, jedoch dumpf; man wird am besten einen Begriff von 79
ihr bekommen, wenn man sie mit dem Geräusch vergleicht, das eine Säge macht, die durch weiches, nasses Holz geht; kurz, es war die Stimme eines gehetzten Spekulanten. Du Bousquier behielt noch lange das Kostüm bei, das zur Zeit seines Ruhmes Mode gewesen war: die Stulpenstiefel, die weißseidenen Strümpfe, die kurze Hose aus geripptem, zimtbraunem Tuch, die Weste à la Robespierre und den blauen Rock. Obwohl ihm der Haß des Ersten Konsuls ein Anrecht auf die Gunst der royalistischen Spitzen der Gesellschaft gegeben hätte, wurde Du Bousquier in sieben oder acht Familien, die den Faubourg Saint-Germain von Alençon bildeten und bei denen der Chevalier de Valois Zutritt hatte, nicht empfangen. Zuerst hatte er alles versucht, um Mademoiselle Armande, die Schwester eines der angesehensten Adligen der Stadt, zu heiraten, da er aus dieser Verbindung große Vorteile für seine anderweitigen Pläne, die in einer glänzenden Revanche gipfelten, zu ziehen hoffte. Er holte sich einen Korb. Er tröstete sich mit der Entschädigung, die ihm ein Dutzend anderer reicher Familien bot, die ehemals Alençonspitzen fabriziert hatten, jetzt Weiden und Rinder besaßen und einen Leinenhandel en gros betrieben, und er hoffte da gelegentlich zu einer guten Partie zu kommen. Der alte Junggeselle hatte in der Tat all seine Hoffnungen auf eine günstige Heirat gesetzt, und seine verschiedenen Fähigkeiten schienen ihm eine solche zu verbürgen. Er entbehrte in finanziellen Dingen nicht einer gewissen Geschicklichkeit, die sich viele Leute zunutze machten. Wie der ruinierte Spieler die Neulinge anleitet, wies er auf Spekulationen hin, empfahl die Wege, die Aussichten und die Durchführung. Er galt für einen guten Verwalter: es war oft die Rede davon, ihn zum Bürgermeister von Alençon zu ernennen. Aber die Erinnerung an seine Machenschaften zur Zeit der republikanischen Regierung schadete ihm; er wurde auf der Präfektur niemals empfangen. Alle Regierungen, die aufeinander folgten, 80
selbst die der Hundert Tage, weigerten sich, ihn zum Bürgermeister von Alençon zu machen, und sein ganzer Ehrgeiz ging auf diese Stellung aus, da sie ihm zur Heirat mit einer alten Jungfer, auf die er schließlich sein Augenmerk gerichtet hatte, verhelfen hätte. Sein Haß gegen die kaiserliche Regierung hatte ihn zunächst der royalistischen Partei zugeführt, und er blieb darin, trotz der Beleidigungen, die er einstecken mußte. Aber als er bei der ersten Wiederkehr der Bourbonen weiterhin von der Präfektur ausgeschlossen blieb, faßte er einen tiefen, wenn auch heimlichen Haß gegen die Bourbonen, denn er war seinen Anschauungen offenbar treu geblieben. Er wurde das Oberhaupt der liberalen Partei Alençons, der unsichtbare Leiter der Wahlen und fügte der Restauration durch die Geschicklichkeit seiner heimlichen Manöver und die Verschlagenheit seiner Umtriebe beträchtlichen Schaden zu. Du Bousquiers Haß war, wie es bei Personen zu sein pflegt, bei denen der Verstand vorherrschend ist, anscheinend ruhig. Er glich einem Bach, der zwar nicht mächtig, aber unversiegbar ist; er war wie der des Negers, so friedlich, so geduldig, daß er den Feind irreführte. Seine Rache, die er fünfzehn Jahre lang ausbrütete, wurde durch keinen Sieg, nicht einmal durch den Triumph der Julitage von 1830, gesättigt. Nicht ohne Absicht hatte der Chevalier de Valois Suzanne zu Du Bousquier geschickt Der Liberale und der Royalist hatten sich gegenseitig durchschaut, trotz der klugen Verstellung, mit der sie ihre gemeinsame Hoffnung vor der ganzen Stadt verbargen. Diese beiden alten Junggesellen waren Rivalen. Jeder von ihnen hatte die Absicht, Mademoiselle Cormon zu heiraten, von der Monsieur de Valois soeben mit Suzanne gesprochen hatte. Beide erwarteten, in ihre Idee verbissen und nach außen mit Gleichgültigkeit gewappnet, den Augenblick, wo ihnen ein Zufall diese alte Jungfer ausliefern würde. Wenn also auch nicht die Systeme, deren lebendiger Ausdruck die 81
beiden Hagestolze waren, eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen gebildet hätten, so hätte sie ihre Nebenbuhlerschaft zu Feinden gemacht. Die Zeitläufte färben auf die Menschen, die sie durchleben, ab. Diese beiden Personen taten die Richtigkeit dieser Regel durch den Gegensatz der historischen Färbung dar, der in ihren Physiognomien, ihren Gesprächen, ihren Ideen und ihrer Kleidung ausgeprägt war. Der eine, kurz angebunden, energisch, mit breiten und plötzlichen Bewegungen, barsch und knapp in den Worten, dunkel in Teint, Haar und Blick, dem Anschein nach schrecklich, in Wirklichkeit ohnmächtig wie ein niedergeschlagener Aufstand, verkörperte treffend die Republik. Der andere, glatt und höflich, elegant, geschmackvoll, gepflegt, verfolgte sein Ziel mit den langsamen, aber unfehlbaren Mitteln der Diplomatie, blieb dem guten Geschmack treu und war ein Bild des ehemaligen Höflings. Diese beiden Gegner trafen sich fast alle Abende auf dem nämlichen Terrain. Der Krieg war höflich und leutselig von seiten des Chevaliers; Du Bousquier befleißigte sich nicht so sehr der Form, obwohl er die von der Gesellschaft gebotenen Konventionen beachtete, denn er wollte sich nicht vom Schauplatz verjagen lassen. Gegenseitig verstanden sich die beiden sehr wohl. Trotz des Scharfsinns, den die Provinzler für die kleinen Angelegenheiten, die sich in ihrem Kreise abspielen, entfalten, ahnte niemand die Rivalität der beiden Männer, Der Chevalier de Valois hatte einen weitaus günstigeren Stand, er hatte niemals um die Hand von Mademoiselle Cormon angehalten; Du Bousquier hingegen, der, nachdem er in dem angesehensten Hause des Landes eine Schlappe erlitten hatte, in die Reihe der Bewerber getreten war, war abgewiesen worden. Doch mußte der Chevalier seinem Rivalen noch bedeutende Erfolgsmöglichkeiten zutrauen, um ihm einen so wohlüberlegten tiefsitzenden Stich mit einer so geschärften Klinge, wie es Suzanne war, zu versetzen. Der 82
Chevalier hatte die Sonde in das Gewässer Du Bousquiers gesenkt, und wie man sehen wird, hatte er sich in keiner seiner Vermutungen getäuscht. Suzanne ging mit leichtem Schritt von der Rue du Cours durch die Rue de la Porte de Séez und die Rue du Bercail bis zu der Rue du Cygne, wo Du Bousquier seit fünf Jahren ein kleines Provinzhaus besaß, das aus grauem Kalkstein, ähnlich dem Bruchstein des normannischen Granits oder dem bretonischen Schiefer, gebaut war. Der ehemalige Lieferant hatte sich komfortabler als jeder andere in der Stadt eingerichtet, denn er besaß noch einige Möbel aus der Zeit seiner Herrlichkeit; doch die Sitten der Provinz hatten allmählich den Glanz des gefallenen Sardanapal verdunkelt. Die Spuren seines früheren Luxus wirkten in dem Hause wie ein Kronleuchter in einer Scheune. Die Harmonie, das bindende Element jedes menschlichen und göttlichen Werkes, fehlte in den großen wie in den kleinen Dingen. Auf einer schönen Kommode stand ein Wassertopf mit Deckel, wie man ihn nur in der Bretagne sieht. Ein hübscher Teppich bedeckte den Fußboden, doch an den Fenstern waren Vorhänge aus gewöhnlichem Kattun mit aufgedruckten Rosenbuketts. Auf dem häßlich bemalten steinernen Kamin stand eine prächtige Uhr, zu der wiederum zwei elende Leuchter schlecht paßten. Die Treppe, die jeder hinaufstieg, ohne sich die Füße abzutreten, war nicht gestrichen. Die Türen, die von einem einheimischen Maler aufgefrischt worden waren, stießen den Blick durch schreiende Farben ab. Wie die Zeit, die Du Bousquier repräsentierte, enthielt dieses Haus einen zusammengewürfelten Haufen von schmutzigen und herrlichen Dingen. Du Bousquier galt für einen Mann von gutem Auskommen und führte das gleiche Schmarotzerdasein wie der Chevalier; wer sein Einkommen nicht ausgibt, wird immer reich sein. Als einzigen dienstbaren Geist hatte er einen tölpelhaften Jungen vom Lande, eine Art Jocrisse, den Du Bousquier 83
allmählich wie einen Orang-Utan abgerichtet hatte, den Fußboden zu scheuern, die Möbel abzuwischen, die Stiefel zu wichsen, die Kleidung zu bürsten und ihn abends bei trübem Wetter mit der Laterne oder, wenn es regnete, mit Holzschuhen abzuholen. Wie gewisse Geschöpfe neigte der Junge nur zu einem einzigen Laster: er war gefräßig. Manchmal, wenn Du Bousquier ein Festmahl gab, ließ er ihn seinen blaukarierten baumwollenen Kittel, aus dem immer die Taschen, mit Taschentuch, Messer, einem Stück Kuchen oder einem Apfel vollgestopft, heraus standen, ausziehen, eine Livree anlegen und nahm ihn zum Servieren mit. René stopfte sich dann samt den andern Dienstboten mit Speisen voll. Diese Pflicht, die Du Bousquier als eine Belohnung dargestellt hatte, trug ihm die absoluteste Verschwiegenheit seines bretonischen Dieners ein. »Was wollen Sie, Mademoiselle?« sagte René zu Suzanne, als sie eintrat; »es ist nicht Ihr Tag, wir haben heute Madame Lardot keine Wäsche zu schicken.« - .»Dummer Esel!« versetzte Suzanne lachend. Das hübsche Mädchen stieg hinauf und ließ René seine Schüssel in Milch gekochter Buchweizenfladen weiteressen. Du Bousquier lag noch im Bett und käute seine Glücksprojekte wieder; denn wie allen denen, die die Drängen der Liebesfreude zu sehr ausgedrückt haben, blieb ihm nichts weiter übrig als der Ehrgeiz. Der Ehrgeiz und das Spiel sind unerschöpflich. Auch werden bei einem Mann von gesundem Organismus die Leidenschaften, die dem Gehirn entspringen, stets die Leidenschaften des Herzens überdauern. »Da bin ich!« sagte Suzanne und setzte sich mit einer so ungestümen Bewegung auf das Bett, daß die Vorhänge an den Stangen knarrten. »Was ist denn, mein Engel?« fragte der alte Junggeselle und setzte sich im Bett auf. »Monsieur«, sagte 84
Suzanne feierlich, »Sie werden erstaunt sein, mich hier zu sehen; aber ich befinde mich in Umständen, die mich nötigen, mich nicht darum zu kümmern, was man darüber redet.« »Was ist denn los?« fragte Du Bousquier weiter und kreuzte die Arme über der Brust, »Aber verstehen Sie mich denn nicht?« erwiderte Suzanne. »Ich weiß«, fuhr sie fort und zog einen niedlichen Schmollmund, »daß es lächerlich von einem armen Mädchen ist, einem Manne Scherereien zu machen für etwas, was er für Lappalien hält. Aber wenn Sie mich kennen würden, wenn Sie wüßten, wessen ich für den Mann, der mir zugetan wäre, so wie ich ihm zugetan sein würde, fähig wäre, würden Sie es niemals bereuen, mich geheiratet zu haben. Hier freilich würde ich Ihnen nicht viel nützen können; aber wenn wir nach Paris gingen, würden Sie sehen, wohin ich einen Mann von Geist und Fähigkeiten, so wie Sie, zu einer Zeit, wo die Regierung von Grund aus umgewälzt wird und wo die Ausländer die Herren sind, führen könnte! Schließlich, unter uns gesagt, ist denn das, wovon hier die Rede ist, ein Unglück? Ist es nicht vielmehr ein Glück, das Sie sich eines Tages teuer erkaufen würden? Für wen sorgen Sie? Für wen arbeiten Sie?« - »Für mich!« rief Du Bousquier brutal. »Altes Ungeheuer, Sie werden niemals Vater sein!« rief Suzanne im Ton einer dunklen Prophezeiung. »Was soll das heißen? Keine Dummheiten, Suzanne; ich glaube noch zu träumen.« »Aber welchen Beweis brauchen Sie denn?« rief Suzanne und erhob sich. Du Bousquier schob seine baumwollene Nachtmütze auf seinem Kopf mit einer Energie hin und her, die bewies, daß eine wunderbare Klarheit in seinen Gedanken aufdämmerte. ›Er 85
glaubt es wahrhaftig!‹ sagte Suzanne zu sich selbst, ›und es schmeichelt ihm. Mein Gott, wie leicht doch diese Männer auf alles hereinfallen‹. »Suzanne, was zum Teufel soll ich tun? Es ist so merkwürdig ... Ich, der ich glaubte ... Es steht nämlich so, daß ... Doch nein, nein, es kann ja nicht sein ...« »Was, Sie können mich nicht heiraten?« - »Oh, was das angeht, keineswegs! Ich habe Verpflichtungen.« - »So? Gegenüber Mademoiselle Armande oder gegenüber Mademoiselle Cormon, die Ihnen beide schon einen Korb gegeben haben? Hören Sie, Monsieur du Bousquier, meine Ehre hat keine Gendarmen nötig, Sie nach dem Standesamt zu schleppen. Es wird mir nicht an solchen fehlen, die mich heiraten wollen, und ich will keinen Mann, der mich nicht zu schätzen weiß. Eines Tages möchten Sie es bereuen, daß sie sich heute so zeigen, denn nichts in der Welt, kein Gold noch Geld, wird mich dazu bringen, Ihnen Ihr Gut wiederzugeben, wenn Sie es heute ausschlagen.« »Aber, Suzanne, bist du sicher? ...« - »Aber Monsieur!« brauste das Wäschermädchen, in ihre Tugend gehüllt, auf. »Wofür halten Sie mich? Ich erinnere Sie nicht an die Versprechungen, die Sie mir gemacht haben und die ein armes Mädchen, das sich nichts anderes vorzuwerfen hat, als daß ihr Ehrgeiz so groß ist wie ihre Liebe, ins Verderben gestürzt haben.« Du Bousquier war von tausend widerstreitenden Gefühlen, der Freude, des Mißtrauens, der Berechnung, bestürmt. Er hatte seit langem beschlossen, Mademoiselle Cormon zu heiraten, denn die Charta, auf die er spekulierte, eröffnete seinem Ehrgeiz die glänzende Laufbahn eines Abgeordneten. Seine Heirat mit der alten Jungfer würde ihn bei der Stadt so hoch zu Anse86
hen bringen, daß er einen großen Einfluß erlangen würde. So stürzte ihn das von der boshaften Suzanne heraufbeschworene Gewitter in große Verwirrung. Ohne jene heimliche Hoffnung hätte er Suzanne ohne weitere Überlegung geheiratet. Er hätte sich offen an die Spitze der liberalen Partei von Alençon gestellt. Nach einer solchen Heirat verzichtete er auf die obere Gesellschaft und fiel in die bürgerliche Klasse der Kaufleute, der reichen Fabrikanten, der Viehmäster zurück, die ihn im Triumph als ihren Kandidaten aufstellen würden. Du Bousquier sah schon im Geiste die Linke. Er verbarg keineswegs dies feierliche innere Zurategehen. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und ließ seinen unbedeckten Schädel sehen, denn die Mütze war herabgefallen. Wie alle, die über das Ziel hinausgehen und mehr finden, als sie erwartet haben, war Suzanne wie aus den Wolken gefallen. Um ihr Erstaunen zu verbergen, nahm sie die melancholische Pose eines mißbrauchten Mädchens vor seinem Verführer an; aber innerlich lachte sie wie ein geriebenes Frauenzimmer, das ein schlaues Spiel gewinnt. »Mein liebes Kind, ich lasse mich nicht auf solche Aufschneidereien ein!« Dies war der kurze Satz, mit dem der ehemalige Lieferant seine innere Beratung schloß. Du Bousquier bildete sich etwas darauf ein, zur Schule der kynischen Philosophen zu gehören, die nicht auf die Frauen ›hereinfallen‹ wollen und für die alle derselben ›verdächtigen‹ Klasse angehören. Diese starken Köpfe, die gewöhnlich schwache Männer sind, haben einen Katechismus für den Gebrauch der Frau. Für sie sind alle, von der Königin von Frankreich bis zur Modistin, durchaus leichtfertig, spitzbübisch, mörderisch, sogar ein wenig betrügerisch, von Grund aus lügenhaft und unfähig, anderes als Nichtigkeiten zu denken. Für sie sind die Frauen heimtückische Bajaderen, die man tanzen, lachen und singen lassen muß; sie sehen in ihnen 87
nichts Großes und Heiliges; sie kennen nicht die Poesie der Sinne, nur die grobe Sinnlichkeit. Sie sind wie die Fresser, die die Küche für den Speisesaal halten. Nach diesen Rechtsgrundsätzen erniedrigt die Frau, wenn sie nicht beständig tyrannisiert wird, den Mann zum Sklaven, In dieser Beziehung war Du Bousquier wiederum das Gegenstück des Chevaliers. Indem er seinen Satz aussprach, warf er seine Nachtmütze ans Bettende, ähnlich dem Papst Gregor, der die Kerze umstürzte, während er einen Bannfluch schleuderte, und Suzanne sah nunmehr, daß der alte Junggeselle ein Toupet trug. »Denken Sie daran, Monsieur du Bousquier«, erwiderte Suzanne majestätisch, »daß es meine Pflicht war, zu Ihnen zu kommen; denken Sie daran, daß es geboten war, Ihnen meine Hand anzubieten und die Ihre zu verlangen; aber denken Sie auch daran, daß ich eine Frau bin, die weiß, was sich schickt, und mir nichts vergeben habe; ich habe mich nicht so weit erniedrigt, zu plärren wie eine dumme Liese, ich habe nicht darauf gedrungen, ich habe Sie keineswegs gequält. Sie kennen jetzt meine Lage! Sie wissen, daß ich in Alençon nicht bleiben kann, meine Mutter wird mich schlagen; Madame Lardot reitet auf ihren Prinzipien herum, als ob sie sie plätten wollte, sie wird mich davonjagen. Was bleibt mir armen Wäscherin anderes übrig, als ins Spital zu gehen? Soll ich betteln gehen? Nein! Lieber werfe ich mich in die Brillante oder in die Sarthe. Ist es denn aber nicht viel einfacher, wenn ich nach Paris gehe? Meine Mutter kann mich unter irgendeinem Vorwand hinschicken: ein Onkel kann mich brauchen, eine Tante kann im Sterben liegen oder eine Dame sich für mich interessieren. Es handelt sich also nur um das nötige Geld für die Reise und alles übrige...« Diese Mitteilung hatte für Du Bousquier tausendmal mehr Bedeutung als für den Chevalier de Valois, aber er allein und der 88
Chevalier wußten um das Geheimnis, das erst im Laufe dieser Geschichte enthüllt werden wird. Zunächst genügt es, zu sagen, daß die Lüge Suzannes eine so große Verwirrung in den Gedanken des alten Junggesellen hervorbrachte, daß er zu einer ernsthaften Überlegung unfähig war. Ohne diese Benommenheit und einen gewissen heimlichen Stolz - denn jeder Gimpel geht seiner Eigenliebe auf den Leim - hätte er geglaubt, daß ein anständiges Mädchen hundertmal lieber gestorben wäre, ehe es eine solche Auseinandersetzung angeknüpft und Geld von ihm verlangt hätte. Er hätte in dem Blick der Grisette die grausame Gier des Spielers gesehen, der imstande wäre, einen Mord zu begehen, um sich einen Einsatz zu verschaffen. »Du willst also nach Paris?« fragte er. Als Suzanne diese Frage hörte, blitzte in ihren grauen Augen die helle Freude auf; aber der glückliche Du Bousquier sah nichts. »Ja, gewiß, Monsieur!« Du Bousquier hub seltsame Klagen an: Er hatte soeben die letzte Zahlung auf sein Haus geleistet, er mußte den Maler, den Maurer, den Schreiner befriedigen; doch Suzanne ließ ihn reden, sie wartete darauf, daß er die Summe nennen würde. Du Bousquier bot hundert Taler. Suzanne spielte, was man im Kulissenstil einen falschen Abgang nennt, sie ging auf die Tür zu. »Nun, wo willst du hin?« rief Du Bousquier unruhig. »Da hast du dir was Schönes eingebrockt«, sagte er zu sich selbst; »der Teufel soll mich holen, wenn ich ihr mehr als den Halskragen zerdrückt habe! ... Verflucht! Sie macht sich einen Scherz zunutze, um auf dich einen Wechsel, mit der geladenen Pistole in der Hand, zu ziehen!« »Aber Monsieur«, schluchzte jetzt Suzanne, »ich gehe zu Madame Granson, der Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins, 89
die, soviel ich weiß, ein armes Mädchen im gleichen Fall sozusagen aus dem Wasser gezogen hat.« »Madame Granson?« - »Ja«, erwiderte Susanne, »die Verwandte von Mademoiselle Cormon, der Vorsitzenden des Mütterfürsorgevereins. Mit Verlaub haben die Damen der Stadt da eine Einrichtung geschaffen, die manches arme Ding davon abhalten wird, ihr Kind umzubringen, wofür man vor drei Jahren in Mortagne die schöne Faustine d'Argentan mit dem Tode bestraft hat.« - »Da, Suzanne«, sagte Du Bousquier und reichte ihr einen Schlüssel, »öffne selbst den Sekretär, nimm den angebrochenen Beutel, welcher noch sechshundert Francs enthält; es ist alles, was ich besitze.« Der alte Lieferant bekundete durch seine Niedergeschlagenheit, wie schwer es ihm wurde, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. ›Alter Gauner‹ sagte Suzanne im stillen, ›ich werde von seinem Toupet erzählen.‹ Sie verglich Du Bousquier mit dem köstlichen Chevalier de Valois, der nichts gegeben, aber der sie verstanden, ihr einen Rat erteilt und der die Grisetten in sein Herz geschlossen hatte. »Wenn du mich zum besten hast, Suzanne«, rief da Du Bousquier, als er sah, daß sie ihre Hand in der Schublade hatte ... »Nun«, meinte sie mit einer grandiosen Unverschämtheit, »Sie würden sie mir doch auch geben, wenn ich Sie darum bäte?« Der Lieferant, der sich an der Ehre seiner Galanterie gepackt fühlte und an seine gute Zeit zurückdachte, ließ ein Knurren der Zustimmung hören. Suzanne nahm den Beutel und verließ das Zimmer, nachdem sie sich von dem alten Junggesellen hatte auf die Stirn küssen lassen, der dabei aussah, als kombi90
nierte er ungefähr folgendes: ›Das ist ein Zoll, der mich teuer zu stehen kommt. Immerhin ist es besser, als vor Gericht als Verführer einer Kindesmörderin zu erscheinen.‹ Suzanne verbarg den Beutel in einer Art Markttasche aus feinem Weidengeflecht, die sie am Arm hatte, und fluchte dem Geiz Du Bousquiers, denn sie hatte tausend Francs haben wollen. Wenn ein Mädchen erst von einer Begierde besessen ist und sich auf den Weg des Betrages begeben hat, geht sie weit. Als die schöne Plätterin die Rue du Bercail entlangging, überlegte sie, daß der Mütterfürsorgeverein, dessen Vorsitzende Mademoiselle Cormon war, ihr vielleicht die Summe, die sie sich zur Bestreitung ihrer Ausgaben ausgerechnet hatte und die für eine Grisette aus Alençon sehr beträchtlich war, ergänzen würde. Überdies haßte sie Du Bousquier. Es schien, als ob der alte Hagestolz Furcht davor hatte, daß man sein angebliches Verbrechen Madame Granson verriet. Suzanne beschloß, auf die Gefahr hin, von dem Mütterfürsorgeverein nicht einen Sois zu erhalten, den ehemaligen Lieferanten bei ihrem Weggang von Alençon in die unentwirrbaren Schlingen eines Provinzklatsches zu verwickeln. Es steckt in der Grisette immer etwas von der Bosheit des Affen. Suzanne setzte also eine recht trübselige Miene auf, als sie bei Madame Granson eintrat. Madame Granson, die Witwe eines Oberstleutnants der Artillerie, der bei Jena gefallen war, besaß als ganzes Vermögen eine kärgliche Pension von neunhundert Francs, hundert Taler Rente für sich selbst, außerdem einen Sohn, dessen Erziehung und Unterhalt ihre Ersparnisse aufgezehrt hatten. Sie bewohnten in der Rue du Bercail eins der armseligen Erdgeschosse, die der Reisende mit einem Blick übersieht, wenn er in die Hauptstraße der kleinen Stadt einbiegt. Es hatte ein Halbtor, das sich auf drei mächtigen Stufen erhob; ein Gang, an dessen Ende sich eine von einer Holzgalerie überdeckte Treppe befand, führte in 91
den inneren Hof. Auf der einen Seite des Ganges lagen das Eßzimmer und die Küche, auf der andern ein Salon für alle Zwecke und das Schlafzimmer der Witwe. Athanase Granson, ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, wohnte in einer Mansarde über dem ersten Stockwerk des Hauses. Er brachte dem Haushalt seiner armen Mutter den Zuschuß von sechshundert Francs, die ihm ein kleiner Posten beim Gemeindeamt eintrug, wo er bei den Zivilstandsakten beschäftigt war, und den er dem Einfluß seiner Verwandten, Mademoiselle Cormon, verdankte. Nach diesen Angaben wird jeder Madame Granson in ihrem kalten Salon mit gelben Vorhängen und Möbeln aus gelbem Utrechter Samt vor Augen haben, wie sie nach einem Besuch die kleinen Schilfmatten wieder zurechtrückt, die sie vor die Stühle zu schieben pflegte, damit der gebohnerte rote Steinfußboden nicht beschmutzt würde; wie sie dann wieder mit ihrer Näharbeit ihren mit Kissen ausstaffierten Lehnstuhl am Arbeitstisch, der zwischen den beiden Fenstern unter dem Bilde des Oberstleutnants der Artillerie steht, einnimmt, von wo aus sie die ganze Rue du Bercail mit allem, was da kommt und geht, übersehen kann. Sie war eine gute Frau, die in bürgerlicher Einfachheit gekleidet war, wie es zu ihrem blassen Gesicht, das der Kummer förmlich ausgedörrt hatte, paßte. Die unerbittliche Bescheidenheit der Armut zeigte sich in allen kleinen Nebendingen dieses Haushalts, der die rechtschaffenen, strengen Sitten der Provinz spiegelte. In diesem Augenblick befanden sich der Sohn und die Mutter in dem Eßzimmer, wo sie zum Frühstück eine Tasse Kaffee nebst Butter und Radieschen zu sich nahmen. Um zu begreifen, welches Vergnügen der Besuch Suzannes Madame Granson bereiten sollte, ist es nötig, die geheimen Interessen der Mutter und des Sohnes darzulegen. Athanase Granson war ein magerer, blasser junger Mann von mittlerer Figur, mit hohlem Gesicht, in welchem zwei schwar92
ze, geistsprühende Augen wie zwei Kohlen funkelten. Die etwas gequälten Linien seines Gesichts, die Krümmungen des Mundes, sein vorspringendes Kinn, der regelmäßige Schnitt der marmornen Stirn, ein Ausdruck der Melancholie, der von dem Gefühl des Elends herrührte, das im Widerspruch zu der innern Kraft stand, deren er sich bewußt war, bekundeten einen begabten Menschen in Gefangenschaft. Überall anderswo als in Alençon hätte ihm seine Erscheinung den Beistand bedeutender Männer oder Frauen, die das Genie in seinem Inkognito erkannten, verschafft. War es nicht das Genie selbst, so war es doch die Form, die es annimmt; war es nicht die Kraft eines großen Herzens, so doch ein Leuchten, das sie dem Blick verleiht. Obwohl er die feinste Sensibilität der Seele hätte ausdrücken können, so war seine Schüchternheit doch so groß, daß sie fast die Anmut der Jugend zerstörte; auch ließ der Frost der Armut nichts Kühnes in ihm aufkommen. Das Provinzleben, ohne Erfolg, ohne Beifall, ohne Ermutigung, zog einen Kreis um ihn, in dem jeder Gedanke in der Knospe welken mußte. Überdies hatte Athanase den spröden Stolz, den die Armut bei erlesenen Menschen züchtet, einen Stolz, der sie in ihrem Kampf mit Menschen und Dingen wohl erhöht, ihnen aber bei ihrem Fortkommen hinderlich ist. Das Genie verfährt auf zwei Arten: entweder nimmt es, was ihm gehört, sobald es dessen ansichtig wird, wie es Napoleon und Molière gemacht haben, oder es wartet darauf, daß man zu ihm komme, wenn es sich in der Stille offenbart hat. Der junge Granson gehörte zu der Klasse begabter Menschen, die sich selbst nicht kennen und leicht mutlos werden. Seine Seele war beschaulich, er lebte mehr im Denken als im Tun. Vielleicht wäre er jenen, welche sich das Genie nicht ohne das leidenschaftliche Flackern des Franzosen denken können, unvollkommen erschienen; doch war er mächtig in der Welt des Geistes, und er sollte durch eine Reihe innerer Kämpfe, die sich dem gewöhnlichen Blick entziehen, zu jenen plötzlichen Entschließungen gelangen, die 93
deren Abschluß bilden und die Dummköpfe zu dem Ausruf veranlassen: Er ist verrückt. Die Verachtung, welche die Welt über die Armut ergießt, lähmte Athanase; die entnervende Atmosphäre einer beklemmenden Einsamkeit erschlaffte seinen Geist, der sich immer wieder aufs neue anspannte, ein schreckliches Spiel ohne jeglichen Erfolg, das die Seele ermüdete. Athanase hätte sich den ausgezeichnetsten Männern Frankreichs an die Seite stellen können; aber dieser Adler, der in einen Käfig gesperrt war, wo er kein Futter fand, war im Begriff, Hungers zu sterben, wiewohl sein glühendes Auge an den Weiten des Himmels und den Höhen, in denen das Genie schwebt, geschweift hatte. Obwohl seine Arbeiten im Gemeindeamt bei den Zivilstandsakten der allgemeinen Aufmerksamkeit entgingen, vergrub er seine nach Ruhm begehrenden Gedanken in seiner Seele, denn sie hätten ihm schaden können. Jedoch in noch tieferer Verborgenheit hielt er das Geheimnis seines Herzens, eine Leidenschaft, die seine Wangen aushöhlte und seine Stirn welk machte. Er liebte seine entfernte Verwandte, jene Mademoiselle Cormon, die seine unbekannten Rivalen, der Chevalier de Valois und Du Bousquier, umlauerten. Diese Liebe war von der Berechnung erzeugt worden. Mademoiselle Cormon galt für eine der reichsten Personen der Stadt: der arme Junge war also durch das Begehren nach materiellem Glück, durch den tausendmal gehegten Wunsch, die alten Tage seiner Mutter zu verschönen, durch die Sehnsucht nach einer behaglichen Existenz, die für geistig arbeitende Menschen so notwendig ist, dahin gebracht worden, sie zu lieben, und dieser recht unschuldige Ausgangspunkt entehrte seine Liebe in seinen Augen. Er fürchtete überdies, daß die Welt sich über die Liebe eines jungen Mannes von dreiundzwanzig Jahren zu einer Vierzigjährigen lustig machen würde. Trotzdem war seine Leidenschaft echt; denn alles, was auf diesem Gebiete sonst überall unpassend erscheinen muß, ist in der Provinz möglich. In der Tat, da die Sitten dort ohne Ge94
wagtheiten, ohne Bewegung, ohne Geheimnis sind, machen sie die Heiraten notwendig. Keine Familie nimmt einen jungen Mann von lockeren Sitten auf. So natürlich in einer großen Stadt ein Liebesverhältnis zwischen einem jungen Mann wie Athanase und einem schönen Mädchen wie Suzanne erscheinen würde, in der Provinz ist es von Übel. Ein anstößiges Vorleben vereitelt von vornherein die Heirat eines armen jungen Mannes, während bei einer reichen Partie natürlich ein Auge zugedrückt wird. Zwischen der Verderbtheit gewisser Verhältnisse und einer echten Liebe kann ein vermögensloser gemütvoller Mann nicht zaudern: er zieht die Leiden der Tugend den Leiden des Lasters vor. Aber in der Provinz sind die Frauen, in die sich ein junger Mann verlieben kann, selten: ein schönes, reiches junges Mädchen würde in einem Lande, wo alles Berechnung ist, nie die Seine werden; ein armes schönes Mädchen zu lieben ist ihm untersagt, denn das hieße, wie die Provinzialen es ausdrücken, den Hunger mit dem Durst vermählen; eine mönchische Einsamkeit ist jedoch der Jugend unzuträglich. Diese Gründe geben die Erklärung, warum das Provinzleben so vornehmlich auf der Ehe begründet ist. Daher müssen glühende, heftig begehrende Naturen, die gezwungen sind, sich aus ihrer Notlage eine Unabhängigkeit zu schaffen, aus jenen kalten Regionen fliehen, wo das Geistesleben von einer brutalen Gleichgültigkeit verfolgt wird, wo keine Frau das Los eines Mannes der Wissenschaft oder eines Künstlers teilen möchte oder könnte. Wer vermag die Leidenschaft, die Athanase für Mademoiselle Cormon hegte, zu begreifen? Weder die Reichen, diese Sultane der Gesellschaft, die ihre Harems dort finden, noch die Spießbürger, welche auf der ausgetretenen Landstraße der Vorurteile einhertrotten, noch die Frauen, die der Leidenschaft der Künstler verständnislos gegenüberstehen und ihnen als Erwiderung ihre Tugenden entgegenhalten, weil sie glauben, daß die beiden Geschlechter von denselben Gesetzen regiert werden. Hier muß man sich wohl 95
an die jungen Menschen wenden, die in der Zeit, wo alle ihre Kräfte sich spannen, unter ihren ersten unterdrückten Begierden leiden; an die an ihrem Genie krankenden Künstler, die in der Umklammerung der Not ersticken; an die mit Talenten Begabten, die oft jeden Halts und aller Freunde entbehren und über die doppelte Pein des Leibes und der Seele, welche gleiche Schmerzen verursachen, schließlich doch Sieger geblieben sind. Alle diese kennen die nagenden Schmerzen, die Athanase verzehrten; sie alle haben angesichts der großen Ziele, zu denen ihnen die Wege abgeschnitten waren, lange, ratlose Erwägungen in ihrem Hirn hin und her gewälzt; sie alle haben das Verdorren der Hoffnungskeime erfahren, wenn der Same des schaffenden Genies auf dürren Sand fällt. Sie wissen, daß die Kraft der Begierden im Verhältnis zu der Größe der Phantasie steht. Je höher sie sich aufschwingen, desto tiefer fallen sie; und wie viele Bande reißen nicht bei solchem Sturz! Ihr glühendes Auge hat wie Athanase eine Zukunft voll Glanz erblickt, die sie erwartete und von der sie sich nur durch einen dünnen Flor getrennt glaubten; diesen Flor, der ihre Blicke nicht aufhielt, hat die Gesellschaft in eine Mauer aus Erz verwandelt. Von einer Berufung, von der Liebe zur Kunst getrieben, haben sie wohl auch manchmal versucht, sich Gefühle, die die Gesellschaft fortwährend materiell ausnützt, zweckdienlich zu machen. Was! In der Provinz werden die Heiraten ganz und gar zu dem Zweck geschlossen, sich ein behagliches Dasein zu schaffen, und einem armen Künstler, einem Mann der Wissenschaft sollte es verboten sein, der Ehe eine doppelte Bestimmung zu geben, sie als Mittel zu gebrauchen, sich durch eine sichere Existenz die Möglichkeit der Gedankenarbeit zu schaffen? Von solchen Ideen bewegt, betrachtete Athanase Granson anfangs die Heirat mit Mademoiselle Cormon von dem Gesichtspunkt, daß er dadurch in den Stand gesetzt würde, seinem Leben eine bestimmte abschließende Richtung zu geben; er würde den Weg des Ruhms einschlagen, seine Mutter glücklich 96
machen können, und er hielt sich für fähig, Mademoiselle Cormon treulich zu lieben. Bald schuf sich sein eigener Wille, ohne daß er dessen gewahr wurde, eine echte Leidenschaft: er beschäftigte sich eingehend mit dem alten Mädchen, und schließlich, durch den Zauber, den die Gewohnheit webt, kam er dazu, nur noch das Schöne in ihr zu sehen und ihre Fehler zu vergessen. Bei einem jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren haben die Sinne einen so großen Teil an der Liebe! Ihre Glut erzeugt eine Art Prisma zwischen seinen Augen und der Frau. In dieser Hinsicht ist die Umarmung, in der sich Cherubin auf der Bühne Marcellines bemächtigt, ein genialer Zug bei Beaumarchais. Aber wenn man bedenkt, daß in der tiefen Einsamkeit, in welche die Not Athanase versenkte, Mademoiselle Cormon das einzige Wesen war, das seine Blicke anhaltend auf sich zog, und daß sie vom vollen Tageslicht beschienen war, wird man da nicht diese Liebe begreiflich finden? Das so sorgfältig verborgene Gefühl wuchs von Tag zu Tag. Die Wünsche, die Leiden, die Hoffnung, die Überlegung ließen den See, der sich in Athanases Seele ausbreitete und den jede Stunde um einen Tropfen Wassers vermehrte, still und allmählich anschwellen. Je mehr der innere Kreis, den die durch die Sinne gesteigerte Phantasie beschrieb, sich erweiterte, desto unnahbarer wurde Mademoiselle Cormon, desto mehr nahm die Schüchternheit Athanases zu. Die Mutter hatte alles erraten. Als echte Frau der Provinz berechnete sie naiv im Innern alle Vorteile dieser Sache. Sie sagte sich, daß sich Mademoiselle Cormon sehr glücklich schätzen müßte, einen hochbegabten jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren, der der Familie und dem Lande Ehre machen würde, zum Gatten zu bekommen; aber die Hindernisse, die die Armut von Athanase und das Alter Mademoiselle Cormons in den Weg legten, schienen ihr unübersteigbar: sie wußte kein anderes Mittel, sie zu überwinden, als die Geduld. Wie Du Bousquier, wie der Chevalier de Valois, hatte wie ihre Politik, sie lauerte den Umständen auf, 97
sie wartete mit der ganzen Schlauheit, die der mütterliche Eigennutz verleiht, auf den günstigen Moment. Dem Chevalier de Valois mißtraute Madame Granson keineswegs, aber sie war der Meinung, daß Du Bousquier, obwohl er einen Korb bekommen hatte, noch Ansprüche gehend machte. Madame Granson war die geheime und sehr gewandte Feindin des alten Lieferanten und fügte ihm erhebliches Übel zu, um ihrem Sohn, dem sie übrigens noch nichts von ihren heimlichen Umtrieben gesagt hatte, zu nützen. Wer begriffe jetzt nicht, welche Bedeutung die Lüge Suzannes, wenn sie sie erst einmal Madame Granson anvertraut hatte, erlangen mußte! Welche Waffe in den Händen der Wohltätigkeitsdame, der Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins! Wie sie die Neuigkeit leise herumtragen und mitleidig frömmlerisch für die keusche Suzanne Almosen sammeln würde! In diesem Augenblick saß Athanase nachdenklich mit aufgestützten Armen am Tisch und rührte mit dem Löffel in seiner leeren Tasse herum. Er ließ seine zerstreuten Blicke über den roten Steinfußboden, die Rohrstühle, das angestrichene Büfett, die wie ein Schachbrett gewürfelten rosa und weißen Gardinen des armseligen Zimmers schweifen, das wie eine Kneipe tapeziert und mit der Küche durch eine Glastür verbunden war. Er saß seiner Mutter gegenüber, mit dem Rücken gegen den Kamin, auf den von der Straße her das helle Tageslicht fiel, und so tauchte sein blasses, von schönen schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht, in dem die Augen noch von den verzweifelten Gedanken des Morgens loderten, plötzlich vor Suzanne auf. Das Mädchen, das fraglos einen Instinkt für das Elend und für die Leiden des Herzens hatte, durchzuckte jener elektrisierende Funke, von dem man nicht weiß, woher er kommt, der unerklärlich ist, den starke Geister leugnen, doch dessen Berührung so viele Männer und Frauen schon in sich gespürt haben. Es ist gleichsam, als ob ein Licht die finstere Zukunft erhellte und ein 98
Vorgefühl der reinen Freuden erwiderter Liebe und gegenseitigen Verstehens aufdämmerte. Mehr noch, es ist der starke, sichere Griff einer Meisterhand auf der Klaviatur der Sinne. Der Blick wird von einer unwiderstehlichen Macht angezogen, das Herz fühlt sich bewegt, in der Seele erklingen die Melodien des Glückes, eine Stimme ruft: Er ist's! Dann gießt oft das Schicksal eine kalte Dusche über dieses Feuer, und alles ist vorbei. Eine Flut von Gedanken strömte rasch wie der Blitz auf Suzanne ein. Ein Strahl der wahren Liebe verbrannte das Unkraut, das unter dem Hauch der Liederlichkeit eines vergnügungssüchtigen Lebens hochgeschossen war. Es wurde ihr klar, was sie an Reinheit und Würde einbüßte, indem sie so fälschlich ihre Mädchenehre brandmarkte. Was gestern noch ein lustiger Streich in ihren Augen war, wurde nun zu einem ernsten, über sie gefällten Urteil. Sie wich vor dem Gelingen zurück. Doch die Aussichtslosigkeit eines Erfolges, Athanases Armut, die unsichere Hoffnung, Reichtum zu erwerben, um dann mit vollen Händen aus Paris zurückzukehren und zu sagen: Ich liebte dich! - dies alles oder, wenn man will, ein Verhängnis wischte diese edleren Regungen bald hinweg. Die ehrgeizige Grisette bat mit schüchterner Miene um eine kurze Unterredung mit Madame Granson und wurde von ihr in das Schlafzimmer geführt. Als Suzanne wegging, blickte sie zum zweitenmal Athanase an, den sie noch in derselben Stellung fand; sie drängte ihre Tränen zurück. Madame Granson hingegen strahlte vor Freude. Endlich hatte sie eine schreckliche Waffe gegen Du Bousquier in die Hand bekommen, mit der sie ihm eine tödliche Wunde würde beibringen können. Sie hatte dem armen Mädchen den Schutz aller Wohltätigkeitsdamen, aller Mitglieder des Mütterfürsorgevereins versprochen ..., sie sah voraus, daß ein Dutzend Besuche, während welcher sich über dem Haupte des alten Junggesellen ein schreckliches Gewitter zusammenziehen mußte, ihren Tag ausfüllen würden. So gut der Chevalier de Valois die Wendung der Dinge auch vo99
rausgesehen hatte, er hatte sich doch keinen so großen Skandal, als tatsächlich daraus entstand, versprochen. »Mein liebes Kind«, sagte Madame Granson zu ihrem Sohn, »du weißt, wir essen heute bei Mademoiselle Cormon, verwende etwas mehr Sorgfalt auf deinen Anzug. Du solltest deine Toilette nicht so sehr vernachlässigen, du gehst einher wie ein Strolch. Zieh dein schönes Hemd mit der Krause an und deinen grünen Tuchrock! Ich habe meine Gründe?« fügte sie mit schlauer Miene hinzu, »Übrigens reist Mademoiselle Cormon nach Le Prebaudet, und es wird heute viel Besuch bei ihr sein. Wenn ein junger Mann heiraten will, muß er alles aufbieten, um zu gefallen, Mein Gott, wenn die Mädchen die Wahrheit sagen wollten, würdest du sehr erstaunt sein, mein Kind, zu hören, was sie verliebt macht. Oft genügt es, daß ein Mann an der Spitze einer Kompanie Soldaten vorüberreitet oder daß er mit knapp anliegenden Beinkleidern auf einem Ball erscheint. Eine Wendung des Kopfes, eine melancholische Haltung nehmen oft schon die Phantasie gefangen; man schmiedet sich einen Roman um den Helden. Er ist oft zwar nur ein Dummkopf, aber die Heirat ist gemacht. Studiere den Chevalier de Valois, nimm seine Manieren an; paß auf, wie er sich mit Leichtigkeit bewegt, er hat kein so gezwungenes Wesen wie du! Rede ein bißchen! Man könnte meinen, du kannst gar nichts, wo du doch sogar Hebräisch verstehst!« Athanase hörte seine Mutter mit erstaunter, doch willfähriger Miene an; dann stand er auf, nahm seine Mütze und begab sich ins Rathaus, ›Ob meine Mutter mein Geheimnis erraten hat?‹ fragte er sich. Er ging durch die Rue du Val-Noble, wo Mademoiselle Cormon wohnte. Dieses kleine Vergnügen gönnte er sich jeden Morgen, und er ließ sich dann tausend phantastische Dinge 100
durch den Kopf gehen: ›Sie hat sicherlich keine Ahnung, daß in diesem Augenblick ein junger Mann an ihrem Hause vorbeigeht, der sie von Herzen lieben würde, ihr treu bliebe, ihr keinen Kummer machte und ihr die Verfügung über ihr Vermögen ließe, ohne sich einzumischen. Mein Gott, wie seltsam ist das! Zwei Menschen in der Lage, in der wir uns befinden, in derselben Stadt, zwei Schritte voneinander entfernt, und nichts kann sie zusammenbringen. Wenn ich heute abend mit ihr spräche?‹ Währenddessen ging Suzanne nach Hause zu ihrer Mutter und dachte an den armen Athanase. Sie fühlte die Fähigkeit in sich, ihm mit ihrem schönen Körper den Weg zu bahnen, daß er flugs zu seiner Krone käme, so wie es schon viele Frauen für einen Mann, den sie übermenschlich liebten, erträumt haben. Jetzt ist es notwendig, daß wir bei der alten Jungfer eintreten, die der Mittelpunkt so vieler zusammenlaufender Interessen war und bei der sich die handelnden Personen dieses Schauspiels mit Ausnahme von Suzanne noch an demselben Abend treffen sollten. Diese letztere, kühn genug, um am Anfang ihres Lebens, wie Alexander, die Schiffe hinter sich zu verbrennen und den Kampf mit einer erlogenen Verfehlung zu beginnen, verschwand von der Bühne, nachdem sie so ein gewichtiges Interesse in die Handlung verflochten hatte. Ihre Wünsche sollten übrigens vollständig in Erfüllung gehen. Sie verließ ihre Vaterstadt einige Tage danach, mit Geld und allerhand schönen Putzsachen versehen, unter denen sich ein prachtvolles Kleid aus grünem Rips und ein entzückender grüner, rosa gefütterter Hut von Monsieur de Valois befand, ein Geschenk, dem sie vor allen andern, selbst vor dem Geld der Damen des Mütterfürsorgevereins, den Vorzug gab. Wäre der Chevalier zu der Zeit nach Paris gekommen, wo sie dort glänzte, sicherlich hätte sie alles um seinetwillen verlassen. Ähnlich der keuschen Suzanne der Bibel war sie von den Greisen kaum mit den Augen berührt 101
worden, und so ließ sie sich glücklich und voller Hoffnungen in Paris nieder, während ganz Alençon ihr Mißgeschick beklagte, für das die Damen der beiden Vereine, der Wohltätigkeitsverein und der Mütterfürsorgeverein, eine lebhafte Sympathie an den Tag legten. Kann Suzanne als Typus jener schönen Normanninnen gelten, die, wie ein gelehrter Arzt festgestellt hat, für den Verbrauch, den das monströse Paris auf diesem Gebiet hat, den dritten Teil stellen, so muß gesagt werden, daß sie in den obersten und anständigsten Schichten der Galanterie verblieb. Zu einer Zeit, wo, wie Monsieur de Valois sagte, die Frau nicht mehr existierte, wurde sie bloß ›Madame du Val-Noble‹; früher wäre sie die Rivalin der Rhodope, der Imperia, der Ninon gewesen. Einer der ersten. Schriftsteller der Restauration nahm sie unter seinen Schutz, vielleicht wird er sie heiraten; er ist Journalist und steht mithin über der öffentlichen Meinung, weil er alle sechs Jahre eine neue fabrizierte. In Frankreich gibt es fast in jeder Präfektur zweiten Ranges einen Salon, in dem sich die hochgestellten und angesehenen Personen, die jedoch noch keineswegs die Crême der Gesellschaft sind, zu versammeln pflegen. Der Herr und die Herrin des Hauses gehören wohl zu den Spitzen der Stadt und werden überall empfangen, wo es ihnen beliebt hinzugehen; es findet kein Fest, kein diplomatisches Diner statt, ohne daß sie eingeladen werden. Jedoch die Schloßbesitzer, die Pairs, die schöne Besitzungen haben, die hohe Gesellschaft, des Departements kommen nicht zu ihnen und beschränken den Verkehr mit ihnen auf einen gegenseitigen Besuch, ein angenommenes und erwidertes Diner, eine Abendgesellschaft. Dieser gemischte Salon, wo sich der niedere Adel mit festem Posten, der Klerus, das Beamtentum trifft, übt einen großen Einfluß aus. Die Vernunft und der Geist des Landes haben ihren Sitz in dieser soliden, prunklosen Gesellschaft, wo jeder die Einkünfte des Nachbars kennt, wo man eine vollkommene Gleichgültigkeit 102
für den Luxus und die Toilette an den Tag legt, die man im Vergleich zu einem ›Ochsentaschentuch‹, das heißt einem Stück Feld von zehn oder zwölf Morgen, dessen Erwerb der Gegenstand jahrelanger Erwägung und unendlicher diplomatischer Unterhandlungen ist, als Kinderei betrachtet. Unerschütterlich in ihren guten oder schlechten Vorurteilen, verfolgt diese Clique denselben Weg, ohne rückwärts oder vorwärts zu blicken. Sie läßt nichts, was aus Paris kommt, ohne ein langes Examen zu, sträubt sich gegen die Kaschmirschals ebenso wie gegen die Staatspapiere, spottet der Neuheiten, liest nichts und ignoriert alles: Wissenschaft, Literatur, industrielle Erfindungen. Sagt ihr ein Präfekt nicht zu, so verlangt sie einen andern, und wenn sich der Administrator widersetzt, isoliert sie ihn nach Art der Bienen, welche eine Schnecke, die in ihren Bienenkorb gekrochen ist, mit Wachs bedecken. Dort werden die Klatschereien oft feierliche Urteilssprüche. Obwohl man da nur Spielpartien arrangiert, finden sich doch hie und da junge Frauen ein; sie kommen hin, um sich den Beifall für ihr gutes Betragen zu holen oder sich ihre Wichtigkeit bestätigen zu lassen. Oft wird die Eigenliebe einiger Alteingesessener dadurch verletzt, daß man einem Haus solche Oberherrschaft einräumt; doch trösten sie sich, wenn sie bedenken, welche Kosten solche führende Stellung verursacht, und ziehen lieber selbst Nutzen daraus. Wenn die wichtigen Persönlichkeiten nicht reich genug sind, um offenes Haus zu halten, wählen sie zum Ort der Zusammenkunft, wie die Leute von Alençon, das Haus einer harmlosen Person, deren gesetzte Lebensweise, deren Charakter oder Stellung so beschaffen ist, daß sie die Gesellschaft bei sich Herr sein läßt, so daß niemandes Eitelkeit oder Interessen; verletzt werden. So war es seit langem in Alençon der Brauch, daß die gute Gesellschaft bei der alten Jungfer zusammenkam, auf deren Vermögen es, ohne daß sie es wußte, Madame Granson, ihre Cousine dritten Grades, und die beiden alten Junggesellen, deren geheime Hoffnungen vor103
hin .enthüllt worden sind, abgesehen hatten. Mademoiselle Cormon lebte mit ihrem Onkel mütterlicherseits zusammen, einem ehemaligen Großvikar des Bistums Séez, der ehedem ihr Vormund gewesen war und den sie beerben sollte. Die Familie, die Rose-Marie-Victoire Cormon repräsentierte, zählte früher zu den angesehensten der Provinz. Obwohl sie bürgerlich war, verkehrte sie mit dem Adel, mit dem sie sich oft verbunden hatte. Sie hatte vormals den Ducs d'Alençon Intendanten, eine Menge Richter und dem Klerus mehrere Bischöfe geliefert. Monsieur de Sponde, der Großvater mütterlicherseits von Mademoiselle Cormon, war von Adel und Monsieur Cormon, ihr Vater, vom Dritten Stand in die Generalstände gewählt worden; aber keiner von beiden hatte diese Mission angenommen. Seit ungefähr hundert Jahren hatten sich die Mädchen mit Adligen der Provinz verheiratet, so daß in dem ganzen Herzogtum und in allen Stammbäumen Schößlinge dieser Familie zu finden waren. Keine bürgerliche Familie sah so nach Adel aus. Das Haus, in dem Mademoiselle Cormon wohnte, war unter Heinrich IV. von Pierre Cormon, dem Intendanten des letzten Duc d'Alençon, erbaut worden. Es hatte immer ihrer Familie gehört, und von allen ihren sichtbaren Besitztümern reizte dieser am meisten die Begierde ihrer beiden alten Bewerber. Weit davon entfernt, etwas einzubringen, verursachte dieser Wohnsitz große Ausgaben. Doch ist es so selten, in einer Provinzstadt eine Wohnung zu finden, die im Mittelpunkt liegt, keine unangenehme Nachbarschaft hat, von außen schön und im Innern bequem ist, daß ganz Alençon darauf neidisch war. Dieses alte vornehme Haus war gerade mitten in der Rue du ValNoble gelegen, deren Namen in ›le Val-Noble‹ verunstaltet worden war, wahrscheinlich weil das kleine Flüßchen, die Brillante, das durch Alençon fließt, dort eine Vertiefung des Bodens hervorbringt. Es zeichnet sich durch die kräftige Architektur, die Maria von Medici bevorzugte, aus. Obwohl es 104
aus Granit, einem schwer zu verarbeitenden Stein, gebaut ist, haben seine Ecken, Fenster- und Türumrahmungen vorspringende Verzierungen in Gestalt von romanischen Nagelköpfen. Es besteht aus dem Erdgeschoß und einem Stockwerk. Sein außergewöhnlich hohes Dach zeigt vorspringende Fensterkreuze, die ausgehauene Giebelfelder haben und recht elegant in die mit Blei ausgeschlagene Regentraufe eingefügt sind, welche außen mit Geländersäulen versehen ist. Zwischen je zwei Fensterkreuzen streckt sich eine Traufröhre in Gestalt eines phantastischen Tierrachens ohne Körper vor, der das Wasser auf große, mit fünf Löchern versehene Steine speit. Die beiden Giebel haben einen Blumenstrauß aus Blei auf ihrer Spitze, das Symbol des Bürgertums, denn nur die Adligen besaßen ehemals das Recht, ihren Giebel mit einem Wetterhahn zu krönen. An der rechten Hofseite sind die Wagenschuppen und die Stallungen, links die Küche, der Holzschuppen und das Waschhaus. Einer der oberen Flügel des Einfahrtstores pflegte offenzustehen, in dem unteren Teil war eine kleine, niedrige Tür mit einer Klingel und einer runden Öffnung angebracht, durch welche die Vorübergehenden in der Mitte eines geräumigen Hofes ein korbförmiges Blumenbeet sehen konnten, dessen aufgehäufelte Erde mit einer kleinen Ligusterhecke umgeben war. Einige Rosenstöcke, die das ganze Jahr hindurch blühten, Nelken, Skabiosen, Lilien und spanischer Ginster standen in dem Beet, um welches man in der warmen Jahreszeit Kästen mit Myrten, Lorbeer- und Granatbäumen herumstellte. Ein Fremder mußte nach der peinlichen Sauberkeit, die diesen Hof und seine Nebengebäude auszeichnete, ohne weiteres auf eine alte Jungfer als Besitzerin schließen; das Auge, das hierüber wachte, mußte, weniger aus Anlage als aus Betätigungsdrang, ein beschäftigungsloses, aufspürendes, konservierendes sein. Nur ein altes Fräulein, das seinen immer leeren Tag auszufüllen hatte, konnte dafür sorgen, daß das Gras zwischen den Pflastersteinen ausgerissen, die Bekrönung der Mau105
ern gereinigt, daß ewig gefegt und gescheuert wurde und die Ledervorhänge der Remise immer geschlossen blieben. Sie allein war fähig, aus Mangel an Beschäftigung in eine kleine Provinzstadt zwischen dem Perche, der Bretagne und der Normandie, einem Landstrich, wo man stolz eine krasse Gleichgültigkeit gegen den Komfort zur Schau trägt, eine Art holländischer Sauberkeit einzuführen. Niemals stiegen der Chevalier de Valois und Du Bousquier die Stufen der doppelten Freitreppe hinauf, die die Plattform dieses Hauses einschloß, ohne daß der eine sich sagte: es sei eines Pairs von Frankreich würdig, und der andere: der Bürgermeister der Stadt müsse hier wohnen. Eine Glastür schloß diese Vortreppe ab, und durch sie gelangte man in ein von einer zweiten, ähnlichen Tür erhelltes Vorzimmer, das den Durchgang zu der Vortreppe des Gartens bildete. Diese Art Galerie, die mit roten Steinfliesen ausgelegt und in Manneshöhe getäfelt war, hatte man zum Spital der invaliden Familienporträts gemacht: bei einigen war das Auge verletzt, bei anderen die Schulter beschädigt worden; einer hielt seinen Hut in einer Hand, die nicht mehr da war, einem andern war ein Bein abgenommen worden. An diesem Ort legte man die Mäntel, die Galoschen, die Holzschuhe, die Regenschirme, die Hüte, die Pelze ab. Es war das Arsenal, wo jeder Stammgast bei seiner Ankunft sein Gepäck ließ und es beim Fortgehen wieder holte. Längs jeder Wand stand eine Bank für die Dienstboten, die mit Stocklaternen kamen, und ein großer Ofen, um den Zugwind zu bekämpfen, der aus dem Hof und dem Garten wehte. Das Haus war demnach in zwei gleiche Teile geteilt: auf der einen, der Hofseite, befand sich das Treppenhaus, ein großer, nach dem Garten zu gelegener Speisesaal, außerdem eine Anrichtekammer, die mit der Küche in Verbindung stand; auf der andern ein vierfenstriger Salon mit zwei angrenzenden kleineren Zimmern, von denen das eine, ein Boudoir, die Aussicht auf den Garten hatte, das andere, ein Arbeitszimmer, sein Licht vom Hofe empfing. Das erste 106
Stockwerk bestand aus der vollständigen Wohnung, wie sie zu einem Haushalt gehört, und den Zimmern, die der alte Abbé de Sponde innehatte. Die Dachstuben mußten wohl seit langem die Unterkunft der Ratten und Mäuse sein, deren nächtliche Großtaten Mademoiselle Cormon, mit steter Verwunderung über die Nutzlosigkeit aller gegen sie gebrauchten Mittel, dem Chevalier de Valois berichtete. Der Garten, der ungefähr einen halben Morgen groß ist, wird von der Brillante begrenzt, so benannt wegen der Glimmerteilchen, die in ihrem Bette glänzen, das heißt überall sonst, bloß nicht in dem Val-Noble, wo ihr dürftiges Wasser von den Farbstoffen und dem Abfall der Industrien der Stadt verunreinigt wird. Das dem Garten Mademoiselle Cormons gegenüberliegende Ufer ist, wie in allen Provinzstädten, durch die ein Fluß geht, mit Häusern besetzt, wo Lärm erzeugende Berufe ausgeübt werden; doch zum Glück hatte sie derzeit nur ruhige Leute sich gegenüber, Kleinbürger, einen Bäcker, einen Fleckenreiniger, ein paar Kunsttischler. Dieser Garten voll gewöhnlicher Blumen endigt in einer Terrasse, die einen Kai bildet, von dem einige Stufen zur Brillante hinabführen. Auf dem Geländer der Terrasse denke man sich große blauweiße Steingutvasen, in denen Nelken blühen; rechts und links, die angrenzenden Mauern entlang, zwei quadratisch zugeschnittene Lindenlauben: und man hat einen Begriff von dieser Landschaft in ihrer züchtigen Behaglichkeit, ihrer ruhigen Einfachheit, mit der bescheidenen kleinstädtischen Ansicht, die das jenseitige Ufer und seine ärmlichen Häuser, das seichte Wasser der Brillante, der Garten und die an den benachbarten Mauern angebrachten Lauben samt dem ehrwürdigen Gebäude der Cormon darbot. Welch ein Friede! Welche Ruhe! Nichts Prunkhaftes, aber auch nichts Vergängliches. Da erscheint alles ewig. Das Erdgeschoß war also für den Empfang bestimmt. Alles atmete darin die alte, wandelbare Provinz. Der große viereckige Salon mit vier Türen und vier Fenstern war bescheiden mit grau bemaltem Täfel107
werk bekleidet. Über dem Kamin hing ein länglicher Spiegel, dessen obere Partie den Tag von den Stunden geführt, grau in grau gemalt, darstellte. Diese Art Malerei verheerte alle; Gesimse über den Türen; hier wie in einem größten Teil der Häuser des mittleren Frankreichs hatte der Künstler diese ewigen Jahreszeiten verkörpert, die einem mit ihren schauderhaften mähenden, schlittschuhlaufenden, säenden, blumenstreuenden Amoretten so unerträglich sind. Jedes Fenster hatte Vorhänge aus grünem Damast, die von Schnüren mit großen Quasten hochgenommen waren und riesige Baldachine bildeten. Die Möbel mit Stickereibezug zeigten auf ihren bemalten und lackierten hölzernen Lehnen von verschnörkelter Form, wie sie im vorigen Jahrhundert Mode war, Medaillons mit den Fabeln von Lafontaine. Doch waren einige Stühle und Sessel am Rande gestopft. Die Decke war durch einen dicken Balken in zwei Hälften geteilt, von dessen Mitte ein alter, in einen grünen Bezug eingenähter Kronleuchter aus Bergkristall herabhing. Auf dem Kaminsims standen zwei blaue Sèvresvasen, alte Leuchter, die am Spiegel befestigt waren, und eine Uhr, deren Sujet der letzten Szene des ›Deserteur‹ entnommen war und so die ungeheuere Beliebtheit des Werkes von Sedaine bewies. Diese Uhr, aus vergoldetem Kupfer, zeigte elf Personen, von denen jede vier Zoll hoch war: im Hintergrund der Deserteur, der, von Soldaten umringt, das Gefängnis verläßt, vorn die niedergesunkene junge Frau, die ihm die Begnadigung hinzeigt. Der Kamin, die Schaufeln und Zangen waren in einem der Uhr ähnlichen Stil, die Füllungen der Täfelung hatten die jüngsten Porträts der Familie zum Schmuck, darunter ein oder zwei Rigaud und drei Pastelle von Latour. Vier Spieltische, ein Tricktrack, ein Tisch für das Pikettspiel verstellten das riesengroße Zimmer, das einzige, das einen gedielten Fußboden hatte. Das Schreibkabinett, ganz in altem roten Lack, Schwarz und Gold, getäfelt, hätte einige Jahre später einen unsinnigen Preis erzielen müssen, doch Mademoiselle Cormon hatte keine Ahnung 108
davon; hätte man ihr aber für jedes Feld der Täfelung tausend Taler geboten, sie würde es nimmermehr hergegeben haben, denn sie hatte die Eigenart, sich nie von etwas zu trennen. In der Provinz glaubt man immer, daß die Vorfahren Schätze verborgen haben. Das unnütze Boudoir war mit dem altmodischen Perser überspannt, wonach sich heutigentags die Liebhaber des nach der Pompadour genannten Stils die Beine ablaufen. Der Speisesaal, der mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt war, hatte keine Decke, sondern bemalte Balken. Ungeheure Büfetts mit Marmoraufsatz dienten hier den Schlachten, die den Mägen der Provinz geliefert werden. Die Mauern waren al fresco mit einem Blumengitter bemalt. Die Stühle waren aus lackiertem Rohr und die Türen aus naturfarbenem Nußbaum. Alles diente dazu, den patriarchalischen Charakter im Innern und im Äußern dieses Hauses auf bewundernswerte Weise zu vervollständigen. Der Geist der Provinz hatte alles darin konserviert; nichts war weder neu nach alt, weder jung noch verfallen. Eine kalte Exaktheit machte sich überall bemerkbar. Die Touristen der Bretagne und der Normandie, der Maine und des Anjou müssen alle in den größeres Städten dieser Provinzen ein Haus gesehen haben, das mehr oder weniger dem Hause der Cormon glich; denn es ist in seiner Art der Urtypus der bürgerlichen Häuser eines großen Teiles von Frankreich und verdient seinen Platz in diesem Buche um so mehr, als es eine Sitte erläutert und Vorstellungen verkörpert. Wer fühlt nicht schon, wie ruhig und gewohnheitsmäßig das Leben in diesem alten Hause war? Es gab darin auch eine ›Bibliothek‹, aber sie war etwas unterhalb des Niveaus der Brillante untergebracht, war gut gebunden und sogar in Reifen gelegt, und der Staub, der sie bedeckte, war weit davon entfernt, ihr zu schaden, sondern erhöhte nur ihren Wert. Die Werke waren dort mit der Sorgfalt verwahrt, die man in den Provinzen, wo keine Weinberge sind, den unverfälschten, erlesenen, durch ihren altertüm109
lichen Duft ausgezeichneten Erzeugnissen angedeihen läßt, die von den Keltern der Bourgogne, der Touraine, der Gascogne und des Südens geliefert werden. Die Transportkosten sind zu hoch, um schlechte Weine kommen zu lassen. Der Grundstock der Gesellschaft von Mademoiselle Cormon bestand aus ungefähr hundertfünfzig Personen - einige waren auf dem Lande, andere krank, wieder andere reisten in Geschäften in dem Departement umher; aber es gab gewisse Getreue, die, unbeschadet der geladenen Gesellschaften, alle Tage kamen, ebenso wie die Leute, die aus Pflicht oder Gewohnheit genötigt waren, in der Stadt zu wohnen. All diese Leute waren in reiferem Alter; wenige unter ihnen waren gereist, die meisten waren in der Provinz geblieben, und etliche hatten sich an der Chouannerie beteiligt. Man fing an, ohne Furcht von diesem Kriege zu sprechen, seitdem den heldenmütigen Verteidigern der guten Sache Belohnungen zuteil wurden. Monsieur de Valois, einer der Anstifter des letzten Kampfes, in welchem der Marquis de Montauran, den seine Geliebte auslieferte, umgekommen war und in dem sich gar der berühmte Marche-àTerre, der zur Zeit ruhig seinen Viehhandel im Umkreis von Mayenne betrieb, ausgezeichnet hatte, gab seit sechs Monaten lustige Streiche zum besten, die man einem alten Republikaner namens Hulot, dem Kommandanten einer in Alençon von 1798 bis 1800 stehenden Halbbrigade, der einige Andenken in dem Lande hinterlassen, gespielt hatte. Die Frauen machten keine große Toilette, außer am Mittwoch, dem Tage, wo Mademoiselle Cormon zum Diner einlud und wo die Geladenen des vorigen Mittwochs ihre Dankvisite machten. An jedem Mittwoch war große Gesellschaft, die Versammlung war zahlreich, Gäste und Besucher erschienen im höchsten Staat; einige Frauen brachten ihre Handarbeiten mit, Strickzeug oder Handstickerei, junge Mädchen arbeiteten ungeniert an einem Muster von Alençonspitzen, womit sie ihren Unterhalt verdienten. 110
Manche Ehemänner brachten ihre Frauen aus schlauer Berechnung mit, denn man traf dort wenige junge Leute; kein Wort wurde da ins Ohr gesagt, ohne daß es die Aufmerksamkeit erregte: es bestand also weder für ein junges Mädchen noch für eine junge Frau die Gefahr, daß man ihr einen Liebesantrag machte. Jeden Abend um sechs Uhr bekam das lange Vorzimmer sein Mobiliar; die Stammgäste brachten ihre Spazierstöcke, ihre Mäntel, ihre Laternen. Alle kannten sich so gut, die Gewohnheiten waren so patriarchalisch familiär, daß, wenn zufällig der alte Abbé de Sponde in der Laube und Mademoiselle Cormon auf ihrem Zimmer war, weder Josette, das Zimmermädchen, noch Jacquelin, der Diener, noch die Köchin ihnen den Besuch meldete. Der Erstgekommene erwartete den zweiten; dann, wenn die Stammgäste in genügender Zahl für ein Pikett, ein Whist oder Boston da waren, fingen sie an, ohne auf den Abbé de Sponde oder Mademoiselle zu warten. Wenn es dunkel wurde, kamen auf ein Klingelzeichen Josette oder Jacquelin herbei und machten Licht, Wenn der Abbé den Salon erleuchtet sah, kam er gemächlich herein. Alle Abende waren das Tricktrack, der Pikettisch, die drei Tische für Boston und Whist besetzt, was einen Durchschnitt von fünfundzwanzig bis dreißig Personen ergab, wenn man diejenigen, die plauderten, mitrechnet; doch kamen oft mehr als vierzig. Jacquelin zündete dann auch im Arbeitszimmer und dem Boudoir Licht an. Zwischen acht und neun Uhr kamen die Dienstboten nacheinander ins Vorzimmer, um ihre Herrschaften abzuholen; und wenn es kein sensationelles Vorkommnis gab, war um zehn Uhr kein Mensch mehr im Salon. Um diese Stunde wanderten die Stammgäste in Gruppen durch die Straßen, sprachen über die Trümpfe oder tauschten Bemerkungen über die zum Kauf ausersehenen Felder, die Verteilung von Erbschaften, die Streitigkeiten von Erben oder die Anmaßung der aristokratischen Gesellschaft aus. Es war, als käme man in Paris aus dem Theater. Ein paar Leute, die viel von Poesie sprachen, von der sie 111
nichts verstanden, zogen über die Sitten der Provinz los. Doch legt die Stirn in die linke Hand, stellt einen Fuß auf den Feuerbock, stützt den Ellbogen aufs Knie; dann, wenn ihr den friedlichen, einstimmigen Zusammenklang, den diese Landschaft, dieses Haus und sein Inneres, die Gesellschaft und ihre durch die geistige Enge wie zwischen Pergamentblätter geschlagenes Gold vergrößerten Interessen in euch aufgenommen habt, dann fragt euch, was das Menschenleben ist! Dann entscheidet euch zwischen dem Manne, der auf die ägyptischen Obelisken Enten eingemeißelt hat, und dem, der zwanzig Jahre lang mit Du Bousquier, Monsieur de Valois, Mademoiselle Cormon, dem Präsidenten des Gerichtshofes, dem königlichen Staatsanwalt, dem Abbé de Sponde, Madame Granson e tutti quanti Boston gespielt hat. Wenn die ewig gleiche, alltägliche Wiederkehr der nämlichen Schritte auf dem nämlichen Fußpfade das Glück nicht sind, so täuschen sie das Glück doch so gut vor, daß Menschen, die die Stürme eines bewegten Lebens zum Nachdenken über die Wohltat eines ruhigen Daseins gebracht haben, sagen werden, dies sei das Glück. Um die Bedeutung des Salons von Mademoiselle Cormon in Ziffern auszudrücken, genügt es zu sagen, daß der geborene Statistiker der Gesellschaft, Du Bousquier, ausgerechnet hatte, daß die Personen, die dort verkehrten, hunderteinunddreißig Stimmen in der Wahlversammlung und zusammen, achtzehnhunderttausend Livres Rente in Ländereien der Provinz besaßen. Doch war die Stadt Alençon nicht ganz und gar in diesem Salon vertreten, die hohe aristokratische Gesellschaft hatte den ihren;, außerdem war da noch der Salon des Obersteuereinnehmers, der wie eine von der Regierung eingerichtete Verwaltungsherberge war, wo die ganze Gesellschaft tanzte, intrigierte, schwirrte, liebte und soupierte. Diese beiden andern Salons standen mit dem Hause Cormon durch einige, die da und dort verkehrten, in Verbindung et vice versa. Jedoch der Salon Cormon war ein strenger Richter über das, was in den beiden andern Lagern vorging; 112
man kritisierte da den Luxus der Diners, man sprach endlos über das Eis auf den Bällen, erörterte das Benehmen der Frauen, die Toiletten und die Neuheiten, die dort auftauchten. Mademoiselle Cormon, eine Art sozialer Grundpfeiler, um den sich eine imposante Clique scharte, mußte also natürlicherweise der Zielpunkt zweier so tief Ehrgeiziger wie Monsieur de Valois und Du Bousquier werden. Für den einen wie für den ändern war da die Stufe zum Deputierten, und demnach für den Adligen die Pairswürde und für den Lieferanten die Stelle eines Obersteuereinnehmers. Ein maßgebender Salon begründet sich in der Provinz ebenso schwer wie in Paris, doch dieser stand von vornherein fertig da. Mademoiselle Cormon heiraten hieß über Alençon herrschen. Athanase, der einzige der drei Prätendenten auf die Hand der alten Jungfer, der nichts mehr berechnete, liebte die Person ebensosehr wie das Vermögen. War die Lage der vier Personen nicht, um den Tagesjargon zu gebrauchen, eine eigentümliche dramatische Konstellation? Waren diese drei Rivalen, die sich schweigend um ein altes Mädchen drängten, das trotz des glühenden und sehr berechtigten Wunsches, sich zu verheiraten, keine Ahnung davon hatte, nicht seltsam genug? Doch obwohl all diese Umstände es ungewöhnlich erscheinen lassen, daß dieses Mädchen noch nicht verheiratet war, ist es ist nicht schwer zu erklären, wie und warum sie trotz ihres Vermögens und ihrer drei Verliebten noch dem Jungfrauenstande angehörte. Erstens hatte Mademoiselle Cormon, gemäß den Gesetzen ihrer Familie, den Wunsch, einen Edelmann zu heiraten; jedoch von 1789 bis 1799 waren die Verhältnisse für diese Ansprüche sehr ungünstig. Sie wollte eine Frau von Stand sein, hatte aber auch schreckliche Angst vor dem Revolutionstribunal. Diese beiden an Stärke gleichen Gefühle hoben sich nach einem in der Ästhetik wie in der Statik geltenden Gesetze gegenseitig auf. Dieser Zustand der Ungewißheit gefällt übrigens den Mädchen, solange sie sich für 113
jung halten und sich das Recht zuschreiben, einen Gatten zu wählen. Frankreich hat es erfahren, daß das Resultat des von Napoleon befolgten politischen Systems war, recht viele Witwen zu machen. Unter seiner Herrschaft waren die Erbinnen im Vergleich zu den heiratsfähigen Männern sehr in der Überzahl. Als das Konsulat die innere Ordnung der Dinge wiederhergestellt hatte, waren die äußeren Schwierigkeiten für eine Verheiratung Mademoiselle Cormons ebensogroß als vordem. Wenn einerseits Mademoiselle Cormon sich sträubte, einen alten Mann zu heiraten, so verboten ihr die Umstände und die Furcht, sich lächerlich zu machen, einen sehr jungen zu ehelichen. Nun aber verheirateten die Familien ihre Söhne sehr früh, um sie der Gefahr der Konskription zu entziehen. Schließlich hätte sie, aus dem Eigensinn des Besitzenwollens, auch keinen Soldaten genommen; denn sie nahm keinen Mann, um ihn dem Kaiser abzutreten, sie wollte ihn für sich allein haben. Von 1804 bis 1815 war es ihr demnach unmöglich, mit den jungen Mädchen, die sich um die passenden, durch die Kanonen an Zahl verminderten Partien stritten, den Kampf aufzunehmen. Außer ihrer Vorliebe für den Adel hatte Mademoiselle Cormon die sehr entschuldbare fixe Idee, daß sie um ihrer selbst willen geliebt sein wollte. Man würde nicht glauben, wie weit sie dieser Wunsch geführt hatte. Sie hatte ihren Verstand angestrengt, ihren Anbetern tausend Fallen zu legen, um ihre Gefühle auf die Probe zu stellen. Ihre Fußschlingen waren so geschickt gelegt, daß die Unglücklichen alle hereinfielen und den sonderbaren Prüfungen, denen sie sie unterzog, ohne daß sie es wußten, unterlagen. Mademoiselle Cormon studierte sie nicht, sie spionierte sie aus. Ein leicht hingesprochenes Wort, ein von ihr mißverstandener Scherz genügte ihr, um diese Bewerber als unwürdig zu verwerfen: der eine hatte weder Gemüt noch Zartgefühl, der andere log und war ein schlechter Christ; der eine wollte ihr ihre alten Bäume umhauen lassen und unter dem Trauhimmel Geld herausschlagen, der andere war kein Charak114
ter, der sie glücklich machen konnte; dort vermutete sie ererbte Gicht, hier schreckte sie ein unmoralisches Vorleben ab; wie die Kirche beanspruchte sie für ihre Altäre einen schönen Priester; dann wiederum wollte sie ihrer vermeintlichen Häßlichkeit und angeblichen Fehler halber geheiratet werden, wie es andere Frauen um ihrer Vorzüge, die sie nicht besitzen, und hypothetischen Schönheit willen wünschen. Der Ehrgeiz Mademoiselle Cormons hatte seinen Ursprung in den zartesten Gefühlen der Frau: sie wollte ihren Geliebten beglücken, indem sie ihm nach der Heirat tausend Tugenden aufdeckte, so wie andere Frauen die tausend Unvollkommenheiten enthüllen, die sie bis dahin sorgfältig verschleiert haben; aber man verstand sie nicht: das edle Mädchen traf nur auf gemeine Seelen, in denen die bare Berechnung der positiven Interessen herrschte und die für die schönen Neigungen des Gefühls kein Verständnis hatten. Je mehr sie sich jenem fatalen Zeitpunkt näherte, den man so sinnreich die ›zweite Jugend‹ nennt, desto größer wurde ihr Mißtrauen. Sie setzte sich aus Verstellung in das ungünstigste Licht und spielte ihre Rolle so gut, daß die zuletzt Angeworbenen zögerten, ihr Los mit dem ihrigen zu verknüpfen, denn das Versteckspielen ihrer Tugend erforderte eine Anstrengung, zu der sich die wenigsten Männer, die eine fix und fertige Tugend haben wollen, hergeben. Die beständige Furcht, daß man sie nur um ihres Vermögens willen heiraten wolle, machte sie unruhig und über die Maßen argwöhnisch. Sie stellte den Reichen nach, und den reichen Leuten stand es natürlich frei, große Heiraten zu schließen; sie fürchtete die armen Leute, denn sie traute ihnen nicht die Uneigennützigkeit zu, die sie forderte: so daß ihre Exklusivität und die Umstände den Männern, die so wie graue Erbsen verlesen wurden, auf eine sonderbare Art ein Licht aufsteckten. Bei jeder fehlgeschlagenen Heirat mußte das arme Mädchen in ihrer Verachtung bestärkt werden und schließlich dazu kommen, die Männer in einem ganz falschen Licht zu sehen. Ihr Charakter 115
gewann allmählich eine geheime Menschenfeindlichkeit, die in ihre Unterhaltung eine leise Bitterkeit und eine gewisse Schroffheit in ihren Blick mischte. Ihre Ehelosigkeit befestigte sie in ihrer zunehmenden Sittenstrenge, denn da sie an ihrer Sache verzweifelte, suchte sie sich zu vervollkommnen. Edle Rache! Sie schliff den von den Männern verworfenen rauhen Diamanten für Gott. Bald wendete sich die öffentliche Meinung gegen sie, denn die Welt bestätigt das Urteil, daß eine Frau, die unvermählt bleibt, weil sie alle Heiraten ausschlägt oder verfehlt, über sich selbst fällt. Jedermann glaubt, daß dieses Sitzenbleiben geheime Ursachen hat, die immer falsch ausgelegt werden. Einer sagte, sie sei mißgestaltet, ein anderer, sie habe verborgene Gebrechen; doch das arme Mädchen war rein wie ein Engel, gesund wie ein Kind und voll guten Willens, denn die Natur hatte sie zu allen Freuden, allem Glück, allen Beschwerden der Mutterschaft bestimmt. Mademoiselle Cormon fand jedoch in ihrer Erscheinung nicht den nötigen Helfershelfer für ihre Wünsche. Sie besaß keine andere Schönheit als die, die man so unzutreffend ›la beauté du diable‹ nennt und die in einer großen Jugendfrische besteht, welche, theologisch gesprochen, der Teufel ja nicht haben kann, es sei denn, daß damit seine Lust gemeint sei, sich beständig zu verjüngen. Die Füße der Erbin waren groß und platt; ihr Bein, das sie, ohne etwas dabei zu finden, häufig beim Hochheben des Kleides, wenn sie bei Regenwetter aus dem Haus oder der Kirche Saint-Léonard kam, sehen ließ, konnte eigentlich nicht für ein Frauenbein gelten. Es war ein nerviges Bein mit einer recht starken muskulösen Wade wie bei einem Matrosen. Eine gute dicke Brust, ein Ammenbauch, kräftige, mollige Arme, rote Hände entsprachen den rundlichen Formen und der fetten Weiße der normannischen Schönheiten. Mit der Stirn gleichstehende Augen von unbestimmter Farbe gaben ihrem dicken Gesicht, das des Adels der Linien entbehrte, ein 116
erstauntes Aussehen, eine schafsmäßige Einfalt, die sehr gut für eine alte Jungfer paßte: wenn Rose nicht unschuldig gewesen wäre, so hätte sie doch so ausgesehen. Ihre Adlernase stand im Widerspruch zu der niedrigen Stirn, denn es ist selten, daß man bei dieser Form der Nase keine schöne Stirn findet. Trotz ihrer vollen roten Lippen, dem Merkmal großer Güte, mußte man doch nach der Stirn auf zuwenig Klugheit schließen, als daß ihr Herz vom Verstand geleitet sein konnte; sie müßte gutherzig ohne Anmut sein. Man ist eben sehr streng gegen die Mängel der Tugend, während man für die Eigenarten des Lasters voller Nachsicht ist. Ungewöhnlich lange, kastanienbraune Haare gaben dem Gesicht Rose Cormons den Reiz, der in der Kraft und Fülle, den Hauptzügen ihrer Person lag. Zur Zeit ihrer erhöhten Ansprüche pflegte sie die Dreiviertelansicht ihres Profils zu geben, um ein sehr hübsches Ohr zu zeigen, das sich von dem zarten Weiß ihres Halses und ihrer Schläfen, welches durch die Fülle ihres Haares vertieft wurde, abhob, wenn man sie so im Ballkleid sah, konnte sie für schön gelten. Ihre quellenden Formen, ihre Taille, ihre kräftige Gesundheit entlockten den Offizieren der Kaiserzeit den Ausruf: ›Ein strammes Mädchen!‹ Doch mit den Jahren hatte sich die Fülle, die durch ein ruhiges, keusches Leben noch zugenommen hatte, so schlecht über den ganzen Körper verteilt, daß sie die ursprünglichen Formen zerstört hatte. Nunmehr konnte kein Korsett die Hüften des armen Mädchens, das aus einem Stück gegossen zu sein schien, erkennen lassen. Das frühere Ebenmaß ihres Busens war nicht mehr vorhanden, und sein außergewöhnlicher Umfang gab der Befürchtung Raum, daß sie, wenn sie sich bückte, von den obern Partien zu Boden gerissen würde; doch hatte ihr die Natur ein Gegengewicht gegeben, das die lügnerische Vorsicht einer ›Turnüre‹ überflüssig machte. Bei ihr war alles echt. Das Kinn hatte, indem es sich verdreifachte, die Länge des Halses verringert und die Haltung des Kopfes beeinträchtigt. Rose hatte keine Runzeln, aber Falten, 117
und die Spaßvögel behaupteten, daß sie, um sich nicht wund zu reiben, Puder zwischen die Gelenke streute, wie man es bei kleinen Kindern macht. Diese beleibte Person mußte einem sich in Begierde verzehrenden jungen Manne, wie Athanase, die Art Reize bieten, die seine Phantasie aufstachelten. Denn die junge Einbildungskraft, die lüstern und ungestüm ist, liebt es, in solch lebendigen Kissen zu versinken. Das fette Rebhuhn lockt den Gaumen des Feinschmeckers. Viele elegante verschuldete Pariser hätten sich sehr leicht dazu entschlossen, das Glück Mademoiselle Cormons zu begründen. Aber das arme Mädchen war schon über vierzig. Nunmehr, nachdem sie lange gekämpft hatte, ihrem Leben den Inhalt zu geben, der die Frau erst zur Frau macht, und gezwungen war, Mädchen zu bleiben, befestigte sie sich in ihrer Tugend durch die strengsten religiösen Übungen. Sie hatte ihre Zuflucht zur Religion genommen, dieser großen Trösterin der zu wohl behüteten Jungfräulichkeit. Ein Beichtvater leitete Mademoiselle Cormon in sehr läppischer Weise seit drei Jahren in ihren Kasteiungen. Er empfahl ihr den Gebrauch der Geißel, die, wenn man der modernen Medizin Glauben schenken soll, eine den Erwartungen dieses armen Priesters, dessen hygienische Kenntnisse nicht sehr ausgedehnt waren, entgegengesetzte Wirkung hat. Diese unsinnigen Maßnahmen fingen an, eine klösterliche Färbung über das Gesicht Rose Cormons zu breiten, die oft in Verzweiflung geriet, wenn sie auf ihrem weißen Teint die gelben Töne der Überreife sah. Der leichte Flaum, der ihre Oberlippe zierte, wuchs und zeichnete eine Linie wie von Kohle; die Schläfen bekamen leichte bläuliche Schatten. Kurzum, der Verfall begann. Es war in Alençon bekannt, daß das Blut Mademoiselle Cormon zu schaffen machte. Sie schenkte dem Chevalier de Valois ihr Vertrauen, zählte ihm ihre Fußbäder auf und erwog im Gespräche mit ihm die Anwendung kühlender Mittel. Der Schlauberger zog dann seine Tabaksdose hervor und betrachtete zum Abschluß dieser Erörterungen die Prinzessin Goritza. 118
»Das wahre Beruhigungsmittel, Mademoiselle«, sagte er, »wäre ein schöner, guter Mann.« - »Aber wem sich vertrauen?« erwiderte sie. Der Chevalier pflegte dann die Tabakskrümel, die sich in die Falten seines seidenen Rockes oder seiner Weste verkrochen hatten, abzuklopfen. Für jedermann wäre diese Handbewegung sehr natürlich gewesen, doch dem armen Mädchen verursachte sie große Ängste. Die Heftigkeit dieser gegenstandslosen Leidenschaft war so groß, daß Rose nicht mehr wagte, einem Mann ins Gesicht zu sehen, so sehr fürchtete sie, daß man in ihren Blicken das Gefühl, von dem sie durchbohrt wurde, lesen könnte. Aus einer Laune, die vielleicht nur die Fortsetzung ihres ehemaligen Verfahrens war, behandelte sie die Männer, die ihr noch zusagen konnten und obwohl sie sich zu ihnen hingezogen fühlte, schlecht, damit man nur ja nicht meinen könnte, sie mache ihnen den Hof. Die meisten Leute der Gesellschaft, denen die Fähigkeit abging, ihre Motive, die immer edel waren, zu verstehen, deuteten ihr Benehmen gegen ihre Mitbrüder im Zölibat dann als Rache für einen voraussichtlichen oder schon entschiedenen Korb. Zu Beginn des Jahres 1815 erreichte Rose das unselige Alter, das sie nicht eingestand: sie wurde zweiundvierzig Jahre. Ihr Begehren nahm alsdann eine Stärke an, die an Monomanie grenzte, denn sie sah ein, daß jede Hoffnung auf Nachkommenschaft bald vergeblich sein würde; und was sie in ihrer himmlischen Unwissenheit über alles wünschte, das waren Kinder. Es gab keinen einzigen Menschen in Alençon, der dieser tugendhaften Person auch nur den Wunsch zu einem Liebesabenteuer zugetraut hätte, sie liebte im allgemeinen, ohne etwas Wirkliches von der Liebe zu wissen; sie war eine katholische Agnes, unfähig der kleinsten List der Agnes Molières. Seit einigen Monaten rechnete sie auf einen Zufall. Die Verabschiedung der kaiserlichen Truppen und die Wiederherstellung der königlichen Armee 119
brachte einen gewissen Umschwung in dem Geschick vieler Männer mit sich, die zurückkehrten, die einen mit Halb-Sold, die andern mit oder ohne Pension, jeder in seine Heimat und alle von dem Wunsche beseelt, ihr schlechtes Los zu verbessern und ein Ende zu machen, das für Mademoiselle Cormon ein seliger Anfang sein konnte. Es war unwahrscheinlich, daß unter denen, die sich in der Umgegend niederließen, nicht ein braver, ehrenwerter, vor allen Dingen gesunder Offizier von angemessenem Alter sein sollte, dessen Charakter eine Entschädigung für die bonapartistischen Ansichten wäre; vielleicht würden sich sogar welche finden, die, um eine verlorene Stellung wiederzugewinnen, Royalisten würden. Diese Berechnung ließ Mademoiselle Cormon noch während der ersten Monate des Jahres ihre strenge Haltung wahren; doch das Militär, das in der Stadt seinen Wohnsitz nahm, war durchweg entweder zu alt oder zu jung, zu bonapartistisch oder zu liederlich, in Verhältnissen, die sich mit den Sitten, dem Rang und dem Vermögen von Mademoiselle Cormon nicht vertrugen, und so verzweifelte sie jeden Tag mehr. Die höheren Offiziere hatten alle ihre günstige Stellung unter Napoleon benutzt und sich verheiratet, und diese wurden freilich im Interesse ihrer Familien alle Royalisten. Wie sehr Mademoiselle Cormon Gott auch bat, ihr einen Mann zu geben, damit sie auf christliche Art glücklich sein könne, es war offenbar bestimmt, daß sie als Jungfrau und Märtyrerin sterben sollte, denn kein Mann trat auf, der zu ihrem Gatten geschaffen war. In den Unterhaltungen, die jeden Abend bei ihr stattfanden, wurde das Verzeichnis der Personalakten so gut geführt, daß kein einziger Fremder nach Alençon kam, ohne daß sie über seine Sitten, sein Vermögen und seine Stellung unterrichtet wurde. Aber Alençon ist keine Stadt, die den Fremden herbeilockt, sie liegt auf dem Wege zu keiner größeren Stadt, sie hat keine Möglichkeiten. Nicht einmal die Seeleute, die von Brest nach Paris fahren, halten sich dort auf. Das arme Mädchen begriff endlich, daß sie 120
auf die Eingesessenen angewiesen war; ihr Auge bekam jetzt manchmal einen wilden Ausdruck, den der spitzbübische Chevalier mit einem schlauen Blick erwiderte, wobei er seine Tabaksdose herauszog und die Prinzessin Goritza betrachtete. Er wußte, daß in der weiblichen Jurisprudenz die Treue zur ersten Geliebten eine Bürgschaft für die Zukunft ist. Doch gestehen wir es, Mademoiselle Cormon hatte wenig Geist: sie hatte keine Ahnung von den Kunstgriffen mit der Tabaksdose. Sie verdoppelte ihre Wachsamkeit, um den ›bösen Geist‹ zu bekämpfen. Ihre aufrichtige Frömmigkeit und ihre strengen Prinzipien verbannten ihre grausamen Leiden in die tiefste Verborgenheit ihres Herzens. Jeden Abend, wenn sie allein war, dachte sie an ihre verlorene Jugend, ihre dahingewelkte Frische, an die heißen Wünsche der betrogenen Natur; und während sie ihre Leidenschaft, Hymnen, die dazu verdammt waren, ungedruckt zu bleiben, am Fuße des Kreuzes opferte, nahm sie sich vor, wenn der Zufall ihr einen wohlgesinnten Mann in den Weg stellte, so nähme sie ihn, ohne ihn auf die Probe zu stellen, wie er wäre. Wenn sie an gewissen, besonders harten Abenden ihre guten Eigenschaften einer Prüfung unterzog, so ging sie in Gedanken so weit, einen Unterleutnant, ja einen Raucher zu heiraten, den sie durch ihre Fürsorge, Liebe und Sanftmut zum besten Menschen der Welt zu machen sich vornahm; sie wollte ihn sogar nehmen, wenn er bis über die Ohren verschuldet wäre. Aber es gehörte die Stille der Nacht zu diesen phantastischen Heiraten, wo sie sich darin gefiel, die erhabene Rolle des Schutzengels zu spielen. Am Morgen, wenn Josette das Bett ihrer Herrin drunter und drüber fand, hatte sie ihre Würde wiedergewonnen; am Morgen nach dem Frühstück wollte sie einen Mann von vierzig Jahren, einen tüchtigen, guterhaltenen Grundbesitzer, der noch für jung gelten konnte. Der Abbé de Sponde war unfähig, seiner Nichte in ihren Bemühungen um die Ehe im geringsten beizustehen. Dieser Bie121
dermann, der ungefähr siebzig Jahre zählte, schrieb das Unheil der Französischen Revolution einer Absicht der Vorsehung zu, die in ihrem Zorneseifer die zügellose Kirche treffen wollte. Der Abbé de Sponde hatte sich darum auf den längst verlassenen Pfad begeben, den die Einsiedler, die in den Himmel kommen wollten, ehedem begingen: er führte ein asketisches Leben, ohne Emphase, ohne äußeren Triumph. Er entzog dem Auge der Welt seine Werke der Barmherzigkeit, seine fortwährenden Gebete, seine Bußübungen; er dachte, daß die Priester alle während der Heimsuchung so handeln sollten, und er ging mit gutem Beispiel voran. Während er der Welt ein ruhiges und heiteres Antlitz zeigte, hatte er sich von den weltlichen Interessen vollständig losgesagt: er dachte ausschließlich an die Unglücklichen, die Bedürfnisse der Kirche und sein eigenes Heil. Er hatte die Verwaltung seines Vermögens seiner Nichte überlassen, die ihm die Einkünfte übergab und der er eine mäßige Pension bezahlte, damit er den Überschuß zu heimlichen Almosen und Gaben an die Kirche verwenden könne. Alle Liebe des Abbés war auf seine Nichte übergegangen, die in ihm einen Vater sah; aber es war ein zerstreuter Vater, der die Regungen des Fleisches nicht begriff und Gott dankte, daß er seine teure Tochter im Stande der Ehelosigkeit ließ, denn er hatte seit seiner Jugend die Anschauungsweise des heiligen Chrysostomus angenommen, der geschrieben hat, daß ›der Stand der Jungfräulichkeit dem Stande der Ehe so übergeordnet sei, wie der Engel über dem Menschen stehe‹. Mademoiselle Cormon, die gewohnt war, ihren Onkel zu respektieren, wagte nicht, ihn in die Wünsche nach einer Änderung ihres Zustandes einzuweihen. Der wackere Mann, der seinerseits an den Gang der Dinge im Hause gewöhnt war, hätte übrigens an der Einführung eines Herrn in den Haushalt wenig Gefallen gefunden. Der Abbé de Sponde, der immer mit der Not, die er linderte, beschäftigt und im Gebet entrückt war, hatte häufig ein zerstreutes Wesen, das die Leute der Gesellschaft für Geistesabwesenheit hielten. Er 122
sprach wenig und schwieg auf eine liebenswürdige, wohlwollende Art. Er war ein hochgewachsener Mann, hager, mit ernsten, feierlichen Manieren; sein Gesicht drückte sanfte Gefühle, eine große innere Ruhe aus, und seine Anwesenheit gab dem Hause eine ehrwürdige Autorität. Er hatte eine große Vorliebe für den voltairianischen Chevalier de Valois. Diese beiden majestätischen Überbleibsel des Adels und des Klerus erkannten sich, obwohl ihre Sitten so verschieden waren, an ihren allgemeinen Zügen. Übrigens war der Chevalier ebenso salbungsvoll mit dem Abbé de Sponde, wie er gegen seine Grisetten väterlich war. Manche könnten glauben, daß Mademoiselle Cormon alle Mittel anwandte, um zu ihrem Ziele zu kommen, daß sie mit den den Frauen erlaubten Kunstgriffen sich zum Beispiel auf die Toilette verlegte, sich dekolletierte, daß sie von den negativen Koketterien, der Entfaltung eines prächtigen Rüstzeuges, Gebrauch machte. Nichts von alledem! Sie war heldenhaft und unbeweglich in ihren Brusttüchern wie ein Soldat in seinem Schilderhaus, Ihre Kleider, ihre Hüte, ihr ganzer Putz wurde bei den Modewarenhändlerinnen von Alençon hergestellt, zwei buckligen Schwestern, denen es nicht an Geschmack fehlte. Trotz der inständigen Vorstellungen dieser beiden Künstlerinnen sträubte sich Mademoiselle Cormon gegen die Täuschungskünste der Eleganz. Sie wollte in allem anständig sein, an Leib und Schmuck, vielleicht paßte doch die schwerfällige Machart ihrer Kleider gerade gut zu ihrer Physiognomie. Mache sich, wer will, über das arme Ding lustig! Ihr, großmütige Seelen, die ihr euch nicht um die Form kümmert, die das Gefühl annimmt, und es da bewundert, wo ihr es findet, werdet einen Schatz in ihr sehen! Leichtfertige Frauen möchten wohl die Wahrscheinlichkeit dieser Erzählung bezweifeln und sagen, daß in Frankreich kein Mädchen existiert, das zu einfältig ist, sich einen Mann einzufangen, daß Mademoiselle Cormon eine 123
jener ungeheuerlichen Ausnahmen bildet, die als Typus hinzustellen einem der gesunde Menschenverstand verbietet; daß das tugendhafteste und einfältigste Mädchen, das sich einen Gründling fischen will, auch einen Köder für seine Angel findet. Aber diese Kritiken werden hinfällig, wenn man bedenkt, daß die erhabene katholische, apostolische und römische Religion in der Bretagne und dem alten Herzogtum Alençon noch in ihrer ganzen Kraft besteht. Der Glaube, die Frömmigkeit lassen diese Spitzfindigkeiten nicht zu. Mademoiselle Cormon wandelte auf den Wegen des Heils und zog die Leiden ihrer allzusehr verlängerten Jungfräulichkeit dem Unglück einer Lüge, der Sünde einer List vor. Bei einem Mädchen, das sich Kasteiungen auferlegte, konnte die Tugend nicht ins Wanken geraten, die Liebe oder die Berechnung müßte sich ihr schon mit sehr entschiedenem Auftreten nahen. Überdies haben wir den Mut, eine Bemerkung zu machen, die für eine Zeit, wo die Religion den einen nur noch ein Mittel, den andern Poesie ist, grausam genannt werden muß. Die Frömmigkeit verursacht eine Krankheit des moralischen Sehorgans. Sie raubt durch eine Gnade der Vorsehung den Seelen, die auf dem Wege zur Ewigkeit sind, das Gesicht für viele kleine irdische Dinge. Mit einem Wort: Die frommen Frauen sind in vielen Punkten dumm. Diese Dummheit beweist übrigens, mit welcher Kraft sie ihren Geist den himmlischen Sphären zukehren, obwohl der Voltairianer, Chevalier de Valois, behauptete, daß es außerordentlich schwer zu entscheiden sei, ob die dummen Mädchen von selber fromm werden, oder ob die Frömmigkeit die Wirkung habe, die klugen Mädchen dumm zu machen. Laßt es euch gesagt sein, daß die reinste katholische Tugend mit ihrer inbrünstigen Annahme jeder Schickung, ihrem demütigen Sichunterordnen unter das göttliche Gesetz, ihrem Glauben, daß der Finger Gottes dem Ton jedes Menschenschicksals seine Spuren aufpräge, das geheim124
nisvolle Licht ist, das sich in die letzten Spalten dieser Geschichte einschleichen und sie in ihren Wesenszügen deutlich erkennbar machen wird, was ihren Wert für alle, die noch Glauben haben, nur erhöhen dürfte. Außerdem, wenn es Dummheit sein sollte, warum soll man sich nicht ebensogut mit den Leiden der Dummheit wie mit den Leiden des Genies beschäftigen? Das eine ist ein soziales Element, das unendlich viel verbreiteter ist als das andere. Mademoiselle Cormon sündigte also in den Augen der Welt durch die himmlische Unwissenheit der Jungfrauen. Sie hatte gar keine Beobachtungsgabe, und ihr Benehmen gegen ihre Bewerber bewies dies zur Genüge. Selbst ein junges Mädchen von sechzehn Jahren, das noch keinen Blick in einen Roman getan hätte, würde in den Blicken von Athanase hundert Liebeskapitel gelesen haben. Mademoiselle Cormon aber sah rein nichts darin und erkannte auch an dem Zittern seiner Stimme nicht die Kraft eines Gefühls, das sich nicht hervorwagte. Da sie selbst voller Scham war, erriet sie die Scham des andern nicht. Sie, die ehemals zu ihrem Verderben dazu fähig war, Verfeinerungen der Empfindsamkeit zu ersinnen, bemerkte diese bei Athanase nicht. Dieses seelische Phänomen wird die nicht wundernehmen, welche wissen, daß die Anlagen des Herzens ebenso unabhängig von denen des Geistes sind, wie die Fähigkeiten des Genies von den edlen Eigenschaften der Seele. Die vollkommenen Menschen sind so selten, daß Sokrates, der zu den kostbarsten Perlen der Menschheit gehört, mit einem Phrenologen seiner Zeit darin übereinstimmte, er sei von Geburt aus eigentlich ein rechter Spitzbube. Ein großer General kann in Zürich sein Vaterland retten und doch mit Lieferanten unter einer Decke stecken. Ein Bankier von zweifelhafter Ehrlichkeit kann Staatsmann werden, Ein großer Musiker kann entzückende Melodien erfinden und doch eine Fälschung begehen. Eine gefühlvolle Frau kann sehr dumm sein. Kurzum, 125
eine fromme Christin kann eine sehr schöne Seele haben und taub sein für die Töne, die aus einer schönen Seele neben ihr kommen. Dieselben Launen, die von körperlichen Gebrechen herrühren, trifft man auch in der moralischen Welt, Diese gute Seele, die sich grämte, daß sie ihre Früchte nur für sich und ihren alten Onkel einkochte, war fast lächerlich geworden. Diejenigen, die wegen ihrer guten Eigenschaften, manche auch wegen ihrer Fehler, Sympathien für sie hatten, machten sich über ihre verfehlten Heiraten lustig. Man unterhielt sich oft darüber, was aus ihrem Reichtum, ihren Ersparnissen und der Hinterlassenschaft des Onkels werden solle. Seit langem hatte man sie in Verdacht, daß sie im Grunde, obwohl es nicht den Anschein hatte, ein Original sei. In der Provinz ist es nicht erlaubt, ein Original zu sein. Das heißt Ideen haben, die von den andern nicht verstanden werden, und man verlangt dort Gleichheit des Geistes ebensowohl wie Gleichheit der Sitten. Die Verheiratung Mademoiselle Cormons galt seit 1804 als so problematisch, daß, wenn man in Alençon einer Sache alle Wahrscheinlichkeit absprechen wollte, es hieß: »Es ist so sicher wie die Heirat Mademoiselle Cormons«. Man muß zugeben, daß der Spott zu den stärksten Notwendigkeiten der Franzosen gehört, selbst wenn ihn eine so vortreffliche Person hervorrief. Nicht nur, daß sie die ganze Stadt bei sich empfing, sie war auch wohltätig, fromm, unfähig, eine Bosheit zu sagen; nebenbei war sie eins mit dem Geist und den Sitten der Bewohner, die sie als reinstes Symbol ihres Lebens verehrten; sie war mit den Gewohnheiten der Provinz verwachsen, hatte sich niemals daraus entfernt, teilte ihre Vorurteile, ihre Interessen, vergötterte sie. Trotz ihrer achtzehntausend Livres Rente an Grund und Boden, ein für die Provinz ansehnliches Vermögen, richtete sie sich doch nach den weniger reichen Häusern. Wenn sie sich auf ihr Landgut, Le Prebaudet, begab, fuhr sie in einer alten Korbhalbkutsche, die zwischen zwei Hängeriemen aus weißem Leder schwebte, von einer alten schnaufenden Stute 126
gezogen wurde und auf beiden Seiten mit vor Alter rot gewordenen Ledervorhängen nur unvollkommen geschlossen war. Diese Kutsche, welche die ganze Stadt kannte, wurde von Jacquelin ebenso sorgfältig behandelt wie das schönste Pariser Coupé. Mademoiselle hing daran, sie benutzte sie seit zwölf Jahren, was sie übrigens mit der Siegesfreude eines Menschen zu erwähnen pflegte, der auf seinen Geiz stolz ist. Die meisten Einwohner rechneten es Mademoiselle Cormon hoch an, daß sie sie nicht durch den Luxus, den sie hätte entfalten können, demütigte; es ist sogar anzunehmen, daß, wenn sie eine Kalesche aus Paris hätte kommen lassen, man darüber noch mehr als über ihre fehlgegangenen Heiraten seine Glossen gemacht hätte. Der eleganteste Wagen hätte sie übrigens wie die alte Halbkutsche auch nirgends anders hingebracht als nach Le Prebaudet. Und die Provinz, die immer nur den Zweck im Auge hat, kümmert sich nicht um die Schönheit der Mittel; sie müssen nur wirksam sein. Um die Schilderung der intimen Gebräuche dieses Hauses zu vervollständigen, ist es notwendig, um Mademoiselle Cormon und den Abbé de Sponde noch Jacquelin, Josette und Mariette, die Köchin, zu gruppieren, die sich dem Wohlbehagen des Onkels und der Nichte widmeten. Jacquelin, ein Mann von vierzig Jahren, kurz und dick, mit dunkelrotem braungebrannten Gesicht, wie ein bretonischer Matrose, diente dem Hause seit zweiundzwanzig Jahren. Er wartete bei Tisch auf, striegelte die Stute, arbeitete im Garten, putzte die Schuhe des Abbé, machte Besorgungen, sägte das Holz, kutschierte, holte aus Le Prebaudet den Hafer, das Heu und das Stroh; abends blieb er im Vorzimmer, wo er wie ein Bärenhäuter schlief. Er liebte, wie man sagte, Josette, ein Mädchen von sechsunddreißig Jahren, die Mademoiselle Cormon weggeschickt haben würde, wenn sie sich verheiratet hätte. So sparten diese beiden armen Leutchen ihren Lohn zusammen und liebten sich in aller Stille; 127
sie warteten und hofften auf die Heirat Mademoiselles, wie die Juden den Messias erwarten. Josette, die zwischen Alençon und Mortagne geboren war, war klein und fett. Ihrem Gesicht, das einer beschmutzten Aprikose glich, fehlte es nicht an ausgeprägter Eigenart und Klugheit; man sagte ihr nach, daß sie ihre Herrin regierte. Josette und Jacquelin, die einer Lösung sicher waren, verbargen eine Befriedigung, die darauf hätte schließen lassen können, daß die beiden Liebenden die Zukunft schon im voraus diskontierten. Mariette, die Köchin, auch schon seit fünfzehn Jahren im Hause, verstand es, alle Gerichte so zuzubereiten, daß es dem Lande zur Ehre gereichte. Eine besondere Erwähnung gebührt auch noch der alten rotbraunen normannischen Stute, die Mademoiselle Cormon auf ihr Landgut Le Prebaudet zog, denn alle fünf Bewohner dieses Hauses hatten für das Tier eine närrische Liebe. Sie hieß Penelope und tat ihren Dienst seit achtzehn Jahren, Sie wurde so gut gepflegt, mit solcher Pünktlichkeit versorgt, daß Jacquelin und Mademoiselle hofften, sie noch weitere zehn Jahre brauchen zu können. Das Tier war der Gegenstand fortwährender Unterhaltung und Beschäftigung: es schien, daß Mademoiselle Cormon, die ihre im Innern verschlossene Mütterlichkeit keinem Kinde zuwenden konnte, sie auf dieses glückliche Tier übertrug. Penelope hatte Mademoiselle daran gehindert, sich Zeisige, Katzen und Hunde anzuschaffen, dieses Surrogat einer Familie, das sich fast alle Wesen, die inmitten der Gesellschaft einsam sind, zulegen. Diese vier treuen Diener - denn die Intelligenz Penelopes hatte sich bis zu der guter Dienstboten erhoben, während sich die andern zu der stummen und unterwürfigen Regelmäßigkeit des Tieres erniedrigt hatten - verrichteten tagtäglich dieselben Beschäftigungen mit der Unfehlbarkeit eines Uhrwerks. Aber sie sagten, sie seien früher besser daran gewesen. Mademoiselle 128
Cormon, wie alle Menschen, die mit großer Entschiedenheit von einer fixen Idee besessen sind, wurde weniger aus Charakteranlage als aus dem Bedürfnis, sich zu betätigen, wunderlich und zanksüchtig. Da sie ihre Sorge keinem Mann und keinen Kindern angedeihen lassen konnte, verlegte sie sich auf Kleinigkeiten. Sie sprach stundenlang über die unbedeutendsten Dinge, über ein Dutzend mit Z gezeichnete Servietten, die sie vor die mit O bezeichneten gelegt gefunden hatte. »Wo bloß Josette ihre Gedanken hat?« sagte sie; »Josette denkt an gar nichts.« Mademoiselle fragte acht Tage lang, ob Penelope um zwei Uhr ihr Futter bekommen habe, weil sich Jacquelin ein einziges Mal verspätet hatte. Ihre geringe Phantasie erging sich in Nichtigkeiten. Eine Staubschicht, die der Flederwisch vergessen, ein paar von Mariette schlecht geröstete Brotschnitten, das Versäumnis Jacquelins, die Fenster, auf welche die Sonne, schien, zu schließen, so daß die Möbel in Gefahr standen auszubleichen, all diese kleinen großen Dinge riefen ernste Auseinandersetzungen hervor, bei denen Mademoiselle heftig wurde. Alles wäre anders geworden! schrie sie. Sie erkenne ihre guten, alten Dienstboten nicht mehr; sie ließen nach, und sie wäre zu gut. Eines Tages gab ihr Josette den ›Tag des Christen‹ anstatt des ›Meßbuchs für die vierzehn Tage vor Ostern‹. Am Abend erfuhr dies Unglück die ganze Stadt. Mademoiselle war genötigt gewesen, aus Saint-Léonard wegzugehen, und ihr plötzlicher Aufbruch in der Kirche, wo sie alle Betstühle in Bewegung gebracht hatte, ließ Ungeheueres vermuten. Sie war also verpflichtet, ihren Freunden die Ursache dieses Mißgeschickes anzugeben. »Josette«, hatte sie mit Sanftmut gesagt, »daß so etwas nicht noch einmal vorkommt!«
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Ohne es zu wissen, war Mademoiselle Cormon sehr zufrieden über diese kleinen Vorkommnisse, denn sie dienten als Ventil für ihre verhaltene Bitterkeit. Der Geist hat seine Ansprüche; er bedarf wie der Körper einer Gymnastik. Diese wechselhaften Launen wurden von Josette und Jacquelin hingenommen wie die Schwankungen der Witterung vom Landmann. Diese drei Leutchen sagten: »Es ist schönes Wetter!« oder: »Es regnet!«, ohne den Himmel darum anzuklagen. Manchmal fragten sie sich des Morgens in der Küche, wenn sie aufgestanden waren, welche Laune Mademoiselle wohl heute haben würde, so wie ein Landmann nach den Nebeln des Frührots sieht. Mademoiselle Cormon war schließlich dazu gekommen, in den Winzigkeiten ihres Daseins sich selbst zu beschauen. Sie und Gott, ihr Beichtvater und ihre große Wäsche, die Früchte, die sie einzukochen hatte, die Messen, die sie hörte, und der Onkel, den sie pflegte, hatten ihre schwache Intelligenz vollkommen aufgesogen. Kraft einer Art des Sehens, die den von Natur oder durch Zufall egoistisch gewordenen Menschen eigentümlich ist, vergrößerten sich für sie die Kleinigkeiten ihrer Existenz. Der geringsten Störung in ihrem Verdauungsapparat wurde bei ihrer vollkommenen Gesundheit eine erschreckende Wichtigkeit beigelegt. Sie stand übrigens in medizinischen Dingen noch ganz unter der Zuchtrute unserer Voreltern und nahm viermal im Jahr zur Vorsicht eine Medizin ein, an der Penelope krepiert wäre, die sie aber erfrischte. Wenn Josette beim Auskleiden auf der noch atlasweichen Schulter von Mademoiselle ein Pickelchen fand, so gab dies zu minutiösen Nachforschungen über alle Nahrungssäfte der Woche Veranlassung. Was für ein Triumph, wenn Josette ihre Herrin an einen gewissen zu sehr gewürzten Hasenbraten erinnerte, der an diesem schrecklichen Blütchen schuld sein mußte. Mit welcher Freude sagten dann beide: »Kein Zweifel, es ist der Hasenbraten.«
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»Mariette hatte ihn zu sehr gewürzt«, fing dann Mademoiselle an, »ich sage ihr immer, sie soll alles für meinen Onkel und mich milde machen; aber Mariette hat so viel Gedächtnis wie ...« - »Wie der Hase«, fiel Josette ein. »Es ist wahr«, erwiderte Mademoiselle, »sie hat nicht mehr Gedächtnis wie der Hase, das hast du gut gesagt.« Viermal im Jahr, zu Anfang jeder Jahreszeit, verbrachte Mademoiselle Cormon eine bestimmte Anzahl von Tagen auf ihrem Landgut Le Prebaudet - Es war gegen Mitte Mai, und Mademoiselle Cormon wollte sich überzeugen, ob ihre Apfelbäume gut ›geschneit‹ hatten, ein Ausdruck, mit dem man auf dem Lande den Anblick bezeichnet, den der Blütenfall unter den Bäumen hervorruft. Wenn der kreisförmige Haufen der abgefallenen Blüten wie eine Schneeschicht aussieht, kann der Besitzer auf eine reichliche Mosternte rechnen. Zur selben Zeit, da Mademoiselle Cormon derart ihre Fässer eichte, wachte sie auch über die Reparaturen, die der Winter nötig gemacht hatte, ordnete die Bestellung ihres Gemüse- und Obstgartens an, aus denen sie dann reichliche Vorräte zog. Jede Jahreszeit hatte ihre besonderen Angelegenheiten. Vor ihrer Abreise gab Mademoiselle Cormon ihren Getreuen ein Abschiedsdiner, obwohl sie sie nach drei Wochen wiedersah. Die Abreise von Mademoiselle Cormon war immer eine Begebenheit, die durch ganz Alençon widerhallte. Ihre Stammgäste, die mit einem Besuch im Rückstand waren, kamen dann zu ihr. Ihr Empfangssalon war voll; jeder wünschte ihr eine gute Reise, als ob sie sich hätte nach Kalkutta einschiffen wollen. Am nächsten Morgen standen dann die Handelsleute auf der Schwelle ihrer Läden. Groß und klein sah die Halbkutsche vorüberfahren, und es war, als ob man sich eine Neuigkeit mitteilte, indem der eine zum andern sagte: »Mademoiselle Cormon fährt nach Le Prebaudet!« Hier sagte einer: »Die hat zu leben!« Ein Nachbar erwiderte dann: »Was willst du, mein Lieber, es ist eine brave 131
Person; wenn das Geld immer in solche Hände käme, gäbe es keinen Bettler im Land ...« Dort äußerte sich ein anderer: »Sieh da, ich wundere mich nicht, daß unser hochstämmiger Wein blüht, Mademoiselle Cormon fährt nach Le Prebaudet. Wie kommt es, daß sie gar nicht heiratet?« - »Ich würde sie trotzdem nehmen«, erwiderte ein Spötter, »dann ist die Heirat schon halb gemacht, indem nämlich eine Partei zustimmt, nur die andere will nicht.« - »Bah, für Monsieur du Bousquier wird der Ofen geheizt!« - »Monsieur du Bousquier? ... Sie hat ihm einen Korb gegeben!« Abends sagte man sich bei allen Zusammenkünften feierlich: »Mademoiselle Cormon ist abgereist.« Oder: »Also haben Sie Mademoiselle Cormon abreisen lassen?« Der von Suzanne zu ihrem Skandal gewählte Mittwoch war durch Zufall just der Abschiedsmittwoch, ein Tag, an dem Mademoiselle Cormon Josette mit dem Gepäck zusetzte, das mitgenommen werden sollte. Am Vormittag waren in der Stadt Dinge geschehen und gesagt worden, die diese Abschiedsversammlung zu einem großen Ereignis stempelten. Madame Granson hatte in zehn Häusern Alarm geschlagen, während das alte Mädchen über das beriet, was sie für alle Fälle auf ihrer Reise mitzunehmen hatte, und der boshafte Chevalier de Valois bei Mademoiselle Armanda d'Esgrignon, der Schwester des alten Marquis d'Esgrignon und Königin des aristokratischen Salons, eine Partie Pikett spielte. Wenn es für niemand gleichgültig war, zu sehen, was für ein Gesicht der Verführer am Abend machen würde, so war es für den Chevalier und Madame Granson wichtig, zu wissen, wie Mademoiselle Cormon in ihrer doppelten Eigenschaft als mannbares Mädchen und als Vorsitzende des Mütterfürsorgevereins die Neuigkeit aufnehmen würde. Was den unschuldigen Du Bousquier angeht, so ging er auf dem Korso spazieren und fing an zu glauben, daß ihn Suzanne zum besten gehabt hatte. Dieser Verdacht bestärkte ihn noch in seinen Grundsätzen bezüglich der Frauen. 132
An diesen Galatagen war der Tisch bei Mademoiselle Cormon schon um halb vier Uhr gedeckt. Zu jener Zeit dinierte die fashionable Welt von Alençon an außergewöhnlichen Tagen um vier Uhr. Noch während der Kaiserzeit dinierte man wie ehemals um zwei Uhr; aber man aß zu Abend. Eine der Freuden, denen sich Mademoiselle Cormon, ohne sich Böses dabei zu denken, mit besonderem Genuß hingab, obwohl sie sicherlich auf Egoismus beruhte, bestand in der unaussprechlichen Befriedigung, sich als Herrin des Hauses, die Gäste empfangen wird, angekleidet zu sehen. Wenn sie sich so gerüstet fand, schlich sich ein Hoffnungsstrahl in das Dunkel ihres Herzens, eine Stimme sagte ihr, daß die Natur sie nicht umsonst so verschwenderisch ausgestattet habe und daß sich ein unternehmender Mann finden würde. Ihr Begehren wurde wieder aufgefrischt, wie sie ihren Körper aufgefrischt hatte; sie betrachtete sich in ihrem doppelten Staat mit einem gewissen Rauschgefühl, und diese Befriedigung hielt an, während sie hinunterging und den Salon, das Kabinett und das Boudoir mit einem gefürchteten Blick streifte. Sie ging mit der naiven Zufriedenheit des Reichen umher, der in jedem Augenblick denkt, daß er reich ist und daß es ihm niemals an etwas fehlen wird. Sie blickte auf ihre unverwüstlichen Möbel, ihre Antiquitäten, ihre Lackarbeiten; sie sagte sich, daß so schöne Dinge einen Herrn haben müßten. Wenn sie den Speisesaal bewundert hatte, wo der längliche, mit einem schneeweißen Linnen bedeckte Tisch stand, auf dem in gleichmäßigen Zwischenräumen etwa zwanzig Gedecke angeordnet waren, nachdem sie die Reihe der Flaschen, die sie bezeichnet hatte und die ehrenwerte Etiketten trugen, in Augenschein genommen hatte; nachdem sie peinlich die auf kleine Zettel von der zitternden Hand des Abbé aufgeschriebenen Namen nachgeprüft hatte - es war dies die einzige Aufgabe im Haushalt, der sich der Abbé unterzog, und es knüpften sich daran immer umständliche Erörterungen über den Platz jedes Gastes -, dann gesellte sich Mademoiselle in 133
ihrem vollen Putz zu ihrem Onkel, der sich zu dieser Zeit, der lieblichsten des Tages, auf der Terrasse längs der Brillante erging und dem Gesang der Vögel zuzuhören liebte, die sich in der Lindenlaube eingenistet hatten und weder Jäger noch Kinder zu fürchten brauchten. Während dieser Stunden der Erwartung suchte sie den guten Alten immer durch ein paar ungereimte Fragen in ein Gespräch zu ziehen, das dazu bestimmt war, ihn aufzuheitern. Der Grund - und diese Eigentümlichkeit soll das Charakterbild der trefflichen Person beschließen - war der folgende: Mademoiselle Cormon sah es als eine ihrer Pflichten an, zu reden; nicht daß sie schwatzhaft gewesen wäre, sie war unglücklicherweise zu beschränkt und kannte zuwenig Redensarten, um ein Gespräch führen zu können; aber sie glaubte damit eine von der Religion vorgeschriebene soziale Pflicht zu erfüllen, die uns auferlegt, sich seinen Mitmenschen angenehm zu machen. Diese Verpflichtung kostete sie so viel Anstrengung, daß sie über diesen Punkt des Höflichkeitskatechismus ihren religiösen Beistand, den Abbé Couturier, befragt hatte. Trotz der bescheidenen Bemerkung seines Beichtkindes, daß sich ihr Geist, um etwas Unterhaltendes zu finden, einer schweren inneren Arbeit unterziehen müsse, las ihr der alte Priester, der in Fragen des Verhaltens unerschütterlich war, eine ganze Passage aus dem heiligen Franz von Sales über die Pflichten der Frau der Gesellschaft vor, über die wohlanständige Heiterkeit frommer Christinnen, die sich ihre Strenge für sich selbst aufsparen und sich in ihrem Hause liebenswürdig zeigen sollten, so daß sich ihre Mitmenschen nicht bei ihnen langweilen. Da sie nun ihrem Beichtvater, der ihr das plaudern zur Pflicht gemacht hatte, um jeden Preis gehorchen wollte, so geriet die Arme in ihrem Korsett in Schweiß, wenn die Unterhaltung erschlaffte, so schwer wurde ihr der Versuch, ihre Gedanken auszudrücken, um die ermatteten Gespräche wieder zu beleben. 134
Sie gab dann seltsame Satzgebilde zum besten, etwa wie das folgende: ›Niemand kann an zwei Stellen zugleich sein, wenn er nicht ein Vögelchen ist‹, womit sie eines Tages nicht ohne Erfolg eine Diskussion über die Allgegenwart der Apostel hervorrief, die sie nicht hatte begreifen können. Solche Schnitzer trugen ihr in der Gesellschaft den Beinamen ›die gute Mademoiselle Cormon‹ ein. Im Munde der Schöngeister der Gesellschaft bedeutete dies Wort, daß sie dumm war wie ein Fisch und ein bißchen ›dämlich‹; aber viele, die ihrer Geistesstufe angehörten, nahmen das Wort in seinem eigentlichen Sinne und antworteten: »O ja, Mademoiselle Cormon ist vortrefflich!« Manchmal stellte sie, immer um ihren Gästen angenehm zu sein und ihre Pflichten gegen sie zu erfüllen, so alberne Fragen, daß die Leute in ein Gelächter ausbrachen. Sie fragte zum Beispiel, was die Regierung mit den Steuern mache, die sie schon seit so langer Zeit empfinge; warum die Bibel nicht zur Zeit Jesu Christi gedruckt worden sei, da sie doch von Moses stamme. Ihre Intelligenz war die gleiche wie die jenes ›country gentleman‹, der, als er im Unterhaus immer von der Posterität sprechen hörte, aufstand, um den berühmt gewordenen ›Speech‹ zu halten: »Messieurs, ich höre hier immer von der Posterität sprechen, ich möchte gern wissen, was diese Macht für England getan hat?« Bei solchen Gelegenheiten kam der heroische Chevalier de Valois, wenn er das Lächeln sah, das unbarmherzige Halbwisser austauschten, dem alten Mädchen mit allen Kräften seiner geistreichen Diplomatie zu Hilfe. Der alte Edelmann, der die Frauen zu bereichern liebte, verlieh Mademoiselle Cormon Geist, indem er der Äußerung eine paradoxe Wendung gab und deckte den Rückzug so geschickt, daß es den Anschein hatte, als habe Mademoiselle etwas Kluges gesagt. Einmal gestand 135
sie ganz ernsthaft, daß sie nicht wisse, welcher Unterschied zwischen einem Ochsen und einem Stier sei. Der entzückende Chevalier tat dem Gelächter Einhalt, indem er erwiderte, daß der Ochse immer nur der Onkel einer Färse sein könne. Ein andermal, da sie viel von jungen Pferden und den Schwierigkeiten dieses Handels sprechen hörte, ein oft erneuerter Gesprächsstoff in einem Lande, wo das prachtvolle Gestüt Le Pin zu Hause ist, begriff sie, daß die Pferde vom ›Belegen‹ kommen, und fragte, warum das ›Belegen‹ nicht zweimal im Jahre stattfände. Der Chevalier zog das Gelächter auf sich. »Das wäre leicht möglich«, sagte er. Die Anwesenden horchten auf. »Der Fehler ist der«, erklärte er, »daß die Züchter noch nicht dahintergekommen sind, auf welche Art man die Stuten zwingt, kürzer als elf Monate zu tragen.« Die Gute wußte ebensowenig, was ›Belegen‹ ist, als sie einen Ochsen von einem Stier unterscheiden konnte. Der Chevalier de Valois diente einer Undankbaren, denn Mademoiselle Cormon hatte von keinem seiner ritterlichen Dienste eine Ahnung. Wenn die Unterhaltung wieder in Fluß gekommen war, glaubte sie zu bemerken, daß sie nicht so dumm war, als sie zu sein glaubte. Schließlich, eines Tages, fühlte sie sich in ihrer Dummheit so heimisch wie der Duc de Brancas; denn der Held des ›Zerstreuten‹ machte es sich in dem Graben, in den er hineingeworfen worden war, so bequem, daß, als man ihn herauszuholen kam, er fragte, was man von ihm wolle. Seit diesem Zeitpunkt, der der jüngsten Vergangenheit angehört, verlor Mademoiselle Cormon alle Furcht, sie bekam eine Sicherheit, die ihren ›Schnitzern‹ etwas von der Feierlichkeit verlieh, mit der die Engländer ihre patriotischen Albernheiten begehen und die gewissermaßen der Dünkel der Dummheit ist. Während sie nun majestätischen Schrittes auf ihren Onkel zuging, überlegte sie, welche Frage sie an ihn stellen könnte, um
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ihn der Schweigsamkeit zu entreißen, die ihr immer schmerzlich war, denn sie glaubte, er langweile sich. »Lieber Onkel«, sagte sie, hing sich an seinen Arm und schmiegte sich fröhlich an seine Seite - dies war auch eine ihrer Annahmen, sie dachte: ›Wenn ich einen Mann hätte, würde ich so sein!‹ -, »Onkel, wenn alles hienieden durch Gottes Willen geschieht, gibt es also für alles einen Grund?« »Sicherlich!« gab ihr der Abbé de Sponde ernsthaft zur Antwort. Da er seine Nichte sehr liebhatte, ließ er sich von ihr immer mit einer himmlischen Geduld aus seinen Betrachtungen reißen. »Also, wenn ich Mädchen bleibe, nehmen wir einmal an, so will dies Gott?« »Ja, mein Kind«, sagte der Abbé. »Jedoch, da nichts mich hindert, morgen zu heiraten, so kann sein Wille durch meinen vernichtet werden?« »Das wäre so, würden wir den wahren Willen Gottes kennen«, erwiderte der ehemalige Prior der Sorbonne. »Beachte, meine Tochter, du sagst: ›wenn‹.« Das arme Mädchen, welches gehofft hatte, ihren Onkel durch einen Beweisgrund ad omnipotentem in ein Gespräch über die Ehe hineinzuziehen, war ganz verdutzt; aber die Frauen von schwachem Verstand befolgen die schreckliche Logik der Kinder, die darin besteht, von der Antwort zur Frage zu gehen, eine Logik, die oft in Verlegenheit bringt.
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»Aber, lieber Onkel, Gott hat die Frauen doch nicht dazu gemacht, daß sie Mädchen bleiben, da müßten sie entweder alle Mädchen sein oder alle Frauen. Es liegt eine Ungerechtigkeit in der Verteilung der Rollen.« »Meine Tochter, du gibst der Kirche unrecht, die die Ehelosigkeit als den besten Weg, zu Gott zu gelangen, vorschreibt.« »Aber wenn die Kirche recht hat und jedermann ein guter Katholik wäre, würde das Menschengeschlecht doch aufhören, Onkel?« »Du bist zu klug, Rose, man muß nicht so klug sein, um glücklich zu sein.« Ein solches Wort brachte ein Lächeln der Befriedigung auf die Lippen des armen Mädchens und bestärkte sie in der guten Meinung, die sie von sich zu haben anfing. So tragen die Leute, unsere Freunde und unsere Feinde, die Mitschuld an unsern Fehlern! In diesem Augenblick wurde die Unterhaltung durch das allmähliche Erscheinen der Gäste unterbrochen. An solchen Galatagen kam es immer zu kleinen Vertraulichkeiten zwischen dem Dienstpersonal und den eingeladenen Personen. Mariette sagte zu dem Gerichtspräsidenten, der ein ausnehmend guter Kostgänger war, als sie ihn vorübergehen sah; »Ah, Monsieur du Renceret, ich habe den Blumenkohl ›au gratin‹ eigens für Sie gemacht, denn Mademoiselle weiß, wie gern Sie ihn essen, und hat zu mir gesagt: ›Mache ihn ja gut, Mariette, Monsieur le President kommt!‹« »Die gute Mademoiselle Cormon!« erwiderte der Gerichtsherr des Landes; »Mariette, haben Sie ihn auch mit Sauce anstatt mit Bouillon begossen? Das macht ihn saftiger!« Der Präsident verschmähte nicht, in das Beratungszimmer einzutreten, wo 138
Mariette ihre Urteile fällte, dort begutachtete er alles mit dem Blick des Gastronomen und äußerte seine Meinung als Kenner. »Guten Tag, Madame Granson«, sagte Jacquelin, der Madame Granson den Hof machte, »Mademoiselle hat an Sie gedacht, es gibt ein Fischgericht für Sie!« Was den Chevalier de Valois angeht, so sagte er mit dem ungezwungenen Ton eines Grandseigneurs, der sich herabläßt, zu Mariette: »Nun, teure Meisterköchin, der ich das Kreuz der Ehrenlegion erteilen werde, gibt es irgendeinen feinen Bissen, für den man sich den Appetit aufsparen muß?« »Jawohl. Monsieur de Valois, einen Hasen aus Le Prébaudet, er wog vierzehn Pfund.« »Braves Mädchen!« versetzte der Chevalier und gab ihr einen Klaps auf die Wange; »ah, er wiegt vierzehn Pfund!« Du Bousquier war nicht eingeladen. Mademoiselle Cormon blieb dem System, das man kennt, treu und behandelte diesen Fünfzigjährigen, für den sie unerklärliche, in den tiefsten Falten ihres Herzens verborgene Gefühle hegte, schlecht. Obwohl sie ihn abgewiesen hatte, tat es ihr manchmal leid; sie fühlte so etwas wie eine Ahnung, daß sie ihn heiraten würde, und zugleich ein Entsetzen, das sie hinderte, diese Heirat zu wünschen. Ihre von ihren Vorstellungen erregte Einbildungskraft beschäftigte sich mit Du Bousquier. Ohne daß sie es sich eingestanden hätte, machten die herkulischen Formen des Republikaners starken Eindruck auf sie. Madame Granson und der Chevalier de Valois, die sich die Widersprüche Mademoiselle Cormons nicht erklären konnten, hatten verstohlene naive Blicke erhascht, deren Bedeutung so klar war, daß es alle beide für nötig erachteten, die schon einmal gescheiterten, aber sicherlich noch beibehaltenen Hoffnungen des Lieferanten zu 139
zerstören. Zwei Gäste, die durch ihr Amt von vornherein entschuldigt waren, ließen auf sich warten; der eine war Monsieur Coudrai, der Vorsteher des Hypothekenamts; der andere, Monsieur Chesnel, der frühere Intendant des Hauses d'Esgrignon, der Notar der hohen Aristokratie, die ihn mit der Achtung behandelte, wie es seine Tugenden verdienten; er war außerdem Besitzer eines ansehnlichen Vermögens. Als diese beiden verspäteten Gäste anlangten, rief Jacquelin, der sie in den Salon gehen sah: »Sie sind alle im Garten!« Ohne Zweifel waren die Mägen schon sehr ungeduldig, denn beim Anblick des Vorstehers des Hypothekenamts, eines der liebenswürdigsten Männer der Stadt, der nur den Fehler hatte, ihres Vermögens wegen eine unausstehliche alte Person geheiratet zu haben und Witze zu machen, über die er immer zuerst lachte, erhob sich das beifällige Gemurmel, mit dem die zuletzt Gekommenen in solchen Fällen stets empfangen werden. Während man die offizielle Meldung, daß angerichtet sei, erwartete, wandelte die Gesellschaft auf der Terrasse längs der Brillante und betrachtete die Wasserpflanzen, das Mosaik des Flußbetts, die hübschen Einzelheiten der auf dem andern Ufer zusammengedrängten Häuser, die alten Holzgalerien, die eingefallenen Fensterlehnen, die schrägen Stützsparren eines Zimmers, das über den Fluß hing, die Gärtchen, in denen Lumpen zum Trocknen hingen, die Werkstatt des Schreiners, all dieses Elend der kleinen Stadt, dem die Nähe des Wassers, eine hängende Trauerweide, Blumen, ein Rosenstock soviel malerische Anmut verleihen. Der Chevalier studierte alle Gesichter, weil schon der Brand, den er entfacht hafte, sich bereits den besten Kreisen der Stadt mitgeteilt hatte; aber noch sprach niemand laut von der großen Neuigkeit: Suzanne und Du Bousquier. Die Leute der Provinz verstehen im höchsten Grade die Kunst, einen Klatsch vorzubereiten. Der Moment zur Unterhaltung über dieses seltsame Abenteuer war noch nicht gekommen, es 140
überlegte sich noch jeder, was er zu sagen habe. Vorläufig flüsterte man sich ins Ohr: »Sie wissen?« - »Ja.« - »Du Bousquier?« - »Und die schöne Suzanne.« - »Mademoiselle Cormon weiß noch nichts?« - »Nein.« - »Ach!« Es war das ›Piano‹ des Klatsches. Das ›Rinforzando‹ sollte erst beginnen, wenn man bei der ersten Vorspeise spielt. Plötzlich faßte Monsieur de Valois Madame Granson ins Auge, die ihren grünen Hut mit den Aurikelsträußchen aufgepflanzt hatte und deren Gesicht vor Ungeduld zuckte. War es die Lust, das Konzert zu beginnen? Obwohl eine solche Neuigkeit in dem ereignisarmen Leben dieser Leute wie eine auszubeutende Goldmine war, glaubte der scharf beobachtende, mißtrauische Chevalier bei der guten Frau den Ausdruck eines noch tieferen Gefühls zu bemerken: die Freude über den Sieg einer persönlichen Sache! :.. Sogleich drehte er sich um, um Athanase zu prüfen, und überraschte ihn in der bedeutsamen Haltung größter Vertieftheit. Ein Blick, den der junge Mann auf den Brustkasten Mademoiselle Cormons warf, der zwei Regimentspauken glich, ließ in der Seele des Chevaliers ein plötzliches Licht aufgehen. Dieser Blitz erhellte ihm mit einem Male die ganze Vergangenheit. ›Ach, zum Teufel! Das habe ich dumm angefangen!‹ Monsieur de Valois näherte sich Mademoiselle Cormon und reichte ihr den Arm, um sie in den Speisesaal zu führen. Die alte Jungfer hegte für den Chevalier große Hochachtung, denn sein Name und die Stellung, die er in den aristokratischen Kreisen des Departements einnahm, bildeten die Hauptzierde ihres Salons. Vor ihrem innern Forum sagte sie sich seit zwölf Jahren, daß sie Madame de Valois werden wolle. Dieser Name war, was den Rang, den Adel und die äußern Vorzüge einer Partie angeht, wie ein Zweig, an dem ihre Gedanken hängenblieben, wenn sie aus ihrem Hirn ausschwärmten; aber 141
wenn der Chevalier de Valois der vom Herzen, vom Verstand, vom Ehrgeiz Erwählte war, so verursachte ihr diese alte Ruine, obwohl sie wie ein Prozessionsheiliger frisiert war, doch ein gewisses Grauen: wenn sie auch einen Edelmann in ihm sah, so sah das Mädchen in ihm doch keinen Ehemann. Die von dem Chevalier im Punkte der Ehe geheuchelte Gleichgültigkeit und besonders seine vorgebliche Sittenreinheit in einem Hause, das voller Grisetten war, taten ihm ganz gegen seine Voraussicht enormen Abbruch. Dieser Edelmann, der in der Sache der Lebensrente so richtig gesehen hatte, täuschte sich in diesem Punkt. Ohne daß sie es selbst wußte, ließen sich die Gedanken Mademoiselle Cormons über den allzu tugendhaften Chevalier ungefähr also wiedergeben: ›Wie schade, daß er nicht ein bißchen leichtfertig ist!‹ Die Erforscher des menschlichen Herzens haben beobachtet, daß die Frömmlerinnen eine Neigung für lockere Vögel haben, und fanden, daß dieser Geschmack im Widerspruch zu der christlichen Tugend stehe. Aber, welche Aufgabe ist geziemender für die tugendhafte Frau, als, gleich der Kohle, die trüben Wasser des Lasters zu reinigen? Und dann: Ist es nicht natürlich, daß die edlen Geschöpfe, die zu strenge Prinzipien haben, um die eheliche Treue jemals zu überschreiten, sich einen Gatten von großer praktischer Erfahrung wünschen? Lockere Vögel sind groß in der Liebe. So bejammerte es die gute Mademoiselle, daß ihr erwähltes Gefäß in zwei Stücke gebrochen war. Gott allein konnte den Chevalier de Valois und Du Bousquier zusammenschweißen. Um die Wichtigkeit der wenigen Worte zu verstehen, die der Chevalier und Mademoiselle Cormon im Begriff waren miteinander auszutauschen, muß man zwei ernste Angelegenheiten, die in der Stadt im Umlauf waren und über die die Meinungen auseinandergingen, berühren. Du Bousquier war auf geheimnisvolle Weise damit verquickt. Die eine betraf den Pfarrer von Alençon, der seinerzeit den Eid auf die Konstitution abgelegt hatte und der nunmehr das Widerstreben seiner katholischen 142
Gemeinde durch die Entfaltung der höchsten Tugenden überwand. Er war ein Cheverus im kleinen und so beliebt, daß ihn bei seinem Tode die ganze Stadt beweinte. Mademoiselle Cormon und der Abbé gehörten zu dem orthodoxen Kirchensprengel, der für Rom das war, was die Ultras für Ludwig XVIII. wurden. Der Abbé vor allem wollte ganz und gar nichts von der Kirche wissen, die gezwungenermaßen einen Kompromiß mit denen, die den Eid abgelegt hatten, eingegangen war. Jener Pfarrer wurde in dem Hause Cormon, dessen Sympathien sich dem Vikar von Saint-Léonard, der aristokratischen Pfarrkirche von Alençon, zuwandten, nicht empfangen. Du Bousquier, dieser wütende Liberale in der Haut eines Royalisten wußte, wie notwendig zwischen den Unzufriedenen, die den Hauptbestand aller Opposition bilden, die Anknüpfungspunkte sind, und er hatte schon um diesen Pfarrer alle Sympathien der Mittelklasse geschart. Nun die zweite Angelegenheit. Unter der heimlichen Anregung dieses groben Diplomaten war die Idee entstanden, in Alençon ein Theater zu bauen. Die Seiden Du Bousquiers kannten nicht ihren Mahomet, aber sie waren nur um so eifriger, da sie ihren eigenen Einfall zu verteidigen glaubten. Athanase war einer der glühendsten Verfechter der Erbauung eines Theatersaals, und seit einigen Tagen warb er für die Sache, die alle jungen Leute zu der ihrigen gemacht hatten, Anhänger in den Büros des Rathauses. Der Edelmann reichte Mademoiselle seinen Arm zum Promenieren; sie nahm ihn und dankte ihm mit einem glücklichen Blick für seine Aufmerksamkeit, worauf der Chevalier mit einem schlauen Hinweis auf Athanase sagte: »Mademoiselle, Sie, die den sozialen Konventionen so großen Wert beilegen und mit der dieser junge Mann durch einige Bande verknüpft ist...« »Nur durch sehr entfernte«, warf sie ein. 143
»Sollten Sie nicht«, fuhr der Chevalier fort, »von dem Einfluß, den Sie auf ihn und seine Mutter haben, Gebrauch machen, um ihn vor dem Verderben zu bewahren? Er ist schon nicht sehr religiös, er hält zu dem konstitutionellen Priester; aber das wäre noch nicht schlimm. Weit gefährlicher ist dies: Stürzt er sich nicht besinnungslos in die Opposition, ohne zu wissen, welche Folgen sein gegenwärtiges Betragen für die Zukunft haben wird? Er betreibt den Bau des Theaters, er läßt sich in dieser Sache von dem verkleideten Republikaner, dem Du Bousquier, zum Narren halten ...« »Mein Gott, Monsieur de Valois«, erwiderte sie, »seine Mutter sagt mir, daß er Geist hat, und er kann nicht bis drei zählen; er pflanzt sich immer vor einem auf wie eine Null...« »Die an nichts denkt!« fiel der Vorsteher des Hypothekenamts ein. »Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt! ... Mein Kompliment dem Chevalier de Valois!« begrüßte er ihn dann mit der Emphase, die Henri Monnier dem Joseph Prud'homme, dem bewunderungswürdigen Typus der Klasse, zu der der Vorsteher des Hypothekenamts gehörte, zuschreibt. Monsieur de Valois dankte mit dem trockenen und gönnerhaften Gruß des Edelmanns, der die Distanz hält; dann schleppte er Mademoiselle Cormon zu einigen entfernteren Blumentöpfen, um dem Eindringling zu verstehen zu geben, daß er nicht ausspioniert sein wollte. »Wie sollen die jungen Leute, die in diesen abscheulichen kaiserlichen Lyzeen erzogen wurden, zu vernünftigen Ideen kommen?« sagte der Chevalier, der sich dem Ohr Mademoiselle Cormons genähert hatte, leise; »gute Sitten und edle Gewohnheiten erzeugen große Ideen und die wahre Liebe. Wenn man ihn so ansieht, möchte man wetten, daß der arme Kerl 144
ganz idiotisch wird und elend zugrunde geht. Sehen Sie, wie bleich und abgezehrt er ist?« »Seine Mutter gibt vor, er arbeite zu angestrengt«, meinte unschuldig das alte Mädchen; »er verbringt die Nächte, aber womit? Mit Lesen, Schreiben. Wie soll ein junger Mann aussehen, der in der Nacht schreibt?« »Aber natürlich, das erschöpft seine Kräfte«, fing der Chevalier wieder an, der den Versuch, Athanase bei Mademoiselle in Mißkredit zu bringen, fortsetzen wollte; »die Sitten dieser kaiserlichen Lyzeen waren wirklich abscheulich.« »O ja«, sagte die unbefangene Mademoiselle Cormon, »führte man sie nicht mit Trommlern an der Spitze spazieren? Ihre Lehrer hatten nicht so viel Religion wie die Heiden. Und man steckte die armen Jungen in Uniform, gerade wie Soldaten. Wie lächerlich!« »Da hat man die Resultate!« sagte der Chevalier und deutete auf Athanase. »Hätte sich zu meiner Zeit jemals ein junger Mann geschämt, eine hübsche Frau anzusehen? Der da schlägt die Augen nieder, wenn er Sie sieht. Mir ist bange um den jungen Mann, weil er mich interessiert. Sagen Sie ihm, er soll nicht mit den Bonapartisten für diesen Theaterbau gemeinsame Sache machen. Wenn diese jungen Leute es nicht auf dem Wege des Aufstandes, denn das ist für mich gleichbedeutend mit konstitutionell, verlangen, wird die Regierung es schon bauen. Und sagen Sie seiner Mutter, daß sie ihn im Auge behält.« »Oh, ich weiß genau, daß sie ihn nicht mit den auf Halbsold gesetzten Leuten und der schlechten Gesellschaft zusammenkommen läßt. Ich werde mit ihr sprechen«, erwiderte Mademoiselle Cormon, »denn er könnte seinen Posten im Rathaus 145
verlieren. Und wovon sollten dann er und seine Mutter leben? Das macht einen schaudern!« Der Chevalier sagte zu sich selbst, während er Mademoiselle Cormon ansah, was Monsieur de Talleyrand über seine Frau sagte: ›Meiner Treu, man finde mir eine, die dümmer ist! Ist nicht die Tugend, die die Intelligenz tötet, ein Laster? Aber welche entzückende Frau! Welche Prinzipien! Welche Unwissenheit!‹ Man begreift, daß dieser Monolog an die Prinzessin Goritza gerichtet war und daß ihm eine Prise folgte. Madame Granson hatte bemerkt, daß der Chevalier von Athanase sprach. Voll Begierde, das Ergebnis dieser Unterhaltung kennenzulernen, folgte sie Mademoiselle Cormon, die mit großer Würde auf den jungen Mann zuschritt. Aber in diesem Augenblick meldete Jacquelin Mademoiselle, daß angerichtet sei. Die alte Jungfer winkte dem Chevalier mit einem Blick. Jedoch der galante Vorsteher des Hypothekenamts, der anfing, im Benehmen des Chevalier die Schranke zu sehen, die in dieser Zeit die Provinzadligen zwischen sich und dem Bürgertum errichteten, freute sich, ihm den Rang abzulaufen; er stand neben Mademoiselle Cormon, rundete seinen Arm, um ihn ihr zu reichen, und sie war genötigt, ihn anzunehmen. Der Chevalier stürzte sich aus Diplomatie auf Madame Granson. »Mademoiselle Cormon, meine Liebe«, sagte er und schritt bedächtig als Letzter hinter allen Gästen her, »hegt das lebhafteste Interesse für Ihren lieben Athanase. Aber Ihr Sohn ist schuld, daß dies Interesse abnimmt; er ist irreligiös und liberal, er legt sich für das Theater ins Zeug, er hält es mit den Bonapartisten, interessiert sich für den konstitutionellen Pfarrer. Dieses Betragen kann ihn um den Posten im Rathaus bringen. 146
Sie wissen, wie sorgfältig die Regierung des Königs aussiebte! Wo will Ihr Sohn, wenn man ihn wegschickt, eine Stellung finden? Er soll sich nur ja hüten, sich bei der Verwaltung mißliebig zu machen!« »Monsieur le Chevalier«, gab die geängstigte Mutter zur Antwort, »wie bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet! Sie haben recht, mein Sohn wird von einer bösen Clique verführt, und ich werde ihn darüber aufklären.« Der Chevalier hatte seit langem mit einem einzigen Blick die Natur von Athanase ergründet; er hatte das wenig biegsame Element der republikanischen Gesinnung in ihm erkannt, für die ein junger Mann dieses Alters alles opfert, der von dem so schwer erfaßbaren wie mißverstandenen Wort ›Freiheit‹ berauscht ist, das für die verächtlich Zurückgestoßenen eine Fahne der Empörung ist, und für sie bedeutet Empörung Rache. Athanase mußte seinem Glauben treu bleiben, denn seine Überzeugung war für ihn mit seinen Künstlerschmerzen, seiner bittern Auffassung der sozialen Zustände verwoben. Er wußte nicht, daß er, wie alle Menschen höherer Art, im Alter von sechsunddreißig Jahren, wenn er die Menschen, ihre Verhältnisse und sozialen Interessen erst richtig einzuschätzen gelernt hätte, seine Meinungen, für die er jetzt seine Zukunft opferte, verändern würde. Sich zur Linken von Alençon bekennen, das hieß die Gunst von Mademoiselle Cormon verscherzen. Hierin sah der Chevalier klar. So war also diese anscheinend so friedliche Gesellschaft innerlich ebenso erregt wie die diplomatischen Kreise, wo die List, die Gewandtheit, die Leidenschaften, die Interessen sich um die ernstesten Fragen von Reich zu Reich drehen. Die Gäste saßen endlich um den Tisch herum, auf dem der erste Gang prangte, und jeder aß, wie man in der Provinz ißt, ohne sich wegen seines guten Appetits zu genieren, und nicht wie in Paris, wo die Kinnbacken sich so 147
bewegen, als läge ein Verbot darauf, welches dahin zielt, die Gesetze der Anatomie Lügen zu strafen. In Paris ißt man nicht herzhaft darauflos, man unterdrückt seinen Genuß, während in der Provinz die Dinge natürlich zugehen und man sich vielleicht ein wenig zu sehr auf diese große und allgemeine Existenznotwendigkeit, zu der Gott seine Geschöpfe verdammt hat, konzentriert. Es war am Ende des ersten Ganges, als Mademoiselle Cormon ihren berühmtesten Schnitzer vom Stapel ließ, denn man sprach zwei Jahre lang davon, und die Sache wird bei den Zusammenkünften der Kleinbürger von Alençon, wenn von ihrer Heirat die Rede ist, noch heute erzählt. Die Unterhaltung, die beim Angriff auf die vorletzte Vorspeise sehr angeregt und wortreich geworden war, hatte sich naturgemäß dem Thema des Theaterbaus und des Priesters, der auf die Verfassung geschworen hatte, zugewandt. In der ersten Hitze des Royalismus um 1816 wollten diejenigen, die man späterhin die Jesuiten des Landes nannte, den Abbé François seines Amtes entsetzen. Du Bousquier, den Monsieur de Valois in Verdacht hatte, die Stütze des Priesters und der Urheber dieser Intrige zu sein, und dem der Edle sowieso mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit alles zugeschoben hätte, saß auf dem Armsünderstühlchen, ohne daß jemand ein Wort zu seiner Verteidigung sagte. Athanase, der einzige Gast, der Offenheit genug besaß, um eine Lanze für Du Bousquier zu brechen, war nicht in der Lage, vor diesen Machthabern von Alençon, die er übrigens sehr dumm fand, seine Gedanken darzulegen. Nur die jungen Männer der Provinz sind gewöhnt, Leuten eines gewissen Alters gegenüber eine respektvolle Haltung zu bewahren und ihnen weder entgegenzutreten, noch ihnen heftig zu widersprechen. Die Unterhaltung, die durch köstliche Enten mit Oliven niedergehalten war, fiel schließlich ganz unter den Tisch. Mademoiselle Cormon, auf den Erfolg ihrer eigenen Enten eifersüchtig, wollte Du Bousquier, den man als einen gefährli-
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chen Ränkeschmied hinstellte und den man zu allem fähig hielt, in Schutz nehmen. »Ich glaubte«, sagte sie, »Monsieur du Bousquier beschäftigte sich nur mit Kindereien.« Unter den gegenwärtigen Umständen hatte dies Wort eine überwältigende Wirkung. Mademoiselle Cormon erfreute sich eines großen Triumphes. Sie bewirkte, daß die Prinzessin Goritza mit der Nase auf den Tisch fiel. Der Chevalier, der auf eine so treffende Bemerkung von Seiten seiner Dulzinea nicht gefaßt war, war so verwundert, daß er zunächst kein Wort des Lobes fand, um seinen Beifall treffend auszudrücken; er applaudierte geräuschlos, indem er die Fingerspitzen aneinandertippte, wie man es in der Italienischen Oper macht. »Sie ist himmlisch geistreich«, sagte er zu Madame Granson; »ich habe immer gesagt, daß sie eines Tages ihre Geschütze auffahren lassen wird.« - »Aber beim intimen Zusammensein ist sie entzückend«, antwortete die Witwe. »Beim intimen Zusammensein, Madame, haben alle Frauen Geist«, erwiderte der Chevalier. Nachdem sich das homerische Gelächter gelegt hatte, fragte Mademoiselle Cormon nach dem Grund ihres Erfolges, Nunmehr begann das ›Forte‹ des Klatsches. Du Bousquier wurde als unverehelichter Vater Gigogne geschildert, als ein Ungeheuer, das seit fünfzehn Jahren das Findelhaus ganz allein versorgte; endlich lag seine Sittenverderbtheit klar auf der Hand, ein würdiges Seitenstück zu seinen Pariser Saturnalien usw. Unter der Anführung des Chevaliers de Valois, des geschicktesten Dirigenten für solche Orchester, wurde die Ouvertüre dieses Klatsches prachtvoll. 149
»Ich weiß nicht«, begann er mit wohlmeinender Miene, »was einen Du Bousquier hindern könnte, eine Mademoiselle Suzanne Soundso - wie heißt sie? Suzette! - zu heiraten. Obwohl ich bei Madame Lardot wohne, kenne ich diese kleinen Mädchen nur vom Sehen. Wenn diese Suzon ein großes schönes Mädchen ist, herausfordernd, mit grauen Augen, schlanker Taille, kleinem Fuß - ich habe, wie gesagt, kaum auf sie geachtet, doch ist mir ihr Auftreten sehr keck vorgekommen -, so ist sie in Manieren diesem Du Bousquier noch sehr überlegen. Im übrigen hat Suzanne den Adel der Schönheit; von diesem Gesichtspunkt wäre diese Heirat also eine Mesalliance für sie. Sie wissen, daß der Kaiser Joseph in Lucienne begierig war, die Dubarry zu sehen; er reichte ihr seinen Arm, um sie spazieren zu führen; das arme Mädchen, das von soviel Ehre betroffen war, zögerte, ihn anzunehmen. Der Kaiser sagte hierauf: ›Die Schönheit ist immer eine Königin!‹ Beachten Sie, daß es ein österreichischer Deutscher war«, fügte der Chevalier hinzu; »aber glauben Sie mir, Deutschland, das hier für sehr bäurisch gilt, ist ein Land voll noblen Rittertums und schöner Sitten, besonders gegen Polen und Ungarn zu, wo es ...« Hier unterbrach sich der Chevalier, da er befürchtete, in eine Anspielung auf sein persönliches Glück zu verfallen; er nahm nur seine Tabaksdose zur Hand und vertraute den Rest der Anekdote der Prinzessin an, die ihm seit sechsunddreißig Jahren zulächelte. »Dieser Ausspruch war sehr zartfühlend für Ludwig XV.«, bemerkte Du Ronceret. »Aber es handelt sich, glaube ich, hier doch um den Kaiser Joseph!« warf Mademoiselle Cormon mit vielwissender Miene ein.
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»Mademoiselle«, versetzte der Chevalier, als er sah, wie der Präsident, der Notar und der Hypothekenamtsvorsteher boshafte Blicke tauschten. »Madame Dubarry war die Suzanne Ludwigs XV., eine Tatsache, die uns Tunichtguten sehr wohl bekannt ist, die aber junge Damen nicht wissen dürfen. Ihre Unkenntnis beweist, daß Sie ein fleckenloser Diamant sind; die historischen Verderbtheiten reichen nicht zu Ihnen heran.« Der Abbé de Sponde blickte den Chevalier de Valois freundlich an und machte mit dem Kopf eine Bewegung lobender Zustimmung. »Mademoiselle kennt die Geschichte nicht?« fragte der Vorsteher des Hypothekenamts. »Wenn Sie Ludwig XV. und Suzanne durcheinanderbringen, wie soll ich Ihre Geschichte kennen?« erwiderte Mademoiselle Cormon mit engelgleicher Miene, froh, daß die Platte mit den Enten leer und die Unterhaltung wieder belebt war. Und abermals forderte ihre Bemerkung einen Heiterkeitsausbruch ihrer Gäste heraus. »Die arme Kleine!« sagte der Abbé de Sponde. »Wenn ein Unglück da ist, darf die christliche Liebe, die ein göttliches Gesetz und so blind wie die heidnische Liebe ist, sich nicht mehr um den Grund kümmern. Sie sind Vorsitzende des Mütterfürsorgevereins, liebe Nichte, man muß diesem armen Mädchen helfen, das sich nun schwer verheiraten wird.« »Armes Ding!« ließ sich Mademoiselle Cormon vernehmen. »Glauben Sie, daß Du Bousquier sie heiratet?« fragte der Gerichtspräsident.
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»Wenn er ein anständiger Kerl wäre, würde er es tun«, erwiderte Madame Granson; »aber wahrhaftig, ich glaube, mein Hund hat mehr Anstand ...« »Immerhin ist Azor ein großer Lieferant«, bemerkte der Vorsteher des Hypothekenamtes fein, der sich aus einem Kalauer ein Bonmot zu machen bemühte. Beim Dessert war wiederum die Rede von Du Bousquier, der zu allerlei lustigen Einfällen, die der Wein noch befeuerte, Veranlassung gab. Seine mutmaßliche Vaterschaft war der Ausgangspunkt einer Reihe von Wortspielen, deren Doppelsinn so angelegt war, daß alle Attribute, die man Du Bousquier irgend beilegen konnte, in ihrem Wortlaut komisch genug an die Vaterschaft erinnerten. Selbst der Abbé und der Chevalier, die Vertreter der Kirche und des Adels, stiegen, ohne ihre Würde abzulegen, in die Arena des Kalauers hinab. Als die allgemeine Teilnahme an dieser Belustigung ihren Gipfel erreicht hatte, rief der Vorsteher des Hypothekenamts: »Still! Ich höre Du Bousquiers Stulpenstiefel kommen, die gewiß mehr als je zuvor gestülpt sind.« Es ist fast immer so, daß ein Mann sich in Unkenntnis der Gerüchte befindet, die über ihn in Umlauf sind: eine ganze Stadt beschäftigt sich mit ihm, verleumdet ihn oder bringt ihn in Verruf; wenn er keine Freunde hat, wird er nichts davon erfahren. So kam es also, daß der unschuldige Du Bousquier, der Du Bousquier, der so gern schuldig gewesen wäre und wünschte, daß Suzanne nicht gelogen hätte, von nichts eine Ahnung hatte: niemand hatte ihm etwas von den Enthüllungen Suzannes gesagt, denn man hielt es für unpassend, ihn in einer Sache zu befragen, die sich um einen so heiklen Punkt drehte. Du Bousquier erschien also, als die Gesellschaft eben aus dem Speisesaal kam, um in dem Salon, wohin schon einige Leute für den 152
Abend gekommen waren, den Kaffee zu nehmen, in einer sehr unternehmenden und ein wenig geckenhaften Haltung. Mademoiselle Cormon wagte in ihrer Verschämtheit den schrecklichen Verführer nicht anzublicken; sie hatte sich Athanases bemächtigt, dem sie eine Moralpredigt hielt und die schrecklichsten Gemeinplätze royalistischer Politik und religiöser Sittenlehre zum besten gab. Der arme Dichter, der nicht wie der Chevalier de Valois eine mit einer Prinzessin geschmückte Tabaksdose besaß, um diese Salven von Dummheit besser aushalten zu können, hörte seiner Angebeteten mit blödem Schweigen zu und blickte auf ihre monströse Brust, die ihm in absoluter Ruhe, ein Urbild gewaltiger Massenentfaltung, entgegenstarrte. Seine Begierden erzeugten eine Art Rausch in ihm, der die dünne, helle Stimme von Mademoiselle in ein sanftes Gemurmel und ihre flachen Reden in geistvolle Aussprüche verwandelte. Die Liebe ist ein Falschmünzer, der beständig aus plumpen Soustücken Louisdors und manchmal auch aus Louisdors Soustücke macht. »Also Sie versprechen es mir, Athanase?« Dieser Schlußsatz traf das Ohr des glücklichen jungen Mannes wie jene Geräusche, bei denen man jäh aus dem Schlafe auffährt. »Was, Mademoiselle?« erwiderte er. Mademoiselle Cormon stand stracks auf und sah Du Bousquier an, der in diesem Moment dem dicken Gotte der Fabel glich, den die Republik auf ihre Taler prägte; sie schritt auf Madame Granson zu und sagte ihr ins Ohr: »Meine arme Freundin, Ihr Sohn ist ein Idiot! Das Lyzeum ist sein Verhängnis gewesen.« 153
Das sagte sie, da ihr einfiel, mit welcher Beharrlichkeit der Chevalier von der schlechten Erziehung in den Lyzeen gesprochen hatte. Was für ein Schlag! Ohne es zu wissen, hatte der arme Athanase Gelegenheit gehabt, seine Brandfackel auf die Reiser im Herz des alten Mädchens zu schleudern; hätte er ihr zugehört, so hätte er ihr seine Leidenschaft begreiflich machen können, denn in der Erregtheit, in der sich Mademoiselle Cormon befand, hätte ein einziges Wort genügt; aber jene dumpfe Begierde, die ein Merkmal jugendlicher und wahrer Liebe ist, hatte ihn zugrunde gerichtet, so wie sich manchmal ein lebensvolles Kind aus Unwissenheit den Tod gibt. »Was hast du denn zu Mademoiselle Cormon gesagt?« fragte Madame Granson ihren Sohn. »Nichts.« »Nichts! ... ich werde das aufklären!« sagte sie zu sich selbst mit der Absicht, die ernsten Angelegenheiten auf morgen zu schieben, denn da sie der Meinung war, daß Du Bousquier bei der Mademoiselle alles Ansehen verloren habe, legte sie diesem Wort keine Wichtigkeit bei. Die vier Tische waren bald mit ihren sechzehn Spielern besetzt. Vier Personen saßen beim Pikett, dem teuersten Spiel, bei dem man viel Geld verlieren konnte. Monsieur Chesnel, der Prokurator des Königs und zwei Damen spielten im Kabinett mit den roten Lackarbeiten ein Tricktrack. Die Kerzen der Armleuchter wurden angezündet; dann verteilte sich die Zierde der Gesellschaft Mademoiselle Cormons auf den Sofas, um die Tische, vor dem Kamin, und jedes neu angekommene Paar richtete an
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Mademoiselle die Frage: »Sie fahren morgen nach Le Prebaudet?« »Ich muß wohl«, erwiderte sie. Die Herrin des Hauses schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Madame Granson fiel der wenig natürliche Zustand des alten Mädchens zuerst auf: Mademoiselle Cormon war in Gedanken! »Woran denken Sie, Cousine?« fragte sie sie endlich, als sie sie im Boudoir sitzend fand. »Ich denke«, antwortete sie, »an das arme Mädchen. Bin ich nicht Vorsitzende des Mütterfürsorgevereins? Ich will Ihnen zehn Taler holen.« »Zehn Taler!« rief Madame Granson aus; »Sie haben noch nie soviel gegeben.« »Aber, meine Liebe, es ist so natürlich, Kinder zu haben.« Dieser unmoralische, aus dem Herzen kommende Satz verblüffte die Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins, Du Bousquier war augenscheinlich in der Achtung Mademoiselle Cormons gestiegen. »Wahrhaftig«, sagte Madame Granson, »Du Bousquier ist nicht nur ein Ungeheuer, er ist ein Ehrloser! Wenn man ein Mädchen ins Gerede gebracht hat, muß man es nicht wenigstens schadlos halten? Wäre es nicht viel mehr seine Sache als die unsere, sich der Kleinen anzunehmen? Sie scheint mir übrigens eine recht üble Person zu sein, denn sie hätte noch einen andern als diesen zynischen Du Bousquier in Alençon gefun155
den, man muß doch sehr leichtfertig sein, sich an ihn zu wenden.« »Zynisch! Sie lernen, scheint's, von Ihrem Sohn lateinische Wörter, die unverständlich sind! Ich will gewiß Monsieur Du Bousquier nicht entschuldigen: aber sagen Sie mir, wieso ein Mädchen leichtfertig ist, wenn es einen Mann dem andern vorzieht?« »Liebe Cousine, nehmen wir an, Sie würden meinen Sohn Athanase heiraten, es wäre dies nur ganz natürlich: er ist jung und schön und hat eine große Zukunft, er wird der Ruhm Alençons werden. Doch alle Welt würde sagen, Sie haben sich einen Vorrat an Liebesglück zugelegt, damit Ihnen die ehelichen Freuden nie ausgehen; es würde neidische Frauen geben, die sagen, Sie seien verderbt. Doch was macht das? Sie würden wahrhaftig geliebt werden. Wenn Athanase Ihnen dumm vorkommt, so ist es nur darum, meine Liebe, weil er zu gescheit ist! Die Extreme berühren sich. Freilich lebt er wie ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren; er hat sich nicht im Schlamm von Paris gewälzt. Nun drehen wir die Sache um, wie mein seliger Mann zu sagen pflegte: es ist dasselbe wie mit Du Bousquier und Suzanne. Sie würde man verleumden, aber über Du Bousquier sagt man alles mit Recht. Verstehen Sie?« »Nicht mehr, als wenn Sie griechisch mit mir redeten«, versetzte Mademoiselle Cormon und sperrte die Augen weit auf beim Anspannen aller ihrer Geisteskräfte. »Nun denn, Cousine, um es geradeheraus zu sagen: Suzanne kann Du Bousquier nicht lieben. Und wenn das Herz bei dieser Sache nicht mitspricht...« »Aber womit liebt man denn, wenn nicht mit dem Herzen?« 156
Hier nun sagte sich Madame Granson dasselbe, was der Chevalier gedacht hatte: »Diese gute Cousine ist doch zu unschuldig, das geht schon über das Erlaubte !« Laut äußerte sie: »Liebes Kind, mir scheint, daß die Kinder nicht bloß durch den Geist empfangen werden.« »Aber ja doch, meine Liebe, denken Sie doch an die Heilige Jungfrau ...« »Aber Du Bousquier ist nicht der Heilige Geist!« »Das ist wahr«, gab Mademoiselle zurück, »er ist ein Mann! ein Mann, dessen Wesen so gefährlich ist, daß sich seine Freunde damit befassen müssen, ihn zu verheiraten.« »Sie können dies herbeiführen, Cousine ...« »Auf welche Art?« rief das alte Mädchen mit dem Enthusiasmus der christlichen Barmherzigkeit. »Empfangen Sie ihn nicht mehr, bis er eine Frau genommen hat! Sie sind es der Moral und der Religion schuldig, sein Verhalten auf eine exemplarische Weise zu mißbilligen.« »Bei meiner Rückkehr aus Le Prebaudet werden wir weiter von der Sache reden, liebe Madame Granson; ich werde meinen Onkel und den Abbé Couturier befragen«, sagte Mademoiselle Cormon und begab sich wieder in den Salon, wo gerade eine höchst angeregte Stimmung herrschte. Die Lichter, die Gruppen geschmackvoll gekleideter Frauen, der feierliche Ton, der aristokratische Anstrich dieser Versammlung erfüllte Mademoiselle Cormon wie ihre Gesellschaft mit großem Stolz. Viele waren der Ansicht, daß es in Paris in 157
den besten Kreisen nicht vornehmer zuginge. In diesem Augenblick war Du Bousquier, der mit Monsieur de Valois und zwei alten Damen, Madame Coudrai und Madame du Ronceret, eine Whistpartie spielte, der Gegenstand einer dumpfen Neugierde. Einige junge Frauen näherten sich ihm unter dem Vorwand, beim Spiel zuzusehen, und betrachteten ihn, obwohl verstohlen, mit so eigentümlichen Blicken, daß der alte Junggeselle schließlich glaubte, etwas an seiner Toilette versäumt zu haben. ›Sollte mein Toupet schief sitzen?‹ fragte er sich in der quälenden Unruhe, welche alte Junggesellen manchmal befällt. Er benutzte einen schlecht ausgespielten Zug, der einen siebenten ›Robber‹ beendete, um vom Tisch aufzustehen. »Ich kann keine Karte berühren, ohne zu verlieren!« sagte er. »Ich habe wirklich zu großes Pech!« »Sie sind zu glücklich an anderer Stelle«, versetzte ihm der Chevalier mit einem bedeutsamen Blick. Diese Antwort machte natürlich die Runde durch den Salon, und jeder war voll Bewunderung über den köstlichen Witz des Chevaliers, dieses Talleyrand von Alençon. »Niemand anders als Monsieur de Valois kann solche Sachen sagen«, meinte die Nichte des Pfarrers von Saint-Léonard. Du Bousquier betrachtete sich in dem kleinen länglichen Spiegel über dem ›Deserteur‹ und fand nichts Außergewöhnliches an sich. Nach unzähligen Wiederholungen des unendlich variierten Textes vollzog sich der Aufbruch um zehn Uhr, und die Gäste nahmen ihren Weg entlang der Garderobenablage durch das langgestreckte Vorzimmer. Einigen Bevorzugten gab Mademoiselle Cormon das Geleit bis auf die Vortreppe und um158
armte sie zum Abschied. Die einen gingen dem Schloß und der Straße nach der Bretagne zu, die andern begaben sich nach dem an der Sarthe gelegenen Stadtteil. Dann begannen die Gespräche, die auf diesem Wege zu dieser Stunde seit zwanzig Jahren geführt worden waren. Es hieß unfehlbar: »Mademoiselle Cormon sah heute abend gut aus.« - »Mademoiselle Cormon? ... Ich fand sie sonderbar.« - »Wie der gute Abbé alt wird! Haben Sie gesehen, wie er eingeschlafen ist. Er ist geistig abwesend, er weiß nicht, was er für Karten hat.« - »Wir werden ihn bald verlieren.« - »Es ist schön heut abend. Morgen wird ein schöner Tag sein.« - »»Ein schönes Wetter zum Abblühen der Apfelbäume.« - »Sie haben uns geschlagen; aber wenn Sie mit Monsieur de Valois zusammen sind, machen Sie immer solche Streiche.« - »Wieviel hat er denn gewonnen?« - »Heute abend hat er drei bis vier Francs gewonnen. Er verliert niemals.« »Ja, wahrhaftig! Wissen Sie, daß das Jahr dreihundertfünfundsechzig Tage hat und daß er in dieser Zeit so viel gewinnen kann, als ein Landgut kostet?« -»Oh, was haben wir heute abend für schlechte Kauen gehabt!« - »Sie haben es gut. Sie sind nun zu Hause; aber wir müssen noch durch die halbe Stadt.« »Ich bedauere Sie nicht, Sie könnten sich einen Wagen halten und brauchten nicht zu Fuß zu gehen.« - »Ach! ich bitte Sie, wir haben eine Tochter zu verheiraten, das nimmt dem Wagen gleich ein Rad. und der Unterhalt unseres Sohnes in Paris ein zweites.« - »Wollen Sie immer noch einen Magistratsbeamten aus ihm machen?« - »Was sollen die jungen Leute werden? ... Schließlich ist es doch keine Schande, dem König zu dienen.« Manchmal wurde unterwegs eine Unterhaltung über den Most oder den Flachs, immer mit denselben Wendungen und zu den entsprechenden Jahreszeiten geführt. Wenn ein Beobachter des menschlichen Herzens in dieser Straße gewohnt hätte, hätte er den Gesprächen nach immer wissen können, welcher Monat gerade war. Doch in diesem Moment waren die Gespräche rein 159
scherzhafter Natur, denn Du Bousquier, der allein vor den Gruppen herging, trällerte, ohne die Bezüglichkeit zu ahnen, die bekannte Melodie: ›Zarte Frau, vernimmst du das Gezwitscher ...‹ Für viele war Du Bousquier ein sehr fähiger Mensch, der falsch beurteilt wurde. Seitdem der Präsident du Ronceret auf seinem Posten durch eine neue königliche Institution bestätigt worden war, neigte er zu Du Bousquier. Für die andern war der Lieferant ein gefährlicher Mann von schlechten Sitten, der zu allem fähig war. In der Provinz wie in Paris gleichen die Männer in exponierter Stellung jener Statue der hübschen allegorischen Erzählung von Addison, um derentwillen sich zwei Ritter, die jeder von einer andern Seite zu dem Scheideweg gelangen, an dem sie sich erhebt, schlagen. Der eine sagt, sie sei weiß, der andere hält sie für schwarz; dann, als sie beide am Boden liegen, sehen sie, daß sie rechts weiß, links schwarz ist; ein dritter Ritter kommt ihnen zu Hilfe und findet sie rot. Als der Chevalier de Valois zu Hause angelangt war, sagte er sich: ›Es ist Zeit, das Gerücht meiner Verheiratung mit Mademoiselle Cormon zu verbreiten. Die Neuigkeit wird aus dem Salon der D’Esgrignons kommen, von dort nach Séez zu dem Bischof gelangen, durch die Großvikare dem Pfarrer von SaintLéonard zugebracht werden, der nicht verfehlen wird, sie dem Abbé Couturier mitzuteilen: So empfängt Mademoiselle Cormon den Schuß aus nächster Nähe. Der alte Marquis d’Esgrignon wird den Abbé de Sponde zum Diner einladen, um einem Klatsch Einhalt zu tun, der Mademoiselle Cormon nachteilig wäre, wenn ich mich gegen sie erklärte, mir, wenn sie mich ausschlüge. Der Abbé wird in eine regelrechte Klemme geraten. Mademoiselle Cormon wird gegen einen Besuch von Mademoiselle d'Esgrignon, die ihr die Bedeutung und den Glanz dieser Verbindung dartun wird, nicht standhalten können. Die Erbschaft vom Abbé beträgt mehr als hunderttausend Taler, die Ersparnisse des Mädchens dürften sich auf mehr als 160
zweihunderttausend Livres belaufen; sie hat ihr Haus, Le Prebaudet und fünfzehntausend Livres Rente. Ein Wort zu meinem Freund, dem Comte de Fontaine, und ich werde Bürgermeister von Alençon, Abgeordneter; dann einmal auf den Sitzen der Rechten, werden wir zur Pairswürde gelangen, wenn wir nur rufen: ›Schluß der Debatte!‹ oder ›Zur Tagesordnung!‹ Madame Granson hatte nach ihrer Rückkehr eine lebhafte Auseinandersetzung mit ihrem Sohn, der nicht verstehen wollte, was seine Anschauungen mit seiner Liebe zu tun hätten. Es war der erste Streit, der die Harmonie dieses kleinen Haushalts störte. Am nächsten Morgen, um neun Uhr, fuhr Mademoiselle Cormon, mit Josette in ihre Kutsche gepackt, wie eine Pyramide über dem Chaos ihrer Gepäckstücke emporragend, die Rue Saint-Blaise hinauf, auf Le Prebaudet zu, wo das Ereignis sie überraschen sollte, das ihre Heirat beschleunigte und das weder Madame Granson, noch Du Bousquier, noch Monsieur de Valois, noch Mademoiselle Cormon voraussehen konnte. Der Zufall ist der größte Zauberer. Am Tage nach ihrer Ankunft in Le Prebaudet war Mademoiselle Cormon um acht Uhr morgens während ihres Frühstücks in aller Ahnungslosigkeit damit beschäftigt, die verschiedenen Berichte ihres Aufsehers und ihres Gärtners entgegenzunehmen, als Jacquelin ins Zimmer stürzte. »Mademoiselle«, rief er ganz außer Fassung, »Ihr Monsieur Onkel schickt einen Eilboten, den Sohn der Mutter Grosmort, mit einem Brief. Der Junge ist vor Tag von Alençon fort, und da ist er schon. Er ist gerannt wie Penelope. Soll man ihm ein Glas Wein geben?« 161
»Was ist geschehen, Josette? Sollte mein Onkel... ?« »Da könnte er doch nicht schreiben«, meinte die Dienerin, die die Befürchtungen ihrer Herrin erriet. »Schnell, schnell!« rief Mademoiselle Cormon, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, »Jacquelin soll Penelope anspannen! Richte dich so ein, daß du in einer halben Stunde alles eingepackt hast«, sagte sie zu Josette, »wir kehren in die Stadt zurück ...« »Jacquelin!« schrie Josette, die von der Aufregung, die sich im Gesicht der Mademoiselle malte, angesteckt worden war. Jacquelin, den Josette schon instruiert hatte, kam herbei und sagte: »Aber Mademoiselle, Penelope frißt ihren Hafer.« »Nun, was geht mich das an? Ich will sofort abfahren.« »Aber Mademoiselle, es wird regnen!« »Dann werden wir eben naß.« »Es brennt«, brummte Josette, ärgerlich über das Stillschweigen, das Mademoiselle beibehielt, während sie den Brief wieder und wieder las. »Trinken Sie doch wenigstens Ihren Kaffee aus, lassen Sie sich nicht das Blut zu Kopf steigen, Sie sind ganz rot.« »Ich bin wirklich rot, Josette!« sagte sie, als sie sich in einem Spiegel betrachtete, von dem das Stanniol abfiel und der ihre Züge doppelt verzerrt wiedergab. »Mein Gott, wenn ich häßlich würde!« dachte Mademoiselle Cormon. »Komm, Josette, 162
komm, mein Kind, kleide mich an! Ich will fertig sein, bevor Jacquelin Penelope angespannt hat. Wenn du mein Gepäck nicht so rasch aufladen kannst, lasse ich es hier, lieber, als daß ich Zeit verliere!« Wenn der Leser begriffen hat, bis zu welchem Grade der krankhafte Wunsch, sich zu verheiraten, in Mademoiselle Cormon gediehen war, wird er ihre Aufregung teilen. Der würdige Onkel teilte seiner Nichte mit, daß Monsieur de Troisville» ehemaliger Offizier in russischen Diensten, Enkel eines seiner besten Freunde, wünsche, sich nach Alençon zurückzuziehen, und ihn, eingedenk der Freundschaft, die der Abbé seinem Großvater, dem Vicomte de Troisville, Eskadronchef unter Ludwig XV., entgegengebracht hatte, um seine Gastfreundschaft bäte. Der alte Generalvikar, in größter Verlegenheit, ersuchte seine Nichte inständig, zurückzukehren und ihm zu helfen, ihren Gast zu empfangen und die Honneurs des Hauses zu machen, denn der Brief hatte sich verspätet, Monsieur de Troisville konnte ihnen schon am Abend über den Hals kommen. Konnte nach Lesen dieses Briefes noch die Sorge für Le Prebaudet in Frage kommen? Der Aufseher und der Pächter, die die Erregtheit ihrer Herrin mit ansahen, verhielten sich ruhig und erwarteten ihre Befehle. Beim Hinausgehen hielten sie sie an, um ihre Aufträge zu erfahren, aber zum erstenmal in ihrem Leben antwortete ihnen Mademoiselle Cormon, die despotische alte Jungfer, die alles selbst beaufsichtigte: »Macht, was ihr wollt!«, was sie vor Verwunderung ganz starr machte; denn ihre Herrin pflegte sonst die Aufsicht so weit zu treiben, daß sie die Früchte zählte und sie sortenweise in ein Buch eintrug, um den Verbrauch jeder Sorte nach der entsprechenden Anzahl kontrollieren zu können.
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»Ich glaube zu träumen«, sagte Josette, als sie ihre Herrin wie einen Elefanten, dem Gott Flügel gegeben hatte, die Treppe hinunterfliegen sah. Bald verließ Mademoiselle trotz strömenden Regens Le Prebaudet und überließ ihre Leute sich selbst. Jacquelin wagte es nicht, den gewöhnlich langsamen Trott der gemächlichen Penelope, die, ähnlich der schönen Königin, deren Namen sie trug, ebensoviele Schritte rückwärts als vorwärts zu machen schien, anzutreiben. Doch als sie dies bemerkte, befahl Mademoiselle Jacquelin mit spitzer Stimme, die arme, ahnungslose Stute, wenn nötig, mit Peitschenhieben zum Galopp zu bringen; so sehr war sie in Angst, daß sie das Haus zum Empfang Monsieur de Troisvilles nicht rechtzeitig standesgemäß in Ordnung bringen könnte. Sie rechnete sich aus, daß der Enkel eines Freundes ihres Onkels nicht älter als vierzig Jahre sein könne; ein Offizier mußte unfehlbar unverheiratet sein; sie nahm sich also vor, Monsieur de Troisville mit Hilfe ihres Onkels nicht in demselben Zustand, in dem er hereingekommen war, aus ihrem Haus hinauszulassen. Obwohl Penelope im Galopp lief, rief Mademoiselle Cormon, die von ihren Toiletten und der Hochzeitsnacht träumte, mehrmals Jacquelin zu, sie kämen nicht vom Fleck, Sie rückte in ihrer Kutsche hin und her, ohne auf Josettes Fragen zu antworten, und sprach mit sich selbst, wie jemand, der große Pläne im Kopf herumwälzt. Endlich bog die Kutsche von der Seite von Mortagne in die Hauptstraße von Alençon ein, die Rue Saint-Blaise genannt wird; gegen das Hôtel du More zu nimmt sie den Namen Rue de la Porte de Séez an und wird die Rue du Bercail, wo sie auf die Landstraße nach der Bretagne mündet. Wenn die Abreise von Mademoiselle Cormon in Alençon schon Aufsehen erregte, so kann man sich denken, welchen Tumult ihre Rückkehr am Tage nach ihrer Ankunft in Le Prebaudet, bei strömendem Regen, der ihr ins Gesicht peitschte, ohne daß sie es zu beachten schien, ver164
ursachte. Jedermann bemerkte den wahnsinnigen Galopp Penelopes, die verschmitzte Miene Jacquelins, die frühe Stunde, das Drunter und Drüber der Gepäckstücke, schließlich die lebhafte Unterhaltung Josettes und Mademoiselle Cormons, vor allem ihre Ungeduld. Die Besitzungen des Hauses Troisville lagen zwischen Alençon und Mortagne. Josette kannte die verschiedenen Zweige der Familie Troisville. Ein Wort, das Mademoiselle geäußert hatte, als sie das Pflaster von Alençon erreichten, hatte Josette eingeweiht; die Unterhaltung hatte sich zwischen ihnen entsponnen, und beide hatten festgestellt, daß der erwartete Monsieur de Troisville ein Edelmann zwischen vierzig und zweiundvierzig Jahren, Junggeselle und weder reich noch arm sein müsse, Mademoiselle Cormon sah sich schon als Vicomtesse de Troisville. ›Und mein Onkel sagte mir nichts, weiß nichts, kümmert sich um nichts! ... Oh, das sieht ihm recht ähnlich! Er würde seine Nase vergessen, wenn sie ihm nicht im Gesicht angewachsen wäre!‹ Hat man nicht beobachtet, daß unter solchen Umständen die alten Jungfern, wie Richard III. geistreich, wild, kühn, großsprecherisch werden und, wie betrunkene Schreiber, vor nichts mehr zurückschrecken? Die Stadt Alençon, in der sich die Nachricht von der eiligen, durch ernste Umstände herbeigeführten Rückkehr sofort von der Rue Saint-Blaise bis zur Porte de Séez verbreitete, war in all ihren öffentlichen und häuslichen Funktionen gestört. Die Köchinnen, die Kaufleute, die Passanten erzählten sich die Neuigkeit von Tür zu Tür; dann gelangte sie in die obere Region. Die Worte: ›Mademoiselle Cormon ist zurückgekommen‹ platzten wie eine Bombe in jede Häuslichkeit hinein. Nunmehr verließ Jacquelin seinen Sitz vorn auf der Halbkutsche, den er durch ein Verfahren, das die Tischler nicht kannten, poliert hatte; er öffnete selbst die große 165
grüne, oben runde Tür, die wie zum Zeichen der Trauer geschlossen war, denn in Mademoiselle Cormons Abwesenheit fanden die Zusammenkünfte nicht statt. Die Getreuen bewirteten dann der Reihe nach den Abbé de Sponde, und Monsieur de Valois revanchierte sich, indem er ihn zum Marquis d'Esgrignon einlud. Jacquelin rief Penelope, die er mitten auf der Straße hatte stehenlassen, mit vertraulichem Ton; das Pferd, das daran gewöhnt war, drehte sich von selbst um, ging durch die Tür und wich im Hof aus, um das Blumenbeet nicht zu beschädigen. Jacquelin nahm es am Zügel und schob den Wagen vor die Treppe. »Mariette!« rief Mademoiselle Cormon. »Mademoiselle?« gab Mariette zurück, die dabei war, die Einfahrtstür zu schließen. »Der Vicomte ist noch nicht gekommen?« »Nein, Mademoiselle.« »Und mein Onkel?« »Ist in der Kirche, Mademoiselle.« Jacquelin und Josette standen auf der untersten Stufe der Vortreppe und streckten die Hände aus, um ihrer Herrin, die aus der Halbkutsche herausgekommen war und sich auf dem Gestell aufrichtete, wobei sie sich an den Vorhängen festhielt, behilflich zu sein, Mademoiselle warf sich in ihre Arme; denn seit zwei Jahren wollte sie es nicht mehr riskieren, sich des eisernen Wagentritts, der mit doppelten Ringen und dazu noch mit großen Bolzen überaus solid in dem Gestell befestigt war,
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zu bedienen. Als Mademoiselle Cormon oben auf der Treppe stand, überblickte sie ihren Hof mit zufriedener Miene. »Los, los, Mariette, lassen Sie die Tür und kommen Sie her!« »Der Teufel ist los!« sagte Jacquelin zu Mariette, als die Köchin an der Kutsche vorbeikam. »Laß mal hören, mein Kind, was für Vorräte hast du?« fragte Mademoiselle Cormon, die sich, wie erschöpft vor Anstrengung, auf der Bank des Vorzimmers niedergelassen hatte. »Nichts habe ich!« sagte Mariette und stemmte die Arme in die Hüften, »Mademoiselle weiß doch, daß Monsieur l'Abbé in Ihrer Abwesenheit immer außer dem Hause speist. Gestern habe ich ihn bei Mademoiselle Armande abgeholt.« »Wo ist er denn?« »Monsieur l'Abbé? Er ist in der Kirche, er kommt erst um drei Uhr nach Hause.« »Er denkt doch an gar nichts, mein Onkel! Hätte er dir nicht sagen können, du sollst auf den Markt gehn? Geh, Mariette; wirf das Geld nicht hinaus aber spare an nichts, kaufe, was es Gutes, Besonderes und Delikates gibt! Erkundige dich bei der Postwagenhaltestelle, wie man Pasteten herbekommt! Ich will Krebse aus den Quellbächen, der Brillante. Wieviel Uhr ist es?« »Dreiviertel neun.« »Mein Gott, Mariette, verlier nicht die Zeit mit Schwatzen! Die Person, die mein Onkel erwartet, kann jeden Augenblick kom167
men. Wenn wir ihm ein Frühstück bereiten sollten, wären wir schön in Verlegenheit.« Mariette wendete sich zu der in Schweiß gebadeten Penelope und sah Jacquelin mit einem Blick an, der sagen wollte: ›Diesmal wird die Mademoiselle sicher einen am Wickel kriegen.‹ »Nun zu uns beiden, Josette«, fuhr die alte Jungfer fort, »wir müssen sehen, wo wir Monsieur de Troisville hinlegen können.« Mit welchem Genuß sie diesen Satz aussprach! Monsieur de Troisville (ausgesprochen Treville) ›hinlegen‹! Welche Ideenverbindung mit diesem Wort! Sie schwamm in den seligsten Hoffnungen. »Wollen Sie ihn in dem grünen Zimmer unterbringen?« »Dem des Bischofs? Nein, das ist zu nah neben meinem«, sagte Mademoiselle Cormon, »das geht wohl für Monseigneur, der ein heiliger Mann ist.« »Dann geben Sie ihm das Zimmer Ihres Onkels!« »Das ist so kahl, daß es unschicklich wäre.« »Ei, Mademoiselle, so schlagen Sie ihm doch ein Bett in Ihrem Boudoir auf! Da ist ja ein Kamin. Moreau wird in seinem Lager schon ein Bett ungefähr vom gleichen Stoff wie. die Tapete finden.« »Du hast recht, Josette, Lauf also hin zu Moreau; besprich mit ihm alles, was geschehen muß, ich erlaube es dir! Wenn das 168
Bett (das Bett des Monsieur de Troisville) heute abend heraufgeschafft werden kann, ohne daß Monsieur de Troisville es merkt, falls Monsieur de Troisville gerade ankommen sollte, während Moreau da ist, so ist es mir recht. Wenn Moreau es nicht übernimmt, dann lege ich Monsieur de Troisville in das grüne Zimmer, obwohl Monsieur de Troisville da sehr nahe bei mir wäre.« Josette ging; ihre Herrin rief sie zurück. »Laß Jacquelin zu Moreau gehn, erklär ihm alles!« rief sie mit schallender Stimme, die voll Entsetzen war. »Ich muß mich ja anziehn! Wenn Monsieur de Troisville mich überrascht! Und mein Onkel ist nicht da, ihn zu empfangen! ... Ach! mein Onkel, mein Onkel! ... Komm, Josette, hilf mir beim Ankleiden!« »Aber Penelope!« bemerkte Josette unklugerweise. Die Augen Mademoiselle Cormons sprühten zum erstenmal in ihrem Leben Funken. »Immer Penelope! Penelope hier, Penelope da! Ist denn Penelope die Herrin?« »Aber sie ist ganz in Schweiß und hat noch nicht ihren Hafer gefressen.« »So laß sie krepieren!« schrie Mademoiselle Cormon; ›wenn ich nur heirate‹, dachte sie. Als Josette dieses Wort hörte, das ihr wie ein Mord erschien, war sie einen Augenblick sprachlos; dann purzelte sie auf ein Zeichen, das ihre Herrin ihr machte, die Treppe hinunter. »Sie hat den Teufel im Leib, Jacquelin!« war das erste Wort Josettes. 169
So kam an diesem Tage alles zusammen, um den großen Theatercoup herbeizuführen, der über das Leben von Mademoiselle Cormon entschied. Die Stadt war schon ganz außer Rand und Band infolge der fünf erschwerenden Umstände, unter welchen die plötzliche Rückkehr Mademoiselle Cormons erfolgt war, nämlich: der strömende Regen, der Galopp der atemlosen Penelope, die, in Schweiß gebadet, mit eingezogenen Flanken dahertrabte; die frühe Stunde, das übereinandergeworfene Gepäck und das sonderbare, fassungslose Aussehen Mademoiselles. Doch als Mariette auf den Markt kam, um alles einzuholen, als Jacquelin zu dem ersten Tapezierer Alençons, Rue de la Porte de Séez, zwei Schritte von der Kirche entfernt, kam, um dort ein Bett zu holen, knüpften sich daran die schwerwiegendsten Vermutungen. Man besprach dieses merkwürdige Vorkommnis auf dem Korso, auf der Promenade; es beschäftigte die ganze Stadt, selbst Mademoiselle Armande, bei der sich der Chevalier de Valois befand. Zwei Tage lang war die Stadt Alençon von diesen kapitalen Ereignissen auf den Kopf gestellt, so daß ein paar alte Frauen untereinander sagten: »Das ist ja das Ende der Welt,« In allen Häusern hieß es: »Was ist denn bei den Cormons los?« Der Abbé de Sponde, den man geradezu ausfragte, als er aus Saint-Léonard kam und sich zu einem Spaziergang auf dem Korso mit dem Abbé Couturier begab, antwortete in seiner gutmütigen Art, daß er den Vicomte de Troisville erwarte, einen Edelmann, der während der Emigration in russischen Diensten gestanden habe und jetzt nach Alençon ziehen wolle. Von zwei bis fünf Uhr lief in der Stadt ein mündlicher Telegraph und teilte allen Bewohnern mit, daß Mademoiselle Cormon endlich einen passenden Gatten gefunden habe und daß sie den Vicomte de Troisville heiraten würde. Hier sagte man: »Moreau macht schon das Bett.« Dort war das Bett sechs Fuß lang. Bei Madame Granson in der Rue de Bercail war das Bett vier Fuß lang. Bei Du Ronceret, wo Du Bousquier dinierte, war es nur ein einfaches Ruhebett. 170
Unter den kleinen Bürgersleuten behauptete man, daß es elfhundert Francs koste. Allgemein hieß es; man solle den Tag nicht vor dem Abend loben. Ein Stück weiter weg wurde gesagt, die Karpfen seien teiltet geworden, Mariette habe sich auf den Markt gestürzt und alles ausgeplündert. Oben in der Rue Saint-Blaise wurde erzählt. Penelope sei krepiert. Dieser Todesfall wurde bei dem Obersteuereinnehmer in Zweifel gezogen. Auf der Präfektur jedoch stand fest, daß das Tier vor dem Tor des Hauses Cormon seinen Geist aufgegeben habe, so rasend sei Mademoiselle auf ihre Beute losgefahren. Der Sattler, der an der Ecke der Rue de Séez wohnte, war kühn genug, fragen zu kommen, ob an dem Wagen etwas passiert sei, um dabei zu hören, ob Penelope draufgegangen wäre. Von dem oberen Ende der Rue Saint-Blaise bis zum untern Ende der Rue du Bercail erfuhr man, daß Penelope, das schweigende Opfer der Raserei seiner Herrin, dank der Sorgfalt Jacquelins noch lebe, daß sie aber in einem schlimmen Zustand sei. Auf der ganzen Bretagner Straße war der Vicomte de Troisville ein Letztgeborener ohne Sou, denn die Besitzungen des Perche gehörten dem Marquis de Troisville, Pair von Frankreich, der zwei Kinder hatte. Diese Heirat war ein großes Glück für den armen Emigranten, der Vicomte war für Mademoiselle Cormon wie geschaffen; die Aristokratie der Bretagner Straße billigte diese Heirat, das alte Mädchen konnte sein Vermögen nicht besser verwenden. Jedoch in der Bourgeoisie war der Vicomte de Troisville ein russischer General, der gegen Frankreich gekämpft hatte und mit einem großen Vermögen, das er am Hofe von St. Petersburg erlangt hatte, zurückkam; er war ein ›Ausländer‹, einer von den Alliierten, die von den Liberalen gehaßt wurden. Der Abbé de Sponde hatte diese Heirat heimlich vermittelt. Alle, die das Recht hatten, bei Mademoiselle Cormon aus und ein zu gehn wie bei sich selbst, nahmen sich vor, sie am Abend zu besuchen. Während dieser die ganze Stadt durchzitternden Erregung, die Suzanne fast in Vergessenheit geraten 171
ließ, war Mademoiselle Cormon nicht weniger in Unruhe; sie wurde von ganz neuen Gefühlen bestürmt. Als sie ihren Salon, ihr Boudoir, das Kabinett, den Speisesaal mit ihren Blicken prüfte, befiel sie eine unbekannte Angst. Eine Art böser Geist wollte ihr diese altgewohnte Pracht verhöhnen; die schönen Sachen, die sie seit ihrer Kindheit bewundert hatte, wurden mit Mißtrauen angesehen, kamen ihr auf einmal alt und abgenutzt vor. Kurzum, es bemächtigte sich ihrer die Furcht, wie sie über die Autoren kommt, die einem anspruchsvollen oder blasierten Kritiker das Werk vorlesen, das sie für vollkommen gehalten haben. Die Situationen scheinen althergebracht; die vorzüglichsten Wendungen werden hinkend und schief; die Bilder verzerren oder widersprechen sich, das Falsche springt ins Auge. So zitterte auch das arme Mädchen davor, auf den Lippen des Monsieur de Troisville ein Lächeln der Verachtung für diesen Salon eines Bischofs zu sehn; sie fürchtete, er könne einen kalten Blick auf diesen altertümlichen Speisesaal werfen; kurzum, sie war bange, daß der Rahmen das Bild alt erscheinen lassen könne. Wenn diese Antiquitäten einen Widerschein des Alters auf sie würfen? Diese Frage, die sie sich vorlegte, verursachte ihr eine Gänsehaut. In diesem Augenblick hätte sie den vierten Teil ihres Vermögens hingegeben, wenn sie ihr Haus dadurch im Handumdrehen, mit einem Zauberstab hätte verwandeln können. Welcher General hat am Vorabend einer Schlacht nicht einen Schauder empfunden?' Die Arme stand zwischen einem Austerlitz und einem Waterloo. ›Madame la Vicomtesse de Troisville‹, sagte sie sich, ›wie schön das klingt! Unser Reichtum käme wenigstens in ein gutes Haus.‹ Sie befand sich in solch gereiztem Zustand, daß die feinsten Fasern ihres Nervensystems und der Papillen, die so lange unter der Fleischesfülle vergraben und wie taub gewesen waren, 172
erzitterten. All ihr Blut war, von der Erwartung aufgepeitscht, in Wallung. Sie fühlte die Kraft in sich, wenn es erforderlich wäre, mit Monsieur de Troisville ein Gespräch zu führen. Es ist überflüssig, von dem Eifer zu reden, mit dem sich Josette, Jacquelin, Mariette, Moreau und seine Gesellen betätigten. Es war die Geschäftigkeit von Ameisen, die um ihre Eier bemüht sind. Alles, was durch tägliche Sorgfalt so sauber war, wurde gescheuert, gebürstet, gewaschen, gebügelt. Das Geschirr, das nur bei festlichen Gelegenheiten gebraucht wurde, kam ans Tageslicht. Die damastenen, mit A, B, C, D numerierten Servietten wurden aus den Tiefen der Schränke, wo sie in einer dreifachen, mit fürchterlichen Stecknadelreihen versehenen Umhüllung lagen, hervorgeholt. Die kostbarsten Regale der »Bibliothek« wurden inspiziert. Mademoiselle opferte drei Flaschen der famosen Liköre von Madame Amphoux, der berühmtesten Destilliererin von jenseits des Meeres, eine Marke, die den Kennern teuer war. Dank der Opferbereitschaft ihrer Offiziere konnte sich Mademoiselle in den Kampf wagen. Die verschiedenen Waffen, die Möbel, die Küchengeschützwerke, das Rüstzeug der Speisekammer, die Lebensmittel, die Munition, die Reservekorps waren auf der ganzen Linie bereit. Jacquelin, Mariette und Josette erhielten den Befehl, sich in Gala zu werfen. Der Garten wurde geharkt. Das alte Mädchen bedauerte, daß es sich nicht mit den Nachtigallen im Garten ins Einvernehmen setzen konnte, damit sie ihre schönsten Triller zum besten gäben. Schließlich, um vier Uhr, um die Stunde, da der Abbé de Sponde nach Hause kam, wo Mademoiselle schon glaubte, daß sie umsonst ihr kokettestes Gedeck aufgelegt, ihr leckerstes Mahl bereitet hätte, ließ sich in Le Val-Noble das Horn eines Postillions vernehmen. »Er ist's!« sagte sie sich und empfand die Peitschenhiebe in ihrem Herzen.
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In der Tat hatte, durch so vielen Klatsch angekündigt, ein Kabriolett mit Postpferden, in dem ein einzelner Herr saß, solches Aufsehen gemacht, als es durch die Rue Saint-Blaise fuhr und in die Rue du Cours einbog, daß ein paar Schlingel und einige Erwachsene ihm gefolgt waren und vor der Tür des Hauses Cormon stehenblieben, um es einfahren zu sehn. Jacquelin, der seine eigene Heirat witterte, hatte das Posthorn in der Rue Saint-Blaise gehört und beide Torflügel geöffnet. Der Postillion, den er kannte, setzte seinen Stolz darein, gut anzufahren, und hielt gerade vor der Freitreppe. Es ist selbstverständlich, daß Jacquelin für einen tüchtigen Rausch des Postillions sorgte. Der Abbé ging seinem Gast entgegen, und mit einer Behendigkeit, wie sie Diebe nicht größer hätten entfalten können, wurde der Wagen seines Inhalts beraubt. Er kam in den Schuppen, das Tor wurde geschlossen, und jede Spur von der Ankunft Monsieur de Troisvilles war in wenigen Minuten weggewischt. Zwei chemische Substanzen können sich nicht rascher miteinander verbinden, als das Haus Cormon den Vicomte de Troisville in sich aufnahm. Mademoiselle, deren Herz wie das einer Eidechse, die ein Hirtenjunge eingefangen hat, schlug, blieb heroisch in ihrer Bergère neben dem Kamin sitzen. Josette öffnete die Tür, und der Vicomte de Troisville, von dem Abbé de Sponde gefolgt, zeigte sich den Blicken der Jungfer. »Liebe Nichte, dies ist Monsieur le Vicomte de Troisville, der Enkel eines Studienfreundes von mir. Monsieur de Troisville, das ist meine Nichte, Mademoiselle Cormon.« ›Oh, der gute Onkel, wie er die Sache gleich so gut anfaßt‹, dachte Rose-Marie-Victoire. Der Vicomte war, um ihn mit zwei Worten zu schildern, ein Du Bousquier als Edelmann. Der ganze Unterschied, der die gewöhnliche Art von der vornehmen Art trennt, lag zwischen 174
ihnen. Wenn sie beide zusammen dagewesen wären, hätte selbst der eingefleischteste Liberale nicht die Aristokratie leugnen können. Die Kraft des Vicomte war von Eleganz geadelt; in seinen Körperformen prägte sich Würde aus; er hatte blaue Augen und schwarze Haare, einen olivfarbenen Teint und konnte nicht älter sein als sechsundvierzig Jahre. Er war wie ein schöner Spanier, der sich in dem Eise Rußlands gut konserviert hatte. Die Manieren, der Gang, die Haltung, alles verriet den Diplomaten, der Europa kennengelernt hatte. Er war gekleidet wie ein vornehmer Mann auf Reisen. Monsieur de Troisville schien müde zu sein, der Abbé bot ihm an, ihn in das für ihn bestimmte Zimmer zu geleiten, und war ganz verdutzt, als seine Nichte das in ein Schlafzimmer verwandelte Boudoir öffnete. Mademoiselle Cormon und ihr Onkel überließen den noblen Fremden dann seinen Obliegenheiten, bei denen ihm Jacquelin, der das benötigte Gepäck herbeischaffte, behilflich war. Der Abbé de Sponde und seine Nichte machten einen Spaziergang längs der Brillante, um sich die Zeit zu verkürzen, bis Monsieur de Troisville seine Toilette beendet haben würde. Obwohl der Abbé de Sponde durch einen sonderbaren Zufall zerstreuter war als sonst, so war seine Nichte nicht minder mit ihren Gedanken beschäftigt. Beide gingen schweigend dahin. Niemals hatte die alte Jungfer einen so hinreißenden Mann gesehen wie diesen olympischen Vicomte. Sie konnte sich nicht, nach Art einer Deutschen, sagen: »Das ist mein Ideal!« Aber sie war vom Kopf bis zu den Füßen hingerissen und sagte sich: »Das ist etwas für mich!« Plötzlich schoß sie in die Küche, um zu sehen, ob das Diner einen Aufschub erleiden könne, ohne von seiner Güte einzubüßen. »Dieser Monsieur de Troisville ist sehr liebenswürdig, Onkel«, sagte sie, als sie wiederkehrte.
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»Er hat doch noch gar nichts gesagt, mein Kind«, gab ihr der Abbé lachend zur Antwort. »Aber man sieht das an seinem Auftreten, an seiner Physiognomie. Ist er unverheiratet?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Abbé, der an ein bewegtes Gespräch mit dem Abbé Couturier über die Gnade dachte; »Monsieur de Troisville hat mir geschrieben, daß er hier ein Haus kaufen möchte. Wenn er verheiratet wäre, würde er wohl nicht allein gekommen sein«, warf er sorglos hin, denn es fiel ihm nicht ein, daß seine Nichte den Wunsch haben könne, sich zu verheiraten. »Ist er reich?« »Er ist der Jüngste eines jüngeren Zweiges«, erwiderte der Onkel; »sein Großvater hat Schwadronen kommandiert; aber der Vater dieses jungen Mannes hat sich schlecht verheiratet.« »Dieser junge Mann!« hauchte die alte Jungfer; »aber mir scheint, Onkel, daß er gut fünfundvierzig Jahre alt ist«, sagte sie, denn sie empfand ein ausgesprochenes Verlangen, ihrer beider Alter in Beziehung zueinander zu bringen. »Ja«, meinte der Abbé, »aber einem armen Priester von siebzig Jahren erscheint ein Vierziger jung.« In ganz Alençon wußte man nun schon, daß der Vicomte de Troisville bei Mademoiselle Cormon angelangt war. Der Fremde gesellte sich bald zu seinen Wirten und bewunderte den Anblick der Brillante, den Garten und das Haus.
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»Es wäre mein sehnlichster Wunsch, Monsieur l'Abbé, ein Haus wie dieses zu finden.« Die Jungfer wollte eine Erklärung darin erblicken und schlug die Augen nieder. -»Sie müssen es sehr lieben, Mademoiselle«, sagte der Vicomte. »Wie sollte ich es nicht lieben! Es ist seit dem Jahre 1574 in unserer Familie. Um jene Zeit erwarb einer unserer Vorfahren, der Intendant des Duc d'Alençon, das Grundstück und, erbaute es«, gab Mademoiselle Cormon zur Antwort. »Es ist auf Grundpfählen erbaut.« Da Jacquelin meldete, daß serviert sei, reichte Monsieur de Troisville dem glücklichen Mädchen seinen Arm; doch war sie bemüht, sich nicht zu sehr darauf zu stützen, damit es nicht den Anschein habe, als käme sie ihm entgegen. »Alles ist sehr harmonisch hier«, äußerte sich der Vicomte, als man Platz nahm. »Unsere Bäume sind voller Vögel, die uns umsonst Musik machen; niemand stört sie, und jede Nacht singt die Nachtigall«, flötete Mademoiselle Cormon. »Ich. meine das Innere des Hauses«, bemerkte der Vicomte, der sich nicht die Mühe nahm, Mademoiselle Cormon zu studieren, und ihre Geistesarmut nicht erkannte, »ja, alles ist im Einklang, wie berechnet, die Farbtöne, die Möbel, der Charakter.« »Es kostet uns aber auch ein Stück Geld, die Abgaben sind enorm«, erwiderte die gute Mademoiselle. die das Wort ›berechnet‹ auffing,
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»So! Die Abgaben sind hoch hier?« fragte der Vicomte, der zerstreut war und das ungereimte Zeug nicht beachtete. »Ich weiß nicht«, sagte der Abbé; »meine Nichte verwaltet unser beider Vermögen.« »Die Abgaben sind eine Lappalie für reiche Leute«, versetzte Mademoiselle Cormon, die nicht für geizig gelten wollte; »was die Möbel angeht, so lasse ich sie, wie sie sind, und ändere nichts. Es sei denn, daß ich mich verheitatete; dann soll alles hier nach dem Geschmack des Hausherrn gerichtet werden.« »Sie haben vortreffliche Grundsätze, Mademoiselle«, meinte lächelnd der Vicomte. »Sie werden einen Mann glücklich machen ...« ›Noch nie hat mir jemand etwas so Schönes gesagt‹, dachte Mademoiselle. Der Vicomte machte Mademoiselle Cormon Komplimente über das Tafelservice, die Führung des Hauses und bekannte, daß er die Provinz für rückständig gehalten habe; er finde sie jedoch ›sehr komfortabel‹. ›Was ist das für ein Wort, mein Gott‹, ging es ihr durch den Kopf; ›wäre doch der Chevalier da, um darauf zu antworten. Kom-for-tabel! Sind das mehrere Wörter? Mut!‹ sagte sie sich, ›es ist vielleicht ein russisches Wort, ich brauche nicht darauf zu antworten ...‹ - »Aber«, fing sie laut an, denn wie bei allen menschlichen Wesen in entscheidenden Momenten löste sich auch ihr die Zunge, »wir haben hier die glänzendste Gesellschaft, Monsieur. Die Zusammenkünfte der Stadt sind übrigens stets bei mir. Sie werden gleich selbst sehen, denn einige unserer Freunde haben sicher von meiner Rückkehr gehört und 178
werden mich besuchen wollen. Da ist der Chevalier de Valois, ein Edelmann des vormaligen Hofes, der ungemein viel Geist und Geschmack besitzt; dann der Marquis d'Esgrignon und Mademoiselle Armande, seine Schwester« (sie besann sich eines Besseren und biß sich auf die Lippen) »... eine in ihrer Art bemerkenswerte Dame«, fügte sie hinzu, »Sie wollte unvermählt bleiben, um ihr Vermögen ihrem Bruder und ihrem Neffen zu hinterlassen.« »Ah!« ließ sich der Vicomte hören; »ja, die d'Esgrignon, ich erinnere mich ihrer.« »Alençon ist sehr lustig«, fing Mademoiselle wieder an, die in Schwung gekommen war, »man amüsiert sich hier vortrefflich. Der Obersteuereinnehmer gibt Bälle, der Präfekt ist ein liebenswürdiger Mann, Monseigneur, der Bischof, beehrt uns manchmal mit seinem Besuch ...« »Nun«, sagte der Vicomte lächelnd, »ich habe gut daran getan, zurückzukommen und, wie der Hase, im Lager zu sterben.« »Ja, ich bin auch wie ein Hase«, stimmte die alte Jungfer ein, »ich sterbe da, wo ich hingehöre.« Der Vicomte hielt das so wiedergegebene Sprichwort für einen Scherz und lächelte. »Ei!« dachte das alte Mädchen, »alles geht gut, dieser hier versteht mich.« Die Unterhaltung bewegte sich in Allgemeinheiten. Kraft einer geheimnisvollen, unbekannten und unerklärlichen Macht fand Mademoiselle Cormon, im Drange liebenswert zu erscheinen, in ihrem Hirn alle Redewendungen des Chevaliers de Valois. 179
Es war wie in einem Duell, in dem der Teufel selbst die Pistole anzulegen schien, Niemals wurde besser auf einen Gegner gezielt. Der Vicomte de Troisville war zu taktvoll, um von der Vortrefflichkeit des Diners zu sprechen. Doch sein Schweigen war ein Lob. In den köstlichen Weinen,. die ihm Jacquelin verschwenderisch kredenzte, glaubte er Freunde wiederzuerkennen, die er mit lebhafter Freude wiedersah; und der wirkliche Kenner gibt seinen Beifall nicht laut kund: er genießt. Er erkundigte sich wißbegierig nach dem Preis der Grundstücke, der Häuser, der Baustellen. Er ließ sich von Mademoiselle Cormon lang und breit die Stelle beschreiben, wo die Brillante und die Sarthe zusammenfließen. Er wunderte sich, daß sich die Stadt so weit von dem Fluß entfernt hingesetzt habe; die Topographie des Landes interessierte ihn sehr. Der schweigsame Abbé ließ seine Nichte das große Wort führen. In der Tat glaubte Mademoiselle Cormon den Vicomte eingefangen zu haben; er lächelte ihr gewinnend zu und knüpfte während dieses Diners festere Bande, als die eifrigsten Freier es in vierzehn Tagen zuwege gebracht hatten. So können Sie sich vorstellen, daß nie zuvor ein Gast mit kleinen Handreichungen so verwöhnt, mit Aufmerksamkeiten so überhäuft wurde. Es war, als wäre ein teurer Liebhaber in die Häuslichkeit, deren Glück er ausmacht, zurückgekehrt, Mademoiselle erriet den Moment, da der Fremde Brot begehrte. Sie ließ kein Auge von ihm; wenn er den Kopf wandte, legte sie ihm geschickt das Gericht noch einmal auf, das ihm zu schmecken schien; sie hätte ihn zu Tode gefüttert, wenn er gefräßig gewesen wäre. Sie wollte auf liebliche Art zeigen, wessen sie in der Liebe fähig war! Sie war nicht so dumm, sich in den Schatten zu stellen, sie ließ tapfer alle Segel flattern, hißte alle Flaggen, präsentierte sich als die Königin von Alençon und rühmte ihre eingemachten Früchte. Sie sprach von sich, fischte nach Komplimenten, als ob sie ihre eigene Posaune wäre. Sie sah, daß sie dem Vicomte gefiel, denn ihr Begehren hatte sie so verwandelt, daß sie fast Frau 180
geworden war. Beim Dessert hörte sie, nicht ohne inneres Entzücken, das Hin und Her im Vorzimmer und die Geräusche im Salon, welche die üblichen Besucher ankündigten. Sie stellte diesen Eifer ihrem Onkel und dem Vicomte de Troisville als einen Beweis der Zuneigung dar, die man für sie hegte, während es nur die Wirkung der unwiderstehlichen Neugier war, die die Stadt ergriffen hatte. Voller Ungeduld, sich in ihrem Glanz zu zeigen, hieß Mademoiselle Cormon Jacquelin den Kaffee und die Liköre im Salon servieren, und der Diener machte sich daran, die Pracht eines Meißener Services, das nur zweimal im Jahr aus dein Schrank kam, vor der Elite der Gesellschaft zu entfalten. Alle diese Nebenumstände wurden natürlich von der Gesellschaft, die schon leise ihre Glossen tuschelte, bemerkt. »Teufel!« rief Du Bousquier, »lauter Liköre von Madame Amphoux, die sonst nur an hohen Festtagen hervorkommen!« »Das ist entschieden eine Heirat, die schon seit einem Jahr schriftlich vereinbart worden ist!« meinte der Präsident Du Ronceret. »Es laufen seit einem Jahr Briefe mit dem Poststempel Odessa beim Postdirektor ein.« Madame Granson schauderte zusammen. Der Chevalier de Valois, der, obwohl er für viere gegessen hatte, bis ihm die linke Partie seines Gesichts blaß wurde, fühlte, daß er im Begriff war, sein Geheimnis preiszugeben, und sagte: »Finden Sie es nicht kalt heute? Ich bin ganz erfroren.« »Das macht die Nachbarschaft Rußlands«, versetzte Du Bousquier. Der Chevalier sah ihn mit einer Miene an, die bedeutete: ›Gut gegeben.‹ 181
Mademoiselle Cormon sah so strahlend, so triumphierend aus, daß man sie schön fand. Dieses ungewöhnliche Aussehen kam nicht nur vom Gefühl; der ganze Strom ihres Blutes tobte in ihr seit dem Morgen, und ihre Nerven erzitterten unter der Vorahnung einer großen Krise; es bedurfte aller dieser Umstände, um sie sich selber so unähnlich zu machen. Mit welchem Wonnegefühl und welcher Feierlichkeit stellte sie nicht den Vicomte dem Chevalier, den Chevalier dem Vicomte, ganz Alençon Monsieur de Troisville, Monsieur de Troisville ganz Alençon vor. Erklärlicherweise fanden sich der Vicomte und der Chevalier, diese beiden aristokratischen Naturen, sofort; sie erkannten sich gegenseitig als der gleichen Sphäre angehörig und blieben plaudernd vor dem Kamin stehen. Ein Kreis bildete sich um sie, und man lauschte ihrer Unterhaltung, obwohl sotto voce geführt, mit andächtigem Schweigen. Um sich die Wirkung dieser Szene ausmalen zu können, stelle man sich Mademoiselle Cormon vor, wie sie, mit dem Rücken gegen den Kamin gekehrt, damit beschäftigt ist, den Kaffee ihres vermeintlichen Zukünftigen zu bereiten. Monsieur de Valois: »Monsieur le Vicomte, heißt es, hat die Absicht, sich hier niederzulassen?« Monsieur de Troisville: »Ja, ich suche hier ein Haus...« (Mademoiselle Cormon dreht sich um, mit der Tasse in der Hand.) »Und zwar ein großes, um ...« (Mademoiselle Cormon reicht die Tasse.) »meine Familie unterzubringen.« (Die Blicke Mademoiselles verdunkeln sich.) Monsieur de Valois: »Sie sind verheiratet?« Monsieur de Troisville: »Seit sechzehn Jahren mit der Tochter der Fürstin Scherbeloff.«
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Mademoiselle Cormon sank, wie vom Blitz getroffen, um. Du Bousquier, der sie taumeln sah, stürzte auf sie zu, fing sie in seinen Armen auf, und man öffnete die Tür, damit er unbehindert mit seiner Riesenlast hindurchgehen konnte. Der ungestüme Republikaner, von Josette beraten, fand die Kraft, die alte Jungfer in ihr Zimmer zu tragen, wo er sie aufs Bett niederlegte. Josette schnitt das übermäßig geschnürte Korsett mit der Schere auf. Du Bousquier sprengte ihr ohne viel Federlesens Wasser ins Gesicht und auf die Brust, die wie die über die Ufer getretene Loire herausquoll. Die Kranke öffnete die Augen, sah Du Bousquier, und die Scham beim Anblick dieses Mannes entlockte ihr einen Schrei. Du Bousquier zog sich zurück, und nach ihm traten sechs Frauen, unter Anführung von Madame Granson, die vor Freude strahlte, ins Zimmer. Und was hatte inzwischen der Chevalier de Valois getan? Er deckte treu seinem System den Rückzug. »Arme Mademoiselle Cormon«, sagte er zu Monsieur de Troisville und schaute auf die Versammlung, die sich unter dem Bann seiner aristokratischen Blicke das Lachen verhielt, »sie leidet so an Blutwallungen, sie wollte sich, bevor sie nach Le Prebaudet, ihrem Landgut, ging, zu keinem Aderlaß entschließen, und da hat sie es nun. Das macht der Frühling.« »Sie ist heute früh in den Regen gekommen«, meinte der Abbé de Sponde, »sie hat sich wahrscheinlich ein wenig erkältet, und das hat diesen Anfall, der manchmal kommt, herbeigeführt; aber es hat nichts zu bedeuten.« »Sie sagte mir vorgestern, daß sie ihn seit drei Monaten nicht gehabt hat, und meinte noch, er würde ihr einmal wieder einen bösen Streich spielen«, erläuterte der Chevalier weiter.
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›Ei sieh da, du bist verheiratet!‹ sagte Jacquelin insgeheim mit einem Blick auf Monsieur de Troisville, der in kleinen Schlückchen seinen Kaffee trank. Der treue Diener machte die Enttäuschung seiner Herrin zu seiner eigenen; er handelte in ihrem Sinne und trug die Liköre der Madame Amphoux, die dem Junggesellen und nicht dem Ehemann einer Russin angeboten worden waren, hinweg. All diese kleinen Einzelheiten wurden bemerkt und erweckten Heiterkeit. Der Abbé de Sponde kannte den Grund der Reise von Monsieur de Troisville; jedoch in seiner Zerstreutheit hatte er nichts davon gesagt, da er nicht annahm, daß seine Nichte Monsieur de Troisville das geringste Interesse entgegenbringen könne. Was den Vicomte angeht, so war er mit dem Zweck seiner Reise beschäftigt und hatte keine Veranlassung gehabt, sein Verheiratetsein zu erwähnen, da er, gleich vielen Männern, keinen Antrieb verspürte, von seiner Frau zu sprechen. Auch glaubte er, Mademoiselle Cormon sei unterrichtet. Du Bousquier trat wieder herein und wurde mit Fragen bestürmt. Die eine der sechs Damen kam herunter und meldete, daß es Mademoiselle Cormon besser gehe und daß ihr Arzt gekommen sei; aber sie müsse im Bett bleiben, es scheine nötig, sie zur Ader zu lassen. Der Salon war bald ganz gefüllt. Die Abwesenheit Mademoiselle Cormons gestattete den Damen, sich über die tragikomische Szene zu unterhalten, die ausgesprochen, kommentiert, ausgeschmückt, weitergedichtet, mit Zusätzen versehen, ausgemalt und verziert wurde und die verursachte, daß sich am folgenden Tage ganz Alençon mit Mademoiselle Cormon beschäftigte. »Dieser gute Monsieur Du Bousquier, wie er sie trug! Was für Fäuste!« sagte Josette zu ihrer Herrin, »Wahrhaftig, .er war ganz blaß vor Mitleid, er liebt Sie noch immer!«
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Dieser Satz beschloß den feierlichen und schrecklichen Tag. Am Tage darauf wurden während des ganzen Vormittags die geringsten Einzelheiten dieser Komödie .in allen Häusern Alençons zum besten gegeben und erregten – zur Schande dieser Stadt sei es gesagt - ein allgemeines Gelächter. Mademoiselle Cormon, der der Aderlaß sehr gut getan hatte, hätte jedoch an diesen Morgen die verwegensten Spötter einschüchtern müssen, wären sie Zeugen gewesen, mit welcher edlen Würde und wunderbaren christlichen Ergebung sie dem Mann, der sie so unfreiwillig hinters Licht geführt hatte, den Arm gab, um sich zum Frühstück führen zu lassen. Ihr grausamen Spötter hättet sie sehen müssen, wie sie zu dem Vicomte sagte: »Madame de Troisville wird hier schwerlich eine Wohnung finden, die ihr zusagt; erweisen Sie mir die Ehre, Monsieur, so lange in meinem Hause zu verweilen, bis Sie sich in der Stadt eine eingerichtet haben.« »Aber Mademoiselle, ich habe zwei Söhne und zwei Töchter, wir würden Sie sehr stören!« »Weisen Sie mich nicht ab!« erwiderte sie mit einem Blick, in dem Zerknirschung zu lesen war. »Ich habe es Ihnen in dem Brief, den ich Ihnen aufs Geratewohl schickte, schon angeboten«, sagte der Abbé, »aber Sie haben ihn nicht erhalten.« »Wie, Onkel, Sie wußten?...« Sie hielt inne. Josette seufzte. Weder der Vicomte de Troisville noch der Onkel bemerkten etwas. Nach dem Frühstück begleitete der Abbé de Sponde, wie sie am Abend vorher vereinbart hatten, den Vicomte in die Stadt, um ihm die Häuser zu zeigen, die er kaufen könne, oder die Plätze, die zum Bauen geeignet wären.
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Als sich Mademoiselle Cormon allein im Salon befand, sagte sie zu Josette mit kläglicher Miene: »Mein Kind, ich bin zu dieser Stunde das Gespött der ganzen Stadt.« »Nun, Mademoiselle, heiraten Sie!« »Ich bin aber gar nicht vorbereitet, eine Wahl zu treffen.« »Bah! Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, nähme ich Monsieur du Bousquier.« »Josette, Monsieur de Valois sagt, er sei solch ein Republikaner!« 128»Ach, Ihre Messieurs wissen nicht, was sie sagen. Sie behaupten ja, er habe die Republik bestohlen, also liebte er sie nicht!« gab Josette zur Antwort, ehe sie hinausging. ›Dieses Mädchen ist erstaunlich klug‹, dachte Mademoiselle Cormon, die, ihrer Ratlosigkeit überlassen, zurückblieb. Sie sah ein, daß eine rasche Heirat das einzige Mittel sei, um dem Gerede ein Ende zu machen, Diese letzte, so offenbar demütigende Schlappe war geeignet, sie zu einem äußersten Entschluß zu treiben, denn für den beschränkten Geist ist es schwer, den einmal betretenen guten oder bösen Pfad zu verlassen. Jeder der beiden Junggesellen hatte die Situation, in welcher sich die alte Jungfer befinden mußte, begriffen, und sie hatten sich beide vorgenommen, sich am Morgen nach ihrem Befinden zu erkundigen und im Junggesellenstil ›ihre Sache voranzutreiben‹. Monsieur de Valois fand, daß der Ernst der Situation eine peinliche Toilette erfordere; er nahm ein Bad und striegelte sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt, Zum erstenund letztenmal sah ihn Cesarine mit unglaublicher Geschick186
lichkeit eine Spur Rot auflegen. Du Bousquier, der grobschlächtige Republikaner, achtete seinerseits gar nicht auf seine Toilette. Er ging geradewegs auf sein Ziel los und erschien als erster. Solche Kleinigkeiten entscheiden über die Geschicke der Menschen wie über die der Nationen. Die Attacke Kellermanns bei Marengo, die Ankunft Blüchers bei Waterloo, die Verachtung Ludwigs XIV. für den Prinzen Eugen, der Pfarrer von Denain, alle diese großen Ursachen glücklicher Ereignisse und Katastrophen werden von der Geschichte verzeichnet; aber niemand zieht daraus die Lehre, in den kleinen Vorkommnissen des Lebens nichts zu versäumen. Und dann geschehen solche Dinge wie die folgenden: die Duchesse de Langeais wird Nonne, weil sie nicht die Geduld gehabt hat, zehn Minuten zu warten; der Richter Popinot verschiebt es auf den folgenden Tag, den Marquis d'Espard zu befragen; Charles Grandet kehrt über Bordeaux zurück, anstatt über Nantes zu kommen, und man nennt diese Ereignisse Zufälligkeiten, Schicksalsfügungen! Eine Spur von Rot aufzulegen zerstörte die Hoffnungen des Chevaliers de Valois; nur auf diese Weise konnte dieser Edelmann ums Leben kommen: er hatte von der Gunst der Grazien gelebt, er sollte von ihrer Hand den Tod finden. Während der Chevalier die letzte Hand an seine Toilette legte, betrat der dicke Du Bousquier den Salon der verzweifelten alten Jungfer. Dieses Eintreten traf mit einem für den Republikaner günstigen Gedankengang zusammen, der sich aus einer inneren Beratung, die nichtsdestotrotz dem Chevalier alle Vorteile einräumte, ergab. ›Gott will es‹, sagte sich die alte Jungfer, als sie Du Bousquier erblickte. »Sie werden nicht zürnen, Mademoiselle, daß ich mich persönlich nach Ihrem Befinden erkundige. Ich wollte mich nicht auf den Schlingel René verlassen.« 187
»Es geht mir vollkommen gut«, erwiderte sie mit bewegter Stimme. »Ich danke Ihnen, Monsieur du Bousquier«, fuhr sie nach einer Weile mit starker Betonung fort, »für die Mühe, die Sie sich mit mir gegeben und die ich Ihnen gestern verursacht habe ...« Sie erinnerte sich daran, daß Du Bousquier sie in seinen Armen gehalten hatte, und dieser Zufall vor allem erschien ihr als eine Fügung des Himmels. Zum erstenmal hatte sie ein Mann mit offenem Gürtel, aufgerissenem Schnürleib gesehen; alle ihre Schätze waren vor seinen Augen aus ihrem Schrein herausgeschleudert worden. »Es war mir eine solche Lust, Sie zu tragen, daß ich Sie leicht fand.« Hierbei sah Mademoiselle Cormon Du Bousquier an, wie sie noch keinen Mann der Welt angesehen hatte. Der so ermutigte Lieferant erwiderte mit einem Blick, der sie ins Herz traf. »Es ist schade«, fügte er hinzu, »daß mir das nicht das Recht gegeben hat, Sie für immer zu behalten!« (Sie lauschte entzückt) »Wie Sie so auf Ihrem Bett ohnmächtig dalagen, waren Sie - unter uns gesagt - hinreißend! Ich habe nie in meinem Leben eine schönere Frau gesehen, und ich habe viele Frauen gesehen! ... Üppige Frauen sind ein herrlicher Anblick. Sie brauchen sich nur zu zeigen, so siegen sie!« »Sie wollen über mich spotten«, wandte das alte Mädchen ein. »und das ist nicht schön, weil das, was mir gestern passierte, vielleicht von der ganzen Stadt falsch ausgelegt wird.«
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»So wahr ich Du Bousquier heiße, Mademoiselle, mein Gefühl für Sie hat sich nie geändert, und Ihre damalige Weigerung hat mich nicht entmutigt!« Die alte Jungfer hatte die Augen gesenkt. Es entstand ein Schweigen, das Du Bousquier grausam dünkte. Doch Mademoiselle Cormon faßte einen Entschluß, sie hob die Lider, Tränen traten in ihre Augen, und sie blickte du Bousquier zärtlich an. »Wenn das so ist, so versprechen Sie mir nur, als Christ zu leben, meine religiösen Gewohnheiten nicht zu stören, mich meinen Beichtvater wählen zu lassen, und ich bin die Ihre«, sagte sie und reichte ihm ihre Hand. Du Bousquier ergriff diese gute dicke Hand voller Taler und küßte sie ehrfürchtig. »Jedoch«, sagte sie und überließ ihre Hand seinen Küssen, »ich verlange noch etwas!« »Es ist gewährt, und wenn es unmöglich ist, es wird geschehen« - (eine Reminiszenz an Beaujon). »Mein Gott!« stieß sie hervor, »aus Liebe zu mir müssen Sie eine große Sünde auf sich nehmen, denn die Lüge ist eine der sieben Todsünden; doch Sie werden sie beichten, nicht wahr? Wir werden beide dafür Buße tun ..,« (Sie blickten sich zärtlich an.) »Und vielleicht zählt sie zu den Lügen, die die Kirche Notlügen nennt...« ›Sollte sie wie Suzanne sein?‹ fragte sich Du Bousquier; ›welch ein Glück!‹ - »Sagen Sie es nur, Mademoiselle«, ermutigte er sie. 189
»Sie müssen es auf sich nehmen ...«stammelte sie. »Was?« »Zu sagen, daß diese Heirat seit sechs Monaten beschlossene Sache sei...« »Reizende Frau«, sagte der Lieferant mit dem Ton eines Mannes, der ein Opfer bringt, »was täte man nicht für eine Frau, die man seit zehn Jahren anbetet.« »Trotz meiner Strenge!« scherzte sie. »Ja, trotz Ihrer Strenge.« »Monsieur du Bousquier, ich habe Ihnen unrecht getan.« Sie reichte ihm wiederholt ihre rote dicke Hand, die er aufs neue küßte. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der verführerisch zurechtgemachte, aber verspätete Chevalier de Valois erschien vor den Augen der Verlobten. »Ah!« sagte er, als er eintrat, »Sie sind schon auf, Schönste?« Sie lächelte dem Chevalier zu und fühlte einen Druck am Herzen. Monsieur de Valois sah fabelhaft jung und hinreißend aus wie Lauzun, als dieser zu Mademoiselle ins Palais-Royal kam. »Nun, lieber Du Bousquier«, meckerte er wohlwollend, so sicher glaubte er sich seines Erfolges, »Monsieur de Troisville und der Abbé de Sponde beschauen Ihr Haus wie zwei Geometer.«
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»Wahrhaftig«, versetzte Du Bousquier, »wenn der Vicomte de Troisville es haben will, so gehört es für vierzigtausend Francs ihm. Ich brauche es nicht länger! Wenn es mir Mademoiselle erlaubt? ... Es ist Zeit, daß man es erfährt ... Mademoiselle, darf ich es sagen? ... Ja? - Nun denn, mein lieber Chevalier, seien Sie der erste, den ich von der Ehre« (Mademoiselle Cormon schlug die Augen nieder), »von der Gunst in Kenntnis setze, die Mademoiselle mir erweist und die ich seit sechs Monaten verheimlicht habe. Wir heiraten in wenigen Tagen, der Vertrag ist aufgesetzt, er wird morgen unterzeichnet. Sie begreifen nun, daß ich mein Haus in der Rue du Cygne nicht mehr brauche! Ich suchte unter der Hand einen Käufer, und der Abbé de Sponde, der es wußte, hat natürlich Monsieur de Troisville hingeführt...« Diese grobe Lüge hatte solchen Anschein von Wahrheit, daß der Chevalier darauf hereinfiel. ›Mein lieber Chevalier‹ war wie die Rache, die Peter der Große an Karl XII. bei Poltawa für alle seine früheren Niederlagen nahm, Du Bousquier rächte sich da von Herzen für tausend Stiche, die er schweigend hingenommen hatte; in seinem Triumph machte er jedoch eine allzu jugendliche Bewegung, er griff sich in sein Toupet und ... behielt es in der Hand. »Ich gratuliere Ihnen beiden«, sagte der Chevalier in verbindlichem Ton, »und wünsche, daß es bei Ihnen wie in den Feenmärchen heißen möge: Sie waren sehr glücklich und hatten viele Kinder.« Und er nahm eine Prise. »Aber Sie vergessen, Monsieur, daß Sie ein Toupet tragen«, fügte er spöttisch hinzu. Du Bousquier wurde rot; er hielt das Toupet zehn Zoll über seinem Schädel. Mademoiselle Cormon bückte auf, sah die Kahlheit des Schädels und schlug die Augen wieder schamhaft zu Boden. Du Bousquier warf dem Chevalier einen Blick zu, 191
wie ihn giftiger keine Sumpfkröte auf ihre Beute schleudern konnte. ›Verfluchte Aristokraten, die ihr mich verachtet habt, ich werde euch eines Tages zermalmen!‹ dachte er. Der Chevalier glaubte wieder die Oberhand erlangt zu haben. Mademoiselle Cormon war jedoch nicht von der Art, daß sie den Zusammenhang, der für den Chevalier zwischen dem Toupet und seinen Wünschen bestand, begriffen hätte; und auch wenn sie ihn begriffen hätte, gehörte ihr ihre Hand doch nicht mehr. Monsieur de Valois sah ein, daß alles verloren war. Da die ahnungslose Jungfer die beiden Männer stumm sah, wollte sie sie beschäftigen. »Machen Sie doch eine Partie Pikett zusammen!« sagte sie ohne Arg. Du Bousquier lächelte und holte als zukünftiger Herr des Hauses den Spieltisch herbei. Der Chevalier de Valois, sei es, daß er den Kopf verloren hatte, .sei es, daß er dableiben wollte, um die Ursache seines Mißgeschicks zu studieren und ihm abzuhelfen, ließ sich treiben wie ein Hammel, den man zur Schlachtbank fuhrt. Er hatte den heftigsten Keulenschlag bekommen, der ihn treffen konnte, und er hatte das Recht, davon benommen zu sein. Bald kamen der würdige Abbé de Spende und der Vicomte de Troisville nach Hause. Sogleich stand Mademoiselle Cormon auf, lief ins Vorzimmer, nahm ihren Onkel beiseite und flüsterte ihm ihren Entschluß ins Ohr. Als sie hörte, daß das Haus in der Rue du Cygne Monsieur de Troisville zusagte, bat sie ihren Zukünftigen, er möchte ihr den Dienst erweisen, Monsieur de Troisville zu sagen, ihr Onkel habe gewußt, daß es verkäuflich sei. Sie wagte nicht, diese Lüge dem Abbé anzuvertrauen, aus Furcht vor seiner Zerstreutheit. 192
Doch trug die Lüge bessere Früchte als eine tugendhafte Tat. Am Abend erfuhr ganz Alençon die große Neuigkeit. Seit vier Tagen war die Stadt in Atem gehalten worden wie in den unseligen Tagen von 1814 und 1815. Die einen lachten, die ändern hießen die Heirat willkommen; diese tadelten sie, jene fanden sie in Ordnung. Die Mittelklasse von Alençon freute sich, sie erblickte einen Sieg darin. Am nächsten Tage tat der Chevalier de Valois bei seinen Freunden die grausame Äußerung: »Die Cormons enden, wie sie angefangen haben: Intendant und Lieferant - das ist beinahe dasselbe!« Die Wahl Mademoiselle Cormons traf den armen Athanase ins Herz, doch ließ er sich nichts von der schrecklichen Erregung, die ihn durchschüttelte, anmerken. Als er von der Verlobung hörte, war er beim Präsidenten Du Ronceret, wo seine Mutter eine Partie Boston spielte. Madame Granson sah ihren Sohn in einem Spiegel, sie fand ihn blaß; doch war er es schon seit dem Morgen, denn er hatte unbestimmte Gerüchte von dieser Heirat gehört. Mademoiselle Cormon war für Athanase die Karte, auf die er sein Leben gesetzt hatte, und er hatte schon ein deutliches Vorgefühl einer Katastrophe. Wenn die Seele und die Phantasie sich ein Unglück vergrößern und es zu einer für Kopf und Schulter zu schweren Last gemacht haben, wenn eine langgehegte Hoffnung, deren Erfüllung den Geier, der am Herzen nagt, beschwichtigt hätte, fehlschlägt und der Mensch, trotz der göttlichen Macht, weder an sich, noch an seine Kraft, noch an die Zukunft glaubt, dann geht er zugrunde. Athanase war ein Opfer der kaiserlichen Erziehung. Das Verhängnis, diese Religion des Kaisers, stieg vom Thron hernieder bis in die letzten Reihen der Armee, bis in die Schulbänke. Athanase heftete die Augen auf das Spiel Madame du Roncerets mit einer dumpfen Betroffenheit, die so gut für Gleichgültigkeit gelten konnte, daß Madame Granson glaubte, sich über die Gefühle ihres Sohnes getäuscht zu haben. Die anscheinende 193
Gleichgültigkeit von Athanase war eine Erklärung für seine Weigerung, dieser Heirat seine »liberalen« Ansichten zu opfern, welches Wort ›liberal‹ der Kaiser Alexander vor kurzem geprägt hatte ;und das, glaube ich, von Madame de Staël auf Benjamin Constant übergegangen war. Von jenem Abend an pflegte der unglückliche junge Mann sich an dem malerischsten Punkte der Sarthe zu ergehen, wo die Zeichner, die sich mit Alençon befaßten, sich aufstellten, um ihre Skizzen zu machen. Dort stehen Mühlen. Der Fluß gibt den Wiesen ein heiteres Ansehen. Die Ufer der Sarthe zieren hochgewachsene, schlanke Bäume. Wenn die Landschaft auch flach ist, so entbehrt sie doch nicht der lieblichen Anmut, die Frankreich auszeichnet, wo die Blicke niemals durch ein zu grelles licht ermüdet oder durch anhakende Nebel betrübt werden. Dieser Ort war einsam. In der Provinz achtet niemand auf eine schöne Aussicht, sei es, daß man dazu zu blasiert ist oder weil man keine Empfänglichkeit für Poesie hat. Wenn es in der Provinz eine Promenade, einen freien Platz oder einen Spazierweg gibt, von wo aus sich eine weite Aussicht bietet, so geht niemand hin. Athanase gewann diese vom Wasser belebte Einsamkeit, wo die Wiesen beim ersten Schein der Frühlingssonne zu grünen anfingen, lieb. Wer ihn da zuweilen unter einer Pappel sitzen sah und seinen tiefgründigen Blick auffing, sagte zu Madame Granson: »Ihr Sohn hat etwas.« »Ich weiß, was er tut!« antwortete dann mit wohlgefälligem Gesichtsausdruck seine Mutter und gab zu verstehen, daß er über einem großen Werk brüte. Athanase kümmerte sich nicht mehr um Politik, er hatte keine Meinung mehr; doch erschien er verschiedene Male recht heiter, heiter aus Ironie, wie es die sind, die sich für sich allein gegen die ganze Welt auflehnen. Dieser junge Mann, der abseits von der Gedankensphäre, von allen Vergnügungen der 194
Provinz stand, interessierte wenige Leute, er war nicht einmal ein Gegenstand der Neugierde. Wenn man zu seiner Mutter über ihn sprach, so geschah es ihretwegen. Keine einzige Seele sympathisierte mit der Seele von Athanase, keine Frau, kein Freund kam zu ihm, um seine Tränen zu trocknen, er ließ sie in die Sarthe fallen. Wenn die schöne Suzanne des Weges gekommen wäre, wieviel Unglück hätte diese Begegnung verhindert, denn diese beiden Wesen hätten sich geliebt! Sie kam übrigens hin. Der Ehrgeiz Suzannes wurde durch die Erzählung eines sehr seltsamen Abenteuers angestachelt, das um 1799 in dem ›Hôtel du More‹ begonnen und ihren Kindskopf in große Verwirrung gebracht hatte. Eine Pariser Dirne von engelgleicher Schönheit hatte von der Polizei den Auftrag bekommen, den Marquis de Montauran, einen den Chouans von den Bourbonen entsandten Befehlshaber, in sich verliebt zu machen; sie hatte ihn in dem ›Hôtel du More‹ bei seiner Rückkehr von dem Feldzug nach Mortagne abgewartet, hatte ihn verführt und ausgeliefert. Diese phantastische Person, die Macht der Schönheit über den Mann, alles in dieser Geschichte der Marie de Verneuil und des Marquis de Montauran, hatten Suzanne den Kopf verdreht. Schon von früher Jugend lebte in ihr die Begierde, mit den Männern zu spielen. Es war ihr nicht unlieb, einige Monate nach ihrer Flucht den Weg über ihre Vaterstadt zu nehmen, um mit einem Künstler, in die Bretagne zu gehen. Sie wollte Fougères sehen, wo sich das Abenteuer des Marquis de Montauran abgespielt hatte, und den Schauplatz jenes bunten Krieges kennenlernen, von dessen noch wenig bekannten traurigen Begebenheiten sie in ihrer Kindheit gehört hatte. Außerdem machte es ihr Vergnügen, so verwandelt und ausstaffiert, daß niemand sie wiedererkannte, Alençon zu passieren. Sie hatte die Absicht, im Handumdrehen ihrer Mutter einen ruhigen Lebensabend zu verschaffen und dem armen Athanase in zarter Weise eine Summe zukommen zu lassen, die in unserer Zeit für das Genie dasselbe bedeutet, was im Mittelalter das 195
Schlachtpferd und die Rüstung waren, die Rebekka; Ivanhoe zukommen ließ. Ein Monat verging, in dem bezüglich der Heirat Mademoiselle Cormons die sonderbarsten Annahmen in Umlauf waren. Es gab eine Partei Ungläubiger, die die Heirat in Abrede stellte, und eine Partei Gläubiger, die an ihr festhielt. Nach vierzehn Tagen erlitt die Partei der Ungläubigen eine heftige Schlappe. Das Haus Du Bousquiers wurde für dreiundvierzigtausend Francs an Monsieur de Troisville verkauft, der in Alençon nur ein ganz bescheidenes Haus haben wollte; denn er sollte später, nach dem Ableben der Fürstin Scherbeloff, nach Paris ziehen; er wollte diese Erbschaft in Ruhe abwarten und mittlerweile sein Besitztum wieder instand setzen. Soviel stand fest: Die Ungläubigen gaben sich nicht geschlagen. Sie meinten, Du Bousquier mache, ob verheiratet oder nicht, ein glänzendes Geschäft; sein Haus war ihm nur auf siebenundzwanzigtausend Francs zu stehen gekommen. Die Gläubigen waren durch diese treffende Bemerkung der Ungläubigen getroffen. Chesnel, der Notar von Mademoiselle Cormon, habe noch kein Wort vom Ehekontrakt gehört, sagten die Ungläubigen wiederum. Die in ihrem Vertrauen unerschütterlichen Gläubigen trugen am zwanzigsten Tag einen völligen Sieg über die Ungläubigen davon. Monsieur Lepressoir, Notar der Liberalen, kam zu Mademoiselle Cormon, wo der Kontrakt unterzeichnet wurde. Dies war das erste der zahlreichen Opfer, die Mademoiselle Cormon ihrem Manne bringen sollte. Du Bousquier hegte gegen Chesnel einen glühenden Haß; er schob ihm die erste Abweisung zu, die ihm Mademoiselle Armande erteilt hatte, und die Abweisung von Mademoiselle Armande hatte seiner Meinung nach die Weigerung Mademoiselle Cormons herbeigeführt. Der alte Athlet des Direktoriums hatte sich in dem Herzen der edelmütigen Jungfer, die glaubte, die edle Seele des Lieferanten falsch beurteilt zu haben, schon so festgesetzt, daß 196
sie ihr Unrecht wiedergutmachen wollte: sie opferte ihren Notar der Liebe. Nichtsdestoweniger machte sie ihm von dem Kontrakt Mitteilung, und Chesnel, der ein Mann würdig Plutarchs war, verteidigte die Interessen Mademoiselle Cormons schriftlich. Dieser Umstand allein zögerte die Heirat hinaus. Mademoiselle Cormon erhielt verschiedene anonyme Briefe. Sie erfuhr zu ihrem großen Erstaunen, Suzanne wäre ein ebenso jungfräuliches Mädchen wie wahrscheinlich sie selbst, und der Verführer mit dem Toupet würde in diesen Dingen niemals etwas ausrichten. Mademoiselle Cormon verachtete anonyme Briefe; aber sie schrieb an Suzanne mit der Absicht, den Mütterfürsorgeverein aufzuklären. Suzanne, die zweifellos die bevorstehende Heirat Du Bousquiers erfahren hatte, gestand ihre List ein, schickte der Gesellschaft tausend Francs und brachte den Lieferanten dadurch stark in Mißkredit. Mademoiselle Cormon rief den Mütterfürsorgeverein zusammen, der eine außerordentliche Sitzung abhielt, wo beschlossen wurde, daß der Verein nicht mehr dem erst bevorstehenden, sondern einzig dem bereits eingetroffenen Unglück seine Hilfe zuteil werden lassen sollte. Trotz dieser Umtriebe, welche die Stadt hinreichend mit destilliertem Klatsch versorgten, den sie begehrlich einsog, wurde das Aufgebot in der Kirche und im Rathaus veröffentlicht. Athanase mußte die Akten vorbereiten. Mit Rücksicht auf die öffentliche Sittlichkeit und Ordnung begab sich die Braut nach Le Prebaudet, wohin Du Bousquier, mit gräßlich prunkvollen Buketts bewaffnet, am Morgen kam und am Abend zum Diner wieder zurückkehrte. Schließlich, an einem regnerischen trüben Junitage, fand in der Pfarrkirche im Beisein von ganz Alençon die Eheschließung Mademoiselle Cormons mit Sieur Du Bousquier, wie die Ungläubigen sagten, statt. Die Gatten begaben sich in einer für Alençon prachtvollen Kutsche, die Du Bousquier hatte heimlich aus Paris kommen lassen, von ihrem Haus ins Rathaus, vom Rathaus in die Kirche. Die Abschaffung der alten Kalesche war in den Augen 197
der Stadt ein gewisses Unglück. Der Sattler von der Porte de Séez erhob ein Ach- und Wehgeschrei, denn er büßte fünfzig Francs ein, die ihm das Ausflicken der Kalesche sonst eingebracht hätte. Alençon sah mit Schrecken, welchen Luxus das Haus Cormon in die Stadt einführte. Jedermann befürchtete die Verteuerung der Lebensmittel, die Erhöhung der Mietpreise und das Eindringen Pariser Möbel. Es gab ein paar von Neugier angestachelte Personen, die Jacquelin ein Zehnsoustück gaben, um die Kutsche, dieses Attentat auf die Sparsamkeit der Gegend, aus der Nähe besehen zu dürfen. Die beiden in der Normandie gekauften Pferde flößten gleichfalls großen Schrecken ein. »Wenn wir für uns selbst solche Pferde kaufen«, sagte der Kreis du Roncerets, »werden wir an die, die uns welche abkaufen wollen, keine mehr loswerden.« Obwohl diese Logik dumm war, so schien sie doch insofern tiefgründig, als sie verhinderte, daß man im Lande mit fremdem Gelde Wucher trieb. Denn für die Provinz besteht der Reichtum der Nationen weniger in einer aktiven Zirkulation des Geldes als in einer sterilen Anhäufung. Die mörderische Verwünschung der alten Jungfer ging in Erfüllung. Penelope erlag der Brustfellentzündung, die sie sich vierzig Tage vor der Hochzeit geholt hatte; nichts konnte sie retten. Madame Granson, Mariette, Madame Coudrai, Madame du Ronceret, die ganze Stadt bemerkte, daß Madame du Bousquier mit dem ›linken Fuß‹ in die Kirche getreten war, ein um so schrecklicheres Omen, als das Wort ›die Linke‹ schon eine politische Bedeutung annahm. Der Priester, der die Trauungsformel zu lesen hatte, schlug das Buch zufällig bei dem ›De profundis‹ auf. So war diese Eheschließung denn von so verhängnisvollen, unheilkündenden, niederschmetternden Umständen begleitet, daß niemand Gutes prophezeite. Es kam noch schlimmer. Es 198
fand kein Hochzeitsmahl statt, weil die Neuvermählten gleich nach Le Prebaudet abreisten. Die Pariser Bräuche siegten also über die der Provinz, hieß es. Am Abend wurden alle diese Nichtigkeiten durchgehechelt, und allgemein machte man der Erbitterung in Schmähreden Luft, denn das Hochzeitsgelage ist in der Provinz sozusagen der der Gesellschaft gebührende Pflichtteil. Die Hochzeit Josettes und Jacquelins ging lustig vonstatten: sie waren die beiden einzigen, die den düstern Prophezeiungen widersprachen. Du Bousquier wollte den Profit, den er bei seinem Hause gemacht hatte, dazu verwenden, das Haus Cormon zu modernisieren und zu restaurieren. Er hatte beschlossen, ein halbes Jahr in Le Prebaudet zu verbringen, und nahm seinen Onkel, den Abbé de Sponde, mit. Diese Neuigkeit verbreitete Schrecken in der Stadt, wo jeder ahnte, daß Du Bousquier das Land in den verhängnisvollen Luxus hineinziehen würde. Die Angst nahm zu, als die Leute sahen, wie Du Bousquier eines Morgens, um die Arbeiten zu überwachen, in einem mit einem neuen Pferd bespannten Tilbury, René in Livree zu seiner Seite, aus Le Prebaudet nach dem Val-Noble kam. Der erste Akt seiner Verwaltung war der gewesen, daß er alle Ersparnisse seiner Frau in Staatspapieren anlegte, die auf siebenundsechzig Francs fünfzig Centimes standen. Im Zeitraum eines Jahres, währenddessen er beständig auf Hausse spekulierte, begründete er ein eigenes Vermögen, das beinahe so ansehnlich war wie das seiner Frau. Jedoch diese grimmigen Weissagungen, diese aufregenden Neuerungen wurden von einem Ereignis übertroffen, das sich an diese Heirat knüpfte und sie noch verhängnisvoller erscheinen ließ. Am Abend der Hochzeit saßen Athanase und seine Mutter nach ihrem Essen vor einem kleinen Flackerfeuer aus Reisigbündeln, das ihnen die Magd zum Nachtisch im Salon angezündet hatte.
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»Also wir gehen heute abend zum Präsidenten Du Ronceret, da wir ohne Mademoiselle Cormon sind«, begann Madame Granson; »mein Gott, ich werde mich nie daran gewöhnen, sie Madame Du Bousquier zu nennen, der Name will mir nicht über die Lippen.« Athanase sah seine Mutter mit melancholischer, gezwungener Miene an; er konnte nicht mehr lächeln, und er wollte diesen naiven Gedanken, der seiner Wunde wohltat, ohne sie zu heilen, gutheißen. »Mama«, sagte er mit kindlichem Ausdruck und gebrauchte seit Jahren zum erstenmal wieder dies Wort, »liebe Mama, gehen wir doch noch nicht fort, es sitzt sich so gut hier vor dem Feuer.« Die Mutter hörte diese Bitte eines tödlich verwundeten Herzens an, ohne sie zu verstehen. »Gut, bleiben wir, mein Sohn! Ich bleibe viel lieber hier mit dir sitzen, als ein Boston zu spielen, wobei :ich mein Geld verlieren kann.« »Du bist so schön heut abend, ich sehe dich gern an. Außerdem bin ich in einer Stimmung, die zu diesem kleinen Zimmer, wo wir so viel gelitten haben, so gut paßt.« »Wo wir noch weiter leiden werden, mein lieber Athanase, bis deine Arbeiten Erfolg haben werden. Ich bin ans Elend gewöhnt, aber du, mein geliebtes Kind, du verbringst deine Jugend ohne Freuden. Nichts als Arbeit in deinem Leben! Dieser Gedanke ist ein Schmerz für eine Mutter; er quält mich des Abends und weckt mich des Morgens, Mein Gott, mein Gott! was habe ich dir getan, für welches Verbrechen strafst du mich?« Sie verließ ihren Lehnsessel, nahm einen kleinen Stuhl und rückte ihn an Athanase heran, um ihren Kopf an seine 200
Brust legen zu können. Die wahre Mutterliebe ist immer voll Anmut. Athanase küßte seine Mutter auf die Augen, auf ihre grauen Haare, auf die Stirn und legte in diese Liebkosung sein ganzes zärtliches Gefühl. »Ich werde niemals Erfolg haben!« sagte er, in der Absicht, seine Mutter über den traurigen Entschluß, den er in seinem Hirn herumwälzte, zu täuschen. »Bah! wirst du wohl nicht so mutlos sein! Wie du es sagst, der Gedanke vermag alles. Mit zehn Flaschen Tinte, zehn Ries Papier und seinem starken Willen hat Luther Europa umgewälzt. Nun, du wirst dich auszeichnen und mit denselben Mitteln, mit denen er das Böse getan hat, das Gute tun. Hast du das nicht gesagt? Siehst du, ich merke mir, was du sagst: ich verstehe dich besser, als du glaubst, denn ich trage dich noch in meinem Schoß, und der geringste Gedanke von dir widerhallt darin, wie ehemals deine leiseste Bewegung.« »Ich kann hier nicht Erfolg haben, siehst du, Mama; und ich will nicht, daß du meine Verzweiflung, meine Kämpfe, meine Qualen mit ansiehst. O Mutter, laß mich Alençon verlassen; ich will fern von dir leiden!« »Ich will immer an deiner Seite sein!« erwiderte die Mutter mit Bestimmtheit. »Du willst ohne deine Mutter leiden, deine arme Mutter, die deine Magd sein will, wenn es not tut, die sich, wenn du es verlangst, verbergen will, um dir nicht im Wege zu sein, die dich darin nicht des Hochmuts zeihen würde? Nein, nein, Athanase, wir werden uns niemals trennen!« Athanase preßte seine Mutter an sich, wie ein mit dem Tode Kämpfender, der das Leben umarmt. »Ich will es aber!« entgegnete er; »sonst richtest du mich zugrunde ... Dieser doppelte Schmerz, der meinige und der deinige, tötet mich. Und ich will doch 201
wohl leben, nicht wahr?« Madame Granson sah ihren Sohn mit einem entgeisterten Blick an. »Das also hast du im Sinn? Man hat es mir schon gesagt. Du willst fort!« »Ja.« »Du wirst wohl nicht weggehen, ohne mir alles zu sagen, ohne mich aufzuklären. Du brauchst Geld, Sachen! Ich habe ein paar Louisdor in meinen Unterrock eingenäht, die muß ich dir geben.« Athanase weinte, »Das ist alles, was ich dir sagen wollte«, gab er zur Antwort; »jetzt führe ich dich zu dem Präsidenten. Komm ...« Der Sohn und die Mutter verließen das Haus. Athanase verließ seine Mutter an der Schwelle des Hauses, wo sie den Abend verbringen wollte. Er blickte lange auf den Lichtschein, der durch die Fensterläden drang; er drückte sich gegen die Wand und empfand eine stürmische Freude, als er nach einer Viertelstunde seine Mutter sagen hörte:»Große Unabhängigkeit im Herzen.« »Arme Mutter, ich habe sie betrogen!« rief er und lief nach dem Ufer der Sarthe. Er kam bei der schönen Pappel an, wo er seit vierzig Tagen über so vieles nachgedacht und wohin er zwei schwere Steine zum Sitzen getragen hatte. Er betrachtete die schöne Gegend, auf der der Mondschein lag. Noch einmal stieg eine ruhmvolle Zukunft vor ihm auf: er kam durch Städte, wo sein Name widerhallte; er hörte das Beifallklatschen der Menge, atmete den Weihrauch der Huldigungen ein, berauschte sich an seinem erträumten Leben, schwang sich strahlend zu strahlenden Triumphen auf, errichtete sich ein Denkmal des Ruhms, beschwor alle seine Illusionen vor seinen Sinnen herauf, um ihnen in 202
einem olympischen Taumel für immer Lebewohl zu sagen. Einen Augenblick war die Bezauberung möglich gewesen; nun war sie für immer dahingeschwunden. In diesem höchsten Augenblick umfing er seinen schönen Baum, an den er sich wie an einen Freund gelehnt hatte, mit den Armen; dann steckte er einen Stein in jede Tasche seines Mantels und knöpfte ihn zu. Er war absichtlich ohne Hut weggegangen. Er suchte die tiefe Stelle, die er seit langem gewählt hatte; er ließ sich beherzt hinuntergleiten, wobei er bemüht war, möglichst wenig Geräusch zu machen, und es gelang ihm. Als gegen halb zehn Uhr seine Mutter nach Hause kam, sagte die Magd nichts von Athanase, sondern gab ihr einen Brief. Madame Granson öffnete ihn und las die wenigen Worte: ›Meine gute Mutter, ich bin fortgegangen, zürne mir nicht!‹ »Er hat einen schönen Streich gemacht!« rief sie. »Und seine Wäsche! Und Geld! Nun, er wird mir schreiben, ich werde ihn finden. Daß die Kinder doch immer klüger sein wollen als Vater und Mutter.« Und sie legte sich ruhig schlafen. Die Sarthe war am Morgen vorher stark angeschwollen, und die Fischer hatten das vorausgesehen. Dieses Anschwellen trüben Wassers treibt die Aale in Scharen aus ihren Bächen in den Fluß. Ein Fischer hatte seine Netze an der Stelle ausgeworfen, die sich der arme Athanase in der Hoffnung ausgesucht hatte, daß man ihn dort niemals finden würde. Gegen sechs Uhr morgens brachte der Fischer den Leichnam des jungen Mannes herauf. Die zwei, drei Freundinnen, die die arme Witwe besaß, wendeten alle erdenkliche Vorsicht an, um sie auf die Schreckensnachricht vorzubereiten. Man kann sich vorstellen, was für ein Aufsehen dieser Selbstmord in Alençon machte. Am Abend vorher hatte der arme begabte junge Mann keinen einzigen Gönner; als er tot war, riefen tausend Stimmen: »Wie gern hätte ich ihm geholfen!« Es ist so bequem, ohne Unkosten 203
wohltätig zu sein! Der Chevalier de Valois konnte eine Erklärung für den Selbstmord geben. In einem Anfall von Rachsucht enthüllte der Edelmann die naive, aufrichtige, schöne Liebe, die Athanase für Mademoiselle Cormon hegte. Madame Granson entsann sich nun daraufhin unzähliger kleiner Umstände, die dem Chevalier recht gaben. Die Geschichte wurde rührend, einige Frauen weinten. Für Madame Gransons Schmerz, der stumm nach innen gekehrt war, hatte man geringes Verständnis, Die Mütter trauern auf zwei verschiedene Arten. Wenn eine Mutter einen Sohn verliert, der geachtet, bewundert, jung und schön war, einer großen Zukunft entgegenging oder schon berühmt war, so erregt dies allgemeines Bedauern; die Welt hilft den Schmerz mit tragen und mildert ihn durch ihre Teilnahme. Doch der Schmerz jener Mütter, die allein wissen, was ihr Kind war, denen allein sein Wert lächelte, die allein die Schätze eines allzufrüh abgebrochenen Lebens kannten: dieser Schmerz verbirgt seinen Trauerflor, dessen Farbe andere Trauerbekundungen verblassen läßt; aber er stellt sich nicht aus. Glücklicherweise gibt es wenige Frauen, die davon wissen, welche Herzenssaite dabei für immer zerreißt. Bevor Madame du Bousquier in die Stadt zurückkam, war schon eine von ihren guten Freundinnen, die Präsidentin du Ronceret, zu ihr geeilt, um ihr diesen Leichnam auf das Rosenbett ihrer Freuden zu werfen und ihr zu eröffnen, welcher Liebe sie sich versagt hatte. Tropfen für Tropfen goß sie ihr den Wermut in den Honigmond ihrer Ehe. Als Madame du Bousquier nach Alençon wiederkehrte, traf sie Madame Granson zufällig an der Ecke des Val-Noble. Der Blick der zu Tode betrübten Mutter traf sie ins Herz. Er war wie geladen mit Anklagen und Verwünschungen. Madame du Bousquier war darüber entsetzt; dieser Blick verkündete und wünschte ihr Unglück. Am Abend nach der Katastrophe begab sich Madame Granson, nachdem sie ihren Sohn mit eigener Hand in das Leichentuch gehüllt und dabei an die Mutter des Heilands gedacht hatte, von fürchterlicher Angst 204
bewegt in das Haus des konstitutionellen Pfarrers. Sie hatte zu denen gehört, die dem Stadtpfarrer am schroffsten gegenüberstanden, und zu dem Vikar von Saint-Léonard gehalten; doch schauderte sie bei dem Gedanken an die Unbeugsamkeit ihrer eigenen Partei im Punkte der katholischen Doktrin. Sie fand den bescheidenen Priester damit beschäftigt, den Hanf und Flachs unterzubringen, den er allen armen Frauen und Mädchen der Stadt zum Spinnen gab, damit es den Arbeiterinnen nicht an Arbeit fehle; eine weise Fürsorge, die manchen Hausstand, der sich zum Betteln außerstande sah, vor dem Äußersten bewahrte. Der Pfarrer legte seine Arbeit beiseite und führte Madame Granson in das Zimmer, wo ein Mahl auf ihn wartete, das sie in seiner Einfachheit an ihren eigenen Haushalt erinnerte. »Monsieur l'Abbé«, sagte sie; »ich komme, um Sie zu bitten ...« Sie brach in Tränen aus und konnte nicht weiterreden. »Ich weiß, was Sie herführt«, erwiderte der fromme Mann, »doch müssen Sie und Ihre Verwandte, Madame du Bousquier, es übernehmen, Seine Ehrwürden, den Bischof von Séez zu besänftigen. Ja, ich werde für Ihren unglücklichen Sohn beten, ich werde Messen lesen; aber vermeiden wir jedes Ärgernis und suchen wir zu verhindern, daß sich die Böswilligen der Stadt in der Kirche versammeln ... Ich allein will, ohne andere Geistliche, in der Nacht...« »Ja, ja, wie Sie wollen, wenn er nur in geweihte Erde kommt!« rief die arme Mutter und griff nach der Hand des Priesters, um sie zu küssen. Gegen Mitternacht wurde von vier jungen Leuten, den vertrautesten Kameraden von Athanase, heimlich eine Bahre in die Pfarrkirche getragen. Es waren einige Freundinnen von Madame Granson zugegen, außerdem die sieben oder acht jungen Leute, mit denen der Dahingegangene befreundet gewesen war. 205
Vier Fackeln erleuchteten die Bahre, die mit Trauerflor bedeckt war. Der Pfarrer las, von einem verschwiegenen Chorknaben bedient, die Totenmesse. Dann wurde der Selbstmörder geräuschlos in einer Ecke des Kirchhofes, wo ein schwarzes Kreuz ohne Inschrift der Mutter die Stelle anzeigte, begraben. Athanase lebte und starb in der Finsternis. Niemand klagte den Pfarrer an, der Bischof blieb still, die Frömmigkeit der Mutter sühnte den Unglauben des Sohnes. Einige Monate später, an einem Abend, wurde die arme Frau, die außer sich vor Schmerz war, von der unerklärlichen Begierde erfaßt, wie sie manchmal über die Unglücklichen kommt, den bitteren Kelch ihres Schmerzes bis zur Neige zu leeren, und sie machte sich auf, um die Stelle zu finden, wo sich ihr Sohn ertränkt hatte. Vielleicht meinte sie unter jener Pappel einen Hauch seines Geistes zu verspüren; vielleicht auch wollte sie vor Augen sehen, worauf ihres Sohnes Blicke zuletzt geweilt hatten. Es mag Mütter geben, die bei solchem Anblick vergehen würden, andere weihen den Ort zu einer Stätte der Anbetung. Die geduldigen Anatomen der menschlichen Seele können nicht oft genug die Wahrheiten wiederholen, an denen immer wieder die Erziehung, die Gesetze, die philosophischen Systeme zerschellen. Sagen wir es uns immer wieder: Es ist absurd, die Gefühle auf gleiche Formeln zu bringen; in jedem Menschen verbinden sie sich mit den ihm eigenen Elementen und nehmen seine Physiognomie an. Madame Granson sah von weitem ein weibliches Wesen kommen, das, an der Unglücksstätte angelangt, ausrief: »Da ist es also!« Ein einziges Geschöpf weinte da, wie die Mutter weinte: es war Suzanne. Als sie des Morgens im »Hôtel du More« angekommen war, hatte sie von der Katastrophe erfahren. Wäre der arme Athanase am Leben geblieben, so hätte sie getan, wovon großherzige Menschen ohne Geld träumen und woran 206
die Reichen niemals denken, sie hätte ein paar tausend Francs geschickt und dazu geschrieben: ›Die Schuld eines Kameraden Ihres Vaters, der sie Ihnen zurückerstattet.‹ Suzanne hatte sich diese engelhafte List auf ihrer Reise ausgedacht. Die Kurtisane bemerkte Madame Granson und entfernte sich schleunigst, nachdem sie ihr gesagt hatte: »Ich liebte ihn!« Treu ihrer Natur, verließ Suzanne Alençon nicht, ohne die Orangenblüten, die die Neuvermählte schmückten, in Seerosen zu verwandeln. Sie als erste erklärte, daß Madame du Bousquier immer nur Mademoiselle Cormon sein würde. So rächte sie mit einem Schlage Athanase und den teuren Chevalier de Valois. Alençon war Zeuge eines auf andere Weise kläglichen, langsamen Selbstmordes, denn Athanase wurde bald von der Gesellschaft vergessen, die ihre Toten nicht lange beklagen will und kann. Der arme Chevalier de Valois starb bei Lebzeiten; er tötete sich vierzehn Jahre lang jeden Morgen. Drei Monate nach der Verheiratung Du Bousquiers bemerkte die Gesellschaft nicht ohne Erstaunen, daß die Wäsche des Chevaliers gelb wurde und daß seine Haare unordentlich gekämmt waren. Mit wirrem Haar existierte der Chevalier de Valois nicht mehr. Einige Zähne aus Elfenbein waren desertiert, ohne daß man entdecken konnte, in welchem Körper sie ihren Sitz gehabt, ob sie der Fremdenlegion oder den Eingeborenen angehört hatten, ob sie tierischen oder pflanzlichen Ursprungs waren, ob das Alter sie dem Chevalier geraubt oder ob er sie in der Schublade seines Toilettentisches hatte liegenlassen. Die Krawatte schlang sich um sich selbst ohne jeden Anspruch auf Eleganz. Die Negerköpfe verblaßten und wurden schmierig. Die Runzeln des Gesichts falteten und schwärzten sich, die Haut wurde wie Pergament. Die ungepflegten Nägel bekamen hier und da 207
einen schwarzsamtigen Rand. Die Weste zeigte sich gefurcht von Nasentropfen, die herabgefallen waren wie Herbstblätter. Die Watte in den Ohren erneuerte er nicht mehr täglich. Traurigkeit lag auf seiner Stirn und gelbe Töne waren in seinen Runzeln. Kurzum, der künstlich zurückgehaltene Verfall zeichnete Sprünge in dieses schöne Gebäude, und man konnte sehen, eine wie große Macht die Seele über den Körper hat, da der Kavalier, der Blonde, der jugendliche Liebhaber starb, als die Hoffnung in die Brüche ging. Bis dahin hatte sich die Nase des Chevaliers in anmutiger Form präsentiert; niemals war ihr eine feuchte schwarze Masse, noch ein Bernsteintropfen entfallen; aber die mit Tabak beschmierte Nase, von der die Tropfen die Rinne hinunterliefen, die über der Oberlippe lag, diese Nase, die keinen angenehmen Eindruck mehr machen wollte, gab erst Aufschluß darüber, welch ungeheure Sorgfalt der Chevalier ehemals auf sich verwandt und mit welcher Beharrlichkeit er seine Absichten auf Mademoiselle Cormon verfolgt hatte. Vernichtet fühlte er sich durch einen Kalauer Coudrais', dessen Absetzung er übrigens bewirkte. Es war der erste Racheakt, den der sonst gutartige Chevalier durchführte. Aber dieser Kalauer war auch mörderisch und übertraf alle Witze des Vorstehers des Hypothekenamtes um hundert Ellen. Als Monsieur du Coudrai das verwahrloste Riechorgan des Chevaliers bemerkt hatte, hatte er den Chevalier ›Nerestan‹ genannt. Kurzum: die Anekdoten machten es wie die Zähne; allmählich wurden sie seltener, aber der Appetit blieb. Aus dem Schiffbruch aller seiner Hoffnungen rettete der Chevalier nur seinen Magen; wenn ihm auch der Schnupftabak gleichgültiger geworden war, so aß er nach wie vor ungeheuer viel. Man stelle sich vor, wie groß die allgemeine Verwirrung war, .als man erfuhr, daß Monsieur de Valois sich nur noch selten mit der Prinzessin Goritza unterhielt. Eines Tages kam er zu Mademoiselle Armande mit einer Strumpfwade vorn an seinem Schienbein. Dieser Bankerott der äußeren Anmut war, weiß Gott, fürchter208
lich und ein Schlag für ganz Alençon? Dieser sozusagen junge Mann, der plötzlich zum Greis wurde, der unter dem Schwinden der Seelenkräfte von fünfzig Jahren auf neunzig überging, erschreckte die Gesellschaft, schließlich gab er sein Geheimnis preis: er hatte auf Mademoiselle Cormon gewartet, sie belauert; zehn Jahre lang hatte er, ein geduldiger Jäger, seinen Schuß vorbereitet und hatte das Wild verfehlt. Kurz, die ohnmächtige Republik siegte über die tapfere Aristokratie und dies inmitten der Restauration! Die Form triumphierte über den Inhalt, der Geist war von der Materie, die Diplomatie vom Aufruhr besiegt worden. Das letzte Unglück war, daß eine gekränkte Grisette das Geheimnis der Morgenstunden des Chevaliers enthüllte; nun galt er als Wüstling. Die Liberalen schoben ihm die Findelkinder Du Bousquiers zu, die der Faubourg SaintGermain von Alençon mit großem Stolz akzeptierte; man lachte dort darüber und sagte: »Was hätte der arme Chevalier anderes tun sollen?« Er beklagte den Chevalier, nahm ihn unter seine Fittiche, belebte sein Lächeln, und ein schrecklicher Haß sammelte sich über dem Haupte Du Bousquiers. Elf Personen gingen zu den d'Esgrignon über und verließen den Salon Cormon. Eine Hauptwirkung dieser Heirat war, daß die Parteien in Alençon sich nun sonderten und klar voneinander abhoben. Das Haus d'Esgrignon, dem sich die zurückgekehrten Troisville anschlossen, repräsentierte die hohe Aristokratie. Das Haus Cormon vertrat unter dem geschickten Einfluß Du Bousquiers jene unheilvolle Gesinnung, die weder wirklich liberal, noch offen royalistisch war und aus der an dem Tage, wo sich der Kampf zwischen der erhabensten, größten, einzig wahren Macht, dem Königtum, und der flachesten, veränderlichsten, tyrannischsten, der sogenannten parlamentarischen Macht, die vom Abgeordnetenhaus ausgeübt wird, entspann, die ›Zweihunderteinundzwanzig‹ hervorgingen. Der Salon Du Ronceret, 209
der insgeheim mit dem Salon Cormon verbündet war, war freiheraus liberal. Der Abbé de Sponde litt bei seiner Rückkehr aus Le Prébaudet beständig; er drängte seine Schmerzen zwar zurück und verheimlichte sie vor seiner Nichte; aber er öffnete sein Herz Mademoiselle Armande, der er gestand, daß er, wenn schon eine Torheit begangen werden sollte, den Chevalier de Valois Monsieur du Bousquier vorgezogen hätte. Niemals wäre der Chevalier so herzlos gewesen, einem armen Greis, der nur noch kurze Zeit zu leben hat, soviel Verdruß zu bereiten. Du Bousquier hatte in der Wohnung alles zerstört. Der Abbé sagte, während bittere Tränen aus seinen glanzlosen Augen traten: »Mademoiselle, ich habe nicht einmal mehr den Laubengang, wo ich fünfzig Jahre auf und ab gewandelt bin. Meine vielgeliebten Linden hat man umgehauen. Kurz vor meinem Tode erscheint mir die Republik noch in der Form einer schrecklichen Umwälzung im eigenen Hause.« »Sie müssen Ihrer Nichte verzeihen«, meinte der Chevalier de Valois; »die republikanischen Ideen sind der erste Irrtum der Jugend, die nach der Freiheit begehrt und auf den schrecklichsten Despotismus, den des ohnmächtigen Pöbels, stößt. Ihre arme Nichte wird nicht dort gestraft, wo sie gesündigt hat.« »Was soll ich in einem Hause anfangen, wo nackte Frauen auf den Wänden tanzen? Wo finde ich die Linden, unter denen ich mein Brevier gelesen habe?« Gleich Kant, der keine Verbindung mehr in seine Gedanken bringen konnte, als man ihm die Tanne gefällt hatte, auf die er während seiner Betrachtungen zu blicken gewohnt war, konnte der gute Abbé seinen Gebeten nicht mehr denselben Schwung geben, weil er über schattenlose Gartenwege wandelte. Du 210
Bousquier hatte einen englischen Garten anlegen lassen. »»Es ist besser so«, sagte Madame du Bousquier, ohne es zu glauben, jedoch der Abbé Couturier hatte ihr Absolution gegeben, vieles zu tun, um ihrem Mann zu gefallen. Diese Restauration raubte dem Hause allen Glanz, alle Ehrwürdigkeit, seinen ganzen patriarchalischen Anstrich. Wie der Chevalier de Valois, dessen Verwahrlosung einer Abdankung gleichkam, existierte die bürgerliche Majestät des Salons Cormon nicht mehr, als er in Weiß mit Gold verwandelt, mit Ottomanen aus Mahagoni möbliert und mit blauer Seide austapeziert war. Der modern ausgeschmückte Speisesaal ließ die Schüsseln rasch kalt werden, man aß dort nicht mehr so gut wie früher, Monsieur Coudrai behauptete, daß ihm die guten Witze in der Kehle steckenblieben, wenn sein Blick auf die gemalten Figuren an der Wand fiele, die ihm gerade ins Gesicht starrten. Äußerlich war die Provinz noch zu merken; das Innere des Hauses deutete auf den Lieferanten des Direktoriums. Es war der schlechte Geschmack des Wechselagenten: Säulen aus Stuck, Glastüren, griechische Gesimse, Goldleisten, alle Stile durcheinander, eine Pracht ohne Sinn und Zusammenhang. Die Stadt Alençon hielt sich vierzehn Tage lang über diesen Luxus auf, der unerhört schien; dann einige Monate später war sie stolz darauf, und mehrere reiche Fabrikanten erneuerten ihr Mobiliar und richteten sich neue Salons ein. In der Stadt kamen moderne Möbel auf. Man sah Astrallampen! Der Abbé de Sponde kam als erster hinter die heimlichen Leiden, die diese Ehe in das Leben seiner geliebten Nichte bringen sollte. Der Charakter edler Einfachheit, der ihr gemeinsames Dasein ausgezeichnet hatte, ging im ersten Winter verloren, währenddessen Du Bousquier im Monat zwei Bälle gab. In diesem gottesfürchtigen Hause sollten Violine und die profane Musik weltlicher Feste ertönen! Der Abbé lag betend auf den Knien, solange die Belustigung dauerte. Dann wurde das politi211
sche System dieses ernsten Salons langsam umgewandelt. Der Großvikar durchschaute Du Bousquier: er zitterte vor seinem herrischen Ton, er sah Tränen in den Augen seiner Nichte, als sie die Verfügung über ihr Vermögen aufgeben mußte und ihr Mann ihr nur noch die Verwaltung über die Wäsche, den Tisch und die Dinge ließ, die das Gebiet der Frauen sind. Rose hatte keine Befehle mehr zu erteilen. Einzig der Wille des Hausherrn war entscheidend für Jacquelin, der ausschließlich Kutscher geworden war, für René, den Groom, für einen Küchenchef, den man aus Paris hatte kommen lassen, denn Mariette war nur noch Küchenmädchen. Madame du Bousquier hatte nur noch Josette zu regieren. Weiß man, wie schwer es ist, auf die köstlichen Gewohnheiten der Macht zu verzichten? Wenn der Triumph des Willens für große Männer ein berauschendes Vergnügen ist, so ist er für beschränkte Geschöpfe das ganze Leben. Man muß Minister gewesen und in Ungnade gefallen sein, um den herben Schmerz der Madame du Bousquier zu ermessen, da sie zum vollständigsten Helotentum herabsank. Sie mußte oft spazierenfahren, wenn sie keine Lust dazu hatte, Leute bei sich zu sehen, die ihr nicht gefielen; sie hatte ihr liebes Geld nicht mehr unter sich, sie, die hatte ausgeben können, soviel sie wollte, und gar nichts ausgegeben hatte. Jede festgezogene Grenze flößt den Wunsch ein. sie zu überschreiten. Die heftigsten Leiden kommen davon, daß man den freien Willen unterbindet. Doch waren diese Anfänge noch glücklich. Jedes Zugeständnis an die Autorität des Gatten wurde der armen Frau von ihrer Liebe zu ihm diktiert. Du Bousquier benahm sich anfangs ausgezeichnet zu seiner Gattin; er war liebenswürdig, gab ihr für jeden netten Eingriff einleuchtende Gründe. Das lang verödete Schlafzimmer widerhallte am Abend von den Gesprächen der beiden Gatten am Kamin. Während der ersten, zwei Jahre ihrer Ehe erschien Madame du Bousquier sehr zufrieden. Sie hatte die ungezwungene, etwas verschmitzte Miene, die man bei jungen Frauen, die eine Liebesheirat gemacht 212
haben, trifft. Das Blut setzte ihr nicht mehr zu. Diese Haltung verwirrte die Spötter, dementierte die Gerüchte, die über die Bousquier im Umlauf waren, und machte die Beobachter des menschlichen Herzens stutzig. Rose-Marie-Victoire fürchtete so sehr, die Liebe ihres Mannes und seines Gesellschaft zu verlieren, wenn sie ihm mißfiele oder Anstoß bei ihm erregte, daß sie ihm alles geopfert hätte, selbst ihren Onkel. Die kleinen nichtigen Freuden Madame de Bousquiers täuschten den Abbé, der seine persönlichen Bekümmernisse leichter trug in dem Gedanken, daß seines Nichte glücklich sei: Alençon dachte anfangs wie der Abbé. Aber da war ein Mann, der war schwerer zu täuschen ;als die ganze Stadt. Der Chevalier de Valois, der auf den heiligen Berg der hohen Aristokratie geflüchtet war, verbrachte sein Leben bei den d'Esgrignon. Er hörte die Klatschereien und üblen Nachreden und dachte Tag und Nacht, daß er nicht sterben dürfe, bevor er sich gerächt habe. Es hatte dem Mann mit den Witzen einen Schlag versetzt, er wollte Du Bousquier mitten ins Herz treffen. Der arme Abbé sah, in welche Niederträchtigkeit seine Nichte durch ihre erste und letzte Liebe hineinkam; er schauderte, als sich ihm die heuchlerische Natur seines Neffen enthüllte und er sein hinterlistiges Getriebe durchschaute. Obwohl Du Bousquier sich bei dem Gedanken an die Erbschaft seines Onkels zusammennahm und ihm keinen Verdruß bereiten wollte, fügte er ihm doch eine letzte Kränkung zu, die ihn ins Grab brachte. Wenn man das Wort ›Intoleranz‹ durch das Wort ›Prinzipientreue‹ ersetzt, wenn man einsieht, daß der Stoizismus, den man beispielsweise bei Walter Scott an der puritanischen Seele des Vaters Jeanie Deans bewundert, in der katholischen Seele des ehemaligen Großvikars nicht zu verdammen ist; wenn man das ›Pontius mori quam foedari‹, das immer in der republikanischen Gesinnung groß erscheint, in der römischen Kirche anerkennt, dann wird man begreifen, welchen Schmerz es dem Abbé de Sponde bereiten mußte, als er in dem Salon seines Neffen den abtrünni213
gen, rückfälligen, ketzerischen Priester, den Feind der Kirche, den Verfechter des Eides auf die Verfassung sah. Du Bousquier, dessen geheimer Ehrgeiz es war, das Land zu regieren, wollte zum ersten Pfande seiner Macht den Vikar von Saint Léonard mit dem Stadtpfarrer versöhnen, und er erreichte sein Ziel. Seine Frau glaubte ein Werk des Friedens zu tun, da, wo der unwandelbare Abbé nur Verrat sah. Der Abbé de Sponde sah sich in seinem Glauben vereinsamt. Der Bischof kam zu Du Bousquier und zeigte sich zufrieden über das Aufhören der Feindseligkeiten. Die Tugenden des Abbé François hatten alles besiegt, nur nicht den römischen Katholiken, der mit Corneille hätte ausrufen können: »Mein Gott, wie viele Tugend machst du mir verhaßt! Der Abbé starb, als die Orthodoxie in der Diözese erlosch. Im Jahre 1819 hatte das Erbteil des Abbé de Sponde die territorialen Einkünfte Madame du Bousquiers auf fünfundzwanzigtausend Livres gebracht, ohne Le Prebaudet und das Haus des Val-Noble zu rechnen. Um diese Zeit war es, daß Du Bousquier seiner Frau das Kapital der Ersparnisse, die sie ihm eingehändigt hatte, zurückgab; sie sollte es zur Erwerbung der an Le Prebaudet angrenzenden Ländereien verwenden, wodurch dieses Besitztum eins der beträchtlichsten des Departements wurde; denn die Güter, die dem Abbé de Sponde gehört hatten, stießen gleichfalls an Le Prebaudet. Niemand wußte, wie groß das private Vermögen Du Bousquiers war; er hatte seine Kapitalien bei den Kellers in Paris angelegt, wohin er vier Reisen im Jahre machte. Doch zu dieser Zeit galt er als der reichste Mann im Departement L'Orne, Dieser geschickte Mann, der ewige Kandidat der Liberalen, dem stets sieben oder acht Stimmen in allen unter der Restauration gelieferten Wahlschlachten fehlten und der, als er sich als royalistischer Ministerieller wählen lassen wollte, wobei es ihm nicht gelang, den Widerwillen der Regierung zu überwinden, obgleich ihm die 214
Kongregation und der Magistrat zur Seite standen, die Liberalen nach außen hin schmähte; dieser haßerfüllte, rasend ehrgeizige Republikaner beschloß im Augenblick, wo sie siegreich waren, mit dem Royalismus und der Aristokratie im Lande zu kämpfen. Du Bousquier stützte sich mittels einer gut gespielten Frömmigkeit auf die Priesterschaft: er begleitete seine Frau in die Kirche, er gab Geld für die Klöster der Stadt, unterstützte die Brüderschaft vom Heiligen Herzen und sprach sich bei allen Gelegenheiten, wo die Geistlichkeit gegen die Stadt, das Departement oder den Staat kämpfte, für die Geistlichkeit aus. Von den Liberalen heimlich gehalten, von der Geistlichkeit beschützt, nach außen konstitutioneller Royalist, stand er stets der Aristokratie zur Seite, um sie zu ruinieren, und es gelang ihm. Immer aufmerksam auf die Fehler, die die Regierung und die Adelsspitzen begingen, führte er mit Hilfe der Bourgeoisie alle Verbesserungen aus, die der Adel, die Pairs und das Ministerium vorschlugen und in die Wege leiteten und die sie infolge der albernen Eifersucht der Mächtigen in Frankreich wieder verdarben. Die konstitutionelle Partei behielt die Oberhand in der Sache des Pfarrers, in der Errichtung des Theaters, in allen Fragen der Vergrößerung, die Du Bousquier vorausgesehen hatte und die er von der liberalen Partei, zu der er sich gesellte, wenn die Debatten ihren Höhepunkt erreichten, um das Wohl des Landes zu verfechten, vorschlagen ließ. Du Bousquier führte in das Departement die Industrie ein. Er beschleunigte das Aufblühen der Provinz, den Familien zum Trotz, die an der Route de Bretagne wohnten. Er bereitete so seine Rache gegen die Besitzer von Schlössern vor, besonders gegen die d'Esgrignon, denen er eines Tages einen giftigen Dolch in die Brust stoßen wollte. Er gab Summen, um die Spitzenmanufaktur von Alençon zu fördern; er belebte den Leinenhandel, die Stadt bekam eine Weberei. Indem er sich so mit allen Interessen befaßte und ins Herz der Massen einschrieb, indem er tat, was das Königtum unterließ, riskierte er keinen roten Heller. 215
Von seinem großen Vermögen gestützt, konnte er die Realisierung abwarten, die unternehmende, aber in ihren Bewegungen durch Geldmangel gehemmte Leute so oft glücklichen Nachfolgern überlassen müssen. Er machte sich zum Bankier. Dieser Laffitte im kleinen schoß Geld zu allen neuen Erfindungen vor, verschaffte sich aber vorher Sicherheiten. Er machte sehr gute Geschäfte bei seinen Bemühungen um das öffentliche Wohl; er rief die Versicherungsgesellschaften ins Leben, war der Protektor der neuen Unternehmungen für öffentliche Verkehrsmittel; er veranlaßte die Petitionen an die Regierung zur Erlangung der nötigen Straßen und Brücken. Da er der Regierung also zuvorkam, erblickte sie darin einen Eingriff in ihre Machtsphäre. Die Kämpfe entspannen sich für sie zur Unzeit, denn das Wohl des Landes erforderte es, daß die Behörde nachgab. Du Bousquier brachte den Adel der Provinz gegen den Adel des Hofes und die Pairs auf. Schließlich bewerkstelligte er den erschreckenden Beitritt eines ansehnlichen Teils der konstitutionellen Royalisten zu dem Kampf, den das ›Journal des Debats‹ und Monsieur de Chateaubriand gegen den Thron führten, einer undankbaren Opposition, die auf schimpflichen Interessen beruhte und eine der Ursachen des Sieges der Bourgeoisie und des Journalismus im Jahre 1830 war. So hatten Du Bousquier und seine Partei das Glück, das Leichenbegängnis des Königtums, das keinerlei Sympathiekundgebung hervorrief, mit anzusehen, denn die Provinz war aus vielerlei hier unvollkommen aufgeführten Ursachen längst von ihm abgefallen. Der alte Republikaner, der so viele Messen auf dem Buckel und fünfzehn Jahre Komödie gespielt hatte, um seine Vendetta zu befriedigen, riß selbst auf dem Rathaus unter dem Beifall der Menge die weiße Fahne herunter. Kein Mann in Frankreich warf auf den im August des Jahres 1830 errichteten neuen Thron einen so berauschten Blick freudiger Rache. Für ihn war die Thronbesteigung des jüngeren Zweiges der Sieg der Revolution. Für ihn war der Sieg der Trikolore die Wieder216
auferstehung des Berges, der diesmal den Adel durch ein sichereres Mittel als das der Guillotine niedermachen würde, weil es ein weniger gewaltsames war. Die Pairswürde ohne Erblichkeit, die Nationalgarde, die den Krämer von der Ecke und den Marquis auf das nämliche Feldbett wirft, die Abschaffung der Majorate, die ein bürgerlicher Advokat verlangte, die ihrer Oberherrschaft beraubte katholische Kirche, alle gesetzgebenden Neuerungen vom August 1830 waren für Du Bousquier die kunstgerechteste Anwendung der Prinzipien von 1793. Seit l830 ist dieser Mann Obersteuereinnehmer. Er stützte sich, um weiter zu kommen, auf seine Verbindung zum Duc d'Orleans, dem Vater des Königs Louis-Philippe, und mit Monsieur de Folmon, dem ehemaligen Intendanten der verwitweten Duchesse d'Orleans. Man schätzt ihn auf achtzigtausend Livres Rente. In den Augen seines Landes ist Monsieur du Bousquier ein vortrefflicher, achtbarer Mann von unerschütterlichen Grundsätzen, makellos, von verbindlichem Wesen. Alençon verdankt ihm seinen Anschluß an die industrielle Bewegung, die es zum ersten Glied einer Kette, die die Bretagne vielleicht eines Tages mit dem, was man die moderne Zivilisation nennt, verbinden wird. Alençon, das im Jahre 1816 keine zwei eigenen Wagen besaß, sah zehn Jahre später, ohne sich darüber zu verwundern, Kaleschen, Coupés, Landauer, Kabrioletts und Tilburys durch seine Straßen rollen. Die Bürger und Grundbesitzer, die zuerst voll Schrecken darüber waren, daß die Preise in die Höhe gingen, sahen später ein, daß diese Preiserhöhung eine finanzielle Rückwirkung in ihren Einkünften hatte. Das prophetische Wort des Präsidenten Du Ronceret: »Du Bousquier ist ein Mann von Bedeutung!« wurde von der ganzen Gegend übernommen. Aber unglücklicherweise hat dieser Satz für seine Frau eine schreckliche Kehrseite. Der Ehemann gleicht in nichts dem Mann der Öffentlichkeit, dem Politiker. Dieser treffliche Bürger, so liberal nach außen, so gutmütig, von soviel Liebe für sein Land beseelt, ist zu Hause ein Despot 217
und ohne Spur von ehelicher Liebe. Dieser so tief verschlagene, heuchlerische und schlaue Mann, dieser Cromwell des ValNoble, benimmt sich in seinem Hause, wie er sich gegen die Aristokratie benahm, die er liebkoste, um sie zu erdrosseln. Wie sein Freund Bernadotte zog er einen samtenen Handschuh über seine Hand aus Eisen. Seine Frau schenkte ihm keine Kinder. Die Aussage Suzannes, die Andeutungen des Chevaliers trafen also zu. Aber die liberale Bourgeoisie, die konstitutionell royalistische Bourgeoisie, der Landadel, die Stadtverwaltung und die »Priesterpartei, wie sie der ›Constutionnel‹ nannte, gaben Madame du Bousquier die Schuld. »Monsieur du Bousquier habe sie geheiratet, als sie schon zu alt war!« sagte man. Außerdem, welch Glück für die Arme, denn in ihrem Alter ist es so gefährlich, Kinder zu bekommen! Wenn Madame du Bousquier unter Tränen Madame Coudrai oder Madame du Ronceret ihre periodische Bekümmernis klagte, sagten diese Damen: »Was fällt Ihnen ein, meine Liebe, Sie wissen nicht, was Sie wünschen; ein Kind wäre Ihr Tod!« Viele Männer, die wie Coudrai ihre Hoffnungen auf den Sieg Du Bousquiers setzten, ließen durch ihre Frauen sein Lob verkünden. Man versetzte der armen Person so grausame Reden wie: »Sie können von Glück sagen, daß Sie einen so tüchtigen Mann bekommen haben! Ihnen wird es nicht so gehen wie andern Frauen, die Waschlappen zu Männern haben, unfähig, ihre Interessen wahrzunehmen und die Kinder anzuleiten.« »Ihr Mann macht Sie zur ersten Frau des Landes! Mit dem sind Sie nicht angeführt: der regiert ganz Alençon.« »Aber es wäre mir lieber«, erwiderte die arme Madame, »daß er sich weniger um die öffentlichen Angelegenheiten kümmerte und ...«
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»Sie sind schwer zu befriedigen, liebe Madame du Bousquier, alle Frauen beneiden Sie um Ihren Mann.« So von aller Welt falsch beurteilt, die anfing, sie ins Unrecht zu setzen, fand sie, als Christin, in ihrem Innern die Kraft, ihre Tugenden zu entfalten. Sie verbrachte ihr Leben in Tränen und zeigte der Welt stets eine ruhige Außenseite. War es für ein frommes Gemüt nicht ein Verbrechen daß ihr der Gedanke fortwährend das Herz zernagte: ›Ich liebte den Chevalier de Valois, und ich bin die Frau Du Bousquier!‹ Die Liebe von Athanase bereitete ihr auch Gewissensbisse und verfolgte sie in ihren Träumen. Der Tod ihres Onkels, dessen Besorgnisse zur Wahrheit geworden waren, machte ihr die Zukunft noch trüber, denn sie mußte immer denken, welcher Kummer es für ihren Onkel gewesen wäre, den Umschwung der politischen und religiösen Überzeugung des Hauses Cormon zu sehen. Oft bricht das Unglück mit der Geschwindigkeit des Blitzes herein wie bei Madame Granson; bei der alten Jungfer breitete es sich wie ein Tropfen Öl aus, der langsam den ganzen Stoff durchtränkt. Der Chevalier de Valois war der arglistige Schmied des Unglücks der Madame du Bousquier. Es lag ihm am Herzen, ihr die Schuppen von den Augen fallen zu lassen; denn der in Liebesdingen so erfahrene Chevalier durchschaute den verheirateten Du Bousquier, wie er den Junggesellen durchschaut hatte. Doch der tiefgründige Republikaner war nicht so leicht zu fassen: sein Salon war dem Chevalier de Valois natürlich verschlossen, wie all denen, welche in den ersten Tagen seiner Ehe das Haus Cormon verleugnet hatten. Überdies war er über die Lächerlichkeit erhaben, er besaß ein ungeheures Vermögen, er herrschte in Alençon, seine Frau kümmerte ihn gerade so viel, wie es Richard III. gekümmert hätte, das Pferd krepieren 219
zu sehen, mit dessen Hilfe er die Schlacht gewonnen. Ihrem Manne zu Gefallen hatte Madame du Bousquier mit dem Hause d'Esgrignon gebrochen; sie ging nicht mehr hin; doch wenn ihr Mann sie bei seinen Reisen nach Paris allein ließ, machte sie Mademoiselle Armande einen Besuch. Zwei Jahre nach ihrer Heirat, beim Tod des Abbé de Sponde, redete Mademoiselle Armande Madame du Bousquier an, als sie SaintLéonard, wo sie eine Totenmesse für den Abbé gehört hatte, verließ. Das. großmütige Mädchen glaubte der trauernden Erbin bei dieser Gelegenheit etwas Tröstliches sagen zu müssen. Sie gingen zusammen im Gespräch über den teuren Entschlafenen von Saint-Léonard auf den Korso, und vom Korso erreichten sie das Madame du Bousquier verbotene Haus d'Esgrignon, in das Mademoiselle Armande sie durch die gewinnende Unterhaltung hineinzog. Die arme betrübte Frau fand einen Trost darin, mit einem Menschen über ihren Onkel zu reden, der diesem so nahegestanden hatte. Auch wollte sie die Begrüßung des alten Marquis, den sie schon drei Jahre nicht mehr gesehen hatte, entgegennehmen. Es war halb zwei Uhr. sie traf den Chevalier de Valois, der zu Tisch da war und der zum Gruß ihre beiden Hände nahm. »Nun, verehrungswürdige, geliebte Madame«, sagte er mit bewegter Stimme, »wir haben unsern gottergebenen Freund verloren; wir teilen Ihre Trauer, ja Ihr Verlust wird hier ebenso tief gefühlt wie bei Ihnen zu Hause ... mehr noch«, fügte er mit einer Anspielung auf Du Bousquier hinzu. Nach einigen Beileidsbezeigungen, die jeder heruntersagte, nahm der Chevalier galant den Arm von Madame du Bousquier, legte ihn auf den seinen, drückte ihn zärtlich und führte sie in eine Fensternische.
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»Sind Sie wenigstens glücklich?« fragte er mit väterlichem Ton. »Ja«, erwiderte sie und senkte den Blick. Bei diesem ›Ja‹ gesellten sich Madame de Troisville, die Tochter der Fürstin Scherbeloff, und die alte Marquise de Castéran, von Mademoiselle Armande begleitet, zum Chevalier. Alle gingen bis zum Mittagessen in den Garten, und Madame du Bousquier, von ihrem Schmerz ganz betäubt, merkte nicht, daß die Damen und der Chevalier es auf eine kleine Verschwörung der Neugierde angelegt hatten. ›Wir haben sie, nun wollen wir die Lösung des Rätsels wissen!‹ stand in den Blicken geschrieben, die diese sich zuwarfen. »Damit Ihr Glück vollständig würde, müßten Sie Kinder haben, einen schönen Knaben wie meinen Neffen ...« meinte Mademoiselle Armande. Madame du Bousquier kamen Tränen in die Augen. »Ich habe sagen hören, daß Sie in dieser Sache der einzig schuldige Teil sind, daß Sie vor einer Schwangerschaft Angst haben«, meinte der Chevalier. »Ich!« rief sie naiv, »ich würde hundert Jahre Hölle hinnehmen, wenn ich nur dadurch ein Kind erkaufen könnte!« Nachdem diese Frage angeschnitten war, entspann sich eine Unterhaltung, die von der Vicomtesse de Troisville und der alten Marquise de Castéran mit großer Geschicklichkeit geführt wurde. Sie umstrickten die arme Frau derart, daß sie, ohne es gewahr zu werden, alle Geheimnisse ihrer Ehe preisgab, Mademoiselle Armande hatte den Arm des Chevaliers genommen 221
und sich mit ihm entfernt, damit die drei Frauen über die Ehe plaudern konnten, Madame du Bousquier wurden dann über die tausend Enttäuschungen ihrer Ehe die Augen geöffnet, und da sie dumm war wie zuvor, amüsierte sie ihre Vertrauten durch köstliche Naivitäten. Obwohl die taube Ehe der ehemaligen Mademoiselle Cormon im ersten Augenblick die ganze Stadt belustigte, die bald in die Mühen Du Bousquiers eingeweiht wurde, gewann sich Madame du Bousquier trotzdem die Achtung und die Sympathie aller Frauen. Solange Mademoiselle Cormon auf eine Heirat Jagd gemacht hatte, ohne daß es ihr geglückt war, machte sich jeder über sie lustig; doch als man sah, in welche besondere Lage sie die Strenge ihrer religiösen Prinzipien versetzte, bewunderte man sie. Aus der ›guten Mademoiselle Cormon‹ wurde die ›arme Madame du Bousquier‹. Der Chevalier machte so Du Bousquier allerdings für einige Zeit verhaßt und lächerlich, aber schließlich nahm die Lächerlichkeit ab; und nachdem jeder seinem Witz über ihn freien Lauf gelassen hatte, erschöpfte sich die Klatschsucht. Dann schien der geschwächte Republikaner, da er schon siebenundfünfzig Jahre zählte, vielen auch ein Recht auf den Ruhestand zu haben. Diese Begebenheit aber verschärfte den Haß, den Du Bousquier gegen das Haus d'Esgrignon hegte, bis zu einem Grade, daß er ihn am Tage der Rache unerbittlich machte. Madame du Bousquier erhielt den Befehl, niemals wieder den Fuß in dieses Haus zu setzen. In Wiedervergeltung des Streichs, den der Chevalier ihm gespielt hatte, ließ er in den ›Courrier de l'Orne‹, den er kurz vorher gegründet hatte, die folgende Anzeige einrücken: ›Diejenige Person, die die Existenz eines gewissen Monsieur de Pombreton vor, während oder nach der Emigration nachweisen kann, erhält eine jährliche Rente von tausend Francs.‹
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Obwohl die Ehe von Madame du Bousquier im wesentlichen negativer Natur war, erblickte sie darin doch Vorteile: war es nicht besser, für den bedeutendsten Mann der Stadt zu sorgen, als allein zu leben? Du Bousquier war immerhin den Hunden, Katzen, Zeisigen vorzuziehen, an die die alten Jungfern ihr Herz hängen; er brachte seiner Frau doch wenigstens ein reelleres und weniger eigennütziges Gefühl entgegen als die Dienstboten, die Beichtväter und die Erbschleicher. Späterhin sah sie in ihrem Mann das Werkzeug göttlichen Zornes, denn in ihrer Sehnsucht nach der Ehe erkannte sie unzählige Sünden; sie erhielt nun die gerechte Strafe für das Unglück Madame Gransons, das sie verschuldet hatte, und den vorzeitigen Tod ihres Onkels. Der Religion gehorsam, die befiehlt, die Rute zu küssen, die einen züchtigt, pries sie ihren Man und lobte ihn öffentlich, jedoch im Beichtstuhl oder des Abends beim Gebot weinte sie oft und flehte zu Gott um Vergebung für die Abtrünnigkeit ihres Mannes, der das Gegenteil von dem dachte, was er sagte, der der Aristokratie und der Kirche, den beiden Religionen des Hauses Cormon, den Tod wünschte. Alle ihre Gefühle waren zertreten und hingeopfert worden; doch die Pflicht zwang sie, ihrem Mann ein glückliches Los zu bereiten, ihm nichts in den Weg zu legen, und eine unerklärliche Zuneigung, die vielleicht die Gewohnheit gezeitigt hatte, band sie an ihn: so war ihr ganzes Leben zum dauernden Widersinn geworden. Sie hatte einen Mann geheiratet, dessen Führung und Gesinnungen ihr ein Greuel waren, um den sie jedoch in ständiger Sorgfalt bemüht sein sollte. Oft war sie im siebenten Himmel, wenn Du Bousquier ihr Eingemachtes oder das Essen schmeckte; sie wachte darüber, daß seine kleinsten Wünsche befriedigt wurden. Wenn er das Kreuzband seiner Zeitung auf dem Tisch liegen ließ, anstatt es wegzuwerfen, sagte sie: »Lassen Sie es, René, Monsieur hat es nicht ohne Absicht hingelegt!«
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Ging Du Bousquier auf Reisen, so kümmerte sie sich um seinen Mantel, seine Wäsche; sein materielles Wohlsein beschäftigte sie bis ins kleinste. Wenn er nach Le Prébaudet fuhr, studierte sie das Barometer schon am Abend vorher, um zu sehen, ob das Wetter schön würde. Sie suchte aus seinem Blick seinen Willen zu erraten, wie ein Hund, der auch im Schlaf seinen Herrn hört und sieht. Wenn der dicke Du Bousquier, von dieser befohlenen Liebe besiegt, sie um die Taille faßte, auf die Stirn küßte und sagte: »Du bist eine gute Frau!«, traten dem armen Geschöpf Freudentränen in die Augen. Vielleicht, daß sich Du Bousquier zu einer Entschädigung, die ihm die Achtung von Rose-Marie-Victoire verschaffen sollte, verpflichtet glaubte, denn die katholische Tugend befiehlt keine so vollkommene Verstellung, wie die von Madame du Bousquier war. Wenn aber die gottesfürchtige Frau manchmal die Reden mit anhörte, die haßerfüllte Leute, die sich hinter die konstitutionellen Meinungen versteckten, in ihrem Hause hielten, blieb sie stumm. Sie schauderte, wenn sie den Untergang der Kirche voraussah; manchmal wagte sie ein dummes Wort, eine Bemerkung, die Du Bousquier mit einem Blick entzweischnitt. Der Widerstreit einer derart hin und her gezerrten Existenz machte Madame du Bousquier schließlich ganz stumpfsinnig; sie fand es einfacher und würdiger, ihre Intelligenz ganz nach innen zu kehren, ohne Proben davon zu geben, und war es zufrieden, ein rein animalisches Dasein zu führen. Sie zeigte eine sklavische Unterwürfigkeit und hielt es für ein verdienstliches Werk, daß sie die Erniedrigung, in die ihr Mann sie versetzte, hinnahm. Der Gehorsam, den sie ihrem Mann leistete, entlockte ihr nie das geringste Murren. Dieses furchtsame Schaf wandelte fürderhin auf den Wegen, die der Hirte ihm vorzeichnete. Sie verließ nicht mehr den Schoß der Kirche, widmete sich ganz den strengsten religiösen Übungen und entsagte Satan und seinen weltlichen Freuden und Werken. So bot sie die Vereinigung der reinsten christlichen Tugenden in ihrer Person, und 224
Du Bousquier wurde sicherlich einer der glücklichsten Männer des Königreichs Frankreich und Navarra. »Sie bleibt einfältig bis zu ihrem letzten Atemzuge«, sagte der seines Postens enthobene grausame Vorsteher des Hypothekenamts, der aber trotzdem in der Woche zweimal bei ihnen zu Tisch war. Diese Geschichte bliebe seltsam unvollkommen, wenn man nicht des seltsamen Zusammentreffens des Todes des Chevaliers de Valois mit dem Tode von Suzannes Mutter Erwähnung tun würde. Der Chevalier starb zugleich mit der Monarchie im August 1830. Er gesellte sich zu dem Gefolge Karls X. in Nonancourt und begleitete den König ehrerbietig mit allen Troisville, den Castéran, den Verneuil usw. bis Cherbourg. Der alte Edelmann hatte fünfzigtausend Francs, zu welcher Summe seine Ersparnisse und der Wert der Rente angewachsen waren, mit sich genommen; er gab sie mit dem Hinweis auf seinen baldigen Tod einem der Getreuen seines Herrn, der sie dem König mit den Worten einhändigen sollte, daß dieses Geld von der Güte Seiner Majestät herrührt und daß der Besitz des letzten der Valois der Krone gebühre. Man weiß nicht, ob diese inbrünstige Beflissenheit das Widerstreben des Bourbonen bezwang, der sein schönes Königreich ohne einen Sou verließ und den die Hingebung des Chevaliers doch wohl rühren mußte; sicher ist, daß Cesarine, die Universalerbin des Monsieur de Valois, kaum sechshundert Livres Rente erhielt. Der Chevalier kehrte, von Schmerz und Erschöpfung überwältigt, nach Alençon zurück, und er starb, als Karl X. den Boden des Exils betrat. Madame du Val-Noble und ihr Beschützer, der im jener Zeit die Rache der liberalen Partei fürchtete, waren froh, einen Vorwand zu haben, um inkognito in das Dorf kommen zu kön225
nen, wo Suzannes Mutter starb. Bei der Versteigerung, die nach dem Hinscheiden des Chevaliers de Valois abgehalten wurde, trieb Suzanne, die ein Andenken von ihrem ersten guten Freund zu haben wünschte, den Preis der Tabaksdose auf die enorme Summe von tausend Francs. Das Porträt der Prinzessin Goritza war schon allein so viel wert. Zwei Jahre später erlangte ein junger Stutzer, der sich eine Sammlung der schönsten Tabaksdosen des letzten Jahrhunderts angelegt hatte, von Suzanne die des Chevaliers, die sich durch eine wunderschöne Form auszeichnete. Das Kleinod, das der Vertraute der ritterlichsten Liebe und der Trost eines alten Mannes gewesen war, fand nunmehr seinen Platz in einer Art Privatmuseum. Wenn die Toten wissen könnten, was nach ihrem Ableben geschieht, so müßte die linke Seite des Chevaliers in diesem Augenblick erröten. Wenn diese Geschichte nur die Wirkung hätte, den Besitzern teurer Reliquien einen frommen Schauder einzuflößen, so daß sie in einer Testamentsklausel über den Verbleib kostbarer Erinnerungszeichen eines vergangenen Glücks die Bestimmung treffen, sie nur in brüderliche Hände gelangen zu lassen, so würde sie dem romantischen, zu Herzensabenteuern neigenden Teil des Publikums schon einen großen Dienst erweisen; aber sie enthält noch eine höhere Moral... Tut sie nicht die Notwendigkeit einer Reform des Unterrichts dar? Ruft sie nicht förmlich das Einschreiten eines aufgeklärten Unterrichtsministeriums zur Errichtung von Lehrstühlen für Anthropologie an, einer Wissenschaft, in der uns Deutschland schon überholt hat? Die modernen Mythen sind noch schwerer zu verstehen als die Mythen des Altertums, obwohl man uns mit Mythen überhäuft. Die Mythen bedrängen uns von allen Seiten, sie sind zu allem nütze, erklären alles. Wenn sie, wie die humanistische Schule behauptet, die Fackeln der Geschichte sind, so werden sie die Reiche vor jeder Revolution bewahren, wenn nur die Professo226
ren der Geschichte die Erklärungen, die sie von ihnen geben, bis in die Volksmassen der Departements dringen lassen. Wäre Mademoiselle Cormon in der Literatur bewandert gewesen, hätte es in dem Departement de l'Orne einen Professor der Anthropologie gegeben, hätte sie Ariost gelesen, wäre es dann wohl zu all dem Ungemach ihres Ehelebens gekommen? Sie hätte dann vielleicht zu ergründen gesucht, warum der italienische Dichter uns zeigt, wie Angelika den Medor, der ein blonder Chevalier de Valois ist, dem Roland, dessen Roß umgekommen und der nur rasen konnte, vorzog. Kann Medor nicht als die mythische Gestalt der Höflinge des weiblichen Königtums gelten und Roland als der Mythus der zügellosen, rasenden, kraftlosen Revolutionen, die alles zerstören, ohne etwas zu zeugen? Wir sprechen hier, ohne die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen, die Meinung eines Schülers von Ballanche aus. Keine Kunde ist über die kleinen Diamant-Negerköpfe zu uns gedrungen. Man kann Madame du Val-Noble heute in der Oper sehen. Dank ihrer ersten Erziehung durch den Chevalier de Valois kann man sie beinahe für eine Dame der guten Gesellschaft halten, während sie doch nur eine Dame zur guten Gesellschaft ist. Madame du Bousquier lebt noch immer; heißt dies nicht, daß sie noch immer leidet? Als sie sechzig Jahre alt wurde, zu einem Zeitpunkt also, wo die Frauen es sich gestatten, Geständnisse zu machen, sagte sie zu Madame Coudrai, deren Mann im August 1830 seinen Posten wiedererlangte, sie ertrüge den Gedanken nicht, als Jungfrau zu sterben. Paris, Oktober 1836
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Die falsche Geliebte La fausse Maltresse, deutsch von Friedrich von OppelnBronikowski Im September 1835 heiratete eine der reichsten Erbinnen des Faubourg Saint-Germain, Fräulein du Rouvre, einzige Tochter des Marquis du Rouvre, einen jungen polnischen Verbannten, den Grafen Adam Mizislas Laginski. Man gestatte mir, die Namen so zu schreiben, wie sie gesprochen werden, denn ich möchte den Lesern den Anblick der Verschanzungen von Konsonanten ersparen, mit denen die slawische Sprache ihre Vokale umgibt, sicherlich damit sie bei ihrer geringen Zahl nicht verloren gehen. Der Marquis du Rouvre hatte eins der schönsten Adelsvermögen, dem er seine Verbindung mit einem Fräulein von Ronquerolles verdankte, fast völlig vergeudet. Durch sie hatte Clementine du Rouvre mütterlicherseits den Marquis von Ronquerolles zum Onkel und Frau von Sérizy zur Tante. Väterlicherseits besaß sie noch einen Onkel in der wunderlichen Gestalt des Chevalier du Rouvre. Das war der jüngere Sohn des Hauses, ein alter Junggeselle, der zu Gelde gekommen war und mit seinen Gütern und Häusern Geschäfte machte. Der Marquis du Rouvre hatte das Unglück gehabt, eins seiner beiden Kinder an der Cholera zu verlieren. Der einzige Sohn der Frau von Sérizy, ein junger, sehr hoffnungsvoller Offizier, fiel in Afrika im Kampf an der Macta. Heutzutage 228
schweben die reichen Familien ja in der Gefahr, durch zu viele Kinder zu verarmen oder bei ein bis zwei Kindern auszusterben: eine merkwürdige Wirkung des bürgerlichen Gesetzbuches, an die Napoleon nicht gedacht hat. Durch eine Laune des Zufalls wurde Clementine also zur Erbin, trotz der unsinnigen Ausgaben des Marquis du Rouvre für Florine, eine der reizendsten Pariser Schauspielerinnen. Der Marquis von Ronquerolles, ein sehr geschickter Diplomat der neuen Dynastie, seine Schwester, Frau von Sérizy, und der Chevalier du Rouvre taten sich nämlich zusammen, um ihr Vermögen aus den Klauen des Marquis zu retten und es für ihre Nichte sicherzustellen, der sie am Tag ihrer Verheiratung je 10 000 Franken Rente auszusetzen versprachen. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß der geflüchtete Pole der französischen Regierung keinen Heller kostete. Graf Adam gehörte einem der ältesten und erlauchtesten Geschlechter Polens an, das mit den meisten deutschen Fürstenhäusern und mit den Sapieha, Radziwill, Rzewuski, Czartoriski, Leszinski, Jablonowski, Cubomirski und allen großen sarmatischen kis verwandt war. Aber heraldische Kenntnisse sind nicht das Merkmal für das Frankreich Louis Philippes, und jener Adel konnte bei der damals herrschenden Bourgeoisie keine Empfehlung sein. Im übrigen führte Adam im Jahre 1833, wenn er sich auf dem Boulevard des Italiens, im Frascati, im Jockei-Club zeigte, das Leben eines jungen Mannes, der seinen politischen Hoffnungen entsagt hatte und sich auf seine Laster und seinen Vergnügungstrieb besann. Man hielt ihn für einen Studenten. Die polnische Nationalität war damals dank der häßlichen Reaktion der Regierung so tief gesunken, wie sie nach dem Wunsche der Republikaner hochstehen sollte. Der eigenartige Kampf zwischen Fortschritt und Stillstand, zwei Worte, die in dreißig Jahren unverständlich sein werden, machte etwas, das so achtbar hätte sein sollen, zum Spielball: den Namen eines niedergeworfenen Volkes, dem Frankreich Gastfreundschaft gewährte, für das man Feste 229
erfand, für das man Subskriptionsbälle und Konzerte veranstaltete, kurz, eines Volkes, das 1796, im Kampfe Europas gegen Frankreich, diesem 6000 Männer gestellt hatte, und was für Männer! Man ziehe daraus nicht den Schluß, Zar Nikolaus solle gegen Polen ins Unrecht gesetzt werden oder Polen gegen den Zaren Nikolaus. Es wäre zunächst ziemlich töricht, politische Erörterungen in eine Erzählung einzuflechten, die unterhalten oder fesseln soll. Zudem hatten Rußland und Polen beide recht, das eine wollte die Einheit seines Reiches und das andere die Wiedererlangung seiner Freiheit. Bemerkt sei hierbei, daß Polen Rußland moralisch erobern konnte, anstatt es mit den Waffen zu bekämpfen. Es hätte die Chinesen nachahmen können, denen es schließlich gelang, die Tartaren zu Chinesen zu machen, und die, man muß es hoffen, auch die Engländer zu Chinesen machen werden. Polen mußte Rußland polonisieren. Poniatowski hatte es in der am wenigsten gemäßigten Gegend des Zarenreiches versucht, aber dieser König blieb unverstanden, zumal er sich wahrscheinlich selbst nicht recht verstand. Wie hätte man diese armen Teufel nicht hassen sollen, als die Urheber der grauenhaften Lüge, die während der Revue begangen wurde, damals, als ganz Paris wünschte, den Polen beizustehen! Man tat, als betrachte man die Polen als Verbündete der republikanischen Partei, und bedachte dabei nicht, daß Polen eine Adelsrepublik war. Seitdem verfolgte das Bürgertum die Polen, die man kurz zuvor noch vergöttert hatte, mit seinem schäbigen Haß. Das Sturmzeichen eines Aufruhrs hat die Pariser noch stets und unter allen Regierungen vom Norden zum Süden umschlagen lassen. Diesen Wechsel der öffentlichen Meinung muß man sich vor Augen halten, will man verstehen, wie das Wort Pole im Jahre 1835 zur lächerlichen Bezeichnung bei einem Volke werden konnte, das sich für das geistreichste und gebildetste auf Erden hält und sich im Mittelpunkte der Aufklärung wähnt, in einer Stadt, die heute das Zepter der Kunst und der Literatur führt. Es gibt indes zwei 230
Sorten polnischer Flüchtlinge: den polnischen Republikaner, den Sohn Lelevels, und den adligen Polen der Partei, an deren Spitze Fürst Czartoriski steht. Diese beiden Sorten von Polen sind wie Feuer und Wasser – aber warum soll man ihnen deshalb grollen? Solche Spaltungen haben sich noch stets bei Flüchtlingen gezeigt, welcher Nation sie auch angehören, einerlei, in welches Land sie auswandern. Man bringt eben sein Land und seinen Haß mit. In Brüssel offenbarten zwei Emigranten, französische Priester, tiefen Abscheu vor einander, und wenn man den einen nach dem Warum fragte, wies er auf seinen Leidensgefährten und antwortete: »Er ist ein Jansenist.« Dante hätte in seiner Verbannung gern einen Gegner der »Weißen« erdolcht. Da liegt auch der Grund für die Angriffe der französischen Radikalen gegen den ehrwürdigen Fürsten Adam Czartoriski und für die Mißstimmung, die die Cäsaren vom Kramladen und die Alexander der Gewerbescheine gegen einen Teil der polnischen Auswanderer verbreiteten. Im Jahre 1837 hatte Mizlslas Laginski also die Pariser Spöttereien gegen sich. »Er ist nett, obgleich er Pole ist,« sagte Rastignac von ihm. »Alle diese Polen halten sich für große Herren,« sagte Maxime de Trailles. »Aber der bezahlt seine Spielschulden; ich glaube beinahe, er hat Güter besessen.« Ohne den Verbannten zu nahe zu treten, darf man doch darauf hinweisen, daß der Leichtsinn, die Sorglosigkeit und die Unzuverlässigkeit des sarmatischen Charakters Ursache waren für das boshafte Gerede der Pariser, die übrigens unter gleichen Umständen den Polen völlig gleich sein würden. Der französische Adel, der während der Revolution vom polnischen Adel so bewundernswert unterstützt wurde, hat den ausgewiesenen Polen von 1832 wahrlich nicht Gleiches mit Gleichem vergol231
ten. Gestehe man es doch traurigen Mutes: das Faubourg SaintGermain ist noch immer der Schuldner der Polen. War Graf Adam reich oder arm? War er ein Abenteurer? Diese Frage blieb lange ungeklärt. Die Salons der Diplomatie hielten sich an ihre Weisungen und ahmten das Schweigen des Zaren Nikolaus nach, der damals jeden polnischen Emigranten als gestorben ansah. Der Tuilerienhof und die Mehrzahl der Leute, die von ihm ihr Stichwort erhalten, gaben einen erschreckenden Beweis für dies politische Verhalten, das man als Weisheit ehrt. Man kannte dort einen russischen Fürsten nicht wieder, mit dem man während der Emigration Zigarren geraucht hatte, weil er beim Zaren Nikolaus in Ungnade gefallen schien. So lebten die vornehmen Polen bei der Zurückhaltung der Diplomatie und des Hofes in der biblischen Einsamkeit Super flumina Babylonis oder ließen sich in gewissen Salons blicken, die als neutraler Boden für alle Meinungen dienen. In einer Stadt des Vergnügens wie Paris, die in allen Stockwerken Zerstreuungen im Überfluß hat, fand der polnische Leichtsinn doppelt so viel Anlässe als nötig, um ein ungebundenes Junggesellenleben zu führen. Kurz, gestehen wir es: Adam hatte zunächst seine Lebensart und seine Manieren gegen sich. Es gibt zwei Sorten Polen, wie es zwei Sorten Engländerinnen gibt. Ist eine Engländerin nicht sehr schön, so ist sie abstoßend häßlich. Und Graf Adam gehört zur zweiten Gattung. Sein kleines, verkniffenes Gesicht scheint wie in einen Schraubstock gepreßt. Seine Stumpfnase, sein blondes Haar, sein roter Bart und Schnurrbart geben ihm das Aussehen einer Ziege, zumal er klein und hager ist und seine schmutziggelben Augäpfel durch den schiefen Blick auffallen, der aus Vergils Vers berühmt ist. Wie kann er bei so vielen körperlichen Nachteilen Manieren und einen vornehmen Ton besitzen? Die Lösung dieses Problems ergibt sich aus seinem dandyhaften Anzug und aus der Erziehung durch seine Mutter, eine Radziwill. Sein Mut geht bis zur Tollkühn232
heit, aber sein Geist übersteigt nicht die landläufigen Eintagswitze der Pariser Unterhaltung, und doch trifft er unter den jungen Modeherren nicht oft einen, der ihm überlegen ist. Die Gesellschaftsmenschen reden heute vielzuviel von Pferden, Einkünften, Steuern und Abgeordneten, als daß die französische Unterhaltung das bliebe, was sie war. Der Geist will Muße und gewisse gesellschaftliche Unterschiede. In Petersburg und Wien plaudert man wahrscheinlich besser als in Paris. Gleichstehende bedürfen keiner Feinheiten mehr; sie sagen ganz dumm alles, wie es ist. Die Pariser Spottvögel fanden also schwerlich etwas von einem großen Herrn in dieser Art von verbummeltem Studenten, der in der Unterhaltung sorglos von einem Gegenstand zum andern übersprang, der Vergnügungen leidenschaftlich nachlief, besonders weil er soeben großen Gefahren entronnen war, und der glaubte, fern dem Lande, das seine Familie kannte, ein regelloses Leben führen zu können, ohne sich der Mißachtung auszusetzen. Eines Tages im Jahre 1834 kaufte Adam in der Rue de la Pépinière ein Privathaus. Ein halbes Jahr darnach kam seine Lebensführung der der reichsten Pariser Häuser gleich. Im Augenblick, als Laginski sich selbst ernst zu nehmen begann, sah er Clementine im Théâtre des Italiens und verliebte sich in sie. Ein Jahr darauf fand die Hochzeit statt. Der Salon der Frau von Espard gab das Zeichen zu Lobreden. Nun erfuhren die Mütter heiratsfähiger Töchter zu spät, daß die Laginskis seit 900 zu den vornehmen Familien des Nordens zählen. Im Augenblick des polnischen Aufstandes hatte die Mutter des jungen Grafen in ganz unpolnischer Klugheit gewaltige Summen auf ihre Güter aufgenommen. Zwei jüdische Häuser hatten das Geld dargeliehen, und es war in französischen Werten angelegt worden. Graf Adam Laginski hatte also ein Einkommen von 80 000 Franken. Man wunderte sich nicht mehr über die Unbesonnenheit, mit der – nach der Ansicht vieler Salons – Frau von 233
Sérizy, der alte Diplomat Ronquerolles und der Chevalier du Rouvre der tollen Leidenschaft ihrer Nichte nachgegeben hatten. Wie stets, sprang man von einem Gegensatz zum andern. Im Winter 1836 war Graf Adam in Mode, und Clementine Laginska war eine der Königinnen von Paris. Die Gräfin Laginska gehört heute zu jener reizenden Gruppe junger Frauen, in der die Damen de l'Estorade, de Portenduère, Marie de Vandenesse, du Guénic und de Maufrigneuse als Blüten des heutigen Paris glänzen. Sie leben in großem Abstand von den Emporkömmlingen, den Bürgerlichen und den Machern der neuen Politik. Dies mußte vorausgeschickt werden, um die Sphäre zu bestimmen, in der eine jener erhabenen Handlungen sich abspielte, die weniger selten sind, als die Verächter der Gegenwart glauben, Handlungen, die gleich schönen Perlen die Frucht eines Leides oder eines Schmerzes sind und auch darin den Perlen gleichen, daß sie sich in rauhen Schalen verbergen und im Schoß jenes Abgrunds, jenes Meeres, jener ewig bewegten Flut ruhen, die man die Welt, das Jahrhundert, Paris, London, Petersburg oder sonst wie nennt. Wenn je die Wahrheit des Satzes bewiesen wurde, daß die Baukunst der Ausdruck der Sitten ist, so war es wohl seit dem Umsturz von 1830, unter der Herrschaft der Orléans der Fall! Alle Vermögen schmelzen in Frankreich zusammen; die majestätischen Privathäuser unserer Voreltern werden unaufhörlich abgerissen und durch eine Art von Siedlungen ersetzt, in denen der Pair des Frankreichs der Julimonarchie im dritten Stock über einem reichgewordenen Quacksalber wohnt. Alle Stile fließen durcheinander. Da kein Hof, kein tonangebender Adel mehr vorhanden ist, sieht man in den Schöpfungen der Kunst keine Einheitlichkeit mehr. Gerade die Baukunst hat nie zahlreichere Ersatzmittel zum Nachäffen des Echten und Gediegenen entdeckt, nie mehr Hilfsmittel und Spürsinn zur Ausnutzung des Raumes aufgebracht. Man gebe einem Künst234
ler den Gartensaum eines alten abgerissenen Familienhauses, und er führt ein kleines Louvre auf, das er mit Ornamenten überlädt. Er findet Raum für Hof, Stallungen und wenn man will, für einen Garten. Im Innern legt er so viel kleine Zimmer und Nebenräume an, weiß das Auge so gut zu täuschen, daß man sich behaglich zu fühlen glaubt. Kurz, es wimmelt derart von Wohnungen, daß eine Herzogsfamilie sich in dem alten Backhaus eines Gerichtspräsidenten bewegt. Das Haus der Gräfin Laginska, eine dieser Neuschöpfungen in der Rue de la Pépinière, liegt zwischen Hof und Garten. Rechterhand, im Hofe, ziehen sich die Wirtschaftsgebäude hin, links entsprechend die Remisen und Ställe. Die Portiersloge befindet sich zwischen zwei reizenden Toreinfahrten. Der große Luxus des Hauses besteht in einem entzückenden Treibhaus, anschließend an ein Boudoir im Erdgeschoß, in dem sich prächtige Empfangsräume ausbreiten. Ein aus England vertriebener Philanthrop hatte das Juwel der Baukunst errichtet, das Treibhaus entworfen, den Garten gezeichnet, die Türen lackiert, die Wirtschaftsgebäude nach Backsteinart bemalt, die Fenster grün angestrichen und einen jener Träume verwirklicht, wie es bei gleichen Maßverhältnissen Georg IV. in Brighton getan hatte. Der geschickte, fleißige und flinke Pariser Handwerker hatte die Türen und Fenster gemeißelt. Die Decken waren dem Mittelalter oder venezianischen Palästen nachgebildet, die Wände reich mit Marmorplatten belegt. Elschoet und Klagmann hatten die Sopraporten und Kamine ausgeführt. Schinner hatte die Decken prächtig bemalt. Die Pracht der Treppe, die weiß wie ein Frauenarm war, stritt mit der des Hotels Rothschild um den Vorrang. Dank der Aufstände betrugen die Kosten für diese Narrheit nicht mehr als elfhunderttausend Franken. Für einen Engländer war es geschenkt. Dieser ganze Luxus, der von Leuten, die nicht mehr wissen, was ein wahrer Fürst ist, fürstlich genannt wird, erfüllte den alten Garten des Hauses eines Ar235
meelieferanten, eines Krösus der Revolution, der nach einem Börsenkrach bankrott in Brüssel gestorben war. Der Engländer starb in Paris an Paris, denn für viele ist Paris eine Krankheit; es ist manchmal soviel wie mehrere Krankheiten. Seine Witwe, eine Methodistin, bekundete den größten Abscheu für das Häuschen des Nabobs. Der Philanthrop war Opiumhändler gewesen. Die tugendhafte Witwe ordnete den Verkauf des anstößigen Besitzes um jeden Preis an, in dem Augenblick, als die Aufstände den Frieden in Frage stellten. Graf Adam machte sich diese Gelegenheit zu nutze, wie, wird man erfahren, denn nichts lag weniger in seinen herrschaftlichen Gewohnheiten. Hinter dem Hause, das aus melonenartig geriffelten Steinen erbaut war, dehnt sich der grüne Samt eines englischen Rasenbeets, im Hintergründe beschattet von einer schön gewachsenen Gruppe exotischer Bäume, aus der sich ein chinesischer Pavillon mit seinen stummen Glocken und seinen unbeweglichen vergoldeten Eiern erhebt. Das Treibhaus mit seinen phantastischen Bauten verkleidet die südliche Abschlußmauer. Die andere Mauer gegenüber dem Treibhaus wird durch Kletterpflanzen verdeckt, die durch grün bemalte und mit Querhölzern verbundene Stangen eine Art von Portikus bilden. Diese Wiese, diese Blumenwelt, diese sandbestreuten Alleen, dies Scheinbild eines Waldes, diese luftigen Holzkonstruktionen nehmen einen Raum von 25 Quadratruten ein, die nach heutigem Preis, 400 000 Franken, soviel wert sind wie ein wirklicher Wald. In dieser stillen Oase inmitten von Paris singen die Vögel, Amseln, Nachtigallen, Buchfinken, Grasmücken und viele Sperlinge. Das Treibhaus ist ein riesiger Blumenkorb mit düfteschwerer Luft, in dem man zur Winterszeit lustwandelt, als ob der Sommer in aller Glut leuchte. Die Vorkehrungen, durch die man sich eine beliebige Atmosphäre von Torrida, China oder Japan verschafft, sind geschickt vor den Blicken versteckt. Die Röhren der Dampfheizung sind mit Erde bedeckt und erscheinen dem Blick als blühende Blumengirlanden. Ge236
räumig ist das Boudoir. Das Wunderwesen, die Fee von Paris, Baukunst genannt, versteht es, auf engem Raum alles groß erscheinen zu lassen. Das Boudoir der jungen Gräfin war das Meisterstück des Künstlers, dem die Neueinrichtung des Hauses von Graf Adam übertragen war. Unmöglich ist hier ein Fehltritt, es stehen zuviel Nippessachen herum. Ein Liebespaar fände keinen Raum zwischen den geschnitzten chinesischen Arbeitstischchen, auf denen das Auge Tausende von wunderlichen Figuren in Elfenbeinarbeit erblickt, mit denen zwei chinesische Familien sich abgemüht haben ; zwischen den Schalen aus Rauchtopas, die auf einem Filigranfuß ruhen, Mosaiken, die zum Diebstahl aufreizen, holländischen Gemälden, wie Schinner sie malt, Engeln, wie sie Steinbock entwirft, der die seinen nicht immer ausführt, Statuetten von der Hand von Genien, die von ihren Gläubigern verfolgt werden (die wahre Deutung der arabischen Mythen), prächtigen Skizzen unsrer ersten Künstler, Vorderteilen von Truhen, die als Wandvertäfelung mit phantastischen indischen Seidenstücken abwechseln, Türvorhängen, die in goldner Flut von einer Gardinenstange aus schwarzem Eichenholz herabrauschen, auf der eine ganze Jagdszene wimmelt, Möbeln, die einer Pompadour würdig sind, einem Perserteppich usw. Und ein letzter Reiz: diese Schätze verklärt ein gedämpftes Licht, das durch zwei Spitzenvorhänge sickert und sie noch reizvoller macht. Auf einer Konsole zwischen Altertümern eine Reitpeitsche, deren Knopf Fräulein von Fauveau geschnitzt haben soll und die verrät, daß die Gräfin gern reitet. So sieht ein Damenzimmer im Jahre 1837 aus, eine Ausstellung von Waren, die den Blick unterhalten, als würde die unruhigste und beunruhigteste Gesellschaft der Welt von Langeweile bedroht. Warum nichts Intimes, nichts, was zum Träumen, zur Stille einlädt? Warum? Niemand ist des nächsten Tags sicher, und jeder genießt das Leben als verschwenderischer Wucherer.
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Eines Morgens lag Clementine mit nachdenklicher Miene auf einem jener wundervollen Ruhebetten, von denen man nicht wieder aufstehen mag, so gut verstand der Tapezierer, der sie schuf, sich auf gepolsterte Bequemlichkeiten und angenehme Ruhelager für das dolce far niente. Durch die offenen Türen des Treibhauses drangen die Düfte der tropischen Pflanzen und Blumen herein. Die junge Frau blickte Adam an, der vor ihr einen eleganten Nargileh rauchte, die einzige Art von Rauchen, die sie in diesem Zimmer erlaubt hatte. Die Türvorhänge, durch elegante Klammern gerafft, gewährten einen Ausblick auf zwei prächtige Salons, der eine in Weiß und Gold wie im Haus Forbin-Janson, der andere im Renaissancestil. Der Speisesaal, der in Paris nicht seinesgleichen hat, außer im Hause des Barons von Nucingen, ist am Ende einer kleinen Galerie mit Decke und Ausstattung mittelalterlichen Stils. Auf der Hofseite liegt vor der Galerie ein großes Vorzimmer, aus dem man durch Glastüren auf die Wunder des Treppenhauses blickt. Das gräfliche Paar hatte soeben gefrühstückt. Der Himmel war eine blaue Glocke ohne ein Wölkchen; der April ging zu Ende. Die Ehe zählte schon zwei glückliche Jahre, und Clementine hatte erst seit ein paar Tagen entdeckt, daß in ihrem Hause etwas vorging, was einem Geheimnis, einem Mysterium ähnelte. Der Pole – sagen wir das noch zu seinem Ruhme – ist im allgemeinen schwach gegen Frauen. Er ist so voller Zärtlichkeit für sie, daß er in Polen ihr Knecht wurde, und obwohl die Polinnen hervorragende Frauen sind, wird der Pole von einer Pariserin noch viel rascher geschlagen. Und so verfiel Graf Adam, durch Fragen in die Enge getrieben, nicht einmal auf den harmlosen Kniff, seiner Frau sein Geheimnis zu verkaufen. Bei einer Frau muß man stets aus einem Geheimnis Vorteil ziehen; sie dankt es einem, wie ein Spitzbube seine Achtung einem ehrlichen Menschen erweist, der sich nicht beschwindeln läßt. Weniger redegewandt als mutig, hatte der Graf nur 238
die Bedingung gestellt, erst zu antworten, wenn er seinen mit Tabak gefüllten Nargileh aufgeraucht habe. »Unterwegs«, sagte sie, »antwortetest du mir bei jeder Schwierigkeit: ›Paz wird es in Ordnung bringen!‹ Du schriebst nur an Paz. Seit wir zurück sind, sagt jeder zu mir: ›Der Kapitän!‹ Will ich ausgehen: DerKapitän! Soll eine Rechnung bezahlt werden: Der Kapitän. Lahmt mein Pferd, so wendet man sich an den Kapitän Paz. Kurz, es ist hier für mich wie beim Dominospiel: Paz an allen Ecken. Ich höre nur von Paz reden, und ich kann Paz nicht sehen. Wer ist Paz? Man bringe mir unsern Paz.« »Geht denn nicht alles gut?« fragte der Graf, das Mundstück seines Nargilehs absetzend. »Alles geht so gut, daß man sich bei 200 000 Franken Einkünften zugrunde richten würde, wenn man das Leben führte, das wir mit 110 000 Franken führen,« sagte sie. Sie zog an der reichen Klingelschnur, einem Wunder von Spitzenarbeit. Sofort erschien ein Kammerdiener, gekleidet wie ein Minister. »Sagen Sie dem Herrn Kapitän Paz, ich wünschte ihn zu sprechen.« »Wenn du glaubst, auf die Art etwas zu erfahren,« lächelte Graf Adam. Hier muß eingeschaltet werden, daß Adam und Clementine im Dezember 1835 geheiratet und den Winter in Paris verbracht hatten. Dann waren sie 1836 in Italien, der Schweiz und Deutschland gereist. Als sie im November zurückkehrten, erhielt die Gräfin zum erstenmal in dem verflossenen Winter den 239
Besuch dieses Kapitäns Paz (Pac), dessen Namen so gesprochen wird, wie er sich schreibt, und auf diese Weise bemerkte sie das gleichsam stumme, unsichtbare, aber heilsame Dasein dieses Faktotums, das sich persönlich nicht blicken ließ. »Herr Kapitän Paz bittet Frau Gräfin um Entschuldigung; er ist im Stall und in einem Anzuge, daß er sich augenblicklich nicht zeigen kann. Sobald er angekleidet ist, wird der Graf Paz erscheinen,« sagte der Diener. »Was tut er denn?« »Er zeigt, wie das Pferd der Frau Gräfin geputzt werden soll, weil Konstantin es nicht so putzte, wie er wollte,« antwortete der Diener. Die Gräfin blickte ihn an. Er machte ein ernstes Gesicht und hütete sich wohl, seine Worte mit jenem Lächeln zu begleiten, wie es Bediente tun, wenn sie von einem Höhergestellten reden, der sich zu ihrer Arbeit erniedrigt. »Ach, er putzt Cora?« »Reitet Frau Gräfin heute morgen nicht aus?« fragte der Diener und verschwand ohne Antwort. »Ist es ein Pole?« fragte Clementine ihren Gatten. Er nickte bejahend. Clementine Laginska blickte Adam stumm und prüfend an. Die Füße fast auf ein Kissen gestreckt, den Kopf in der Haltung eines Vogels, der am Rand seines Nestes dem Gezwitscher seiner Brut lauscht, wäre sie auch einem abgestumpften Manne entzückend erschienen. Blond und schmal, mit englischer Fri240
sur, glich sie jenen gleichsam fabelhaften Gestalten der Keepsakes, besonders in ihrem seidenen Morgenkleid von persischem Schnitt, dessen dichte Falten die Reize ihres Körpers und die Schlankheit ihrer Taille nicht so sehr verhüllten, daß man sie durch die dichten Schleier von Blumen und Stickereien nicht hätte bewundern können. Über der Brust gekreuzt, ließ der Stoff mit den leuchtenden Farben den Ansatz des Busens frei, dessen Weiß mit dem einer reichen Spitze auf ihren Schultern kontrastierte. Ihre schwarz bewimperten Augen erhöhten den Ausdruck der Neugier, die ihren hübschen Mund in Falten legte. Auf ihrer schön geformten Stirn erblickte man die charakteristischen Wölbungen der willensstarken, lachlustigen, wissenden, aber gemeiner Verführung unnahbaren Pariserin. Ihre Hände hingen von den beiden Lehnen fast durchsichtig herab. Ihre feinen Finger mit den zurückgebogenen Spitzen hatten Nägel wie rosige Mandeln, auf denen das Licht spielte. Adam lächelte über die Ungeduld seiner Frau und warf ihr Blicke zu, die noch keine Übersättigung der Ehe abstumpfte. Die kleine, zarte Gräfin hatte bereits die Herrschaft im Hause an sich gerissen, denn sie erwiderte Adams Bewunderung fast gar nicht. In den verstohlenen Blicken, die sie auf ihn warf, regte sich vielleicht schon das Bewußtsein der Überlegenheit einer Pariserin über diesen mutwilligen, hageren, rothaarigen Polen. »Da kommt Paz,« sagte der Graf, als er Schritte in der Galerie hörte. Die Gräfin sah einen großen, schönen, stattlichen Mann eintreten. Seine Züge trugen die Spuren jener Sanftmut, die die Frucht von Kraft und Unglück ist. Paz hatte hastig einen der engen verschnürten Röcke mit olivenartigen Knöpfen angezogen, die man früher polnische Röcke nannte. Dichtes, schwarzes, schlecht gekämmtes Haar umgab seinen eckigen Kopf, und 241
Clementine konnte seine breite Stirn sehen, die wie ein Marmorblock leuchtete, denn Paz trug seine Schirmmütze in der Hand. Diese Hand glich der des jugendlichen Herkules. Blühende Gesundheit sprach aus dem regelmäßigen Gesicht mit seiner starken römischen Nase, die Clementine an die schönen Trasteveriner gemahnte. Eine Halsbinde von schwarzem Taft vollendete das martialische Aussehen dieses Wunderwesens von 5 Fuß 7 Zoll mit seinen Jettaugen von italienischem Feuer. Ein weites faltiges Beinkleid, das nur die Spitzen der Stiefel sehen ließ, verriet Pazens Verehrung für die polnische Nationaltracht. Wahrhaftig, für eine romantisch veranlagte Frau hätte der scharfe Kontrast zwischen dem Kapitän und dem Grafen etwas Burleskes gehabt. Hier ein schöner Kriegsmann, dort ein kleiner Pole mit verkniffenem Gesicht, hier ein Paladin, dort ein Palatiner (Pfälzer). »Guten Tag, Adam,« sagte er vertraulich zum Grafen. Dann verbeugte er sich ritterlich vor Clementine und fragte, womit er ihr dienen könnte. »Sie sind also Laginskis Freund?« fragte die junge Frau. »Auf Leben und Tod!« erwiderte Paz, und der junge Graf lächelte ihm mit seinem holdseligsten Lächeln zu, während er seine letzte Wolke duftenden Tabaks ausstieß. »Nun, warum essen Sie dann nicht mit uns? Warum haben Sie uns nicht nach Italien und der Schweiz begleitet? Warum verstecken Sie sich hier derart, daß Sie sich sogar dem Dank entziehen, den ich Ihnen für Ihre dauernde Dienstleistungen schulde?« fragte die junge Gräfin lebhaft, aber ohne jede Erregung.
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In der Tat entdeckte sie bei Paz eine Art freiwilliger Knechtschaft. Diese Vorstellung verknüpfte sich damals mit einer Art Mißachtung für ein gesellschaftliches Zwitterwesen, einen Menschen, der zugleich Sekretär und Haushofmeister, aber weder ganz Haushofmeister noch ganz Sekretär war, gleichsam ein armer Verwandter, ein peinlicher Freund. »Sie brauchen mir nicht zu danken, Gräfin,« antwortete er ziemlich frei. »Ich bin Adams Freund und es macht mir Freude, mich seiner Interessen anzunehmen.« »Macht es dir auch Freude, stehen zu bleiben?« fragte Graf Adam. Paz setzte sich auf einen Lehnstuhl am Türvorhang. »Ich entsinne mich, Sie bei meiner Hochzeit gesehen zu haben, und hin und wieder im Hofe,« sagte die junge Frau. »Aber warum nehmen Sie eine untergeordnete Stellung ein, Sie, Adams Freund?« »Was die Pariser denken, ist mir ganz einerlei,« sagte er. »Ich lebe für mich, oder wenn Sie wollen, für Sie beide.« »Aber die Meinung der Welt über den Freund meines Gatten kann mir nicht gleichgültig sein ...« »Oh, Frau Gräfin, die Welt läßt sich so leicht mit dem Wort abspeisen: ›Das ist ein Sonderling.‹ Sagen Sie das. – Wollen Sie ausreiten?« fragte er nach einer kurzen Pause. »Wollen Sie mit zum Bois kommen?« fragte die Gräfin. »Gern.« 243
Mit diesem Wort verbeugte sich Paz und verschwand. »Welch guter Kerl!« versetzte Adam. »Einfältig wie ein Kind.« »Erzähle mir nun deine Beziehungen zu ihm,« forderte Clementine. »Paz, liebes Herz,« sagte Laginski, »ist von ebenso altem und edlem Hause wie wir. Bei ihrem Unglück rettete sich einer der Pazzi aus Florenz nach Polen, ließ sich dort mit einigem Vermögen nieder und gründete die Familie der Paz, die den Grafentitel erhielt. Die Familie, die sich in den schönen Tagen unsrer Königsrepublik hervortat, ist reich geworden. Das Reis des in Italien gefällten Stammes hat so kräftig Wurzel geschlagen, daß es mehrere Zweige des gräflichen Hauses Paz gibt. Ich erzähle dir nichts Ungewöhnliches, wenn ich dir sage, daß es reiche und arme Paz gibt.
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Eine dunkle Geschichte Die Sorgen der Polizei Der Herbst des Jahres 1803 war einer der schönsten im ersten Abschnitt dieses Jahrhunderts, den wir das Kaiserreich nennen. Im Oktober hatten einige Regenfälle die Wiesen aufgefrischt. Noch im November waren die Bäume belaubt und grün. Daher begann das Volk zwischen dem Himmel und Bonaparte, der damals zum Konsul auf Lebenszeit ernannt war, ein Einvernehmen zu vermuten, dem dieser Mann einen Teil seines Prestiges dankte. Und seltsam! an dem Tage, da ihm 1812 die Sonne fehlte, hörte sein Glück auf. Am 15. November 1803, gegen vier Uhr nachmittags, lag ein rötlicher Sonnenstaub auf den hundertjährigen Wipfeln der vier Ulmenreihen einer langen herrschaftlichen Allee und ließ den Sand und die Grasbüschel eines jener riesigen Rondele leuchten, wie man sie auf Landgütern findet, wo der Boden damals noch billig genug war, um ihn dem Schmuck zu opfern. Die Luft war so rein, die Atmosphäre so mild, daß eine Familie im Freien saß, als wäre es Sommer. Der Mann trug eine Jagdjoppe aus grünem Zwillich mit grünen Knöpfen, eine kurze Hose aus gleichem Stoff, Zwillichgamaschen bis zu den Knien und dünnsohlige Stiefel. Er putzte eine Büchse mit der Sorgfalt, die geschickte Jäger in ihren Mußestunden bei dieser Beschäftigung zeigen. Der Mann hatte weder Jagdtasche noch Rucksack, kurz, keins der Rüstzeuge, die den Aufbruch zur Jagd oder die Rückkehr von ihr 245
verraten. Zwei Frauen, die neben ihm saßen, sahen ihm mit schlecht verhehlter Angst zu. Wer diese Szene aus einem Gebüsch hätte beobachten können, hätte wahrscheinlich ebenso gezittert wie die alte Schwiegermutter und die Frau des Mannes. Offenbar trifft kein Jäger so gründliche Vorbereitungen, wenn er ein Wild erlegen will, und im Departement Aube benutzt er auch keine gezogene Büchse. »Willst du Rehe schießen, Michu?« fragte seine schöne junge Frau und versuchte, ein Lachen aufzusetzen. Bevor Michu antwortete, warf er einen prüfenden Blick auf seinen Hund, der mit dem Kopf auf den vorgestreckten Pfoten in der reizenden Haltung der Jagdhunde in der Sonne lag. Er hatte eben die Nase erhoben und witterte abwechselnd geradeaus in die eine Viertelstunde lange Allee und nach einem Querweg, der links in das Rondel einmündete. »Nein,« entgegnete Michu, »aber ein Untier, das ich nicht verfehlen will, einen Luchs.« Der Hund, ein prachtvoller Jagdhund mit weißem, braungeflecktem Fell, knurrte. »Schön«, sagte Michu zu sich selbst. »Spione! Das Land wimmelt von ihnen.« Frau Michu blickte schmerzvoll gen Himmel. Sie war eine schöne Blondine mit blauen Augen und dem Wuchs einer antiken Statue, nachdenklich und in sich gekehrt, als würde sie von einem schwarzen, bittren Kummer verzehrt. Der Anblick des Mannes konnte die Angst der beiden Frauen in gewissem Maße erklären. Die physiognomischen Gesetze gelten ja nicht nur für den Charakter, sondern auch für das Schicksal eines Menschen. Es gibt prophetische Physiognomien. Könnte man eine genaue 246
Zeichnung derer erlangen, die auf dem Schafott enden – und diese lebende Statistik wäre für die Gesellschaft von Wert –, so würde Lavaters und Galls Wissenschaft untrüglich beweisen, daß die Köpfe aller dieser Leute, auch der Unschuldigen, seltsame Merkmale tragen. Ja, das Schicksal drückt den Gesichtern derer seinen Siegel auf, die irgendeines gewaltsamen Todes sterben sollen! Nun war dies Siegel, den Augen des Beobachters sichtbar, den ausdrucksvollen Zügen des Mannes mit der Büchse aufgedrückt. Michu war klein und dick, rasch und behende wie ein Affe, wenn auch von ruhigem Charakter. Sein weißes, blutdurchströmtes Gesicht war zusammengezogen wie das eines Kalmücken, und die roten Kraushaare gaben ihm einen unheimlichen Ausdruck. Seine hellen, gelblichen Augen zeigten, wie die des Tigers, eine innere Tiefe, in der sich der Blick des Betrachters verlor, ohne Bewegung und Wärme zu finden. Diese Augen waren starr, hell und regungslos und flößten, wenn man sie lange ansah, Schrecken ein. Der beständige Gegensatz zwischen der Unbeweglichkeit der Augen und der Lebhaftigkeit des Körpers steigerte den eisigen Eindruck noch, den Michu auf den ersten Blick machte. Das rasche Handeln dieses Mannes mußte im Dienst eines einzigen Gedankens stehen, wie bei den Tieren das Leben ohne Überlegung dem Instinkte dient. Seit 1793 hatte er sich einen roten Vollbart stehen lassen. Wäre er auch während der Schreckenszeit nicht Vorsitzender eines Jakobinerklubs gewesen, so hätte allein diese Besonderheit seines Gesichts seinen Anblick schrecklich gemacht. Dies sokratische Gesicht mit der Stumpfnase wurde von einer sehr schönen Stirn gekrönt, die aber so gewölbt war, daß sie darüber vorzuspringen schien. Die abstehenden Ohren besaßen eine Art von Beweglichkeit wie bei wilden Tieren, die stets auf der Lauer sind. Sein Mund, der halb offen stand, wie dies bei Bauern ziemlich häufig vorkommt, zeigte starke, mandelweiße, 247
aber unregelmäßig stehende Zähne. Ein dichter, glänzender Backenbart umrahmte dies weiße, stellenweise blaurote Gesicht. Die vorn kurz geschorenen, doch über den Schläfen und am Hinterkopf langen Haare hoben durch ihr falbes Rot all das Seltsame und Schicksalsvolle hervor, was in seinem Ausdruck lag. Der kurze, dicke Hals schien das Fallbeil des Gesetzes zu locken. In diesem Augenblick fielen die schrägen Sonnenstrahlen voll auf die drei Köpfe, zu denen der Hund manchmal aufsah. Die Szene spielte übrigens auf einem prächtigen Schauplatz. Das Rondel lag am Rande des Parks von Gondreville, eines der reichsten Güter von Frankreich und unstreitig des schönsten im Departement Aube. Es besaß prächtige Ulmenalleen, ein Schloß nach den Plänen Mansards, einen ummauerten Park von fünfzehnhundert Morgen, neun große Pachthöfe, einen Wald, Mühlen und Wiesen. Dieser fast königliche Besitz gehörte vor der Revolution der Familie von Simeuse. Ximeuse ist ein Lehnsgut in Lothringen. Der Name wurde Simeuse ausgesprochen und schließlich auch so geschrieben. Das große Vermögen der Simeuses, eines Geschlechts, das dem Hause Burgund anhing, geht bis auf die Zeit zurück, da die Guises die Valois bedrohten. Erst Richelieu, dann Ludwig XIV. hatten sich der Anhänglichkeit der Simeuses an das aufsässige lothringische Haus der Guises erinnert und sie von sich gestoßen. Der damalige Marquis von Simeuse, ein alter Burgunder, Anhänger der Guises und der Liga und ein alter Mitkämpfer der Fronde, der den vierfachen Groll des Adels gegen das Königtum geerbt hatte, zog nach Cinq-Cygne. Der vom Louvre abgewiesene Höfling hatte die Witwe des Grafen von Cinq-Cygne geheiratet, aus der jüngeren Linie des berühmten Hauses von Chargeboeuf, eines der erlauchtesten in der alten Grafschaft Champagne; aber die jüngere Linie wurde ebenso 248
berühmt und noch reicher als die ältere. Der Marquis, einer der reichsten Leute der Zeit, baute Gondreville, statt am Hofe sein Geld zu vergeuden, brachte die Güter zusammen und kaufte noch Land hinzu, lediglich, um sich eine schöne Jagd zu schaffen. Ebenso erbaute er in Troyes das Hotel Simeuse unweit des Hotels Cinq-Cygne. Diese beiden alten Häuser und der erzbischöfliche Palast waren in Troyes lange die einzigen Steinbauten. Der Marquis verkaufte Simeuse an den Herzog von Lothringen. Sein Sohn vergeudete die Ersparnisse und einen Teil des großen Vermögens unter der Regierung Ludwigs XV. Aber er wurde zuerst Geschwaderchef und dann Vizeadmiral und machte seine Jugendtorheiten durch glänzende Dienste wett. Der Marquis von Simeuse, der Sohn dieses Seemannes, starb zu Troyes auf dem Schafott. Er hinterließ zwei Zwillingssöhne, die auswanderten und gegenwärtig im Ausland das Schicksal des Hauses Condé teilten. Das Rondel war ehemals der Sammelpunkt bei den Jagden des großen Marquis gewesen. So nämlich nannte man in der Familie den Erbauer von Gondreville. Seit 1789 wohnte Michu auf diesem Rondel in dem sogenannten Pavillon von Cinq-Cygne, der innerhalb des Parks lag und zur Zeit Ludwigs XIV. erbaut war. Das Dorf Cinq-Cygne liegt am Rande des Waldes von Nodesme (aus Notre-Dame verstümmelt), zu dem die Allee mit den vier Ulmenreihen führt, in der Couraut die Spione witterte. Seit dem Tode des großen Marquis war der Pavillon ganz vernachlässigt worden. Der Vizeadmiral war mehr auf See und bei Hofe als in der Champagne, und sein Sohn gab Michu das verfallene Gebäude zur Wohnung. Der edle Bau ist aus Ziegeln, an den Ecken, Türen und Fenstern aus gerillten Steinen. Beiderseits öffnet sich ein Gitter von schöner Schmiedearbeit, aber vom Rost zerfressen. Dahinter erstreckt sich ein breiter und tiefer Zwinger, aus dem kräftige Bäume hervorwachsen und dessen Brüstung mit eisernen Arabesken gespickt ist, die den 249
Missetätern mit zahllosen Spitzen entgegenstarren. Die Parkmauern beginnen erst jenseits des von dem Rondel gebildeten Kreises. Außerhalb wird das mächtige Halbrund von Böschungen umrahmt, die mit Ulmen bestanden sind, und ebenso wird der im Park liegende Halbkreis von Gruppen exotischer Bäume eingefaßt. In der Mitte des Rondels, das diese beiden Hufeisen bilden, liegt der Pavillon. Michu hatte aus den alten Sälen im Erdgeschoß einen Pferde- und Kuhstall, eine Küche und einen Holzschuppen gemacht. Von der alten Pracht blieb als einziger Rest ein Vorzimmer mit schwarzen und weißen Marmorfliesen, das man vom Park her durch eine jener Fenstertüren mit kleinen Glasscheiben betrat, wie man sie noch in Versailles sah, bevor Louis Philippe es zum Lazarett der Ruhmestaten Frankreichs gemacht hat. Im Innern wird der Pavillon durch eine charaktervolle, aber alte und wurmstichige Holztreppe geteilt, die zum Oberstock führt. Hier liegen fünf ziemlich niedrige Zimmer. Darüber dehnt sich ein riesiger Boden. Das ehrwürdige Gebäude trägt eines jener großen, vierseitigen Dächer, dessen First zwei bleierne Blumensträuße zieren und das von vier Dachluken durchbrochen wird, wie Mansard sie mit Recht liebte; denn Halbgeschosse und flache italienische Dächer sind in Frankreich ein Widersinn, gegen den das Klima sich auflehnt. Dort oben brachte Michu seine Futtervorräte unter. Der ganze Teil des Parkes um diesen alten Pavillon ist in englischem Stil angelegt. Hundert Schritt weiter bekundet ein früherer See, der zu einem fischreichen Teiche geworden ist, sein Dasein durch einen leichten Nebel über den Bäumen, sowie durch das Geschrei von tausend Fröschen, Kröten und andren Amphibien, die bei Sonnenuntergang quaken. Die Altertümlichkeit der Dinge, die tiefe Waldesstille, der Blick durch die Alleen, der Wald in der Ferne, tausend Einzelheiten, die rostzerfressenen Gitter, die bemoosten Steinmassen, alles macht diesen noch jetzt stehenden Bau poetisch. In dem Augenblick, in dem unsre Geschichte beginnt, stand Michu gegen eine be250
mooste Brüstung gelehnt, auf der sein Pulverhorn, seine Mütze, sein Taschentuch, ein Schraubenzieher, Lappen, kurz, alle Geräte lagen, die zu seiner verdächtigen Arbeit nötig waren. Der Stuhl seiner Frau stand mit dem Rücken gegen die Eingangstür des Pavillons, über der noch das reich gemeißelte Wappen der Simeuses mit dem schönen Wahlspruch »Si meurs« prangte. Die Mutter, in Bauerntracht, hatte ihren Stuhl vor Frau Michu gerückt, damit sie die Füße auf eine Leiste setzen konnte, damit sie vor der Feuchtigkeit geschützt waren. »Ist der Junge da?« fragte Michu seine Frau. »Er treibt sich am Teich herum. Er ist wild auf Frösche und Insekten«, sagte die Mutter. Michu pfiff, daß man einen Schreck bekommen konnte. Die Schnelligkeit, mit der der Knabe herbeilief, verriet, welche Strenge der Verwalter von Gondreville übte. Seit 1789, besonders aber seit 1793 war er fast Herr auf diesem Landgut. Der Schrecken, den er seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seinem kleinen Diener mit Namen Gaucher und einer Magd namens Marianne einflößte, wurde auf zehn Meilen in der Runde geteilt. Vielleicht dürfen wir nicht länger zögern, die Gründe für diese Gesinnung anzugeben, zumal sie Michus Bildnis in geistiger Hinsicht vervollständigen werden. Der alte Marquis von Simeuse hatte seine Güter 1790 verlassen. Da ihm jedoch die Ereignisse zuvorkamen, hatte er sein schönes Gut Gondreville niemandem mehr anvertrauen können. Unter der Anklage, mit dem Herzog von Braunschweig und dem Prinzen von Coburg in Beziehungen zu stehen, wurden der Marquis und seine Gemahlin eingekerkert und von dem Revolutionstribunal in Troyes, dessen Vorsitz Marthas Vater führte, zum Tode verurteilt. Der schöne Besitz wurde 251
also als Nationalgut verkauft. Bei der Hinrichtung des Marquis und der Marquise bemerkte man mit einer Art von Grauen den Verwalter von Gondreville, der Vorsitzender des Jakobinerklubs von Arcis geworden und eigens nach Troyes gekommen war, um ihr beizuwohnen. Als Sohn eines einfachen Bauern und als Waisenkind war Michu von der Marquise mit Wohltaten überhäuft worden, denn sie hatte ihn im Schlosse erziehen lassen und ihn dann zum Generalverwalter gemacht. So wurde er von den Heißspornen als Brutus angesehen, aber in der Gegend wollte nach diesem Zuge des Undanks niemand mehr mit ihm verkehren. Der Käufer war ein Mann aus Arcis, namens Marion, der Enkel eines Verwalters des Hauses Simeuse. Dieser Mann, der vor und nach der Revolution Advokat war, fürchtete den Verwalter. Er ließ ihn in seiner Stellung und gab ihm dreitausend Franken Gehalt und Anteil an allen Verkäufen. Michu, der bereits auf etwa zehntausend Franken Vermögen geschätzt wurde, heiratete unter dem Schutz seines Rufes als Patriot die Tochter eines Gerbers aus Troyes, des Apostels der Revolution in dieser Stadt und Vorsitzenden des Revolutionstribunals. Der Gerber, ein Mann von Überzeugung, der im Charakter dem Saint-Just glich, wurde später in die Verschwörung Babeufs verwickelt und beging Selbstmord, um sich der Verurteilung zu entziehen. Martha war das schönste Mädchen in Troyes, und so war sie trotz ihrer rührenden Bescheidenheit von ihrem furchtbaren Vater gezwungen worden, bei einer republikanischen Feier die Freiheitsgöttin darzustellen. Der Käufer kam in sieben Jahren nicht dreimal nach Gondreville. Sein Großvater war Verwalter der Simeuses gewesen; ganz Arcis glaubte damals, daß der Bürger Marion nur der Platzhalter der Herren von Simeuse sei. Während der Schreckenszeit erfreute sich der Verwalter von Gondreville als treuer Patriot, als Schwiegersohn des Vorsitzenden des Revolutionstribunals in Troyes und als Liebling Malins, eines Abgeordne252
ten des Departements Aube, eines gewissen Ansehens. Als aber die Bergpartei fiel und sein Schwiegervater Selbstmord beging, wurde Michu zum Sündenbock. Jedermann beeilte sich, ihm wie seinem Schwiegervater Handlungen zuzuschreiben, an denen wenigstens er ganz unschuldig war. Der Verwalter bäumte sich gegen die Ungerechtigkeit der Masse auf; er wurde schroff und nahm eine feindselige Haltung an. Seine Worte wurden verwegen. Aber seit dem 18. Brumaire hüllte er sich in das tiefe Schweigen, das die Philosophie der Starken ist. Er kämpfte nicht mehr gegen die allgemeine Meinung an und begnügte sich, zu handeln. Dies kluge Benehmen brachte ihn in den Ruf der Heimtücke, denn der Wert seines Landbesitzes betrug gegen hunderttausend Franken. Zunächst gab er nichts aus; dann hatte er dies Vermögen rechtmäßig erworben, sowohl durch die Erbschaft seines Schwiegervaters, wie durch die sechstausend Franken, die er jährlich für seine Stellung an Gehalt und Gewinnanteil bezog. Obwohl er seit zwölf Jahren Verwalter war und jeder ihm seine Ersparnisse nachrechnen konnte, erhoben sich Anklagen gegen den früheren Anhänger der Bergpartei, als er zu Beginn des Konsulats ein Pachtgut für fünfzigtausend Franken erstand. Die Leute in Arcis schoben ihm die Absicht unter, sich durch ein großes Vermögen die Achtung wieder zu gewinnen. Unglückerlicherweise wurde in dein Augenblick, da jedermann ihn vergaß, der allgemeine Glaube an die Wildheit seines Charakters von neuem belebt, und zwar durch eine dumme Geschichte, die durch den Landklatsch noch schlimmer gemacht wurde. Eines Abends, bei der Rückkehr aus Troyes, ließ er in Gesellschaft einiger Bauern, darunter des Pächters von Cinq-Cygne, ein Papier auf die Straße fallen, und der Pächter, der hinterdrein ging, hob es auf. Michu dreht sich um, sieht das Papier in den Händen des Mannes, zieht sofort eine Pistole aus seinem Gürtel, lädt sie und droht dem Pächter, der lesen konnte, ihn 253
niederzuschießen, wenn er das Blatt öffnete. Michus Bewegung war so rasch und so heftig, der Ton seiner Stimme so drohend, und seine Augen flammten so auf, daß alle vor Angst erstarrten. Der Pächter von Cinq-Cygne war natürlich Michus Feind. Fräulein von Cinq-Cygne, die Kusine der Simeuses, besaß von ihrem ganzen Vermögen nur noch einen Pachthof und wohnte in ihrem Schloß Cinq-Cygne. Sie lebte nur noch für ihre Vettern, ein paar Zwillinge, mit denen sie in ihrer Kindheit in Troyes und in Gondreville gespielt hatte. Ihr einziger Bruder, Julius von Cinq-Cygne, war schon vor den Simeuses ausgewandert und vor Mainz gefallen. Aber dank einem ziemlich seltenen Vorrecht, von dem noch die Rede sein wird, erlosch der Name Cinq-Cygne nicht, auch wenn keine männlichen Erben mehr am Leben waren. Der Vorfall zwischen Michu und dem Pächter von Cinq-Cygne machte viel böses Blut im Kreise und hüllte Michu in ein noch geheimnisvolleres Dunkel. Aber dieser Umstand war nicht der einzige, der Furcht vor ihm einflößte. Ein paar Monate nach jenem Auftritt kam der Bürger Marion mit dem Bürger Malin nach Gondreville. Es ging das Gerücht, Marion wollte das Gut an diesen Mann verkaufen, der durch die politischen Ereignisse vorwärts gekommen war; denn der Erste Konsul hatte ihn soeben zum Lohn für seine Dienste am 18. Brumaire in den Staatsrat berufen. Die politischen Köpfe des Städtchens Arcis errieten nun, daß Marion nur der Strohmann des Bürgers Malin und nicht der Herren von Simeuse gewesen war. Der allmächtige Staatsrat war die größte Persönlichkeit in Arcis. Er hatte einen seiner politischen Freunde zum Präfekten von Troyes gemacht, hatte den Sohn eines Pächters von Gondreville, namens Beauvisage, vom Militärdienst befreit und erwies jedermann Dienste. Diese Sache konnte also in der Gegend, in der Malin herrschte und noch herrscht, nicht auf Widerspruch stoßen. Man stand im Morgenrot des Kaiserreichs. Wer heute die 254
Geschichte der französischen Revolution liest, wird nie begreifen, welch ungeheurer Abstand für das öffentliche Denken in den so dicht aufeinanderfolgenden Ereignissen jener Zeit lag. Bei dem allgemeinen Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, das man nach so heftigen Erschütterungen empfand, gerieten die schwersten früheren Ereignisse in Vergessenheit. Die Geschichte veraltete rasch. So forschte denn niemand außer Michu nach der Vorgeschichte dieser Sache, die man ganz einfach fand. Marion hatte Gondreville seinerzeit für sechshundertausend Franken in Assignaten gekauft und verkaufte es jetzt für eine Million in Talern, aber das einzige, was Malin bezahlte, war die Verkaufssteuer. Grevin, ein Kollege Malins, begünstigte diese Schiebung natürlich, und der Staatsrat belohnte ihn durch die Ernennung zum Notar in Arcis. Als diese Nachricht nach dem Pavillon gelangte, und zwar durch den Pächter eines Vorwerks Grouage, das zwischen dem Park und dem Walde, links von der schönen Allee, lag, erbleichte Michu und ging hinaus. Er lauerte Marion auf und traf ihn schließlich allein in einer Allee des Parks. »Der Herr verkauft Gondreville?« »Ja, Michu, ja. Sie bekommen einen mächtigen Mann zum Herrn. Der Staatsrat ist ein Freund des Ersten Konsuls und hat die engsten Beziehungen zu allen Ministern. Er wird Sie protegieren.« »So hatten Sie das Gut für ihn erworben?« »Das sage ich nicht«, entgegnete Marion. »Ich wußte damals nicht, wie ich mein Geld anlegen sollte. Der Sicherheit halber habe ich es in Nationalgütern angelegt, aber es paßt mir nicht, ein Gut zu behalten, das der Familie gehört, in der mein Vater...« 255
»Bedienter, Verwalter war«, sagte Michu heftig. »Aber Sie werden es nicht verkaufen. Ich will es haben, und ich kann es bezahlen. »Du?« »Jawohl, ich, im Ernst und in gutem Gold, achthunderttausend Franken...« »Achthunderttausend Franken? ... Wo hast du die her?« fragte Marion. »Das ist meine Sache«, entgegnete Michu. Dann mäßigte er sich und setzte leiser hinzu: »Mein Schwiegervater hat viele Menschen gerettet.« »Du kommst zu spät, Michu, die Sache ist abgeschlossen.« »Sie werden es rückgängig machen!« rief der Verwalter, indem er die Hand seines Herrn ergriff und sie wie in einem Schraubstock preßte. »Ich bin verhaßt, ich will reich und mächtig werden, ich muß Gondreville haben. Wissen Sie, mir liegt nichts am Leben. Sie werden mir das Gut verkaufen, oder ich schieße Sie nieder ...« »Aber ich muß doch wenigstens Zeit haben, mich mit Malin zu einigen. Er ist nicht bequem ...« »Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit. Wenn Sie ein Wort davon sagen, so schneide ich Ihnen den Kopf ab wie eine Rübe ...«
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Marion und Malin verließen das Schloß noch in der Nacht. Marion hatte Angst und teilte dem Staatsrat jene Begegnung mit, mit der Bitte, ein Auge auf den Verwalter zu haben. Marion vermochte sich der Verpflichtung nicht zu entziehen, das Gut an den abzutreten, der es ihm wirklich bezahlt hatte, aber Michu schien nicht der Mann, einen solchen Grund einzusehen und gelten zu lassen. Zudem mußte der Dienst, den Marion dem Malin erwies, ihm und seinem Bruder die politische Laufbahn eröffnen, und so geschah es auch. Malin ließ den Advokaten Marion 1806 zum Präsidenten eines kaiserlichen Gerichtshofes ernennen, und sobald Generalsteuereinnehmer eingesetzt wurden, verschaffte er dem Bruder des Advokaten diesen Posten im Departement Aube. Der Staatsrat empfahl Marion, in Paris zu bleiben, und erstattete Anzeige beim Polizeiminister, der den Verwalter überwachen ließ. Um Michu jedoch nicht zum Äußersten zu treiben, vielleicht auch, um ihn besser zu überwachen, behielt Malin ihn als Verwalter unter der Zuchtrute des Notars in Arcis. Fortan genoß Michu, der immer schweigsamer und nachdenklicher wurde, den Ruf eines Mannes, der zu einem schlimmen Streich fähig war. Als Staatsrat, eine Stellung, die der Erste Konsul damals der eines Ministers gleichstellte, und als einer der Verfasser des Gesetzbuches spielte Malin damals in Paris eine große Rolle. Er hatte sich eins der schönsten Häuser im Faubourg Saint-Germain gekauft und vorher die einzige Tochter eines reichen, wenig geachteten Lieferanten, namens Sebuelle, geheiratet, den er neben Marion zum Generalsteuereinnehmer im Departement Aube gemacht hatte. So war er denn nur ein einziges Mal nach Gondreville gekommen. Im übrigen verließ er sich bei allem, was seine Geschäfte betraf, auf Grevin. Was hatte er, der einstige Abgeordnete der Aube, auch von dem früheren Vorsitzenden eines Jakobinerklubs zu befürchten?
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Inzwischen wurde die Meinung über Michu, die in den unteren Volksklassen schon so ungünstig war, natürlich vom Bürgertum geteilt, und Marion, Grévin und Malin bezeichneten ihn, ohne nähere Angaben und ohne sich bloßzustellen, als einen äußerst gefährlichen Menschen. Auch die Behörden, die vom Polizeiminister beauftragt waren, den Verwalter zu überwachen, entkräfteten diesen Glauben nicht. Man wunderte sich in der Gegend schließlich, daß Michu seine Stellung behielt, aber man schrieb dies Zugeständnis der Angst zu, die er einflößte. Wer verstände nun nicht die tiefe Schwermut, mit der Michus Frau gen Himmel blickte? Martha war von ihrer Mutter fromm erzogen worden. Als gute Katholikinnen hatten beide unter den Ansichten und dem Benehmen des Gerbers gelitten. Martha entsann sich nie ohne Erröten, wie sie im Gewand einer Göttin durch Troyes geführt worden war. Ihr Vater hatte sie zur Ehe mit Michu gezwungen, dessen Ruf immer schlechter wurde, und den sie zu sehr fürchtete, um ein Urteil über ihn zu haben. Trotzdem fühlte diese Frau sich geliebt, und im Grunde ihres Herzens hegte sie für den furchtbaren Mann die echteste Zuneigung. Nie hatte sie gesehen, daß er etwas Unrechtes tat; nie waren seine Worte brutal, wenigstens gegen sie nicht; er bemühte sich, alle ihre Wünsche zu erraten. Der arme Paria glaubte seiner Frau zu mißfallen, und darum blieb er fast stets außer dem Hause. So lebten Michu und Martha in gegenseitigem Mißtrauen, sozusagen im »bewaffneten Frieden«. Martha sah keinen Menschen und litt schwer unter der Mißachtung, die sie seit sieben Jahren als Tochter eines Kopfabschneiders und ihr Gatte als Verräter erfuhr. Mehr als einmal hatte sie gehört, wie die Leute aus dem Pachthof rechts von der Allee in der Ebene – er hieß Bellache und wurde von Beauvisage bewirtschaftet, einem Manne, der an den Simeuses hing –, wenn sie am Pavillon vorbeikamen, sagten: »Da wohnen die Judasse.« 258
Diesen gehässigen Beinamen hatte der Verwalter in der ganzen Gegend. Er verdankte ihn seiner eigentümlichen Ähnlichkeit mit dem Kopfe des zwölften Apostels, die er noch vergrößern zu wollen schien. Dies Unglück also und eine unbestimmte dauernde Angst vor der Zukunft machten Martha nachdenklich und in sich gekehrt. Nichts betrübt ja tiefer als unverdiente Herabsetzung, aus der man sich nicht emporraffen kann. »Franz!« rief der Verwalter, um seinen Sohn noch besonders zur Eile anzuspornen. Franz Michu, ein zehnjähriger Knabe, tummelte sich in Park und Wald und erhob selbstherrlich seine kleinen Steuern. Er aß Früchte, jagte, hatte weder Sorgen noch Mühen; er war der einzige Glückliche in dieser Familie, die durch ihren Wohnsitz zwischen Park und Wald vereinsamt war, wie sie es geistig durch die allgemeine Abneigung war. »Hebe mir das alles auf, was da liegt,« gebot der Vater, auf die Brüstung weisend, »und schließe es ein. Sieh mich an! Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben.« Der Knabe wollte sich seinem Vater in die Arme werfen, aber Michu machte eine Bewegung, um die Büchse beiseite zu stellen, und wies ihn zurück. »Schon gut! Du hast bisweilen über das, was hier geschieht, geschwatzt«, sagte er und heftete seine beiden Raubtieraugen auf ihn. »Merke dir eins: wenn du das Gleichgültigste, was hier geschieht, dem Gaucher oder den Leuten aus Grouage oder Bellache verrätst, oder selbst der Marianne, die uns liebt, so bringst du deinen Vater ums Leben. Daß dir das nicht wieder beikommt. Dein gestriges Ausplappern verzeihe ich dir.« Das Kind begann zu weinen. 259
»Weine nicht. Aber wonach man dich auch fragt, antworte wie die Bauern: ›Ich weiß nicht...‹ Es treiben sich Leute in der Gegend herum, die mir nicht behagen. Geh! – Ihr habt es gehört, ihr beiden?« sagte Michu zu den Frauen. »Haltet auch ihr den Mund.« »Was hast du vor, mein Lieber?« Michu maß aufmerksam eine Pulverladung ab, schüttete sie in den Lauf seiner Büchse und stellte die Waffe gegen die Brüstung. Dann sagte er zu Martha: »Niemand kennt diese Büchse bei mir. Setze dich davor!« Couraut hatte sich aufgerichtet und bellte wütend. »Schönes, kluges Tier!« rief Michu. »Ich bin sichMan weiß, wenn man beobachtet wird. Couraut und Michu, die nur eine Seele zu haben schienen, lebten zusammen wie der Araber in der Wüste mit seinem Pferde. Der Verwalter kannte alle Tonarten Courauts und wußte, was sie bedeuteten. Ebenso las der Hund seinem Herrn die Gedanken von den Augen ab und roch sie in dem Dunstkreis seines Körpers. »Was sagst du dazu?« fragte Michu ganz leise seine Frau und wies auf zwei unheimliche Gestalten, die in einer Seitenallee auftauchten und auf das Rondel zuschritten. »Was geht in der Gegend vor? Das sind Pariser!« sagte die Alte. »Ah, siehe da!« rief Michu aus. »Verbirg doch meine Büchse«, sagte er seiner Frau ins Ohr. »Sie kommen auf uns zu.«
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Die Gesichter der beiden Pariser, die über das Rondel schritten, wären für einen Maler gewiß typisch gewesen. Der eine, anscheinend der Untergebene, trug Stulpstiefel, die etwas tief herabfielen, so daß seine dürren Waden in gestreiften Seidenstrümpfen von zweifelhafter Sauberkeit zum Vorschein kamen. Die Kniehose aus geripptem, aprikosenfarbenem Tuch mit Metallknöpfen war etwas zu weit. Der Leib hatte bequem Platz darin und die abgescheuerten Falten deuteten durch ihre Lage auf einen Kanzleimenschen. Die mit dicken Stickereien überladene Pikeeweste war offen und über dem Bauche mit einem einzigen Knopfe zugeknöpft. Sie gab dem Mann ein unordentliches Aussehen, nicht minder sein schwarzes Haar, das in Korkzieherlocken über die Stirn und die Wangen herabfiel. Zwei Uhrketten aus Stahl hingen auf die Hose herab. Das Hemd war mit einer Nadel geschmückt, die eine weißblaue Kamee zierte. Der zimtfarbene Rock empfahl sich den Karikaturenzeichnern durch einen langen Schoß, der von hinten gesehen so völlig einem Stockfischschwanz glich, daß man ihn danach nannte. Die Mode der Stockfischschwanzröcke hat zehn Jahre gedauert, fast solange wie Napoleons Herrschaft. Die Krawatte war locker und in zahlreichen großen Falten gebunden, so daß ihr Träger sein Gesicht bis zur Nase darin verstecken konnte. Sein finniges Gesicht, seine dicke ziegelrote Nase, seine geröteten Backenknochen, sein zahnloser, aber drohender und gefräßiger Mund, seine mit dicken goldenen Ohrringen geschmückten Ohren und seine niedrige Stirn, alle diese Einzelheiten, die an sich grotesk erscheinen, wurden furchtbar durch zwei kleine Augen, deren Stellung und Ausschnitt an Schweinsaugen gemahnte. Sie verrieten unersättliche Gier und eine spöttische, gleichsam fröhliche Grausamkeit. Diese beiden suchenden, durchdringenden Augen von eisigem, erstarrtem Blau konnten als Vorbild des berühmten Auges gelten, das während der Revolution als Wahrzeichen der Polizei erfunden wurde. Er trug seidene Handschuhe und einen Spa261
zierstock in der Hand. Er mußte irgendein Beamter sein, denn seine Haltung und die Art, wie er Tabak nahm und ihn in die Nase schob, verriet die bureaukratische Wichtigtuerei eines Unterbeamten, der aber sichtlich etwas bedeutete und durch höhere Befehle zurzeit unumschränkt war. Der andre war ähnlich gekleidet, aber elegant und bis in die kleinsten Einzelheiten gepflegt. Seine über eine enganliegende Hose gezogenen Suworoffstiefel knarrten beim Gehen. Über dem Rock trug er einen Spencer nach der aristokratischen Mode, die die Bewohner von Clichy und die Jeunesse dorée aufgebracht hatten und die beide überlebt hatte. Die Moden dauerten damals länger als die Parteien, ein Zeichen der Anarchie, die uns auch das Jahr 1830 gezeigt hat. Dieser vollendete Stutzer mochte dreißig Jahre alt sein. Seine Manieren schmeckten nach guter Gesellschaft; ertrug wertvolle Juwelen. Sein Hemdkragen reichte bis zu den Ohren. Sein geckenhaftes, fast anmaßliches Wesen verriet eine Art geheimer Überlegenheit; sein bleiches Gesicht schien völlig blutleer; seine dünne Stumpfnase hatte die höhnische Form einer Totenkopfnase, und seine grünen Augen waren undurchdringlich. Ihr Blick war ebenso zurückhaltend, wie sein schmaler, verkniffener Mund es sein mußte. Er schlug mit einem Rohrstock in die Luft, dessen Goldknopf in der Sonne glänzte. Mit diesem dürren, hageren, jungen Manne verglichen, mußte der erste ein guter Kerl sein. Er konnte wohl selbst einen Kopf abschneiden, aber der andre war imstande, Unschuld, Schönheit und Tugend in die Netze der Verleumdung und der Ränke zu verstricken und sie kaltherzig zu ertränken oder zu vergiften. Der Rotbäckige hätte sein Opfer mit Witzen getröstet, der andre nicht mal gelächelt. Der erste war fünfundzwanzig Jahre alt, er mußte die Tafelfreuden und Frauen lieben. Solche Leute haben sämtlich Leidenschaften, die sie zu Sklaven ihres Berufes machen. Aber der Jüngere war ohne Leidenschaften und Laster. War er Spion, dann gehörte er zur Diplomatie und arbeitete um der Kunst willen. Er entwarf Plä262
ne, der andre führte sie aus; er war der Gedanke, der andre die Hand. »Wir sind wohl in Gondreville, gute Frau?« fragte der Jüngere. »Hier sagt man nicht gute Frau«, antwortete Michu. »Wir nennen uns noch einfach Bürger und Bürgerin.« »Ach!« sagte der junge Mann mit der natürlichsten Miene und schien keineswegs verletzt. In einer Gesellschaft empfinden die Spieler, namentlich beim Ecarté, oft einen inneren Schrecken, wenn sich vor ihnen, mitten in ihrem Glück, ein Mitspieler niederläßt, dessen Blick und Stimme, dessen Art, die Karten zu mischen, ihnen eine Niederlage prophezeit. Beim Anblick des jungen Mannes hatte Michu ein ähnliches Gefühl. Er hatte eine Todesahnung und sah undeutlich das Schafott vor sich. Eine Stimme raunte ihm zu, dieser Stutzer werde ihm verderblich werden, obwohl sie noch nichts miteinander gemein hatten. Daher hatte er schroff geantwortet; er wollte grob sein und war es. »Unterstehen Sie nicht dem Staatsrat Malin?« fragte der zweite Pariser. »Ich bin mein eigener Herr«, entgegnete Michu. »Nun denn, meine Damen,« fragte der junge Mann äußerst höflich, »sind wir in Gondreville? Wir werden dort von Herrn Malin erwartet.« »Der Park ist dort«, sagte Michu und wies auf das Gitter.
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»Und warum verstecken Sie diese Büchse, schönes Kind?« fragte der joviale Begleiter des jungen Mannes, als er durch das Gittertor schritt und den Lauf erblickte: »Du bist stets bei der Arbeit, selbst auf dem Lande!« rief der junge Mann lächelnd. Alle beide kehrten, von Mißtrauen ergriffen, um. Der Verwalter erriet den Grund, trotz der Gleichgültigkeit ihrer Mienen. Martha ließ sie die Büchse besehen, während Couraut bellte. Sie war überzeugt, daß Michu irgendeinen schlimmen Streich plante, und fast froh über den Scharfblick der Unbekannten. Michu warf seiner Frau einen Blick zu, bei dem sie erbebte. Dann ergriff er die Büchse und wollte eine Kugel in den Lauf stoßen. Er nahm die schlimmen Möglichkeiten dieser Entdeckung und Begegnung hin. Sein Leben schien ihm nichts mehr wert, und seine Frau begriff seinen verhängnisvollen Entschluß wohl. »Sie haben wohl Wölfe hier?« fragte der junge Mann Michu. »Wölfe sind überall, wo es Schafe gibt. Die Herren sind in der Champagne, und hier ist ein Wald. Aber wir haben auch Wildschweine, große und kleine. Wir haben von allem etwas«, sagte Michu mit spöttischer Miene. Der Ältere wechselte einen Blick mit dem andern. Dann sagte er: »Ich wette, Corentin, dieser Mann ist mein Michu...« »Wir haben noch keine Schweine zusammen gehütet«, sagte der Gutsverwalter. »Nein, aber wir waren Vorsitzende des Jakobinerklubs, Bürger«, entgegnete der alte Zyniker. »Sie in Arcis, ich anderswo. 264
Du hast die Höflichkeit der Carmagnole bewahrt, aber sie ist nicht mehr in Mode, mein Junge.« »Der Park scheint mir recht groß. Wir könnten uns darin verlaufen. Wenn Sie der Verwalter sind, lassen Sie uns ins Schloß führen«, sagte Corentin in gebieterischem Tone. Michu pfiff seinem Sohn und lud seine Büchse weiter. Corentin blickte Martha gleichgültig an, während sein Gefährte entzückt schien. Aber er bemerkte an ihr Spuren von Angst, die dem alten Wüstling entgingen. Hatte ihn doch selbst die Büchse erschreckt. Beider Wesen spiegelte sich vollkommen in dieser bedeutsamen Kleinigkeit. »Ich habe ein Stelldichein jenseits des Waldes«, sagte der Verwalter. »Ich kann Ihnen diesen Dienst nicht selbst leisten; aber mein Sohn wird Sie zum Schloß führen. Von wo kommen Sie denn nach Gondreville? Wohl über Cinq-Cygne?« »Wir hatten wie Sie im Walde zu tun«, sagte Corentin mit unmerklicher Ironie. »Franz!« rief Michu, »führe die Herren auf Fußwegen zum Schloß, damit man sie nicht sieht. Sie gehen nicht auf der großen Straße ... Erst komm mal her!« setzte er hinzu, als er sah, daß die beiden Fremden ihm den Rücken gekehrt hatten und im Gehen leise miteinander sprachen. Michu packte den Knaben und küßte ihn fast andächtig, mit einem Ausdruck, der die Befürchtung seiner Frau bestätigte. Es lief ihr kalt über den Rücken und sie blickte ihre Mutter mit tränenlosem Blick an, denn weinen konnte sie nicht.
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»Geh!« sagte Michu zu seinem Sohne und blickte ihm nach, bis er ihn ganz aus den Augen verloren hatte. Couraut bellte in der Richtung nach dem Pachthof Grouage. »Oh, das ist Violette«, fuhr Michu fort. »Seit heute morgen kommt er zum drittenmal vorbei. Was liegt denn in der Luft? ... Genug, Couraut!« Gleich darauf hörte man den kurzen Trab eines Pferdes. Violette ritt einen Klepper, wie ihn die Pächter in der Umgegend von Paris benutzen. Unter einem runden, breitkrempigen Hut erschien sein holzfarbenes, faltiges Gesicht noch finstrer als sonst. Seine grauen, boshaften, blitzenden Augen verrieten sein falsches Gemüt. Seine dürren Beine hingen in weißen, bis zum Knie reichenden Leinengamaschen ohne Steigbügel herab und schienen von dem Gewicht seiner groben, eisenbeschlagenen Schuhe gehalten zu werden. Über seinem blauen Kittel trug er einen groben, weiß- und schwarzgestreiften Wollmantel. Sein graues Haar fiel im Schöpfe in Locken herab. Dieser Aufzug, das graue Pferd mit den kleinen, kurzen Beinen, die Art, wie Violette daraufsaß, den Leib vorgeschoben, den Oberkörper zurückgelegt, die grobe, rissige, erdfarbene Hand, die einen elenden, angefressenen und schadhaften Zügel hielt, das alles verriet einen habsüchtigen, ehrgeizigen Bauern, der Land besitzen will und es um jeden Preis kauft. Sein Mund mit den bläulichen Lippen, der wie vom Messer eines Chirurgen gespalten war, die unzähligen Runzeln in Gesicht und Stirn hinderten das Spiel der Gesichtszüge, deren Umrisse allein Ausdruck hatten. Diese harten, feststehenden Linien schienen zu drohen, trotz des bescheidenen Wesens, das sich fast alle Landleute geben und unter dem sie ihre Erregung und ihre Berechnungen verbergen wie die Orientalen und die Wilden, die ihre unter unerschütterlichem Ernst verhehlen. Vom einfachen 266
Tagelöhner hatte er es durch ein System zunehmender Niedertracht zum Pächter von Grouage gebracht und er setzte dies System noch fort, als er eine Stellung errungen hatte, die seine ersten Wünsche übertraf. Er wünschte dem Nächsten Böses, und zwar leidenschaftlich. Konnte er dazu beitragen, so tat er es gerne. Violette war ein erklärter Neidbold; aber bei all seinen Tücken blieb er in den Grenzen des Gesetzes und übte nicht mehr und nicht minder als eine parlamentarische Opposition aus. Er glaubte, sein Wohlstand hinge vom Ruin der andern ab, und alles, was über ihm stand, war für ihn ein Feind, gegen den jedes Mittel gut sein mußte. Dieser Charakter ist unter den Bauern ziemlich verbreitet. Gegenwärtig lag ihm vor allem am Herzen, von Malin eine Verlängerung seiner Pacht zu erlangen, die nur noch sechs Jahre lief. Er war eifersüchtig auf den Wohlstand des Verwalters und paßte ihm scharf auf. Die Leute der Gegend feindeten ihn wegen seiner Beziehungen zu den Michus an; doch in der Hoffnung, seine Pacht auf zwölf weitere Jahre verlängern zu lassen, spähte der schlaue Pächter nach einer Gelegenheit, der Regierung oder Malin, der Michu mißtraute, einen Dienst zu leisten. Mit Hilfe des Wächters von Gondreville, des Feldhüters und einiger Holzhacker hielt Violette den Polizeikommissar von Arcis über Michas geringste Handlungen auf dem Laufenden. Dieser Beamte hatte vergebens versucht, Marianne, Michus Magd, für die Interessen der Regierung zu gewinnen; aber Violette und seine Getreuen erfuhren alles durch Gaucher, den kleinen Knecht, auf dessen Treue Michu sich verließ und der ihn doch für Kleinigkeiten, für Westen, Schnallen, baumwollene Strümpfe und Leckereien verriet. Violette schwärzte alle Handlungen Michus an, machte sie durch die unsinnigsten Unterstellungen zu Verbrechen, ohne daß der Verwalter etwas ahnte, obgleich er wußte, welche erbärmliche Rolle der Pächter bei ihm spielte, und sich einen Spaß daraus machte, ihn zum besten zu halten.
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»Sie haben wohl viel in Bellache zu tun, daß Sie schon wieder da sind?« fragte Michu. »Schon wieder! Das ist ein Vorwurf, Herr Michu ... Mit der Tonart kommen Sie mir nicht! Die Büchse da kannte ich bei Ihnen noch nicht ...« »Sie stammt von einem meiner Felder, auf dem Büchsen wachsen«, entgegnete Michu. »Da, sehen Sie, wie ich sie säe.« Der Verwalter nahm auf dreißig Schritt eine Schlangenblume aufs Korn und schoß sie glatt ab. »Haben Sie diese Banditenwaffe, um Ihren Herrn zu beschützen? Er hat sie Ihnen wohl geschenkt?« »Er ist extra aus Paris gekommen, um sie mir zu bringen«, antwortete Michu. »Allerdings schwatzt man rings im Lande von seiner Reise. Die einen behaupten, er sei in Ungnade und ziehe sich von den Geschäften zurück. Die andern sagen, er wolle hier klar sehen ... Nun ja, warum kommt er denn, ohne ein Wort zu sagen, genau wie der Erste Konsul? Wußten Sie, daß er kam?« »Ich stehe mich nicht so gut mit ihm, daß er mir etwas anvertraut.« »So haben Sie ihn noch nicht gesehen?« »Ich erfuhr seine Ankunft erst, als ich von meinem Rundgang im Walde zurückkam«, entgegnete Michu und lud seine Büchse wieder.
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»Er hat nach Arcis geschickt, um Herrn Grévin zu holen. Sie werden etwas Tribun spielen.« Malin war Tribunatsmitglied gewesen. »Wenn Sie in der Richtung nach Cinq-Cygne reiten,« sagte der Verwalter, »so nehmen Sie mich mit; ich will dorthin.« Violette war zu ängstlich, um einen Mann von Michus Kraft hinter sich aufs Pferd zu nehmen, und ritt fort. Der Judas warf seine Büchse über die Schulter und eilte nach der Allee. »Auf wen hat es Michu denn abgesehen?« fragte Martha ihre Mutter. »Seit er Herrn Malins Ankunft erfahren hat, ist er recht finster geworden«, entgegnete sie. »Aber es ist feucht, wir wollen ins Haus gehen.« Als die beiden Frauen unter dem Kaminmantel saßen, schlug Couraut an. »Da kommt mein Mann!« rief Martha. In der Tat kam Michu die Treppe herauf; seine Frau ging besorgt zu ihm in ihr Schlafzimmer. »Sieh nach, ob niemand da ist«, gebot er Martha mit bewegter Stimme. »Niemand«, entgegnete sie. »Marianne ist auf dem Feld mit der Kuh. Und Gaucher ...« »Wo ist Gaucher?« fragte er. 269
»Ich weiß nicht.« »Ich mißtraue dem kleinen Schlingel. Geh auf den Boden, durchstöbere ihn und suche in den kleinsten Winkeln des Pavillons.« Martha ging und suchte. Als sie zurückkam, fand sie Michu kniend und betend. »Was hast du denn?« fragte sie erschrocken. Der Verwalter faßte seine Frau um die Hüften, zog sie an sich, gab ihr einen Kuß auf die Stirn und antwortete mit bewegter Stimme: »Wenn wir uns nicht wiedersehen, so wisse, arme Frau, daß ich dich recht lieb hatte. Befolge Punkt für Punkt meine Anweisungen. Sie stehen in einem Briefe, den ich am Fuß der Lärche dort in der Baumgruppe vergraben habe«, setzte er nach einer Pause hinzu und wies auf einen Baum. »Er steckt in einem Blechrohr. Rühre ihn erst nach meinem Tode an. Kurz, was auch geschehen möge, bedenke, daß mein Arm trotz der Ungerechtigkeit der Menschen der Gerechtigkeit Gottes gedient hat.« Martha erbleichte zusehends und ward weiß wie ihr Bettlaken. Sie blickte ihren Mann mit starren, angstvoll aufgerissenen Augen an; sie wollte sprechen, aber das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Michu entwich wie ein Schatten; er hatte Couraut an den Fuß seines Bettes angebunden, und das Tier begann verzweifelt zu heulen. Michus Zorn gegen Marion hatte ernste Gründe gehabt, aber er hatte sich gegen einen Mann gekehrt, der in seinen Augen viel verbrecherischer war, nämlich gegen Malin. Dessen Geheimnisse hatten sich vor den Blicken des 270
Verwalters entschleiert, der mehr als irgendwer in der Lage war, das Benehmen des Staatsrats richtig einzuschätzen. Michus Schwiegervater hatte, politisch gesprochen, das Vertrauen Malins besessen, der durch Grevins Bemühungen zum Vertreter der Aube im Konvent ernannt worden war. Vielleicht ist es nicht grundlos, die Umstände zu erzählen, die die Simeuses und die Cinq-Cygnes mit Malin zusammengeführt hatten und die auf dem Schicksal der beiden Zwillinge und des Fräuleins von Cinq-Cygne lasteten, aber noch mehr auf dem Marthas und Michus. In Troyes lag das Hotel Cinq-Cygne dem Hotel Simeuse gegenüber. Als der von ebenso kundigen wie vorsichtigen Händen entfesselte Pöbel das Hotel Simeuse geplündert hatte, wurden der Marquis und die Marquise entdeckt, die des Einverständnisses mit den Feinden beschuldigt waren, und den Nationalgarden überliefert, die sie ins Gefängnis abführten. Da schrie die Menge folgerichtig: »Zu den CinqCygnes!« Sie konnte sich nicht denken, daß die Cinq-Cygnes an dem Verbrechen der Simeuses unbeteiligt waren. Der würdige und mutige Marquis von Simeuse hatte ein paar Augenblicke vor dem Sturm seine beiden achtzehnjährigen Söhne, die sich durch ihren Mut bloßstellen konnten, ihrer Tante, der Gräfin Cinq-Cygne, anvertraut. Zwei dem Hause Simeuse ergebene Diener hielten die jungen Leute eingesperrt. Der Greis, der nicht wollte, daß sein Name erlosch, hatte angeordnet, seinen Söhnen im Fall des äußersten Unglücks alles zu verbergen. Laurence, damals zwölf Jahre alt, wurde von beiden Brüdern gleich geliebt und liebte sie ebenso. Wie viele Zwillinge, glichen die beiden Simeuses sich derart, daß ihre Mutter ihnen lange Zeit Kleider von verschiedener Farbe gab, um sie zu unterscheiden. Der Erstgeborene hieß Paul Maria, der zweite Maria Paul. Laurence von Cinq-Cygne, der das Geheimnis der Lage anvertraut war, spielte ihre Frauenrolle sehr gut. Sie fleh271
te ihre Vettern an, machte sie nachgiebig und bewachte sie, bis der Pöbel das Haus Cinq-Cygne umringte. Nun begriffen beide Brüder die Gefahr augenblicklich und sagten es sich durch einen Blick. Ihr Entschluß stand sofort fest; sie bewaffneten ihre beiden Diener, die der Gräfin Cinq-Cygne, verrammelten die Tür, schlossen die Fensterläden und stellten sich dann mit fünf Dienern und dem Abbé von Hauteserre, einem Verwandten der Cinq-Cygnes, an den Fenstern auf. Die acht mutigen Kämpfer eröffneten ein mörderisches Feuer auf die Volksmasse. Jeder Schuß tötete oder verwundete einen Angreifer. Laurence verzweifelte nicht, sie lud die Gewehre mit äußerster Kaltblütigkeit und versah die Schützen mit Kugeln und Pulver. Die Gräfin Cinq-Cygne war in die Knie gesunken. »Was tust du, Mutter?« fragte Laurence. »Ich bete,« entgegnete sie, »für sie wie für euch.« Im Nu waren elf Personen getötet und lagen zwischen den Verwundeten am Boden. Derartige Ereignisse kühlen den Pöbel ab oder steigern seine Wut; er verbeißt sich in sein Vorhaben oder gibt es auf. Die Vordersten wichen entsetzt zurück, aber die ganze Masse, die morden und rauben wollte, schrie beim Anblick der Toten: »Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!« Die vorsichtigen Leute gingen den Volksvertreter holen. Die beiden Brüder, die nun von den schicksalsvollen Ereignissen des Tages erfuhren, schöpften Verdacht, das Konventsmitglied wollte den Untergang ihres Hauses, und dieser Verdacht ward alsbald zur Gewißheit. Von Rachedurst getrieben, stellten sie sich in die Toreinfahrt und luden ihre Gewehre, um Malin im Augenblick seines Erscheinens zu töten. Die Gräfin hatte den Kopf verloren. Sie sah ihr Haus in Asche und ihre Tochter ermordet. Sie schalt ihre Verwandte für die heldenhafte Verteidi272
gung, die Frankreich acht Tage lang beschäftigte. Laurence öffnete die Tür ein wenig, als Malin sie dazu aufforderte. Bei ihrem Anblick verließ sich der Volksvertreter auf seine gefürchtete Eigenschaft, auf die Schwäche des Kindes und trat ein. »Wie, mein Herr,« antwortete sie auf seine ersten Worte, als er Rechenschaft über diesen Widerstand forderte, »Sie wollen Frankreich die Freiheit geben, und Sie schützen die Leute nicht im eignen Hause! Man will unser Haus zerstören, uns ermorden, und wir sollten nicht mal das Recht haben, Gewalt mit Gewalt zurückzuweisen!...« Malin stand wie angenagelt. »Sie, der Enkel eines Maurers, den der große Marquis beim Bau seines Schlosses beschäftigt hat,« sagte Maria Paul zu ihm, »Sie dulden, daß unser Vater ins Gefängnis geschleppt wird, und hören auf eine Verleumdung!« »Er wird in Freiheit gesetzt werden«, sagte Malin, der sich für verloren hielt, als er sah, wie die beiden jungen Leute krampfhaft ihre Gewehre schwenkten. »Diesem Versprechen verdanken Sie Ihr Leben«, sagte Maria Paul feierlich. »Aber wird es nicht heute abend erfüllt, so werden wir Sie zu finden wissen!« »Was diesen brüllenden Pöbel betrifft,« sagte Laurence, »so schicken Sie ihn fort, oder der erste Schuß trifft Sie... Nun, Herr Malin, gehen Sie hinaus!« Das Konventsmitglied ging hinaus und hielt eine Ansprache an die Menge. Er sprach von der Heiligkeit des Herdes, vom Habeas corpus und dem englischen Hausrecht. Er sagte, das Gesetz und das Volk seien souverän, das Gesetz sei das Volk und 273
das Volk dürfe nur durch das Gesetz handeln; das Gesetz müsse gewahrt bleiben. Das Gesetz der Notwendigkeit machte ihn beredt; er zerstreute den Auflauf. Aber nie vergaß er den Ausdruck der Verachtung im Gesicht der beiden Brüder, noch das »Gehen Sie hinaus« des Fräuleins von Cinq-Cygne. Als daher die Rede davon war, die Güter des Grafen von Cinq-Cygne als Nationalgut zu verkaufen, wurde die Aufteilung streng durchgeführt. Die Kreiskommission ließ Laurence nichts als das Schloß, den Park und den Pachthof Cinq-Cygne. Nach Malins Anweisung hatte Laurence nur Anspruch auf ihr Pflichtteil, denn an Stelle des Emigranten trat die Nation, zumal wenn er die Waffen gegen die Republik trug. Am Abend nach diesem furchtbaren Sturm flehte Laurence ihre beiden Vettern so heftig an, das Weite zu suchen, denn sie fürchtete für sie irgendeinen Verrat und die Fallstricke des Volksvertreters, – daß sie zu Pferde stiegen und zu den Vorposten der preußischen Armee stießen. In dem Augenblick, als die beiden Brüder den Wald von Gondreville erreichten, wurde das Haus Cinq-Cygne umstellt; der Volksvertreter kam selbst mit bewaffneter Macht, um die Erben des Hauses Simeuse zu verhaften. An die Gräfin Cinq-Cygne, die damals mit furchtbarem Nervenfieber zu Bette lag, wagte er sich nicht heran, ebensowenig an Laurence, ein Kind von zwölf Jahren. Die Diener waren aus Angst vor der Strenge der Republik verschwunden. Am nächsten Morgen verbreitete sich in der Gegend die Kunde von dem Widerstand der beiden Brüder und ihrer Flucht nach Preußen, wie es hieß. Vor dem Haus Cinq-Cygne entstand eine Zusammenrottung von dreitausend Menschen, und es ward mit unerklärlicher Geschwindigkeit zerstört. Frau von Cinq-Cygne, die ins Haus Simeuse gebracht ward, starb dort in einem verstärkten Fieberanfall.
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Michu hatte erst nach diesen Ereignissen den politischen Schauplatz betreten, denn der Marquis und die Marquise blieben ungefähr fünf Monate im Gefängnis. In dieser Zeit erhielt der Volksvertreter der Aube eine Mission. Als jedoch Marion Gondreville an Malin verkaufte, als die ganze Gegend die Wirkungen der Volksgärung vergessen hatte, begriff Michu den ganzen Malin oder glaubte ihn doch zu begreifen, denn Malin gehört wie Fouché zu den Personen, die so viele Gesichter, und unter jedem Gesicht so viel Tiefe haben, daß sie im Augenblick ihres Spiels undurchdringlich sind und erst lange nachher erklärt werden können. Bei den großen Gelegenheiten seines Lebens unterließ Malin nie, seinen treuen Freund Grévin, den Notar in Arcis, zu Rate zu ziehen, denn sein Urteil über Dinge und Menschen war aus der Ferne scharf, klar und bestimmt. Diese Gewohnheit ist die Klugheit und Stärke der Menschen zweiten Ranges. Nun lagen die Dinge im November 1803 für den Staatsrat so ernst, daß ein Brief beide Freunde bloßgestellt hätte. Malin, der zum Senator ernannt werden sollte, fürchtete eine Auseinandersetzung in Paris. Er verließ sein Haus und reiste nach Gondreville, wobei er dem Ersten Konsul nur einen einzigen von den Gründen angab, aus denen ihm seine Reise erwünscht war, einen Grund, der ihm in Bonapartes Augen das Ansehen von Eifer gab, während es sich doch nicht um den Staat, sondern um ihn selbst handelte. Als nun Michu im Park nach Art der Wilden auf einen günstigen Augenblick für seine Rache lauerte, führte der politische Malin, der gewöhnt war, alle Ereignisse zu seinen Gunsten auszubeuten, seinen Freund nach einer kleinen Wiese des englischen Gartens, einem verlassenen Fleck, der zu geheimer Zwiesprache günstig war. In der Mitte der Wiese stehend und leise sprechend, waren beide Freunde zu weit entfernt, um belauscht zu werden, falls jemand sich zu diesem Zwecke versteckt hatte, und sie konnten das Thema wechseln, wenn Unberufene dazu kamen.
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»Warum sind wir nicht in einem Zimmer des Schlosses geblieben?« fragte Grévin. »Hast du nicht die beiden Leute gesehen, die mir der Polizeipräfekt schickt?« Obgleich Fouché bei der Verschwörung von Pichegru, Georges, Moreau und Polignac die Seele des Konsulatskabinetts gewesen war, leitete er das Polizeiministerium nicht und war damals einfacher Staatsrat wie Malin. »Diese beiden Leute sind Fouchés zwei Arme. Der eine, der junge Stutzer, dessen Gesicht wie eine Flasche Limonade aussieht, der Essig auf den Lippen und Kratzer in den Augen hat, der hat dem Aufstand im Westen im Jahre VII binnen vierzehn Tagen ein Ende gemacht. Der andre ist ein Kind Lenoirs, der einzige, der die großen Traditionen der französischen Polizei im Leibe hat. Ich hatte um irgendeinen untergeordneten Agenten gebeten, der sich auf eine offizielle Persönlichkeit stützen sollte, und man schickt mir die beiden Gesellen! Ach, Grévin! Fouché will mir zweifellos in die Karten sehen. Darum ließ ich die beiden Herren im Schlosse speisen; sie mögen alles durchsuchen, sie werden weder Ludwig XVIII. noch irgendein Anzeichen finden.« »Oho!« sagte Grévin, »welches Spiel spielst du denn?« »Nun, mein Freund, ein Doppelspiel ist recht gefährlich, aber in bezug auf Fouché ist es ein dreifaches Spiel. Er hat vielleicht gewittert, daß ich die Geheimnisse des Hauses Bourbon kenne.« »Du?«
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»Ich«, entgegnete Malin. »Hast du Favras vergessen?« Dies Wort machte dem Staatsrat Eindruck. »Und seit wann?« fragte Grévin nach einer Pause. »Seit dem Konsulat auf Lebenszeit.« »Und doch keine Beweise ?« »Nicht so viel«, sagte Malin und machte die übliche Gebärde mit dem Daumennagel. In kurzen Worten entwarf Malin ein deutliches Bild der kritischen Lage, in die Bonaparte England brachte, das durch das Lager von Boulogne auf Tod und Leben bedroht war. Er erklärte Grévin die in Frankreich und Europa unbekannte, aber von Pitt geahnte Tragweite dieses Landungsplanes, dann die kritische Lage, in die England Bonaparte bringen wollte. Eine gewaltige Koalition, Preußen, Österreich und Rußland, sollte, mit englischem Gelde bezahlt, siebenhunderttausend Mann unter die Waffen bringen. Zugleich spannte im Innern eine furchtbare Verschwörung ihr Netz und vereinigte die Bergpartei, die Chouans, die Royalisten und ihre Prinzen. »Solange Ludwig XVIII. drei Konsuln sah, glaubte er, die Anarchie gehe weiter und er könne mit Hilfe irgendeiner Bewegung Rache für den 13. Vendémiaire und den 18. Fructidor nehmen«, sagte Malin. »Aber das Konsulat auf Lebenszeit hat Bonapartes Pläne enthüllt; bald wird er Kaiser sein. Dieser ehemalige Leutnant trägt sich mit dem Gedanken, eine Dynastie zu gründen! Nun, diesmal will man ihm ans Leben, und der 277
Streich ist noch geschickter angelegt als der in der Rue SaintNicaise. Pichegru, Georges, Moreau, der Herzog von Enghien, Polignac und Rivière, die beiden Freunde des Grafen von Artois, sind beteiligt.« »Was für ein Gemisch!« rief Grévin. »Frankreich wird heimlich überfallen, man will von allen Seiten anstürmen, man wird kein Mittel unversucht lassen. Hundert Leute, die den Anschlag ausführen, von Georges geführt, sollen die Leibwache des Konsuls und den Konsul Mann gegen Mann angreifen.« »Gut, denunziere sie!« »Seit zwei Monaten halten der Konsul, sein Polizeiminister, der Präfekt und Fouché einen Teil dieses Riesengewebes in Händen, aber sie kennen seine ganze Ausdehnung nicht, und im Augenblick lassen sie fast alle Verschworenen frei herumlaufen, um alles zu erfahren.« »Was das Recht betrifft,« versetzte der Notar, »so haben die Bourbonen wohl eher das Recht, ein Unternehmen gegen Bonaparte anzuzetteln, zu leiten und auszuführen, als Bonaparte das Recht hatte, am 18. Brumaire gegen die Republik zu konspirieren, deren Kind er war. Er mordete seine Mutter, sie aber wollen wieder in ihr Haus. Ich verstehe, daß die Prinzen, als die Emigrantenlisten geschlossen wurden, als die Streichungen zunahmen, der katholische Kult wieder eingeführt wurde und die gegenrevolutionären Erlasse sich häuften, begriffen haben, daß ihre Rückkehr schwierig, ja unmöglich würde. Bonaparte wird zum einzigen Hindernis ihrer Rückkehr, und dies Hindernis wollen sie wegräumen; nichts ist einfacher. Werden die
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Verschwörer besiegt, so sind sie Räuber. Siegen sie, so sind sie Helden, und deine Ratlosigkeit scheint mir da ganz natürlich.« »Es handelt sich darum,« sagte Malin, »den Bourbonen den Kopf des Herzogs von Enghien zuwerfen zu lassen, wie der Konvent den Königen den Kopf Ludwigs XVI. zugeworfen hat, um ihn so tief wie uns in den Strom der Revolution zu tauchen; oder darum, den jetzigen Götzen des französischen Volkes und seinen künftigen Kaiser zu stürzen, um den wahren Thron auf seinen Trümmern aufzurichten. Ich bin der Spielball eines Ereignisses, eines wohlgezielten Pistolenschusses, einer Höllenmaschine der Rue Nicaise, die im rechten Augenblick explodiert. Man hat mir nicht alles gesagt. Man hat mir vorgeschlagen, im kritischen Augenblick den Staatsrat einzuberufen und die Wiedereinsetzung der Bourbonen gesetzlich in die Wege zu leiten.« »Warte ab«, entgegnete der Notar. »Unmöglich! Mir bleibt nur noch dieser Augenblick, um einen Entschluß zu fassen.« »Und warum?« »Die beiden Simeuses sind im Komplott und in der Gegend. Ich muß sie entweder verfolgen lassen, damit sie sich bloßstellen und ich sie loswerde, oder ich muß sie heimlich unterstützen. Ich hatte um untergeordnete Leute gebeten; man schickt mir ausgesuchte Luchse, die über Troyes gekommen sind, um die Gendarmerie für sich zu haben.« »Gondreville ist das ›Halte fest‹, und die Verschwörung ist das ›So wirst du haben‹«, sagte Grévin.
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»Weder Fouché noch Talleyrand, deine beiden Partner, sind beteiligt: spiele mit ihnen offnes Spiel. Wie! Alle, die Ludwig XVI. den Kopf abschlugen, sind in der Regierung, und Frankreich wimmelt von Aufkäufern von Nationalgütern, und du möchtest die zurückführen, die Gondreville von dir herausfordern würden? Sind die Bourbonen keine Dummköpfe, so müssen sie mit dem Schwamm über alles gehen, was wir getan haben. Warne Bonaparte.« »Ein Mann meines Ranges denunziert nicht«, sagte Malin lebhaft. »Deines Ranges!« rief Grévin lächelnd. »Man bietet mir das Justizministerium an.« »Ich begreife, daß dich das blendet, und meine Sache ist es, in diesen politischen Finsternissen klar zu sehen, das Ausgangstor zu wittern. Nun ist es unmöglich vorauszusehen, welche Ereignisse die Bourbonen zurückführen können, wenn ein General Bonaparte achtzig Schiffe und vierhunderttausend Mann hat. Das Schwierigste in der ausschauenden Politik ist, zu wissen, wann eine sinkende Macht stürzen wird. Aber, Alterchen, Bonapartes Macht ist noch im Steigen begriffen... Hat Fouché dich nicht vielleicht sondieren lassen, um dein innerstes Denken zu erfahren und sich deiner zu entledigen?« »Nein, des Gesandten bin ich sicher. Übrigens würde Fouché mir nicht zwei derartige Affen schicken, die ich zu gut kenne, um nicht Verdacht zu schöpfen.« »Mir flößen sie Angst ein«, sagte Grévin. »Wenn Fouché dir nicht mißtraut, dich nicht auf die Probe stellen will, warum hat
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er sie dir dann geschickt? Fouché spielt einen derartigen Streich nicht ohne Grund...« »Das entscheidet die Sache für mich!« rief Malin. »Ich werde vor den beiden Simeuses nie Ruhe haben. Vielleicht will Fouché, der meine Lage kennt, die beiden schnappen und glaubt durch sie bis zu den Condés durchzugreifen.« »Ach, Alterchen, unter Bonaparte wird man den Besitzer von Gondreville nicht beunruhigen.« Als Malin aufblickte, erkannte er im Laub einer großen dichten Linde den Lauf eines Gewehrs. »Ich hatte mich nicht getäuscht; ich hatte das Knacken eines Hahnes gehört, der gespannt wird«, sagte er zu Grévin, nachdem er hinter einen dicken Baumstamm getreten war. Der Notar folgte ihm, über die plötzliche Bewegung seines Freundes beunruhigt. »Es ist Michu«, sagte Grévin. »Ich sehe seinen roten Bart.« »Wir wollen nicht so tun, als hätten wir Angst«, fuhr Malin fort und ging langsam weiter, während er mehrmals sagte: »Was hat der Mann gegen die Käufer dieses Landgutes? Auf dich hatte er es gewiß nicht abgesehen. Wenn er uns gehört hat, muß ich ihn ins Gebet nehmen. Wir hätten lieber in die Ebene gehen sollen.« »Man lernt nie aus«, versetzte der Notar. »Aber er war weit ab, und wir haben uns nur ins Ohr gesprochen.«
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»Ich will Corentin zwei Worte darüber sagen«, entgegnete Malin. Kurz darauf kehrte Michu heim, bleich und mit verzerrten Zügen. »Was ist dir?« fragte seine Frau entsetzt. »Nichts,« entgegnete er, als er Violette erblickte, dessen Anwesenheit ihn wie ein Blitzstrahl traf. Michu nahm einen Stuhl, setzte sich ruhig ans Feuer und warf einen Brief hinein, den er aus einer jener Blechröhren genommen hatte, die die Soldaten zum Aufheben ihrer Papiere benutzen. Bei diesem Vorgang atmete Martha wie von Zentnerlast befreit auf, und Violette wurde sehr neugierig. Der Verwalter legte seine Büchse mit bewundernswerter Kaltblütigkeit auf den Kaminmantel. Marianne und Marthas Mutter spannen beim Licht einer Lampe. »Vorwärts, Franz, zu Bett!« sagte der Vater. »Willst du wohl in die Klappe!« Damit faßte er seinen Sohn grob um die Hüften und trug ihn hinaus. er, es sind Spione ...« »Geh in den Keller hinunter,« sagte er ihm auf der Treppe ins Ohr, »nimm zwei Flaschen Macon, gieße ein Drittel des Inhalts aus und fülle sie mit dem Kognak nach, der auf dem Flaschenbrett steht. Dann mische eine Flasche Weißwein zur Hälfte mit Kognak. Mach das geschickt und stelle die drei Flaschen auf das leere Faß am Kellereingang. Wenn ich das Fenster öffne, verläßt du den Keller, sattelst mein Pferd, setzt dich drauf und erwartest mich am Bettlerpfahl.« 282
»Der kleine Schlingel will nie zu Bett gehen«, sagte der Verwalter, als er zurückkam. »Er will es machen wie die Erwachsenen, alles sehen, alles hören, alles wissen. Sie verderben mir meine Leute, Herr Violette.« »Mein Gott! Mein Gott!« rief Violette, »wer hat Ihnen denn die Zunge gelöst? So viel haben Sie noch nie gesprochen.« »Meinen Sie, ich ließe mich ausspionieren, ohne es zu merken? Sie stehen nicht auf der richtigen Seite, alter Violette. Wenn Sie, statt denen zu dienen, die mir schaden wollen, für mich wären, so täte ich noch mehr für Sie, als Ihre Pacht zu verlängern. ..« »Was noch?« fragte der habgierige Bauer und riß die Augen weit auf. »Ich würde Ihnen billig meinen Besitz verkaufen.« »Billig ist nichts, wenn man bezahlen muß«, sagte Violette spitz. »Ich will die Gegend verlassen und ich gebe Ihnen meinen Pachthof Le Mousseau mit Gebäuden, Saatkorn, Vieh für fünfzigtausend Franken.« »Wirklich?« »Ist's Ihnen recht so?« »Das wäre zu überlegen.« »Wir wollen darüber reden ... Aber ich verlange eine Anzahlung.« 283
»Ich habe nichts.« »Ein Wort.« »Auch das noch!...« »Sagen Sie mir, wer Sie hergeschickt hat!« »Ich kam von da zurück, wo ich vorhin war, und ich wollte Ihnen kurz guten Abend sagen.« »Du kamst zurück – ohne dein Pferd? Hältst du mich für einen Tropf? Du lügst, du kriegst meinen Pachthof nicht.« »Na also, es war Herr Grévin. Er sagte zu mir: ›Violette, wir brauchen Michu. Geh ihn holen. Ist er nicht da, so warte auf ihn ...‹ Ich begriff, daß ich heute abend hier bleiben sollte ...« »Waren die Pariser Schnapphähne noch auf dem Schloß?« »Ach, ich weiß nicht recht, aber es waren Leute im Salon.« »Du sollst meinen Pachthof haben. Machen wir das weitere aus. Frau, geh und hole den Vertragswein. Nimm vom besten Roussillon, dem Wein des früheren Marquis ... Wir sind keine Kinder. Du findest zwei Flaschen davon auf dem leeren Faß am Eingang und eine Flasche Weißwein.« »Famos«, sagte Violette, der sich nie betrank. »Trinken wir!« »Sie haben fünfzigtausend Franken unter den Fliesen Ihres Schlafzimmers, soweit wie das Bett reicht. Die geben Sie mir 284
vierzehn Tage, nachdem der Vertrag bei Grévin abgeschlossen ist.. .« Violette blickte Michu starr an und wurde kreidebleich. »Ha, du willst einen alten Jakobiner ausschnüffeln, der die Ehre hatte, Vorsitzender des Klubs in Arcis zu sein, und du meinst, er wird's nicht merken? Ich habe Augen im Kopf, ich habe gesehen, daß deine Fliesen frisch ausgegipst sind, und daraus zog ich den Schluß, daß du sie nicht aufgehoben hast, um Getreide zu säen ... Prosit!« Verwirrt trank Violette ein großes Glas Wein, ohne auf die Sorte zu achten. Der Schrecken hatte ihm gleichsam ein glühendes Eisen in den Bauch gestoßen; der Geiz verbrannte dort den Branntwein. Er hätte viel darum gegeben, zu Hause sein zu können, um seinen Schatz anderswo zu verbergen. Die drei Frauen lächelten. »Ist's Ihnen recht so?« fragte Michu ihn und füllte sein Glas nochmals. »Gewiß.« »Dann hast du eine eigne Scholle, alter Halunke!« Nach einer halben Stunde lebhafter Erörterungen über den Zeitpunkt der Besitzübernahme und die tausend Spitzfindigkeiten, unter denen die Bauern ihre Geschäfte abschließen, unter Beteuerungen, geleerten Weingläsern, Worten voller Versprechungen und Ableugnungen, – unter Ausrufen wie »Nicht möglich!« »Wahrhaftig!« »Mein Wort darauf!« »Was ich dir sage«, »Man soll mir den Hals abschneiden, wenn ...«, »Dies Glas Wein soll zu Gift werden, wenn ich nicht die reine Wahr285
heit sage ...« fiel Violette mit dem Kopf auf den Tisch, nicht berauscht, sondern völlig betrunken. Sobald Michu merkte, daß seine Augen sich trübten, öffnete er das Fenster. »Wo ist der Schlingel, der Gaucher?« fragte er seine Frau. »Zu Bett.« »Du, Marianne,« sagte der Verwalter zu seiner treuen Magd, »geh und stell dich vor seine Tür und bewache ihn. – Du, Mutter, bleibst unten und bewachst mir den Spion da. Sei auf der Hut und öffne nur, wenn Franz ruft. Es geht um Tod und Leben!« setzte er mit tiefer Stimme hinzu. »Für alle, die unter meinem Dach wohnen, habe ich mein Haus heute nacht nicht verlassen: das werdet Ihr auch mit dem Kopf unter dem Fallbeil aussagen. – Geh,« sagte er zu seiner Frau, »geh, Mutter, zieh deine Schuhe an, setze deine Haube auf und zieh ab. Keine Fragen, ich begleite dich.« Seit dreiviertel Stunden hatte dieser Mann in Blick und Gebärde einen despotischen, unwiderstehlichen Willen, der aus der gemeinsamen, unbekannten Quelle kommt, aus der sowohl die großen Heerführer schöpfen, die auf dem Schlachtfeld die Massen entflammen, wie die großen Redner, die die Versammlungen fortreißen, aber auch, das muß gesagt werden, die großen Verbrecher bei ihren kühnen Streichen. Es ist dann, als ströme vom Kopf ein unbezwinglicher Einfluß aus, dessen Träger das Wort ist, als flöße die Gebärde anderen den Willen des Einen ein. Die drei Frauen wußten sich in einer furchtbaren Krise. Ohne daß es ihnen gesagt worden wäre, ahnten sie es an der Raschheit der Handlungen dieses Mannes, dessen Gesicht funkelte, dessen Stirn redete, dessen Augen wie Sterne glänzten. Mehrmals hatten sie den Schweiß an seinen Haarwurzeln gesehen, mehrmals hatten seine Worte vor Ungeduld und Wut 286
gebebt: Und so gehorchte Martha denn willenlos. Bis an die Zähne bewaffnet, die Flinte über der Schulter, sprang Michu in den Baumgang, von seiner Frau gefolgt, und rasch erreichten sie den Kreuzweg, wo Franz sich im Gestrüpp versteckt hatte. »Der Kleine hat Verstand«, sagte Michu, als er ihn sah. Es war sein erstes Wort. Seine Frau und er waren bis dahin gelaufen, ohne ein Wort sprechen zu können. »Kehre zum Pavillon zurück, versteck dich im dichtesten Baum, beobachte die Felder und den Park«, sagte er zu seinem Sohne. »Wir sind alle zu Bett, machen niemandem auf. Deine Großmutter wacht und wird sich nur rühren, wenn sie dich sprechen hört. Merke dir jedes Wort von mir. Es geht um das Leben deiner Eltern. Die Justiz darf nie erfahren, daß wir die Nacht nicht zu Hause waren!« Nachdem er diese Worte seinem Sohn ins Ohr geraunt hatte, schlüpfte dieser durch den Wald wie ein Aal durch den Schlamm, und Michu sprach zu seiner Frau: »Aufs Pferd! Und bitte Gott, daß er mit uns ist. Halte dich gut. Mag das Tier verrecken.« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so rannte das Pferd, von zwei Fußstößen Michus getrieben und von seinen starken Knien gepreßt, mit der Schnelligkeit eines Rennpferdes los. Es schien seinen Herrn zu verstehen: in einer Viertelstunde war der Wald durchquert. Ohne vom kürzesten Wege abgewichen zu sein, befand Michu sich an einer Stelle des Waldsaumes, wo die mondbeschienenen Dächer des Schlosses auftauchten. Er band sein Pferd an einen Baum und stieg behend auf den kleinen Hügel, von dem man das Tal von Cinq-Cygne überschaute. 287
Das Schloß, das Michu und Martha einen Augenblick zusammen anschauten, macht in der Landschaft einen reizvollen Eindruck. Obgleich weder durch Umfang noch Bauart hervorragend, besitzt es ein gewisses archäologisches Interesse. Der alte Bau aus dem fünfzehnten Jahrhundert, auf einer Anhöhe gelegen und von tiefen, breiten und noch gefüllten Wassergräben umgeben, ist aus Feldsteinen und Mörtel errichtet, aber seine Mauern sind sieben Fuß dick. Seine Schlichtheit gemahnt wunderbar an das rauhe, kriegerische Leben der Feudalzeit. Dies wirklich echte Schloß besteht aus zwei dicken rötlichen Türmen, die durch ein langes Wohngebäude mit Steinfenstern getrennt sind, deren grob gearbeitete Kreuze Weinranken gleichen. Die Treppe liegt mitten vor der Außenmauer in einem fünfeckigen Turme mit kleiner Spitzbogenpforte. Das Erdgeschoß, im Innern im Stil Ludwigs XIV. modernisiert, wie auch das erste Stockwerk, wird von ungeheuren Dächern überragt, die von Fenstern mit gemeißelten Giebeln durchbrochen werden. Vor dem Schloß liegt ein weiter Wiesenplan, dessen Bäume vor kurzem gefällt waren. Zu beiden Seiten der Eingangsbrücke liegen zwei Häuschen, die als Gärtnerwohnung dienen, durch ein dürftiges, charakterloses, offenbar modernes Gitter getrennt. Rechts und links von dem Wiesenplan, den eine gepflasterte Straße mitten durchteilt, ziehen sich die Pferde- und Kuhställe, die Scheunen, die Holzschuppen, das Backhaus, die Hühnerställe und Gesindewohnungen hin, offenbar in den Überresten zweier Flügel untergebracht, die dem jetzigen Schloß ähnlich waren. In früheren Zeiten muß dies Kastell ein Viereck gewesen sein, das an den vier Ecken befestigt und von einem gewaltigen Turm mit gewölbtem Tor verteidigt war, an dessen Fuß sich an der Stelle des Gitters eine Zugbrücke befand. Die beiden dicken Türme, deren kegelförmige Dächer noch nicht abgetragen waren, und der Glockenstuhl des Mittelturmes gaben dem Dache Charakter. Ein paar Schritte davon ragte der spitze Turm der gleich288
falls alten Kirche, der mit den Massen dieses Kastells im Einklang stand. Der Mond ließ alle Firste und Dachspitzen leuchten und umspielte sie mit flimmerndem Lichte. Michu betrachtete diesen alten Herrensitz mit einem Blicke, der die Gedanken seiner Frau umwarf, denn sein Gesicht war ruhiger geworden und zeigte einen Ausdruck von Hoffnung und eine Art Stolz. Dann überschaute er den Gesichtskreis mit einem gewissen Mißtrauen: es mußte gegen neun Uhr sein; der Mondschein fiel auf den Waldrand, und die Anhöhe war besonders stark beleuchtet. Dieser Standpunkt schien dem Verwalter gefährlich; er stieg hinab, als fürchtete er, gesehen worden zu sein. Doch kein verdächtiges Geräusch störte den Frieden des schönen Tales, das auf dieser Seite vom Walde von Nodesme umschlossen wurde. Martha, die von dem scharfen Ritt erschöpft war und zitterte, erwartete irgendeine Lösung. Wozu hatte er sie mitgenommen? Zu einer guten Tat oder zu einem Verbrechen? In diesem Augenblick sagte Michu seiner Frau ins Ohr: »Du wirst zur Gräfin Cinq-Cygne gehen und sie zu sprechen verlangen. Wenn du sie siehst, bitte sie, beiseite zu kommen. Wenn niemand euch hören kann, wirst du zu ihr sagen: ›Gnädiges Fräulein, das Leben Ihrer beiden Vettern ist in Gefahr, und der Mann, der Ihnen das Wie und Warum erklären wird, wartet.‹ Hat sie Angst, ist sie mißtrauisch, so setze hinzu: ›Sie gehören zur Verschwörung gegen den Ersten Konsul, und die Verschwörung ist entdeckt.‹ Nenne deinen Namen nicht, man mißtraut uns zu sehr.« Martha Michu hob den Kopf zu ihrem Manne und sprach: »So dienst du ihnen?« 289
»Nun, und was weiter?« fragte er stirnrunzelnd, denn er glaubte an einen Vorwurf. »Du verstehst mich nicht!« rief Martha aus und ergriff Michus breite Hand. Dann fiel sie vor ihm auf die Knie und küßte diese Hand, die sich plötzlich mit Tränen bedeckte. »Lauf! Weinen kannst du nachher«, sagte er, sie heftig umarmend. Als er den Schritt seiner Frau nicht mehr hörte, traten dem eisernen Manne Tränen in die Augen. Er hatte Martha wegen der Ansichten ihres Vaters mißtraut, aber die Schönheit ihres schlichten Charakters war ihm plötzlich aufgegangen, wie ihr die Größe des seinen klar wurde. Martha geriet aus der tiefen Demütigung, die die Mißachtung eines Mannes verursacht, dessen Namen man trägt, in das Entzücken, die sein Ruhm bereitet. Der Übergang war so plötzlich, daß sie der Ohnmacht nahe war. Wie sie ihm später erzählte, hatte sie vom Pavillon bis Cinq-Cygne in ihrer Angst und Sorge Blut geschwitzt und einen Augenblick hatte sie sich unter die Engel des Himmels entrückt gefühlt. Er, der sich nicht verstanden fühlte, der das grämliche, schwermütige Wesen seiner Frau für einen Mangel an Liebe hielt, hatte sie sich selbst überlassen und draußen gelebt, seine ganze Zärtlichkeit auf seinen Sohn geworfen, aber nun hatte er im Nu begriffen, was die Tränen dieser Frau bedeuteten: sie verfluchte die Rolle, die ihre Schönheit und der Wille ihres Vaters sie zu spielen zwang. Das Glück hatte in seinen schönsten Flammen für sie geleuchtet, wie ein Blitz im Gewitter. Ja, es mußte ein Blitz sein! Beide dachten an zehn Jahre des Mißverstehens und jeder gab sich allein die Schuld. Michu blieb unbeweglich stehen, den Ellbogen auf der Büchse und die Hand am Kinn, in tiefes Sinnen verloren. In solchen
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Augenblicken heißt man alle Schmerzen der schmerzlichsten Vergangenheit gut. Von tausend ähnlichen Gedanken bestürmt, fühlte Martha sich auch noch durch die Gefahr der Simeuses bedrückt, denn sie begriff alles, selbst die Gesichter der beiden Pariser; nur die Büchse war ihr unerklärlich. Wie eine Hirschkuh lief sie dahin und erreichte den Weg nach dem Schloß. Zu ihrer Bestürzung hörte sie hinter sich die Schritte eines Mannes und schrie auf, aber Michus breite Hand schloß ihr den Mund. »Von dem Hügel aus sah ich in der Ferne das Silber auf den Hutborten glänzen! Geh durch die Bresche des Grabens zwischen dem Damenturm und den Ställen, dann werden die Hunde dich nicht anbellen. Geh in den Garten, ruf die junge Gräfin durchs Fenster; laß ihr Pferd satteln; sage ihr, sie solle es durch die Bresche führen. Ich werde dort sein, sobald ich den Plan der Pariser erforscht und herausgekriegt habe, wie man ihnen entgehen kann.« Die Gefahr, die wie eine Lawine rollte und der man zuvorkommen mußte, gab Martha Flügel. Der fränkische Name, den die Cinq-Cygnes und die Chargeboeufs gemeinsam trugen, war Duineff. Cinq-Cygne wurde der Name des jüngeren Zweiges der Chargeboeufs, nachdem fünf Töchter dieses Hauses in Abwesenheit ihres Vaters ein Kastell verteidigt hatten. Alle waren auffallend bleich, und kein Mensch hätte von ihnen ein solches Benehmen erwartet. Einer der ersten Grafen der Champagne wollte durch diesen hübschen Namen die Erinnerung daran verewigen, solange die Familie lebte. Seit jener seltsamen Waffentat waren die Töchter dieses Hauses stolz, aber vielleicht nicht alle bleich. Die letzte, Laurence, war entgegen dem salischen Gesetz die Erbin 291
des Namens, des Wappens und der Lehen. Der König von Frankreich hatte den Lehnsbrief des Grafen der Champagne bestätigt, wonach in dieser Familie die Frau den Adel verleihen und erben sollte. Laurence war also Gräfin von Cinq-Cygne; ihr Gatte mußte ihren Namen und ihr Wappen annehmen, auf dem als Wappenspruch die stolze Antwort stand, die die älteste der fünf Schwestern auf die Aufforderung zur Übergabe des Schlosses gab: »Singend sterben!« Dieser schönen Heldinnen würdig, hatte Laurence eine so weiße Haut, als hätte der Zufall eine Wette gemacht. Die geringsten Verästelungen ihrer blauen Adern schimmerten durch das feine und feste Hautgewebe hindurch. Ihr Haar vom schönsten Blond stimmte wunderbar zu ihren tiefblauen Augen. Alles an ihr war zierlich. Doch in ihrem schmächtigen Körper lebte trotz ihres schlanken Wuchses und ihrer milchweißen Haut eine Seele, so gehärtet wie die des charakterfestesten Mannes. Aber erraten hätte sie niemand, auch kein Beobachter, beim Anblick ihres sanften Ausdrucks und ihrer Gesichtsform, deren Profil eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Kopf eines Schafes hatte. Diese übermäßige, wenn auch vornehme Sanftheit schien bis zur Blödigkeit eines Lammes zu gehen. »Ich sehe aus wie ein träumendes Schaf«, sagte sie bisweilen lächelnd. Laurence, die wenig sprach, schien nicht sowohl nachdenklich als verschlafen. Entstand jedoch eine ernste Lage, so offenbarte sich sofort die verborgene Judith und sie wurde erhaben, und an solchen Lagen hatte es ihr leider nicht gefehlt. Mit dreizehn Jahren stand Laurence nach den schon bekannten Ereignissen als Waise auf der Stätte, an der sich tags zuvor in Troyes eines der eigenartigsten Häuser im Baustil des sechzehnten Jahrhunderts erhoben hatte: das Hotel Cinq-Cygne. Herr von Hauteserre, einer ihrer Verwandten, der ihr Vormund 292
geworden war, brachte die Erbin sofort aufs Land. Dieser wackere Provinzedelmann, durch den Tod seines Bruders, des Abbé von Hauteserre, erschreckt, den eine Kugel in dem Augenblick auf dem Platze traf, als er sich in Bauerntracht retten wollte, war nicht imstande, die Sache seines Mündels zu verteidigen. Er hatte zwei Söhne im Heere der Prinzen, und täglich glaubte er beim geringsten Geräusch, die Munizipalgardisten von Arcis kämen, ihn zu verhaften. Stolz, eine Belagerung bestanden zu haben und die historische weiße Hautfarbe ihrer Vorfahren zu besitzen, verachtete Laurence diese kluge Feigheit des vom Sturm der Zeit gebeugten Greises; sie dachte nur daran, sich hervorzutun. So hängte sie in ihrem armseligen Salon in Cinq-Cygne dreist das Bild der Charlotte Corday auf, mit geflochtenen Eichenzweigen bekränzt. Durch einen besonderen Boten stand sie mit den Zwillingen in Briefwechsel, trotz dem Gesetz, das sie mit dem Tode bestraft hätte. Der Bote, der gleichfalls sein Leben aufs Spiel setzte, brachte die Antworten zurück. Seit den Katastrophen in Troyes lebte Laurence nur noch für den Triumph der königlichen Sache. Nachdem sie Herrn und Frau von Hauteserre richtig eingeschätzt und ihren braven, aber kraftlosen Charakter erkannt hatte, stellte sie sich außerhalb der Gesetze ihrer Sphäre. Laurence besaß zuviel Geist und wirkliche Nachsicht, um ihnen wegen ihres Charakters zu grollen. Sie war gut, liebenswürdig, herzlich gegen sie, gab ihnen aber keins ihrer Geheimnisse preis. Nichts verschließt die Seele so sehr wie beständige Verstellung im Schoß einer Familie. Als Laurence großjährig wurde, überließ sie die Verwaltung ihrer Geschäfte dem guten Hauteserre wie zuvor. Wenn ihre Lieblingsstute gut geputzt, wenn ihre Zofe Katharina nach ihrem Geschmack gekleidet und ihr kleiner Diener Gotthard anständig angezogen war, fragte sie wenig nach dem übrigen, ihr Denken richtete sich auf ein zu hohes Ziel, als daß sie sich zu Beschäftigungen herabließ, die ihr zu anderen Zeiten gewiß gefallen hätten. Die Kleidung bedeutete wenig für 293
sie; zudem waren ihre Vettern ja nicht da. Laurence hatte ein flaschengrünes Reitkleid zum Ausreiten, ein ärmelloses Kleid aus gewöhnlichem Wollstoff mit Schnüren, um zu Fuß auszugehen, und ein seidenes Morgenkleid fürs Haus. Gotthard, ihr kleiner Stallknecht, ein gewandter, kecker Bursche von fünfzehn Jahren, begleitete sie, denn sie war fast stets draußen und jagte auf allen Feldern von Gondreville, ohne daß die Pächter, noch Michu etwas dagegen hatten. Sie ritt ausgezeichnet und war eine wunderbar geschickte Jägerin. In der Gegend hieß sie nur das Fräulein, selbst während der Revolution. Wer den schönen Roman »Rob Roy« gelesen hat, wird sich eines der seltnen Frauencharaktere erinnern, bei deren Schilderung Walter Scott seine gewohnte Kälte abgelegt hat, nämlich Diana Vernon. Diese Erinnerung kann zum Verständnis Laurences dienen, wenn man zu den Eigenschaften der schottischen Jägerin die verhaltene Begeisterung der Charlotte Corday hinzufügt, aber die liebenswürdige Lebhaftigkeit fortläßt, die Diana so anziehend macht. Die junge Gräfin hatte ihre Mutter sterben, den Abbe von Hauteserre fallen, den Marquis und die Marquise von Simeuse auf dem Schafott enden sehen. Ihr einziger Bruder war seinen Wunden erlegen; ihre beiden Vettern, die in der Armee Condés dienten, konnten jeden Augenblick fallen; schließlich war das Vermögen der Simeuses und der Cinq-Cygnes von der Republik verschlungen worden, ohne der Republik zu nützen. Ihr Ernst, der in anscheinende Stumpfheit ausgeartet war, wird jetzt begreiflich. Herr von Hauteserre zeigte sich übrigens als Vormund höchst ehrlich und einsichtig. Unter seiner Verwaltung nahm CinqCygne die Gestalt eines Pachthofes an. Der Biedermann, der weit weniger einem Ritter als einen tüchtigen Landwirt glich, hatte den Park und die Gärten, die etwa zweihundert Morgen umfaßten, nutzbringend verwertet. Sie lieferten ihm Futter für 294
die Pferde, Nahrung für die Leute und Brennholz. Dank strengster Sparsamkeit hatte die Gräfin, als sie großjährig wurde, durch Anlage der Einkünfte in Staatspapieren bereits ein hinreichendes Vermögen erlangt. Im Jahre 1798 besaß die Erbin 20 000 Franken in Staatsrenten, deren Zinsen freilich ausstanden, und 12 000 Franken in Cinq-Cygne, dessen Pachtverträge unter beträchtlichen Steigungen erneuert waren. Herr und Frau von Hauteserre hatten sich mit einer Leihrente von 3000 Franken aus der Gesellschaft Lafarge aufs Land zurückgezogen. Diese Trümmer ihres Vermögens erlaubten ihnen nicht, anderswo als in Cinq-Cygne zu leben. Und so war es auch das erste, was Laurence tat, daß sie ihnen den Pavillon, in dem sie wohnten, auf Lebenszeit überließ. Die Hauteserres waren für ihr Mündel ebenso sparsam geworden wie für sich selbst. Sie legten jedes Jahr ihre tausend Thaler in dem Gedanken an ihre Söhne zurück und gaben der Erbin eine dürftige Kost. Die Gesamtausgaben von Cinq-Cygne betrugen jährlich nicht mehr als 5000 Franken. Aber Laurence, die sich um Einzelheiten nicht kümmerte, fand alles gut. Der Vormund und seine Frau standen unvermerkt unter der Herrschaft dieses Charakters, der sich in den kleinsten Dingen geltend machte, und sie waren schließlich dahin gelangt, das junge Mädchen, das sie von klein auf kannten, zu bewundern, ein ziemlich seltnes Gefühl. Aber Laurence hatte in ihrem Wesen, in ihren Kehllauten, ihrem gebieterischen Blick jenes Etwas, jene unerklärliche Macht, die stets imponiert, selbst wenn sie nur scheinbar ist, denn für Dummköpfe gleicht die Leere der Tiefe. Für den großen Haufen ist Tiefe unverständlich. Daher kommt vielleicht die Bewunderung des Volkes für alles, was es nicht versteht. Herr und Frau von Hauteserre, denen das gewohnte Schweigen der jungen Gräfin und ihr ungeselliges Wesen tiefen Eindruck machte, lebten stets in der Erwartung von etwas Großem. Da Laurence mit klugem Sinn Gutes tat und sich nicht täuschen 295
ließ, gewann sie sich große Achtung bei den Bauern, obwohl sie Aristokratin war. Ihr Geschlecht, ihr Name, ihr Unglück, ihr eigenartiges Leben, alles trug dazu bei, ihr Ansehen bei den Bewohnern des Tales von Cinq-Cygne zu verschaffen. Bisweilen ritt sie, von Gotthard begleitet, für ein bis zwei Tage fort, und bei ihrer Rückkehr fragten die Hauteserres sie nie nach den Gründen ihrer Abwesenheit. Bemerkenswert ist, daß Laurence nichts Wunderliches an sich hatte. Die Virago verbarg sich unter der anscheinend weiblichsten und schwächsten Form. Ihr Herz war von äußerster Empfindsamkeit, aber im Kopfe trug sie männliche Entschlossenheit und stoische Festigkeit. Ihre klarblickenden Augen konnten nicht weinen. Wenn man ihr weißes, zartes Handgelenk mit dem blauen Geäder sah, so hätte niemand geglaubt, daß sie es mit dem des stärksten Reiters aufnehmen konnte. Ihre so weiche, so schlaffe Hand handhabte eine Pistole, eine Flinte mit der Kraft eines geübten Jägers. Draußen trug sie nie eine andre Frisur, als die Frauen sie beim Reiten tragen, dazu ein kokettes Biberhütchen mit herabgelassenem grünen Schleier, und so hatte ihr zartes Gesicht, ihr weißer Hals, um den sich eine schwarze Krawatte schlang, von ihren Ritten in der frischen Luft nie gelitten. Unter dem Direktorium und zu Beginn des Konsulats hatte Laurence sich derart aufführen können, ohne daß jemand sich um sie kümmerte, aber seit es wieder eine geregelte Regierung gab, versuchten die neuen Behörden, der Präfekt des Departements Aube, Malins Freunde und dieser selbst, sie in Mißachtung zu bringen. Laurence dachte nur an den Sturz Bonapartes, dessen Ehrgeiz und Triumph eine Art Wut bei ihr erregt hatten, aber eine kalte, berechnete Wut. Als heimliche, unbekannte Feindin des ruhmbedeckten Mannes zielte sie aus der Tiefe ihres Tales und ihrer Wälder mit furchtbarer Starrheit auf ihn. Bisweilen wollte sie hingehen und ihn in der Gegend von Saint-Cloud oder Malmaison ermorden. Die Ausführung dieses 296
Anschlages hätte bereits die Übungen und Gewohnheiten ihres Lebens erklärt, aber da sie seit dem Bruch des Friedens von Amiens in die Verschwörung der Männer eingeweiht war, die den 18. Brumaire gegen den Ersten Konsul umkehren wollten, hatte sie seitdem ihre Kraft und ihren Haß dem weitverzweigten und sehr gut geleiteten Plan gewidmet, der Bonaparte von außen her durch die große Koalition Rußlands, Österreichs und Preußens treffen sollte, die er als Kaiser bei Austerlitz besiegte, und im Innern durch die Koalition der verschiedenartigsten Elemente, die ein gemeinsamer Haß verband und von denen manche wie Laurence auf den Tod dieses Mannes sannen, ohne vor dem Worte Mord zurückzuschrecken. Dies anscheinend so zarte, doch für jeden, der sie kannte, so starke junge Mädchen war also in jenem Augenblick der treue und sichre Führer der Edelleute, die aus Deutschland kamen, um an diesem ersten Angriff teilzunehmen. Fouché fußte auf dieser Mitwirkung der Emigranten jenseits des Rheins, um den Herzog von Enghien in das Komplott zu verwickeln. Die Anwesenheit dieses Prinzen auf badischem Gebiet unweit von Straßburg gab später solchen Annahmen Gewicht. Die große Frage, ob der Herzog wirklich Kenntnis von dem Unternehmen hatte, ob er nach dessen Gelingen nach Frankreich zurückkehren sollte, gehört zu den Geheimnissen, über welche die Prinzen des Hauses Bourbon wie über einige andre tiefstes Schweigen bewahrt haben. In dem Maße, wie die Geschichte jener Zeit verblaßt, werden unparteiische Geschichtsschreiber es zum mindesten unvorsichtig finden, daß der Herzog sich der Grenze in einem Augenblick näherte, wo eine riesige Verschwörung ausbrechen sollte, um deren Geheimnis die ganze königliche Familie sicherlich wußte. Die Vorsicht, die Malin bei seiner Unterredung im Freien mit Grevin angewandt hatte, übte das junge Mädchen bei ihren geringsten Beziehungen. Sie empfing die Sendboten und besprach sich mit ihnen an ver297
schiedenen Rändern des Waldes von Nodesme oder jenseits des Tals von Cinq-Cygne, zwischen Sezanne und Brienne. Oft ritt sie mit Gotthard in einem Zuge fünfzehn französische Meilen weit, und wenn sie nach Cinq-Cygne zurückkehrte, merkte man ihrem frischen Gesicht keine Spur von Ermüdung oder Sorge an. Sie hatte im Gesicht dieses kleinen Kuhhirten, der damals neun Jahre alt war, die naive Bewunderung bemerkt, die Kinder für das Außergewöhnliche hegen, nahm ihn zum Stallknecht und brachte ihm bei, die Pferde mit englischer Sorgfalt und Aufmerksamkeit zu pflegen. Sie erkannte seinen Wunsch, alles gut zu machen, Verstand und das Fehlen jeder Berechnung. Sie stellte seine Treue auf die Probe und fand bei ihm nicht nur Gescheitheit, sondern auch Adel: an Lohn dachte er nicht. Sie pflegte diese noch so junge Seele und war gut zu ihm, gut mit einem Zuge zur Größe. Sie fesselte ihn an sich, indem sie sich an ihn fesselte, seinen halbwilden Charakter selbst schliff, ohne ihm seine Frische und Schlichtheit zu nehmen. Als sie seine fast hündische Treue, die sie gezüchtet, hinreichend erprobt hatte, wurde Gotthard ihr listiger und harmloser Mitschuldiger. Der Bauernjunge, den niemand in Verdacht haben konnte, ritt von Cinq-Cygne bis Nancy und kehrte manchmal zurück, ohne daß jemand wußte, daß er die Gegend verlassen hatte. Alle Listen der Spione waren ihm geläufig. Das außerordentliche Mißtrauen, das seine Herrin ihm eingeimpft hatte, veränderte seine Wesensart in keiner Weise. Gotthard, der zugleich die weibliche Verschlagenheit, die Offenheit eines Kindes und die stets rege Aufmerksamkeit der Verschwörer besaß, verbarg diese wunderbaren Eigenschaften unter der tiefen Unwissenheit und Gleichgültigkeit der Landbewohner. Dieser Bursche schien albern, linkisch und schwach; war er aber einmal am Werke, so war er behend wie ein Fisch und entschlüpfte wie ein Aal. Er verstand wie ein Hund jeden Blick, witterte den Gedanken. Sein gutes, grobes, rundes und rotes Gesicht, seine schläfrigen braunen Augen, 298
seine nach Bauernart geschnittenen Haare, seine Kleidung, sein fast zurückgebliebenes Wachstum gaben ihm das Aussehen eines zehnjährigen Knaben. Unter dem Schutz ihrer Base, die von Straßburg bis Bar-sur-Aube über sie wachte, kamen die Herren von Hauteserre und von Simeuse in Begleitung mehrerer andrer Emigrierter durch Elsaß-Lothringen und die Champagne, während andre, nicht weniger mutige Verschwörer an den Steilufern der Normandie in Frankreich landeten. Als Arbeiter gekleidet, waren die Hauteserres und die Simeuses von Wald zu Wald gezogen, von Ort zu Ort durch Leute geführt, die Laurence seit drei Monaten in jedem Departement unter den Königstreusten und am wenigsten Verdächtigen ausgesucht hatte. Die Emigranten schliefen bei Tage und wanderten bei Nacht. Jeder von ihnen brachte zwei ergebene Soldaten mit, deren einer auf Kundschaft vorausging, während der andere zurückblieb, um im Fall eines Unglücks den Rückzug zu decken. Dank diesen militärischen Vorsichtsmaßregeln hatte das wertvolle Häuflein ungefährdet den Wald von Nodesme erreicht, der zum Treffpunkt bestimmt war. Siebenundzwanzig andere Edelleute kamen aus der Schweiz und durch Burgund; sie wurden unter gleichen Vorsichtsmaßregeln nach Paris geleitet. Herr von Rivière zählte auf fünfhundert Leute, darunter hundert junge Edelleute, die Offiziere dieser heiligen Schar. Die Herren von Rivière und von Polignac, deren Benehmen als Führer äußerst bemerkenswert war, wahrten unverbrüchliches Schweigen über alle diese Mitverschworenen, und so wurden sie nicht entdeckt. Daher kann man heute in Übereinstimmung mit den während der Restaurationszeit erfolgten Enthüllungen sagen, daß Bonaparte den Umfang der Gefahren, in denen er damals schwebte, so wenig kannte wie England die Gefahr, in die es durch das Lager von Boulogne gebracht ward; und doch wurde die Polizei zu keiner Zeit geistvoller und geschickter geleitet.
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In dem Augenblick, da unsre Geschichte beginnt, machte ein Feigling, wie es deren stets bei allen Verschwörungen gibt, die nicht auf eine kleine Zahl gleich starker Männer beschränkt werden, ein Verschworener, der mit dem Tode bedroht wurde, Angaben über das Ziel des Unternehmens, die zum Glück für dessen Umfang unzureichend, aber ziemlich genau waren. Und so ließ die Polizei, wie Malin zu Grévin gesagt hatte, die überwachten Verschwörer frei handeln, um alle Verzweigungen des Komplotts aufzudecken. Immerhin war der Regierung durch Georges Cadoudal, der den Anschlag ausführen sollte, gewissermaßen die Hand gebunden, denn er folgte nur seinem eignen Rat und hielt sich mit fünfundzwanzig Chouans in Paris verborgen, um den Ersten Konsul anzufallen. In Laurences Denken verband sich Haß mit Liebe. Bonaparte vernichten und die Bourbonen zurückführen – hieß das nicht, Gondreville wiedererlangen und das Glück ihrer Vettern machen? Diese beiden Empfindungen, deren eine der Gegenpol der andern ist, reichen besonders mit dreiundzwanzig Jahren hin, um alle Fähigkeiten der Seele und alle Lebenskräfte zu entfalten. Und so erschien denn Laurence seit zwei Monaten den Bewohnern von Cinq-Cygne schöner denn je. Ihre Wangen waren rosig geworden; die Hoffnung gab ihrer Stirn bisweilen einen Anflug von Stolz. Wenn man dann aber abends die »Gazette« mit den konservativen Maßnahmen des Ersten Konsuls las, senkte sie die Augen, damit man in ihnen nicht die drohende Gewißheit vom baldigen Sturz dieses Feindes der Bourbonen las. Niemand im Schloß ahnte also, daß die junge Gräfin ihre beiden Vettern in der letzten Nacht wiedergesehen hatte. Die beiden Söhne des Ehepaars Hauteserre hatten die Nacht im Zimmer der Gräfin verbracht, unter dem gleichen Dache wie ihre Eltern; denn um keinen Verdacht zu erregen, war Laurence, nachdem sie die beiden Hauteserres zur Ruhe gebracht hatte, zwischen ein und zwei Uhr morgens zum Stelldichein mit 300
ihren Vettern gegangen und hatte sie mitten in den Wald geführt, wo sie sie in der verlassenen Hütte eines Forsthüters untergebracht hatte. Da sie des Wiedersehens gewiß war, zeigte sie nicht die geringste Freude, nichts, was die Erregung der Erwartung verriet; selbst die Spuren der Freude über dies Wiedersehen hatte sie verwischt und war völlig kalt. Die hübsche Katharina, die Tochter ihrer Amme, und Gotthard, die beide ins Geheimnis gezogen waren, paßten ihr Benehmen dem ihrer Herrin an. Katharina war neunzehn Jahre alt. In diesem Alter ist ein junges Mädchen so fanatisch wie Gotthard in dem seinen und läßt sich den Hals abschneiden, ohne ein Wort zu sagen. Gotthard aber hätte, wenn er nur das Parfüm roch, das seine Herrin in ihr Haar und an ihre Kleider tat, die Folter ertragen, ohne ein Wort zu sagen. In dem Augenblick, als Martha, von der drohenden Gefahr benachrichtigt, rasch wie ein Schatten auf die von Michu bezeichnete Bresche zueilte, sah es im Salon des Schlosses CinqCygne höchst friedlich aus. Seine Bewohner ahnten so wenig, welcher Sturm über sie daherbrausen sollte, daß ihr Benehmen das Mitleid des ersten besten erregt hätte, der ihre Lage gekannt hätte. In dem hohen Kamin, der mit einem Wandspiegel geschmückt war, über dessen Scheibe Schäferinnen im Reifrock tanzten, brannte ein Feuer, wie es nur in Schlössern möglich ist, die am Waldrande liegen. An diesem Kamin lag die junge Gräfin in einem großen Lehnstuhl aus vergoldetem Holze, der mit wunderbarer grüner Seide gepolstert war, in der Haltung völliger Erschöpfung hingestreckt. Sie war erst um sechs Uhr von der Grenze von Brie zurückgekehrt, nachdem sie dem kleinen Trupp als Kundschafterin vorausgeritten war, um die vier Edelleute richtig nach dem Obdach zu bugsieren, wo sie ihre letzte Rast vor dem Einzug in Paris halten sollten, hatte Herrn und Frau von Hauteserre gegen Ende ihres Nachtessens überrascht und, vom Hunger getrieben, sich zu Tisch 301
gesetzt, ohne ihr schmutzbespritztes Reitkleid und ihre Stiefel auszuziehen. Statt sich nach der Mahlzeit auszukleiden, hatte sie, von all ihren Anstrengungen überwältigt, ihren schönen entblößten Kopf mit seinen tausend blonden Locken in die Lehne des riesigen Fauteuils sinken lassen und die Füße vor sich auf ein Taburett gelegt. Das Feuer trocknete die Spritzflecken ihres Reitkleides und ihrer Stiefel. Ihre Wildlederhandschuhe, ihr kleiner Biberhut, ihr grüner Schleier und ihre Reitpeitsche lagen auf der Konsole, auf die sie sie geworfen. Sie blickte bald auf die alte Boulle-Uhr, die auf dem Kaminsims zwischen zwei geblümten Leuchtern stand, um zu sehen, ob die vier Verschwörer nach der Zeit schon im Bett lagen, und bald auf den vor dem Kamin aufgestellten Bostontisch, an dem Herr und Frau von Hauteserre, der Pfarrer von Cinq-Cygne und dessen Schwester saßen. Selbst wenn diese Personen nicht mit unserm Drama verknüpft wären, hätten ihre Gesichter doch das Verdienst, die Aristokratie von einer der Seiten darzustellen, die sie seit ihrer Niederlage von 1793 kennzeichneten. In dieser Hinsicht hat die Schilderung des Salons von Cinq-Cygne den Reiz der Geschichte im Negligé. Der damals zweiundfünfzigjährige Edelmann, groß, hager und vollblütig, von robuster Gesundheit, hätte als kraftvoll erscheinen können, hätten seine großen fayenceblauen Augen nicht so einfältig dreingeschaut. In seinem Gesicht, das in ein schuhförmiges Kinn auslief, war zwischen Nase und Mund ein nach den Gesetzen der Zeichnung übermäßiger Zwischenraum, der ihm einen unterwürfigen Ausdruck verlieh, der völlig zu seinem Charakter paßte, ebenso wie die geringsten Einzelheiten seiner Physiognomie. So bildete sein graues Haar, das durch den fast den ganzen Tag lang getragenen Hut verfilzt war, gleichsam eine Kappe auf seinem Kopfe und ließ dessen bir302
nenförmigen Umriß hervortreten. Seine Stirn, durch das Landleben und seine beständigen Sorgen stark gerunzelt, war platt und ausdruckslos. Seine Adlernase belebte sein Gesicht etwas; das einzige Anzeichen von Kraft lag in seinen schwarz gebliebenen buschigen Brauen und in seiner lebhaften Gesichtsfarbe. Aber dies Anzeichen trog nicht; wiewohl schlicht und sanft, hielt der Edelmann am monarchischen und katholischen Glauben fest, und keine Rücksicht hätte ihn zu einem Parteiwechsel vermocht. Dieser Biedermann hätte sich verhaften lassen; er hätte nicht auf die Munizipalgardisten geschossen und lammfromm das Schafott bestiegen. Seine dreitausend Franken Leibrente, sein einziger Besitz, hatten ihn von der Auswanderung zurückgehalten. Er gehorchte also der gegenwärtigen Regierung, ohne von seiner Liebe zum Königshause zu lassen, dessen Wiedereinsetzung er wünschte. Aber er hätte sich geweigert, sich durch Teilnahme an einem Anschlag zugunsten der Bourbonen bloßzustellen. Er gehörte zu jenem Schlage von Royalisten, die es nie vergaßen, daß sie geschlagen und beraubt worden waren, die seitdem stumm dahinlebten, sparsam, grollend, ohne Tatkraft, aber unfähig zu irgendeiner Entsagung und irgendeinem Opfer, bereit, das siegreiche Königtum zu begrüßen, Freunde der Religion und der Priester, aber entschlossen, jeden Schimpf des Unglücks zu ertragen. Das heißt nicht mehr eine Meinung haben, sondern eigensinnig sein. Das Wesen der Parteien ist Handeln. Geistlos, aber bieder, geizig wie ein Bauer und doch von edlem Benehmen, kühn in seinen Wünschen, aber zurückhaltend in Worten und Taten, aus allem Nutzen ziehend und bereit, sich zum Bürgermeister von Cinq-Cygne ernennen zu lassen, vertrat Herr von Hauteserre ausgezeichnet jene ehrenwerten Edelleute, die über ihre Edelsitze und ihre Köpfe die Stürme der Revolution dahinbrausen ließen, die sich unter der Restauration dank dem Wohlstand ihrer versteckten Ersparnisse wieder erhoben, stolz auf ihre verschwiegene Anhänglichkeit, und die nach 1830 auf 303
ihre Landsitze zurückkehrten. Seine Kleidung, die ausdrucksvolle Hülle dieses Charakters, malte den Mann und die Zeit, Herr von Hauteserre trug einen jener haselnußbraunen Überröcke mit kleinem Kragen, die der letzte Herzog von Orléans bei seiner Rückkehr aus England in Mode gebracht hatte und die während der Revolution gleichsam ein Mittelding zwischen den abscheulichen Volkstrachten und den eleganten Röcken der Aristokratie bildeten. Seine Samtweste mit geblümten Streifen, deren Schnitt an die von Robespierre und Saint-Just gemahnte, ließ den oberen Teil eines in kleine Falten gelegten Jabots frei, das auf seinem Hemd ruhte. Er trug noch Kniehosen, aber von grobem blauem Tuch mit blindgewordenen Stahlschnallen. Strümpfe aus schwarzer Florettseide umschlossen seine mageren Hirschbeine; seine groben Schuhe wurden durch schwarze Tuchgamaschen festgehalten. Er trug noch den Musselinkragen mit tausend Falten, der am Hals durch eine goldene Schnalle befestigt war. Der Biedermann hatte durchaus keinen politischen Eklektizismus treiben wollen, als er diese zugleich bäurische, revolutionäre und aristokratische Kleidung anlegte, er hatte sehr harmlos den Verhältnissen gehorcht. Frau von Hauteserre war vierzig Jahre alt, aber durch die Aufregungen entnervt. Sie hatte ein ältliches Gesicht, das stets aussah, als wollte sie für ein Porträt Modell stehen. Ihre mit weißen Satinschleifen garnierte Spitzenhaube trug eigenartig zu diesem feierlichen Aussehen bei. Sie war noch gepudert, trotz des weißen Fichus, des flohbraunen Seidenkleides mit glatten Ärmeln und dem sehr weiten Rock – die traurige letzte Kleidung der Königin Marie Antoinette. Ihre Nase war dünn, das Kinn spitz, das Gesicht fast dreieckig, die Augen verweint, aber sie trug einen Hauch von Rot auf, der ihre grauen Augen belebte. Sie schnupfte und wandte stets die hübschen Vorsichtsmaßregeln an, mit denen die Modedämchen dereinst soviel Mißbrauch trieben. Alle Einzelheiten des Schnupfens 304
bildeten eine Zeremonie, die ein Wort erklärt: sie hatte hübsche Hände. Seit zwei Jahren hatte der ehemalige Erzieher der beiden Simeuses, der Freund des Abbé von Hauteserre, namens Goujet, ein Abt der Minimes, die Pfarre von Cing-Cygne aus Freundschaft für die Hauteserres und für die junge Gräfin zum Alterssitz erwählt. Seine Schwester, Fräulein Goujet, die siebenhundert Franken Einkommen besaß, legte dies Geld zu den mageren Einkünften der Pfarre und führte ihrem Bruder den Haushalt. Weder Kirche noch Pfarrhaus waren verkauft worden, weil sie wenig Wert besaßen. Der Abbé Goujet wohnte also ein paar Schritte vom Schloß, denn die Gartenmauer des Pfarrhauses und, die des Parks stießen hier und da aneinander. Und so speiste denn der Abbé Goujet mit seiner Schwester zweimal wöchentlich in Cinq-Cygne, und sie erschienen jeden Abend zum Kartenspielen bei den Hauteserres. Laurence verstand keine Karte zu halten. Der Abbé Goujet, ein weißhaariger Greis, bleich wie eine alte Frau, hatte ein liebenswürdiges Lächeln und eine sanfte, einschmeichelnde Stimme. Sein nichtssagendes, ziemlich puppenhaftes Gesicht wurde durch zwei sehr kluge Augen und eine Stirn belebt, aus der Intelligenz sprach. Er war mittelgroß, gut gewachsen und trug den schwarzen französischen Priesterrock mit silbernen Hosen- und Schuhschnallen, schwarzseidene Strümpfe und eine schwarze Weste, auf die sein Bäffchen herabfiel, was ihm etwas Großartiges gab, ohne seiner Würde Abbruch zu tun. Dieser Abbé, der nach der Restauration Bischof von Troyes wurde, war durch sein früheres Leben gewöhnt, die Jugend zu beurteilen, und hatte Laurences großen Charakter erkannt. Er schätzte sie nach ihrem ganzen Wert und hatte dem jungen Mädchen von Anfang an eine ehrerbietige Achtung bezeigt, die viel dazu beitrug, sie in Cinq-Cygne selbständig zu machen, so daß die strenge alte Dame und der gute Edelmann sich ihr beugten, wo 305
sie ihnen doch nach dem Brauch hätte gehorchen müssen. Seit sechs Monaten beobachtete der Abbé Goujet Laurence mit der den Priestern eigenen Begabung, denn sie sind ja die scharfblickendsten Leute, und ohne zu wissen, daß das dreiundzwanzigjährige Mädchen damit umging, Bonaparte zu stürzen, während ihre schwachen Hände eine verhäkelte Schnur ihres Reitkleides aufdröselten, nahm er doch an, daß ein großer Plan sie bewegte. Fräulein Goujet war eins jener Mädchen, deren Porträt in zwei Worten gezeichnet ist, die auch den Phantasielosesten eine Vorstellung von ihr geben: sie gehörte zum Schlage der Mannweiber. Sie wußte, daß sie häßlich war, lachte zuerst über ihre Häßlichkeit und zeigte dabei ihre langen Zähne, die so gelb waren wie ihre Haut, und ihre knochigen Hände. Sie war durchaus gutmütig und heiter. Sie trug die berühmte altmodische Schoßjacke, einen sehr weiten Rock, dessen Taschen stets voller Schlüssel waren, eine Bänderhaube und eine Haartour. Sie war sehr früh vierzig Jahre alt geworden, aber wie sie sagte, glich sich das wieder aus, da sie seit zwanzig Jahren an diesem Alter festhielt. Sie verehrte den Adel und wußte ihre eigene Würde zu wahren, indem sie den Adligen alle Achtung und Ehren erwies, die ihnen zukamen. Diese Gesellschaft war für Frau von Hauteserre sehr zur Zeit nach Cinq-Cygne gekommen, denn sie ging nicht wie ihr Gatte in der Landwirtschaft auf, noch hatte sie wie Laurence die Anregung des Hasses, um sich die Last eines einsamen Lebens erträglich zu machen. Und so war denn auch seit sechs Jahren alles besser geworden. Die Wiederherstellung des katholischen Kults erlaubte die Erfüllung der religiösen Pflichten, die im Landleben mehr Widerhall finden als anderswo. Durch die konservativen Maßnahmen des Ersten Konsuls beruhigt, hatten Herr und Frau von Hauteserre mit ihren Söhnen in Briefwech306
sel treten und von ihnen hören können. Sie brauchten nicht mehr für deren Leben zu zittern und hatten sie gebeten, ihre Streichung zu beantragen und nach Frankreich zurückzukehren. Der Staatsschatz hatte die rückständigen Zinsen gezahlt und zahlte regelmäßig alle halben Jahre. Die Hauteserres besaßen damals außer ihrer Leibrente achttausend Franken Jahreseinkommen. Der Greis beglückwünschte sich zu seiner klugen Voraussicht; er hatte alle seine Ersparnisse, zwanzigtausend Franken, ebenso wie sein Mündel, vor dem achtzehnten Brumaire angelegt, seit dem alle Anlagen bekanntlich von zwölf auf achtzehn Franken gestiegen waren. Lange war Cinq-Cygne kahl, leer und verödet geblieben. Aus Berechnung hatte der vorsichtige Vormund während der Revolutionswirren nichts am Aussehen des Schlosses ändern wollen, aber nach dem Frieden von Amiens hatte er eine Reise nach Troyes gemacht, um ein paar Überreste aus den beiden zerstörten Stadthäusern zu holen, die er bei Trödlern aufgekauft hatte. Damals war der Salon unter seiner Leitung möbliert worden. Schöne Gardinen aus weißer, grün geblümter Seide, die aus dem Hause Simeuse stammten, schmückten die sechs Fenster des Salons, in dem die genannten Personen saßen. Der riesige Raum war ganz mit Holztäfelungen ausgekleidet worden, die in Felder mit Rahmen aus Perlstäben geteilt waren. Sie waren in den Ecken mit Masken geschmückt und in zwei grauen Tönen bemalt. Die Füllungen über den vier Türen zeigten Grisaillemalereien, wie sie unter Ludwig XV. Mode waren. In Troyes hatte der Biedermann vergoldete Konsolen, Möbel aus grüner Seide, einen Krystallleuchter, einen eingelegten Spieltisch und alles gefunden, was zur Widereinrichtung von Cinq-Cygne dienen konnte. 1792 war die ganze Einrichtung des Schlosses geraubt worden, denn die Plünderung der Stadthäuser fand ihr Gegenspiel auf dem Lande. Von jeder Reise 307
nach Troyes brachte der alte Herr ein paar Überreste des alten Glanzes zurück, bald einen schönen Teppich wie den, der den Fußboden des Salons bedeckte, bald einen Satz Geschirr oder altes Meißner und Sèvres-Porzellan. Seit einem halben Jahre hatte er gewagt, das Silber von Cinq-Cygne auszugraben, das der Koch in einem ihm gehörenden Häuschen am Ende einer der langen Vorstädte von Troyes vergraben hatte. Dieser treue Diener namens Durieu und seine Frau waren ihrer jungen Herrin in all ihren Schicksalen gefolgt. Durieu war das Faktotum des Schlosses und seine Frau die Wirtschafterin. Zur Hilfe in der Küche hatte Durieu Katharinas Schwester, der er seine Kunst beibrachte, so daß sie eine ausgezeichnete Köchin wurde. Ein alter Gärtner, dessen Frau, sein Sohn, der als Tagelöhner arbeitete, und seine Tochter, die als Kuhmagd diente, vervollständigten das Gesinde des Schlosses. Seit einem halben Jahre hatte die Durieu für den Gärtnerssohn und für Gotthard, heimlich Livreen in den Farben der Cinq-Cygnes machen lassen. Der Edelmann schalt sie ob dieser Unvorsichtigkeit zwar sehr aus, aber sie hatte doch das Vergnügen, am SanktLorenztage, dem Namenstag der jungen Gräfin, das Festmahl fast wie früher servieren zu sehen. Diese mühsame und langsame Wiederherstellung aller Dinge bildete die Freude der Hauteserre und der Darieus. Laurence lächelte über diese Kindereien, wie sie es nannte. Aber der biedere Hauteserre dachte auch an die Hauptsache: er besserte die Gebäude aus, richtete die Mauern wieder auf, pflanzte überall an, wo Aussicht bestand, daß ein Baum gedieh, und ließ keinen Zoll des Bodens unbenutzt. Und so sah man ihn denn im Tal von Cinq-Cygne als landwirtschaftliches Orakel an. Er hatte es verstanden, hundert Morgen strittigen und unverkauften Bodens zurückzuerlangen, die die Gemeinde sich angeeignet hatte. Er hatte sie in künstliche Wiesen verwandelt, die das Vieh des Schlosses ernährten, und sie mit Pappeln eingefaßt, die seit sechs Jahren 308
prächtig gediehen. Er ging damit um, noch ein paar Äcker zurückzukaufen und alle Gebäude des Schlosses auszunutzen, indem er einen zweiten Pachthof anlegte, den er selbst bewirtschaften wollte. Das Leben auf dem Schlosse war also seit zwei Jahren beinahe glücklich geworden. Herr von Hauteserre brach bei Sonnenaufgang auf und überwachte seine Arbeiter, denn er beschäftigte stets Leute. Zum Frühstück kehrte er heim, bestieg dann einen Pächtersgaul und machte seine Runde wie ein Aufseher; dann kehrte er zur Hauptmahlzeit zurück und beschloß seinen Tag mit der Bostonpartie. Alle Schloßbewohner hatten ihre Beschäftigung; das Leben war geregelt wie in einem Kloster. Nur Laurence brachte Unruhe hinein durch ihre plötzlichen Reisen, ihre Abwesenheiten, durch das, was Frau von Hauteserre ihre Streiche nannte. Dennoch gab es in Cinq-Cygne zwei politische Parteien und Anlässe zu Zwist. Zunächst waren Durieu und dessen Frau eifersüchtig auf Gotthard und Katharina, die mit ihrer jungen Herrin, dem Idol des Schlosses, auf vertrauterem Fuße standen als sie selbst. Dann wünschten die beiden Hauteserres, von dem Pfarrer und Fräulein Goujet unterstützt, daß ihre Söhne und die Zwillinge Simeuse heimkehrten und an dem Glück dieses friedlichen Lebens teilnähmen, statt sich im Ausland kümmerlich durchzuschlagen. Laurence bekämpfte diesen schmählichen Kompromiß; sie vertrat den reinen, kriegerischen und unversöhnlichen Royalismus. Die vier alten Leutchen, die dies glückliche Leben nicht mehr gefährdet sehen und diesen Erdenwinkel nicht preisgeben wollten, den sie den wütenden Fluten der Revolution abgerungen hatten, suchten Laurence zu ihren wahrhaft verständigen Lehren zu bekehren, denn sie erkannten wohl, daß Laurence an dem Widerstand ihrer Söhne und der beiden Simeuses gegen eine Rückkehr nach Frankreich stark beteiligt war. Die stolze Geringschätzung ihres Mündels erschreckte die 309
armen Leutchen, die sich in ihrer Befürchtung vor einem tollen Streich, wie sie es nannten, nicht täuschten. Dieser Zwist war ausgebrochen, als in der Rue Saint-Nicaise die Höllenmaschine explodierte, der erste royalistische Anschlag gegen den Sieger von Marengo, als er sich geweigert hatte, mit dem Hause Bourbon zu unterhandeln. Die Hauteserres sahen es als ein Glück an, daß Bonaparte dieser Gefahr entronnen war, denn sie hielten die Republikaner für die Urheber des Attentats. Laurence weinte vor Wut, als sie den Ersten Konsul gerettet sah. Ihre Verzweiflung siegte über ihre gewohnte Verstellung; sie klagte Gott an, daß er die Söhne des heiligen Ludwigs verriete. »Mir,« rief sie aus, »mir wäre es gelungen!« Und als sie die tiefe Bestürzung sah, die dies Wort auf allen Gesichtern hervorrief, sagte sie zum Abbé Goujet: »Hat man nicht das Recht, die Usurpation mit allen möglichen Mitteln anzugreifen?« »Mein Kind,« entgegnete der Abbé Goujet, »die Kirche ist von den Philosophen scharf angegriffen und getadelt worden, weil sie einst behauptet hatte, man dürfe gegen die Usurpation alle Waffen gebrauchen, deren sich die Usurpatoren bedient hätten, um ihr Ziel zu erreichen. Heute aber verdankt die Kirche dem Herrn Ersten Konsul zu viel, um ihn nicht zu schützen und ihn vor diesem Grundsatz zu behüten, der übrigens von den Jesuiten stammt.« »So läßt uns die Kirche im Stich!« hatte sie mit finstrer Miene geantwortet. Seit jenem Tage verließ die junge Gräfin allemal den Salon, wenn die vier alten Leutchen davon sprachen, daß man sich der Vorsehung fügen müsse. Seit einiger Zeit erörterte der Pfarrer, geschickter als der Vormund, nicht mehr die Grundsätze, sondern hob die materiellen Vorteile der Konsulatsregierung hervor, weniger um die Gräfin zu bekehren, als um in ihren Augen einen Ausdruck zu erhaschen, der ihn über ihre Pläne aufklären 310
konnte. Gotthards Abwesenheiten, Laurences häufige Ritte und der sorgenvolle Ausdruck, der sich in den letzten Tagen auf ihrem Gesicht zeigte, schließlich eine Menge von Kleinigkeiten, die in der Stille und Ruhe des Lebens auf Cinq-Cygne nicht unbeachtet bleiben konnten und besonders den besorgten Blicken der Hauteserres, des Abbé Goujet und der Durieu nicht entgingen, – all dies hatte die Befürchtungen dieser kleinmütigen Royalisten erweckt. Da sich aber nichts ereignete und in der politischen Sphäre seit ein paar Tagen die völligste Ruhe herrschte, war das Leben in dem kleinen Schlosse wieder friedlich geworden. Jeder hatte die Ritte der Gräfin ihrer Jagdpassion zugeschrieben. Man kann sich vorstellen, welche tiefe Stille um neun Uhr im Park, in den Höfen und in der Umgebung des Schlosses herrschte, wo in diesem Augenblick die Dinge und Personen so harmonisch abgetönt waren, wo der tiefste Friede herrschte, wo der Überfluß wiederkehrte, wo der gute, verständige Edelmann sein Mündel zu seinem System des Gehorsams durch die Dauer der glücklichen Resultate zu bekehren hoffte. Diese Royalisten spielten nach wie vor ihr Boston, das durch ganz Frankreich Unabhängigkeitsideen in harmloser Form verbreitete, das zu Ehren der Aufständischen Amerikas erfunden war und mit sämtlichen Ausdrücken an den von Ludwig XVI. ermunterten Kampf erinnerte. Während sie ihre »Independenzen« oder »Miseren« legten, beobachteten sie Laurence, die bald vom Schlummer überwältigt, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen, einschlief. Ihr letzter Gedanke hatte dem friedlichen Bild dieses Tisches gegolten, an dem die kurze Bemerkung, daß die jungen Hauteserres die letzte Nacht unter ihrem Dache geschlafen hatten, den Eltern den heftigsten Schrecken hätte einjagen können. Welches junge Mädchen von dreiundzwanzig Jahren wäre nicht in Laurences Lage stolz darauf gewesen, selbst ein Schicksal zu sein, hätte nicht wie sie eine leise Re311
gung des Mitleids für die empfunden, die sie so weit unter sich sah? »Sie schläft«, sagte der Abbe. »Ich habe sie noch nie so müde gesehen.« »Durieu sagte mir, ihre Stute sei ganz abgetrieben. Ihre Büchse ist nicht benutzt; die Pfanne war sauber; gejagt hat sie also nicht.« »Ha; verflixt,« rief der Pfarrer, »das gefällt mir nicht.« »Bah!« rief Fräulein Goujet, »als ich dreiundzwanzig Jahre alt war und mich dazu verurteilt sah, sitzen zu bleiben, bin ich noch ganz anders herumgelaufen und habe mich abstrapaziert. Ich begreife, daß die Gräfin durch die Felder spazieren reitet, ohne ans Jagen zu denken. Es ist bald zwölf Jahre her, daß sie ihre Vettern nicht gesehen hat. Sie liebt sie. Nun, wäre ich an ihrer Stelle und jung und hübsch, ich ritte in einem Zuge nach Deutschland. Vielleicht ist es auch so, und es zieht den armen Liebling nach der Grenze.« »Sie sind leichtfertig, Fräulein Goujet«, lächelte der Pfarrer. »Aber,« fuhr sie fort, »ich sehe Sie besorgt um das Kommen und Gehen eines jungen Mädchens von dreiundzwanzig Jahren. Ich erkläre es Ihnen.« »Ihre Vettern werden zurückkehren. Sie ist dann reich und wird sich schließlich beruhigen«, sagte der gute Hauteserre. »Gott gebe es!« rief die alte Dame und ergriff ihre goldne Tabaksdose, die seit dem lebenslänglichen Konsulat wieder ans Tageslicht gekommen war.
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»Es gibt etwas Neues in der Gegend«, sagte der gute Hauteserre zum Pfarrer. »Malin ist seit gestern abend in Gondreville.« »Malin?« rief Laurence, die bei diesem Namen aus ihrem tiefen Schlaf erwachte. »Ja,« entgegnete der Pfarrer; »aber er reist heute nacht wieder ab, und man ergeht sich in Vermutungen über den Zweck dieser überstürzten Reise.« »Dieser Mensch«, sagte Laurence, »ist der böse Geist unserer beiden Häuser.« Die junge Gräfin hatte von ihren Vettern und den Hauteserres geträumt und sie bedroht gesehen. Ihre schönen Augen wurden starr und trüb, als sie an die Gefahren dachte, die sie in Paris liefen. Sie stand plötzlich auf und ging ohne ein Wort in ihr Zimmer. Sie bewohnte das Ehrenzimmer, an das ein Kabinett und eine Betstube stießen, die in dem Turm nach dem Walde zu lagen. Als sie den Salon verlassen hatte, schlugen die Hunde an. Man hörte am kleinen Gitter läuten, und Durieu trat mit verstörtem Gesicht in den Salon und meldete: »Der Bürgermeister ist da! Es gibt etwas Neues...« Dieser Bürgermeister, ein früherer Reitknecht des Hauses Simeuse, kam bisweilen aufs Schloß, und die Hauteserres bezeugten ihm aus Politik eine Achtung, auf die er größten Wert legte. Dieser Mann, namens Goulard, hatte eine reiche Kaufmannsfrau aus Troyes geehelicht, deren Grundbesitz in der Gemeinde von Cinq-Cygne lag; er hatte ihn um alle Ländereien einer reichen Abtei vermehrt, in deren Erwerb er alle seine Ersparnisse anlegte. Die ausgedehnte Abtei Val des Preux, die eine Viertelstunde vom Schlosse lag, bot ihm einen fast ebenso 313
glänzenden Wohnsitz wie Gondreville, in dem er und seine Frau wie zwei Ratten in einem Dom hausten. Obwohl er ein großer Anhänger der Revolution war, und die Gräfin ihn kühl behandelte, fühlte der Bürgermeister sich noch immer durch die Bande der Ehrerbietung an die Cinq-Cygnes und die Simeuses gefesselt. Und so drückte er denn über alles, was im Schloß vorging, ein Auge zu. So nannte er es, wenn er die Bilder Ludwigs XVI., der Marie Antoinette, der Brüder des Königs, die Porträts von Cazalès und Charlotte Corday übersah, die die Wandtäfelungen des Salons schmückten, wenn er keinen Anstoß daran nahm, daß man der Republik in seiner Gegenwart den Untergang wünschte, sich über die fünf Direktoren und alle damaligen Verhältnisse lustig machte. Wie viele Emporkömmlinge glaubte er, nachdem er sein Glück gemacht hatte, wieder an die alten Familien und suchte Anschluß an sie. Und diese seine Stellung war von den beiden Personen benutzt worden, deren Beruf Michu so rasch erraten hatte, und die vor ihrem Erscheinen in Gondreville die Gegend durchforscht hatten. Der Mann mit den schönen Traditionen der alten Polizei und Corentin, dieser Phönix der Spione, hatten einen geheimen Auftrag. Malin täuschte sich nicht, als er diesen beiden Künstlern in tragischen Possen eine doppelte Rolle zuschrieb; und so ist es vielleicht nötig, ehe wir sie an der Arbeit sehen, den Kopf zu zeigen, dem sie als Arme dienten. Als Bonaparte Erster Konsul wurde, fand er Fouché als Leiter der allgemeinen Polizei. Die Revolution hatte offen und nicht ohne Grund ein besonderes Polizeiministerium. Doch bei seiner Rückkehr von Marengo schuf Bonaparte die Polizeipräfektur, die er Dubois gab, und berief Fouché in den Staatsrat, während er zu seinem Nachfolger im Polizeiministerium das Konventsmitglied Cochon machte, der seitdem Graf von Lapparent geworden ist. 314
Fouché, der das Polizeiministerium für das Wichtigste in einer weitschauenden Regierung mit fester Politik hielt, sah in diesem Wechsel eine Ungnade oder zum mindesten ein Mißtrauen. Nachdem Napoleon in dem Anschlag mit der Höllenmaschine und in der gegenwärtigen Verschwörung die außerordentliche Überlegenheit dieses großen Staatsmannes erkannt hatte, gab er ihm das Polizeiministerium zurück. Später erschrak er über die Talente, die Fouché in seiner Abwesenheit in der Affäre Walcheren entfaltete, und gab dies Ministerium dem Herzog von Rovigo, während er Fouché, den Herzog von Otranto, als Gouverneur in die illyrischen Provinzen schickte – ein richtiges Exil. Dieser eigenartige Geist, der Napoleon eine Art Schrecken einjagte, zeigte sich bei Fouché nicht mit einemmal. Das unbekannte Konventsmitglied, einer der außerordentlichsten und am falschesten beurteilten Männer jener Zeit, entwickelte sich in den Stürmen der Revolution. Unter dem Direktorium erhob er sich zu der Höhe, von der tiefe Menschen die Zukunft aus der Vergangenheit erschließen. Dann gab er plötzlich, wie manche mittelmäßigen Schauspieler, die durch eine plötzliche Erleuchtung hervorragend werden, Proben von Geschicklichkeit während der raschen Revolution des achtzehnten Brumaire. Dieser blasse Mensch, der in klösterlicher Verstellung aufgewachsen war, der die Geheimnisse der Bergpartei, der er angehörte, und die der Royalisten kannte, denen er sich zuletzt anschloß, hatte langsam und schweigsam die Dinge und Menschen und die Interessen der politischen Bühne studiert. Er durchschaute Bonapartes Geheimnisse, gab ihm nützliche Ratschläge und wertvolle Auskünfte. Zufrieden, seine Geschicklichkeit und Nützlichkeit gezeigt zu haben, hatte Fouché sich wohl gehütet, sich ganz zu offenbaren. Er wollte in leitender Stellung bleiben, aber Napoleons Unsicherheit ihm gegenüber gab ihm seine politische Freiheit zurück. Die Undankbarkeit oder besser 315
das Mißtrauen des Kaisers nach der Affäre von Walcheren erklärt diesen Mann, der zu seinem Unglück kein vornehmer Herr war und dessen Benehmen doch ein Abklatsch des Fürsten von Talleyrand war. In jenem Augenblick ahnten weder seine alten noch seine neuen Kollegen den Umfang seines Geistes, eines reinen ministeriellen und Regierungsgenies, das alles richtig voraussah und von unglaublichem Scharfblick war. Gewiß ist heute für jeden unparteiischen Geschichtsschreiber Napoleons übermäßige Eigenliebe eine der tausend Ursachen seines Sturzes, der übrigens all sein Unrecht grausam gesühnt hat. Dieser mißtrauische Herrscher besaß eine große Eifersucht auf seine junge Macht, die seine Handlungen ebenso beeinflußte wie sein geheimer Haß auf alle geschickten Leute, die das kostbare Erbteil der Revolution waren und aus denen er sich ein Kabinett hätte zusammenstellen können, das der Träger seiner Ideen war. Talleyrand und Fouché waren nicht die einzigen, die seinen Argwohn erregten. Nun gehört es zum Unglück der Usurpatoren, daß sie sowohl die zu Feinden haben, die ihnen die Krone gegeben haben, wie die, denen sie sie genommen haben. Nie überzeugte Napoleon seine früheren Vorgesetzten und Gleichgestellten, noch die, welche am Rechte festhielten, von seiner Souveränität. Somit hielt sich niemand durch seinen Eid an ihn gebunden. Ein mittelmäßiger Mensch, wie Malin, der unfähig war, Fouchés düsteres Genie zu erfassen oder seinem raschen Blick zu mißtrauen, verbrannte sich wie ein Schmetterling am Licht, als er ihn vertraulich bat, ihm Agenten nach Gondreville zu schicken, wo er, wie er sagte, Aufschlüsse über die Verschwörung zu finden hoffte. Ohne seinen Freund durch eine Frage stutzig zu machen, fragte er sich, warum Malin nach Gondreville wollte, warum er die Auskünfte, die er haben mochte, nicht gleich in Paris gab. Der ehemalige Oratorianer, der die Schule der Durchtriebenheit durchgemacht hatte und über das Doppelspiel vieler Konventsmitglieder Bescheid wußte, sagte sich: 316
»Durch wen kann Malin etwas wissen, wenn wir noch nicht viel wissen?« Fouché schloß also auf eine geheime oder abwartende Mitwisserschaft und hütete sich wohl, dem Ersten Konsul etwas zu sagen. Er wollte sich Malin lieber zum Werkzeug machen als ihn verlieren. Derart behielt Fouche einen großen Teil der von ihm entdeckten Geheimnisse für sich und schuf sich eine Macht über die Menschen, die größer war als die Bonapartes. Diese Doppelzüngigkeit war eine der Vorwürfe Napoleons gegen seinen Minister. Fouché kannte die Gaunereien, denen Malin sein Landgut Gondreville verdankte und die ihn zur Überwachung der Herren von Simeuse zwangen. Die dienten im Heere Condés; Fräulein von Cinq-Cygne war ihre Base; sie konnten sich also in der Gegend befinden und an dem Unternehmen beteiligt sein. Ihre Teilnahme verwickelte das Haus Condé, dem sie sich verschrieben hatten, in das Komplott. Es lag Talleyrand und Fouché daran, in diesen sehr dunklen Winkel der Verschwörung von 1803 hineinzuleuchten. Diese Erwägungen stellte Fouché rasch und scharfblickend an. Aber zwischen ihm, Talleyrand und Malin gab es Bande, die ihn zur größten Umsicht nötigten und in ihm den Wunsch erweckten, das Innere des Schlosses von Gondreville genau kennenzulernen. Corentin war Fouché rückhaltlos ergeben, wie Herr von Besnardière dem Fürsten von Talleyrand, wie Gentz Herrn von Metternich, Dundas Pitt, Duroc Napoleon und Chavigny dem Kardinal von Richelieu. Corentin war nicht der Ratgeber dieses Ministers, sondern seine Kreatur, der feierliche Tristan dieses Ludwig XV. im kleinen; und so hatte Fouché ihn denn naturgemäß im Polizeiministerium gelassen, um ein Auge und einen Arm dort zu behalten. Dieser Bursche sollte, wie man sagte, zu Fouche in einer jener verwandtschaftlichen Beziehung stehen, die man nicht eingesteht; denn so oft er ihn in Tätigkeit setzte, belohnte er ihn überreich. Corentin hatte Peyrade, den alten 317
Schüler des letzten Polizeiobersten, zum Freunde gewonnen; trotzdem hatte er Geheimnisse vor Peyrade. Corentin erhielt von Fouché Befehl, das Schloß von Gondreville auszukundschaften, sich dessen Anlage einzuprägen und seine geringsten Verstecke zu rekognoszieren. »Wir werden vielleicht dorthin zurückkehren müssen«, sagte der Exminister zu ihm, genau wie Napoleon zu seinen Leutnants sagte, sie sollten sich das Schlachtfeld von Austerlitz genau so weit ansehen, wie er zurückzugehen beabsichtigte. Corentin sollte auch auf Malins Benehmen achten, seinen Einfluß in der Gegend feststellen, die von ihm benutzten Leute beobachten. Fouché hielt die Anwesenheit der Simeuses in der Gegend für gewiß. Durch geschicktes Ausspionieren dieser beiden beim Prinzen Condé beliebten Offiziere konnten Peyrade und Corentin wertvolle Aufschlüsse über die Verzweigungen des Komplotts jenseits des Rheines erlangen. Jedenfalls erhielt Corentin die erforderlichen Mittel, Befehle und Leute, um Cinq-Cygne zu umstellen und das Land vom Walde von Nodesme bis nach Paris auszuspionieren. Fouché empfahl größte Umsicht und erlaubte eine Haussuchung in Cinq-Cygne nur für den Fall, daß Malin positive Auskünfte gab. Schließlich machte er Corentin, damit dieser Bescheid wußte, mit der unerklärlichen Persönlichkeit Michus bekannt, der seit drei Jahren überwacht wurde. Corentin kam auf den gleichen Gedanken wie sein Vorgesetzter: »Malin kennt die Verschwörung! ... Aber wer weiß,« sagte er sich, »ob Fouché nicht auch daran beteiligt ist.« Corentin, der vor Malin nach Troyes gereist war, hatte sich mit dem Kommandeur der Gendarmerie verständigt und die gescheitesten Leute ausgesucht, denen er einen geschickten Hauptmann zum Führer gab. Diesem bezeichnete er das Schloß von Gondreville als Treffpunkt und befahl ihm, bei Nacht eine Abteilung von zwölf Mann nach vier verschiedenen 318
Punkten des Tales von Cinq-Cygne zu schicken, aber mit hinreichenden Abständen, um kein Aufsehen zu erregen. Diese vier Trupps sollten ein Viereck bilden und konzentrisch auf das Schloß Cinq-Cygne vorgehen. Da Malin ihn während seiner Besprechung mit Grévin im Schlosse allein ließ, konnte Corentin einen Teil seines Auftrags ausführen. Nach seiner Rückkehr aus dem Park hatte der Staatsrat Corentin so bestimmt gesagt, daß die Simeuses und Hauteserres in der Gegend seien, daß die beiden Agenten den Hauptmann losschickten, aber zum Glück für die Edelleute ritt dieser auf der Allee durch den Wald, während Michu seinen Spion Violette betrunken machte. Der Staatsrat hatte Peyrade und Corentin zunächst erklärt, welcher Falle er entgangen war. Nun erzählten die beiden Pariser ihm den Zwischenfall mit der Büchse, und Grévin sandte Violette aus, um ein paar Aufklärungen darüber zu erhalten, was im Pavillon vorging. Corentin riet dem Notar, der Sicherheit halber seinen Freund, den Staatsrat, für die Nacht in das Städtchen Arcis in seine Wohnung mitzunehmen. In dem Augenblick, da Michu durch den Wald nach Cinq-Cygne jagte, fuhren also Peyrade und Corentin von Gondreville ab, und zwar in einem elenden Korbwagen, der mit einem Postpferd bespannt war und von dem Brigadier von Arcis gefahren wurde, einem der verschlagensten Leute der Gendarmerietruppe, da der Kommandeur in Troyes seine Mitnahme empfohlen hatte. »Das beste Mittel, alle zu kriegen, ist, ihnen zuvorzukommen, sagte Peyrade zu Corentin. »In dem Augenblick, da sie bestürzt werden, da sie ihre Papiere retten oder entfliehen wollen, fallen wir wie der Blitz über sie her. Die Gendarmenkette, die sich um das Schloß zusammenzieht, wird wie ein Netzwurf wirken. So wird uns keiner entwischen.«
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»Sie können den Bürgermeister zu ihnen schicken«, sagte der Brigadier. »Er ist gefällig und will ihnen nichts antun; ihm werden sie nicht mißtrauen.« In dem Augenblick also, als Goulard zu Bett gehen wollte, war Corentin, der den Wagen in einem Gehölz halten ließ, bei ihm erschienen und hatte ihm vertraulich gesagt, in wenigen Augenblicken werde ein Agent der Regierung ihn auffordern, das Schloß Cinq-Cygne zu umstellen, um dort die Herren von Hauteserre und Simeuse abzufangen. Sollten sie verschwunden sein, so wolle man sich vergewissern, ob sie in der letzten Nacht dort geschlafen hätten, die Papiere des Fräuleins von Cinq-Cygne durchsuchen und vielleicht die Leute und die Herrschaft des Schlosses verhaften. »Fräulein von Cinq-Cygne«, sagte Corentin, »wird zweifellos von hohen Personen beschützt, denn ich habe den geheimen Auftrag, sie von dieser Haussuchung in Kenntnis zu setzen und alles zu tun, um sie zu retten, ohne mich bloßzustellen. Bin ich erst auf dem Schauplatz, so bin ich nicht mehr Herr meines Tuns und nicht allein. Eilen Sie also aufs Schloß.« Der Besuch des Bürgermeisters am späten Abend setzte die Spieler um so mehr in Verwunderung, als Goulard ein ganz verstörtes Gesicht machte. »Wo ist die Gräfin?« fragte er. »Sie geht zu Bett«, sagte Frau von Hauteserre. Ungläubig begann der Bürgermeister auf die Geräusche im ersten Stockwerk zu lauschen. »Was ist Ihnen heute, Goulard?« fragte Frau von Hauteserre. 320
Goulard verfiel in tiefstes Staunen, als er in diesen Gesichtern den Ausdruck der Aufrichtigkeit sah, den man in jedem Alter haben kann. Beim Anblick dieser Ruhe und dieser harmlosen gestörten Bostonpartie begriff er nichts von dem Verdacht der Pariser Polizei. In diesem Augenblick betete Laurence, in ihrer Betstube kniend, leidenschaftlich für den Erfolg der Verschwörung! Sie bat Gott, den Mördern Bonapartes Hilfe und Beistand zu leisten! Sie flehte Gott voller Liebe an, diesen verhängnisvollen Mann zu zerbrechen! Der Fanatismus des Harmodios, der Judith, des Jacques Clement, des Ankaström, der Charlotte Corday belebte diese reine, jungfräuliche schöne Seele. Katharina deckte das Bett auf, und Gotthard schloß die Fensterläden, so daß Martha Michu, als sie unter Laurences Fenstern ankam und Steinchen dagegen warf, bemerkt werden konnte. »Fräulein, da gibt es was Neues«, sagte Gotthard, als er eine Unbekannte sah. »Still!« sagte Martha leise. »Kommt her, ich habe mit Euch zu reden.« Schneller als ein Vogel vom Baum auf die Erde geflogen wäre, war Gotthard im Garten. »In einem Augenblick wird das Schloß von der Gendarmerie umstellt«, sagte sie zu Gotthard. »Du, sattle geräuschlos das Pferd des Fräuleins und führe es durch die Bresche in den Graben herab, hier zwischen dem Turm und den Ställen.« Martha fuhr zusammen, als sie zwei Schritte vor sich Laurence sah, die Gotthard gefolgt war. »Was gibt's?« fragte Laurence schlicht und anscheinend ohne Erregung. 321
»Die Verschwörung gegen den Ersten Konsul ist entdeckt«, flüsterte Martha der jungen Gräfin ins Ohr. »Mein Mann, der Ihre zwei Vettern retten will, schickt mich, um Ihnen zu sagen, Sie möchten kommen und sich mit ihm verständigen.« Laurence wich drei Schritte zurück und blickte Martha an. »Wer sind Sie?« fragte sie. »Martha Michu.« »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, entgegnete Fräulein von Cinq-Cygne kalt. »Nicht doch, Sie bringen sie um! Kommen Sie, im Namen der Simeuses!« sagte Martha, indem sie sich auf die Knie warf und Laurence ihre Hände entgegenstreckte. »Sind keine Papiere hier, nichts, was Sie bloßstellen könnte? Droben vom Walde her sah mein Mann die betreßten Hüte und die Gewehre der Gendarmen glänzen.« Gotthard war zunächst auf den Dachboden geklettert und erkannte von fern die Tressen der Gendarmen, hörte in der tiefen Stille der Felder den Hufschlag ihrer Pferde. Er stürzte in den Stall hinunter und sattelte das Pferd seiner Herrin, dem Katharina auf ein einziges Wort von ihm Leinenlappen um die Hufe band. »Wo soll ich hinkommen?« fragte Laurence Martha, deren Blick und Worte ihr durch den unnachahmlichen Ausdruck der Ehrlichkeit Eindruck machten. »Durch die Bresche«, sagte sie, Laurence fortziehend; »da ist mein edler Mann. Sie sollen erfahren, was ein Judas wert ist.« 322
Katharina ging rasch in den Salon, nahm dort die Reitpeitsche, die Handschuhe, den Hut und Schleier ihrer Herrin fort und ging hinaus. Katharinas plötzliches Erscheinen und Tun waren ein so sprechender Kommentar zu den Worten des Bürgermeisters, daß Frau von Hauteserre mit dem Abbé Goujet einen Blick tauschte, in dem sich der furchtbare Gedanke ausdrückte: »Lebwohl, all unser Glück! Laurence konspiriert; sie hat ihre Vettern und die beiden Hauteserres zugrunde gerichtet ...« »Wie meinen Sie das?« fragte Frau von Hauteserre den Bürgermeister. »Nun, das Schloß ist umstellt; Sie werden eine Haussuchung über sich ergehen lassen müssen. Kurz, wenn Ihre Söhne hier sind, lassen Sie sie retten, ebenso die Herren von Simeuse.« »Meine Söhne!« rief Frau von Hauteserre verblüfft. »Wir haben niemand gesehen«, versetzte ihr Gatte. »Umso besser!« sagte Goulard. »Ich liebe die Familien CinqCygne und Hauteserre zu sehr, um mit anzusehen, wie ihnen ein Unglück zustößt. Hören Sie mich an: wenn Sie bloßstellende Papiere haben...« »Papiere?...« wiederholte der Edelmann. »Ja, wenn Sie welche haben, verbrennen Sie sie«, fuhr der Bürgermeister fort; »ich gehe, die Agenten hinzuhalten.« Goulard, der es weder mit den Royalisten noch mit den Republikanern verderben wollte, ging hinaus, als die Hunde wütend anschlugen.
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»Sie haben keine Zeit mehr, da sind sie«, sagte der Pfarrer. »Aber wer wird die Gräfin warnen? Wo ist sie?« »Katharina hat ihre Reitpeitsche, ihre Handschuhe und ihren Hut nicht zum Vergnügen geholt«, sagte Fräulein Goujet. Goulard versuchte die beiden Agenten ein paar Augenblicke hinzuhalten, indem er ihnen die völlige Unwissenheit der Schloßbewohner von Cinq-Cygne mitteilte. »Sie kennen diese Leute nicht«, lachte Peyrade dem Bürgermeister ins Gesicht. Nun traten die beiden zugleich süßlichen und unheimlichen Männer ein, gefolgt von dem Brigadier von Arcis und einem Gendarmen. Ihr Anblick ließ die vier friedlichen Bostonspieler zu Eis erstarren. Von einem derartigen Aufgebot von Kräften entsetzt, blieben sie auf ihren Stühlen sitzen. Der Lärm eines Dutzends Gendarmen, deren Pferde stampften, dröhnte auf dem Wiesenplan. »Hier fehlt nur Fräulein von Cinq-Cygne«, sagte Corentin. »Nun, sie schläft gewiß in ihrem Zimmer«, entgegnete Herr von Hauteserre. »Kommen Sie mit mir, meine Damen«, sagte er, in das Vorzimmer stürzend und von da nach der Treppe eilend, wohin Fräulein Goujet und Frau von Hauteserre ihm folgten. »Zählen Sie auf mich!« raunte Corentin der alten Dame ins Ohr. »Ich bin einer der Ihren, ich habe Ihnen schon den Bürgermeister geschickt. Mißtrauen Sie meinem Kollegen, und vertrauen Sie sich mir an, ich werde Sie alle retten!«
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»Um was handelt es sich denn?« fragte Fräulein Goujet. »Um Leben oder Tod! Wissen Sie das nicht?« entgegnete Corentin. Frau von Hauteserre fiel in Ohnmacht. Zu Fräulein Goujets großem Erstaunen und zu Corentins tiefer Enttäuschung war Laurences Zimmer leer. Da Corentin sicher war, daß niemand aus dem Park oder aus dem Schlosse ins Tal entweichen konnte, weil alle Ausgänge besetzt waren, ließ er jedes Zimmer durch einen Gendarmen absuchen, befahl, die Gebäude und Ställe zu durchsuchen, und ging wieder in den Salon hinunter, wo bereits Durieu, dessen Frau und alle Leute in der heftigsten Aufregung zusammengelaufen waren. Peyrade studierte mit seinen kleinen blauen Augen alle Gesichter; er blieb ruhig und kalt inmitten dieses Durcheinanders. Als Corentin allein zurückkam, denn Fräulein Goujet bemühte sich um Frau von Hauteserre, hörte man Pferdegetrappel und dazwischen das Weinen eines Kindes. Die Pferde kamen durch das kleine Gitter herein. Inmitten der allgemeinen Angst erschien ein Brigadier, der Gotthard mit gebundenen Händen und Katharina vor sich hertrieb und sie den Agenten vorführte. »Da sind ein paar Gefangene«, sagte er. »Der kleine Schlingel war zu Pferde und riß aus.« »Schafskopf!« sagte Corentin dem verdutzten Brigadier ins Ohr, »warum hast du ihn nicht laufen lassen? Wenn wir ihm nachsetzten, hätten wir etwas erfahren.« Gotthard hatte den Entschluß gefaßt, wie ein Blöder in Tränen auszubrechen. Katharina stand in der Haltung der Unschuld und Harmlosigkeit da, die dem alten Agenten viel zu denken gab. Der Schüler Lenoirs verglich die beiden Kinder miteinan325
der und beobachtete die einfältige Miene des alten Edelmanns, den er für verschlagen hielt, und den geistreichen Pfarrer, der mit den Spielmarken spielte, die Bestürzung aller Leute und der Durieus; dann trat er auf Corentin zu und raunte ihm ins Ohr: »Wir haben es nicht mit Tröpfen zu tun.« Corentin antwortete zunächst mit einem Blick auf den Spieltisch, dann setzte er hinzu: »Sie spielten Boston! Man machte das Bett der Schloßherrin, sie ist entschlüpft. Sie sind überrascht, wir kriegen sie fest.« Eine Bresche hat stets ihre Ursache und ihren Zweck. Der Grund, wie und warum die Bresche zwischen dem sogenannten Damenturm und den Ställen angelegt war, ist dieser. Als der biedere Hauteserre sich in Cinq-Cygne niederließ, machte er aus einer langen Schlucht, durch die die Gewässer des Waldes in den Schloßgraben liefen, einen Weg, der zwei große Landstücke teilt, die zum Vorbehaltsgut des Schlosses gehörten, aber lediglich, um dort ein paar hundert Nußbäume zu pflanzen, die er in einer Baumschule fand. In elf Jahren waren diese Bäume so dicht geworden, daß sie fast ein Dach über diesem schon von sechs Fuß hohen Böschungen eingeschlossenen Weg bildeten, der zu einem kürzlich erworbenen Waldstück von dreißig Morgen führte. Als das Schloß voll bewohnt war, ging jedermann, statt den Umweg durch das Gitter zu machen, lieber durch den Graben, um den Gemeindeweg einzuschlagen, der an der Parkmauer entlang zum Pachthofe führte. Durch die stete Benutzung wurde die Bresche auf beiden Seiten erweitert. Das geschah ohne Absicht, aber auch ohne jedes Bedenken, denn im neunzehnten Jahrhundert sind Befestigungsgräben völlig zwecklos und der Vormund sprach oft 326
davon, sie auszunutzen. Diese dauernde Zerstörung lieferte Erde, Kies und Steine, die schließlich die Grabensohle ausfüllten. Das Wasser, aus dem diese Art von Damm hervorragte, bedeckte ihn nur in der Regenperiode. Trotz dieser Zerstörung, zu der jedermann, auch die Gräfin selbst, beigetragen hatte, war die Bresche so steil, daß es schwer war, ein Pferd hinabzuführen, und noch schwerer, es auf den Gemeindeweg hinaufzubringen. Aber es ist, als verständen die Pferde in Gefahren das Denken ihrer Herren. Während die junge Gräfin zauderte, Martha zu folgen, und Erklärungen von ihr verlangte, hatte Michu von seiner Anhöhe herab die Linien verfolgt, die die Gendarmen beschrieben, und den Plan der Spione begriffen. Er verzweifelte am Erfolg, denn er sah niemand kommen. Ein Trupp Gendarmen folgte der Parkmauer und löste sich, in eine Postenkette auf, so daß von Mann zu Mann nur soviel Abstand blieb, daß sie sich zurufen und sehen konnten. Sie konnten also die leisesten Geräusche und die geringsten Dinge hören und überwachen. Michu lag platt auf dem Bauche, das Ohr an den Boden gedrückt, und schätzte wie ein Indianer nach der Stärke des Schalles die Zeit ab, die ihm noch blieb. »Ich bin zu spät gekommen!« sagte er sich. »Violette soll es mir büßen! Wie lange das dauerte, bis er bezecht war! ... Was tun?« Er hörte den Trupp, der vom Walde herabkam, vor dem Gitter vorbeireiten; offenbar wollte er durch ein ähnliches Manöver wie der Trupp, der von dem Gemeindeweg kam, sich mit diesem vereinigen. »Noch fünf bis sechs Minuten!« sagte er sich.
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In diesem Augenblick erschien die Gräfin. Michu ergriff sie mit kräftiger Hand und stieß sie in den überdeckten Weg. »Gehen Sie geradeaus! Führe sie«, gebot er seiner Frau, »dorthin, wo mein Pferd steht, und bedenkt, daß die Gendarmen Ohren haben.« Als er Katharina mit der Reitpeitsche, den Handschuhen und dem Hute kommen sah, aber vor allem, als er die Stute und Gotthard erblickte, beschloß dieser Mann, der in der Gefahr alles so schnell begriff, die Gendarmen ebenso erfolgreich irrezuführen, wie er es mit Violette gemacht hatte. Gotthard hatte die Stute wie durch Zauberei gezwungen, durch den Graben zu klettern. »Leinen an den Pferdehufen! ... Ich küsse dich!« sagte der Verwalter und schloß Gotthard in seine Arme. Michu ließ die Stute neben ihrer Herrin gehen und nahm Hut, Handschuh und Peitsche. »Du bist klug, du wirst mich verstehen«, fuhr er fort. »Zwinge dein Pferd, auch heraufzuklettern, steig ohne Sattel auf, locke die Gendarmen hinter dir her, indem du, so schnell du kannst, querfeldein nach dem Pachthof zu reitest, und laß dich von dem ganzen Trupp verfolgen, der sich da auseinanderzieht«, setzte er hinzu, indem er seinen Gedanken mit einer Gebärde schloß, die den einzuschlagenden Weg angab. »Du, mein Kind,« sagte er zu Katharina, »auf dem Wege von Cinq-Cygne nach Gondreville kommen noch andre Gendarmen. Lauf in entgegengesetzter Richtung als Gotthard und locke sie vom Schloß nach dem Walde zu. Kurz, macht es so, daß wir im Hohlweg nicht belästigt werden.«
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Katharina und der herrliche Junge, der bei dieser Sache soviel Proben von Intelligenz ablegen sollte, führten ihr Manöver derart aus, daß die beiden Gendarmenreihen glaubten, ihr Wild breche aus. In dem trügerischen Mondschein war weder der Wuchs, noch die Kleidung, noch das Geschlecht oder die Zahl der Verfolgten zu erkennen. Man setzte ihnen auf Grund des falschen Grundsatzes nach: »Wer flieht, den muß man verhaften!« Wie töricht dieser Grundsatz bei der Polizei war, hatte Corentin dem Brigadier eben energisch klar gemacht. Michu, der auf den Instinkt der Gendarmen gerechnet hatte, konnte den Wald kurz darauf mit der jungen Gräfin erreichen, die Martha nach dem angegebenen Orte geführt hatte. »Lauf zum Pavillon«, gebot er Martha. »Der Wald muß von den Parisern bewacht sein; es ist gefährlich, hier zu bleiben. Wir werden gewiß unsre ganze Freiheit brauchen.« Michu band sein Pferd los und bat die Gräfin, ihm zu folgen. »Ich gehe nicht weiter,« sagte Laurence, »ohne daß Sie mir ein Pfand für den Anteil geben, den Sie an mir nehmen, denn schließlich sind Sie Michu ...« »Gnädiges Fräulein,« entgegnete er sanft, »meine Rolle ist mit zwei Worten erklärt. Ich bin ohne Wissen der Herren von Simeuse der Hüter ihres Vermögens. Ich habe diesbezügliche Anweisungen von Ihrem verstorbenen Vater und Ihrer teuren Mutter, meiner Gönnerin. So habe ich denn die Rolle eines wütenden Jakobiners gespielt, um meiner jungen Herrschaft zu dienen. Leider begann ich mein Spiel zu spät und konnte die Eltern nicht mehr retten!« Hier versagte Michu die Stimme. »Seit der Flucht der jungen Leute ließ ich ihnen die Summen zukommen, die sie zu einem anständigen Leben brauchten.« »Durch das Haus Breintmayer in Straßburg?« fragte sie. »Ja329
wohl, gnädiges Fräulein, die Geschäftsfreunde des Herrn Girel, eines Royalisten in Troyes, der seines Vermögens wegen, wie ich, den Jakobiner gespielt hat. Das Papier, das Ihr Pächter eines Abends am Ausgang von Troyes aufhob, bezog sich auf diese Sache; es konnte uns bloßstellen. Mein Leben gehörte nicht mehr mir, sondern ihnen, verstehen Sie? Ich konnte mich nicht zum Herrn von Gondreville machen. In meiner Stellung hätte man mir den Hals abgeschnitten, wenn man mich gefragt hätte, woher ich soviel Geld hätte. Ich zog es vor, das Gut etwas später zurückzukaufen, aber der Schurke Marion war der Strohmann eines andern Schurken: Malin. Trotzdem wird Gondreville an seine Herren zurückfallen. Das ist meine Sache. Vor vier Stunden hatte ich Malin vor der Mündung meiner Büchse. Oh, er war geliefert! ... Bei Gott, ist er erst tot, so wird Gondreville versteigert, und Sie können es kaufen. Im Fall meines Todes sollte meine Frau Ihnen einen Brief geben, der Ihnen die Mittel dazu geliefert hätte. Aber der Strolch sagte zu seinem Kumpan Grévin, eben solch einem Schurken, die Herren von Simeuse konspirierten gegen den Ersten Konsul, sie seien in der Gegend und es sei besser, sie auszuliefern und sie sich vom Halse zu schaffen, um in Gondreville Ruhe zu haben. Da ich nun zwei Meister der Spionage kommen sah, entlud ich meine Büchse und machte, daß ich herkam, denn ich dachte, Sie müßten wissen, wo und wie man die jungen Leute warnen kann ... Das ist es!« »Sie sind wert, adlig zu sein«, sagte Laurence und reichte Michu die Hand. Er wollte sich auf die Knie werfen, um diese Hand zu küssen. Laurence sah seine Bewegung, kam ihr zuvor und sagte: »Auf, Michu!« in einem Ton und mit einem Blick, die ihn in diesem Augenblick ebenso glücklich machten, wie er seit zwölf Jahren unglücklich gewesen war. »Sie belohnen mich, als hätte ich schon alles getan, was mir noch zu tun bleibt«, sagte er. »Hören Sie die Husaren der Guillotine? Reden wir anderwo weiter.« Michu ergriff den Zügel der Stute und ritt auf die Seite, der die Gräfin den Rü330
cken zuwandte. Dann sagte er: »Kümmern Sie sich um nichts, als daß Sie sich gut festhalten, auf Ihr Pferd einschlagen und Ihr Gesicht vor den Baumästen schützen, die Ihnen hineinschlagen wollen.« Dann führte er das Pferd des jungen Mädchens eine halbe Stunde lang in starkem Galopp, machte Umwege und Kehrtwendungen, kreuzte in den Lichtungen mehrmals den eignen Weg, um die Spur zu verwischen, und machte schließlich halt. »Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, und ich kenne den Wald doch so gut wie Sie«, sagte die Gräfin, sich umblickend. »Wir sind genau in der Mitte«, entgegnete er. »Wir haben zwei Gendarmen hinter uns, aber wir sind gerettet!« Den malerischen Ort, an den der Verwalter Laurence geführt hatte, sollte für die Hauptpersonen dieses Dramas und für Michu selbst so verhängnisvoll werden, daß es Pflicht des Geschichtschreibers ist, ihn zu schildern. Die Landschaft ist übrigens, wie man sehen wird, in den Gerichtsannalen des Kaiserreichs berühmt geworden. Der Wald von Nodesme gehörte zu einem Kloster namens Notre Dame, das erobert, geplündert, zerstört wurde und völlig verschwand, die Mönche wie der Besitz. Der Wald, ein Gegenstand der Habgier, fiel den Grafen der Champagne zu, die ihn später verpfändeten und ihn verkaufen ließen. In sechs Jahrhunderten bedeckte die Natur die Ruinen mit ihrem reichen und starken grünen Mantel und tilgte sie derart aus, daß von dem Dasein eines der schönsten Klöster nur noch eine ziemlich schwache Bodenerhebung zeugte, die von schönen Bäumen beschattet und von undurchdringlich dichtem Gebüsch umschlossen war. Michu hatte es seit 1794 selbst noch dichter gemacht, indem er dornige Akazien in die buschlosen Zwischenräume pflanzte. Am Fuße dieser Erhebung lag ein Sumpf, das Zeichen einer versickerten Quelle, die zweifellos einst die Anlage des Klosters bestimmt hatte. Der Inhaber 331
der Eigentumsurkunden des Waldes von Nodesme hatte allein die Herkunft dieses achthundert Jahre alten Wortes erkannt und daraus schließen können, daß einst ein Kloster mitten im Walde gelegen hatte. Bei den ersten Donnerschlägen der Revolution hatte der Marquis von Simeuse sich wegen einer Besitzanfechtung auf diese Urkunden berufen müssen und so diese Besonderheit durch Zufall erfahren. Nun begann er in einem leicht begreiflichen Hintergedanken die Stätte des Klosters zu suchen. Der Waldhüter, dem der Wald so gut bekannt war, hatte seinem Herrn natürlich dabei geholfen und in seinem Försterscharfsinn die Lage des Klosters erkannt. Indem er die Richtung der fünf Hauptwege des Waldes verfolgte, von denen mehrere verschwunden waren, erkannte er, daß alle zu dem Hügel und dem Sumpfe führten, wohin man früher von Troyes, aus dem Tal von Arcis, dem Tal von Cinq-Cygne und von Barsur-Aube kommen mußte. Der Marquis wollte den Hügel untersuchen lassen, konnte zu dieser Arbeit jedoch nur landfremde Leute verwenden. Unter dem Druck der Verhältnisse gab er seine Nachforschungen auf, doch in Michus Geist blieb der Gedanke rege, daß die Bodenerhebung Schätze oder die Grundmauern der Abtei berge. Michu setzte diese Altertumsforschung fort; er merkte, daß der Boden hohl klang, selbst in Höhe des Sumpfes, zwischen zwei Bäumen, am Fuße der einzigen steilen Stelle der Anhöhe. In einer schönen Nacht ging er mit einem Spaten an die Arbeit und legte eine Kelleröffnung frei, in die man auf Steinstufen hinabstieg. Der Sumpf, der an seiner tiefsten Stelle drei Fuß tief ist, hat die Form eines Spatels, dessen Griff aus dem Hügel zu kommen scheint. Man könnte glauben, daß aus diesem künstlichen Felsen eine verlorene Quelle kommt, die durch den weiten Wald versickert. Dieser Sumpf, der von Wasser liebenden Bäumen, von Erlen, Weiden und Eschen umsäumt wird, ist der Treffpunkt der Pfade, die von den alten Straßen und den heute verödeten Waldalleen übriggeblieben sind. Das frische, scheinbar stehende 332
Wasser, das mit großblättrigen Pflanzen und Kresse bedeckt ist, zeigt eine völlig grüne Fläche, die sich kaum von den Ufern mit ihrem feinen dichten Gras unterscheidet. Es ist zu fern von allen Wohnstätten, als daß außer dem Wild irgendein Tier dort zur Tränke käme. In der Überzeugung, daß unter diesem Sumpfe nichts sein könne, und von den unzugänglichen Rändern des Hügels abgeschreckt, hatten die Waldhüter oder Jäger diesen Winkel, der zum ältesten Schlage des Waldes gehörte, nie untersucht noch durchforscht, und Michu hatte ihn, als er geschlagen werden sollte, als Hochwald stehen lassen. Am Ende des Kellers liegt ein gewölbtes Verließ, rein und gesund, ganz aus Quadersteinen erbaut, nach Art des sogenannten In pace, des Kerkers der Klöster. Der gesunde Zustand des Kerkers, die Erhaltung des Treppenrestes und des Gewölbes erklären sich durch die Quelle, die bei der Zerstörung verschont geblieben war, und durch eine wahrscheinlich sehr dicke Mauer aus Ziegeln und Zement nach Art der römischen Mauern, die das Wasser von oben abhielt. Michu schloß den Eingang dieses Schlupfwinkels mit großen Steinen; und um das Geheimnis für sich zu behalten und es undurchdringlich zu machen, machte er es sich zur Pflicht, die bewaldete Anhöhe hinanzusteigen und über die steilen Abfall in den Keller hinabzugehen, statt ihn von dem Sumpf aus zu betreten. In dem Augenblick, da die beiden Flüchtlinge dort anlangten, lag das silberne Mondlicht auf den uralten Bäumen des Hügels und spielte in den prachtvollen Gruppen der von den dort einmündenden Wegen mannigfach ausgeschnittenen Waldzungen: die einen abgerundet, die andern spitz, die eine in einem einzelnen Baum endend, die andre in einem Waldstück. Von hier verlor sich der Blick unwiderstehlich in fliehende Perspektiven und folgte bald der Biegung eines Pfades, bald dem prächtigen Durchblick einer langen Waldallee, bald einer fast schwarzen Laubwand. In dem durch das Astwerk dieser Wegekreuzung 333
sickernden Lichte blickten an den offnen Stellen zwischen der Kresse und den Seerosen ein paar Diamanten des stillen, unbekannten Wassers auf. Das Quaken der Frösche störte die tiefe Stille dieses holden Waldwinkels, dessen wilder Duft die Seele mit Freiheitsgedanken erfüllte. »Sind wir wirklich gerettet?« fragte die Gräfin Michu. »Ja, gnädiges Fräulein. Aber wir haben beide noch unsre Aufgabe. Binden Sie unsre Pferde oben auf dem kleinen Hügel an Bäume, und knüpfen Sie jedem ein Tuch ums Maul«, sagte er, ihr seine Halsbinde reichend. »Sie sind alle beide klug und wissen dann, daß sie still sein müssen. Sind Sie fertig, dann steigen Sie über diesen Abhang gerade zum Wasser herab; bleiben Sie nicht mit Ihrem Reitkleid hängen; Sie finden mich unten.« Während die Gräfin die Pferde versteckte, anband und knebelte, wälzte Michu die Steine fort und legte den Eingang zum Keller frei. Die Gräfin, die den Wald zu kennen glaubte, war aufs höchste erstaunt, sich unter einer Kellerwölbung zu sehen. Michu legte die Steine, geschickt wie ein Maurer, wieder gewölbt über den Eingang. Als er fertig war, hallten der Hufschlag der Pferde und die Stimmen der Gendarmen durch die nächtliche Stille, aber er schlug ruhig das Feuerzeug an, entzündete einen kleinen Fichtenast und führte die Gräfin in das Verließ, wo sich noch ein Lichtstumpf befand, bei dessen Schein er den Keller erkundet hatte. Die mehrere Zoll dicke, hier und da vom Rost zerfressene Eisenpforte war vom Verwalter ausgeflickt worden. Sie wurde von außen mit Riegeln verschlossen, die auf beiden Seiten in Löcher paßten. Todmüde setzte die Gräfin sich auf eine Steinbank, über der sich noch ein in die Wand eingelassener Ring befand. »Wir haben einen Salon zum Plaudern«, sagte Michu. »Jetzt können die Gendarmen umherstreifen, solange sie wollen. Das Schlimmste, was uns 334
geschehen könnte, wäre, daß sie uns unsre Pferde wegnähmen.« »Uns unsre Pferde wegnehmen,« versetzte Laurence. »das wäre der Tod für meine Vettern und die Herren von Hauteserre! ... Nun, was wissen Sie?« Michu erzählte das wenige, was er von der Unterhaltung zwischen Malin und Grévin erlauscht hatte. »Sie sind unterwegs nach Paris und werden morgen früh dort eintreffen«, sagte die Gräfin, als er geendet hatte. »Verloren!« rief Michu. »Sie begreifen, daß alle, die hinein und hinaus wollen, an den Toren überwacht werden. Malin hat das größte Interesse daran, daß meine Herren sich gründlich bloßstellen, damit er sie umbringen kann.« »Und ich weiß nichts von dem allgemeinen Plan der Sache!« rief Laurence aus. »Wie soll man Georges, Rivière und Moreau warnen? Wo sind sie? Aber denken wir nur an meine Vettern und an die Hauteserres. Holen Sie sie um jeden Preis ein.« »Der Telegraph läuft schneller als die schnellsten Pferde,« sagte Michu, »und von allen Adligen, die in diese Verschwörung verwickelt sind, sind Ihre Vettern am leichtesten aufzuspüren. Wenn ich sie wiederfinde, müssen sie hier untergebracht werden. Wir verbergen sie hier, bis die Sache vorbei ist. Ihr armer Vater hatte vielleicht eine Vorahnung, als er mich auf die Spur dieses Schlupfwinkels brachte. Er ahnte, daß seine Söhne sich hierher retten würden!« »Meine Stute kommt aus den Ställen des Grafen von Artois. Ihre Mutter ist eins der schönsten englischen Pferde, aber sie hat sechsunddreißig Wegstunden gemacht. Sie stürbe, ohne Sie ans Ziel gebracht zu haben«, sagte sie.
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»Mein Pferd ist gut,« versetzte Michu, »und wenn Sie sechsunddreißig Wegstunden gemacht haben, werde ich nur achtzehn zu machen haben.« »Dreiundzwanzig,« entgegnete sie, »denn sie sind seit fünf Stunden unterwegs. Sie finden sie jenseits Lagny in Coupvrai, das sie bei Morgengrauen, als Schiffer verkleidet, verlassen sollen. Sie beabsichtigen auf Schiffen nach Paris hereinzukommen. Hier«, sagte sie und zog die Hälfte des Traurings ihrer Mutter vom Finger, »ist das einzige, dem sie Glauben schenken werden. Ich gab ihnen die andre Hälfte. Der Wächter von Coupvrai, der Vater eines ihrer Soldaten, versteckt sie heute nacht in einer verlassenen Köhlerhütte mitten im Walde. Sie sind im ganzen acht. Die Hauteserres und vier Leute sind mit meinen Vettern.« »Fräulein, den Soldaten wird man nicht nachlaufen. Kümmern wir uns nur um die Herren von Simeuse und lassen Sie die andern sich retten, wie es ihnen beliebt. Genügt es nicht, ihnen zuzurufen: ›Es geht um Hals und Kragen‹?« »Die Hauteserres im Stiche lassen? Nie!« rief sie. »Sie müssen alle zusammen untergehen oder sich retten!« »Kleine Edelleute?« warf Michu ein. »Sie sind nur Chevaliers,« entgegnete sie; »das weiß ich. Aber sie haben sich mit den Cinq-Cygnes und den Simeuses verbündet. Bringen Sie also meine Vettern und die Hauteserres zurück und beraten Sie sich mit ihnen, wie sie diesen Wald am besten erreichen können.« »Da sind die Gendarmen! Hören Sie sie? Sie halten Rat.«
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»Nun, Sie hatten heute abend schon zweimal Glück. Gehen Sie, und bringen Sie sie her. Verstecken Sie sie in diesem Keller, hier sind sie vor allen Nachstellungen geschützt! Ich kann Ihnen zu nichts nützen,« versetzte sie wütend, »ich wäre nur ein Fanal, das dem Feinde leuchtete. Wenn die Polizei mich ruhig sieht, wird sie nie auf den Einfall kommen, daß meine Verwandten in den Wald zurückkehren könnten. Somit besteht die ganze Frage darin, fünf gute Pferde zu finden, um in sechs Stunden von Lagny nach unserem Walde zu kommen, fünf Pferde, die man tot in einem Dickicht liegen lassen muß.« »Und Geld?« entgegnete Michu, der der jungen Gräfin mit tiefem Nachdenken zuhörte. »Ich gab meinen Vettern heute abend hundert Louisdors.« »Ich bürge für sie!« rief Michu aus. »Sind sie erst versteckt, so müssen Sie darauf verzichten, sie zu sehen. Meine Frau oder mein Junge werden ihnen zweimal wöchentlich Essen bringen. Aber da ich für mich nicht bürge, so müssen Sie, Fräulein, im Fall eines Unglücks wissen, daß der Hauptbalken meines Pavillons mit einem Bohrer ausgehöhlt ist. In dem Loch, das mit einem dicken Pflocke verstopft ist, befindet sich der Plan zu einem Winkel des Waldes. Die Bäume, die auf dem Plane mit einem roten Punkte bezeichnet sind, tragen im Wald einen schwarzen Streifen am Fuße. Jeder dieser Bäume ist ein Wegweiser. Unter der dritten alten Eiche links von jedem Wegweiser liegen, zwei Schritte von dem Stamme, Blechröhren, sieben Fuß tief vergraben; in jeder sind hunderttausend Franken in Gold. Diese elf Bäume, es sind, nur elf, sind das ganze Vermögen der Simeuses, seit Gondreville ihnen genommen ist.«
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»Der Adel wird hundert Jahre brauchen, um sich von solchen Schlägen zu erholen!« versetzte Fräulein von Cinq-Cygne langsam. »Gibt es eine Parole?« fragte Michu. » Frankreich und Karl für die Soldaten, Laurence und Ludwig für die Herren von Hauteserre und von Simeuse. Mein Gott, gestern sah ich sie zum erstenmal seit elf Jahren wieder, und heute muß ich sie in Todesgefahr wissen – und welch eines Todes! Michu,« sagte sie mit schwermütigem Ausdruck, »seien Sie während dieser fünfzehn Stunden ebenso vorsichtig, wie Sie in diesen zwölf Jahren groß und treu waren. Wenn meinen Vettern etwas zustieße, so stürbe ich ... Nein,« verbesserte sie sich, »ich würde lange genug leben, um Bonaparte zu töten!« »Ich bin der Zweite im Bunde, an dem Tage, wo alles verloren ist.« Laurence ergriff Michus rauhe Hand und drückte sie kräftig nach englischer Art. Michu zog seine Uhr; es war Mitternacht. »Wir müssen um jeden Preis hinaus«, sagte er. »Wehe dem Gendarmen, der mir den Weg versperrt! – Und Sie, ohne Ihnen etwas zu befehlen, Frau Gräfin, kehren Sie mit verhängten Zügeln nach Cinq-Cygne zurück. Dort sind sie, halten Sie sie auf.« Als die Öffnung frei war, hörte Michu nichts mehr. Er warf sich mit dem Ohr auf den Boden und sprang rasch wieder auf. »Sie sind am Waldrand nach Troyes,« sagte er, »ich werde sie zum besten halten!«
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Er half der Gräfin hinaus und legte die Steine wieder vor. Als er fertig war, hörte er Laurences sanfte Stimme ihn rufen. Sie wollte ihn zu Pferde sehen, bevor sie selbst aufsaß. Der rauhe Mann hatte Tränen in den Augen, als er mit seiner jungen Herrin einen letzten Blick tauschte, doch ihre Augen blieben trocken. »Halten wir sie auf, er hat recht!« sagte sie, als sie nichts mehr hörte. Und in langem Galopp sprengte sie nach Cinq-Cygne. Frau von Hauteserre, die die Revolution noch nicht für beendet hielt und die rasche Justiz jener Zeit kannte, kam wieder zu sich, als sie hörte, daß ihre Söhne in Todesgefahr schwebten, und gewann ihre Kräfte durch die nämliche Gewalt des Schmerzes wieder, die sie ohnmächtig gemacht hatte. Von einer furchtbaren Neugier getrieben, ging sie in den Salon hinunter, dessen Anblick jetzt ein Bild darbot, das des Pinsels eines Genremalers würdig war. Der Pfarrer saß noch immer am Tisch, klapperte mechanisch mit den Spielmarken und beobachtete verstohlen Peyrade und Corentin, die in einer Ecke am Kamin standen und miteinander flüsterten. Mehrmals begegnete Corentins schlauer Blick dem nicht minder schlauen des Pfarrers, doch wie zwei Gegner, die sich gleich stark fühlen und die wieder Stellung nehmen, nachdem sie die Waffe gekreuzt haben, blickten beide rasch wieder fort. Der biedre Hauteserre stand auf seinen zwei Beinen wie ein Reiher neben dem dicken, fetten, großen und geizigen Goulard in der Haltung, die ihm die Bestürzung gegeben. Obwohl in bürgerlicher Kleidung, sah der Bürgermeister noch immer aus wie ein Bedienter. Beide starrten blöde auf die Gendarmen, zwischen denen Gotthard noch immer weinte; seine Hände waren so fest gebunden, daß sie violett und geschwollen waren. Katharina stand nach wie vor in ihrer einfältig naiven, aber undurchdringlichen Haltung da. Der Brigadier, der nach Corentins Wort die 339
Dummheit begangen hatte, diese guten Kinder zu verhaften, wußte nicht mehr, ob er gehen oder bleiben sollte. Er stand tief nachdenklich mitten im Salon, die Hand auf den Griff seines Säbels gestützt und den Blick auf die beiden Pariser geheftet. Die bestürzten Durieus und alle Leute des Schlosses bildeten eine schöne Gruppe, als ob sie die Besorgnis darstellen wollten. Ohne Gotthards krampfhaftes Schluchzen hätte man die Fliegen summen hören. Als die Mutter verängstigt und bleich die Tür öffnete und fast gezogen von Fräulein Goujet eintrat, deren rote Augen geweint hatten, wandten sich alle Blicke den beiden Frauen zu. Die beiden Agenten hofften und die Schloßbewohner zitterten ebensosehr, Laurence eintreten zu sehen. Die unwillkürliche Bewegung der Leute wie der Herrschaft schien wie von einer jener Mechaniken hervorgerufen zu sein, durch die Holzfiguren ein und dieselbe Gebärde machen oder mit den Augen zwinkern. Frau von Hauteserre trat mit drei großen überstürzten Schritten auf Corentin zu und sagte mit stockender, aber heftiger Stimme: »Erbarmen, Herr, was legt man meinen Söhnen zur Last? Und glauben Sie denn, daß sie hier waren?« Der Pfarrer, der sich beim Anblick der alten Dame zu sagen schien: »Jetzt wird sie eine Dummheit machen!« blickte zu Boden. »Meine Pflicht und der Auftrag, den ich ausführe, verbieten mir, es Ihnen zu sagen«, entgegnete Corentin mit liebenswürdig spöttischer Miene.
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Diese Abweisung, die die abscheuliche Höflichkeit des Gecken noch unerbittlicher machte, ließ die alte Mutter zu Stein erstarren. Sie sank neben dem Abbé Goujet in einen Lehnstuhl, faltete die Hände und betete. »Wo habt Ihr diesen Greiner erwischt?« fragte Corentin den Brigadier und wies auf Laurences kleinen Stallknecht. »Auf dem Wege zum Pachthof, an der Parkmauer. Der Bursche wollte nach dem Walde von Closeaux.« »Und das Mädchen?« »Die hat Olivier erwischt.« »Wohin lief sie?« »Nach Gondreville.« »Sie wandten sich den Rücken?« »Jawohl«, entgegnete der Gendarm. »Ist das nicht der kleine Diener und die Zofe der Bürgerin Cinq-Cygne?« fragte Corentin den Bürgermeister. »Jawohl«, entgegnete Goulard. Peyrade wechselte flüsternd ein paar Worte mit Corentin und ging alsbald mit dem Brigadier hinaus. In diesem Augenblick trat der Brigadier von Arcis ein, kam auf Corentin zu und sagte ganz leise zu ihm:
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»Ich kenne die Örtlichkeit gut, ich habe in den Nebengebäuden alles durchstöbert; wenn die Burschen sich nicht vergraben haben, ist niemand da. Wir sind dabei, die Fußböden und Wände mit unsern Gewehrkolben abzuklopfen.« Peyrade trat wieder ein, winkte Corentin, ihm zu folgen, und führte ihn zu der Bresche des Schloßgrabens. Dort zeigte er ihm den Hohlweg, der ihre Fortsetzung bildete. »Wir haben das Manöver erraten«, sagte Peyrade. »Und ich,« entgegnete Corentin, »ich will es Ihnen erklären. Der kleine Schlingel und das Mädchen haben die Schafsköpfe von Gendarmen auf die falsche Fährte gelockt, damit das Wild entrinnen konnte.« »Wir werden die Wahrheit erst am Tage erfahren«, entgegnete Peyrade. »Dieser Weg ist feucht, ich habe ihn an beiden Enden von zwei Gendarmen sperren lassen; sobald wir sehen können, werden wir an den Fußspuren erkennen, wer hindurchgegangen ist.« »Hier sind Fußspuren«, sagte Corentin. »Gehen wir in den Stall.« »Wieviel Pferde sind hier?« fragte Peyrade Herrn von Hauteserre und Goulard, als sie mit Corentin wieder in den Salon traten. »Nun, Herr Bürgermeister, das wissen Sie doch, antworten Sie!« schrie ihn Corentin an, als er sah, daß der Beamte mit der Antwort zögerte.
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»Nun, die Stute der Gräfin, Gotthards Pferd und das des Herrn von Hauteserre.« »Im Stalle sahen wir nur eins«, sagte Peyrade. »Das gnädige Fräulein reitet spazieren«, bemerkte Durieu. »Reitet Ihr Mündel oft so des Nachts spazieren?« fragte der Wüstling Peyrade Herrn von Hauteserre. »Sehr oft,« entgegnete der Biedermann schlicht; »der Herr Bürgermeister wird es Ihnen bestätigen.« »Jedermann weiß, daß sie Schrullen hat«, setzte Katharina hinzu. »Vorm Zubettgehen blickte sie den Himmel an, und ich glaube, Ihre Bajonette, die in der Ferne glänzten, haben sie neugierig gemacht. Wie sie mir beim Hinausgehen sagte, wollte sie nachsehen, ob wieder eine neue Revolution stattfände.« »Wann ist sie fortgegangen?« fragte Peyrade. »Als sie Ihre Gewehre sah.« »Und auf welchem Wege?« »Das weiß ich nicht.« »Und das andere Pferd?« fragte Corentin. »Das haben mir die Gen-dar-men-men genommen«, flennte Gotthard. »Und wohin wolltest du?« fragte einer der Gendarmen. »Ich folg-te meiner Herr-in zum Pa-acht-hof.« Der Gendarm blickte zu Corentin auf und erwartete einen Befehl, aber Gotthards Sprache war zugleich so falsch und so wahr, so tief unschuldig und so verschlagen, daß die beiden Pariser einander anblickten, wie um sich Peyrades Wort zu wiederholen: »Das sind keine Tröpfe!« Der Edelmann schien nicht Geist genug zu besitzen, um ein Epigramm zu verstehen. Der Bürgermeister war stumpfsinnig. Die Mutter, die vor Angst verblödet war, stellte den Agenten Fragen von dummer Harmlosigkeit. Alle Dienstboten waren tatsächlich im Schlaf überrascht worden. Angesichts 343
dieser kleinen Tatsachen und in richtiger Beurteilung dieser verschiedenen Charaktere begriff Corentin sogleich, daß sein einziger Gegner Fräulein von Cinq-Cygne war. Wie geschickt die Polizei auch sei, sie hat zahllose Nachteile. Sie muß nicht nur alles erfahren, was der Verschwörer schon weiß, sondern sie muß auch tausend Dinge annehmen, bevor sie zu einer einzigen Wahrheit gelangt. Der Verschwörer denkt unablässig an seine Sicherheit, während die Polizei nur zu bestimmten Stunden wach ist. Ohne Verrat wäre nichts leichter, als sich zu verschwören. Ein einziger Verschwörer hat mehr Geist als die Polizei mit ihren gewaltigen Wirkungsmitteln. Corentin und Peyrade fühlten sich geistig gehemmt, wie sie körperlich von einer Tür aufgehalten worden wären, die sie offen geglaubt hätten und die sie mit einem Dietrich öffnen müßten, während Leute, die dahinter standen und kein Wort sagten, sich dagegen stemmten. Sie sahen sich verraten und genasführt, ohne zu wissen von wem. »Ich behaupte,« flüsterte der Brigadier von Arcis ihnen ins Ohr, »wenn die beiden Herren von Simeuse und von Hauteserre die Nacht hier verbracht haben, so hat man sie in die Betten der Eltern, des Fräuleins von Cinq-Cygne, der Magd und der Dienstboten gesteckt, oder sie sind im Park spazieren gegangen, denn es ist nicht die mindeste Spur von ihrem Aufenthalt zu finden.« »Wer hat sie denn warnen können?« fragte Corentin Peyrade. »Bisher wissen nur der Erste Konsul, Fouche, die Minister, der Polizeipräfekt und Malin etwas.« »Wir wollen Spitzel im Lande lassen«, flüsterte Peyrade Corentin ins Ohr.
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»Daran werden Sie umso besser tun, als Sie in der Champagne sind«, entgegnete der Pfarrer, der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, als er das Wort Spitzel auffing, aus dem er den ganzen Zusammenhang erriet. »Mein Gott,« dachte Corentin, indem er dem Pfarrer gleichfalls mit einem Lächeln antwortete, »hier ist nur ein Mann von Geist; ich kann mich nur mit ihm verständigen; ich werde ihn aushorchen.« »Meine Herren ...«, begann der Bürgermeister zu den beiden Agenten, denn er wollte einen Beweis von Ergebenheit für den Ersten Konsul liefern. »Sagen Sie Bürger, denn die Republik besteht noch«, unterbrach ihn Corentin und blickte den Pfarrer spöttisch an. »Bürger,« fuhr der Bürgermeister fort, »in dem Augenblick, da ich den Salon betrat, noch ehe ich den Mund auftat, stürzte Katharina herein, um die Reitpeitsche, die Handschuhe und den Hut ihrer Herrin zu holen.« Ein dumpfes Murren des Entsetzens kam aus der Tiefe aller Brüste, nur Gotthard ausgenommen. Alle Augen, außer denen der Gendarmen und Agenten, bedrohten Goulard, den Angeber, mit Flammenblicken. »Schön, Bürger Goulard«, sagte Peyrade zu ihm. »Jetzt sehen wir klar. Man hat die Bürgerin Cinq-Cygne rechtzeitig gewarnt!« setzte er hinzu, indem er Corentin mit sichtlichem Mißtrauen anblickte. »Brigadier, legen Sie dem kleinen Burschen Daumenschnüre an, und führen Sie ihn in ein besondres Zimmer«, gebot Corentin dem Gendarmen. »Schließen Sie auch das Mädchen ein«, fuhr er fort, auf Katharina deutend. 345
»Du wirst die Durchsuchung der Papiere leiten«, flüsterte er Peyrade ins Ohr. »Durchstöbere alles, verschone nichts. – Herr Abbé«, sagte er vertraulich zum Pfarrer, »ich habe Ihnen wichtige Mitteilungen zu machen.« Und er nahm ihn mit in den Garten. »Hören Sie mich an, Herr Abbé. Sie scheinen mir ganz den Geist eines Bischofs zu haben, und (niemand kann uns hören) Sie werden mich verstehen: Ich setze meine ganze Hoffnung auf Sie, um zwei Familien zu retten, die sich aus Dummheit in einen Abgrund stoßen lassen wollen, aus dem niemand zurückkehrt. Die Herren von Simeuse und von Hauteserre sind von einem der schuftigen Spione verraten worden, die die Regierungen in alle Verschwörungen einschmuggeln, um deren Ziel, Mittel und Personen zu erfahren. Verwechseln Sie mich nicht mit dem Elenden, der mich begleitet, er ist von der Polizei; ich aber gehöre in sehr ehrenvoller Weise dem Konsulatskabinett an und besitze dessen letztes Wort. Man wünscht das Verderben der Herren von Simeuse nicht. Wenn Malin möchte, daß sie erschossen werden, so will der Erste Konsul, wenn sie hier sind, wenn sie keine schlimmen Absichten hegen, sie am Rand des Abgrunds zurückhalten, denn er liebt gute Soldaten. Der Agent, der mich begleitet, hat alle Vollmachten; ich bin scheinbar nichts; aber ich weiß, wo das Komplott liegt. Der Agent hat Malins Weisungen. Der hat ihm zweifellos seine Protektion, eine Stellung, vielleicht auch Geld versprochen, wenn er die beiden Simeuses finden und ausliefern kann. Der Erste Konsul, der ein wirklich großer Mann ist, begünstigt begehrliche Absichten nicht. Ich will nicht wissen, ob die beiden jungen Leute hier sind,« sagte er, als er eine Gebärde des Pfarrers wahrnahm, »aber sie können nur auf eine einzige Art gerettet werden. Sie kennen das Gesetz vom sechsten Floreal des Jahres X; es begnadigt alle noch im Ausland befindlichen Emigranten unter der Bedingung, daß sie vor dem ersten Ven346
démiaire des Jahres XI zurückkehren, d.h. im September letzten Jahres. Da aber die Herren von Simeuse sowie die Herren von Hauteserre Kommandos im Heere Condés innehatten, fallen sie unter die in diesem Gesetz vorgesehenen Ausnahmen. Ihre Anwesenheit in Frankreich ist daher ein Verbrechen und genügt unter den jetzigen Umständen, um ihre Mitschuld an einem scheußlichen Komplott darzutun. Der Erste Konsul hat den Fehler dieser Ausnahme erkannt, die seiner Regierung unversöhnliche Feinde schafft. Er möchte die Herren von Simeuse wissen lassen, daß keine Strafverfolgung gegen sie stattfinden wird, wenn sie in einer Bittschrift an ihn erklären, daß sie nach Frankreich zurückkehren, um sich den Gesetzen zu unterwerfen, und versprechen, den Eid auf die Verfassung zu leisten. Sie begreifen, daß dies Schriftstück vor ihrer Verhaftung in seinen Händen sein und um ein paar Tage zurückdatiert sein muß; ich kann es überbringen ... Ich frage Sie nicht, wo die jungen Leute sind«, sagte er bei einer neuen verneinenden Gebärde des Pfarrers. »Wir sind leider sicher, sie zu finden. Der Wald wird bewacht, die Zugänge von Paris sind besetzt, ebenso die Grenze. Hören Sie mich wohl an! Sind die Herren zwischen dem Wald und Paris, so werden sie gefaßt. Sind sie in Paris, so wird man sie finden, kehren sie um, so werden die Unglücklichen verhaftet. Der Erste Konsul liebt die früheren Adligen und kann die Republikaner nicht leiden. Das ist ganz einfach: wenn er einen Thron will, muß er die Freiheit erdrosseln. Dies Geheimnis bleibt unter uns. Nun, also! Ich warte bis morgen; ich werde blind sein. Aber mißtrauen Sie dem Agenten. Dieser verdammte Provenzale ist der Kammerdiener des Teufels, er hat Fouches letztes Wort, wie ich das des Ersten Konsuls habe.« »Wenn die Herren von Simeuse hier sind,« sagte der Pfarrer, »so gäbe ich zehn Liter meines Blutes und einen Arm, um sie zu retten. Aber wenn Fräulein von Cinq-Cygne ihre Vertraute 347
ist, so hat sie – das schwöre ich bei meiner Seligkeit – nicht den geringsten Vertrauensbruch begangen und mich nicht beehrt, mich um Rat zu fragen. Jetzt bin ich sehr zufrieden über ihre Verschwiegenheit, wenn anders es Verschwiegenheit war. Wir haben gestern abend wie allabendlich in tiefster Stille bis halb elf Uhr Boston gespielt und nichts gehört. Es kommt kein Kind durch dies einsame Tal, ohne daß ein jeder es sieht und erfährt, und seit vierzehn Tagen ist kein Fremder erschienen. Nun aber bilden die Herren von Hauteserre und Simeuse für sich allein einen Trupp von vier Mann. Der Edelmann und seine Frau haben sich der Regierung unterworfen und alles Erdenkliche versucht, um, ihre Söhne zurückzubekommen; noch vorgestern haben sie ihnen geschrieben. Daher war bei meiner Seele und meinem Gewissen Ihr Erscheinen hier nötig, um meinen festen Glauben zu erschüttern, daß sie sich in Deutschland befinden. Unter uns gesagt, läßt hier außer der jungen Gräfin jedermann den hervorragenden Eigenschaften des Herrn Ersten Konsuls Gerechtigkeit widerfahren.« »Ein Fuchs!« dachte Corentin. »Wenn die jungen Leute erschossen werden, so hat man es selbst gewollt!« entgegnete er laut. »Jetzt wasche ich mir die Hände in Unschuld.« Er hatte den Abbé Goujet an eine vom Mond hell beschienene Stelle geführt und sah ihn plötzlich an, als er diese Schicksalsworte sprach. Der Priester war tief betrübt, aber wie ein überraschter Mensch, der von nichts wußte. »Verstehen Sie doch, Herr Abbé,« fuhr Corentin fort, »daß ihre Anrechte auf das Gut Gondreville sie in den Augen der Leute in untergeordneter Stellung doppelt verbrecherisch machen! Kurz, ich möchte, daß sie mit Gott zu tun haben und nicht mit seinen Heiligen.«
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»So handelt es sich um eine Verschwörung?« fragte der Abbé naiv. »Eine gemeine, hassenswerte, feige Verschwörung die dem hochherzigen Geist der Nation so widerstrebt, daß sie mit allgemeiner Schande bedeckt wird«, antwortete Corentin. »Nun, Fräulein von Cinq-Cygne ist einer Feigheit nicht fähig!« rief der Pfarrer aus. »Herr Abbe«, fuhr Corentin fort, »sehen Sie, es gibt für uns (stets unter uns gesagt) handgreifliche Beweise für ihre Mitschuld, aber noch nicht genug für die Justiz. Bei unserem Nahen hat sie die Flucht ergriffen. .. Und doch hatte ich Ihnen den Bürgermeister geschickt...« »Ja, aber für einen, dem soviel daran liegt, sie zu retten, folgten Sie dem Bürgermeister etwas zu sehr auf dem Fuße«, sagte der Abbe. Bei diesem Wort blickten beide Männer einander an, und alles war zwischen ihnen gesagt. Beide gehörten zu jenen tiefen Anatomen des Denkens, denen ein einziger Tonfall, ein Blick, ein Wort genügt, um eine Seele zu erraten, genau wie der Wilde seine Feinde an Zeichen errät, die dem Auge eines Europäers unsichtbar sind. »Ich glaubte, etwas aus ihm herauszulocken, und ich habe mich selbst nur aufgedeckt«, dachte Corentin. »Ach, der Racker!« sagte sich der Abbe. Als Corentin und der Abbe wieder in den Salon traten, schlug es von der alten Kirchturmuhr Mitternacht. Man hörte Zimmer349
und Schranktüren öffnen und schließen. Die Gendarmen deckten die Betten auf. Peyrade durchwühlte und durchstöberte alles mit dem raschen Verständnis des Spions. Diese Plünderung erregte Schrecken und zugleich Entrüstung bei den treuen Dienstboten, die immer noch regungslos dastanden. Herr von Hauteserre wechselte mit seiner Frau und Fräulein Goujet mitleidige Blicke. Eine furchtbare Neugier hielt alle wach. Peyrade kam mit einer Kassette aus geschnitztem Sandelholz in den Salon herab; sie mochte dereinst vom Admiral von Simeuse aus China mitgebracht sein. Es war ein hübscher flacher Kasten in der Größe eines Quartbandes. Peyrade gab Corentin einen Wink und führte ihn in die Fensternische. »Ich hab' es!« sagte er. »Dieser Michu, der Marion achthunderttausend Franken in Gold für Gondreville zahlen konnte, und der jetzt den Malin totschießen wollte, muß der Vertrauensmann der Simeuses sein. Als er Marion bedroht hat, muß er das gleiche Interesse verfolgt haben wie gestern, als er auf Malin anlegte. Er schien mir zu Gedanken fähig, aber er hat nur einen; er weiß von der Sache und wird hergekommen sein, um sie zu warnen.« »Malin wird mit seinem Freund, dem Notar, von der Verschwörung gesprochen haben,« sagte Corentin, die Schlußfolgerungen seines Kollegen fortsetzend, »und Michu, der im Hinterhalt lag, wird sie zweifellos von den Simeuses haben sprechen hören. Er kann seinen Flintenschuß nämlich nur aufgeschoben haben, um ein Unglück zu verhüten, das ihm noch größer schien als der Verlust von Gondreville.«
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»Er hatte uns richtig als das erkannt, was wir sind«, sagte Peyrade. »Daher erschien mir auch der Verstand dieses Bauern im Augenblick wunderbar.« »Oh, das beweist, daß er auf seiner Hut war«, entgegnete Corentin. »Aber alles in allem, Alterchen, wollen wir uns nicht täuschen. Hier stinkts nach Verrat, und ursprüngliche Menschen riechen das von weitem.« »Um so stärker sind wir«, versetzte der Provenzale. »Lassen Sie den Brigadier von Arcis kommen«, rief Corentin einem der Gendarmen zu. – »Schicken wir nach seinem Pavillon«, schlug er Peyrade vor. »Violette, unser Ohr, ist dort«, entgegnete der Provenzale. »Wir sind abgefahren, ohne Nachricht von ihm zu haben«, sagte Corentin. »Wir hätten Sabatier mitnehmen sollen. Zu zweit sind wir nicht genug.« Als er den Gendarmen eintreten sah, nahm er ihn zwischen sich und Peyrade und sagte: »Brigadier, lassen Sie sich nicht über den Löffel barbieren wie vorhin der Brigadier von Troyes. Michu ist scheinbar in die Sache verwickelt. Reiten Sie nach seinem Pavillon, haben Sie ein Auge auf alles, und erstatten Sie uns Bericht.« »Einer meiner Leute hat im Walde Pferde gehört, als die kleinen Dienstboten verhaftet wurden, und ich habe einige tüchtige Kerle hinter den Ausreißern hergeschickt, die sich darin verstecken möchten«, entgegnete der Gendarm. Er ging hinaus. Der Galopp seines Pferdes dröhnte auf dem Pflaster und verhallte rasch. »Also sie marschieren auf Paris oder ziehen sich nach Deutschland zurück«, sagte Gorentin sich. Er setzte sich, zog ein No351
tizbuch aus der Tasche seines Spencers, schrieb mit Bleistift zwei Befehle, versiegelte sie und winkte einen der Gendarmen heran. »Im gestreckten Galopp nach Troyes. Wecken Sie den Präfekten und sagen Sie ihm, er solle die Dämmerung benutzen, um den (optischen) Telegraphen arbeiten zu lassen.« Der Gendarm ritt in vollem Galopp davon. Der Sinn dieses Auftrages und Corentins Absicht waren so klar, daß allen Schloßbewohnern das Herz stillstand. Aber diese neue Besorgnis war gleichsam nur ein Schlag mehr in ihrem Martyrium, denn in diesem Augenblick hatten sie die Blicke auf die kostbare Kassette gerichtet. Während die beiden Agenten miteinander plauderten, beobachteten sie die Sprache dieser flammenden Blicke. Eine Art kalte Wut tobte in den Herzen der beiden fühllosen Menschen, die sich an dem allgemeinen Entsetzen weideten. Der Polizist kennt alle Aufregungen des Jägers, aber wo der eine die Kräfte des Körpers und des Geistes anspannt, um einen Hasen, ein Rebhuhn oder ein Reh zu erlegen, handelt es sich für den andern darum, den Staat oder den Herrscher zu retten und eine große Belohnung zu verdienen. So ist die Menschenjagd der andern um soviel überlegen, als Menschen und Tiere voneinander verschieden sind. Überdies muß der Spion sich in seiner Rolle zu der ganzen Größe und Bedeutung der Interessen erheben, denen er dient. Ohne diesem Berufe anzugehören, kann also ein jeder sich vorstellen, daß die Seele dabei ebensoviel Leidenschaft aufwendet wie der Jäger beim Verfolgen des Wildes. Je näher daher die beiden dem Lichte kamen, um so leidenschaftlicher wurden sie. Aber ihre Haltung, ihre Augen blieben ruhig und kalt, ebenso wie ihr Argwohn, ihre Gedanken, ihr Plan undruchdringlich blieben. Wer aber die Wirkun352
gen der geistigen Witterung dieser beiden Spürhunde auf der Fährte unbekannter und verborgener Tatsachen verfolgt hätte, wer die Bewegungen hündischer Gelenkigkeit begriffen hätte, mit der sie durch eine rasche Prüfung der Wahrscheinlichkeiten zur Wahrheit gelangten, der hätte erschaudern können! Wie und warum standen diese genialen Männer so tief, da sie doch so hoch stehen konnten? Welche Mängel, welches Laster, welche Leidenschaft rissen sie so herab? Ist man Polizist, wie man Denker, Schriftsteller, Staatsmann, Maler, General ist, unter der Bedingung, daß man nichts kann als spionieren, wie jene sprechen, schreiben, regieren, malen oder kämpfen?' Die Schloßbewohner hatten nur einen Herzenswunsch: »Wird der Blitz nicht auf diese Schurken herabfahren?« Alle spürten Rachedurst. Und wären die Gendarmen nicht dagewesen, so wäre ein Aufruhr ausgebrochen. »Hat niemand den Schlüssel zu dem Kästchen?« fragte der Zyniker Peyrade die Anwesenden. Der Provenzale bemerkte mit leisem Schrecken,, daß keine Gendarmen mehr da waren. Er und Corentin waren allein. Dieser zog einen kleinen Dolch aus der Tasche und bemühte sich, ihn in den Spalt des Kastens zu schieben. In diesem Augenblick hörte man erst auf dem Wege, dann auf dem kleinen Pflaster das wilde Dröhnen eines verzweifelten Galopps. Aber noch weit mehr Entsetzen erweckte der Sturz und das Aufstöhnen des Pferdes, das am Fuße des Mittelturms mit allen vier Beinen zugleich zusammenbrach. Eine Erschütterung wie bei einem Blitzstrahl ergriff alle Zuschauer, als man Laurence erblickte, die das Rauschen ihres Reitkleides schon angekündigt hatte. Ihre Leute hatten rasch Spalier gebildet, um sie durchzulassen. Trotz ihres raschen Rittes hatte sie den Schmerz empfunden, den die Entdeckung der Verschwörung ihr bereiten mußte. Alle ihre Hoffnungen waren zusammengebrochen! Sie war durch Trümmer geritten und hatte an die Notwendigkeit gedacht, sich der Konsulatsregierung zu unterwerfen. Und so wäre sie denn ohne die Gefahr, in der die vier Edelleute schwebten, ohn353
mächtig hingesunken. Aber diese Gefahr war das Reizmittel, durch das sie ihrer Ermüdung und Verzweiflung Herr wurde. Sie hatte ihre Stute fast zu Tode geritten, um zwischen den Tod und ihre Vettern zu treten. Beim Anblick dieses heroischen Mädchens, das bleich und mit verzerrten Zügen, den Schleier zur Seite geschlagen, die Reitpeitsche in der Hand, auf die Schwelle trat und mit ihrem brennenden Blick die ganze Szene überflog und erriet, erkannte jeder an der unmerklichen Bewegung, die über Corentins bitteres und verstörtes Gesicht glitt, daß zwei wirkliche Gegner einander gegenüberstanden. Ein furchtbarer Zweikampf stand bevor. Als die junge Gräfin ihre Kassette in Corentins Händen sah, erhob sie die Reitpeitsche, sprang heftig auf ihn los und gab ihm einen so heftigen Schlag auf die Hände, daß die Kassette zu Boden fiel. Sie packte sie, warf sie mitten in die Glut und stellte sich in drohender Haltung vor den Kamin, bevor die beiden Agenten sich von ihrer Überraschung erholt hatten. Verachtung flammte aus Laurences Blicken; ihre bleiche Stirn, ihre verächtlichen Lippen beschimpften diese Männer noch mehr als die autokratische Gebärde, mit der sie Corentin wie ein giftiges Tier behandelt hatte. Der biedere Hauteserre fühlte sich als Kavalier; das Blut schoß ihm ins Gesicht; er bedauerte, keinen Degen zu haben. Die Diener fuhren zuerst vor Freude hoch. Die herbeigesehnte Rache hatte den einen dieser Männer getroffen. Aber ihr Glück ward von einer furchtbaren Angst in die Tiefe ihrer Seele zurückgedrängt: noch immer hörten sie die Gendarmen auf den Böden hin und her gehen. Der Spion, dies kräftige Wort, in dem alle Nuancen zusammenlaufen, die die Polizisten unterscheiden, denn das Publikum hat die verschiedenen Eigenschaften der Leute, die sich mit dieser für die Regierungen notwendigen Apothekerkunst befassen, in der Sprache nie unterscheiden wollen – der Spion also hat etwas Großartiges und Sonderbares an sich: er wird nie böse. Er be354
sitzt die christliche Demut des Priesters, seine Augen sind an Verachtung gewöhnt, und er setzt sie seinerseits wie eine Schranke dem Schwarm der Tröpfe entgegen, die ihn nicht verstehen. Er hat eine eherne Stirn bei Beschimpfungen, er geht auf sein Ziel los wie ein Tier, dessen festes Rückenschild nur von Kanonenkugeln durchschlagen wird. Aber wenn er getroffen ist, wird er gleich dem Tier um so wütender, als er seinen Panzer für undurchdringlich hielt. Der Peitschenhieb auf die Finger war für Corentin, von dem Schmerz abgesehen, der Kanonenschuß, der den Panzer durchlöchert. Diese Bewegung voller Ekel von Seiten dieses stolzen und edlen Mädchens demütigte ihn nicht allein in den Augen dieser kleinen Welt, sondern auch vor sich selbst. Peyrade, der Provenzale, stürzte auf den Kamin zu, bekam einen Fußtritt von Laurence, packte sie am Fuß und hob ihn empor, so daß er sie durch das Schamgefühl zwang, sich in den Lehnstuhl zu werfen, in dem sie vorhin geschlummert hatte. Das war das Satyrspiel mitten im Schrecklichen, ein häufiger Kontrast in allen menschlichen Dingen. Peyrade versengte sich die Hand, um sich der brennenden Kassette zu bemächtigen, aber er packte sie, stellte sie auf den Boden und setzte sich darauf. Diese kleinen Ereignisse spielten sich stumm und sehr rasch ab. Corentin, der sich von dem Schmerze des Peitschenschlages erholt hatte, hielt Fräulein von Cinq-Cygne an den Händen fest. »Zwingen Sie mich nicht, schöne Bürgerin, Gewalt gegen Sie zu brauchen«, sagte er in seiner verletzenden Höflichkeit. Peyrades Tun hatte den Erfolg, daß das Feuer durch den Druck, der die Luft abhielt, erlosch. »Gendarmen! her!« rief er, in seiner wunderlichen Stellung sitzenbleibend. »Versprechen Sie, artig zu sein?« sagte Corentin unverschämt zu Laurence, indem er seinen Dolch aufhob, ohne den Fehler 355
zu begehen, sie damit zu bedrohen. »Die Geheimnisse dieser Kassette gehen die Regierung nichts an«, antwortete sie mit einem Gemisch von Schwermut in Miene und Tonfall. »Wenn Sie die Briefe gelesen haben, die darin sind, werden Sie sich trotz Ihrer Niedertracht schämen, es getan zu haben... Aber schämen Sie sich noch vor etwas?« setzte sie nach einer Pause hinzu. Der Pfarrer warf Laurence einen Blick zu, als wollte er ihr sagen: »Um Gottes willen, beruhigen Sie sich!« Peyrade stand auf. Der Boden der Kassette, der auf den Kohlen gelegen hatte und fast ganz verbrannt war, ließ einen versengten Fleck auf dem Teppich zurück. Der Deckel war bereits verkohlt, die Seiten gaben nach. Der groteske Scaevola, der dem Gotte der Polizei, der Furcht, den Boden seiner aprikosenfarbenen Hose geopfert hatte, öffnete die beiden Seiten der Kassette, als klappte er ein Buch auf, und ließ drei Briefe und zwei Haarlocken auf den Spieltisch fallen. Er wollte schon mit einem Blick auf Corentin lächeln, als er wahrnahm, daß die Haarlocken von verschiedenem Weiß waren. Corentin ließ Fräulein von CinqCygne los, um den Brief zu lesen, aus dem die Locken gefallen waren. Auch Laurence stand auf, trat neben die beiden Spione und sagte: »Oh! lesen Sie laut vor, das soll Ihre Strafe sein.« Da sie nur mit den Augen lasen, so las sie selbst den folgenden Brief vor: »Liebe Laurence! »Wir erfuhren von Deinem schönen Benehmen an dem traurigen Tage unserer Verhaftung, mein Gatte und ich. Wir wissen, Du liebst unsre geliebten Zwillinge ebensosehr und ebenso gleichmäßig wie wir selbst. Deshalb übergeben wir Dir ein für sie ebenso kostbares wie trauriges Pfand. Der Herr Scharfrichter hat uns eben die Haare geschoren, denn wir sollen in wenigen Augenblicken sterben, und er hat uns versprochen, Dir die beiden einzigen Andenken zukommen zu lassen, die wir unsern geliebten Waisen geben können. So hebe denn für sie diese Überreste von uns auf, und gib sie ihnen in 356
besseren Zeiten. Wir haben einen letzten Kuß für sie darauf gedrückt, und unseren Segen beigefügt. Unser letzter Gedanke wird zunächst unseren Söhnen gelten, dann Dir und schließlich Gott! Habe sie lieb. Bertha Johann von Simeuse.«
von
Cinq-Cygne
Beim Verlesen dieses Briefes füllten sich alle Augen mit Tränen. Mit fester Stimme sagte Laurence zu den beiden Agenten, indem sie ihnen einen versteinernden Blick zuwarf: »Sie haben weniger Mitleid als der Herr Scharfrichter!« Corentin legte die Haare ruhig in den Brief und diesen zur Seite auf den Tisch, dann stellte er einen Korb mit Spielmarken darauf, damit er nicht wegflog. Diese Kaltblütigkeit inmitten der allgemeinen Aufregung war scheußlich. Peyrade entfaltete die beiden anderen Briefe. »Oh, die sind ungefähr ebenso«, sagte Laurence. »Sie haben das Testament gehört, dies ist die Vollstreckung. Fortan wird mein Herz für niemand mehr Geheimnisse haben, weiter nichts.« »1794, Andernach, vor dem Kampfe. »Meine liebe Laurence! Ich liebe Dich für mein Leben und will, daß Du es weißt. Aber, wenn ich sterben sollte, wisse, daß mein Bruder Paul Maria Dich ebenso liebt wie ich. Mein einziger Trost im Tode wird 357
die Gewißheit sein, daß Du eines Tages meinen Bruder wirst heiraten können, ohne mich vor Eifersucht umkommen zu sehen, denn das würde geschehen, wenn Du ihn mir bei meinen Lebzeiten vorzögest. Alles in allem würde diese Bevorzugung mir ganz natürlich erscheinen, denn vielleicht ist er mehr wert als ich ... usw. Maria Paul.« »Hier ist der andere«, fuhr sie mit reizender Röte auf der Stirn fort: »Andernach, vor dem Kampfe. »Meine gute Laurence! Meine Seele ist etwas traurig, aber Maria Paul hat ein zu frohes Gemüt, um Dir nicht weit mehr zu gefallen als ich. Eines Tages wirst Du zwischen uns wählen müssen: wohlan, obwohl ich Dich leidenschaftlich liebe...« »Sie standen im Briefwechsel mit Emigranten!« unterbrach Peyrade Laurence und hielt vorsichtshalber die Briefe gegen das Licht, um zu prüfen, ob zwischen den Zeilen nicht eine Schrift in sympathetischer Tinte stand. »Ja«, entgegnete Laurence und faltete die kostbaren vergilbten Briefe wieder zusammen. »Aber, was gibt Ihnen das Recht, derart meine Wohnung, meine persönliche Freiheit und alle häuslichen Rechte zu vergewaltigen?« »Ah, fürwahr!« rief Peyrade aus. »Wer mir das Recht gibt? Das muß ich Ihnen sagen, schöne Aristokratin,« und damit zog er aus seiner Tasche einen Befehl aus dem Justizministerium, der 358
vom Minister des Innern gegengezeichnet war. »Da, Bürgerin, das haben die Minister auf ihre Kappe genommen...« »Wir könnten Sie fragen,« flüsterte Corentin ihr zu, »wer Ihnen das Recht gibt, die Mörder des Ersten Konsuls bei sich aufzunehmen? Sie haben mir einen Peitschenhieb auf die Finger gegeben, der mich ermächtigen könnte, eines Tages einen Schlag zu führen, um Ihre Herren Vettern ins Jenseits zu befördern, während ich sie retten wollte...« Bei der bloßen Bewegung seiner Lippen und dem Blick, den Laurence auf Corentin warf, begriff der Pfarrer, was der große unbekannte Künstler sagte, und er machte der Gräfin ein Zeichen des Mißtrauens, das nur Goulard bemerkte. Peyrade klopfte leicht auf den Boden der Schachtel, um festzustellen, ob er nicht doppelt war. »O Gott!« sagte Laurence zu Peyrade und riß ihm den Deckel fort, »zerbrechen Sie ihn nicht... Warten Sie.« Sie nahm eine Nadel und drückte auf den Kopf einer Figur, Die beiden Bretter sprangen durch den Druck einer Feder auf, und das eine, das hohl war, zeigte die beiden Miniaturbilder der Herren von Simeuse in der Uniform der Condeschen Armee, zwei in Deutschland auf Elfenbein gemalte Porträts. Corentin, der einen seines ganzen Zorns würdigen Gegner vor sich sah, zog Peyrade in eine Ecke und beriet sich leise mit ihm. »Das warfen Sie ins Feuer!« sagte der Abbé zu Laurence mit einem Blick auf den Brief der Marquise und die Haarlocken. Statt jeder Antwort zuckte das junge Mädchen bedeutungsvoll die Achseln. Der Pfarrer begriff, daß sie alles preisgab, um die Spione hinzuhalten und Zeit zu gewinnen, und er blickte in bewundernder Gebärde gen Himmel. 359
»Wo hat man denn Gotthard verhaftet, den ich weinen höre?« fragte sie ihn laut genug, um gehört zu werden. »Ich weiß nicht«, entgegnete der Pfarrer. »War er nach dem Pachthof geritten?« »Der Pachthof!« sagte Peyrade zu Corentin. »Wir wollen Leute hinschicken.« »Nein,« entgegnete Corentin, »dies Mädchen hätte das Heil ihrer Vettern keinem Pächter anvertraut. Sie hält uns zum besten ... Tun Sie, was ich Ihnen sage, damit wir nach dem Fehler, den wir durch unser Herkommen begingen, wenigstens einige Aufklärungen mit fortnehmen.« Corentin trat vor den Kamin, hob seine langen spitzen Rockschöße, um sich zu wärmen, und nahm die Miene, den Ton und das Benehmen eines Mannes an, der zu Besuch ist. »Meine Damen, Sie können zu Bette gehen, und Ihre Leute gleichfalls. Herr Bürgermeister, Ihre Dienste sind uns jetzt unnütz. Die Strenge unserer Befehle erlaubte uns nicht, anders zu handeln, als wir es getan haben, aber wenn alle Mauern, die mir recht dick scheinen, untersucht sind, gehen wir fort.« Der Bürgermeister grüßte die Gesellschaft und verschwand. Weder der Pfarrer noch Fräulein Goujet rührten sich. Die Leute waren zu besorgt, um das Schicksal ihrer jungen Herrin nicht zu verfolgen. Frau von Hauteserre, die Laurence seit ihrer Ankunft mit der Neugier einer verzweifelten Mutter beobachtete, stand auf, zog sie am Arme in eine Ecke und fragte sie: »Hast du sie gesehen?«
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»Wie hätte ich deine Söhne wohl unter unser Dach kommen lassen, ohne daß du es erfuhrest?« entgegnete Laurence. – »Durieu,« fuhr sie fort, »sehen Sie zu, ob meine arme Stella noch zu retten ist; sie atmet noch.« »Sie hat einen weiten Weg gemacht?« fragte Corentin. »Fünfzehn französische Meilen in drei Stunden«, antwortete sie dem Pfarrer, der sie verblüfft ansah. »Ich bin im halb zehn Uhr fortgeritten und erst nach ein Uhr zurückgekehrt.« Sie blickten auf die Stutzuhr, die halb drei zeigte. »Also,« fuhr Corentin fort, »leugnen Sie nicht, einen Ritt von fünfzehn Meilen gemacht zu haben?« »Nein«, sagte sie. »Ich gestehe, daß meine Vettern und die Herren von Hauteserre in ihrer völligen Unschuld den Antrag stellen wollten, von der Amnestie nicht ausgeschlossen zu werden, und daß sie auf dem Rückweg nach Cinq-Cygne waren. Als ich daher glauben konnte, Herr Malin wollte sie in einen Verrat verwickeln, bin ich ihnen entgegengeritten, um sie zu warnen, damit sie nach Deutschland zurückkehren. Sie werden dort sein, bevor der Telegraph von Troyes sie an der Grenze signalisiert hat. Habe ich ein Verbrechen begangen, so wird man mich bestrafen.« Diese wohlüberlegte Antwort Laurences, die in allen Teilen so wahrscheinlich klang, erschütterte Gorentins Überzeugungen. Laurence beobachtete ihn von der Seite. In diesem so entscheidenden Augenblick, als alle Seelen gleichsam an diesen beiden Gesichtern hingen, als alle Blicke von Corentin zu Laurence und von ihr zu Corentin schweiften, erscholl auf der Straße und vom Gitter zum Pflaster der Galopp eines aus dem Walde
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kommenden Pferdes. Furchtbare Angst malte sich auf allen Gesichtern. Peyrade trat freudestrahlend ein, ging eilig auf seinen Kollegen zu und sagte so laut, daß die Gräfin es hören konnte: »Wir haben Michu!« Laurence, der die Angst, die Ermüdung und die Anspannung all ihrer Geisteskräfte die Wangen gerötet hatte, erbleichte wieder und sank fast ohnmächtig, wie vom Blitze getroffen, in einen Lehnstuhl. Die Durieus, Fräulein Goujet und Frau von Hauteserre stürzten auf sie zu, denn sie rang nach Atem und gab durch eine Gebärde zu verstehen, daß man ihr die Schnüre ihres Reitkleides aufschneiden sollte. »Sie ist hereingefallen«, sagte Corentin zu Peyrade. »Sie sind auf dem Wege nach Paris! Ändern wir die Befehle!« Beide gingen hinaus und ließen einen Gendarmen an der Salontür. Die höllische Geschicklichkeit der beiden Männer hatte in diesem Zweikampf einen furchtbaren Sieg davongetragen, als Laurence in die Falle ihrer gewohnten Listen ging. Um sechs Uhr früh, bei Tagesanbruch, kehrten die beiden Agenten zurück. Nach Untersuchung des Hohlweges hatten sie sich vergewissert, daß die Pferde dort durchgekommen waren und den Weg nach dem Wald eingeschlagen hatten. Sie warteten den Bericht des Gendarmeriehauptmanns ab, der die Gegend auskundschaften sollte. Während sie das Schloß unter dem Befehl eines Brigadiers umstellt hielten, gingen sie in ein Wirtshaus in Cinq-Cygne zum Frühstück, gaben aber vorher Befehl zur Freilassung Gotthards, der auf alle Fragen stets mit Tränenströmen geantwortet, sowie Katharinas, die sich andau362
ernd still und unbeweglich verhalten hatte. Katharina und Gotthard kamen in den Salon und küßten Laurence die Hände. Die lag in dem Lehnsessel hingestreckt. Durieu erschien mit der Meldung, Stella ginge nicht ein, bedürfe aber großer Pflege. Der Bürgermeister, der unruhig und neugierig war, traf Peyrade und Corentin im Dorfe. Er wollte es nicht dulden, daß höhere Beamte in einem elenden Wirtshaus frühstückten, und nahm sie mit sich nach Hause. Die Abtei lag eine Viertelstunde entfernt. Unterwegs bemerkte Peyrade, daß der Brigadier von Arcis nichts über Michu und Violette gemeldet hatte. »Wir haben es mit begabten Leuten zu tun«, sagte Corentin. »Sie sind stärker als wir. Der Priester ist zweifellos daran beteiligt.« In diesem Augenblick, als Frau Goulard die beiden Beamten in ein großes kaltes Eßzimmer eintreten ließ, erschien der Gendarmerieleutnant mit ziemlich verstörter Miene. »Wir haben das Pferd des Brigadiers von Arcis im Walde gefunden, ohne seinen Reiter«, sagte er zu Peyrade. »Leutnant,« rief Corentin, »reiten Sie flugs nach Michus Pavillon und sehen Sie zu, was dort vorgeht! Der Brigadier wird erschossen sein.« Diese Meldung war dem Frühstück des Bürgermeisters abträglich. Die Pariser schlangen alles mit der Hast von Jägern herunter, die bei einer Rast essen, und kehrten in ihrem Korbwagen mit dem Postpferde zum Schlosse zurück, um rasch an jeden Punkt gelangen zu können, der ihre Anwesenheit erheischte. Als beide wieder in dem Salon erschienen, in dem sie Verwir363
rung, Schrecken, Schmerz und grausamste Angst angerichtet hatten, fanden sie Laurence im Morgenrock, den Edelmann und seine Frau, den Abbé Goujet und dessen Schwester in anscheinender Ruhe um das Feuer gruppiert. »Hätte man Michu gefangen genommen,« hatte Laurence sich gesagt, »so hätte man ihn hergeführt. Ich habe den Kummer, daß ich nicht Herrin meiner selbst geblieben bin, sondern in die Vermutungen dieser Elenden etwas Licht gebracht habe. Aber alles läßt sich wieder gutmachen. – Werden wir lange Ihre Gefangenen bleiben?« fragte sie die beiden Agenten mit spöttischer, unbefangener Miene. »Wie kann sie etwas von unserer Besorgnis um Michu wissen? Niemand ist von draußen ins Schloß gekommen. Sie verhöhnt uns!« sagten sich die beiden Spione mit einem Blick. »Wir werden Sie nicht mehr lange belästigen«, antwortete Corentin. »In drei Stunden werden wir uns entschuldigen, Ihre Einsamkeit gestört zu haben.« Niemand gab eine Antwort. Dies verächtliche Schweigen verdoppelte die innere Wut Corentins, auf dessen Kosten Laurence und der Pfarrer, die beiden Leuchten dieser kleinen Welt, sich lustig gemacht hatten. Gotthard und Katharina deckten am Kamin zum Frühstück, an dem der Pfarrer und seine Schwester teilnahmen. Weder Herrschaft noch Dienstboten beachteten im mindesten die beiden Spione, die im Garten, auf dem Hofe und auf dem Wege spazierengingen und von Zeit zu Zeit in den Salon zurückkehrten. Um halb drei kam der Leutnant wieder.
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»Ich habe den Brigadier gefunden«, sagte er zu Corentin. »Er lag auf dem Wege vom Pavillon von Cinq-Cygne zum Pachthof Beilache und trug keine andere Verletzung als eine schreckliche Quetschung am Kopfe, wahrscheinlich infolge seines Sturzes. Er wurde, sagt er, so schnell aus dem Sattel gehoben und so heftig nach rückwärts geschleudert, daß er sich nicht erklären kann, wie das zugegangen ist. Er hat die Steigbügel losgelassen, sonst wäre er tot, denn sein scheu gewordenes Pferd hätte ihn querfeldein geschleift. Wir haben ihn Michu und Violette anvertraut...« »Was! Michu ist in seinem Pavillon!« sagte Corentin und blickte Laurence an. Die Gräfin lächelte mit listigem Blick; das war ihre Frauenrache. »Ich sah ihn selbst, wie er dabei war, mit Violette einen Handel abzuschließen, der gestern abend begonnen hat,« entgegnete der Leutnant. »Violette und Michu schienen mir betrunken, aber das ist kein Wunder; sie haben die ganze Nacht gezecht und sind noch nicht handelseinig.« »Hat Ihnen Violette das gesagt?« rief Corentin. »Jawohl«, entgegnete der Leutnant. »Ach, man sollte alles selbst machen!« rief Peyrade mit einem Blick auf Corentin, der ebenso wie Peyrade dem Verstand des Leutnants mißtraute. Der junge Mann antwortete dem Alten durch ein Kopfnicken.
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»Wann sind Sie in Michus Pavillon angelangt?« fragte Corentin, als er bemerkte, daß Fräulein von Cinq-Cygne nach der Uhr auf dem Kamin blickte. »Gegen zwei Uhr«, antwortete der Leutnant. Laurence umspannte mit einem einzigen Blick das Ehepaar Hauteserre, den Abbé Goujet und dessen Schwester, die völlig im Dunkeln tappten. Siegesfreude strahlte aus ihren Augen; sie errötete und Tränen quöllen aus ihren Lidern. Dies junge Mädchen, das gegen das größte Unglück gewappnet war, konnte nur vor Freude weinen. In diesem Augenblick war sie erhaben, besonders in den Augen des Pfarrers, den ihr männlicher Charakter fast bekümmert hatte. Nun erkannte er ihre äußerst weibliche Zärtlichkeit; aber diese Empfindsamkeit lag bei ihr wie ein verborgener Schatz in unendlicher Tiefe unter einem Granitblock. Ein Gendarm kam mit der Frage, ob Michus Sohn vorgelassen werden solle. Der käme von seinem Vater, um mit den Herren aus Paris zu sprechen. Corentin winkte bejahend. Franz Michu, dieser schlaue junge Hund, der aus Rasseinstinkt jagte, stand im Hofe, wo der freigelassene Gotthard einen Augenblick unter den Augen des Gendarmen mit ihm sprechen durfte. Der kleine Michu richtete eine Bestellung aus und ließ dabei etwas in Gotthards Hand gleiten, ohne daß der Gendarm, es merkte. Gotthard schlich sich hinter Franz herein und gelangte bis zu Fräulein von Cinq-Cygne, um ihr in aller Harmlosigkeit den zweiten Teil ihres Ringes zu geben. Sie küßte ihn leidenschaftlich, denn sie begriff, daß Michu ihr mit der Zusendung sagte, daß die vier Edelleute geborgen seien. »Vater läßt fragen, wo er den Brigadier lassen soll, dem es gar nicht gut geht«, sagte er mit bäurischem Ausdruck. 366
»Was fehlt ihm?« fragte Peyrade. »Er hat Kopfweh. Er ist doch auch auf die Erde gefallen. Für einen Gendarm, der reiten kann, ist das Pech. Aber er ist aufgeprallt! Er hat ein Loch, oh, so groß wie 'ne Faust, hinten am Kopfe. Er hat scheinbar Unglück gehabt und ist auf einen bösen Stein gefallen. Armer Kerl! Wenn er auch Gendarm ist, er hat doch Schmerzen, daß es einem leid tut.« Der Gendarmeriehauptmann aus Troyes kam in den Hof geritten, saß ab und winkte Corentin zu. Als der ihn erkannte, stürzte er ans Fenster und riß es auf, um keine Zeit zu verlieren. »Was gibt es?« »Wir sind angeführt worden. Man hat fünf Pferde gefunden, die vor Erschöpfung gefallen sind, mit schweißbedecktem, gesträubtem Fell, mitten auf dem großen Waldwege. Ich lasse sie bewachen, um zu erfahren, woher sie kommen und wer sie geliefert hat. Der Wald ist umstellt; wer drin ist, kann nicht hinaus.« »Wann sind die Reiter nach Ihrer Meinung in den Wald gekommen?« »Um halb ein Uhr Nachts.« »Daß mir kein Hase aus dem Wald herauskommt, ohne daß man ihn sieht!« flüsterte Corentin ihm ins Ohr. »Ich lasse Ihnen Peyrade hier und gehe nach dem armen Brigadier sehen. – Bleibe beim Bürgermeister; ich werde dir einen geschickten Mann zur Ablösung senden«, sagte er dem Provenzalen ins Ohr. »Wir müssen die Leute aus der Gegend zu Hilfe nehmen; sieh dir alle Gesichter genau an.« 367
Dann wandte er sich zu der Gesellschaft und sagte in drohendem Tone: »Auf Wiedersehen!« Niemand grüßte die Agenten, als sie hinausgingen. »Was wird Fouché zu einer Haussuchung ohne Ergebnis sagen?« rief Peyrade aus, als er Corentin in den Korbwagen half. »Oh, die Sache ist noch nicht zu Ende«, sagte Corentin ihm ins Ohr. »Die Edelleute müssen im Walde sein.« Er wies auf Laurence, die sie durch die kleinen Scheiben der großen Salonfenster beobachtete. »Ich habe schon eine zur Strecke gebracht, die mindestens so viel wert war und die mir die Galle zu sehr erhitzt hat. Kommt sie mir wieder ins Gehege, so werde ich ihr den Peitschenhieb heimzahlen.« »Die andre war eine Dirne,« sagte Peyrade, »und die da hat eine Stellung ...« »Mache ich etwa Unterschiede? Alles, was schwimmt, ist Fisch!« sagte Corentin und winkte dem Gendarmen, der ihn fuhr, auf das Postpferd einzuschlagen. Nach zehn Minuten war das Schloß Cinq-Cygne ganz und gar geräumt. Laurence ließ Franz Michu sich setzen und gab ihm zu essen. »Wie seid Ihr den Brigadier losgeworden?« fragte sie ihn. »Meine Eltern haben mir gesagt, es ginge um Tod und Leben, und es dürfte niemand zu uns hinein. Da hörte ich Pferde im Walde kommen und merkte, daß ich es mit Hunden von Gen368
darmen zu tun hatte, und ich wollte verhindern, daß sie zu uns kamen. Ich holte dicke Stricke von unserm Boden und band sie an einen der Bäume, die am Anfang jedes Weges stehen. Dann spannte ich den Strick in Brusthöhe eines Reiters und schnürte ihn um den Baum gegenüber auf dem Wege, auf dem ich ein Pferd galoppieren hörte. Der Weg war gesperrt. Die Sache klappte. Der Mond schien nicht mehr, mein Brigadier flog zu Boden, war aber nicht tot. Einerlei, die Gendarmen sind nicht leicht tot zu kriegen. Man tut, was man kann.« »Du hast uns gerettet!« sagte Laurence und gab Franz einen Kuß. Dann geleitete sie ihn bis zum Gitter. Als sie dort niemand sah, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Haben sie zu essen?« »Ich habe ihnen eben ein Zwölf-Pfundbrot und eine Flasche Wein gebracht. Das reicht für sechs Tage.« Als das junge Mädchen in den Salon zurückkehrte, sah sie sich von den stummen Fragen des Herrn und der Frau von Hauteserre, des Abbé Goujet und seiner Schwester bestürmt. Alle blickten sie voller Bewunderung und Sorge an. »So hast du sie wiedergesehen?« stieß Frau von Hauteserre hervor. Die Gräfin legte lächelnd einen Finger auf die Lippen und ging in ihr Zimmer hinauf, um sich zu Bett zu legen. Der kürzeste Weg von Cing-Cygne nach Michus Pavillon führte vom Dorf nach dem Pachthofe und endete an dem Rondel, wo Michu tags zuvor die Spione erblickt hatte. Und so schlug auch der Gendarm, der Corentin fuhr, diesen Weg ein, auf dem der Brigadier von Arcis geritten war. Unterwegs fragte sich der Agent, auf welche Weise ein Gendarm wohl aus dem Sattel 369
gehoben werden könne. Er grollte sich selbst, daß er auf diesen wichtigen Punkt nur einen einzigen Mann geschickt hatte, und zog daraus eine Lehre für ein Handbuch der Polizei, das er zu seinem Gebrauch verfaßte. »Wenn man sich den Gendarmen vom Halse geschafft hat,« dachte er, »wird man es mit Violette ebenso gemacht haben. Auf den fünf gefallenen Pferden sind offenbar die vier Verschwörer und Michu aus der Gegend von Paris in den Wald zurückgeritten. – Hat Michu ein Pferd?« fragte er den Gendarmen, der zu der Brigade von Arcis gehörte. »Ach, und einen famosen Gaul,« antwortete der Gendarm, »ein Jagpferd aus den Ställen des vormaligen Marquis von Simeuse. Es ist zwar schon fünfzehnjährig, aber darum nicht minder gut. Michu reitet es zwanzig Meilen, und sein Fell ist noch trocken wie mein Hut. Oh, er pflegt es gut. Er hat schon Geld dafür abgelehnt.« »Wie sieht sein Pferd aus?« »Schwarzbraunes Fell, weiße Flecken über den Hufen, mager, ganz Sehnen wie ein arabisches Pferd.« »Hast du denn arabische Pferde gesehen?« »Ich bin vor Jahresfrist aus Ägypten zurückgekommen; da habe ich Mameluckenpferde geritten. Ich habe elf Jahre bei der Kavallerie gedient; ich bin mit dem General Steingel über den Rhein gegangen, von da nach Italien, und ich bin dem Ersten Konsul nach Ägypten gefolgt. Deshalb soll ich auch Brigadier werden.«
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»Wenn ich in Michus Pavillon bin, geh doch in den Stall, und wenn du seit elf Jahren mit Pferden zu tun hast, mußt du doch erkennen können, ob ein Pferd gelaufen ist.« »Halt, da ist unser Brigadier zu Boden geworfen worden«, sagte der Gendarm und wies auf die Stelle, wo der Weg in das Rondel einmündete. »Du wirst dem Hauptmann sagen, er soll mich in diesem Pavillon abholen. Wir werden zusammen nach Troyes fahren.« Corentin stieg aus und besichtigte ein paar Augenblicke die Stelle. Er sah sich die beiden einander gegenüberstehenden Ulmen an, wovon eine an der Parkmauer, die andre auf der Böschung des Rondels stand, die von dem Gemeindeweg durchschnitten wurde. Dann erblickte er etwas, was noch niemand entdeckt hatte, einen Uniformknopf im Staube des Weges, und hob ihn auf. Als er den Pavillon betrat, sah er Michu und Violette am Tisch in der Küche; sie stritten noch immer miteinander. Violette stand auf, begrüßte Corentin und bot ihm zu trinken an. »Danke... Ich möchte den Brigadier sehen«, sagte der junge Mann, der mit einem Blick erriet, daß Violette seit mehr als zwölf Stunden betrunken war. »Meine Frau pflegt ihn oben«, sagte Michu. »Nun, Brigadier, wie geht es Ihnen?« fragte Corentin, der die Treppe hinaufgeeilt war und den Gendarmen mit einer Kompresse auf dem Kopfe auf Frau Michus Bett fand. Sein Hut, Säbel und Lederzeug lagen auf einem Stuhl.
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Martha, die dem weiblichen Empfinden treu blieb und zudem nichts von dem Heldenstück ihres Sohnes wußte, pflegte den Brigadier mitsamt ihrer Mutter. »Wir warten auf Herrn Varlet, den Arzt aus Arcis«, sagte Frau Michu. »Gaucher ist fort, um ihn zu holen.« »Lassen Sie uns einen Augenblick allein«, sagte Corentin, ziemlich überrascht von diesem Schauspiel, das für die Unschuld der beiden Frauen zeugte. »Wie wurde Sie getroffen?« fragte er und blickte auf die Uniform. »An der Brust«, antwortete der Brigadier. »Lassen Sie mal Ihr Lederzeug sehen«, sagte Corentin. Auf der gelben, weißbesäumten Binde, die der sogenannten Nationalgendarmerie durch ein neues Gesetz verliehen war, das die geringsten Einzelheiten ihrer Uniform vorschrieb, befand sich ein Schild, ähnlich dem unsrer jetzigen Feldhüter, auf dem nach der Vorschrift des Gesetzes die eigenartigen Worte eingraviert waren: »Achtung vor den Personen und dem Eigentum!« Der Strick hatte notwendig das Lederzeug getroffen und es stark gequetscht. Corentin nahm den Rock und besah sich die Stelle, wo der auf der Straße gefundene Knopf fehlt«. »Wann hat man Sie aufgefunden?« fragte Corentin. »In der Morgendämmerung.« »Hat man Sie gleich heraufgebracht?« fragte Corentin, als er den Zustand des nicht aufgedeckten Bettes bemerkte. 372
»Jawohl.« »Wer hat Sie heraufgebracht?« »Die Frauen und der kleine Michu, der mich bewußtlos gefunden hat.« »Gut! Sie sind nicht zu Bett gegangen«, sagte sich Corentin. »Der Brigadier ist weder von einem Schuß getroffen, noch von einem Stockhieb, denn um ihn zu treffen, hätte sein Gegner in gleicher Höhe sein und zu Pferde sitzen müssen. Er kann also nur durch ein Hindernis auf seinem Wege aus dem Sattel gehoben worden sein. Ein Stück Holz? Unmöglich. Eine eiserne Kette? Die hätte Spuren hinterlassen. – Was haben Sie gefühlt?« fragte er den Brigadier laut und trat auf ihn zu, um ihn zu untersuchen. »Ich wurde so plötzlich hintenüber geworfen...« »Ihre Haut ist unter dem Kinn abgeschürft.« »Mir scheint«, antwortete der Brigadier, »als wäre mir ein Strick durchs Gesicht gefahren ...« »Ich hab's«, sagte Corentin. »Man hat zwischen zwei Bäumen einen Strick gespannt, um den Weg zu sperren.« »Das könnte wohl sein«, sagte der Brigadier. Corentin ging hinunter und trat in das Zimmer. »Nun, alter Lump, machen wir Schluß!« sagte Michu zu Violette und blickte den Spion an. »Hundertzwanzigtausend Franken fürs Ganze, und Sie sind Herr auf meinen Äckern. Ich werde Rentner.« 373
»Ich habe nur sechzigtausend, so wahr Gott lebt.« »Aber wenn ich Ihnen Frist für den Rest gebe... Da sitzen wir nun seit gestern hier und können nicht handelseinig werden ... Land von erster Güte!« »Das Land ist gut«, entgegnete Violette. »Wein her, Frau!« schrie Michu. »Habt Ihr denn noch nicht genug getrunken?« rief Marthas Mutter. »Das ist ja die vierzehnte Flasche seit gestern um neun Uhr ...« »Sie sind seit neun Uhr morgens hier?« fragte Corentin Violette. »Nein, entschuldigen Sie. Seit gestern abend hab' ich mich nicht vom Fleck gerührt und nichts dabei gewonnen. Je mehr er mir zu trinken gibt, um so mehr verlangt er mir ab.« »Wer bei einem Handel das Glas hebt, hebt auch den Preis«, sagte Corentin. Ein Dutzend leere Flaschen, die am Rande des Tisches standen, bezeugten die Worte des Alten. In diesem Augenblick winkte der Gendarm Corentin von draußen und flüsterte ihm auf der Schwelle zu: »Im Stall ist kein Pferd.« »Sie haben Ihren Jungen zu Pferde nach der Stadt geschickt«, sagte Corentin, als er zurückkam. »Er muß bald wieder da sein.«
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»Nein, Herr, er ist zu Fuß gegangen«, sagte Martha. »Na, und was haben Sie mit Ihrem Pferde gemacht?« »Ich hab es verliehen«, sagte Michu trocken. »Kommen Sie mal her, Sie frommer Mann,« gebot Corentin dem Verwalter, »ich habe Ihnen zwei Worte ins Ohr zu sagen.« Und er ging mit Michu hinaus. »Mit der Büchse, die Sie gestern um ein Uhr luden, wollten Sie den Staatsrat töten... Grevin, der Notar, hat Sie gesehen. Aber damit kann man Sie nicht fassen: da war viel Absicht und wenig Zeugen. Sie haben, ich weiß schon wie, Violette eingeschläfert, und Sie, Ihre Frau und Ihr Junge, haben die Nacht draußen verbracht, um Fräulein von Cinq-Cygne von unsrer Ankunft zu benachrichtigen und ihre Vettern zu retten, die Sie hierher gebracht haben, wohin, weiß ich noch nicht. Ihr Sohn oder Ihre Frau haben den Brigadier recht schlau zu Fall gebracht. Kurz, Sie haben uns geschlagen. Sie sind ein famoser Kerl. Aber damit ist noch nicht alles gesagt; das letzte Wort liegt nicht bei uns. Wollen Sie sich vergleichen? Ihre Herren werden dabei gewinnen.« »Kommen Sie mit; wir wollen miteinander reden, ohne daß man uns hört«, sagte Michu und führte den Spion in den Park bis zum Teich. Als Corentin das Wasser sah, blickte er Michu fest an. Der wollte ihn zweifellos mit Hilfe seiner Körperkraft in sieben Fuß Schlamm unter drei Fuß Wasser werfen. Michu antwortete mit einem nicht minder festen Blick. Es war genau so, als hätte
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eine schlaffe, kalte Boa einen der rotbraunen, wilden Jaguare Brasiliens herausgefordert. »Ich habe keinen Durst«, sagte der Stutzer und blieb am Rand der Wiese stehen, während er mit der Hand in seine Seitentasche griff, um seinen kleinen Dolch zu fassen. »Wir können uns nicht verstehen«, sagte Michu kalt. »Benehmen Sie sich klug, mein Lieber, die Justiz wird ein Auge auf Sie haben.« »Wenn sie nicht klarer sieht als Sie, ist jedermann in Gefahr«, sagte der Verwalter. »Sie lehnen ab?« fragte Corentin ausdrucksvoll. »Lieber will ich mir hundertmal den Hals abschneiden lassen, wenn man das einem Menschen hundertmal machen könnte, als mit einem Kerl wie du gemeinsame Sache machen!« Corentin stieg rasch wieder in den Wagen, nachdem er Michu, den Pavillon und den ihm nachbellenden Couraud mit einem Blicke gemessen hatte. Bei der Durchfahrt durch Troyes hinterließ er ein paar Befehle, dann kehrte er nach Paris zurück. Alle Gendarmeriebrigaden erhielten einen Auftrag und geheime Weisungen. Während der Monate Dezember, Januar und Februar wurde in den kleinsten Dörfern emsig und anhaltend nachgeforscht. Man horchte in allen Schenken. Corentin erfuhr drei wichtige Dinge: ein Pferd, dem Michus ähnlich, wurde in der Gegend von Lagny tot aufgefunden. Die fünf im Walde von Nodesme verscharrten Pferde waren für je fünfhundert Franken von Pächtern und Müllern an einen Mann verkauft worden, dessen Personenbeschreibung auf Michu paßte. Als 376
das Gesetz über die Hehler und Mitschuldigen von Georges veröffentlicht wurde, beschränkte Corentin seine Überwachung auf den Wald von Nodesme. Dann, als Moreau, die Royalisten und Pichegru verhaftet wurden, sah man keine fremden Gesichter mehr in der Gegend. Michu verlor damals seine Stellung; der Notar aus Arcis überbrachte ihm das Schreiben, worin der Staatsrat, der jetzt Senator geworden war, Grevin bat, die Abrechnung des Verwalters entgegenzunehmen und ihn zu entlassen. Binnen drei Tagen ließ Michu sich eine Entlassung in aller Form geben und wurde frei. Zur großen Verwunderung der Gegend zog er nach Cinq-Cygne, wo Laurence ihn zum Pächter aller Vorbehaltsgüter des Schlosses machte. Der Tag seiner Einsetzung traf schicksalsvoll mit der Hinrichtung des Herzogs von Enghien zusammen. Fast ganz Frankreich erfuhr gleichzeitig die Verhaftung, die Verurteilung und den Tod des Fürsten: eine furchtbare Vergeltung, die dem Prozeß gegen Polignac, Rivière und Moreau vorausging. Corentins Rache Einstweilen, bis der für Michu bestimmte Pachthof erbaut war, wohnte der falsche Judas in den Gesindewohnungen über den Ställen auf der Seite der berühmten Bresche. Michu verschaffte sich zwei Pferde, eins für sich, das andre für seinen Sohn, denn beide begleiteten jetzt Fräulein von Cinq-Cygne und Gotthard auf allen ihren Ritten, die, wie man sich denken kann, den Zweck hatten, die vier Edelleute zu ernähren und dafür zu sorgen, daß ihnen nichts abging. Franz und Gotthard, von Couraud und den Hunden der Gräfin unterstützt, kundschafteten die Umgegend des Versteckes aus und versicherten sich, ob niemand in der Nähe war. Laurence und Michu brachten ihnen die Speisen, die Martha, deren Mutter und Katharina zubereiteten, ohne daß die Dienstboten etwas merkten, so daß das Geheimnis ganz unter ihnen blieb, denn keiner von ihnen zweifelte, daß im 377
Dorfe Spione waren. Deshalb fand dies Unternehmen auch nur zweimal in der Woche und stets zu verschiedenen Stunden statt, bald bei Tage und bald bei Nacht. Diese Vorsichtsmaßregeln dauerten so lange wie der Prozeß gegen Rivière, Polignac und Moreau. Als der Senatsbeschluß, der die Familie Bonaparte zur Kaiserwürde berief und Napoleon zum Kaiser ernannte, dem französischen Volke zum Entscheid vorgelegt wurde, unterschrieb Herr von Hauteserre sich in der Liste, die Herr Goulard ihm vorlegte. Schließlich erfuhr man, daß der Papst Napoleon die Weihe geben würde. Seitdem war Fräulein von Cinq-Cygne nicht mehr dagegen, daß die beiden jungen Leute und ihre Vettern einen Antrag stellten, um von der Liste der Emigranten gestrichen zu werden und ihre bürgerlichen Rechte zurückzuerhalten. Der Biedermann reiste alsbald nach Paris und suchte dort den früheren Marquis von Chargeboeuf auf, der Herrn von Talleyrand kannte. Dieser Minister, der damals in Gunst stand, schickte die Bittschrift an Josephine, und diese gab sie ihrem Gatten, den man schon Kaiser, Majestät und Sire nannte, bevor das Ergebnis der Volksabstimmung bekannt war. Herr von Chargeboeuf, Herr von Hauteserre und der Abbé Goujet, der gleichfalls nach Paris kam, erhielten eine Audienz bei Talleyrand, und der Minister versprach seine Unterstützung. Schon hatte Napoleon die Haupturheber der großen, gegen ihn gerichteten royalistischen Verschwörung begnadigt; aber obwohl die vier Edelleute nur verdächtig waren, berief der Kaiser nach Verlassen einer Sitzung des Staatsrats doch den Senator Malin, Fouché, Talleyrand, Cambacérès, Lebrun und den Polizeipräfekten Lebrun in sein Kabinett. »Meine Herren,« sagte der künftige Kaiser, der noch seine Uniform als Erster Konsul trug, »wir haben von den Herren von Simeuse und von Hauteserre, Offizieren in der Armee des Prinzen von Condé, eine Bitte um Erlaubnis zur Rückkehr nach Frankreich erhalten.« 378
»Sie sind schon da«, sagte Fouche. »Wie tausend andre, denen ich in Paris begegne«, antwortete Talleyrand. »Ich glaube, diesen sind Sie nicht begegnet,« entgegnete Malin, »denn sie sind im Walde von Nodesme versteckt und fühlen sich dort zu Hause.« Er hütete sich wohl, dem Ersten Konsul und Fouché die Worte zu sagen, denen er das Leben verdankte, aber auf Corentins Berichte gestützt, überzeugte er den Rat von der Teilnahme der vier Edelleute an der Verschwörung Rivières und Polignacs und machte Michu zu ihrem Mitschuldigen. Der Polizeipräfekt bestätigte die Angaben des Senators. »Aber wie sollte dieser Verwalter erfahren haben, daß die Verschwörung entdeckt war, – in dem Augenblick, da allein der Kaiser, sein Rat und ich dies Geheimnis kannten?« fragte der Polizeipräfekt. Niemand achtete auf Dubois' Bemerkung. »Wenn sie in einem Walde versteckt sind und Sie sie seit sieben Monaten nicht gefunden haben,« sagte der Kaiser zu Fouché, »so haben sie ihr Unrecht genügend gebüßt!« »Es genügt,« versetzte Malin, von dem Scharfblick des Polizeipräfekten erschreckt, »daß sie meine Feinde sind, damit ich das Benehmen Eurer Majestät nachahme. Ich bitte also um ihre Streichung und mache mich bei Ihnen zu ihrem Fürsprecher.« »Sie werden Ihnen weniger gefährlich sein, wenn sie heimgekehrt sind, als wenn sie im Ausland bleiben, denn dann haben 379
sie den Eid auf die Reichsverfassung und auf die Gesetze geleistet«, sagte Fouché, Malin scharf anblickend. »Wieso bedrohen sie den Herrn Senator?« fragte Napoleon. Talleyrand sprach einige Minuten leise mit dem Kaiser. Die Streichung und die Wiedereinsetzung der Herren von Simeuse und von Hauteserre in ihre Rechte schien damit bewilligt. »Sire,« sagte Fouché, »Sie werden von diesen Leuten noch hören können.« Auf Bitten des Herzogs von Grandlieu hatte Talleyrand im Namen der Herren ihr Wort als Edelleute gegeben – ein Wort, das auf Napoleon stets verführerisch wirkte –, nichts gegen den Kaiser zu unternehmen und sich ohne Hintergedanken zu unterwerfen. »Die Herren von Hauteserre und von Simeuse wollen nach den letzten Ereignissen die Waffen nicht mehr gegen Frankreich tragen. Sie hegen wenig Sympathie für die kaiserliche Regierung und gehören zu den Leuten, die Eure Majestät erobern muß. Aber sie werden sich damit begnügen, auf französischem Boden zu leben und den Gesetzen zu gehorchen«, sagte der Minister. Dann legte er dem Kaiser einen Brief vor, den er erhalten hatte und in dem diese Gesinnung ausgedrückt war. »Etwas so Offnes muß ehrlich sein«, sagte der Kaiser mit einem Blick auf Lebrun und Cambacérès. »Haben Sie noch Einwendungen?« fragte er Fouché. »Im Interesse Eurer Majestät«, entgegnete der künftige Polizeiminister, »bitte ich um den Auftrag, den Herren ihre Strei-
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chung mitzuteilen, sobald sie endgültig bewilligt ist«, sagte er mit erhobener Stimme. »Gut«, sagte Napoleon, der in Fouchés Zügen Sorge las. Der Kleine Kronrat wurde aufgehoben, ohne daß die Sache erledigt schien; doch sein Ergebnis war, daß er in Napoleons Geist einen Zweifel über die vier Edelleute hinterließ. Herr von Hauteserre, der an den Erfolg glaubte, hatte diese gute Nachricht schon in einem Briefe mitgeteilt. Die Bewohner von Cinq-Cygne waren daher nicht erstaunt, als sie nach ein paar Tagen Goulard ankommen sahen, der Frau von Hauteserre und Laurence meldete, sie sollten die vier Edelleute nach Troyes schicken, wo ihnen der Präfekt die Verfügung ihrer Wiedereinsetzung in alle Rechte übergeben würde, sobald sie den Eid geleistet und sich den Gesetzen des Kaiserreichs unterworfen hätten. Laurence antwortete dem Bürgermeister, sie würde ihre Vettern und die Herren von Hauteserre davon benachrichtigen. »So sind sie nicht hier?« fragte Goulard. Frau von Hauteserre blickte das junge Mädchen bang an. Laurence ließ den Bürgermeister stehen und ging hinaus, um sich mit Michu zu beraten. Michu hatte gegen die sofortige Auslieferung der Emigranten nichts einzuwenden. Laurence, Michu, dessen Sohn und Gotthard ritten also in den Wald und nahmen ein lediges Pferd mit, denn die Gräfin sollte die vier Edelleute nach Troyes begleiten und mit ihnen zurückkehren. Alle, die diese gute Nachricht erfuhren, versammelten sich auf dem Wiesenplan, um dem Aufbruch des fröhlichen Zuges beizuwohnen. Die vier jungen Leute verließen ihr Versteck, stiegen ungesehen zu Pferde und schlugen in Begleitung von Fräulein von Cinq-Cygne den Weg nach Troyes ein. Michu schloß mit Hilfe seines Sohnes und Gotthards den Kerkereingang wieder 381
und kehrte dann mit ihnen zu Fuß zurück. Unterwegs fiel Michu ein, daß er die silbernen Bestecke und den silbernen Becher seiner Herren in dem Keller gelassen hatte, und kehrte allein um. Als er am Rande des Sumpfes ankam, hörte er Stimmen im Kerker und ging durch das Gestrüpp stracks auf den Eingang zu. »Sie wollen gewiß Ihr Silberzeug holen?« sagte Peyrade lächelnd und zeigte ihm durch das Blattwerk seine rote Nase. Ohne zu wissen, warum, denn die jungen Leute waren schließlich gerettet, fühlte Michu einen Schmerz in allen Gliedern; so lebhaft war bei ihm jene unbestimmte, unbestimmbare Befürchtung, die ein kommendes Unglück verursacht. Trotzdem trat er vor und fand Corentin auf der Treppe mit einem Wachsstock in der Hand. »Wir sind nicht boshaft«, sagte er zu Michu. »Wir hätten Eure verflossenen Edelleute schon seit einer Woche fassen können, aber wir wußten, daß sie gestrichen sind... Sie sind ein tüchtiger Kerl! Und Sie haben uns zuviel Scherereien gemacht, als daß wir nicht wenigstens unsre Neugier befriedigen wollten.« »Ich gäbe was drum,« rief Michu aus, »wenn ich wüßte, wie und von wem wir verkauft worden sind!« »Wenn das Ihre Neugier so reizt, mein Junge,« sagte Peyrade lächelnd, »so sehen Sie sich die Hufeisen Ihrer Pferde an, und Sie werden sehen, daß Sie sich selbst verraten haben.« »Ohne Groll«, sagte Corentin und winkte dem Gendarmeriehauptmann, mit den Pferden zu kommen.
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»Der elende Pariser Arbeiter, der die Pferde so gut auf englische Art beschlug und der Cinq-Cygne verlassen hat, war einer der Ihren!« rief Michu aus. »Sie brauchten nur bei feuchtem Wetter von einem Ihrer Leute, der als Holzfäller oder Wilderer verkleidet war, die Spuren unserer Pferde, die mit ein paar Krampen beschlagen waren, im Gelände aufsuchen und verfolgen zu lassen. Wir sind quitt.« Michu tröstete sich bald in dem Gedanken, daß die Entdeckung dieses Schlupfwinkels jetzt gefahrlos war, denn die Edelleute wurden ja wieder Franzosen und hatten ihre Freiheit erlangt. Und doch hatte er mit allen seinen Ahnungen recht. Die Polizei und die Jesuiten haben die Eigenschaft, daß sie weder ihre Feinde noch ihre Freunde je aufgeben. Der biedere Hauteserre kehrte aus Paris zurück und war ziemlich erstaunt, nicht der erste zu sein, der die gute Nachricht überbrachte. Durieu richtete das üppigste Mahl her. Die Leute zogen sich an, und mit Ungeduld erwartete man die Proskribierten, die gegen vier Uhr eintrafen, fröhlich und gedemütigt zugleich, denn sie standen für zwei Jahre unter Polizeiaufsicht, mußten jeden Monat in der Präfektur erscheinen und durften während dieser zwei Jahre die Gemeinde Cinq-Cygne nicht verlassen. »Ich werde Ihnen das Register zur Unterschrift schicken«, hatte der Präfekt zu ihnen gesagt. »Dann werden Sie nach ein paar Monaten die Aufhebung dieser Bedingungen beantragen, die übrigens allen Mitschuldigen Pichegrus auferlegt sind. Ich werde Ihren Antrag befürworten.« Diese ziemlich verdienten Beschränkungen betrübten die jungen Leute ein wenig. Laurence begann zu lachen.
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»Der Kaiser der Franzosen«, sagte sie, »hat eine ziemlich schlechte Erziehung. Er ist an das Begnadigen noch nicht gewöhnt.« Die Edelleute fanden alle Schloßbewohner am Gitter, und auf dem Wege einen guten Teil der Leute aus dem Dorfe, die gekommen waren, um die jungen Leute zu sehen, die durch ihre Abenteuer im ganzen Departement berühmt geworden waren. Frau von Hauteserre hielt ihre Söhne lange in den Armen; ihr Gesicht war mit Tränen bedeckt. Sie war keines Wortes mächtig und blieb einen Teil des Abends tief ergriffen, doch glücklich. Sobald die Zwillinge Simeuse sich zeigten und vom Pferde stiegen, erscholl ein allgemeiner Ruf der Überraschung ob ihrer erstaunlichen Ähnlichkeit: der gleiche Blick, die gleiche Stimme, das gleiche Gebaren. Beide machten genau dieselbe Bewegung, als sie sich zum Absitzen im Sattel hoben, das Bein über die Kruppe des Pferdes schlugen und die Zügel hinwarfen. Auch ihre völlig gleiche Kleidung trug dazu bei, sie zu wahren Menächmen zu machen. Sie trugen Suwarowstiefel, die über dem Spann fest anlagen, enge weiße Lederhosen, grüne Jagdwesten mit Metallknöpfen, schwarze Krawatten und Wildlederhandschuhe. Die beiden jungen Leute, damals einunddreißig Jahre alt, waren nach dem Ausdruck jener Zeit reizende Kavaliere. Sie waren mittelgroß, aber gut gebaut, hatten lebhafte, wie bei den Kindern feucht schwimmende Augen mit langen Wimpern, schwarzes Haar, eine schöne Stirn und weiße, ins Olivenfarbene spielende Haut. Ihre Reden, sanft wie Frauenworte, kamen anmutig von ihren roten Lippen. Ihr Benehmen war eleganter und höflicher als das des Provinzadels; man merkte, daß die Welt- und Menschenkenntnis ihnen jene zweite Erziehung gegeben hatte, die noch wertvoller ist als die erste, und die vollendete Männer macht. Dank Michu hatte es ihnen während ihrer Emigrantenzeit nicht an Geld gefehlt; sie hatten reisen können und waren an den fremden Höfen wohl 384
aufgenommen worden. Der alte Edelmann und der Abbé fanden sie ein wenig hochmütig, aber das war in ihrer Lage vielleicht die Wirkung eines schönen Charakters. Sie besaßen die hervorragenden kleinen Eigenschaften einer sorgfältigen Erziehung und entwickelten in allen Leibesübungen eine hervorragende Gewandtheit. Ihre einzige Unähnlichkeit, durch die man sie auseinanderhalten konnte, lag in ihrem Geiste. Der Jüngere bezauberte ebenso durch seinen Frohsinn, wie der Ältere durch seine Schwermut; aber dieser rein innere Gegensatz wurde erst nach langem vertrautem Umgang bemerkbar. »Ach, Kind,« sagte Michu seiner Frau ins Ohr, »wie soll man den beiden jungen Leuten da nicht ergeben sein?« Martha, die die Zwillinge als Frau wie als Mutter bewunderte, nickte ihrem Mann reizend zu und drückte ihm die Hand. Die Leute durften ihre neuen Herren umarmen. In den sieben Monaten der Zurückgezogenheit, zu denen die vier jungen Leute sich verurteilt hatten, begingen sie die ziemlich unerläßliche Unvorsichtigkeit, mehrmals auszureiten, allerdings unter dem Schutze von Michu, dessen Sohn und Gotthard. Während dieser Ritte in schönen hellen Nächten hatte Laurence, die die Gegenwart mit ihrem vergangenen gemeinsamen Leben verknüpfte, die Unmöglichkeit erkannt, zwischen beiden Brüdern zu wählen. Ihr Herz war in gleich starker und reiner Liebe zwischen den Zwillingen geteilt. Sie glaubte zwei Herzen zu haben. Die Jünglinge ihrerseits hatten noch nicht gewagt, miteinander von ihrer bevorstehenden Nebenbuhlerschaft zu sprechen. Vielleicht hatten alle drei es dem Zufall anheimgestellt. Die Geistesverfassung, in der Laurence sich befand, blieb zweifellos nicht ohne Wirkung, denn nach einem Augenblick sichtlichen Zögerns gab sie beiden Brüdern den Arm, um mit ihnen in den Salon zu gehen. Ihnen folgte das 385
Ehepaar Hauteserre, das seine Söhne führte und Fragen an sie stellte. In diesem Augenblick schrien alle Leute: »Es leben die Cinq-Cygnes und die Simeuses!« Laurence drehte sich zwischen den beiden Brüdern um und dankte mit reizender Gebärde. Als diese neun Menschen sich dann beobachteten, denn bei jedem Zusammenkommen, selbst im Familienkreis, tritt stets ein Augenblick ein, wo man sich nach langer Trennung beobachtet, schien es der Mutter und dem Abbé Goujet beim ersten Blick, den Adrien von Hauteserre auf Laurence warf, daß der junge Mann die Gräfin liebte. Adrien, der jüngere Hauteserre, besaß eine zärtliche, weiche Seele. Sein Herz war jung geblieben, trotz der Katastrophen, die ihn zum Manne gehärtet hatten. Darin glich er vielen Soldaten, bei denen die Seele durch die beständige Gefahr jungfräulich bleibt, und er fühlte sich von der holden Schüchternheit der Jugend bedrückt. Dadurch unterschied er sich sehr von seinem Bruder. Das war ein Mann von brutalem Aussehen, ein großer Jäger und furchtloser Soldat, voller Entschlußkraft, aber materiell und ohne geistige Regsamkeit, ohne Feingefühl in den Dingen des Herzens. Der eine war ganz Seele, der andere ganz Tat, doch besaßen beide in gleichem Maße das Ehrgefühl, das für das Edelmannsleben genügt. Adrien von Hauteserre war braun, klein, mager und dürr, hatte jedoch ein sehr kräftiges Aussehen, während sein hochgewachsener, blasser und blonder Bruder schwächlich erschien. Adrien war von nervösem Temperament und stark durch seine Seele; Robert, obwohl lymphatisch, gefiel sich darin, seine rein körperliche Kraft zu beweisen. Manche Familie weist solche Wunderlichkeiten auf, deren Ursachen fesselnd sein könnten; doch hier kann nur davon die Rede sein, um zu erklären, weshalb Adrien in seinem Bruder keinen Nebenbuh386
ler finden sollte. Robert hegte für Laurence verwandtschaftliche Zuneigung und die Achtung eines Adligen für ein junges Mädchen seines Standes. In Gefühlsdingen gehörte der ältere Hauteserre zu jenem Schlage von Männern, die die Frau als vom Manne abhängig ansehen, ihr Mutterrecht auf das rein Körperliche beschränken, jede Vollkommenheit von ihr verlangen, ihr aber keine anrechnen. Nach ihrer Ansicht ist die Anerkennung der Frau in der Gesellschaft, in der Politik, in der Familie ein sozialer Umsturz. Heute stehen wir dieser alten Auffassung der primitiven Völker so fern, daß fast alle Frauen daran Anstoß nehmen können, selbst die, welche die von den neuen Sekten gepredigte verderbliche Freiheit nicht wollen; aber Robert von Hauteserre hatte das Unglück, so zu denken. Er war ein Mensch aus dem Mittelalter, der Jüngere ein Mann der Gegenwart. Diese Unterschiede hatten die gegenseitige Zuneigung der Brüder nicht beeinträchtigt, sondern sie vielmehr noch enger geknüpft. Schon am ersten Abend wurden diese Nuancen von dem Pfarrer, von Fräulein Goujet und Frau von Hauteserre erfaßt und gewürdigt; während ihres Bostonspiels erkannten sie bereits Schwierigkeiten in der Zukunft. Mit dreiundzwanzig Jahren, nach dem Sinnen in der Einsamkeit und den Ängsten eines großen mißglückten Unternehmens, war Laurence wieder zum Weibe geworden und empfand ein grenzenloses Liebesbedürfnis; sie entfaltete alle Anmut ihres Geistes und war bezaubernd. Sie offenbarte die Reize ihrer Zärtlichkeit mit der Naivität eines fünfzehnjährigen Kindes. In diesen letzten dreizehn Jahren war Laurence nur im Leiden Frau gewesen; sie wollte sich entschädigen, und so zeigte sie sich ebenso liebevoll und kokett, wie sie bisher groß und stark gewesen war. Die vier alten Leutchen, die als letzte im Salon blieben, waren denn auch ziemlich beunruhigt über das neue Benehmen des reizenden Mädchens. Welche Gewalt mußte die Leidenschaft bei einem jungen Mädchen von diesem Charakter und diesem Adel haben! Die beiden Brüder liebten die gleiche 387
Frau mit gleich starker, blinder Zärtlichkeit. Welchen von beiden würde Laurence wählen? Einen wählen, hieß das nicht, den andern töten? Als Gräfin und Stammhalterin ihres Namens brachte sie ihrem Gatten einen Titel und schöne Vorrechte, eine lange Reihe erlauchter Ahnen zu; vielleicht würde der Marquis von Simeuse angesichts dieser Vorteile sich selbst opfern, damit Laurence seinen Bruder heiratete, der nach den alten Gesetzen arm und ohne Rang war. Aber würde der Jüngere seinem Bruder das große Glück rauben wollen, Laurence zur Frau zu erhalten? Aus der Ferne hätte dieser Liebeskampf wenig Unzuträgliches gehabt; zudem konnte der Zufall des Krieges die Schwierigkeit lösen, solange beide Brüder in Gefahren schwebten; aber was sollte nun aus ihrem Beisammensein entstehen? Wenn Maria Paul und Paul Maria, die beide das Alter erreicht hatten, da die Leidenschaften mit aller Gewalt wüten, sich in die Blicke, die Gebärden, die Aufmerksamkeiten und Worte ihrer Base teilten, würde da zwischen ihnen nicht eine Eifersucht entstehen, deren Folgen furchtbar sein konnten? Was sollte aus ihrem schönen gleichartigen und gemeinsamen Zwillingsdasein werden? Auf diese Mutmaßungen, die ein jeder bei der letzten Bostonpartie nach einander hinwarf, antwortete Frau von Hauteserre, sie glaubte nicht, daß Laurence einen ihrer Vettern heiraten würde. Die alte Dame hatte während des Abends eine jener unerklärlichen Vorahnungen gehabt, die ein Geheimnis zwischen den Müttern und Gott sind. Laurence war im Herzensgrunde nicht minder erschrocken, sich ihren Vettern gegenüber zu sehen. Auf das bewegte Drama der Verschwörung, auf die Gefahren, die beiden Brüdern drohten, auf das Elend ihrer Emigrantenzeit folgte ein Drama, an das sie nie gedacht hatte. Zu dem Gewaltmittel, keinen der beiden Zwillinge zu heiraten, konnte das edle Mädchen nicht greifen; sie war zu ehrbar, um sich zu verheiraten und im Herzensgrund eine unbezwingliche Leidenschaft zu bewahren. Unverheiratet zu bleiben, die beiden Vettern zu ermüden, in388
dem sie sich nicht entschied, und den zum Gatten zu nehmen, der ihr trotz ihrer Launen treu bleiben würde, das war eine weniger gesuchte als geahnte Entscheidung. Beim Einschlafen sagte sie sich, das Klügste sei, sich dem Zufall zu überlassen. Der Zufall ist ja in der Liebe die Vorsehung für die Frauen. Am nächsten Morgen reiste Michu nach Paris und kehrte nach ein paar Tagen mit vier schönen Pferden für seine neuen Herren zurück. In sechs Wochen sollte die Jagd aufgehen, und die junge Gräfin hatte weislich bedacht, daß die gewaltsamen Anstrengungen dieses Sports eine Abhilfe gegen die Schwierigkeiten des Beieinanderseins im Schlosse sein würden. Zunächst trat eine unerwartete Wirkung ein, welche die Zeugen dieser seltsamen Liebschaft überraschte und mit Bewunderung erfüllte. Ohne jede vorbedachte Verabredung wetteiferten beide Vettern bei ihrer Base in Fürsorge und Zärtlichkeit und fanden darin einen seelischen Genuß, der ihnen zu genügen schien. Sie lebten mit Laurence ebenso brüderlich wie unter einander. Nichts war natürlicher. Nach so langer Trennung empfanden sie das Bedürfnis, ihre Base gründlich kennen zu lernen und sich ihr ebenso beide bekannt zu machen, indem sie ihr das Recht der Wahl ließen. Unterstützt wurden sie bei dieser Prüfung von der gegenseitigen Zuneigung, die ihr Doppelleben zu einem einzigen Leben machte. Wie einst die Mutterliebe, konnte auch die Liebe zwischen beiden Brüdern keinen Unterschied machen. Um sie zu erkennen und sich nicht zu täuschen, mußte Laurence ihnen verschiedene Halsbinden geben, eine weiße dem älteren, eine schwarze dem jüngeren. Ohne diese völlige Ähnlichkeit, ohne diese Gleichheit des Lebens, die jedermann täuschte, erschiene eine solche Lage mit Recht unmöglich. Sie wird auch nur durch die Tatsache erklärlich, denn sie gehört zu denen, an die man nur glaubt, wenn man sie sieht; und hat man sie gesehen, so ist der Geist noch mehr in Verlegenheit, sie sich zu erklären, als sie zu glauben. Sprach Laurence, so hallte ihre Stimme in gleicher Weise in zwei gleich liebenden und treuen 389
Herzen wider. Drückte sie einen geistvollen, scherzhaften oder schönen Gedanken aus, so sah ihr Blick den Ausdruck des Vergnügens in zwei Blicken, die allen ihren Bewegungen folgten, sich ihre geringsten Wünsche deuteten und ihr stets mit neuem Ausdruck zulächelten, der eine heiter, der andre mit zärtlicher Schwermut. Wenn es sich um ihre Geliebte handelte, hatten beide Brüder jene wunderbaren raschen Eingebungen des Herzens, die mit den Taten im Einklang stehen, und die nach der Meinung des Abbé Goujet bis zum Erhabenen gingen. So geschah es oft, wenn etwas geholt werden sollte, wenn es sich um eine jener kleinen Aufmerksamkeiten handelte, die Männer einer geliebten Frau so gern erweisen, daß der ältere seinem Bruder das Vergnügen ließ, sie zu erfüllen, während er seiner Base einen rührenden und zugleich stolzen Blick zuwarf. Der jüngere setzte seinen Stolz darein, derartige Schulden zu bezahlen. Dieser Wettstreit des Edelsinns bei einer Empfindung, in der der Mann bis zur eifersüchtigen Wildheit des Tieres geht, verwirrte alle Begriffe der alten Leute, die ihm zusahen. Diese kleinen Einzelheiten lockten oft Tränen in die Augen der Gräfin. Eine einzige Empfindung, die aber bei gewissen begnadeten Wesen vielleicht ungeheuer ist, kann einen Begriff von Laurences Gefühlen geben; man wird sie begreifen, wenn man sich des völligen Zusammenklangs zweier schöner Stimmen, wie die der Sonntag und der Malibran, in einem harmonischen Duett erinnert, oder des völligen Zusammenklangs zweier Instrumente in den Händen genialer Spieler, deren melodische Töne wie die Seufzer eines einzigen leidenschaftlichen Wesens in die Seele dringen. Sah der Pfarrer bisweilen den Marquis von Simeuse, in einen Lehnstuhl gesunken, einen tiefen, schwermütigen Blick auf seinen Bruder richten, der mit Laurence plauderte und lachte, so hielt er ihn eines ungeheuren Opfers für fähig; aber bald fing er in seinen Augen den Blitz 390
der unbezwinglichen Leidenschaft auf. Sooft einer der Zwillinge sich mit Laurence allein sah, konnte er sich für ausschließlich geliebt halten. »Dann scheinen sie mir nur noch ein Wesen zu sein«, sagte die Gräfin zum Abbé Goujet, der sie nach dem Zustand ihres Herzens fragte. Der Priester erkannte an ihr nur den völligen Mangel an Gefallsucht. Laurence glaubte sich wirklich nicht von zwei Männern geliebt. »Aber, liebe Kleine,« sagte zu ihr eines Abends Frau von Hauteserre, deren Sohn in stiller Liebe zu Laurence dahinstarb, »du wirst doch wählen müssen!« »Laß uns glücklich sein«, entgegnete sie. »Gott wird uns vor uns selbst retten!« Adrien von Hauteserre verbarg im Herzensgrunde eine verzehrende Eifersucht und bewahrte das Geheimnis seiner Qualen für sich, denn er begriff, wie wenig Hoffnung er hatte. Er begnügte sich mit dem Glück, dies reizende Mädchen zu sehen, das in den paar Monaten, die dieser Kampf dauerte, in all ihrem Glanze strahlte. Seit Laurence kokett geworden war, verwandte sie nämlich all die Sorgfalt auf sich, die ein geliebtes Weib sich selbst angedeihen läßt. Sie machte die Moden mit und fuhr mehrmals nach Paris, um in Putz oder in irgendeiner Neuheit schöner zu erscheinen. Schließlich machte sie ihr Schloß trotz des lauten Geschreis ihres Vormunds zu dem allerbehaglichsten Wohnsitz in der ganzen Champagne, um ihren Vettern auch die geringsten Genüsse der Häuslichkeit zu verschaffen, die sie so lange entbehrt hatten. Von diesem stummen Drama begriff Robert von Hauteserre nichts. Er merkte nicht mal, daß sein Bruder in Laurence ver391
liebt war. Er neckte das junge Mädchen gern mit ihrer Koketterie, denn er verwechselte diesen abscheulichen Fehler mit dem Wunsche, zu gefallen. Aber so täuschte er sich in allem, was Empfindung, Geschmack oder höhere Bildung war. Und so machte denn auch Laurence, wenn der mittelalterliche Mensch in Szene trat, ihn alsbald, ohne daß er es merkte, zum »Einfältigen« im Drama. Sie belustigte ihre Vettern, indem sie mit Robert disputierte, und führte ihn Schritt für Schritt in die Sümpfe, in denen Dummheit und Unwissenheit versinken. Sie glänzte in jenen geistreichen Mystifikationen, deren Opfer glücklich bleiben muß, wenn sie vollkommen sein sollen. Aber so grob Roberts Wesen auch war, in dieser schönen Zeit, der einzigen glücklichen, die diese drei reizenden Menschen erleben sollten, trat er nie durch ein männliches Wort, das die Frage vielleicht entschieden hätte, zwischen die Simeuses und Laurence. Die Aufrichtigkeit der beiden Brüder machte ihm Eindruck. Zweifellos erriet Robert, wie sehr ein Weib davor zittern konnte, dem einen Zärtlichkeitsbeweise zu geben, die sie dem andern versagte oder die ihn gegrämt hätten; wie glücklich einer der Brüder über alles Gute war, das dem andern zuteil ward, und wie sehr er im Herzensgrunde darunter leiden mochte. Diese Achtung Roberts erklärt die Lage vortrefflich; in den glaubensstarken Zeiten, wo der Papst die Macht hatte, den gordischen Knoten solcher seltenen Erscheinungen zu durchschneiden, die an die undurchdringlichsten Geheimnisse stoßen, hätte sie gewiß Vorrechte erlangt. Die Revolution hatte diese Herzen im katholischen Glauben gestählt, und so machte die Religion die Krise noch furchtbarer, denn die Größe der Charaktere erhöht die Größe der Situationen. Und so erwartete auch weder Herr noch Frau von Hauteserre noch der Pfarrer und dessen Schwester irgend etwas Gewöhnliches von den beiden Brüdern oder von Laurence.
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Dies Drama, das im Rahmen der Familie geheimnisvoll eingeschlossen blieb, wo jeder es schweigend beobachtete, verlief so rasch und zugleich so langsam, brachte so viele unverhoffte Freuden, kleine Kämpfe, enttäuschte Wünsche, gestürzte Hoffnungen, grausame Erwartungen, Verschiebungen der Aussprache auf den nächsten Tag und stumme Erklärungen mit sich, daß die Bewohner von Cinq-Cygne die Kaiserkrönung Napoleons gar nicht beachteten. Diese Leidenschaften schlossen übrigens einen Waffenstillstand, indem sie gewaltsame Ablenkung in dem Jagdvergnügen suchten, das den Körper überanstrengt und dadurch der Seele die Gelegenheit raubt, in den so gefährlichen Steppen der Träumerei umherzustreifen. Weder Laurence noch ihre Vettern dachten an die Welthändel, denn jeder Tag hatte ein pochendes Interesse. »Wahrhaftig,« sagte Fräulein Goujet eines Abends, »ich weiß nicht, wer von allen diesen Liebenden am meisten liebt!« Adrien war mit den vier Bostonspielern allein im Salon; er blickte sie an und wurde bleich. Seit ein paar Tagen hing er am Leben nur noch durch das Vergnügen, Laurence zu sehen und sie sprechen zu hören. »Ich glaube«, sagte der Pfarrer, »die Gräfin liebt als Frau mit mehr Hingabe.« Gleich darauf kehrte Laurence mit den beiden Brüdern und Robert zurück. Die Zeitungen waren eben eingetroffen. England, das die Unwirksamkeit der Verschwörungen im Innern sah, waffnete Europa gegen Frankreich. Der Schicksalsschlag von Trafalgar hatte einen der außerordentlichsten Pläne vernichtet, die der Menschengeist je ersonnen hat, und durch den der Kaiser Frankreich seine Gegengabe für seine Wahl mit dem Untergang der englischen Macht dargebracht hätte. In diesem Augenblick war das Lager von Boulogne aufgehoben. Napole393
on, dessen Soldaten wie stets zahlenmäßig unterlegen waren, wollte Europa auf Schlachtfeldern entgegentreten, auf denen er noch nicht erschienen war. Die ganze Welt war auf den Ausgang dieses Feldzuges gespannt. »Oh, diesmal wird er unterliegen«, meinte Robert, als er die Zeitung zu Ende gelesen hatte. »Er hat alle Kräfte Österreichs und Rußlands auf dem Halse«, sagte Maria Paul. »Er hat nie in Deutschland Krieg geführt«, setzte Paul Maria hinzu. »Von wem redet Ihr da?« fragte Laurence. »Vom Kaiser«, entgegneten die drei Edelleute. Laurence warf ihren beiden Liebhabern einen verächtlichen Blick zu, der sie demütigte, aber Adrien entzückte. Der Verachtete machte eine bewundernde Gebärde, und sein stolzer Blick sagte zur Genüge, daß er an weiter nichts dachte als an Laurence. »Sie sehen, die Liebe hat ihn seinen Haß vergessen lassen«, flüsterte der Abbé Goujet. Das war der erste und letzte, der einzige Vorwurf, der die zwei Brüder traf, aber in diesem Augenblick waren sie ihrer Base in der Liebe unterlegen. Zwei Monate darauf erfuhr sie den erstaunlichen Triumph von Austerlitz nur durch das Gespräch des biederen Hauteserre mit seinen zwei Söhnen. Seinem Plane getreu, wollte der Greis, daß seine Kinder um Dienst im Heere baten; zweifellos würde man sie in ihrem Dienstgrade verwen394
den, und sie konnten noch eine schöne militärische Laufbahn haben. Die Partei des reinen Royalismus war in Cinq-Cygne die stärkere geworden. Die vier Edelleute und Laurence spotteten über den vorsichtigen Greis, der Unheil in der Zukunft zu wittern schien. Vorsicht ist vielleicht weniger eine Tugend als die Betätigung eines geistigen Sinnes. Nach dem Friedensschluß zwischen Frankreich und Österreich, gegen Ende Februar 1806, kam ein Verwandter, der sich bei dem Antrag auf Streichung für die Herren von Simeuse verwendet hatte und der ihnen auch später große Beweise von Anhänglichkeit geben sollte, der frühere Marquis von Chargeboeuf, dessen Besitzungen sich vom Departement Seine-etMarne bis ins Departement Aube erstreckten, von seinem Landgut nach Cinq-Cygne, und zwar in einer Art von Kalesche, die man zum Spott eine Halbberline nannte. Als das armselige Gefährt über das Pflasterstück fuhr, platzten die Schloßbewohner, die beim Frühstück waren, heraus. Als sie aber den Kahlkopf des Greises erkannten, der zwischen den beiden ledernen Vorhängen des Wagens her vorsah, nannte Herr von Chargeboeuf seinen Namen, und alle erhoben sich, um dem Haupt der Familie von Chargeboeuf entgegenzugehen. »Es war unrecht von uns, daß wir ihn uns zuvorkommen ließen«, sagte der Marquis von Simeuse zu seinem Bruder und den Hauteserres. »Wir hätten ihn aufsuchen und uns bei ihm bedanken müssen.« Ein als Bauer gekleideter Diener, der von einem Sitz auf dem Wagenkasten kutschierte, steckte eine Fuhrmannspeitsche in einen Halter aus grobem Leder und half dem Marquis beim Aussteigen. Aber Adrien und der jüngere Simeuse kamen ihm zuvor, öffneten die Wagentür, die an Messingknöpfen festgemacht war, und halfen dem Biedermann trotz seines Ein395
spruchs heraus. Der Marquis bildete sich ein, daß seine gelbe Halbberline mit den Ledervorhängen ein ausgezeichneter und bequemer Wagen war. Der Diener spannte bereits mit Gotthards Hilfe die beiden braven dicken Gäule mit den glänzenden Kruppen aus, die zweifellos ebenso oft zu landwirtschaftlichen Arbeiten wie als Wagenpferde benutzt wurden. »Trotz der Kälte? Aber Sie sind ein Ritter aus alten Tagen!« sagte Laurence zu ihrem alten Verwandten, indem sie seinen Arm ergriff und ihn in den Salon führte. »Es ist nicht Ihre Sache, einen alten Kerl wie mich zu besuchen«, sagte er fein mit einem versteckten Vorwurf für seine jungen Verwandten. »Warum kommt er?« fragte sich der alte Herr von Hauteserre. Herr von Chargeboeuf war ein schöner Greis von siebzig Jahren mit gebrechlichen Beinchen, die in gemusterten Strümpfen steckten. Er trug eine helle Kniehose, einen Haarbeutel, Puder und »Taubenflügel«, einen Jagdrock aus grünem Tuch mit goldnen Knöpfen und Verschnürungen, darunter eine weiße Weste mit riesiger blinkender Goldstickerei. Dieser unter den alten Leuten damals noch übliche Aufputz paßte gut zu seinem Gesicht, das dem des großen Friedrich ziemlich ähnlich sah. Nie setzte er seinen Dreispitz auf, um nicht die Wirkung des Halbmondes zu zerstören, den eine Puderschicht auf seinen Schädel beschrieb. Mit der Rechten stützte er sich auf einen Stock mit schnabelförmiger Krücke, wobei er Stock und Hut mit einer Ludwigs XIV. würdigen Geste zusammenhielt. Der würdige Greis entledigte sich eines gesteppten seidenen Überrocks und ließ sich in einen Lehnstuhl sinken, indem er Dreispitz und Hut zwischen den Beinen behielt. Diese Pose, deren Geheimnis stets nur den Lebemännern am Hofe Ludwigs XV. 396
vertraut war, ließ die Hände frei, so daß sie mit der Tabaksdose, einem stets kostbaren Schmuckstück, spielen konnten. Und so zog der Marquis denn auch eine reiche Tabaksdose aus der Tasche seiner Weste, die mit einem mit Goldarabesken bestickten Schutzstreifen abschloß. Während er sich anschickte, eine Prise zu nehmen, und mit einer zweiten reizenden Geste, die er mit freundlichen Blicken begleitete, im Kreise herum Tabak anbot; bemerkte er, welches Vergnügen sein Besuch bereitete. Nun schien er zu begreifen, warum die jungen Emigranten ihre Pflicht ihm gegenüber verabsäumt hatten. Er schien sich zu sagen: »Wenn man den Hof macht, macht man keine Besuche.« »Wir können Sie doch ein paar Tage hier behalten?« fragte Laurence. »Unmöglich«, entgegnete er. »Wären wir nicht so durch die Ereignisse getrennt gewesen, denn Sie haben größere Entfernungen durchmessen als die, welche uns von einander trennen, so wüßten Sie, liebes Kind, daß ich Töchter, Schwiegertöchter und Enkelkinder habe. Die ganze Gesellschaft wäre besorgt, wenn sie mich heute abend nicht sähe, und ich habe achtzehn (französische) Meilen zu fahren!« »Sie haben recht gute Pferde«, versetzte der Marquis von Simeuse. »Oh, ich komme von Troyes, wo ich gestern Geschäfte hatte.« Nach den obligaten Fragen über die Familie, die Marquise von Chargeboeuf und all die tatsächlich gleichgültigen Dinge, an denen die Höflichkeit lebhaften Anteil zu nehmen gebietet, dünkte es Herrn von Hauteserre, als sei Herr von Chargeboeuf gekommen, um seine jungen Verwandten vor jeder Unvorsich397
tigkeit zu warnen. Wie der alte Marquis sagte, hatten die Zeiten sich sehr geändert, und niemand konnte mehr sagen, wozu der Kaiser es noch bringen würde. »Oh,« sagte Laurence, »er wird zum Gott werden.« Der gute Greis sprach von Konzessionen, die man machen müsse. Als Herr von Hauteserre die Notwendigkeit, sich zu unterwerfen, betonen hörte, und zwar mit weit mehr Bestimmtheit und Nachdruck, als er selbst bei allen seinen Lehren anzuwenden pflegte, blickte er seine Söhne fast flehentlich an. »Würden Sie diesem Manne dienen?« fragte der Marquis von Simeuse den Marquis von Chargeboeuf. »Gewiß, wenn das im Interesse meiner Familie läge.« Schließlich ließ der Greis in unbestimmter Weise ferne Gefahren durchblicken; als Laurence ihn aufforderte, sich deutlicher zu erklären, riet er den vier Edelleuten, nicht mehr zu jagen und sich still zu Hause zu halten. »Sie sehen das Gebiet von Gondreville noch immer als Ihr Eigentum an,« sagte er zu den Herren von Simeuse; »damit entfachen Sie furchtbaren Haß. An Ihrem Erstaunen sehe ich, daß Sie nicht wissen, daß in Troyes, wo man noch Ihres Mutes gedenkt, Übelwollen gegen Sie besteht. Jedermann erzählt unverblümt, wie Sie den Nachforschungen der Polizei des Kaiserreiches entgangen sind; die einen loben Sie dafür, die andern sehen Sie als Feinde des Kaisers an. Einige Parteigänger wundern sich über Napoleons Milde gegen Sie. Das ist noch nichts. Sie haben Leute zum besten gehabt, die sich für schlauer als Sie hielten; Niedriggestellte verzeihen nie. Früher oder später wird die Justiz, die in Ihrem Departement von Ihrem Feinde, dem Senator Malin, ausgeht, denn er hat überall seine Kreatu398
ren angebracht, selbst in den ministeriellen Beamtenstellen – seine Justiz wird also sehr froh sein, Sie in eine schlimme Geschichte verwickelt zu sehen. Ein Bauer wird mit Ihnen Streit anfangen, wenn Sie auf seinen Feldern sind. Sie haben geladene Waffen, sind lebhaft, und ein Unglück ist bald geschehen. In Ihrer Lage muß man hundertmal recht haben, um nicht unrecht zu kriegen. Ich rede nicht ohne Grund so mit Ihnen. Die Polizei überwacht noch immer den Kreis, in dem Sie sich befinden, und hält in dem Nest Arcis einen Kommissar, bloß um den kaiserlichen Senator vor Ihren Anschlägen zu schützen. Er hat Angst vor Ihnen und sagt es.« »Aber er verleumdet uns!« rief der jüngere Simeuse. »Er verleumdet Sie! Das will ich glauben ... Aber was glaubt das Publikum? Darauf kommt es an. Michu hat den Senator aufs Korn genommen, und der hat es nicht vergessen. Seit Ihrer Rückkehr hat die Gräfin Michu zu sich genommen. Für viele Leute und für die Mehrheit des Publikums hat Malin also recht. Sie wissen nicht, wie heikel die Lage der Emigranten denen gegenüber ist, die im Besitz ihrer Güter sind. Der Präfekt, ein geistvoller Mann, hat mir gestern ein paar Worte über Sie gesagt, die mich beunruhigt haben. Kurz, ich möchte, Sie wären nicht hier.« Diese Antwort wurde mit tiefer Bestürzung vernommen. Maria Paul schellte heftig. »Gotthard,« sagte er, als der kleine Bursche erschien, »holen Sie Michu.« Der frühere Verwalter von Gondreville ließ nicht auf sich warten.
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»Michu, mein Freund,« fragte der Marquis von Simeuse, »ist es wahr, daß du Malin totschießen wolltest?« »Ja, Herr Marquis, und wenn er wiederkommt, werd' ich ihm auflauern ...« »Weißt du, daß man uns im Verdacht hat, wir hätten dich dazu angestiftet? Daß unsere Base, weil sie dich zum Pächter genommen hat, beschuldigt wird, deinen Plan zu teilen?« »Gütiger Himmel!« rief Michu aus, »bin ich denn verflucht? Kann ich Sie denn nie in Ruhe von Malin befreien?« »Nein, mein Junge, nein«, entgegnete Paul Maria. »Aber du wirst die Gegend und unsern Dienst verlassen müssen; wir werden für dich sorgen und dich in die Lage setzen, dein Hab und Gut zu vermehren. Verkaufe, was du hier besitzt, mach dein Eigentum zu Gelde. Wir werden dich nach Triest zu einem unsrer Freunde schicken, der weite Beziehungen hat und dich sehr nutzbringend beschäftigen wird, bis die Dinge hier für uns alle besser stehen.« Tränen traten in Michus Augen, und er blieb wie angenagelt auf dem Parkettstück stehen, auf dem er sich befand. »Waren Zeugen da, als du dich in den Hinterhalt legtest, um Malin totzuschießen?« fragte der Marquis von Chargeboeuf. »Grévin, der Notar, sprach mit ihm. Das hat mich gehindert, auf ihn zu schießen, und das war ein Glück! Die Frau Gräfin weiß, warum«, sagte Michu und blickte seine Herrin an.
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»Dieser Grévin ist nicht der einzige, der es weiß?« fragte Herr von Chargeboeuf, dem dies Verhör, wenn auch in der Familie, unangenehm schien. »Der Spion, der damals kam, um meine Herren einzuwickeln, wußte es auch«, entgegnete Michu. Herr von Chargeboeuf erhob sich, wie um in die Gärten hinauszusehen, und sagte: »Aber Sie haben Cinq-Cygne wirklich recht hochgebracht!« ... Dann ging er hinaus, gefolgt von den beiden Brüdern und von Laurence, die den Sinn dieses Verhörs errieten. »Sie sind freimütig und hochherzig, aber stets unvorsichtig«, sagte der Greis zu ihnen. »Daß ich Sie von einem öffentlichen Gerücht in Kenntnis setze, das eine Verleumdung sein muß, ist höchst natürlich, aber da machen Sie nun für schwache Menschen, wie Herrn und Frau von Hauteserre und ihre Söhne, eine Wahrheit daraus ... Oh, ihr jungen Leute! Ihr jungen Leute! ... Sie sollten Michu hier lassen und selbst fortgehen! Jedenfalls aber, wenn Sie in dieser Gegend bleiben, schreiben Sie dem Senator ein Wort über Michu. Schreiben Sie ihm, Sie hätten durch mich von den Gerüchten gehört, die über Ihren Pächter umliefen, und hätten ihn entlassen.« »Wir!« riefen die beiden Brüder, »an Malin schreiben, an den Mörder unsrer Eltern, den schamlosen Räuber unsres Vermögens!« »Das ist alles richtig, aber er gehört zu den Hauptpersonen am kaiserlichen Hofe und ist König der Aube.«
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»Er, der für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hat, falls die Armee Condés nach Frankreich eindringen sollte, andernfalls für ewige Haft!« sagte die Gräfin von Cinq-Cygne. »Er, der vielleicht den Tod des Herzogs von Enghien angeraten hat!« rief Paul Maria aus. »Je nun, wenn Sie alle seine Adelstitel aufzählen wollen,« rief der Marquis aus, »er, der Robespierre am Rockschoß gezogen hat, um ihn zu Fall zu bringen, als er sah, daß die, welche sich zu seinem Sturze erhoben, in der Mehrzahl waren; er, der Bonaparte hätte erschießen lassen, wenn der Staatsstreich vom 18. Brumaire mißlungen wäre; er, der die Bourbonen zurückführen würde, wenn Napoleon wankte, er, den der Stärkere stets auf seiner Seite finden wird, um ihm das Schwert oder die Pistole zu geben, mit denen man einem Gegner, der Befürchtungen erregt, den Garaus macht!... Aber das ist nur ein Grund mehr!« »Wir sinken recht tief!« sagte Laurence. »Kinder,« sagte der alte Marquis von Chargeboeuf, indem er alle drei bei der Hand nahm und sie abseits nach einer der Wiesen führte, die damals mit einer leichten Schneeschicht bedeckt waren, Sie werden böse werden, wenn Sie die Ratschläge eines verständigen Mannes hören, aber ich bin sie Ihnen schuldig, und ich täte folgendes: Ich nähme zum Vermittler einen alten Biedermann, zum Beispiel mich, und beauftragte ihn, Malin gegen Anerkennung des Verkaufs von Gondreville eine Million abzufordern... Oh! er würde einwilligen und die Sache geheimhalten. Sie hätten dann beim jetzigen Zinsfuß der Staatspapiere hunderttausend Franken Jahresrente und könnten sich in irgendeinem andern Winkel Frankreichs ein schönes Landgut kaufen. Sie ließen Cinq-Cygne durch Herrn von Hauteserre verwalten und losten darum, wer von Ihnen beiden der 402
Gatte dieser schönen Erbin sein soll. Aber die Rede eines Greises klingt den jungen Leuten ebenso ins Ohr wie die Rede junger Leute den Greisen: es ist ein Geräusch, dessen Sinn einem entgeht.« Der alte Marquis gab seinen drei Verwandten einen Wink, daß er keine Antwort wünschte, und kehrte in den Salon zurück, in dem während seiner Abwesenheit der Abbé Goujet mit seiner Schwester erschienen war. Der Vorschlag, über die Hand ihrer Base zu losen, hatte die beiden Simeuses empört, und Laurence fühlte sich von der bitteren Arznei angeekelt, die ihr Verwandter ihr anriet. Und so waren denn alle drei weniger freundlich gegen den Greis, ohne es an Höflichkeit fehlen zu lassen. Die Herzlichkeit war gestört. Herr von Chargeboeuf merkte diese Kälte und warf mehrmals mitleidige Blicke auf diese drei reizenden Menschen. Obgleich die Unterhaltung allgemein wurde, kam er auf die Notwendigkeit zurück, sich den Ereignissen zu fügen, und lobte Herrn von Hauteserre für seinen beharrlichen Wunsch, daß seine Söhne Dienste nahmen. »Bonaparte«, sagte er, »ernennt Herzöge. Er hat kaiserliche Lehen geschaffen; er wird Grafen ernennen. Malin möchte Graf von Gondreville werden. Das ist ein Gedanke,« setzte er mit einem Blick auf die Herren von Simeuse hinzu, »der Ihnen Nutzen bringen kann.« »Oder Unheil«, bemerkte Laurence. Sobald seine Pferde angespannt waren, brach der Marquis auf, und alle gaben ihm das Geleit. Als er im Wagen saß, winkte er Laurence zu sich heran, und leicht wie ein Vogel sprang sie auf das Trittbrett.
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»Sie sind keine Durchschnittsfrau, und Sie sollten mich verstehen«, sagte er ihr ins Ohr. »Malin hat zuviel Gewissensbisse, um Sie in Frieden zu lassen; er wird Ihnen irgendeine Falle stellen. Wenigstens achten Sie auf alle Ihre Handlungen, auch auf die geringsten! Kurz, vergleichen Sie sich, das ist mein letztes Wort.« Die beiden Brüder blieben neben ihrer Base mitten auf der Wiese stehen und blickten starr dem Wagen nach, der um das Gitter herumbog und auf dem Wege nach Troyes davonfuhr; denn Laurence hatte ihnen das letzte Wort des Biedermanns wiederholt. Die Erfahrung wird stets unrecht haben, wenn sie sich in einer Halbberline, in gemusterten Strümpfen und mit einem Haarbeutel im Nacken zeigt. Keins dieser jungen Herzen konnte die Wandlung begreifen, die sich in Frankreich vollzog. Entrüstung zitterte in ihren Nerven, und in aller Adern kochte ihr adliges Blut und ihr Ehrgefühl. »Das Haupt der Chargeboeufs!« sagte der Marquis von Simeuse, »ein Mann, der die Devise hat: Adsit fortior! Es komme ein Stärkerer! einen der schönsten Kriegsrufe...« »Er ist zum Boeuf (Ochsen) geworden«, sagte Laurence bitter. »Wir sind nicht mehr in der Zeit Ludwigs des Heiligen!« versetzte der jüngere Simeuse. »Singend sterben!« rief die Gräfin. »Dieser Ruf der fünf Jungfrauen, die unser Haus begründeten, soll auch der meine sein.« »Ist der unsre nicht: Hier stirb! Also Pardon wird nicht gegeben!« fuhr der ältere Simeuse fort. Denn recht bedacht, müssen wir finden, daß unser Verwandter Le Boeuf das, was er uns
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eben sagte, gründlich wiedergekäut hat. Gondreville als Name eines Malin!« »Als Wohnsitz!« rief der Jüngere aus. »Der große Mansard hat den Bau für den Adel entworfen, und das Volk sollte darin nisten!« sagte der Ältere. »Wenn das geschähe, so sähe ich Gondreville lieber in Flammen aufgehen!« rief Fräulein von Cinq-Cygne aus. Ein Mann aus dem Dorfe, der ein Kalb besichtigen kam, das der biedere Hauteserre ihm verkaufen wollte, hörte diesen Satz beim Verlassen des Stalles. »Wir wollen hineingehen«, sagte Laurence lächelnd. »Fast hätten wir eine Unvorsichtigkeit begangen und dem Boeuf (Ochsen) aus Anlaß eines Kalbes recht gegeben.« »Mein armer Michu,« sagte sie, als sie den Salon betraten, »ich hatte deinen Streich schon vergessen. Aber wir stehen in der Gegend nicht im Geruch der Heiligkeit; also stelle uns nicht bloß. Hast du dir sonst noch irgendeine kleine Sünde vorzuwerfen?« »Ich werfe mir vor, daß ich den Mörder meiner alten Herrschaft nicht getötet habe, bevor ich der neuen zu Hilfe kam.« »Michu!« rief der Pfarrer aus. »Aber ich werde die Gegend nicht verlassen,« fuhr er fort, ohne auf den Ausruf des Pfarrers zu achten, »bevor ich nicht weiß, daß Sie in Sicherheit sind. Ich sehe Burschen umherstreifen, die mir gar nicht gefallen. Als wir das letztemal im Walde 405
jagten, kam der sogenannte Verwalter, der mich in Gondreville abgelöst hat, auf mich zu und fragte mich, ob wir da auf unserm Grund und Boden wären, »0h, mein Junge,« sagte ich zu ihm, »es ist schwer, sich in zwei Monaten Dinge abzugewöhnen, die man seit zweihundert Jahren getrieben hat.« »Du hast unrecht, Michu«, sagte der Marquis von Simeuse, vor Vergnügen schmunzelnd. »Was gab er zur Antwort?« fragte Herr von Hauteserre. »Er sagte,« entgegnete Michu, »er würde den Senator über unsere Ansprüche in Kenntnis setzen.« »Graf von Gondreville!« rief der ältere Hauteserre aus. »Ha, was für eine Maskerade! Allerdings sagt man zu Bonaparte ›Euer Majestät‹ ...« »Und ›Euer Hoheit‹ zum Herrn Großherzog von Berg«, versetzte der Pfarrer. »Wer ist denn das?« fragte Herr von Simeuse. »Murat, Napoleons Schwager«, entgegnete der alte Hauteserre. »Gut!« versetzte Fräulein von Cinq-Cygne. »Sagt man auch zu der Witwe des Marquis von Beauharnais ›Euer Majestät‹?« »Ja, gnädiges Fräulein«, sagte der Pfarrer. »Wir sollten nach Paris fahren und uns das alles ansehen!« rief Laurence aus.
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»Ach, gnädiges Fräulein,« sagte Michu, »ich bin nach Paris gefahren, um Franz aufs Gymnasium zu bringen. Ich kann Ihnen schwören, mit der sogenannten kaiserlichen Garde ist nicht zu spaßen. Ist die ganze Armee so, dann kann die Sache uns überdauern.« »Man spricht von adligen Familien, die Dienste nehmen«, sagte Herr von Hauteserre. »Und nach den jetzigen Gesetzen«, sagte der Pfarrer, »werden Ihre Kinder zum Dienen gezwungen werden. Das Gesetz kennt weder Stand noch Namen mehr.« »Der Mann schadet uns mit seinem Hofe mehr als die Revolution mit ihrem Beil!« rief Laurence aus. »Die Kirche betet für ihn«, versetzte der Pfarrer. Diese Schlag auf Schlag gesprochenen Worte waren ebenso viele Kommentare zu den weisen Worten des alten Marquis von Chargeboeuf, aber die jungen Leute besaßen zuviel Gesinnung und Ehre, um einen Vergleich anzunehmen. Sie sagten sich auch, wie zu allen Zeiten die besiegten Parteien, daß das Glück der siegreichen Partei ein Ende nehmen würde, daß der Kaiser sich nur auf das Heer stützte, daß die tatsächliche Macht früher oder später dem Recht unterliege usw. Trotz aller Warnungen fielen sie in die vor ihnen gegrabene Grube, die vorsichtige und gelehrige Leute, wie der biedere Hauteserre, vermieden hätten. Wenn die Menschen ehrlich sein wollten, so würden sie vielleicht erkennen, daß das Unglück nie über sie hereingebrochen ist, ohne daß sie eine offene oder verborgene Warnung erhalten haben. Viele haben den tiefen Sinn dieser geheimnisvollen oder sichtbaren Warnung erst nach dem Unglück erkannt.
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»Auf jeden Fall weiß die Frau Gräfin, daß ich das Land nicht verlassen kann, ohne Rechnung abgelegt zu haben«, flüsterte Michu Fräulein von Cinq-Cygne zu. Statt jeder Antwort machte sie dem Pächter ein Zeichen des Einverständnisses, und er ging fort, Michu verkaufte sofort seine Ländereien an Beauvisage, den Pächter von Beilache, konnte aber vor drei Wochen keine Zahlung erhalten. Es war also ein Monat nach dem Besuch des Marquis, als Laurence ihren beiden Vettern, die sie von dem Vorhandensein ihres Vermögens in Kenntnis gesetzt hatte, den Vorschlag machte, zu Mittfasten die im Walde vergrabene Million zu heben. Die starken Schneefälle hatten Michu bisher am Ausgraben des Schatzes verhindert, aber er wollte dies Geschäft lieber mit seinem Herrn ausführen. Michu wollte durchaus die Gegend verlassen, er fürchtete sich vor sich selbst. »Malin ist plötzlich in Gondreville eingetroffen, warum, ist unbekannt«, sagte er zu seiner Herrin. »Ich könnte der Versuchung nicht widerstehen, Gondreville durch den Tod seines Besitzers zum Verkauf zu bringen. Ich halte mich für schuldig, wenn ich meinen Eingebungen nicht folge!« »Aus welchem Grunde mag er Paris mitten im Winter verlassen?« »Ganz Arcis spricht davon«, entgegnete Michu. »Er hat seine Familie in Paris gelassen; nur sein Kammerdiener ist mitgekommen. Herr Grévin, der Notar aus Arcis, Frau Marion, die Gattin des Hauptsteuereinnehmers der Aube und Schwägerin des Marion, der Malin seinen Namen geliehen hat, leisten ihm Gesellschaft.«
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Laurence hielt Mittfasten für einen sehr geeigneten Tag, denn an ihm konnte man sich der Leute entledigen. Das Maskentreiben lockte die Bauern in die Stadt, und kein Mensch war auf den Feldern. Aber gerade die Wahl des Tages diente dem Verhängnis, das man in so vielen Kriminalsachen antrifft. Der Zufall machte seine Berechnungen ebenso geschickt wie Fräulein von Cinq-Cygne die ihren. Da Herr und Frau von Hauteserre in größte Besorgnis geraten mußten, wenn sie elfhunderttausend Franken in Gold in einem Schloß am Waldrande verborgen wußten, so meinten selbst ihre Söhne, als man sie um Rat fragte, daß man ihnen nichts sagen sollte. Das Geheimnis des Unternehmens blieb also auf Gotthard, Michu, die vier Edelleute und Laurence beschränkt. Nach vielen Berechnungen schien es möglich, achtundvierzigtausend Franken in einem langen Sack auf die Kruppe jedes Pferdes zu laden. Drei Ritte würden genügen. Vorsichtshalber ward vereinbart, alle Leute, deren Neugier gefährlich sein konnte, nach Troyes zu schicken, um sich dort die Lustbarkeiten der Mittfasten anzusehen. Katharina, Martha und Durieu, auf die man zählen konnte, sollten das Schloß bewachen. Die Leute waren froh über diese Erlaubnis und zogen vor Tag ab. Gotthard, von Michu unterstützt, putzte und sattelte die Pferde frühmorgens. Der Reitertrupp schlug den Weg durch die Schloßgärten ein, und von da ging es in den Wald. In dem Augenblick, als alle aufsaßen, denn das Parktor war so niedrig, daß jeder zu Fuß durch den Park ging und sein Pferd am Zügel führte, kam der alte Beauvisage, der Pächter von Bellache, vorbei. »Halt!« rief Gotthard, »da ist jemand ...« »Oh, ich bin es«, sagte der ehrliche Pächter und trat vor. »Guten Morgen, meine Herren. Sie gehen also trotz der Erlasse der Präfektur auf die Jagd? Ich werde mich darüber nicht beschwe-
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ren, aber sehen Sie sich vor! Wenn Sie Freunde haben, so haben Sie auch viele Feinde ...« »Oh,« entgegnete lächelnd der dicke Hauteserre, »Gott gebe, daß unsre Jagd glückt, und daß du deine Herrschaft wiederfindest.« Diese Worte, denen die Ereignisse einen ganz andern Sinn gaben, trugen Robert einen strengen Blick Laurences ein. Der ältere Simeuse glaubte, Malin würde das Gut Gondreville gegen eine Entschädigung zurückgeben. Diese Kinder wollten das Gegenteil dessen tun, was der Marquis von Chargeboeuf ihnen angeraten hatte. Robert, der ihre Hoffnungen teilte, dachte hieran, als er seine verhängnisvolle Äußerung tat. »Auf jeden Fall sei still, Alterchen!« sagte Michu zu Beauvisage und zog als letzter den Torschlüssel ab. Es war einer jener schönen Tage am Ende des März, da die Luft und Erde trocken sind, der Himmel klar ist und die Luftwärme in einem gewissen Gegensatz zu den noch unbelaubten Bäumen steht. Das Wetter war so mild, daß das Auge auf den Feldern hier und da grüne Flecken erkannte. »Wir ziehen aus, einen Schatz zu holen, während du, Base, der wahre Schatz unseres Hauses bist!« sagte der ältere Simeuse lachend. Laurence ritt voran, rechts und links von ihren beiden Vettern begleitet; ihnen folgten die beiden Hauteserres, und Michu ritt hinterdrein. Gotthard war voraus, um den Weg aufzuklären. »Da unser Vermögen sich wiederfinden wird, wenigstens teilweise, so heirate doch meinen Bruder«, flüsterte der Jüngere 410
ihr zu. »Er betet dich an; ihr werdet dann so reich sein, wie es die Adligen heute sein müssen.« »Nein, laß ihm das ganze Vermögen, und ich heirate dich. Ich bin reich genug für zwei«, entgegnete sie. »So sei es!« rief der Marquis von Simeuse aus. »Ich verlasse euch und suche mir eine Frau, die wert ist, deine Schwester zu sein.« »So liebst du mich weniger, als ich glaubte?« entgegnete Laurence und blickte ihn mit eifersüchtigem Ausdruck an. »Nein! Ich liebe euch beide mehr, als Ihr mich liebt!« erwiderte der Marquis. »So würdest du dich opfern?« fragte Laurence den älteren Simeuse und ihr Blick gab ihm in diesem Augenblick den Vorzug. Der Marquis schwieg. »Wohlan, ich dächte dann nur an dich, und das wäre unerträglich für meinen Gatten«, versetzte Laurence, bei der dies Schweigen eine Regung der Ungeduld hervorrief. »Wie sollte ich ohne dich leben!« rief der Jüngere mit einem Blick auf seinen Bruder aus. »Aber du kannst uns doch nicht beide heiraten«, sagte der Marquis. »Und«, fuhr er in dem schroffen Tone eines bis ins Herz getroffenen Mannes fort, »es wird Zeit, sich zu entscheiden!«
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Er trieb sein Pferd an, damit die beiden Hauteserres nichts hörten. Seines Bruders und Laurences Pferde ahmten diese Bewegung nach. Als sie einen angemessenen Abstand zwischen sich und den drei anderen hatten, wollte Laurence sprechen, aber zuerst waren die Tränen ihre einzige Sprache. »Ich will in ein Kloster gehen«, sagte sie schließlich. »Und du willst die Cinq-Cygnes aussterben lassen?« sagte der jüngere Simeuse. »Und statt einem, der sich in sein Unglück fügt, willst du zwei unglücklich machen! Nein, der, welcher nur dein Bruder sein wird, wird sich darein ergeben. Als wir erfuhren, daß wir nicht so arm sind, wie wir glaubten, haben wir uns auseinandergesetzt«, sagte er mit einem Blick auf den Marquis. »Bin ich der Bevorzugte, so gehört unser ganzes Vermögen meinem Bruder. Bin ich der Unglückliche, so gibt er es mir, ebenso die Titel der Simeuse, denn er wird dann ja ein Cinq-Cygne! Jedenfalls hat der, der nicht glücklich wird, die Möglichkeit, sich standesgemäß zu verheiraten. Fühlt er, daß er vor Kummer stirbt, so wird er im Heere den Tod suchen, um die Ehe nicht zu trüben!« »Wir sind echte Ritter des Mittelalters, wir sind unserer Väter würdig!« rief der Ältere aus. »Sprich, Laurence!« »So kann es nicht weitergehen«, versetzte der Jüngere. »Glaube nicht, Laurence, daß die Hingebung nicht süß sei«, sprach der Ältere. »Geliebte Freunde,« entgegnete sie, »ich bin außerstande, mich zu entscheiden. Ich liebe euch beide, als wäret ihr nur ein We412
sen, liebe euch, wie eure Mutter euch liebte. Gott wird uns helfen. Ich werde nicht wählen. Wir wollen es dem Zufall anheimgeben. Ich mache nur eine Bedingung.« »Welche?« »Daß der, welcher mein Bruder wird, bei mir bleibt, bis ich ihm erlaube, mich zu verlassen. Ich allein will entscheiden, wann eine Trennung angezeigt ist.« »Ja«, sagten beide Brüder, ohne die Absicht ihrer Base zu verstehen. »Der erste von euch, den Frau von Hauteserre heute abend nach dem Tischgebet anredet, soll mein Gatte sein. Aber keiner von euch soll eine List gebrauchen und sie zu einer Frage veranlassen.« »Wir werden ein ehrliches Spiel spielen«, sagte der Jüngere. Beide Brüder küßten Laurence die Hand. Die Gewißheit einer Lösung, die jeder für günstig halten konnte, stimmte beide Zwillinge äußerst fröhlich. »Jedenfalls, liebe Laurence,« versetzte der Ältere, »wirst du einen zum Grafen von Cinq-Cygne machen.« »Und wir spielen darum, wer kein Simeuse bleiben soll«, sagte der Jüngere. »Ich glaube jetzt, das gnädige Fräulein wird nicht mehr lange ledig bleiben«, sagte Michu hinter den beiden Hauteserres. »Meine Herren sind sehr aufgeräumt. Wenn meine Herrin ihre
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Wahl trifft, gehe ich nicht fort. Ich will die Hochzeit mitmachen!« Die beiden Hauteserres gaben keine Antwort. Eine Elster flog plötzlich zwischen den Hauteserres und Michu auf, der wie alle ursprünglichen Menschen abergläubisch war und Totenglocken zu hören glaubte. Der Tag begann also heiter für die Liebenden, die selten Elstern sehen, wenn sie im Walde beisammen sind. Michu erkundete mit seinem Plan in der Hand die Stellen. Jeder Edelmann hatte sich mit einem Spaten versehen, und das Geld wurde gefunden. Der Teil des Waldes, worin es vergraben lag, war einsam, fern von jedem Verkehr und jeder Wohnstätte, und so begegnete die goldbeladene Karawane keinem Menschen. Das war ein Unglück. Als man Cinq-Cygne verließ, um die letzten zweihunderttausend Franken zu holen, schlug man, vom Erfolge kühn gemacht, einen kürzeren Weg ein als bei den ersten Ritten. Dieser Weg führte über eine Anhöhe, von der man den Park von Gondreville sah. »Feuer!« rief Laurence, als sie eine bläuliche Flammensäule sah. Das ist irgendein Freudenfeuer«, entgegnete Michu. Laurence, die die kleinsten Waldpfade kannte, verließ den Trupp, gab ihrem Pferde die Sporen und ritt bis zum Pavillon von Cinq-Cygne, Michus früherer Wohnung. Obwohl der Pavillon verlassen und geschlossen war, stand das Gitter offen und die Hufspuren mehrerer Pferde fielen Laurence auf. Die Rauchsäule erhob sich aus einer Wiese des englischen Parks; wie sie annahm, wurde dort Gras verbrannt.
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»Ach, Sie sind auch dabei, Fräulein!« rief Violette, der auf seinem Klepper in vollem Galopp aus dem Park kam und vor Laurence halt machte. »Aber es ist nur ein Karnevalsstreich, nicht wahr? Man wird ihn nicht töten?« »Wen denn?« »Ihre Vettern wollen nicht seinen Tod?« »Wessen Tod?« »Den des Senators.« »Du bist toll, Violette!« »Nun, was machen sie denn da?« fragte er. Bei dem Gedanken, daß ihren Vettern Gefahr drohte, gab die unerschrockene Reiterin ihrem Pferde die Sporen und erreichte den Schauplatz, als die Säcke gerade gefüllt wurden. »Vorwärts! Ich weiß nicht, was vorgeht, aber zurück nach Cinq-Cygne!« Während die Edelleute mit dem Transport des von dem alten Marquis geretteten Vermögens beschäftigt waren, spielte sich auf Schloß Gondreville eine seltsame Szene ab. Um zwei Uhr nachmittags saß der Senator mit seinem Freund Grévin in dem großen Saal im Erdgeschoß vor dem Feuer und spielte Schach. Frau Grévin und Frau Marion plauderten in der Kaminecke auf einem Sofa. Alle Leute des Schlosses waren fortgegangen, um sich einen seltsamen Maskenzug anzusehen, der seit lange im 415
Kreis Arcis angekündigt war. Die Familie des Verwalters, der im Pavillon von Cinq-Cygne an Michus Stelle getreten war, hatte sich gleichfalls dorthin begeben. Der Kammerdiener des Senators und Violette waren allein im Schloß. Der Pförtner, zwei Gärtner und deren Frauen waren auf ihrem Posten; aber ihr Häuschen lag am Eingang der Höfe, am Ende der Allee nach Arcis, und bei dem Abstand zwischen diesem Nebengebäude und dem Schloß konnte man dort selbst einen Gewehrschuß nicht hören. Zudem standen die Leute auf ihrer Schwelle und blickten nach Arcis aus, das nur eine halbe Stunde entfernt liegt, in der Hoffnung, den Maskenzug ankommen zu sehen. Violette wartete in einem großen Vorzimmer auf den Augenblick, da der Senator und Grévin ihn empfangen würden, um über die Verlängerung seiner Pacht zu verhandeln. In diesem Augenblick stürzten fünf maskierte und behandschuhte Männer, die in Wuchs, Benehmen und Haltung den Herren von Hauteserre, von Simeuse und Michu glichen, sich auf den Kammerdiener und Violette, steckten ihnen ein Taschentuch als Knebel in den Mund und banden sie in einer Vorratskammer an Stühle. Trotz der Geschwindigkeit der Angreifer stießen der Kammerdiener und Violette doch einen Schrei aus, der in dem Salon gehört ward. Die beiden Frauen glaubten, es sei ein Warnruf. »Horch,« sagte Frau Grévin, »da sind Diebe ...« »Bah, das ist ein Fastnachtsschrei!« versetzte Grévin. »Wir bekommen die Masken aufs Schloß.« Diese Erörterung gab den fünf Unbekannten Zeit, die Tore nach dem Ehrenhof zu schließen und den Kammerdiener und Violette einzusperren. Die ziemlich eigensinnige Frau Grévin wollte durchaus die Ursache des Lärms erfahren; sie stand auf 416
und geriet unter die fünf Masken, die sie ebenso behandelten wie Violette und den Kammerdiener. Dann drangen sie gewaltsam in den Salon ein, wo die beiden Stärksten sich des Grafen von Gondreville bemächtigten, ihn knebelten und ihn durch den Park fortschleppten, während die drei anderen Frau Marion und den Notar gleichfalls knebelten und jeden auf einen Lehnstuhl festbanden. Die Ausführung dieses Anschlages nahm nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch. Die drei Unbekannten, zu denen bald die anderen stießen, die den Senator weggeschleppt hatten, durchsuchten das Schloß vom Keller bis zum Boden, öffneten alle Schränke, ohne einen Dietrich zu gebrauchen, beklopften die Wände und blieben bis fünf Uhr abends die Herren. In diesem Augenblick hatte der Kammerdiener mit seinen Zähnen die Stricke durchgenagt, mit denen Violettes Hände gefesselt waren, und Violette, der sich seines Knebels entledigte, begann um Hilfe zu schreien. Als die fünf Unbekannten diese Schreie hörten, liefen sie in die Gärten, sprangen auf Pferde, die denen von Cinq-Cygne ähnlich sahen, und machten sich davon, aber nicht schnell genug, daß Violette sie nicht sehen konnte. Nachdem er den Kammerdiener losgebunden hatte, der seinerseits die Frauen und den Notar befreite, bestieg Violette seinen Klepper und verfolgte die Missetäter. Als er am Pavillon ankam, war er ebenso verblüfft, die beiden Flügel des Gittertors offen zu finden, wie Fräulein von CinqCygne dort postiert zu sehen. Als die junge Gräfin verschwunden war, ritt Grevin hinter Violette her, begleitet vom Feldhüter der Gemeinde Gondreville, dem der Pförtner ein Pferd aus den Schloßställen gegeben hatte. Die Pförtnersfrau war nach Arcis gelaufen, um die Gendarmerie zu benachrichtigen. Sofort erzählte Violette Herrn Grévin seine Begegnung mit Laurence und die Flucht des verwegenen jungen Mädchens, deren tiefen, entschlossenen Charakter beide kannten. 417
»Sie stand Posten«, sagte Violette. »Ist's möglich, daß die Adligen von Cinq-Cygne den Streich ausgeführt haben?« rief Grévin aus. »Wie!« entgegnete Violette, »haben Sie den dicken Michu nicht erkannt? Er hat sich auf uns geworfen! Ich habe seinen Griff wohl gespürt. Zudem waren die fünf Pferde die von CinqCygne.« Als der Notar die Hufspuren auf dem Sande des Rondels und im Park erblickte, ließ er den Feldhüter zur Beobachtung am Gitter, damit die kostbaren Hufspuren erhalten blieben, und schickte Violette zum Friedensrichter nach Arcis, damit er den Tatbestand feststellte. Dann kehrte er schleunigst in den Salon des Schlosses Gondreville zurück, wo der Leutnant und der Unterleutnant der Kaiserlichen Gendarmerie soeben eintrafen, von vier Leuten und einem Brigadier begleitet. Dieser Leutnant war, wie man sich denken kann, der Brigadier, dem Franz vor zwei Jahren ein Loch im Kopf beigebracht hatte und der damals durch Corentin erfahren hatte, wer sein boshafter Gegner war. Dieser Mann namens Giguet, dessen Bruder Soldat war und einer der besten Artillerieobersten wurde, zeichnete sich durch seine Fähigkeit als Gendarmerieoffizier aus. Später befehligte er die Schwadron der Aube. Der Unterleutnant Welff hatte seinerzeit Corentin von Cinq-Cygne nach dem Pavillon und von da nach Troyes gefahren. Unterwegs hatte der Pariser den Ägyptenkämpfer hinreichend über das aufgeklärt, was er die Durchtriebenheit von Laurence und Michu nannte. Diese beiden Offiziere mußten also großen Eifer gegen die Bewohner von Cinq-Cygne zeigen und taten es auch. Malin und Grevin hatten beide für einander an dem sogenannten Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV mitgearbeitet, dem Gesetzgebungswerk des sogenannten Nationalkonvents, das vom Direktorium ver418
öffentlicht worden war. Somit konnte Grévin, der diese Gesetzgebung gründlich kannte, in dieser Sache mit furchtbarer Schnelligkeit vorgehen, allerdings unter der fast zur Gewißheit gewordenen Voraussetzung, daß Michu, die Herren von Hauteserre und von Simeuse schuldig waren. Außer ein paar alten Richtern entsinnt sich heute kein Mensch mehr der Einrichtung dieser Rechtsprechung, die Napoleon gerade damals durch die Veröffentlichung seiner Gesetzbücher und die Einsetzung seines Richterstandes umstieß, wie er heute in Frankreich herrscht. Das Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV behielt dem Direktor der Jury des Departements die unmittelbare Strafverfolgung des auf Gondreville begangenen Vergehens vor. Man bemerke nebenbei, daß der Konvent das Wort Verbrechen aus der Rechtssprache gestrichen hatte. Er erkannte nur Vergehen gegen das Gesetz an, die mit Geldstrafen, Gefängnis, Ehrenoder Leibesstrafen bedacht waren. Der Tod war eine Leibesstrafe. Jedoch sollte die Todesstrafe im Frieden aufgehoben und durch vierundzwanzig Jahre Zwangsarbeit ersetzt werden. Somit hielt der Konvent vierundzwanzig Jahre Zwangsarbeit der Todesstrafe für gleichwertig. Was soll man von einem Strafgesetzbuch sagen, das lebenslängliche Zwangsarbeit verhängt? Die damals von Napoleons Staatsrat ausgearbeitete Gerichtsverfassung hob das Richteramt des Direktors der Jury auf, das in der Tat eine ungeheure Macht verlieh. Bezüglich der Strafverfolgung und der Erhebung der Anklage war der Direktor der Jury gewissermaßen Kriminalpolizist, Staatsanwalt, Untersuchungsrichter und Gerichtshof in einer Person. Sein Strafverfahren und seine Erhebung der Anklage unterlag nur dem Visum eines Kommissars der vollziehenden Gewalt und dem Verdikt von acht Geschworenen, denen er die Tatsachen seiner Untersuchung darlegte, die die Zeugen und Angeklagten verhörten und ein erstes Urteil, das sogenannte Anklageurteil, 419
fällten. Der Direktor mußte auf die in seinem Arbeitszimmer vereinigten Geschworenen eine solche Macht ausüben, daß sie nur seine Mitarbeiter sein konnten. Diese Geschworenen bildeten die Anklagejury. Es gab noch andere Geschworene, die die Jury des Strafgerichts bildeten, das die Angeklagten abzuurteilen hatte. Im Gegensatz zu den Anklagegeschworenen hießen diese Urteilsgeschworene. Das Strafgericht, dem Napoleon soeben den Namen Kriminalgericht gegeben hatte, bestand aus einem Präsidenten, vier Richtern, dem öffentlichen Ankläger und einem Regierungskommissar. Indes gab es von 1799 bis 1806 sogenannte Sondergerichte, die in gewissen Departements bestimmte Anschläge ohne Geschworene aburteilten; sie bestanden aus Zivilrichtern, die zu einem besonderen Gerichtshofe zusammentraten. Der Konflikt zwischen den Sondergerichten und den Kriminalgerichten führte zu Kompetenzstreitigkeiten, die der Kassationshof entschied. Hätte das Departement Aube sein Sondergericht gehabt, so wäre das Attentat auf einen Senator der Kaiserreichs ihm zweifellos überwiesen worden, aber dies friedliche Departement hatte keine Ausnahmegerichte. Grévin schickte also den Unterleutnant zum Direktor der Jury in Troyes. Der Ägyptenkämpfer sprengte mit verhängten Zügeln hin und kehrte dann in Begleitung dieses fast unumschränkten Richters nach Gondreville zurück. Der Direktor der Jury von Troyes war ein früherer Amtmann, ein früherer besoldeter Sekretär eines Konventsausschusses und ein Freund Malins, der ihm seine Stellung verschafft hatte. Dieser Richter, namens Lechesneau, ein rechter Praktikus der alten Strafjustiz, hatte Malin ebenso wie Grévin bei seinen juristischen Arbeiten im Konvent viel geholfen, und so empfahl Malin ihn an Cambacérès, der ihn zum Generalstaatsanwalt in Italien ernannte. Zum Unglück für seine Laufbahn hatte Lechesneau ein Verhältnis mit einer großen Dame in Turin 420
angeknüpft und Napoleon mußte ihn absetzen, um ihn einem Strafprozeß zu entziehen, den der Gatte wegen Entführung eines außerehelichen Kindes angestrengt hatte. Lechesneau, der Malin alles verdankte und die Bedeutung eines solchen Attentats erriet, hatte den Gendarmeriehauptmann und eine Abteilung von zwölf Mann mitgebracht. Bevor er aufbrach, hatte er sich natürlich mit dem Präfekten verständigt, der aber, da es dunkel wurde, den optischen Telegraphen nicht mehr benutzen konnte. Man schickte eine Stafette nach Paris, um den Polizeiminister, den Oberrichter und den Kaiser von diesem unerhörten Verbrechen zu benachrichtigen. Lechesneau fand im Salon von Gondreville die Damen Marion und Grévin, Violette, den Kammerdiener des Senators und den Friedensrichter nebst seinem Schreiber. Haussuchungen waren bereits im Schloß erfolgt. Mit Grevins Beihilfe nahm der Friedensrichter sorgfältig die ersten Elemente der Voruntersuchung auf. Der Richter war zunächst betroffen von den schlauen Berechnungen, die sich aus der Wahl des Tages und der Stunde ergaben. Die Stunde verbot es, sofort Indizien und Beweise zu sammeln. Zu dieser Jahreszeit war es um halb sechs Uhr, als Violette die Delinquenten hätte verfolgen können, schon fast dunkel, und für Missetäter ist die Nacht oft gleichbedeutend mit Straflosigkeit. Die Wahl eines Tages der Lustbarkeiten, wo jedermann nach Arcis ging, um sich den Maskenzug anzusehen, und wo der Senator allein zu Hause sein mußte, schloß alle Zeugen aus. »Alle Achtung vor dem Scharfsinn der Agenten der Polizeipräfektur«, sagte Lechesneau. »Sie haben uns immerfort vor den Adligen von Cinq-Cygne gewarnt und uns gesagt, sie würden früher oder später einen schlimmen Streich spielen.«
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Da Lechesneau des Eifers des Präfekten der Aube sicher war, der Stafetten zu allen Präfekturen der Umgegend von Troyes schickte, um die Spuren der fünf Maskierten und des Senators zu suchen, begann, er, die Grundlagen der Untersuchung zu legen. Diese Arbeit war bei zwei so guten juristischen Köpfen wie Grévin und der Friedensrichter bald vollbracht. Dieser, namens Pigoult, ein früherer erster Schreiber in dem Pariser Bureau, wo Malin und Grevin die Rechtspraxis gelernt hatten, wurde drei Monate darauf zum Gerichtspräsidenten in Arcis ernannt. Was Michu betraf, so kannte Lechesneau die Drohungen, die jener früher gegen Marion ausgestoßen, und den Hinterhalt, dem der Senator in seinem Park entgangen war. Diese beiden Tatsachen, deren eine die Folge der andern war, mußten die Voraussetzungen des jetzigen Attentats sein und stempelten den ehemaligen Verwalter umso mehr zum Führer der Missetäter, als Grévin, dessen Frau, Violette und Frau Marion erklärten, unter den fünf Maskierten einen Mann erkannt zu haben, der Michu völlig glich. Die Haar- und Bartfarbe, die untersetzte Figur des Mannes machten seine Verkleidung fast überflüssig. Wer außer Michu hätte auch das Tor von Cinq-Cygne mit einem Schlüssel öffnen können? Als der Verwalter und seine Frau aus Arcis zurückkamen und verhört wurden, sagten sie aus, sie hätten beide Tore verschlossen. Als die Tore von dem Friedensrichter in Gemeinschaft mit dem Feldhüter und seinem Schreiber untersucht wurden, zeigte sich keine Spur eines Einbruchs. »Als wir ihn vor die Tür setzten,« sagte Grévin, »wird er die Doppelschlüssel des Schlosses behalten haben. Aber er muß einen verzweifelten Streich geplant haben, denn er hat binnen zwanzig Tagen seinen Besitz verkauft und vorgestern in meinem Bureau den Kaufpreis erhalten.«
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»Sie werden ihm alles auf den Buckel geladen haben!« rief Lechesneau aus, dem dieser Umstand auffiel. »Er hat gezeigt, daß er ihnen mit Leib und Seele ergeben ist.« Wer konnte auch bessere Ortskenntnis des Schlosses haben als die Herren von Simeuse und von Hauteserre? Keiner der Angreifer hatte sich bei seinem Suchen geirrt; die Sicherheit, mit der sie überall hingegangen waren, bewies, daß sie wohl wußten, was sie wollten, und vor allem, wo man ihn erwischen konnte. Keiner der offen gebliebenen Schränke war erbrochen, somit besaßen die Delinquenten die Schlüssel, und seltsam, sie hatten sich nicht die geringste Entwendung erlaubt! Um Diebstahl also handelte es sich nicht. Schließlich hatte Violette, nachdem er die Pferde des Schlosses Cinq-Cygne erkannt hatte, die Gräfin im Hinterhalt vor dem Pavillon des Verwalters getroffen. Aus der Gesamtheit dieser Tatsachen und Aussagen ergab sich auch für eine ganz unvoreingegenommene Justiz die Schuld der Herren von Simeuse, von Hauteserre und Michus; für einen Direktor der Jury mußte sie zur Gewißheit werden. Was hatten sie nun mit dem künftigen Grafen von Gondreville vor? Ihn zur Herausgabe seines Landgutes zu zwingen, für dessen Erwerb der Verwalter schon 1793 die Kapitalien zu haben behauptete? Hier bekam alles ein neues Antlitz. Der gelehrte Kriminalist fragte sich, was das Ziel der eifrigen Nachforschungen im Schlosse gewesen sein mochte. Hätte es sich um eine Rache gehandelt, so hätten die Delinquenten Malin töten können. Vielleicht war der Senator dann schon tot und begraben. Immerhin bedeutete die Entführung eine Freiheitsberaubung. Warum diese Freiheitsberaubung, nachdem die Durchsuchung des Schlosses beendet war? Gewiß war es Wahnsinn zu glauben, die Entführung eines Würdenträgers des Kaiserreiches könnte lange geheim bleiben! Die rasche Entde-
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ckung, die dieser Anschlag finden mußte, hob seinen Vorteil auf. Auf diese Einwendungen erwiderte Pigault, daß die Justiz nie alle Beweggründe der Verbrecher erraten könne. In allen Strafprozessen gäbe es zwischen Richter und Verbrecher und umgekehrt dunkle Punkte; das Gewissen habe Abgründe, in die nur durch das Geständnis des Schuldigen Licht käme. Grévin und Lechesneau nickten zustimmend, ohne jedoch den Blick von dem Dunkel abzuwenden, in das sie hineinleuchten wollten. »Und doch hat der Kaiser sie begnadigt«, sagte Pigault zu Grévin und Frau Marion. »Er hat sie von der Liste gestrichen, obwohl sie an der letzten Verschwörung gegen ihn beteiligt waren!« Lechesneau schickte unverzüglich seine ganze Gendarmerie nach dem Wald und dem Tal von Cinq-Cygne, wobei er Giguet dem Friedensrichter mitgab, der nach dem Ausdruck des Gesetzbuches zu seinem Hilfsoffizier der Kriminalpolizei wurde. Er beauftragte ihn, in der Gemeinde Cinq-Cygne die Grundlagen der Untersuchung zu sammeln, nach Bedarf alle Verhöre vorzunehmen, und zu größerer Beschleunigung diktierte er rasch und unterschrieb den Verhaftsbefehl gegen Michu, der offenbar schwer belastet war. Nach dem Aufbruch der Gendarmen und des Friedensrichters machte Lechesneau sich an die wichtige Aufgabe, die Verhaftsbefehle gegen die Simeuses und die Hauteserres zu erlassen. Nach dem Gesetz mußten diese Erlasse alles aufführen, was den Delinquenten zur Last gelegt wurde. Giguet und der Friedensrichter begaben sich so schnell nach Cinq-Cygne, 424
daß sie die Leute des Schlosses bei ihrer Rückkehr von Troyes trafen. Die wurden verhaftet und zum Bürgermeister geführt, wo sie verhört wurden. Ein jeder sagte ganz naiv, ohne die Bedeutung seiner Antwort zu kennen, sie hätten tags zuvor die Erlaubnis erhalten, für einen ganzen Tag nach Troyes zu gehen. Auf eine Zwischenfrage des Friedensrichters antwortete jeder ebenso, das gnädige Fräulein hätte ihnen diese unbeabsichtigte Zerstreuung selbst angeboten. Diese Aussagen erschienen dem Friedensrichter so belastend, daß er den Ägyptenkämpfer nach Gondreville schickte, um Herrn Lechesneau zu bitten, selbst zur Verhaftung der Edelleute nach Cinq-Cygne zu kommen, um gleichzeitig vorzugehen, denn er begäbe sich zu Michus Pachthof, um dort den vermutlichen Führer der Missetäter zu verhaften. Diese neuen Umstände schienen so entscheidend, daß Lechesneau sofort nach Cinq-Cygne aufbrach, nachdem er Grévin anempfohlen hatte, die Hufspuren der Pferde im Park sorgfältig bewachen zu lassen. Der Direktor der Jury wußte, welche Freude sein Vorgehen gegen frühere Adlige und Volksfeinde, die nun zu Feinden des Kaisers geworden waren, in Troyes erregen würde. Bei solchen Stimmungen nimmt ein Richter einfache Mutmaßungen leicht für offenkundige Beweise. Nichtsdestoweniger fand Lechesneau, als er im Wagen des Senators von Gondreville nach Cinq-Cygne fuhr, die Verwegenheit der jungen Leute und Michus recht töricht und wenig im Einklang mit dem Geiste des Fräuleins von Cinq-Cygne. War er doch ein tüchtiger Richter, der es ohne die Leidenschaft, der er seine Ungnade verdankte – denn der Kaiser wurde damals prüde – weit gebracht hätte. Er selbst glaubte an andere Absichten als die, von dem Senator einen Verzicht auf Gondreville zu erpressen. In allen Dingen, selbst im Richterstande, gibt es das, was man das Berufsgewissen nennen muß. Lechesneaus Ratlosigkeit entsprang aus diesem Gewissen, mit dem jeder Mensch ihm zusagende Pflichten erfüllt, das die Gelehrten in der Wissenschaft, die Künstler in der Kunst, die 425
Richter in der Rechtsprechung bekunden. Daher bieten die Richter den Angeklagten vielleicht auch mehr Bürgschaften als die Geschworenen. Ein Richter vertraut nur auf die Gesetze der Vernunft, während die Geschworenen sich von Gefühlswallungen hinreißen lassen. Der Direktor der Jury stellte sich selbst mehrere Fragen und nahm sich vor, bei der Verhaftung der Delinquenten befriedigende Antworten darauf zu finden. Obwohl die Kunde von Malins Entführung bereits die Stadt Troyes in Aufregung versetzte, war sie in Arcis um acht Uhr noch unbekannt, denn alles war beim Abendbrot, als man die Gendarmerie und den Friedensrichter holte. In Cinq-Cygne endlich, dessen Tal und Schloß zum zweitenmal umstellt wurden, diesmal freilich von der Justiz und nicht von der Polizei, wußte noch niemand etwas davon; und Vergleiche, die mit der einen möglich sind, sind mit der anderen oft ausgeschlossen. Laurence hatte Martha, Katharina und den Durieus nur zu sagen brauchen, sie sollten im Schloß bleiben, ohne es zu verlassen oder hinauszublicken, um pünktlichen Gehorsam zu finden. Nach jedem Ritt blieben die Pferde in dem Hohlweg gegenüber der Bresche stehen, und von dort hatten Robert und Michu, die kräftigsten des Trupps, die Säcke heimlich durch die Bresche in einen Keller bringen können, der sich unter der Treppe des sogenannten Damenturms befand. Als sie gegen halb sechs Uhr im Schlosse anlangten, begannen die vier Edelleute und Michu dort sofort mit dem Vergraben des Goldes. Laurence und die Hauteserres hielten es für zweckmäßig, den Keller zu vermauern. Michu übernahm diese Arbeit und ließ sich dabei von Gotthard helfen, der nach dem Pachthofe lief, um ein paar Säcke Kalk zu holen, die aus der Zeit des Baues dort liegen geblieben waren, und Martha kehrte nach Hause zurück, um Gotthard heimlich die Säcke zu geben. Der von Michu erbaute Pachthof stand auf der Anhöhe, von der aus er einst die Gendarmen erblickt hatte, und der Weg dorthin führte durch den 426
Hohlweg. Michu, der sehr ausgehungert war, sputete sich so sehr, daß er seine Arbeit gegen halb acht Uhr beendet hatte. Er kehrte raschen Schritts zurück, um zu verhindern, daß Gotthard einen letzten Sack Kalk brachte, den er noch zu brauchen geglaubt hatte. Sein Pachthof war bereits von dem Feldhüter von Cinq-Cygne, dem Friedensrichter, seinem Schreiber und drei Gendarmen umstellt, die sich versteckten, als sie ihn kommen hörten, und ihn hineinließen. Michu begegnete Gotthard mit einem Sack auf der Schulter und rief ihm von weitem zu: »Ich bin fertig, Kleiner! Trag ihn zurück und iß mit uns.« Fröhlich betrat Michu die Küche seines Pachthofes, wo Marthas Mutter und Martha die Suppe auftrugen und ihn erwarteten. Seine Stirn war schweißbedeckt, seine Kleider mit Kalk und Resten der schmutzigen Kalksteine beschmiert, die aus dem Schutt der Bresche stammten. In dem Augenblick, da Michu den Wasserhahn aufdrehte, um sich die Hände zu waschen, erschien der Friedensrichter in Begleitung seines Schreibers und des Feldhüters. »Was wollen Sie von uns, Herr Pigault?« fragte Michu. »Im Namen des Kaisers und des Gesetzes verhafte ich Sie«, sagte der Friedensrichter. Nun zeigten sich die drei Gendarmen, die Gotthard herbeiführten. Beim Anblick der betreßten Hüte tauschten Martha und ihre Mutter einen entsetzten Blick.
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»Ach was! Und warum?« fragte Michu, setzte sich an seinen Tisch und sagte zu seiner Frau: »Gib auf, ich bin halb verhungert.« »Das wissen Sie so gut wie ich«, antwortete der Friedensrichter. Er winkte seinem Schreiber, das Protokoll zu beginnen, nachdem er dem Pächter den Verhaftungsbefehl gezeigt hatte. »Na, du spielst den Erstaunten, Gotthard? Willst du essen, ja oder nein?« fragte Michu. »Laß die nur ihr dummes Zeug schreiben.« »Sie erkennen den Zustand Ihrer Kleider an?« fragte der Friedensrichter. »Ebenso wenig leugnen Sie die Worte, die Sie auf Ihrem Hofe zu Gotthard sagten?« Michu ließ sich von seiner Frau, die ob seiner Kaltblütigkeit starr war, die Suppe auftragen und aß heißhungrig, ohne eine Antwort zu geben. Sein Mund war voll und sein Herz unschuldig. Gotthards Eßlust war durch furchtbare Angst gelähmt. »Nun,« sagte der Feldhüter Michu ins Ohr, »was haben Sie mit dem Senator gemacht? Wenn man die Leute von der Justiz hört, geht es für Sie um Leben und Tod.« »O mein Gott!« rief Martha aus, die die letzten Worte auffing und wie vom Blitz getroffen hinsank. »Violette wird uns irgendeinen schlimmen Streich gespielt haben!« rief Michu aus, denn ihm fielen Laurences Worte ein. »Ah, Sie wissen also, daß Violette Sie gesehen hat!« sagte der Friedensrichter.
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Michu biß sich auf die Lippen und beschloß, nichts mehr zu sagen. Gotthard ahmte seine Zurückhaltung nach. Als der Friedensrichter sah, daß seine Bemühungen, Michu zum Reden zu bringen, umsonst waren, und da er überdies seine sogenannte Schlechtigkeit kannte, befahl er, ihm wie Gotthard die Hände zu fesseln und ihn nach dem Schloß Cinq-Cygne zu bringen. Er selbst lenkte seine Schritte gleichfalls dorthin, um wieder zu dem Direktor der Jury zu stoßen. Die Edelleute und Laurence waren zu hungrig, und das Mahl war zu bedeutungsvoll für sie, als daß sie es noch hinausgeschoben hätten, um sich umzukleiden. Laurence erschien im Reitkleid, die Herren in weißen Lederhosen, Reitstiefeln und grüner Tuchjacke, in dem Salon, wo sie Herrn und Frau von Hauteserre ziemlich besorgt fanden. Der Biedermann hatte das Kommen und Gehen bemerkt, vor allem auch das Mißtrauen, das man ihm bezeigte, denn Laurence hatte ihn nicht von den Leuten beaufsichtigen lassen können. In dem Augenblick also, da einer seiner Söhne einer Antwort auswich, indem er fortging, hatte er zu seiner Frau gesagt: »Ich fürchte, Laurence macht uns wieder Scherereien!« »Was habt Ihr denn heute gejagt?« fragte Frau von Hauteserre Laurence. »Ach, du wirst eines Tages schon erfahren, an welchem schlimmen Streich Eure Kinder teilgenommen haben!« antwortete sie lachend. Obwohl im Scherz gesprochen, ließen diese Worte die alte Dame erzittern. Katharina meldete, daß angerichtet sei. Laurence gab Herrn von Hauteserre den Arm und lächelte über die Bosheit, die sie ihren Vettern antat, indem sie einen von ihnen 429
zwang, seinen Arm der alten Dame zu bieten, die nach ihrer Vereinbarung zum Orakel geworden war. Der Marquis von Simeuse führte Frau von Hauteserre zu Tisch. Die Situation ward nun so feierlich, daß Laurence und ihre beiden Vettern, als das Tischgebet gesprochen war, heftiges Herzklopfen verspürten. Der Frau von Hauteserre, die die Suppe aufgab, fiel die Angst auf, die sich in den Gesichtern der beiden Simeuses malte, und die Erregung, die Laurences Lammsgesicht verriet. »Aber es ist irgend etwas Außergewöhnliches geschehen!« rief sie aus, indem sie alle anblickte. »Mit wem sprichst du?« fragte Laurence. »Mit Euch allen«, entgegnete die alte Dame. »Was mich betrifft, Mutter,« sagte Robert, »ich habe Wolfshunger.« Frau von Hauteserre, noch immer verwirrt, reichte dem Marquis von Simeuse einen Teller für den Jüngeren. »Ich bin wie Eure Mutter,« sagte sie zu ihm, »ich irre mich stets, trotz Eurer Halsbinden. Ich glaubte, deinem Bruder den Teller zu reichen.« »Du reichst ihm mehr, als du denkst«, sagte der Jüngere und erbleichte. »Nun ist er Graf von Cinq-Cygne.« Der arme, so fröhliche Jüngling ward für immer, traurig. Aber er fand noch die Kraft, Laurence lächelnd anzublicken und seinen tödlichen Schmerz zu bemeistern. In einem Augenblick versank der Liebende im Bruder.
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»Wie! die Gräfin hat ihre Wahl getroffen?« rief die alte Dame aus. »Nein,« sagte Laurence, »wir haben es dem Zufall überlassen, und du warst sein Werkzeug.« Sie erzählte die Vereinbarung vom Morgen. Der ältere Simeuse sah, wie das Gesicht seines Bruders immer bleicher ward, und er empfand von Augenblick zu Augenblick den Drang auszurufen: »Heirate du sie, ich will sterben!« Als der Nachtisch aufgetragen ward, hörten die Bewohner von Cinq-Cygne an das Saalfenster klopfen, das nach dem Garten ging. Der ältere Hauteserre stand auf, um zu öffnen, und ließ den Pfarrer ein, dessen Beinkleid beim Überklettern der Parkmauer am Spalier zerrissen war. »Fliehen Sie!... Man kommt, Sie zu verhaften!« »Warum?« »Ich weiß es noch nicht, aber man geht gegen Sie vor.« Diese Worte wurden mit allgemeinem Gelächter aufgenommen. »Wir sind unschuldig«, riefen die Edelleute. »Unschuldig oder schuldig,« sagte der Pfarrer, »steigen Sie zu Pferde und erreichen Sie die Grenze. Da werden Sie imstande sein, Ihre Unschuld zu beweisen. Eine Verurteilung in Abwesenheit läßt sich rückgängig machen; eine Verurteilung vor Gericht, unter dem Druck der Volksleidenschaften und durch Vorurteile begünstigt, ist unwiderruflich. Denken Sie an das Wort des Präsidenten de Harlay: ›Würde ich angeklagt, die 431
Türme von Notre Dame fortgetragen zu haben, so würde ich zunächst fliehen‹.« »Aber fliehen, heißt das nicht seine Schuld eingestehen?« fragte der Marquis von Simeuse. »Flieht nicht!...« entschied Laurence. »Stets erhabene Dummheiten«, sagte der Pfarrer verzweifelt. »Besäße ich Gottes Macht, ich entführte Sie. Aber wenn man mich hier in diesem Zustand findet, wird man diesen eigentümlichen Besuch gegen Sie und gegen mich ausbeuten. Ich mache mich auf dem gleichen Wege davon. Denken Sie nach! Noch haben Sie Zeit! Die Leute von der Justiz haben nicht an die Grenzmauer des Pfarrhofs gedacht, und Sie sind ringsum umstellt.« Der Schall vieler Schritte und das Säbelklirren der Gendarmerie erfüllte den Hof und drang in den Speisesaal, als der arme Pfarrer kaum fort war. Er hatte mit seinen Ratschlägen nicht mehr ausgerichtet als der Marquis von Chargeboeuf mit den seinen. »Unser gemeinsames Leben,« sagte der jüngere Simeuse schwermütig zu Laurence, »ist eine Ungeheuerlichkeit, und wir hegen eine ungeheuerliche Liebe. Diese Ungeheuerlichkeit hat dein Herz ergriffen. Vielleicht sind die Zwillinge, deren Geschichte uns überliefert wird, alle unglücklich gewesen, weil die Naturgesetze in ihnen umgestoßen werden. Sieh, wie beharrlich uns das Schicksal verfolgt. Nun ist dein Entschluß schicksalsvoll verzögert.«
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Laurence war geistesabwesend. Wie ein Summen vernahm sie die für sie unheilvollen Worte, die der Direktor der Jury sprach: »Im Namen des Kaisers und des Gesetzes verhafte« ich die Herren Paul Maria und Maria Paul von Simeuse, Adrien und Robert von Hauteserre. – Die Herren,« setzte er hinzu, indem er seinen Begleitern die Schmutzspuren auf den Kleidern der Verhafteten zeigte, »werden nicht leugnen, daß sie einen Teil dieses Tages zu Pferde verbracht haben.« »Wessen klagen Sie sie an?« fragte Fräulein von Cinq-Cygne stolz. »Verhaften Sie das Fräulein nicht?« fragte Giguet. »Ich lasse sie gegen Bürgschaft in Freiheit, bis das, was ihr zur Last gelegt wird, näher untersucht ist.« Goulard bot seine Bürgschaft an und forderte der Gräfin nur ihr Ehrenwort ab, nicht zu entfliehen. Laurence schmetterte den früheren Bereiter des Hauses Simeuse durch einen hochmütigen Blick nieder, der ihr diesen Mann zum Todfeinde machte. Eine Träne quoll aus seinen Augen, eine jener Tränen der Wut, die eine Hölle von Schmerzen verraten. Die vier Edelleute tauschten einen furchtbaren Blick aus und blieben unbeweglich stehen. Herr und Frau von Hauteserre, die sich von den vier jungen Leuten und von Laurence hintergangen glaubten, saßen in einem Zustand unsäglicher Bestürzung auf ihren Lehnstühlen wie festgebannt. Diese Eltern, die ihre Kinder sich entrissen sahen, nachdem sie für sie alle Ängste ausgestanden und sie endlich zurückerhalten hatten, blickten vor sich hin, ohne zu sehen, und hörten, ohne zu hören.
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»Muß ich Sie bitten, für mich zu bürgen, Herr von Hauteserre?« rief Laurence ihrem früheren Vormund zu, der durch diesen Ruf erwachte. Er war für ihn schrill und schneidend, wie die Posaune des jüngsten Gerichts. Der Greis trocknete die Tränen, die ihm in die Augen traten, begriff alles und sagte mit schwacher Stimme zu seiner Verwandten: »Verzeihung, Gräfin... Sie wissen, ich bin mit Leib und Seele der Ihre.« Lechesneau war zuerst betroffen von der Ruhe dieser tafelnden Schuldigen und kam auf seine erste Meinung über ihre Schuld zurück, als er die Bestürzung der Eltern und Laurences nachdenkliche Miene sah, die die ihr gestellte Falle zu erraten suchte. »Meine Herren,« sagte er höflich, »Sie sind zu wohlerzogen, um vergeblichen Widerstand zu leisten. Folgen Sie mir alle vier in die Ställe, wo wir in Ihrer Gegenwart die Eisen Ihrer Pferde abnehmen müssen. Sie werden wichtige Beweisstücke für den Prozeß sein und vielleicht Ihre Unschuld oder Ihre Schuld erweisen. – Kommen Sie mit, Fräulein ...« Der Hufschmied von Cinq-Cygne und sein Geselle waren von Lechesneau als Sachverständige hinzugezogen worden. Während des Vorgangs in den Ställen kam der Friedensrichter mit Gotthard und Michu an. Es dauerte eine Weile, bis jedem Pferde die Eisen abgenommen, diese mit Zeichen versehen und zusammengetan wurden, um sie mit den Hufspuren zu vergleichen, die die Pferde der Attentäter im Park zurückgelassen hatten. Trotzdem ließ Lechesneau, als ihm Pigaults Ankunft gemeldet wurde, die Angeklagten bei den Gendarmen und ging 434
in den Eßsaal, um das Protokoll zu diktieren, und der Friedensrichter machte ihn auf den Zustand von Michus Kleidung aufmerksam und erzählte die Umstände seiner Verhaftung. »Sie werden den Senator getötet und ihn irgendwo eingemauert haben«, sagte Pigault schließlich zu Lechesneau. »Jetzt fürchte ich es auch«, entgegnete der Richter. – »Wo hast du den Kalk hingetragen?« fragte er Gotthard. Gotthard begann zu weinen. »Die Justiz erschreckt ihn«, sagte Michu, dessen Augen Flammen sprühten, wie die eines in einem Netze gefangenen Löwen. Alle Dienstboten, die beim Bürgermeister verhört waren, kamen nun zurück und erfüllten das Vorzimmer, in dem Katharina und die Durieus weinten. Von ihnen erfuhren sie die Bedeutung der Aussagen, die sie gemacht hatten. Gotthard beantwortete alle Fragen des Direktors und des Friedensrichters mit Schluchzen; durch sein Weinen geriet er schließlich in eine Art Krampfanfall, der beide erschreckte, und so ließen sie ihn in Ruhe. Als der kleine Schlingel sich nicht mehr bewacht sah, blickte er Michu lächelnd an, und Michu warf ihm einen beifälligen Blick zu. Lechesneau verließ den Friedensrichter, um die Sachverständigen anzutreiben. »Herr Pigoult,« fragte Frau von Hauteserre schließlich, »können Sie uns den Grund dieser Verhaftungen erklären?« »Die Herren werden beschuldigt, den Senator mit bewaffneter Hand entführt und ihn seiner Freiheit beraubt zu haben, denn
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wir nehmen trotz des Anscheins nicht an, daß sie ihn getötet haben.« »Und welche Strafe hätten die Urheber dieses Verbrechens zu gewärtigen?« »Da die Gesetze, die das jetzige Gesetzbuch nicht aufhebt, in Kraft bleiben, steht Todesstrafe darauf«, entgegnete der Friedensrichter. »Todesstrafe!« rief Frau von Hauteserre und fiel in Ohnmacht. In diesem Augenblick erschien der Pfarrer mit seiner Schwester, die Katharina und die Durieu herbeirief. »Aber wir haben ihn gar nicht gesehen, euren verfluchten Senator!« rief Michu aus. »Frau Marion, Herr und Frau Grévin, der Kammerdiener des Senators und Violette können das gleiche von Ihnen nicht sagen«, entgegnete Pigoult mit dem bittren Lächeln des überzeugten Richters. »Ich begreife nichts mehr!« sagte Michu, durch diese Antwort verblüfft und schon in dem Glauben, daß er mit seinen Herren in ein gegen sie gesponnenes Netz von Ränken verwickelt war. In diesem Augenblick kamen alle aus den Ställen zurück. Laurence eilte auf Frau von Hauteserre zu, die wieder zu sich kam und zu ihr sagte: »Es steht Todesstrafe darauf!« »Todesstrafe!...« wiederholte Laurence und blickte die vier Edelleute an.
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Dies Wort verbreitete Schrecken, was Giguet, der von Corentin gelernt hatte, benutzte. Er führte den Marquis von Simeuse in eine Ecke des Eßsaales und sagte zu ihm: »Alles läßt sich noch ins reine bringen. Vielleicht war es nur ein Scherz! Zum Teufel, Sie sind Soldaten gewesen! Unter Soldaten versteht man sich. Was haben Sie mit dem Senator gemacht? Wenn Sie ihn getötet haben, so ist alles aus. Wenn Sie ihn aber verschleppt haben, so geben Sie ihn frei! Sie sehen doch, daß Ihr Streich mißglückt ist. Ich. bin sicher, daß der Direktor der Jury die Strafverfolgung im Einvernehmen mit dem Senator niederschlagen wird.« »Wir verstehen nicht das mindeste von Ihren Fragen«, sagte der Marquis von Simeuse. »Wenn Sie diesen Ton anschlagen, kann es weit kommen«, sagte der Leutnant. »Liebe Base,« sagte der Marquis von Simeuse zu Laurence, »wir gehen ins Gefängnis. Aber beunruhige dich nicht; wir sind in ein paar Stunden wieder zurück. Hier liegen Mißverständnisse vor, die sich aufklären werden.« »Ich wünsche es für Sie, meine Herren«, sagte der Richter und winkte Giguet, die vier Edelleute, Gotthard und Michu abzuführen. »Bringen Sie sie nicht nach Troyes«, sagte er zu dem Leutnant. »Behalten Sie sie auf Ihrem Posten in Arcis; sie müssen morgen bei Tage zugegen sein, wenn die Eisen ihrer Pferde mit den Hufspuren im Park verglichen werden.« Lechesneau und Pigoult brachen erst auf, nachdem sie Katharina, Herrn und Frau von Hauteserre und Laurence vernommen hatten. Die Durieus, Katharina und Martha erklärten, ihre Her437
ren nur beim Frühstück gesehen zu haben; Herr von Hauteserre sagte aus, er hätte sie um drei Uhr noch gesehen. Als Laurence um Mitternacht mit Herrn und Frau von Hauteserre, dem Abbé Goujet und dessen Schwester zusammen war, ohne die vier jungen Leute, die seit achtzehn Monaten Leben, Liebe und Freude ins Schloß gebracht hatten, schwieg sie lange still, und niemand wagte ihr Schweigen zu unterbrechen. Nie war ein Kummer tiefer und vollständiger. Endlich hörte man einen Seufzer und blickte auf. Martha, die vergessen in einer Ecke saß, stand auf und sagte: »Der Tod, gnädige Frau!... Man wird sie uns töten, trotz ihrer Unschuld!« »Was haben sie getan?« fragte der Pfarrer. Laurence ging ohne ein Wort hinaus. Sie bedurfte der Einsamkeit, um inmitten dieses unerwarteten Unglücks ihre Kraft wiederzufinden Ein politischer Prozeß unter dem Kaiserreich Nach einem Zeitraum von vierunddreißig Jahren, während dessen drei große Revolutionen stattgefunden haben, können sich heute allein die alten Leute des unerhörten Aufsehens entsinnen, das die Entführung eines Senators des französischen Kaiserreichs in Europa hervorrief. Kein Prozeß, außer dem Trumeaus, des Krämers von der Place Saint-Etienne, und dem der Witwe Morin unter dem Kaiserreich, den Prozessen Fualdes und Castaing unter der Restauration, denen der Frau Lafarge und Fieschis unter der Regierung Louis Philippes, kam an Spannung und Neugier dem Prozeß der jungen Leute gleich, die der Entführung Malins beschuldigt waren. Ein derartiges Attentat gegen ein Mitglied seines Senats erregte den Zorn des 438
Kaisers, der die Verhaftung der Deliquenten fast gleichzeitig mit der Meldung von dem Delikt und dem negativen Ergebnis der Nachforschungen erfuhr. Der Wald war in seinen Tiefen durchsucht, die Aube und die benachbarten Departements in ihrem ganzen Umfang durchstreift worden, ohne daß sich die geringste Spur vom Durchkommen oder von der Einsperrung des Grafen von Gondreville zeigte. Der zu Napoleon berufene Oberrichter zog Erkundigungen beim Polizeiminister ein und erklärte dem Kaiser dann, in welcher Lage Malin sich gegenüber den Simeuses befand. Der Kaiser, der damals mit ernsten Dingen beschäftigt war, fand die Lösung der Sache in den früheren Vorgängen. »Diese jungen Leute sind wahnsinnig«, sagte er. »Ein Jurist wie Malin muß doch gewaltsam entrissene Urkunden anfechten. Überwachen Sie diese Adligen, um zu erfahren, wie sie es anstellen werden, um den Grafen von Gondreville freizulassen.« Er befahl, die größte Geschwindigkeit in dieser Sache zu entfalten, in der er ein Attentat auf seine Einrichtungen sah, ein unheilvolles Beispiel des Widerstandes gegen die Auswirkungen der Revolution, einen Schlag gegen die große Frage der Nationalgüter und ein Hindernis für die Verschmelzung der Parteien, welche die dauernde Sorge seiner inneren Politik war. Schließlich sah er sich auch durch diese jungen Leute hintergangen, die ihm versprochen hatten, sich still zu verhalten. »Fouchés Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen!« rief er aus, als ihm die Worte einfielen, die seinem jetzigen Polizeiminister vor zwei Jahren entschlüpft waren, wenn auch nur unter dem Eindruck von Gorentins Bericht über Laurence.
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Unter einer konstitutionellen Regierung, wo niemand sich für eine blinde und stumme, undankbare und kalte Staatseinrichtung interessiert, kann man sich nicht vorstellen, welchen Eifer ein Wort des Kaisers in seinem politischen und Verwaltungsapparat erweckte. Sein mächtiger Wille schien sich den Dingen wie den Menschen mitzuteilen. Nachdem der Kaiser sein Wort gesprochen, vergaß er die Sache, da ihn die Koalition von 1806 überraschte. Er dachte an neue Schlachten, die er liefern wollte, und beschäftigte sich mit der Zusammenziehung seiner Regimenter, um einen großen Schlag ins Herz der preußischen Monarchie zu führen; aber sein Wunsch nach rascher Justiz fand mächtige Förderung in der Ungewißheit, in der die Stellung aller Richter des Kaiserreichs schwebte. Damals arbeiteten Cambacérès als Erzkanzler und der Oberrichter Régnier die Einrichtung der Gerichte erster Instanz, der kaiserlichen Gerichtshöfe und des Kassationshofes aus. Sie erörterten die Frage der Richtertracht, auf die Napoleon mit Recht so großen Wert legte, unterzogen das Personal einer Musterung und suchten nach den Überresten der abgeschafften Parlamentsgerichte. Natürlich glaubten die Richter des Departements Aube, daß Beweise von Eifer in der Entführungsgeschichte des Grafen von Gondreville eine ausgezeichnete Empfehlung für sie sein würden. Napoleons Mutmaßungen wurden also für die Höflinge wie für die große Masse zu Überzeugungen. Auf dem Festlande herrschte noch Friede, und die Bewunderung für den Kaiser war in Frankreich allgemein. Er schmeichelte den Interessen, den Eitelkeiten, den Personen, den Dingen, kurz allem, selbst den Erinnerungen. Das Unternehmen erschien also jedermann als Attentat auf das öffentliche Wohl. So wurden die armen unschuldigen Edelleute mit allgemeinem Schimpf bedeckt. Die Adligen, die in kleiner Zahl und auf ihre Güter beschränkt waren, beklagten die Sache untereinander, aber keiner wagte den Mund aufzutun. Wie sollte man 440
sich auch der Entfesselung der öffentlichen Meinung widersetzen? Im ganzen Departement wurden die Leichen der elf, im Jahre 1792 durch die Fensterläden des Hotels von Cinq-Cygne erschossenen Personen ausgegraben und gegen die Angeklagten ausgespielt. Man fürchtete, die Emigranten möchten dreist werden und sämtlich Gewaltakte gegen die Käufer ihrer Güter begehen, um deren Rückgabe durch Proteste gegen eine ungerechte Beraubung zu erwirken. So wurden diese edlen Menschen als Räuber, Diebe und Mörder hingestellt, und Michus Mitschuld wurde ihnen besonders verhängnisvoll. Dieser Mann, der mit seinem Schwiegervater alle Köpfe abgeschlagen hatte, die während der Schreckenszeit im Departement gefallen waren, wurde zum Gegenstand der lächerlichsten Märchen. Die Erbitterung war um so lebhafter, als fast alle Beamten der Aube ihre Stellung Malin verdankten. Keine hochherzige Stimme erhob sich, um der öffentlichen Meinung zu widersprechen. Schließlich besaßen die Unglücklichen auch kein gesetzliches Mittel, um die Anklage zu bekämpfen, denn das Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV legte sowohl die Grundlagen der Anklage wie das Urteil in die Hand von Geschworenen und entzog den Angeklagten damit die gewaltige Rechtssicherheit der Berufung bei begründetem Verdacht. Am zweiten Tage nach der Verhaftung wurden die Herren und die Dienerschaft des Schlosses Cinq-Cygne vor die Geschworenen geladen. Cinq-Cygne verblieb unter der Obhut des Pächters und der Aufsicht des Abbé Goujet und seiner Schwester, die ins Schloß übersiedelten. Herr und Frau von Hauteserre bezogen das Häuschen, das Durieu in einer der langen und weitläufigen Vorstädte von Troyes besaß. Laurences Herz krampfte sich zusammen, als sie die Wut der Menge, die Bosheit des Bürgertums und die Feindseligkeit der Verwaltung an mehreren jener kleinen Ereignisse erkannte, die den Verwandten der in eine Strafsache Verwickelten in allen Provinzstädten widerfahren, in denen ihr Prozeß geführt wird. Statt ermutigender und mit441
leidiger Worte hört man dann Unterhaltungen, aus denen schreckliche Rachbegierden hervorbrechen, Kundgebungen des Hasses statt strenger Höflichkeit oder der vom Anstand gebotenen Zurückhaltung; aber vor allem empfindet man eine Vereinsamung, die gewöhnlichen Menschen sehr nahe geht, und die um so rascher fühlbar wird, als Unglück das Mißtrauen wachruft. Laurence, die ihre ganze Kraft wiedergewonnen hatte, rechnete auf die Klarheit der Unschuld und verachtete die Menge zu sehr, um über das mißbilligende Schweigen, das man ihr bezeigte, zu erschrecken. Sie stützte den Mut des Herrn und der Frau von Hauteserre und dachte immerfort an die Gerichtsschlacht, die bei der Schnelligkeit des Verfahrens bald vor dem Kriminalgericht stattfinden mußte. Aber sie sollte noch einen Schlag erhalten, auf den sie nicht gefaßt war und der ihren Mut schwächte. Inmitten dieses Unglücks und der allgemeinen Entfesselung, in dem Augenblick, wo diese schwergeprüfte Familie sich wie in einer Wüste sah, wuchs vor Laurences Augen plötzlich ein Mann empor und zeigte die ganze Schönheit seines Charakters. Einen Tag, nachdem die Anklage mit der Bestätigungsformel »Ja, es wird stattgegeben«, die der Obmann der Geschworenen unter die Anklageschrift setzte, dem öffentlichen Ankläger zugestellt und der gegen die Angeklagten erlassene Haftbefehl in eine Verfügung zur Untersuchungshaft verwandelt war, kam der alte Marquis von Chargeboeuf seiner jungen Verwandten in seiner alten Kalesche mutig zu Hilfe. In Voraussehung rascher Justiz hatte sich das Haupt dieser großen Familie schleunigst nach Paris begeben und von dort einen der verschlagensten und ehrlichsten Anwälte der alten Zeit namens Bordin mitgebracht, der in Paris zehn Jahre lang der Rechtsbeistand des Adels wurde und dessen Nachfolger der berühmte Advokat Derville war. Dieser würdige Mann erkor zum Advokaten sofort den Enkel eines früheren Präsidenten des Parla442
mentsgerichts der Normandie, der die Richterlaufbahn einschlagen wollte und seine Studien unter Bordins Obhut gemacht hatte. Der junge Advokat – um eine abgeschaffte Bezeichnung zu gebrauchen, die der Kaiser alsbald wieder einführen sollte – wurde nach diesem Prozeß tatsächlich zum Vertreter des Generalstaatsanwalts von Paris ernannt und ist einer der berühmtesten französischen Richter geworden. Herr von Granville nahm diese Verteidigung als eine Gelegenheit zu einem glänzenden Anfang an. Damals wurden die Advokaten durch Offizialverteidiger ersetzt. Somit war das Recht der Verteidigung nicht beschränkt: alle Staatsbürger konnten die Sache der Unschuldigen vertreten, aber die Angeklagten nahmen sich nichtsdestoweniger frühere Advokaten als Verteidiger. Der alte Marquis war entsetzt über die Verheerungen, die der Schmerz bei Laurence angerichtet hatte, und benahm sich wunderbar feinfühlig und taktvoll gegen sie. Er erinnerte nicht an seine vergeblichen Ratschläge, stellte Bordin als ein Orakel hin, dessen Weisungen buchstäblich befolgt werden müßten, und den jungen Granville als einen Verteidiger, der volles Vertrauen verdiente. Laurence reichte dem alten Marquis die Hand und drückte die seine mit einer Lebhaftigkeit, die ihn entzückte. »Sie hatten recht«, sagte sie. »Wollen Sie jetzt auf meine Ratschläge hören?« fragte er. Die junge Gräfin nickte zustimmend, ebenso Herr und Frau von Hauteserre. »Wohlan, so kommen Sie in mein Haus. Es liegt im Mittelpunkte der Stadt in der Nähe des Gerichts. Sie und Ihre Anwälte werden dort besser aufgehoben sein als hier, wo Sie dicht auf 443
einandersitzen und viel zu weit vom Schlachtfeld entfernt sind. Sie müßten ja täglich durch die ganze Stadt laufen.« Laurence nahm es an. Der Greis brachte sie und Frau von Hauteserre in sein Haus, das während der ganzen Dauer des Prozesses der Wohnsitz der Verteidiger und der Bewohner von Cinq-Cygne blieb. Nach der Mahlzeit ließ Bordin sich bei verschlossenen Türen von Laurence genau alle Umstände der Sache erzählen und bat sie, keine Einzelheit fortzulassen, obwohl der Marquis Bordin und dem jungen Verteidiger schon während der Fahrt von Paris nach Troyes einige der früheren Ereignisse erzählt hatte. Die Füße am Kamin hörte Bordin zu, ohne sich irgendwie wichtig zu machen. Der junge Advokat aber konnte sich nicht enthalten, sich in seine Bewunderung für Fräulein von Cinq-Cygne und die Aufmerksamkeit für die Sache zu teilen. »Ist das wirklich alles?« fragte Bordin, als Laurence die Ereignisse des Dramas so erzählt hatte, wie sie bisher in dieser Geschichte dargestellt sind. »Ja«, entgegnete sie. Ein paar Augenblicke herrschte tiefstes Schweigen in dem Salon des Hauses Chargeboeuf, in dem sich diese Szene abspielte, eine der ernstesten, die im Leben stattfinden, und auch eine der seltensten. Jeder Prozeß wird ja von den Advokaten noch vor den Richtern entschieden, ebenso wie die Ärzte den Tod des Kranken vorausahnen, noch ehe der Kampf des letzteren mit der Natur und der ersteren mit der Justiz beginnt. Laurence, Herr und Frau von Hauteserre und der Marquis hatten ihre Blicke auf das alte, dunkelfarbige und von tiefen Pockennarben entstellte Gesicht des alten Anwalts geheftet, der Worte über Leben und Tod sprechen sollte. Herr von Hauteserre wischte 444
sich Schweißtropfen von der Stirn. Laurence blickte den jungen Advokaten an und fand, daß er betrübt dreinschaute. »Nun, mein lieber Bordin?« sagte der Marquis, ihm seine Tabaksdose reichend, aus der der Anwalt mit zerstreuter Miene nahm. Bordin rieb sich die Waden, die in groben schwarzen Strümpfen aus Florettseide steckten; denn er trug Kniehosen aus schwarzem Tuch und einen Rock in der Art der sogenannten französischen Röcke. Er warf seinen boshaften Blick auf seine Klienten und gab ihm einen ängstlichen Ausdruck, von dem sie erstarrten. »Soll ich Ihnen das zergliedern und frei heraus sprechen?« fragte er. »Nur zu«, sagte Laurence. »Alles Gute, was Sie getan haben, wird zur Belastung für Sie«, sagte der alte Praktikus. »Man kann Ihre Verwandten nicht retten, sondern nur die Strafe herabsetzen. Ihr Befehl an Michu, seinen Besitz zu verkaufen, wird als der schlagkräftigste Beweis für Ihre verbrecherischen Absichten gegen den Senator gelten. Sie haben Ihre Leute eigens nach Troyes geschickt, um allein zu sein, und das wird um so stichhaltiger sein, als es die Wahrheit ist. Der ältere Hauteserre hat zu Beauvisage ein furchtbares Wort gesagt, das Sie alle zugrunde richtet. Sie haben auf Ihrem Hofe ein anderes Wort gesagt, das Ihre schlimmen Absichten gegen Gondreville lange im voraus bewies. Sie selbst standen im Augenblick des Handstreiches am Gitter auf Posten; wenn Ihnen nicht der Prozeß gemacht wird, so geschieht es, um kein Element der Anteilnahme in die Sache hineinzubringen.« 445
»Die Sache ist unhaltbar!« rief Herr von Granville aus. »Sie ist um so unhaltbarer,« fuhr Bordin fort, »als man nicht mehr die Wahrheit sagen kann. Michu, die Herren von Hauteserre und von Simeuse müssen sich auf die bloße Behauptung beschränken, sie wären mit Ihnen einen Teil des Tages im Walde gewesen und zum Frühstück nach Cinq-Cygne gekommen. Aber wenn wir feststellen können, daß Sie alle um drei Uhr dort waren, während das Attentat stattfand, wer sind dann unsere Zeugen? Martha, die Frau eines Angeklagten, die Durieus und Katharina, die in Ihrem Dienst stehen, Herr und Frau von Hauteserre, die Eltern zweier Angeklagten! Diese Zeugen sind wertlos, das Gesetz läßt sie nicht gegen Sie zu, der gesunde Menschenverstand lehnt sie zu Ihren Gunsten ab. Wenn Sie unglücklicherweise sagten, Sie hätten achthunderttausend Franken in Gold aus dem Walde geholt, so brächten Sie alle Angeklagten als Diebe ins Zuchthaus. Öffentlicher Ankläger, Geschworene, Richter, Publikum und ganz Frankreich würden glauben, Sie hätten dies Gold in Gondreville gestohlen und den Senator seiner Freiheit beraubt, um Ihren Handstreich auszuführen. Nimmt man die Anklage, wie sie in diesem Augenblick steht, so liegt die Sache nicht klar; aber in ihrer reinen Wahrheit würde sie durchsichtig: die Geschworenen würden alle Dunkelheiten durch den Diebstahl erklären, denn Royalist sein heißt heute so viel wie Räuber sein! Der vorliegende Fall stellt eine bei der politischen Lage unzulässige Rache dar. Die Angeklagten erleiden die Todesstrafe, aber sie ist nicht in aller Augen entehrend. Mischt man aber den Raub des Geldes hinein, der nie als berechtigt erscheinen wird, so verlieren Sie den Vorteil der Teilnahme, die zum Tode Verurteilten zuteil wird, wenn ihr Verbrechen als entschuldbar erscheint. Im ersten Augenblick, als Sie noch Ihre Verstecke, den Plan des Waldes, die Blechröhren und das Gold vorweisen konnten, um den Nachweis über die Verwendung Ihres Tages zu führen, wäre es noch 446
möglich gewesen, sich vor unparteiischen Richtern herauszuziehen. Aber wie die Dinge jetzt liegen, muß man schweigen. Gott gebe, daß keiner der sechs Angeklagten die Sache verraten hat, aber wir werden sehen, daß wir aus ihren Verhören Nutzen ziehen.« Laurence rang verzweifelt die Hände und blickte trostlos gen Himmel, denn nun erkannte sie die ganze Tiefe des Abgrunds, in den ihre Vettern gestürzt waren. Der Marquis und der junge Verteidiger pflichteten Bordins furchtbarer Rede bei. Der biedere Hauteserre weinte. »Weshalb hast du nicht auf den Abbé Goujet gehört, der ihnen zur Flucht riet!« rief Frau von Hauteserre erbittert. »Ach,« rief der alte Anwalt, »wenn Sie sie retten konnten und es nicht taten, so haben Sie sie selbst getötet! Die Verurteilung in Abwesenheit gibt Zeit. Mit der Zeit klären Unschuldige alles auf. Diese Sache scheint mir die dunkelste, die ich je erlebt habe, und doch habe ich so manches entwirrt.« »Sie ist für jedermann unerklärlich, selbst für uns«, sagte Herr von Granville. »Sind die Angeklagten unschuldig, so ist der Streich von anderen geführt worden. Fünf Personen kommen nicht wie durch Zauberei in eine Gegend, sie verschaffen sich keine Pferde, die wie die der Angeklagten beschlagen sind, machen sich ihnen nicht ähnlich und werfen Malin nicht in eine Grube, lediglich, um Michu und die Herren von Hauteserre und von Simeuse zu verderben. Die Unbekannten, die wahren Schuldigen, hatten irgendein Interesse daran, sich in die Haut der fünf Unschuldigen zu stecken. Um sie aufzufinden, um ihre Spuren zu suchen, müßten wir wie die Regierung ebenso viele Agenten und Augen haben, als es Gemeinden in einem Umkreis von zwanzig Wegstunden gibt...« 447
»Das ist unmöglich«, sagte Bordin. »Daran darf man nicht mal denken. Seit die menschliche Gesellschaft die Justiz erfunden hat, hat sie noch kein Mittel gefunden, um der angeklagten Unschuld die gleiche Macht zu geben, die dem Richter gegen das Verbrechen zu Gebote steht. Die Justiz ist nicht zweiseitig. Die Verteidigung hat weder Spione noch Polizei; sie verfügt zugunsten ihrer Klienten nicht über die Macht der Gesellschaft. Die Unschuld hat nur Vernunftgründe für sich, und diese Vernunftgründe, die den Richtern Eindruck machen können, sind oft ohnmächtig gegen die voreingenommenen Gemüter der Geschworenen. Das ganze Land ist gegen Sie. Die acht Geschworenen, die die Erhebung der Anklage genehmigt haben, waren Besitzer von Nationalgütern. Unter unsern Urteilsgeschworenen werden wir Leute haben, die wie jene Käufer oder Verkäufer von Nationalgütern oder Beamte sind. Kurz, wir werden eine Jury Malin haben! Daher brauchen wir ein vollständiges Verteidigungssystem; daran halten Sie fest, gehen Sie mit Ihrer Unschuld zugrunde. Sie werden verurteilt werden. Wir werden an den Kassationshof gehen und versuchen, die Sache dort hinzuziehen. Kann ich inzwischen Beweise zu Ihren Gunsten beibringen, so werden Sie ein Gnadengesuch einreichen. Das ist die Anatomie der Sache und meine Meinung. Sollten wir obsiegen (denn vor Gericht ist alles möglich), so wäre es ein Wunder, aber Ihr Advokat ist unter allen, die ich kenne, am meisten befähigt, dies Wunder zu vollbringen, und ich werde ihm helfen.« »Der Senator muß den Schlüssel zu diesem Rätsel haben,« sagte Herr von Granville, »denn man weiß stets, wer einem nicht wohl will, und aus welchem Grunde. Ich sehe ihn gegen Ende des Winters Paris verlassen, allein und ohne Begleitung nach Gondreville kommen, sich dort mit seinem Notar einschließen und sich gewissermaßen fünf Männern ausliefern, die ihn vergewaltigen.« 448
»Gewiß,« sagte Bordin, »sein Benehmen ist mindestens ebenso außergewöhnlich wie das unsre; aber wie sollten wir angesichts eines gegen uns aufgebrachten Landes aus Angeklagten zu Anklägern werden? Dazu brauchten wir das Wohlwollen und die Unterstützung der Regierung, und tausendmal mehr Beweise als unter gewöhnlichen Umständen. Ich sehe raffiniertesten Vorbedacht bei unseren unbekannten Gegnern, die das Verhältnis Michus und der Herren von Simeuse zu Malin kennen. Nicht reden! Nicht stehlen! Darin liegt Vorsicht. Ich erkenne unter diesen Masken was ganz andres als Bösewichter... Aber sagen Sie dergleichen den Geschworenen, die man uns geben wird!« Dieser Scharfblick in Privatangelegenheiten, der manchen Advokaten und Richter so groß macht, erstaunte und verwirrte Laurence; diese entsetzliche Logik krampfte ihr Herz zusammen. »Auf hundert Kriminalfälle«, sagte Bordin, »kommen nicht zehn, die die Justiz in ihrem ganzen Umfange aufrollt, und wohl in einem guten Drittel der Fälle bleibt das Geheimnis ihr unbekannt. Ihr Fall gehört zu denen, die für die Angeklagten wie für die Ankläger, für die Justiz wie für das Publikum unentzifferbar bleiben. Der Herrscher aber hat mehr zu tun, als den Herren von Simeuse beizuspringen, selbst wenn sie ihn nicht hätten stürzen wollen. Aber wer zum Teufel hat es auf Malin abgesehen? Und was wollte man von ihm ?« Bordin und Herr von Granville blickten sich an; sie schienen an Laurences Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Diese Geste war für das junge Mädchen einer der brennendsten unter den tausend Schmerzen dieses Prozesses, und sie warf den Verteidigern einen Blick zu, der bei ihnen jeden schlimmen Verdacht tötete.
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Am nächsten Tage wurden die Akten den Verteidigern zugestellt, und diese konnten mit den Angeklagten konferieren. Bordin teilte der Familie mit, daß die sechs sich als brave Leute gut gehalten hätten, um einen Berufsausdruck zu gebrauchen. »Herr von Granville wird Michu verteidigen«, sagte Bordin. »Michu?...« rief Herr von Chargeboeuf aus, den dieser Wechsel erstaunte. »Um ihn dreht sich alles, und bei ihm liegt die Gefahr«, entgegnete der alte Anwalt. »Wenn er am meisten gefährdet ist, scheint es mir recht und billig!« rief Laurence aus. »Wir erkennen Möglichkeiten,« versetzte Herr von Granville, »und wir wollen sie gründlich studieren. Wenn wir sie retten können, so ist es, weil Herr von Hauteserre zu Michu gesagt hat, er solle einen der Pfosten am Zaun des Hohlweges ausbessern, und weil im Walde ein Wolf gesehen worden ist. Denn vor einem Kriminalgericht hängt alles von den Verhandlungen ab, und die werden sich um Kleinigkeiten drehen, die, wie Sie sehen werden, riesengroß werden.« Laurence verfiel in die innere Niedergeschlagenheit, die die Seele aller Tatmenschen und Denker quälen muß, wenn die Vergeblichkeit alles Tuns und Denkens ihnen bewiesen wird. Hier ging es nicht mehr darum, mit Hilfe ergebener Leute und fanatischer Sympathien, die in geheimnisvolles Dunkel gehüllt sind, einen Mann oder eine Macht zu stürzen; sie sah die ganze Gesellschaft gegen sich und gegen ihre Vettern bewaffnet. Man stürmt nicht ganz allein ein Gefängnis und befreit keine Gefangenen mitten aus einer feindlichen Bevölkerung und unter den 450
Augen einer Polizei, die durch die angebliche Verwegenheit des Angeklagten wachsam geworden ist. Als daher der junge Verteidiger, erschreckt durch die dumpfe Bestürzung dieses edlen und hochherzigen Mädchens, die durch ihre Gesichtszüge noch stumpfsinniger erschien, ihren Mut zu heben suchte, antwortete sie ihm: »Ich schweige, ich leide und warte ab...« Tonfall, Gebärde und Blick gaben dieser Antwort eine Erhabenheit, der nur ein großer Schauplatz fehlte, um berühmt zu werden. Nach ein paar Augenblicken sagte der biedere Hauteserre zu dem Marquis von Chargeboeuf: »Was für Mühe hab' ich mir für meine zwei unglücklichen Kinder gegeben! Ich habe schon fast achthunderttausend Franken in Staatspapieren für sie zusammengebracht. Hätten sie dienen wollen, sie wären in höhere Stellungen gekommen und könnten sich heute vorteilhaft verheiraten. Und so werden alle meine Pläne zu Wasser!« »Wie kannst du an ihre Interessen denken,« sagte seine Frau zu ihm, »wo es um ihre Ehre und um ihren Kopf geht!« »Herr von Hauteserre denkt eben an alles«, begütigte der Marquis. Während die Bewohner von Cinq-Cygne die Eröffnung der Verhandlungen vor dem Kriminalgericht erwarteten und um die Erlaubnis baten, die Gefangenen besuchen zu dürfen, ohne daß sie ihnen gewährt ward, ging im Schlosse in tiefster Heimlichkeit ein Ereignis von größtem Belang vor. Martha war sofort nach ihrer Vernehmung vor den Geschworenen nach CinqCygne zurückgekehrt. Diese Vernehmung war so ergebnislos 451
gewesen, daß der öffentliche Ankläger sie nicht mal vor das Kriminalgericht lud. Wie alle übermäßig empfindsamen Menschen blieb die arme Frau in einem Zustand erbarmungswürdiger Stumpfheit in dem Salon sitzen, wo sie Fräulein Goujet Gesellschaft leistete. Für sie wie übrigens auch für den Pfarrer und für alle, die nicht wußten, wie die Angeklagten ihren Tag verbracht hatten, war deren Unschuld fragwürdig. Bisweilen glaubte Martha, daß Michu, ihre Herren und Laurence irgendeine Rache an dem Senator verübt hätten. Kannte die unglückliche Frau doch Michus Ergebenheit hinreichend, um zu begreifen, daß er von allen Angeklagten am meisten in Gefahr war, sei es wegen seines Vorlebens oder wegen seines Anteils an der Ausführung. Der Abbé Goujet, seine Schwester und Martha verloren sich in Mutmaßungen, zu denen diese Meinung Anlaß gab, aber je mehr sie darüber nachgrübelten, deuteten sie sich die Sache verschieden. Der völlige Zweifel, wie ihn Descartes fordert, ist für das menschliche Gehirn ebensowenig erreichbar wie die Leere in der Natur, und der geistige Vorgang, durch den er entstehen könnte, wäre wie die Wirkung der Luftpumpe ein außergewöhnlicher, monströser Zustand. Um was es sich auch handeln mag, man glaubt stets an etwas. Nun aber hatte Martha solche Angst vor der Schuld der Angeklagten, daß ihre Furcht dem Glauben gleichkam, und diese Geistesverfassung wurde ihr zum Verhängnis. Fünf Tage nach der Verhaftung der Edelleute wurde sie in dem Augenblick, als sie zu Bett gehen wollte, gegen zehn Uhr abends von ihrer Mutter, die zu Fuß vom Pachthofe kam, in den Hof gerufen. »Ein Arbeiter aus Troyes will dir etwas von Michu bestellen. Er erwartet dich im Hohlwege«, sagte sie zu Martha. Beide gingen durch die Bresche, um den kürzesten Weg zu nehmen. Im Dunkel der Nacht und des Weges vermochte
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Martha nur die Gestalt eines Menschen zu erkennen, die sich von der Finsternis abhob. »Reden Sie, Frau, damit ich erkenne, ob Sie Frau Michu sind«, sagte der Mann mit ziemlich unruhiger Stimme. »Gut«, sagte der Unbekannte. »Geben Sie mir Ihre Hand. Haben Sie keine Angst vor mir. Ich komme von Michu,« fuhr er fort, sich zu Marthas Ohr neigend, »um Ihnen ein paar Zeilen zu bringen. Ich bin im Gefängnis angestellt, und wenn meine Vorgesetzten merkten, daß ich fort bin, wären wir alle verloren. Vertrauen Sie mir. Ihr braver Vater hat mich seinerzeit dort angestellt. Deshalb hatte auch Michu Vertrauen zu mir.« Er drückte Martha einen Brief in die Hand und verschwand nach dem Walde, ohne eine Antwort abzuwarten. Martha schauderte bei dem Gedanken, daß sie nun zweifellos das Geheimnis der Sache erfahren würde. Sie lief mit ihrer Mutter nach dem Pachthofe, schloß sich ein und las den folgenden Brief: »Liebe Martha, Du kannst Dich auf die Verschwiegenheit des Mannes verlassen, der Dir diesen Brief überbringt. Er kann weder lesen noch schreiben und ist einer der sichersten Republikaner aus der Verschwörung Baboeufs. Dein Vater hat ihn oft benutzt, und er sieht den Senator als Verräter an. Nun, liebe Frau, der Senator ist von uns in den Keller gesperrt worden, in dem wir schon unsre Herren versteckt hatten. Der Elende hat nur für fünf Tage Lebensmittel, und da es in unserm Interesse liegt, daß er am Leben bleibt, so bringe ihm gleich nach Empfang dieser Zeilen Lebensmittel für mindestens fünf Tage. Der Wald muß überwacht sein; triff also ebensoviel Vorsichtsmaßregeln, wie wir 453
es bei unsern jungen Herren taten. Sage Malin kein Wort, sprich nicht mit ihm und lege eine unserer Masken an, die Du auf einer der Kellerstufen finden wirst. Willst Du unsre Köpfe nicht in Gefahr bringen, so wahre tiefstes Schweigen über das Geheimnis, das ich Dir anvertrauen muß. Sage Fräulein von Cinq-Cygne kein Wort davon; sie könnte schwatzen. Fürchte nichts für mich. Wir sind des guten Ausgangs der Sache gewiß, und wenn es sein muß, wird Malin unser Retter sein. Schließlich brauche ich Dir nicht zu sagen, daß Du diesen Brief verbrennen mußt, sobald Du ihn gelesen hast, denn er kostete mir den Kopf, wenn man eine einzige Zeile davon läse. Ich umarme Dich vieltausendmal. Michu.« Das Vorhandensein des Kellers unter der Bodenerhebung mitten im Walde war nur Martha, ihrem Sohne, Michu, den vier Edelleuten und Laurence bekannt. Wenigstens mußte Martha dies glauben, denn ihr Mann hatte ihr nichts von seiner Begegnung mit Peyrade und Corentin gesagt. Somit konnte der Brief, der ihr übrigens von Michu geschrieben und unterzeichnet schien, nur von ihm kommen. Gewiß, hätte Martha sofort ihre Herrin und deren beide Berater gefragt, die die Unschuld der Angeklagten kannten, so hätte der verschlagene Anwalt irgendeine Aufklärung über die Ränke erlangt, mit denen man seine Klienten umspann. Aber Martha, die wie die meisten Frauen ganz ihrer ersten Regung folgte und durch diese Überlegungen, die ihr in die Augen sprangen, überzeugt war, warf den Brief in den Kamin. Trotzdem zog sie in einer eigenartigen Erleuchtung der Vorsicht die unbeschriebene Seite des Briefes und die ersten Zeilen, deren Inhalt niemanden bloßstellen konnte, aus dem Feuer zurück und nähte sie in den Saum ihres Rockes ein. Ziemlich erschreckt, daß der Gefangene seit vierundzwanzig Stunden fastete, wollte sie ihm noch in dieser 454
Nacht Wein, Brot und Fleisch bringen. Ihre Neugier wie ihre Menschlichkeit erlaubte ihr nicht, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie heizte ihren Ofen, machte mit Beihilfe ihrer Mutter eine Pastete aus Hasen- und Entenfleisch, einen Reiskuchen, briet zwei Hühner, nahm drei Flaschen Wein und buk selbst zwei runde Brote. Gegen halb drei Uhr morgens machte sie sich auf den Weg nach dem Walde. Sie trug alles in einer Kiepe und nahm Couraut mit, der bei all diesen Unternehmungen mit seltener Intelligenz als Aufklärer diente. Er witterte Fremde auf riesige Entfernungen, und hatte er ihre Anwesenheit gespürt, so kehrte er mit leisem Knurren zu seiner Herrin zurück, blickte sie an und drehte das Maul nach der gefährdeten Seite. Gegen drei Uhr morgens langte Martha bei dem, Sumpfe an, wo sie Couraut als Schildwache zurückließ. Es kostete ihr eine halbe Stunde Arbeit, den Eingang freizumachen; dann trat sie mit einer Blendlaterne an die Kellertür, das Gesicht mit einer Maske bedeckt, die sie tatsächlich auf einer Stufe gefunden hatte. Die Gefangensetzung des Senators war anscheinend lange vorher überlegt worden. Ein Loch von einem Quadratfuß, das Martha vordem nicht bemerkt hatte, war roh in dem Oberteil der Eisentür angebracht, die den Keller schloß. Damit aber Malin nicht mit der Zeit und Geduld, die alle Gefangenen haben, den eisernen Riegel, der die Tür verschloß, zurückschieben konnte, hatte man ein Vorlegeschloß angebracht. Der Senator, der sich von seinem Mooslager erhoben hatte, stieß einen Seufzer aus, als er ein maskiertes Gesicht erblickte, und erriet, daß es sich noch nicht um seine Befreiung handelte. Er beobachtete Martha in dem undeutlichen Schein einer Blendlaterne und erkannte sie an ihren Kleidern, ihrer Beleibtheit und ihren Bewegungen. Als sie ihm durch das Loch die Pastete reichte, ließ er diese fallen, um ihre Hände zu ergreifen, und versuchte mit außerordentlicher Geschwindigkeit, ihr zwei 455
Ringe vom Finger zu streifen: ihren Trauring und ein Ringchen, das ihr Fräulein von Cinq-Cygne geschenkt hatte. »Sie werden nicht leugnen, daß Sie es sind, liebe Frau Michu?« sagte er. Martha ballte die Faust, sobald sie die Finger des Senators fühlte, und gab ihm einen kräftigen Schlag gegen die Brust. Dann ging sie, ohne ein Wort zu sagen, um sich eine kräftige Rute zu schneiden, und benutzte sie, um dem Senator den Rest der Vorräte zu reichen. »Was will man von mir?« fragte er. Martha ging, ohne eine Antwort zu geben. Bei der Heimkehr erreichte sie gegen fünf Uhr den Waldrand, und Couraut meldete ihr die Anwesenheit eines Lästigen. Sie kehrte um und ging auf den Pavillon zu, wo sie so lange gewohnt hatte. Als sie aber in die Allee kam, wurde sie von weitem vom Feldhüter von Gondreville bemerkt. Nun entschloß sie sich, gerade auf ihn loszugehen. »Sie sind recht früh auf, Frau Michu!« redete er sie an. »Wir sind so unglücklich«, entgegnete sie, »daß ich gezwungen bin, die Arbeit einer Magd zu tun. Ich gehe nach Bellache, um Korn zu holen.« »Haben Sie denn in Cinq-Cygne kein Korn?« fragte der Feldhüter. Martha gab keine Antwort und setzte ihren Weg fort. Als sie zum Pachthof Bellache kam, bat sie Beauvisage, ihr verschiedene Sorten von Saatkorn zu geben; Herr von Hauteserre hätte 456
ihr befohlen, sie bei ihm zu holen, um seine Samenarten aufzufrischen. Als Martha fort war, kam der Feldhüter von Gondreville nach dem Pachthof und fragte, was Martha dort hatte holen wollen. Sechs Tage darauf ging Martha, die nun vorsichtig geworden war, schon um Mitternacht fort, um die Vorräte hinzubringen und nicht von den Wächtern überrascht zu werden, die den Wald offenbar überwachten. Nachdem sie dem Senator zum drittenmal Lebensmittel gebracht hatte, ward sie von einer Art von Schrecken ergriffen, als sie den Pfarrer die öffentlichen Vernehmungen der Angeklagten vorlesen hörte, denn die Verhandlungen hatten eben begonnen. Sie nahm den Abbé Goujet beiseite, ließ sich von ihm schwören, über das, was sie ihm sagen würde, wie bei der Beichte Schweigen zu bewahren, und zeigte ihm die Fetzen des Briefes, den sie von Michu erhalten hatte. Dann gab sie ihm dessen Inhalt an und vertraute ihm das Geheimnis an, wo sich der Senator befand. Der Pfarrer fragte sie sogleich, ob sie Briefe von ihrem Gatten hätte, damit er die Schrift vergleichen könne. Martha ging nach Hause auf den Pachthof und fand dort eine Vorladung, als Zeugin vor Gericht zu erscheinen. Als sie ins Schloß zurückkehrte, waren der Abbé Goujet und seine Schwester auf Antrag der Angeklagten gleichfalls vorgeladen worden. Sie mußten sich also unverweilt nach Troyes begeben. So waren alle Personen dieses Dramas, selbst die, welche gewissermaßen nur Statisten waren, auf dem Schauplatz vereinigt, auf dem um das Schicksal der beiden Familien gespielt ward. Es gibt sehr wenige Orte in Frankreich, wo die Justiz den Dingen den Nimbus verleiht, den sie stets haben sollten. Ist sie nicht nächst der Religion und dem Königtum das größte Triebwerk der Gesellschaft? Überall, selbst in Paris, wird die Wirkung dieser ungeheuren Macht durch die Ärmlichkeit des 457
Lokals, die schlechte Raumverteilung und den Mangel an Ausstattung vermindert, und das bei dem eitelsten und bei Monumenten theatralischsten Volke, das es heute gibt. Die Einrichtung ist fast in allen Städten die gleiche. Im Hintergrund eines langen, viereckigen Saales sieht man auf einer Estrade einen mit grünem Tuche bedeckten Tisch, hinter dem die Richter auf gewöhnlichen Lehnstühlen Platz nehmen. Links befindet sich der Stuhl des öffentlichen Anklägers und auf derselben Seite längs der Wand eine lange Tribüne mit Stühlen für die Geschworenen. Ihnen gegenüber erstreckt sich eine zweite Tribüne, auf der sich eine Bank für die Angeklagten und die sie bewachenden Gendarmen befindet. Der Gerichtsschreiber sitzt am Fuße der Estrade an dem Tisch, auf dem die Beweisstücke liegen. Vor der Einrichtung der kaiserlichen Justiz hatten der Regierungskommissar und der Direktor der Jury jeder einen Stuhl und einen Tisch rechts und links von dem Richtertisch. Zwei Gerichtsdiener tummeln sich in dem Raum vor der Estrade, der für das Erscheinen der Zeugen frei bleibt. Die Verteidiger sitzen unter der Tribüne der Angeklagten. Eine Holzschranke verbindet beide Tribünen am anderen Saalende und teilt einen Raum ab, in dem die Bänke für die vernommenen Zeugen und die bevorrechtigten Zuschauer stehen. Ferner befindet sich gegenüber dem Gerichtshof über der Eingangstür stets eine elende Tribüne für die Behörden und die Frauen, die von dem Präsidenten, der die Saalpolizei ausübt, aus dem Departement ausgewählt werden. Das nicht bevorrechtigte Publikum steht in dem Raume zwischen der Saaltür und der Schranke. Dies normale Aussehen der französischen Gerichte und der jetzigen Schwurgerichte war auch das des Kriminalgerichtes von Troyes. Im April 1806 hatten weder die vier Richter noch der Präsident, die den Gerichtshof bildeten, noch der öffentliche Ankläger, noch der Direktor der Jury, noch der 458
Regierungskommissar, noch die Gerichtsdiener oder die Verteidiger, kurz, niemand außer den Gendarmen eine Amtstracht oder ein Erkennungszeichen, das die Kahlheit der Dinge und den recht mageren Anblick der Gesichter hob. Das Kruzifix fehlte und gab weder den Richtern noch den Angeklagten sein Beispiel. Alles war traurig und gewöhnlich. Der im sozialen Interesse so nötige Apparat ist vielleicht ein Trost für den Verbrecher. Der Andrang des Publikums war der gleiche, wie er bei allen derartigen Anlässen sein wird, solange die Sitten sich nicht gebessert haben und Frankreich nicht erkannt hat, daß die Zulassung des Publikums zur Sitzung nicht die Öffentlichkeit bedingt, daß die Öffentlichkeit der Verhandlungen eine so unerhörte Strafe darstellt, daß der Gesetzgeber sie nicht vorgeschrieben hätte, wenn er sie hätte ahnen können. Die Sitten sind oft grausamer als die Gesetze. Die Sitten sind die Menschen, aber das Gesetz ist die Vernunft eines Landes. Die Sitten, die oft unvernünftig sind, siegen über das Gesetz. Menschenansammlungen bildeten sich um das Gerichtsgebäude. Wie bei allen berühmten Prozessen war der Präsident genötigt, die Türen durch Militär bewachen zu lassen. Der Zuschauerraum hinter der Schranke war so überfüllt, daß man darin erstickte. Herr von Granville, der Michu verteidigte, Bordin, der Verteidiger der Herren von Simeuse, und ein Advokat aus Troyes, der für die Herren von Hauteserre und für Gotthard, die am wenigsten Belasteten unter den sechs Angeklagten, eintrat, waren schon vor Beginn der Sitzung auf ihrem Posten und blickten zuversichtlich drein. Ebenso wie der Arzt seinen Kranken nichts von seinen Befürchtungen merken läßt, ebenso zeigt der Advokat seinem Klienten stets ein hoffnungsvolles Gesicht. Dies ist einer der seltenen Fälle, wo die Lüge zur Tugend wird. Als die Angeklagten eintraten, erhob sich wohlwollendes Gemurmel beim Anblick der vier jungen Leute, die nach zwanzigtägiger Haft und Sorge etwas blaß geworden 459
waren. Die vollkommene Ähnlichkeit der Zwillinge erregte das stärkste Interesse. Vielleicht dachte jeder, die Natur müsse eine ihrer merkwürdigsten Seltenheiten besonders in Schutz nehmen, und jedermann war versucht, die Vergeßlichkeit des Schicksals ihnen gegenüber wieder gut zu machen. Ihr edles, schlichtes Benehmen, ohne das geringste Zeichen von Scham, aber auch von Prahlerei, rührte viele Frauen. Die vier Edelleute sowie Gotthard erschienen in der Kleidung, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatten; Michu jedoch, dessen Kleider zu den Beweisstücken gehörten, hatte seinen besten Anzug angelegt, einen blauen Überrock, eine braune Samtweste nach der Art Robespierres und eine weiße Halsbinde. Der Ärmste zahlte jetzt den Tribut für sein finsteres Aussehen. Wenn er seinen gelben, klaren und tiefen Blick über die Versammlung schweifen ließ oder eine Bewegung machte, antwortete ihm ein Murmeln des Schreckens. Das Publikum wollte den Finger Gottes in seinem Erscheinen auf der Anklagebank sehen, auf die sein Schwiegervater so viele Opfer gebracht hatte. Dieser wahrhaft große Mann blickte seine Herren mit einem unterdrückten ironischen Lächeln an, als wollte er zu ihnen sagen: »Ich werde Euch schaden!« Die fünf Angeklagten begrüßten sich herzlich mit ihren Verteidigern. Gotthard spielte noch immer den Blöden. Die Verteidiger übten ihr Ablehnungsrecht mit Scharfsinn. Sie waren in diesem Punkte von dem Marquis von Chargeboeuf beraten worden, der mutig neben Bordin und Herrn von Granville saß. Als dann die Jury zusammengestellt und die Anklageschrift verlesen war, wurden die Angeklagten getrennt, um vernommen zu werden. Alle antworteten in auffälliger Übereinstimmung. Nachdem sie am Morgen im Walde geritten wären, seien sie um ein Uhr zum Frühstück nach Cinq-Cygne zurückgekehrt. Nach dem Essen seien sie von drei bis halb sechs Uhr wieder in den Wald geritten. Das war der gemein460
same Grundzug ihrer Aussagen; einzelne Abweichungen ergaben sich aus der besonderen Lage jedes Angeklagten. Als der Präsident die Herren von Simeuse aufforderte, Gründe für ihren so frühzeitigen Ritt anzugeben, erklärten beide, seit ihrer Rückkehr hätten sie daran gedacht, Gondreville zurückzukaufen, und da sie beabsichtigt hätten, mit Malin zu verhandeln, der tags zuvor angekommen sei, wären sie mit ihrer Base und Michu ausgeritten, um den Wald abzuschätzen und ihre Angebote darauf zu begründen. Inzwischen hätten die Herren von Hauteserre, ihre Base und Gotthard einen Wolf gejagt, den die Bauern bemerkt hätten. Wären ihre Pferdespuren im Walde ebenso sorgfältig geprüft worden wie die, die durch den Park von Gondreville führten, so hätte man den Beweis für ihre Ritte in Gegenden gehabt, die vom Schlosse recht weit ablagen. Das Verhör des Herren von Hauteserre bestätigte ihre Angaben und stimmte mit ihren Aussagen in der Voruntersuchung überein. Die Notwendigkeit, ihren Ritt zu rechtfertigen, hatte jeden Angeklagten auf den Gedanken gebracht, ihn mit der Jagd zu begründen. Ein paar Tage vorher hatten Bauern einen Wolf im Walde gemeldet und jeder von ihnen nahm das zum Vorwand. Doch der öffentliche Ankläger hob Widersprüche zwischen den ersten Vernehmungen hervor, wo die Herren von Hauteserre ausgesagt hatten, sie hätten allesamt gejagt, und dem in der Verhandlung befolgten System, wonach die Herren von Hauteserre und Laurence gejagt, die Herren von Simeuse aber den Wald abgeschätzt hätten. Herr von Granville wies darauf hin, daß das Delikt erst zwischen zwei und halb sechs Uhr begangen sei; somit müsse man den Angeklagten Glauben schenken, wenn sie erklärten, wie sie den Vormittag verbracht hätten.
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Der Ankläger erwiderte, die Angeklagten hätten ein Interesse daran, die Vorbereitungen zur Freiheitsberaubung des Senators zu verbergen. Die Geschicklichkeit der Verteidigung wurde nun jedermann klar. Richter, Geschworene und Zuschauer begriffen bald, daß der Sieg heiß umstritten werden würde. Bordin und Herr von Granville schienen alles vorausgesehen zu haben. Die Unschuld muß über ihr Tun und Lassen klar und stichhaltig Rechenschaft ablegen. Die Verteidigung hat also die Pflicht, dem unwahrscheinlichen Roman der Anklage einen wahrscheinlichen Roman entgegenzustellen. Für den Verteidiger, der seinen Klienten als unschuldig betrachtet, wird die Anklage zum Märchen. Das öffentliche Verhör der vier Edelleute erklärte die Dinge hinreichend zu ihren Gunsten. Soweit ging alles gut. Ernster jedoch war Michus Vernehmung; mit ihr begann der Kampf. Ein jeder begriff jetzt, warum Herr von Granville die Verteidigung des Dieners der seiner Herren vorgezogen hatte. Michu gab zu, Marion bedroht zu haben, stritt jedoch ab, daß es mit der behaupteten Heftigkeit geschehen sei. Betreffs des Auflauerns von Malin sagte er aus, er sei ganz einfach im Park umhergegangen. Vielleicht hätten der Senator und Herr Grévin Angst bekommen, als sie die Mündung seines Flintenlaufs erblickt hätten, und ihm eine feindliche Haltung zugeschrieben, während sie ganz harmlos gewesen sei. Er hob hervor, daß ein Mann, der nicht an die Jagd gewöhnt ist, am Abend ein Gewehr gegen sich gerichtet glauben kann, während es ruhig auf der Schulter liegt. Den Zustand seiner Kleider bei seiner Verhaftung erklärte er damit, daß er bei der Heimkehr in die Bresche gefallen sei. »Da ich beim Durchklettern nicht mehr deutlich sah,« sagte er, »habe ich sozusagen die Steine umarmt, die unter mir einbra462
chen, als ich mich an sie festhielt, um den Hohlweg zu erklimmen.« Betreffs des Kalks, den Gottfried ihm gebracht hatte, antwortete er wie bei allen seinen Vernehmungen, mit dem Kalk hätte er einen Pfosten am Zaun des Hohlweges ausgeflickt. Der öffentliche Ankläger und der Präsident forderten ihn nun auf, zu erklären, wie er gleichzeitig in der Bresche beim Schloß und oben im Hohlweg hätte sein können, um einen Pfosten des Zauns auszuflicken, zumal der Friedensrichter, die Gendarmen und der Feldhüter erklärten, sie hätten ihn von unten kommen hören. Michu entgegnete, Herr von Hauteserre hätte ihm Vorwürfe gemacht, weil er nicht längst die kleine Ausbesserung ausgeführt hatte, auf die er Wert legte, weil dieser Weg Schwierigkeiten mit der Gemeinde hervorrufen konnte. Er sei also hingegangen, um ihm zu melden, daß der Zaun in Ordnung sei. In der Tat hatte Herr von Hauteserre einen Zaun oben am Hohlweg errichten lassen, damit die Gemeinde ihn nicht in Beschlag nahm. Als Michu sah, welche Wichtigkeit der Zustand seiner Kleider und der Kalk bekam, dessen Gebrauch nicht abzuleugnen war, hatte er diese Ausflucht ersonnen. Wenn bei Gericht die Wahrheit oft einem Märchen gleicht, so kommt auch das Märchen der Wahrheit sehr nahe. Der Verteidiger wie der Ankläger legten beide großen Wert auf diesen Umstand, der durch die Bemühungen des Verteidigers wie durch den Verdacht des Anklägers grundlegend wurde. Gotthard, der offenbar von Herrn von Granville aufgeklärt war, gab beim Verhör zu, daß Michu ihn gebeten hatte, ihm Säcke mit Kalk zu bringen. Denn bis dahin hatte er stets zu weinen begonnen, wenn er gefragt wurde. 463
»Warum haben Sie oder Gotthard nicht sofort den Friedensrichter oder den Feldhüter nach dem Zaune geführt?« fragte der öffentliche Ankläger. »Ich habe nie geglaubt, daß wir wegen eines Kapitalverbrechens angeklagt werden könnten«, sagte Michu. Alle Angeklagten außer Gotthard wurden hinausgeführt. Als dieser allein war, beschwor der Präsident ihn, in seinem Interesse die Wahrheit zu sagen, und wies ihn darauf hin, daß seine gespielte Blödigkeit verschwunden sei. Keiner der Geschworenen hielte ihn für schwachsinnig. Wenn er vor dem Gerichtshofe weiter schwiege, könne er sich ernste Strafen zuziehen; sagte er jedoch die Wahrheit, so würde er wahrscheinlich freigesprochen. Gotthard weinte, schwankte und sagte schließlich, Michu hätte ihn gebeten, ihm mehrere Säcke Kalk zu holen, aber jedesmal hätte er ihn im Pachthof getroffen. Auf die Frage, wieviel Säcke er gebracht hätte, antwortete er: »Drei.« Nun entstand zwischen Gotthard und Michu eine Debatte darüber, ob es drei einschließlich des Sackes waren, den er ihm im Augenblick der Verhaftung brachte; dann wären es nur zwei Säcke oder drei außer dem letzten gewesen. Dieser Streit endete zu Michus Gunsten. Für die Geschworenen waren nur zwei Säcke gebraucht worden, aber sie schienen in diesem Punkte schon ihre Überzeugung zu haben. Bordin und Herr von Granville hielten es für nötig, sie mit Kalk zu sättigen und sie derart zu ermüden, daß sie nichts mehr begriffen. Herr von Granville stellte den Antrag, Sachverständige zu ernennen, um den Zustand des Zaunes zu prüfen. »Der Direktor der Jury«, sagte der Verteidiger, »hat sich begnügt, die Örtlichkeit zu besichtigen, weniger um eine strenge Besichtigung vorzunehmen, als um dort eine Ausflucht Michus
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zu entdecken. Aber nach unserer Meinung hat er seine Pflicht versäumt, und sein Fehler muß uns zugute kommen.« In der Tat ernannte das Gericht Sachverständige zwecks Feststellung, ob einer der Pfosten des Zaunes neuerdings ausgebessert worden war. Doch der öffentliche Ankläger wollte noch vor der Prüfung durch Sachverständige in dieser Sache den Sieg davontragen. »Sie hätten sich«, sagte er zu Michu, »die Stunde zwischen halb sechs und halb sieben Uhr, wo es nicht mehr hell ist, ausgesucht, um allein den Zaun auszubessern?« »Herr von Hauteserre hatte mich gescholten!« »Aber,« sagte der öffentliche Ankläger, »wenn Sie den Kalk zu dem Zaune verwendet haben, so haben Sie doch einen Kübel und eine Kelle gebraucht. Wenn Sie nun so bald zu Herrn von Hauteserre gegangen sind, um ihm zu melden, Sie hätten seinen Befehl ausgeführt, so können Sie unmöglich erklären, warum Gotthard Ihnen noch Kalk brachte. Sie müssen doch an Ihrem Pachthof vorbeigegangen sein; dann hätten Sie da Ihre Werkzeuge abgelegt und Gotthard Bescheid gesagt.« Bei diesen niederschmetternden Argumenten entstand furchtbare Stille im Zuschauerraum. »Nun, gestehen Sie,« fuhr der Ankläger fort, »es war nicht ein Pfosten, den Sie eingemauert haben...« »Glauben Sie denn den Senator?« fragte Michu mit tief ironischer Miene.
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Herr von Granville bat den öffentlichen Ankläger in aller Form, sich hierüber zu erklären. Michu sei der Entführung, der Freiheitsberaubung angeklagt, aber nicht des Mordes. Nichts war bedeutungsvoller als diese Zwischenfrage. Nach dem Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV war es dem öffentlichen Ankläger verboten, während der Verhandlungen irgendeinen neuen Klagepunkt einzuführen. Er mußte sich bei Strafe der Nichtigkeit an den Wortlaut der Anklageschrift halten. Der öffentliche Ankläger gab zur Antwort, daß Michu als Haupturheber des Attentats, der im Interesse seiner Herren die ganze Verantwortung auf sich genommen habe, es wohl hätte nötig haben können, den Eingang des noch unbekannten Ortes, wo der Senator schmachtete, zu vermauern. Mit Fragen bedrängt, vor Gotthard gequält und in Selbstwidersprüche verwickelt, schlug Michu mit der Faust wütend auf das Geländer der Angeklagtentribüne und sagte: »Ich habe mit der Entführung des Senators nichts zu tun. Ich glaube gern, daß seine Feinde ihn einfach eingesperrt haben. Aber wenn er wieder auftaucht, werden Sie sehen, daß der Kalk zu nichts hat dienen können.« »Gut!« sagte der Advokat und wandte sich an den öffentlichen Ankläger; »Sie haben für die Verteidigung meines Klienten mehr getan, als ich hätte sagen können.« Mit dieser dreisten Behauptung, die die Geschworenen überraschte und der Verteidigung einen Vorteil gab, wurde die erste Sitzung aufgehoben. Und so beglückwünschten die Advokaten der Stadt und Bordin den jungen Verteidiger begeistert. Der öffentliche Ankläger, ob dieser Behauptung beunruhigt, fürchtete in eine Falle gegangen zu sein, und in der Tat war er in eine von den Verteidigern sehr geschickt gestellte Schlinge gefallen, wobei Gotthard seine Rolle wunderbar gespielt hatte. 466
Die Witzbolde der Stadt sagten, man hätte die Sache wieder ausgebessert, der öffentliche Ankläger hätte den Kalk schlecht gerührt und die Simeuses würden schlohweiß wie Kalk werden. In Frankreich gehört alles ins Bereich des Scherzes: er ist der König. Man scherzt auf dem Schafott, an der Beresina, auf den Barrikaden, und irgendein Franzose wird gewiß vor dem großen Gerichtshof des Jüngsten Gerichts noch Witze machen. Am nächsten Tage wurden die Belastungszeugen vernommen: Frau Marion, Frau Grévin, ihr Gatte, der Kammerdiener des Senators und Violette, dessen Aussagen nach den Ereignissen leicht vorzustellen sind. Alle erkannten die fünf Angeklagten wieder, die vier Edelleute mehr oder weniger zögernd, aber Michu mit Bestimmtheit. Beauvisage gab die Worte an, die Herrn von Hauteserre entschlüpft waren. Der Bauer, der das Kalb hatte kaufen wollen, wiederholte die Worte des Fräuleins von Cinq-Cygne. Die Sachverständigen bestätigten bei ihrer Vernehmung ihren Bericht über den Vergleich der Hufspuren mit den Eisen der Pferde der vier Edelleute, die nach der Anklage völlig übereinstimmten. Dieser Umstand gab natürlich Anlaß zu einer heftigen Debatte zwischen Herrn von Granville und dem öffentlichen Ankläger. Der Verteidiger nahm den Hufschmied von Cinq-Cygne beiseite und konnte in der Verhandlung feststellen, daß gleiche Hufeisen ein paar Tage zuvor an landfremde Leute verkauft worden waren. Außerdem erklärte der Hufschmied, daß er derart nicht nur die Pferde des Schlosses von Cinq-Cygne, sondern viele andre im Kreise beschlüge. Schließlich war Michus Pferd ausnahmsweise in Troyes beschlagen worden, und diese Hufspur befand sich unter den im Park festgestellten nicht. »Michus Doppelgänger kannte diesen Umstand nicht«, sagte Herr von Granville, die Geschworenen anblickend, »und die
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Anklage hat nicht festgestellt, daß wir eins der Pferde aus dem Schlosse gebraucht haben.« Im übrigen widerlegte er die Aussage Violettes betreffs der Ähnlichkeit der Pferde, denn er hatte sie nur von fern und von hinten gesehen. Trotz der unglaublichen Anstrengungen des Verteidigers wurde Michu durch die Masse der positiven Zeugenaussagen schwer belastet. Der Ankläger, das Publikum, der Gerichtshof und die Geschworenen fühlten sämtlich, wie es die Verteidigung vorausgesehen hatte, daß die Schuld des Dieners die der Herren nach sich zog. Bordin hatte den Knoten des Prozesses richtig erraten, als er Herrn von Granville zu Michus Verteidiger machte, aber damit gab die Verteidigung ihre Geheimnisse preis. So war denn alles, was den früheren Verwalter von Gondreville betraf, von pochendem Interesse. Übrigens war Michus Haltung prachtvoll. Er entwickelte bei diesen Verhandlungen den ganzen Scharfsinn, mit dem die Natur ihn begabt hatte, und je länger das Publikum ihn sah, erkannte es seine Überlegenheit an. Aber seltsam: nun schien er um so gewisser der Urheber des Attentats zu sein! Die Entlastungszeugen, die in den Augen der Geschworenen und des Gesetzes weniger ernst zu nehmen sind, schienen nur ihre Pflicht zu tun; man hörte sie an, um sein Gewissen zu beruhigen. Zunächst wurden weder Martha noch Herr und Frau von Hauteserre vereidigt, und Katharina sowie die Durieus traf als Dienstboten das gleiche Los. Herr von Hauteserre sagte aus, er habe Michu in der Tat befohlen, den umgestürzten Pfosten wieder aufzustellen. Die Erklärung der Sachverständigen, die soeben ihren Bericht verlasen, bestätigte die Aussage des alten Edelmannes, gab aber auch dem Direktor der Jury gewonnenes Spiel, denn es hieß darin, sie vermöchten den Zeitpunkt, wo diese Arbeit ausgeführt worden sei, nicht anzugeben. Es könn-
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ten seitdem ebensogut mehrere Wochen wie zwanzig Tage verstrichen sein. Das Erscheinen des Fräuleins von Cinq-Cygne erregte die lebhafteste Neugier. Doch als sie ihre Vettern nach dreiundzwanzigtägiger Trennung auf der Anklagebank wiedersah, war ihre Gemütsbewegung so heftig, daß sie wie eine Schuldige aussah. Sie verspürte ein furchtbares Verlangen, neben den Zwillingen zu sitzen, und mußte, wie sie später sagte, alle Kraft aufbieten, um ihre Wut zu bezwingen; sie hätte den öffentlichen Ankläger ermorden mögen, um in den Augen der Welt mit ihnen schuldig zu sein. Sie erzählte naiv, bei der Heimkehr nach CinqCygne hätte sie Rauch im Park gesehen und an einen Brand geglaubt. Lange hätte sie gemeint, der Rauch rühre von verbranntem Unkraut her. »Doch ist mir später«, sagte sie, »eine Einzelheit eingefallen, die ich der Beachtung der Justiz anheimstelle. In den Schnüren meines Reitkleides und in den Falten meiner Halskrause fand ich Überreste wie von verbranntem Papier, das der Wind fortgetragen hat.« »War der Rauch beträchtlich?« fragte Bordin. »Ja,« entgegnete Fräulein von Cinq-Cygne, »ich glaubte an einen Brand.« »Das kann dem Prozeß eine Wendung geben«, sagte Bordin. »Ich ersuche den Gerichtshof, eine sofortige Untersuchung der Örtlichkeit anzuordnen, wo der Brand stattgefunden hat.« Der Präsident ordnete sie an.
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Grévin wurde auf Antrag der Verteidiger zurückgerufen und über diesen Umstand befragt. Er erklärte, nichts darüber zu wissen. Aber Bordin und Grévin tauschten miteinander Blicke aus, die sie gegenseitig aufklärten. »Da liegt der Prozeß!« sagte sich der alte Anwalt. »Sie haben es!« dachte der Notar. Aber die zwei schlauen Füchse auf beiden Seiten begriffen, daß die Untersuchung vergeblich war. Bordin sagte sich, Grévin würde verschwiegen sein wie das Grab, und Grévin beglückwünschte sich selbst, daß er die Spuren des Feuers hatte verschwinden lassen. Um diesen Punkt zu erschöpfen, der in der Verhandlung nebensächlich war und kindisch erscheint, doch für die Rechtfertigung, welche die Geschichte den jungen Leuten schuldet, wesentlich ist, erklärten die mit der Besichtigung des Parks beauftragten Sachverständigen und Pigoult, keine Stelle mit Brandspuren gefunden zu haben. Bordin ließ zwei Arbeiter vorladen, und diese sagten aus, sie hätten auf Befehl des Verwalters einen Teil der Wiese, deren Gras verbrannt war, umgegraben, doch hätten sie nicht darauf geachtet, von welchem Stoffe die Asche herrührte. Der auf Anfordern der Verteidiger nochmals vorgerufene Verwalter sagte aus, als er am Schlosse vorbeigekommen sei, um sich den Maskenzug in Arcis anzusehen, habe der Senator ihm befohlen, den Teil der Wiese umzugraben, der dem Senator am Morgen beim Spazierengehen aufgefallen sei. »War dort Kraut oder Papier verbrannt worden?«
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»Ich habe nichts gesehen, woraus man schließen könnte, daß Papier verbrannt worden ist«, entgegnete der Verwalter. »Nun,« sagten die Verteidiger, »wenn dort Kraut verbrannt worden ist, so hat es doch jemand hinschaffen und anzünden müssen.« Die Aussagen des Pfarrers von Cinq-Cygne und des Fräuleins Goujet machten einen günstigen Eindruck. Als sie vom Vespergottesdienst kamen und nach dem Walde gingen, sahen sie die Edelleute und Michu das Schloß verlassen und nach dem Walde reiten. Die Stellung und der gute Ruf des Abbé Goujet gaben seinen Worten Gewicht. Das Plädoyer des öffentlichen Anklägers, der sicher war, die Verurteilung durchzusetzen, war so, wie alle solche Anklagereden sind. Die Angeklagten waren unverbesserliche Feinde Frankreichs, seiner Einrichtungen und Gesetze. Sie hatten ein Verlangen nach Unruhen. Obwohl sie in die Attentate auf das Leben des Kaisers verwickelt waren, obwohl sie in der Armee Condés gedient hatten, hatte der hochherzige Herrscher sie von der Liste der Emigranten gestrichen. Und so zahlten sie ihm den Lohn für seine Milde! Kurz, es waren alle deklamatorischen Redensarten, die man im Namen der Bourbonen gegen die Bonapartisten wiederholt hat und die heute im Namen des jüngeren Zweiges gegen die Republikaner und die Legitimisten wiederholt werden. Diese Gemeinplätze, die bei einer befestigten Regierung einen Sinn hätten, werden zum mindesten komisch erscheinen, wenn die Geschichte sie im Munde des Staatsanwalts zu allen Zeiten gleichlautend findet. Auf sie paßt das aus älteren Wirren stammende Wort: »Die Etikette hat gewechselt, aber der Wein ist stets der gleiche!« Der öffentliche Ankläger, der übrigens einer der hervorragendsten Staatsanwälte des Kaiserreichs wurde, schrieb das Delikt der Absicht 471
der heimgekehrten Emigranten zu, gegen die Wegnahme ihrer Güter zu protestieren. Es gelang ihm recht gut, die Zuhörer über die Lage des Senators erzittern zu lassen. Dann häufte er die Beweise, die halben Beweise, die Wahrscheinlichkeiten mit einem Talent, das durch den sicheren Lohn für seinen Eifer noch angestachelt wurde; danach setzte er sich ruhig hin und erwartete das Feuer des Verteidigers. Herr von Granville hat nur in dieser Kriminalsache plädiert, aber sie machte ihm einen Namen. Zunächst fand er für seine Verteidigungsrede jenen Schwung der Beredsamkeit, den wir heute bei Berryer bewundern. Dann hatte er die Überzeugung von der Unschuld der Angeklagten, die stets eins der mächtigsten Hilfsmittel des Wortes ist. Nachfolgend die Hauptpunkte seines Plädoyers, das die Zeitungen jener Zeit ungekürzt wiedergaben. Zunächst rückte er Michus Leben ins rechte Licht. Es war eine schöne Rede, in der die höchsten Gefühle widerhallten und die viele Sympathien erweckte. Als Michu sich von einer so beredten Stimme rehabilitiert sah, quollen ihm einen Augenblick die Tränen aus seinen gelben Augen und rannen über sein furchtbares Gesicht. Jetzt erschien er als das, was er wirklich war, als schlicht und verschlagen wie ein Kind, aber als ein Mann, dessen Leben nur von einem Gedanken beherrscht war. Plötzlich war sein Wesen erklärt, besonders durch seine Tränen, die tiefen Eindruck auf die Geschworenen machten. Diese Regung der Teilnahme benutzte der geschickte Verteidiger, um in die Erörterung der Klagepunkte einzutreten. »Wo ist das Corpus delicti? Wo ist der Senator?« fragte er. »Sie klagen uns an, ihn eingesperrt, ja mit Steinen und Kalk eingemauert zu haben! Aber dann wissen wir allein, wo er ist, und da Sie uns seit dreiundzwanzig Tagen gefangen halten, ist er aus Nahrungsmangel gestorben. Wir sind Mörder, und Sie haben uns nicht des Mordes angeklagt ... Ist er aber am Leben, 472
so haben wir Mitschuldige; hätten wir sie und der Senator wäre am Leben, würden wir ihn dann nicht auf der Bildfläche erscheinen lassen? Nachdem die Absichten, die Sie uns zuschreiben, einmal mißlungen sind, würden wir da unsre Lage nicht unnötig verschlimmern? Durch unsre Reue könnten wir Verzeihung für eine fehlgeschlagene Rache erwirken, und wir sollten einen Menschen, von dem wir nichts erlangen konnten, dennoch weiter gefangen halten? Ist das nicht widersinnig? Tragen Sie Ihren Kalk wieder fort, er hat seinen Zweck verfehlt!« sagte er zu dem öffentlichen Ankläger; »denn entweder sind wir blöde Verbrecher, und das glauben Sie selbst nicht, oder Unschuldige, Opfer von Umständen, die für uns wie für Sie unerklärlich sind! Sie sollten vielmehr nach der Menge Papier fahnden, die bei dem Senator verbrannt worden ist. Das offenbart gewaltsamere Interessen als die unsren, und es würde Aufschluß über seine Entführung geben ...« Mit wunderbarem Geschick ging er auf diese Hypothesen ein. Er betonte die Moralität der Entlastungszeugen, deren religiöser Glaube lebendig sei, die an ein künftiges Leben und an ewige Strafen glaubten. Hier wurde er erhaben und verstand tief zu rühren. »Wie«, sagte er, »diese Verbrecher gehen ruhig zu Tisch, als sie von ihrer Base die Entführung des Senators hören. Als der Gendarmerieoffizier ihnen die Mittel nahelegt, alles ins reine zu bringen, weigern sie sich, den Senator herauszugeben, und wissen nicht, was man von ihnen will!« Er ließ nun etwas Geheimnisvolles durchblicken, dessen Schlüssel in den Händen der Zeit läge, die diese ungerechte Anklage entschleiern würde. Sobald er auf diesem Gebiet war, hatte er die kecke und geistreiche Geschicklichkeit, sich an die Stelle eines Geschworenen zu versetzen. Er erzählte, wie er 473
sich mit seinen Kollegen beraten würde, stellte sich als derart unglücklich hin, wenn er die Ursache zu grausamen Verurteilungen gewesen wäre und der Irrtum sich herausstellte; er schilderte seine Gewissensbisse so gut und ging so kraftvoll auf die Zweifel ein, die das Plädoyer in ihm erwecken würde, daß er die Geschworenen mit furchtbarer Bangigkeit erfüllte. Die Geschworenen waren damals gegen derartige Ansprachen noch nicht abgestumpft, da sie noch den Reiz der Neuheit besaßen, und die Jury war erschüttert. Nach dem leidenschaftlichen Plädoyer Granvilles hatten sie noch den schlauen und bestrickenden Bordin anzuhören, der die Bedenken vermehrte, alle dunklen Teile des Prozesses hervorhob und ihn unerklärlich machte. Er hatte es darauf angelegt, den Geist und den Verstand zu packen, wie Herr von Granville das Herz und die Phantasie bearbeitet hatte. Kurz, er verstand es, die Geschworenen mit einer so ernsten Überzeugung zu umspinnen, daß der öffentliche Ankläger sein Gebäude zusammenbrechen sah. Das war so klar, daß der Verteidiger der Herren von Hauteserre und Gotthards das weitere der Klugheit der Geschworenen anheimgab, denn er fand, daß die Anklage gegen sie hinfällig war. Der Ankläger bat, seine Entgegnung auf den nächsten Tag zu verschieben. Bordin, der in den Augen der Geschworenen einen Freispruch las, wenn sie unter dem Eindruck dieser Plädoyers berieten, war aus rechtlichen und sachlichen Gründen dagegen, daß die Herzen seiner unschuldigen Klienten noch eine Nacht in Angst und Bangen schwebten. Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück. »Das öffentliche Interesse scheint mir dem der Angeklagten gleichwertig zu sein«, sagte der Präsident. »Der Gerichtshof würde gegen jeden Begriff der Billigkeit verstoßen, wenn er 474
der Verteidigung eine solche Bitte abschlüge; er muß sie also auch der Anklage gewähren.« »Alles ist Glückssache«, sagte Bordin mit einem Blick auf seine Klienten. »Heute abend freigesprochen, können Sie morgen verurteilt werden.« »Jedenfalls«, sagte der ältere Simeuse, »können wir Sie nur bewundern.« Fräulein von Cinq-Cygne hatte Tränen in den Augen. Nach den Zweifeln der Verteidiger glaubte sie nicht an einen solchen Erfolg. Man beglückwünschte sie, und alles kam herbei, um ihr die Freisprechung ihrer Vettern zu prophezeien. Aber dieser Prozeß sollte mit dem stärksten, unheilvollsten und unvorhergesehensten Theatercoup enden, der je das Antlitz eines Strafprozesses verwandelt hat! Am Tage nach dem Plädoyer des Herrn von Granville, um fünf Uhr morgens, wurde der Senator auf der Landstraße nach Troyes gefunden. Während seines Schlummers hatten unbekannte Befreier ihn von seinen Fesseln erlöst, und er ging nach Troyes, ohne Ahnung von dem Prozeß, ohne zu wissen, welchen Widerhall sein Name in Europa gefunden hatte, aber glücklich, die freie Luft zu atmen. Der Mann, der den Angelpunkt dieses Dramas bildete, war ebenso verblüfft über das, was er erfuhr, wie die, welche ihm begegneten, es über seinen Anblick waren. Man gab ihm den Wagen eines Pächters, und er kam rasch nach Troyes zum Präfekten. Der benachrichtigte sofort den Direktor der Jury, den Regierungskommissar und den öffentlichen Ankläger, der nach dem Bericht des Grafen von Gondreville Leute ausschickte, um Martha bei den Durieus aus dem Bette zu holen, während der Vorsitzende einen Verhaftsbefehl gegen sie begründete und erließ. Ebenso ward 475
Fräulein von Cinq-Cygne, die nur gegen Bürgschaft in Freiheit war, aus einem jener seltenen Augenblicke des Schlummers gerissen, die sie inmitten ihrer beständigen Ängste fand, und auf der Präfektur belassen, um sie dort zu vernehmen. Der Gefängnisdirektor erhielt Befehl, die Angeklagten von jedem möglichen Verkehr abzuschließen, selbst von dem mit den Verteidigern. Um zehn Uhr erfuhr die versammelte Menge, daß die Sitzung auf ein Uhr mittags verschoben sei. Diese Verlegung, die mit der Nachricht von der Befreiung des Senators zusammentraf, die Verhaftung Marthas und Fräuleins von Cinq-Cygne sowie das Verbot des Verkehrs mit den Angeklagten trug Schrecken in das Haus Chargeboeuf. Die ganze Stadt und die Neugierigen, die zu dem Prozeß nach Troyes gekommen waren, die Stenographen der Zeitungen, selbst das Volk, waren in einer leicht begreiflichen Aufregung. Gegen zehn Uhr kam der Abbé Goujet, um Herrn und Frau von Hauteserre und die Verteidiger aufzusuchen. Man frühstückte eben, so weit man unter solchen Umständen frühstücken kann. Der Pfarrer nahm Bordin und Herrn von Granville beiseite und teilte ihnen Marthas Anvertrauung sowie das Bruchstück des Briefes mit, den sie erhalten hatte. Die beiden Verteidiger wechselten einen Blick; dann sagte Bordin zu dem Pfarrer: »Kein Wort! Alles scheint uns verloren. Bewahren wir wenigstens die Haltung!« Martha war nicht stark genug, um dem Direktor der Jury und dem öffentlichen Ankläger zugleich zu widerstehen. Übrigens häuften sich die Beweise gegen sie. Nach der Angabe des Senators hatte Lechesneau die untere Kruste des letzten von Martha gebrachten Brotes holen lassen, die er im Keller gelassen hatte, ebenso die leeren Flaschen und mehrere Gegenstände. Während der langen Stunden seiner Gefangenschaft hatte Malin Vermutungen über seine Lage angestellt und nach Indi476
zien gesucht, die ihn auf die Spur seiner Feinde bringen konnten; naturgemäß teilte er seine Beobachtungen dem Richter mit. Michus kürzlich erbauter Pachthof mußte einen neuen Backofen haben; die Ziegeln und Backsteine, auf denen das Brot ruhte, mußten irgendein Netz von Fugen haben, und wenn man einen Abdruck dieser Ofenfläche nahm und das Muster auf der Kruste wiederkehrte, war der Beweis geliefert, daß das Brot in diesem Ofen gebacken war. Ferner waren die mit grünem Lack versiegelten Flaschen zweifellos denen gleich, die sich in Michus Keller befanden. Diese scharfsinnigen Bemerkungen teilte er dem Friedensrichter mit, der die Untersuchung in Marthas Gegenwart vornahm, und das Ergebnis war, wie es der Senator vorhergesehen hatte. Zudem fiel Martha auf die scheinbare Gutmütigkeit Lechesneaus, des öffentlichen Anklägers und des Regierungskommissars herein, die ihr klar machten, daß nur ein völliges Geständnis ihrem Manne das Leben retten könne, und so gestand sie, von diesen handgreiflichen Beweisen niedergeschmettert, daß das Versteck, in das der Senator gebracht worden war, nur Michu, den Herren von Simeuse und von Hauteserre bekannt sei und daß sie dem Senator dreimal des Nachts Lebensmittel gebracht hatte. Als Laurence über das Versteck verhört wurde, mußte sie zugeben, daß Michu es entdeckt und es ihr vor dem Ereignis gezeigt hätte, um dort die Edelleute vor den Nachstellungen der Polizei zu entziehen. Sobald diese Verhöre beendet waren, wurden die Geschworenen und die Advokaten von der Wiederaufnahme der Verhandlung in Kenntnis gesetzt. Um drei Uhr eröffnete der Präsident die Sitzung mit der Mitteilung, daß die Verhandlung auf neuen Grundlagen fortgesetzt würde. Er zeigte Michu drei Weinflaschen und fragte ihn, ob er sie als die seinen anerkenne. Er wies ihn darauf hin, daß der Lack an zwei leeren Flaschen der gleiche sei wie der an einer vollen, die der Friedensrichter am 477
Morgen in Gegenwart seiner Frau aus dem Pachthof geholt hätte. Michu wollte sie nicht als die seinen anerkennen, aber diese neuen Beweisstücke wurden von den Geschworenen gewürdigt, als der Präsident ihnen erklärte, daß die leeren Flaschen soeben an dem Orte gefunden worden seien, wo der Senator gefangen gehalten worden war. Jeder Angeklagte wurde über den Keller unter den Ruinen des Klosters vernommen. In der Verhandlung wurde nach erneuter Vernehmung aller Belastungs- und Entlastungszeugen festgestellt, daß dies von Michu entdeckte Versteck nur ihm, Laurence und den vier Edelleuten bekannt war. Man kann sich die Wirkung auf die Zuhörer und auf die Geschworenen vorstellen, als der öffentliche Ankläger verkündete, daß dieser nur dem Angeklagten und zwei Zeugen bekannte Keller als Gefängnis des Senators gedient hatte. Martha wurde hereingeführt. Ihr Erscheinen rief unter den Zuschauern und bei den Angeklagten die lebhaftesten Befürchtungen wach. Herr von Granville erhob sich, um gegen die Vernehmung der Frau als Zeugin gegen ihren Mann Einspruch zu erheben. Der öffentliche Ankläger wies darauf hin, daß Martha nach ihrem eignen Geständnis mitschuldig an dem Delikt sei; sie hätte weder einen Eid zu leisten noch ein Zeugnis abzulegen; sie solle lediglich im Interesse der Wahrheit vernommen werden. »Wir brauchen übrigens nur ihr Verhör vor dem Vorsitzenden verlesen zu lassen«, sagte der Präsident und ließ das am Morgen aufgesetzte Protokoll durch den Gerichtsschreiber vorlesen. »Halten Sie dies Geständnis aufrecht?« fragte der Präsident. Michu blickte seine Frau an, und Martha, die ihren Irrtum erkannte, fiel ohnmächtig zu Boden. Man kann buchstäblich sagen, daß der Blitz auf die Anklagebank und auf die Verteidiger 478
niederfuhr. »Ich habe aus meinem Gefängnis nie an meine Frau geschrieben und kenne keinen der Angestellten«, sagte Michu. Bordin reichte ihm die Bruchstücke des Briefes; Michu brauchte nur einen Blick darauf zuwerfen. »Meine Schrift ist gefälscht!« rief er aus. »Das Leugnen ist Ihre letzte Ausflucht«, sagte der öffentliche Ankläger. Nun wurde der Senator unter den für seinen Empfang vorgeschriebenen Zeremonien eingeführt. Sein Erscheinen war ein Theatercoup. Malin, den die Richter ohne Erbarmen mit den früheren Besitzern dieses schönen Landgutes Graf von Gondreville nannten, blickte auf Ersuchen des Präsidenten die Angeklagten lange mit größter Aufmerksamkeit an. Er erkannte die Kleidung seiner Entführer als genau dieselbe wie die der Edelleute, erklärte jedoch, er sei im Augenblick seiner Entführung derart verwirrt gewesen, daß er nicht behaupten könne, ob die Angeklagten die Schuldigen seien. »Mehr noch,« sagte er: »ich bin überzeugt, daß diese vier Herren nichts damit zu tun haben. Die Hände, die mir die Augen verbanden, waren grob. Daher«, sagte er mit einem Blick auf Michu, »würde ich eher glauben, daß mein früherer Verwalter sich damit befaßt hat, aber ich bitte die Herren Geschworenen, meine Aussage wohl zu erwägen. Mein Verdacht ist in dieser Hinsicht sehr leicht, und ich habe nicht die geringste Gewißheit. Der Grund ist dieser. Die beiden Männer, die sich meiner bemächtigten, setzten mich hinter den, der mir die Augen verbunden hatte, auf ein Pferd; seine Haare waren rot wie die des Angeklagten Michu. So sonderbar meine Beobachtung auch sein mag, ich muß doch davon reden, denn sie bildet die Grundlage zu einer für den Angeklagten günstigen Überzeu479
gung, an der ich keinen Anstoß zu nehmen bitte. Als ich am Rücken eines Unbekannten hing, mußte ich trotz des schnellen Ritts seinen Geruch merken. Nun aber erkannte ich den Geruch, der Michu eigen ist, nicht wieder. Was die Person betrifft, die mir dreimal Lebensmittel brachte, so bin ich sicher, daß es Martha, Michus Frau, war. Schon das erstemal erkannte ich sie an einem Ringe, den ihr Fräulein von Cinq-Cygne geschenkt hat, und den sie abzutun vergessen hatte. Das Gericht und die Herren Geschworenen werden die Widersprüche würdigen, die in diesen Tatsachen liegen, und die ich mir noch nicht erklären kann.« Wohlwollendes Murmeln und einstimmiger Beifall folgte auf Malins Aussage. Bordin bat den Gerichtshof, ein paar Fragen an diesen wertvollen Zeugen richten zu dürfen. »Der Herr Senator glaubt also, daß seine Freiheitsberaubung andere Gründe hat als die Interessen, die die Anklage bei den Angeklagten annimmt?« »Gewiß!...« sagte der Senator. »Aber ich kenne diese Motive nicht, denn ich erkläre, daß ich während der zwanzig Tage meiner Gefangenschaft keinen Menschen gesehen habe.« »Glauben Sie,« fragte nun der öffentliche Ankläger, »daß Ihr Schloß Gondreville Auskünfte, Wertpapiere oder Werte enthalten könnte, die eine Durchsuchung seitens der Herren von Simeuse nötig machen konnten?« »Das glaube ich nicht«, sagte Malin. »Ich halte die Herren in diesem Falle für unfähig, sich durch Gewalt in ihren Besitz zu bringen. Sie brauchten sie nur von mir zu verlangen, um sie zu erhalten.«
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»Hat der Herr Senator nicht Papiere in seinem Park verbrennen lassen?« fragte Herr von Granville plötzlich. Der Senator blickte Grévin an. Nachdem er mit dem Notar rasch einen schlauen Blick getauscht hatte, den Bordin auffing, antwortete er, er hätte keine Papiere verbrannt. Als der öffentliche Ankläger ihn um Auskunft über den Hinterhalt in seinen Park hat, dessen Opfer er fast geworden wäre, und die Frage stellte, ob er sich nicht über die Lage des Gewehrs getäuscht hätte, sagte der Senator, Michu habe in einem Baume gelauert. Diese Antwort, die mit Grévins Aussage übereinstimmte, machte lebhaften Eindruck. Die Edelleute blieben während der Aussage ihres Feindes, der sie mit seiner Großmut überschüttete, unbeweglich. Laurence litt die gräßlichsten Todesqualen, und der Marquis von Chargeboeuf hielt sie immerfort am Arme zurück. Als der Graf von Gondreville sich zurückzog, grüßte er die vier Edelleute. Sie erwiderten seinen Gruß nicht. Dieser kleine Zug erbitterte die Geschworenen. »Sie sind verloren«, sagte Bordin dem Marquis ins Ohr. »Ach, stets durch den Hochmut ihrer Empfindungen!« erwiderte Herr von Chargeboeuf. »Unsere Aufgabe ist nur zu leicht geworden, meine Herren«, sagte der öffentliche Ankläger, indem er aufstand und die Geschworenen ansah. Er erklärte die Verwendung der zwei Säcke Kalk mit der Einmauerung des eisernen Hakens, der zum Anbringen des Vorlegeschlosses nötig war, das den Riegel festhielt, mit dem die Kellertür verschlossen war; die Beschreibung befand sich in 481
dem Protokoll, das Pigault am Morgen aufgenommen hatte. Er wies mit Leichtigkeit nach, daß allein die Angeklagten das Vorhandensein des Kellers kannten. Er setzte die Lügen der Verteidigung ins Licht, zermalmte alle Argumente mit den neuen Beweisen, die so wunderbar gekommen waren. Im Jahre 1806 stand man dem höchsten Wesen von 1793 noch zu nahe, um von der göttlichen Gerechtigkeit zu reden; das Eingreifen des Himmels erließ er den Geschworenen also. Schließlich sagte er, die Justiz werde ein Auge auf die unbekannten Mitschuldigen haben, die den Senator befreit hätten; dann setzte er sich und erwartete vertrauensvoll das Urteil. Die Geschworenen glaubten an ein Geheimnis, waren aber alle überzeugt, daß dies Geheimnis von den Angeklagten ausging, die in einem persönlichen Interesse von höchster Wichtigkeit schwiegen. Herr von Granville stand auf; für ihn war irgendeine Machenschaft zur Gewißheit geworden; aber er schien niedergedrückt, nicht sowohl durch die neu hinzugekommenen Zeugenaussagen als durch die offenbare Überzeugung der Geschworenen. Er übertraf sein Plädoyer vom vorigen Tage vielleicht noch. Dies zweite Plädoyer war sicherlich logischer und gedrungener als das erste. Aber er fühlte, wie seine Glut an der Kälte der Geschworenen abprallte; er sprach umsonst, und er sah es! Eine furchtbare, eisige Situation. Er wies darauf hin, wie sehr die Befreiung des Senators, die wie durch Zauberei und ganz gewiß ohne Beihilfe irgendeines der Angeklagten oder Marthas bewerkstelligt worden war, seine ersten Schlußfolgerungen bestätigte. Gestern konnten die Angeklagten sicherlich an ihre Freisprechung glauben, und wenn es – nach der Behauptung der Anklage – bei ihnen stand, den Senator gefangen zu halten oder ihn freizulassen, so hätten sie ihn erst nach dem Urteilsspruche befreit. Er suchte begreiflich zu machen, daß nur im 482
Dunkeln verborgene Feinde diesen Streich hätten führen können. Seltsam! Herr von Granville beunruhigte nur das Gewissen des öffentlichen Anklägers und der Richter, denn die Geschworenen hörten ihm nur aus Pflichtgefühl zu. Selbst das Publikum, das den Angeklagten stets so günstig gesinnt ist, war von ihrer Schuld überzeugt. Es gibt eine Gedankenatmosphäre. In einem Gerichtssaal lasten die Gedanken der Menge auf den Richtern und Geschworenen und umgekehrt. Als der Verteidiger diese Geistesverfassung sah, redete er sich in seinen Schlußworten in eine Art fieberhafter Begeisterung hinein, die aus seiner Überzeugung kam. »Im Namen der Angeklagten«, rief er, »verzeihe ich Ihnen im voraus einen verhängnisvollen Irrtum, den nichts zerstreuen wird. Wir alle sind die Spielbälle einer unbekannten, machiavellistischen Macht. Martha Michu ist das Opfer einer abscheulichen Niedertracht, und die Gesellschaft wird es erkennen, wenn das Unglück nicht wieder gutzumachen ist ...« Bordin benutzte die Aussage des Senators als Waffe, um die Freisprechung der Angeklagten zu fordern. Der Vorsitzende gab das Resumé um so unparteiischer, als die Geschworenen sichtlich überzeugt waren. Er ließ die Wage sogar zugunsten der Angeklagten sinken, indem er auf die Aussage des Senators besonderen Wert legte. Diese Gefälligkeit stellte den Erfolg der Anklage nicht mehr in Frage. Um elf Uhr abends, nachdem der Direktor der Jury die verschiedenen Antworten erteilt hatte, verurteilte der Gerichtshof Michu zum Tode, die Herren von Simeuse zu vierundzwanzig Jahren und die Herren von Hauteserre zu zehn Jahren Zuchthaus; Gotthard wurde freigesprochen. Der ganze Saal wollte sehen, wie die 483
fünf Schuldigen sich in dem letzten Augenblick benehmen würden, wo sie frei vor den Gerichtshof geführt wurden, um ihr Urteil zu vernehmen. Die vier Edelleute blickten Laurence an, die ihnen mit tränenlosen Augen den flammenden Blick der Märtyrer zuwarf. »Sie würde weinen, wären wir freigesprochen worden!« sagte der jüngere Simeuse zu seinem Bruder. Niemals haben Angeklagte eine ungerechte Verurteilung mit gleich heiterer Stirn und gleich würdiger Haltung entgegengenommen wie diese fünf Opfer eines grausigen Komplotts. »Unser Verteidiger hat Ihnen vergeben!« sagte der ältere Simeuse zu dem Gerichtshof. Frau von Hauteserre erkrankte und lag im Hotel Chargeboeuf drei Monate zu Bett. Der biedere Hauteserre kehrte nach CinqCygne zurück, aber er wurde von einem jener Greisenschmerzen verzehrt, für die es keine Ablenkungen der Jugend gibt, und so hatte er oft Augenblicke von Geistesabwesenheit, die dem Pfarrer bewiesen, daß der arme Vater noch stets am Tage nach dem verhängnisvollen Urteil lebte. Die schöne Martha brauchte nicht verurteilt zu werden; sie starb im Gefängnis, zwanzig Tage nach der Verurteilung ihres Mannes. Ihren Sohn empfahl sie Laurence, in deren Armen sie verschied. Sobald das Urteil bekannt geworden war, erstickten politische Ereignisse von höchster Bedeutung die Erinnerung an diesen Prozeß, und es war nicht mehr die Rede davon. Die Gesellschaft ist wie das Meer; nach einer Katastrophe glättet sie sich ihre Oberfläche wieder und löscht die Spur durch den Wellenschlag ihrer verzehrenden Interessen aus. Ohne ihre Seelenstärke und ihre Überzeugung von der Unschuld ihrer Vettern wäre Laurence unterlegen, aber sie gab 484
neue Beweise von der Größe ihres Charakters und setzte Herrn von Granville und Bordin durch die anscheinende Heiterkeit in Staunen, die das tiefste Unglück schönen Seelen aufprägt. Sie pflegte Frau von Hauteserre, wachte bei ihr und ging täglich zwei Stunden ins Gefängnis. sie sagte, sie würde einen ihrer Vettern heiraten, wenn sie im Zuchthause wären. »Im Zuchthause!« rief Bordin aus. »Aber, gnädiges Fräulein, denken wir nur noch daran, den Kaiser um ihre Begnadigung zu bitten!« »Ihre Begnadigung von einem Bonaparte?« rief Laurence voller Schaudern aus. Die Brille fiel dem alten, würdigen Anwalt von der Nase. Er fing sie im Fallen auf und blickte das junge Mädchen an, das jetzt einer Frau glich: er begriff diesen Charakter in seinem ganzen Ausmaß, nahm den Marquis von Chargeboeuf beim Arme und sagte: »Herr Marquis, eilen wir nach Paris, um sie ohne das Fräulein zu retten!« Die Berufung der Herren von Simeuse, von Hauteserre und Michu waren die erste Sache, die der Kassationshof abzuurteilen hatte. Das Urteil ward also zum Glück durch die Zeremonien der Einsetzung dieses Gerichtshofes verzögert. Gegen Ende September, nach drei Sitzungen, die von den Plädoyers und dem Generalstaatsanwalt Merlier, der selbst das Wort führte, erfüllt waren, wurde die Berufung verworfen. Der Kaiserliche Gerichtshof in Paris wurde errichtet und Herr von Granville daselbst zum Stellvertreter des Generalstaatsanwalts ernannt. Da nun das Departement Aube unter der Gerichtsbar485
keit dieses Gerichtshofes stand, vermochte er in seinem Ministerium Schritte zugunsten der Angeklagten zu tun, und ermüdete seinen Gönner Cambacérès. Bordin und Herr von Chargeboeuf kamen am Morgen nach dem Urteil in sein Haus im Marais, wo sie ihn im Honigmond seiner Ehe fanden, denn er hatte inzwischen geheiratet. Trotz aller Ereignisse, die im Leben seines früheren Advokaten eingetreten waren, merkte Herr von Chargeboeuf an der Betrübtheit des jungen Stellvertreters wohl, daß er seinen Klienten treu blieb. Gewisse Advokaten, die Künstler ihres Berufes, verlieben sich ja in ihre Prozesse. Der Fall ist jedoch selten, man verlasse sich nicht darauf! Als Herr von Granville mit seinem alten Klienten in seinem Arbeitszimmer allein war, sagte er zum Marquis: »Ich habe Ihren Besuch nicht abgewartet, sondern schon meinen ganzen Einfluß aufgewandt. Versuchen Sie nicht, Michu zu retten, dann wird aus der Begnadigung der Herren von Simeuse nichts. Ein Opfer ist nötig.« »Mein Gott!« sagte Bordin, indem er dem jungen Staatsanwalt die drei Gnadengesuche zeigte, »kann ich es auf mich nehmen, das Gesuch Ihres früheren Klienten zu unterschlagen? Dies Papier ins Feuer werfen, heißt ihm den Kopf abschlagen.« Er reichte ihm Michus Blankett. Herr von Granville nahm es und sah es sich an. »Unterschlagen können wir es nicht, aber Sie müssen wissen, wenn Sie alles verlangen, bekommen Sie nichts.« »Haben wir noch Zeit, Michu zu fragen?« fragte Bordin. »Ja. Der Hinrichtungsbefehl ist Sache des Generalstaatsanwalts, und wir können Ihnen ein paar Tage Frist geben. Man 486
tötet die Menschen zwar,« sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, »aber unter Wahrung der Form, besonders in Paris.« Herr von Chargeboeuf hatte schon beim Oberrichter Auskünfte erhalten, die diesen traurigen Worten des Herrn von Granville ein ungeheures Gewicht gaben. »Michu ist unschuldig, ich weiß es, ich sage es,« fuhr der Staatsanwalt fort, »aber was vermag man allein gegen alle? Bedenken Sie auch, daß es heute meine Rolle ist, zu schweigen. Ich muß das Schafott errichten lassen, auf dem mein alter Klient enthauptet wird.« Herr von Chargeboeuf kannte Laurence hinreichend, um zu wissen, daß sie nicht darein willigen würde, ihre Vettern auf Kosten Michus zu retten. Der Marquis machte also einen letzten Versuch. Er hatte um eine Audienz beim Minister des Auswärtigen nachgesucht, um zu erfahren, ob es in der hohen Diplomatie noch eine Rettungsmöglichkeit gäbe. Er nahm Bordin mit, der den Minister kannte und ihm einige Dienste geleistet hatte. Die beiden alten Leute fanden Talleyrand in die Betrachtung seines Feuers versunken, die Füße vorgestreckt, den Kopf in die Hand gestützt, den Ellbogen auf dem Tisch und die Zeitung auf dem Boden. Der Minister hatte soeben das Urteil des Kassationshofes gelesen. »Wollen Sie sich setzen, Herr Marquis«, sagte der Minister. »Und Sie, Bordin,« fügte er hinzu, indem er auf einen Platz an dem Tische vor sich wies, »schreiben Sie: »Sire!
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»Vier unschuldige Edelleute sind von der Jury für schuldig erklärt worden, und Ihr Kassationshof hat soeben das Urteil bestätigt. Eure Kaiserliche Majestät kann sie nur noch begnadigen. Diese Edelleute erbitten diese Gnade von Ihrer erhabenen Milde nur, um Gelegenheit zu haben, nutzbringend zu sterben, indem sie unter Ihren Augen kämpfen. Sie verbleiben in Ehrfurcht Eurer Kaiserlichen und Königlichen Majestät usw.« »Nur Fürsten verstehen so zu verpflichten«, sagte der Marquis von Chargeboeuf, indem er aus Bordins Händen den kostbaren Entwurf des Gesuchs entgegennahm, das die vier Edelleute unterzeichnen sollten und für das er sich eine hohe Beischrift erhoffte. »Das Leben Ihrer Verwandten, Herr Marquis,« sagte der Minister, »hängt vom Zufall der Schlachten ab. Versuchen Sie, am Tage nach einem Siege anzukommen, so sind sie gerettet!« Er griff zur Feder und schrieb selbst einen vertraulichen Brief an den Kaiser und einen von zehn Zeilen an den Marschall Duroc. Dann schellte er, verlangte von seinem Sekretär einen diplomatischen Paß und fragte den alten Anwalt ruhig: »Welches ist im Ernst Ihre Meinung über diesen Prozeß?« »Wissen Euer Durchlaucht denn nicht, wer uns so gut hereingelegt hat?« »Ich vermute es, aber ich habe Gründe, Gewißheit zu suchen«, entgegnete der Fürst. »Kehren Sie nach Cinq-Cygne zurück, bringen Sie mir morgen zur gleichen Stunde Fräulein von Cinq-Cygne hierher, aber geheim; sprechen Sie bei meiner Gattin vor, die ich von Ihrem Besuch in Kenntnis setzen werde. 488
Fräulein von Cinq-Cygne soll so aufgestellt werden, daß sie den Mann erkennt, der vor mir stehen wird. Wenn sie ihn als den erkennt, der zur Zeit der Verschwörung der Herren von Polignac und von Rivière zu ihr kam – was ich auch sage und was er auch entgegnet, keine Gebärde! kein Wort! Denken Sie übrigens nur daran, die Herren von Simeuse und von Hauteserre zu retten, und bringen Sie sich nicht in Verlegenheit wegen Ihres schlimmen Burschen von Flurschützen.« »Ein großartiger Mann, Durchlaucht!« rief Bordin aus. »Begeisterung? Und bei Ihnen, Bordin? Dann ist an dem Manne was dran. – Unser Herrscher hat eine fabelhafte Eigenliebe, Herr Marquis«, sagte er, den Gesprächsstoff wechselnd. »Er will mich verabschieden, um ohne Widerspruch Torheiten zu machen. Er ist ein großer Soldat, der die Gesetze von Raum und Zeit zu ändern vermag, aber die Menschen kann er nicht ändern, und doch möchte er sie zu seinem Gebrauch umschmelzen. Nun vergessen Sie nicht, daß die Begnadigung Ihrer Verwandten nur von einem einzigen Wesen abhängt... Fräulein von Cinq-Cygne.« Der Marquis reiste allein nach Troyes und sagte Laurence, wie die Dinge stünden. Laurence erhielt von dem Kaiserlichen Staatsanwalt die Erlaubnis, Michu zu besuchen, und der Marquis begleitete sie bis zur Gefängnistür, wo er wartete. Sie kam mit Tränen in den Augen heraus. »Der Ärmste«, sagte sie, »hat versucht, vor mir niederzuknien, um mich zu bitten, nicht mehr an ihn zu denken; er vergaß, daß er Ketten an den Füßen hat! Ach, Marquis, ich werde seine Sache vertreten. Ja, ich will Ihrem Kaiser die Stiefel küssen. Und mißlingt mir das, nun, dann soll dieser Mann ewig in unserer Familie leben; dafür werde ich sorgen. Reichen Sie sein 489
Gnadengesuch ein, um Zeit zu gewinnen; ich will sein Bild haben ... Reisen wir ab.« Am nächsten Morgen erfuhr der Minister durch ein vereinbartes Zeichen, daß Laurence auf ihrem Posten stand. Er schellte, sein Türsteher kam und erhielt Befehl, Herrn Corentin vorzulassen. »Mein Lieber, Sie sind ein geschickter Mann,« sagte Talleyrand zu ihm, »ich will Sie verwenden.« »Durchlaucht ...« »Hören Sie zu. Wenn Sie Fouché dienen, bekommen Sie Geld, aber nie Ehre oder eine eingestehbare Stellung. Wenn Sie aber mir stets so dienen, wie Sie ihm eben in Berlin gedient haben, bekommen Sie Ansehen.« »Durchlaucht sind sehr gütig ...« »Bei Ihrer letzten Sache haben Sie Genie gezeigt, in Gondreville ...« »Was meint Euer Durchlaucht?« fragte Corentin mit einer weder zu kalten, noch zu überraschten Miene. »Herr,« entgegnete der Minister trocken, »Sie werden es zu nichts bringen. Sie fürchten ...« »Was, Durchlaucht?« »Den Tod!« sagte der Minister mit seiner schönen, tiefen und hohlen Stimme. »Leben Sie wohl, mein Lieber.«
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»Er ist es«, sagte der Marquis von Chargeboeuf beim Eintreten. »Aber wir haben die Gräfin fast umgebracht; sie erstickt!« »Nur er ist imstande, solche Streiche zu spielen«, sagte der Minister. »Herr Marquis, Sie laufen Gefahr, keinen Erfolg zu haben«, fuhr er fort. »Schlagen Sie zum Schein die Straße nach Straßburg ein; ich werde Ihnen doppelte unausgefüllte Pässe schicken. Verschaffen Sie sich Doppelgänger, wechseln Sie geschickt die Straße und vor allem den Wagen, lassen Sie Ihre Doppelgänger in Straßburg an Ihrer Stelle verhaften, und reisen Sie durch die Schweiz und durch Bayern nach Preußen. Kein Wort, und Vorsicht! Sie haben Polizei gegen sich, und Sie wissen nicht, was Polizei ist!...« Fräulein von Cinq-Cygne bot Robert Lefebvre eine hinreichende Summe, um ihn zur Reise nach Troyes zu bestimmen, wo er Michus Bild malen sollte, und Herr von Granville versprach diesem damals berühmten Maler alle möglichen Erleichterungen. Herr von Chargeboeuf reiste in seiner alten Halbberline mit Laurence und einem Diener ab, der Deutsch sprach. Doch bei Nancy holte er Gotthard und Fräulein Goujet ein, die ihnen in einer ausgezeichneten Kalesche vorausgefahren waren. Er nahm diese Kalesche und ließ ihnen die Halbberline. Der Minister hatte recht gehabt. In Straßburg weigerte sich der Generalkommissar der Polizei, die Pässe der Reisenden zu visieren, indem er strenge Befehle vorschützte. Zur gleichen Zeit verließen der Marquis und Laurence Frankreich über Besançon mit diplomatischen Pässen. Laurence fuhr in den ersten Oktobertagen durch die Schweiz, ohne diesem herrlichen Lande die geringste Beachtung zu schenken. Sie saß im Rücksitz der Kalesche in der Erstarrung, in die der Verbrecher verfällt, wenn er die Stunde seiner Hinrichtung kennt. Die ganze Natur bedeckt sich dann mit brodelndem Dunst, und die gewöhnlichsten Dinge nehmen ein phantastisches Aussehen an. Der Gedanke: 491
»Wenn ich keinen Erfolg habe, so töten sie sich«, fiel auf ihre Seele herab, wie dereinst die Stange des Henkers auf die Glieder des Geräderten. Sie fühlte sich immer gebrochener und verlor alle ihre Energie in der Erwartung des grausamen, entscheidenden und raschen Augenblicks, da sie dem Manne gegenüberstehen sollte, von dem das Schicksal der vier Edelleute abhing. Sie hatte beschlossen, sich völlig gehen zu lassen, um ihre Tatkraft nicht unnütz zu verbrauchen. Der Marquis war unfähig, diese Berechnung starker Seelen zu verstehen, die sich äußerlich in verschiedener Weise kundgibt, denn in diesen letzten Stunden des Wartens überlassen sich gewisse höhere Geister einer erstaunlichen Lustigkeit, und so fürchtete er, Laurence nicht mehr lebend zu dieser Begegnung zu bringen, die nur für sie beide feierlich war, aber sicherlich die gewöhnlichen Maße des Privatlebens überschritt. Für Laurence war die Demütigung vor diesem Manne, der den Gegenstand ihres Hasses und ihrer Verachtung bildete, der Tod aller ihrer hochherzigen Empfindungen. »Nachher«, sagte sie, »wird die Laurence, die weiterlebt, der Laurence, die jetzt zugrunde geht, nicht mehr ähnlich sein.« Nichtsdestoweniger fiel es den beiden Reisenden schwer, die ungeheure Bewegung von Menschen und Dingen, in die sie hineingerieten, als sie Preußen erreicht hatten, nicht zu bemerken. Der Feldzug von Jena hatte begonnen. Laurence und der Marquis sahen die prächtigen Divisionen der französischen Armee an ihnen vorbeiziehen und paradieren wie in den Tuilerien. In dieser Entfaltung militärischen Glanzes, der sich nur mit den Worten und Bildern der Bibel schildern läßt, nahm der Mann, der diese Massen belebte, in Laurences Phantasie ungeheure Maße an. Bald klangen Siegesrufe an ihr Ohr. Die kaiserlichen Heere hatten zwei bedeutende Vorteile errungen. Der Prinz von Preußen war bei Saalfeld gefallen, einen Tag, bevor 492
die Reisenden dort eintrafen, um Napoleon einzuholen, der mit Blitzesschnelle dahinzog. Endlich, am 13. Oktober, einem Tage von schlimmer Vorbedeutung, fuhr Fräulein von CinqCygne mitten durch die Korps der Großen Armee an einem Flusse entlang. Sie sah nichts als Verwirrung, wurde von Dorf zu Dorf, von Division zu Division geschickt und war entsetzt, sich allein mit einem Greise in einem Meere von hundertundfünfzigtausend Menschen umhergeworfen zu sehen, denen andere hundertundfünfzigtausend gegenüberstanden. Sie ward es müde, über den Hecken eines schlammigen Weges, dem sie über eine Anhöhe folgte, stets diesen Fluß zu sehen, und sie fragte einen Soldaten nach seinem Namen. »Das ist die Saale«, antwortete er und zeigte ihr das preußische Heer, das am anderen Ufer dieses Flusses in großen Massen gruppiert war. Die Nacht kam. Laurence sah Feuer aufflammen und Waffen blinken. Der alte Marquis saß in seiner unerschrockenen Ritterlichkeit neben seinem neuen Diener und lenkte zwei gute Pferde, die er Tags zuvor gekauft hatte, denn der Greis wußte wohl, daß er bei der Ankunft auf einem Schlachtfelde weder Postillone noch Pferde finden würde. Plötzlich wurde die verwegene Kalesche, die das Staunen aller Soldaten bildete, von einem Feldgendarmen angehalten, der mit verhängten Zügeln auf den Marquis lossprengte und ihn anschrie: »Wer sind Sie? Wo wollen Sie hin? Zu wem wollen Sie?« »Zum Kaiser«, sagte der Marquis von Chargeboeuf. »Ich habe eine wichtige Depesche des Ministers für den Großmarschall Duroc.« »Nun, hier können Sie nicht bleiben«, sagte der Gendarm. 493
Fräulein von Cinq-Cygne und der Marquis waren um so mehr genötigt, dort zu bleiben, als der Tag sich neigte. »Wo sind wir?« fragte Fräulein von Cinq-Cygne zwei Offiziere, die sie auf sich zukommen sah und deren Uniformen von Tuchüberröcken verdeckt waren. »Sie sind vor der Vorhut der französischen Armee, Madame«, entgegnete der eine der beiden Offiziere. »Sie können hier nicht bleiben, denn wenn der Feind eine Bewegung macht und die Artillerie schießt, kommen Sie zwischen zwei Feuer.« »Ach!« sagte sie mit gleichgültiger Miene. Bei diesem »Ach!« sagte der andre Offizier: »Wie kommt die Frau hierher?« »Wir warten auf einen Gendarmen«, sagte sie, »der zu Herrn Duroc geritten ist, um uns anzumelden. Er wird uns in Schutz nehmen, damit wir den Kaiser sprechen können.« »Den Kaiser sprechen?« sagte der erste Offizier. »Wohin denken Sie! Am Vorabend einer Entscheidungsschlacht!« »Ach! Sie haben recht!« sagte sie. »Ich darf ihn erst übermorgen sprechen. Der Sieg wird ihn milder stimmen.« Die beiden Offiziere stellten sich in zwanzig Schritt Entfernung auf und blieben dort auf ihren unbeweglichen Pferden halten. Nun wurde die Kalesche von einem Schwarm von Generälen, Marschällen und Offizieren umringt, die alle sehr glänzend aussahen und den Wagen respektierten, eben weil er dastand.
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»Mein Gott«, sagte der Marquis zu Fräulein von Cinq-Cygne, ich fürchte, wir haben eben mit dem Kaiser gesprochen.« »Dem Kaiser?« sagte ein Generaloberst. »Da steht er.« Nun erblickte Laurence ein paar Schritte vor sich allein den Mann, der ausgerufen hatte: »Wie kommt die Frau hierher?« Einer der beiden Offiziere, kurz, der Kaiser, trug seinen berühmten Überrock über einer grünen Uniform und saß auf einem Schimmel mit reichem Zaumzeug. Mit einem Fernrohr beobachtete er das preußische Heer jenseits der Saale. Nun begriff Laurence, warum die Kalesche stehen blieb und warum das Gefolge des Kaisers sie respektierte. Eine krampfhafte Erregung ergriff sie; die Stunde war gekommen. Sie hörte das dumpfe Geräusch und das Waffengeklirr marschierender Massen; sie besetzten im Geschwindschritt die Anhöhe. Die Batterien schienen stimmbegabt; die Munitionswagen dröhnten und das Erz funkelte. »Der Marschall Lannes soll mit seinem ganzen Korps vorwärts Stellung nehmen; der Marschall Lefebvre und die Garde sollen diese Höhe besetzen«, sagte der andre Offizier; es war der Generalmajor Berthier. Der Kaiser stieg ab. Bei seiner ersten Bewegung eilte Roustan, sein berühmter Mameluck, herbei, um das Pferd zu halten. Laurence war starr vor Staunen: an so viel Schlichtheit hatte sie nicht geglaubt. »Ich werde die Nacht auf dieser Höhe verbringen«, sagte der Kaiser. In diesem Augenblick kam der Großmarschall Duroc, den der Gendarm endlich gefunden hatte, auf Herrn von Chargeboeuf 495
zu und fragte ihn nach dem Grund seines Kommens. Der Marquis gab zur Antwort, er werde aus einem Briefe des Ministers des Auswärtigen ersehen, wie dringlich es sei, daß sie, Fräulein von Cinq-Cygne und er, eine Audienz beim Kaiser erhielten. »Seine Majestät wird zweifellos in ihrem Biwak speisen«, sagte Duroc und nahm den Brief. »Wenn ich gelesen habe, um was es sich handelt, werde ich Sie wissen lassen, ob es möglich ist. – Brigadier,« sagte er zu dem Gendarmen, »begleiten Sie diesen Wagen und führen Sie ihn hinter die Hütte.« Herr von Chargeboeuf folgte dem Gendarmen und hielt seinen Wagen hinter einer elenden Fachwerkhütte an, die ein paar Obstbäume umstanden und die von Infanterie- und Kavallerietrupps bewacht war. Man kann sagen, daß die Majestät des Krieges dort in ihrem vollen Glanze strahlte. Von dieser Anhöhe erblickte man die Linien der beiden Heere im Mondschein. Nach einer Stunde des Wartens, die von der beständigen Bewegung der kommenden und abreitenden Adjutanten ausgefüllt war, kam Duroc, um Fräulein von Cinq-Cygne und den Marquis von Chargeboeuf zu holen. Er ließ sie in die Hütte treten, deren Fußboden wie der unserer Scheunentennen aus gestampftem Lehm bestand. Vor einem abgedeckten Tisch und an einem qualmenden Feuer aus grünem Holze saß Napoleon auf einem groben Stuhl. Seine kotbespritzten Stiefel bezeugten seine Ritte querfeldein. Er hatte seinen wohlbekannten Überrock abgelegt, und seine berühmte grüne Uniform, über die sein großes rotes Ordensband sich spannte, setzte sich kräftig von dem weißen Untergrund seiner Kaschmirweste und Hose ab und brachte sein bleiches, furchtbares Cäsarengesicht wunderbar zur Geltung. Seine Hand lag auf einer aufgeschlagenen Karte, die auf seinen Knien ruhte. Berthier stand in seiner glänzenden Tracht als Vizekonneta-
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bel des Kaiserreichs neben ihm. Constant, der Kammerdiener, reichte dem Kaiser seinen Kaffee auf einem Brett. »Was wollen Sie?« fragte er mit gespielter Schroffheit und schoß den Strahl seines Blickes über Laurences Kopf. »Sie fürchten sich also nicht mehr, mich vor der Schlacht zu sprechen? ... Um was handelt es sich?« »Sire,« sagte sie, ihn nicht minder fest anblickend, »ich bin Fräulein von Cinq-Cygne.« »Nun?« entgegnete er mit zorniger Stimme, denn er glaubte in diesem Blick Trotz zu lesen. »Verstehen Sie denn nicht? Ich hin die Gräfin von Cinq-Cygne, und ich bitte Sie um Gnade«, sagte sie, auf die Knie fallend, und reichte ihm das von Talleyrand entworfene Bittgesuch mit Begleitschreiben von der Kaiserin, Cambaceres und Malin. Der Kaiser hob die Bittflehende huldvoll auf, warf ihr einen feinen Blick zu und sagte: »Werden Sie endlich vernünftig werden? Begreifen Sie, was das französische Kaiserreich sein soll?« ... »Ach, in diesem Augenblick begreife ich nur den Kaiser«, sagte sie; besiegt von der Gutmütigkeit, mit der der Mann des Schicksals diese Worte gesprochen hatte, die die Begnadigung durchblicken ließen. »Sind sie unschuldig?« fragte der Kaiser. »Alle!« entgegnete sie begeistert. »Alle? Nein, der Flurschütz ist ein gefährlicher Mensch, der meinen Senator umbrächte, ohne Sie um Rat zu fragen ...« 497
»Oh, Sire,« versetzte sie, »wenn Sie einen Freund hätten, der sich Ihnen geweiht hat, würden Sie ihn im Stiche lassen? Würden Sie nicht ...« »Sie sind ein Weib«, unterbrach er sie mit einem Anflug von Spott. »Und Sie ein Mann von Eisen!« entgegnete sie mit begeisterter Härte, die ihm gefiel. »Dieser Mensch ist von der Justiz des Landes verurteilt«, fuhr er fort. »Und doch unschuldig.« »Sie Kind!« sagte er. Er nahm Fräulein von Cinq-Cygne bei der Hand und führte sie auf die Anhöhe. »Da,« sagte er mit der ihm eignen Beredsamkeit, die die Feiglinge zu Helden verwandelte, »da sind dreihunderttausend Menschen; sie sind auch unschuldig! Wohlan, morgen werden dreißigtausend Menschen tot sein, gestorben für ihr Land! Bei den Preußen wird vielleicht ein großer Mechaniker, ein Ideologe, ein Genie hingemäht. Auf unsrer Seite werden wir sicherlich große, unbekannte Männer verlieren. Kurz, vielleicht sehe ich meinen besten Freund sterben! Werde ich Gott anklagen? Nein, ich werde schweigen. Lassen Sie sich sagen, Fräulein, man muß für die Gesetze seines Landes sterben, wie man für seinen Ruhm stirbt«, sagte er, sie zu der Hütte zurückführend. »Gehen Sie, kehren Sie nach Frankreich zurück«, sagte er, den Marquis anblickend. »Meine Befehle werden Ihnen folgen.«
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Laurence glaubte an eine Verwandlung der Strafe für Michu, und im Überschwang ihrer Dankbarkeit beugte sie das Knie und küßte dem Kaiser die Hand. »Sie sind Herr von Chargeboeuf?« fragte der Kaiser, den Marquis bemerkend. »Jawohl, Sire.« »Haben Sie Kinder?« »Viele.« »Warum sollten Sie mir nicht einen Ihrer Enkel geben? Er könnte einer meiner Pagen werden...« »Ach, da kommt der Unterleutnant hervor«, dachte Laurence. »Er will für seine Gnade bezahlt sein.« Der Marquis verneigte sich, ohne zu antworten. Zum Glück stürzte General Rapp in die Hütte. »Sire, die Gardekavallerie und die des Großherzogs von Berg können nicht vor morgen Mittag zu uns stoßen.« »Einerlei«, sagte Napoleon, sich an Berthier wendend. »Es gibt auch für uns Stunden der Gnade. Wir wollen sie wahrnehmen.« Auf einen Wink zogen sich der Marquis und Laurence zurück und stiegen wieder in den Wagen. Der Brigadier brachte sie auf ihre Straße und führte sie bis zu einem Dorfe, wo sie die Nacht verbrachten. Am nächsten Morgen entfernten sie sich vom Schlachtfeld unter dem Donner von achthundert Kanonen, der zehn Stunden lang rollte, und unterwegs erfuhren sie den erstaunlichen Sieg von Jena. Acht Tage darauf erreichten sie die 499
Vorstädte von Troyes. Durch Befehl des Oberrichters, der dem Kaiserlichen Staatsanwalt am Amtsgericht von Troyes übermittelt ward, wurden die Edelleute bis zur Entscheidung des Kaisers und Königs gegen Bürgschaft freigelassen; aber gleichzeitig wurde der Hinrichtungsbefehl für Michu durch die Staatsanwaltschaft ausgefertigt. Diese Befehle waren am gleichen Morgen eingetroffen. Gegen zwei Uhr begab sich Laurence im Reisekleid ins Gefängnis. Sie erhielt die Erlaubnis, bei Michu zu bleiben, an dem man die traurige Zeremonie der letzten Ankleidung vornahm. Der gute Abbé Goujet, der gebeten hatte, ihn zum Schafott begleiten zu dürfen, hatte Michu soeben die Absolution erteilt. Der war verzweifelt, in der Ungewißheit über das Schicksal seiner Herren sterben zu sollen. Als daher Laurence erschien, stieß er einen Freudenschrei aus und rief: »Ich kann sterben!« »Sie sind begnadigt, ich weiß nicht, unter welchen Bedingungen,« sagte Laurence zu ihm, »aber sie sind es. Auch für dich, mein Freund, habe ich trotz ihrer Ratschläge alles versucht. Ich hielt dich für gerettet, aber der Kaiser hat mich als huldvoller Herrscher getäuscht.« »Es stand dort oben geschrieben,« sagte Michu, »daß der Wachhund an der gleichen Stelle sterben sollte wie seine früheren Herren!« Die letzte Stunde verging rasch. Im Augenblick des Aufbruchs wagte Michu keine andre Gunst zu erbitten, als daß er Fräulein von Cinq-Cygne die Hand küssen dürfte, aber sie hielt ihm ihre Wangen hin und ließ sich von diesem edlen Opfer keusch umarmen. Michu weigerte sich, den Henkerkarren zu besteigen. »Unschuldige müssen zu Fuß gehen!« sagte er.
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Er ließ es nicht zu, daß der Abbé Goujet ihm den Arm reichte; würdig und entschlossen ging er bis zum Schafott. In dem Augenblick, da er sich auf das Brett legte, bat er den Scharfrichter, ihm den Rock zurückzuschlagen, der ihm den Hals verdeckte, und sagte: »Mein Anzug gehört Ihnen; zerschneiden Sie ihn nicht.« Die vier Edelleute hatten kaum Zeit, Fräulein von Cinq-Cygne zu sehen. Eine Ordonnanz des Generals, der den Wehrkreis befehligte, brachte ihnen die Patente als Leutnants in dem gleichen Kavallerieregiment, mit dem Befehl, sofort zur Ersatzschwadron ihres Truppenteils in Bayonne zu stoßen. Nach herzzerreißendem Abschied, denn alle ahnten die Zukunft, kehrte Fräulein von Cinq-Cygne in ihr verödetes Schloß zurück. Beide Brüder fielen zusammen unter den Augen des Kaisers bei Sommo Sierra, einer den andern verteidigend; beide waren schon Schwadronchefs. Ihr letztes Wort war: »Laurence, cy meurs!« Der ältere Hauteserre fiel als Oberst bei dem Angriff auf die Schanze an der Moskwa, wo sein Bruder an seine Stelle trat. Adrien wurde in der Schlacht bei Dresden zum Brigadegeneral ernannt und schwer verwundet; er konnte nach Cinq-Cygne zurückkehren, um sich pflegen zu lassen. Um diesen Überrest der vier Edelleute zu retten, die sie eine Weile um sich gesehen, heiratete die Gräfin ihn im Alter von zweiunddreißig Jahren; aber sie bot ihm ein verwelktes Herz, das er annahm: Liebende zweifeln an nichts oder an allem. Die Restaurationszeit fand Laurence ohne Begeisterung; für sie kamen die Bourbonen zu spät. Trotzdem konnte sie sich nicht 501
beklagen. Ihr Gatte ward zum Pair von Frankreich mit dem Titel eines Marquis von Cinq-Cygne und 1816 zum Generalleutnant ernannt. Für die hervorragenden Dienste, die er damals leistete, erhielt er das blaue Ordensband. Michus Sohn, für den Laurence wie eine Mutter sorgte, wurde 1827 Advokat. Nachdem er seinen Beruf zwei Jahre ausgeübt hatte, wurde er zum Hilfsrichter am Gerichtshofe von Alençon ernannt, von wo er 1829 als Staatsanwalt an den Gerichtshof von Arcis versetzt wurde. Laurence, die Michus Kapitalsanlagen überwacht hatte, übergab dem jungen Manne am Tage seiner Großjährigkeit eine Verschreibung auf zwölftausend Franken Staatspapiere; später verheiratete sie ihn mit dem reichen Fräulein Girel aus Troyes. Der Marquis von Cinq-Cygne starb im Jahre 1829 in den Armen Laurences, seiner Eltern und seiner Kinder, die ihn anbeteten. Bei seinem Tode hatte noch niemand das Geheimnis der Entführung des Senators ergründet. Ludwig XVIII. weigerte sich nicht, diese unglückliche Kriminalsache wieder gutzumachen, aber er blieb der Marquise von Cinq-Cygne gegenüber stumm über die Ursachen der Katastrophe, und sie hielt ihn fortan für mitschuldig.
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Schluss Der verstorbne Marquis von Cinq-Cygne hatte seine Ersparnisse sowie die seiner Eltern dazu verwandt, ein prachtvolles Stadthaus in der Rue du Faubourg du Roule zu erwerben, das er in das beträchtliche, zur Erhaltung seiner Pairswürde begründete Majorat einbezog. Die schmutzige Sparsamkeit des Marquis und seiner Verwandten, die Laurence oft Kummer machte, fand darin ihre Erklärung. Und so verbrachte die Marquise, die auf ihrem Landgut lebte, um für ihre Kinder zu sparen, seit dieser Erwerbung ihre Winter um so lieber in Paris, als ihre Tochter Bertha und ihr Sohn Paul in ein Alter kamen, wo ihre Erziehung die Pariser Hilfsmittel erforderte. Frau von Cinq-Cygne ging wenig in Gesellschaft. Ihrem Gatten war der Gram, der im Herzen dieser Frau wohnte, nicht unbekannt geblieben, aber er entwickelte das geistvollste Zartgefühl für sie und starb, nachdem er sie allein auf Erden geliebt hatte. Dies edle, eine Zeitlang verkannte Herz, dem aber die hochherzige Tochter der Cinq-Cygnes in den letzten Jahren alle Liebe, die sie empfing, erwiderte, dieser Gatte wurde schließlich völlig glücklich. Laurence lebte vor allem im Familienglück. Keine Dame in Paris wurde von ihren Freunden mehr geliebt und geachtet. Sie zu besuchen, ist eine Ehre. Sanft, nachsichtig, geistreich und vor allem einfach, gefällt sie den erlesenen Seelen und zieht sie trotz ihrer schmerzvollen Haltung an, und dies Gefühl eines heimlichen Inschutznehmens erklärt vielleicht die Reize ihrer Freundschaft. Ihr Leben, das in ihrer Jugend so kummervoll war, ist am Lebensabend heiter und schön. Man kennt ihr Leiden. Niemand hat sie nach dem Urbild des Porträts von Robert Lefebvre gefragt, das seit dem Tode des Verwalters den düsteren Hauptschmuck ihres Salons bildet. Laurences Gesichtsausdruck hat die Reife spät gediehener Früchte. Eine Art religiösen Stolzes ziert heute ihre vielgeprüfte Stirn. Zu der Zeit, da die Marquise ein Haus zu machen be503
gann, belief sich ihr Vermögen, durch das Entschädigungsgesetz vermehrt, auf zweihunderttausend Franken Einkommen, Laurence hatte die von den Simeuses hinterlassenen achthunderttausend Franken geerbt. Seitdem gab sie jährlich hunderttausend Franken aus und legte den Rest als Mitgift für Bertha zurück. Bertha ist das lebende Ebenbild ihrer Mutter, aber ohne kriegerische Keckheit; sie ist fein und geistvoll wie ihre Mutter, aber »mehr Frau«, wie diese schwermütig sagt. Die Marquise wollte ihre Tochter nicht vor dem zwanzigsten Jahre verheiraten. Die Ersparnisse der Familie, die der alte Hauteserre weise verwaltete und die er 1830 in Staatspapieren anlegte, als diese fielen, bildeten eine Mitgift von etwa achtzigtausend Franken Einkommen, als Bertha 1833 zwanzigjährig wurde. Damals hatte die Prinzessin von Cadignan, die ihren Sohn, den Herzog von Maufrigneuse, verheiraten wollte, seit ein paar Monaten eine Freundschaft zwischen ihm und der Marquise von Cinq-Cygne angeknüpft. Georges von Maufrigneuse speiste dreimal wöchentlich bei der Marquise von Cinq-Cygne, begleitete Mutter und Tochter ins italienische Theater und ritt im Bois neben ihrem Wagen, wenn sie spazierenfuhren. Seitdem war es für die Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain offenbar, daß Georges Bertha liebte. Nur konnte niemand wissen, ob Frau von Cinq-Cygne den Wunsch hegte, ihre Tochter zur Herzogin zu machen, in Erwartung des Tages, wo sie Prinzessin wurde, oder ob die Prinzessin für ihren Sohn eine so schöne Mitgift wünschte, ob die berühmte Diana dem Provinzadel entgegen kam, oder ob der Provinzadel sich vor der Berühmtheit der Frau von Cadignan, ihren Neigungen und ihrem verschwenderischen Leben fürchtete. Indem Wunsche, ihrem Sohne nicht zu schaden, hatte die Prinzessin, die fromm ge-
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worden war, ihr Leben in ihre vier Wände eingeschlossen und verbrachte die schöne Jahreszeit in einer Villa in Genf. Eines Abends hatte die Prinzessin von Cadignan die Marquise d'Espard und den Präsidenten des Staatsrates, de Marsay, bei sich. Sie sah den ehemaligen Liebhaber an jenem Abend zum letzten Male, denn er starb im folgenden Jahre, Rastignac, der Unterstaatssekretär in Marsays Ministerium war, zwei Gesandte, zwei berühmte Redner, die der Pairskammer verblieben waren, die alten Herzöge von Lenoncourt und von Navarreins, Graf von Vandenesse und seine junge Gattin sowie d'Arthez fanden sich dort zusammen und bildeten einen ziemlich wunderlichen Kreis, dessen Zusammensetzung leicht erklärlich ist: galt es doch, vom Premierminister einen Passierschein für den Prinzen von Cadignan zu erhalten. De Marsay, der diese Verantwortung nicht auf sich nehmen wollte, kam, um der Prinzessin zu sagen, daß die Sache in guten Händen wäre. Ein alter Politiker sollte ihr während des Abends die Lösung bringen. Die Marquise und Fräulein von Cinq-Cygne wurden gemeldet. Laurence, deren Grundsätze unbeugsam waren, war nicht erstaunt, sondern empört, als sie die erlauchtesten Vertreter der Legimität in beiden Kammern mit dem Premierminister des Mannes plaudern sah, den sie stets nur den Herrn Herzog von Orleans nannte. Sie hörten ihm zu und lachten mit ihm. De Marsay strahlte wie erlöschende Lampen im letzten Glänze. Hier vergaß er die politischen Sorgen gern. Die Marquise von Cinq-Cygne ließ de Marsay gelten, ganz wie man sagt, daß der österreichische Hof damals Herrn von Saint-Aulaire gelten ließ: der Weltmann setzte über den Minister hinweg. Aber sie fuhr hoch, als wäre der Lehnstuhl von glühendem Eisen gewesen, als der Herr Graf von Gondreville gemeldet wurde. »Leben Sie wohl, Gnädigste«, sagte sie trocknen Tones zu der Prinzessin. 505
Sie ging mit Bertha fort und berechnete die Richtung ihrer Schritte, um diesem verhängnisvollen Menschen nicht zu begegnen. »Sie haben vielleicht Georges' Heirat zum Scheitern gebracht«, sagte die Prinzessin leise zu de Marsay. Der frühere Schreiber aus Arcis, der frühere Volksvertreter, Thermidormann, Tribun und Staatsrat, der frühere Graf des Kaiserreichs und Senator, der frühere Pair von Frankreich unter Ludwig XVIII. und neue Pair der Julimonarchie, machte der Prinzessin von Cadignan eine servile Verbeugung. »Zittern Sie nicht mehr, schöne Dame, wir führen keinen Krieg mit den Prinzen«, sagte er und nahm neben ihr Platz. Malin hatte die Achtung Ludwigs XVIII. genossen, dem seine gereifte Erfahrung nicht unnützlich war. Er hatte viel zum Sturze von Decazes beigetragen und stark zu dem Ministerium Villèle geraten. Von Karl X. kühl aufgenommen, hatte er sich Talleyrands Groll zu eigen gemacht. Damals stand er in großer Gunst bei der zwölften Regierung, der er seit 1789 zu dienen den Vorzug hatte und der er zweifellos schlechte Dienste leisten wird, aber seit fünfviertel Jahren hatte er die Freundschaft abgebrochen, die ihn seit sechsunddreißig Jahren mit dem berühmtesten Diplomaten Frankreichs verband. An jenem Abend ließ er über diesen großen Staatsmann das Wort fallen: »Kennen Sie den Grund seiner Feindschaft gegen den Herzog von Burgund? ... Der Prätendent ist zu jung.« »Da geben Sie den jungen Leuten einen eigentümlichen Rat«, entgegnete Rastignac.
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De Marsay, der seit der Bemerkung der Prinzessin sehr nachdenklich geworden war, ging auf diese Scherze nicht ein. Er blickte Gondreville heimtückisch an und wartete offenbar auf den Aufbruch des Greises, der früh zu Bette ging, bevor er das Wort ergriff. Alle Anwesenden, die Zeugen des Fortgehens der Marquise von Ginq-Cygne gewesen waren und dessen Grund kannten, ahmten de Marsays Schweigen nach. Gondreville, der die Marquise nicht erkannt hatte, verstand die Gründe dieser allgemeinen Zurückhaltung nicht, aber seine Geschäftsgewandtheit und die politischen Sitten hatten ihm Takt beigebracht; zudem war er ein Mann von Geist. Er glaubte, daß seine Anwesenheit lästig fiel, und empfahl sich. De Marsay, der am Kamin stand, betrachtete diesen langsam davongehenden siebzigjährigen Greis in einer Weise, die ernste Gedanken erraten ließ. »Es war falsch von mir, Gnädigste, daß ich Ihnen meinen Unterhändler nicht genannt habe«, sagte der Premierminister schließlich, als er das Rollen des Wagens hörte. »Aber ich will meinen Fehler wieder gutmachen und Ihnen das Mittel geben, sich mit den Cinq-Cygnes auszusöhnen. Die Sache spielte vor mehr als dreißig Jahren; sie ist ebenso alt wie der Tod Heinrichs IV., der – unter uns gesagt – trotz des Sprichworts wie viele andere geschichtliche Katastrophen zu der unbekanntesten Geschichte gehört. Übrigens schwöre ich Ihnen, auch wenn diese Sache die Marquise nichts anginge, wäre sie darum nicht minder merkwürdig. Kurz, sie beleuchtet einen in unseren modernen Annalen berühmten Übergang: den über den Sankt Bernhard. Die Herren Gesandten werden daraus ersehen, daß unsere heutigen Politiker in bezug auf die Tiefe recht weit hinter den Machiavellis zurückblieben, die die Volksfluten von 1793 über die Stürme hinaushoben und von denen einige, wie die Ballade sagt, einen Hafen gefunden haben. Um heute in
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Frankreich etwas darzustellen, muß man von den Orkanen jener Zeit hin und her geworfen worden sein.« »Aber mir scheint,« lächelte die Prinzessin, »in dieser Hinsicht läßt Ihre jetzige Lage nichts zu wünschen übrig ...« Ein dezentes Lachen spielte auf allen Lippen, und selbst de Marsay konnte sich des Lächelns nicht erwehren. Die Gesandten schienen ungeduldig, de Marsay bekam einen Hustenanfall, und alles schwieg. »In einer Juninacht des Jahres 1800,« sagte der Premierminister, »gegen drei Uhr morgens, in dem Augenblick, da die Lichter im Morgengrauen erblaßten, verließen zwei Männer, die des Bouillottespiels müde waren oder nur gespielt hatten, um die anderen zu beschäftigen, den Salon des Ministeriums des Auswärtigen, das damals in der Rue du Bac lag, und gingen in ein Boudoir. Diese beiden, von denen der eine tot ist und der andere mit einem Fuß im Grabe steht, sind jeder in seiner Weise gleich außerordentlich. Alle beide sind Priester gewesen, und beide sind abtrünnig geworden; beide haben geheiratet. Der eine war simpler Oratorianer, der andere hatte die Bischofsmütze getragen. Der eine hieß Fouche, den Namen des anderen nenne ich Ihnen nicht; aber beide waren damals einfache französische Bürger, freilich sehr wenig einfach. Als sie das Boudoir betraten, zeigten die noch anwesenden Personen etwas Neugier. Ein Dritter folgte ihnen. Der hielt sich für weit stärker als die beiden anderen und hieß Siéyès, und wie Sie alle wissen, war er vor der Revolution gleichfalls ein Mann der Kirche. Der, dem das Gehen schwer wurde, war damals Minister des Auswärtigen; Fouché war Polizeiminister. Siéyès hatte auf das Konsulat verzichtet. Ein kleiner, kalter und strenger Mann verließ seinen Platz und trat zu den drei anderen, wobei er in Gegenwart eines, von dem ich diese Äußerung habe, mit lauter 508
Stimme sagte: ›Ich fürchte das Glücksspiel der Priester.‹ Es war der Kriegsminister. Carnots Wort beunruhigte die beiden Konsuln nicht, die in dem Salon spielten. Cambacérès und Lebrun waren damals in der Gewalt ihrer Minister, die ungleich stärker waren als sie. Fast alle diese Staatsmänner sind tot; man ist ihnen nichts mehr schuldig. Sie gehören der Geschichte an, und die Geschichte jener Nacht war furchtbar. Ich erzähle sie Ihnen, denn ich kenne sie allein, weil Ludwig XVIII. sie der armen Frau von Cinq-Cygne nicht erzählt hat und es der jetzigen Regierung einerlei ist, ob sie sie erfährt. Alle vier setzten sich. Der Hinkende mußte die Tür schließen, bevor ein Wort fiel; er soll sogar den Riegel vorgeschoben haben. Nur wohlerzogene Leute nehmen solche kleine Rücksichten. Die drei Priester hatten die bleichen und unbeweglichen Gesichter, die Sie bei ihnen kannten. Nur Carnot hatte frische Farben. Und der Soldat sprach auch zuerst: ›Um was handelt es sich?‹ ›Um Frankreich‹, dürfte der Fürst gesagt haben, den ich als einen der außerordentlichsten Männer unserer Zeit bewundere. ›Um die Republik‹, hat sicherlich Fouché gesagt, ›Um die Macht‹, war wahrscheinlich Siéyès' Wort.« Alle Anwesenden blickten sich an. De Marsay hatte die drei Männer mit Stimme, Blick und Gebärde ausgezeichnet geschildert. »Die drei Priester verstanden sich wundervoll«, fuhr er fort. »Carnot blickte zweifellos seine Kollegen und den Exkonsul mit würdiger Miene an. Ich glaube, er muß innerlich verdutzt gewesen sein.
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›Glauben Sie an den Erfolg?‹ fragte Siéyès. ›Von Bonaparte kann man alles erwarten‹, entgegnete der Kriegsminister. ›Er hat glücklich die Alpen überschritten.‹ ›In diesem Augenblick‹, sagte der Diplomat mit berechneter Langsamkeit, ›spielt er ums Ganze.‹ ›Nun, sagen wir es offen,‹ versetzte Fouché, ›was werden wir tun, wenn der Erste Konsul besiegt wird? Ist es möglich, noch ein Heer auf die Beine zu bringen? Sollen wir seine ergebenen Diener bleiben?‹ ›In diesem Augenblick‹, bemerkte Siéyès, ›gibt es keine Republik mehr; er ist für zehn Jahre Konsul.‹ ›Er hat mehr Macht, als Cromwell hatte,‹ setzte der Bischof hinzu, ›und er hat nicht für den Tod des Königs gestimmt.‹ ›Wir haben einen Herrn‹, sagte Fouché. ›Sollen wir ihn behalten, wenn er die Schlacht verliert, oder sollen wir zur reinen Republik zurückkehren?‹ ›Frankreich‹, versetzte Carnot sentenziös, ›kann nur dann Widerstand leisten, wenn es zur Tatkraft des Konvents zurückkehrt.‹ ›Ich teile Carnots Meinung‹, sagte Siéyès. ›Kehrt Bonaparte geschlagen zurück, so muß man ihm den Rest geben. Wir haben seit sieben Monaten zuviel von ihm zu hören gekriegt.‹ ›Er hat das Heer!‹ fuhr Carnot nachdenklich fort. ›Wir werden das Volk haben!‹ rief Fouche aus. 510
›Sie sind rasch, Herr!‹ erwiderte der Grandseigneur mit der Baßstimme, die er behalten hat, und die den Oratorianer nachdenklich machte. ›Seien wir offen,‹sagte ein altes Konventsmitglied, das seinen Kopf zeigte; ›wenn Bonaparte siegt, werden wir ihn anbeten; unterliegt er, so werden wir ihn begraben.‹ ›Sie waren da, Malin!‹ sagte der Hausherr, ohne sich aufzuregen. ›Sie werden einer der Unseren sein.‹ Er winkte ihm, Platz zu nehmen. Diesem Umstand verdankte jener Mann, ein ziemlich obskures Konventsmitglied, daß er das ist, was wir noch eben gesehen haben. Malin war verschwiegen, und die beiden Minister hielten ihm die Treue, aber er wurde auch zum Drehpunkt der Maschine und zur Seele der ganzen Machenschaft. ›Dieser Mann ist noch nie besiegt worden!‹ rief Carnot mit dem Ausdruck der Überzeugung, ›und eben hat er Hannibal übertroffen.‹ ›Im Fall eines Unglücks ist hier das Direktorium‹, fuhr Sieyes sehr listig fort, indem er jeden darauf hinwies, daß sie fünf waren. ›Und‹, sagte der Minister des Auswärtigen, ›wir alle haben an der Erhaltung der französischen Revolution ein Interesse. Wir drei sind aus der Kutte gesprungen; der General hat für den Tod des Königs gestimmt. Was Sie betrifft,‹ sagte er zu Malin, ›Sie haben Güter von Emigranten.‹
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›Wir haben alle die gleichen Interessen‹, versetzte Siéyès bestimmt, ›und unsere Interessen decken sich mit denen des Vaterlands.‹ ›Etwas Seltenes!‹ lächelte der Diplomat. ›Wir müssen handeln‹, setzte Fouché hinzu. ›Die Schlacht ist im Gange, und Melas hat überlegene Streitkräfte. Genua ist aufgegeben, und Masséna hat den Fehler begangen, sich nach Antibes einzuschiffen. Es ist also nicht sicher, ob er zu Bonaparte stoßen kann, der dann auf seine eigenen Kräfte angewiesen ist.‹ ›Woher haben Sie diese Nachricht?‹ fragte Carnot. ›Sie ist sicher‹, entgegnete Fouché. ›Sie werden die Meldung zur Börsenstunde haben.‹ ›Die machten keine Umstände‹, sagte de Marsay lächelnd und hielt einen Augenblick inne. ›Nun können wir aber‹, sagte Fouché, ›erst bei Eintreffen der Unglücksbotschaft die Klubs organisieren, den Patriotismus wecken und die Verfassung ändern. Unser achtzehnter Brumaire muß vorbereitet sein.‹ ›Überlassen wir das dem Polizeiminister,‹ sagte der Diplomat, ›und mißtrauen wir Lucian.‹ (Lucian Bonaparte war damals Minister des Innern.) ›Den werde ich verhaften‹, sagte Fouché. ›Meine Herren,‹ rief Siéyès aus, ›unser Direktorium soll keinen anarchistischen Umwälzungen mehr unterworfen sein. Wir 512
organisieren eine oligarchische Gewalt, einen Senat auf Lebenszeit, eine gewählte Kammer, die in unsrer Hand sein wird ... Denn wir wollen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.‹ ›Bei diesem System werde ich Frieden kriegen‹, sagte der Bischof. ›Machen Sie mir einen sichren Mann ausfindig, um mit Moreau in Verbindung zu treten, denn das Heer in Deutschland wird unsere einzige Stütze werden!‹ rief Carnot, der in tiefes Nachsinnen verloren blieb. »Fürwahr,« fuhr de Marsay nach einer Pause fort, »die Leute hatten recht, meine Herren! Sie waren in dieser Krise groß, und ich hätte es wie sie gemacht.« ›Meine Herren!‹ rief Siéyès in ernstem und feierlichem Tone,« fuhr Marsay in seiner Erzählung fort. »Dies Wort ›meine Herren‹ wurde vollkommen verstanden. Alle Blicke drückten das gleiche Gelübde aus, das gleiche Versprechen unbedingten Schweigens und völliger Solidarität, falls Bonaparte als Sieger zurückkehrte. ›Wir alle wissen, was wir zu tun haben‹, setzte Fouché hinzu. Siéyès hatte ganz sacht den Riegel zurückgeschoben; sein Priesterohr hatte ihn nicht getäuscht. Lucian trat ein. ›Gute Nachricht, meine Herren! Ein Kurier bringt Frau Bonaparte ein Briefchen vom Ersten Konsul: Er hat mit einem Siege bei Montebello begonnen.‹ Die drei Minister blickten sich an. 513
›Ist es eine allgemeine Schlacht?‹ fragte Carnot. ›Nein, ein Gefecht, in dem Lannes sich mit Ruhm bedeckt hat. Das Treffen war blutig. Er wurde mit zehntausend Mann von achtzehntausend angegriffen und ist durch eine ihm zu Hilfe geschickte Division gerettet worden. Ott ist auf der Flucht. Kurz, Melas' Operationslinie ist durchbrochen.‹ ›Wann fand der Kampf statt?‹ fragte Garnot. ›Am achten‹, entgegnete Lucian. ›Wir haben heut den dreizehnten‹, fuhr der kluge Minister fort. ›Wohlan, allem Anschein nach wird Frankreichs Schicksal in diesem Augenblick, wo wir plaudern, entschieden.‹ (In der Tat begann die Schlacht bei Marengo am vierzehnten Juni in der Morgendämmerung.) ›Vier Tage tödlichen Wartens‹, sagte Lucian. ›Tödlich?‹ wiederholte der Minister des Auswärtigen kalt und mit fragender Miene. ›Vier Tage‹, sagte Fouché. Ein Augenzeuge hat mir bestätigt, daß die beiden Konsuln diese Einzelheiten erst in dem Augenblick erfuhren, als die sechs Personen wieder in den Salon traten. Es war um vier Uhr Morgens. Fouché brach zuerst auf. Folgendes tat mit höllischer und stummer Tatkraft dies finstere, tiefe, außerordentliche, wenig bekannte Genie, das aber ganz gewiß dem Genie Philipps II., Tiberius' und Caesar Borgias gleichwertig war. Sein Benehmen bei der Affäre von Walcheren war das eines erfahrenen Soldaten, eines großen Staatsmannes und eines vorausschauenden 514
Verwaltungsmannes. Er war der einzige Minister, den Napoleon hatte. Sie wissen, daß er damals Napoleon ängstigte. Fouché, Masséna und der Fürst sind die drei größten Männer, die stärksten Köpfe in der Diplomatie, im Krieg und in der Regierung, die ich kenne. Hätte Napoleon sie offen an seinem Werke beteiligt, es gäbe kein Europa mehr, sondern nur ein französisches Riesenreich. Fouché hat sich von Napoleon erst abgewandt, als er Siéyès und den Fürsten von Talleyrand beiseite geschoben sah. Binnen drei Tagen organisierte Fouché die allgemeine Angst, die auf ganz Frankreich lastete und die republikanische Tatkraft von 1793 wieder belebte. Dabei verbarg er die Hand, die die Asche dieses Feuers schürte. Da dieser dunkle Winkel unserer Geschichte aufgehellt werden muß, will ich Ihnen sagen, daß diese von ihm ausgegangene Agitation – denn er hielt alle Fäden der früheren Bergpartei in Händen – die republikanischen Verschwörungen hervorrief, die das Leben des Ersten Konsuls nach seinem Siege bei Marengo bedrohten. Das Bewußtsein des Unheils, das er angerichtet hatte, gab ihm die Kraft, Bonaparte trotz dessen gegenteiliger Meinung klarzumachen, daß die Republikaner mehr an diesen Unternehmungen beteiligt seien als die Royalisten. Fouché war ein wunderbarer Menschenkenner; er zählte auf Siéyès, weil dessen Ehrgeiz getäuscht war, auf Talleyrand, weil er ein vornehmer Herr war, auf Carnot wegen seiner tiefen Ehrlichkeit; aber er fürchtete den Mann von heute Abend, und folgendermaßen wickelte er ihn ein. Damals war es bloß Malin, Malin, der mit Ludwig XVIII. im Briefverkehr stand. Der Polizeiminister zwang ihn, die Proklamationen der revolutionären Regierung zu verfassen, ihre Akte, ihre Erlasse, die Ächtung der Parteigänger des achtzehnten Brumaire. Mehr noch, dieser Mitschuldige wider Willen ließ sie in der nötigen Anzahl drucken und hielt sie in Ballen in seinem Hause bereit. Der Drucker wurde als Verschwörer verhaftet, denn man suchte sich 515
einen revolutionären Buchdrucker aus, und die Polizei ließ ihn erst nach zwei Monaten wieder frei. Dieser Mann ist 1816 gestorben; er glaubte noch an eine Verschwörung der Bergpartei. Eine der merkwürdigsten Szenen, die Fouches Polizei gespielt hat, ist unweigerlich die, welche der erste, bei dem berühmtesten Bankier jener Zeit eingetroffene Kurier hervorrief, der den Verlust der Schlacht bei Marengo meldete. Das Glück erklärte sich, wie Sie wissen, erst um sieben Uhr abends für Napoleon. Gegen Mittag hielt der Agent, den der damalige Finanzkönig auf den Kriegsschauplatz geschickt hatte, die französische Armee für vernichtet und schickte schleunigst einen Kurier ab. Der Polizeiminister ließ die Anhefter der öffentlichen Anschläge und die Ausrufer holen, und einer seiner Vertrauten kam mit einem Rollwagen an, der mit den Drucksachen beladen war, als der Kurier vom Abend, der sich außerordentlich beeilt hatte, die Siegesnachricht brachte, die Frankreich in einen wahren Taumel versetzte. An der Börse gab es große Verluste. Die Ansammlung der Anschläger und Ausrufer, die die Ächtung, den politischen Tod Bonapartes verkünden sollten, wurde in Schach gehalten und man wartete, bis die Proklamation und das Plakat gedruckt waren, worin der Sieg des Ersten Konsuls in den Himmel gehoben wurde. Malin, auf den die ganze Verantwortung für das Komplott fallen konnte, erschrak derart, daß er die Ballen auf Karren lud und sie bei Nacht nach Gondreville schaffte, wo er diese unheilvollen Papiere zweifellos in den Kellern seines Schlosses begrub, das er unter dem Namen eines Mannes .... er hat ihn zum Präsidenten eines Kaiserlichen Gerichtshofes gemacht ... er hieß Marion ... gekauft hatte! Dann kehrte er rechtzeitig nach Paris zurück, um den Ersten Konsul zu beglückwünschen. Wie Sie wissen, eilte Napoleon nach der Schlacht bei Marengo mit furchtbarer Schnelligkeit von Italien nach Frankreich, aber für die, welche die geheime Geschichte jener Zeit gründlich kennen, steht es fest, daß die Ursache seiner Schnelligkeit eine Botschaft Lucians 516
war. Der Minister des Innern hatte die Haltung der Bergpartei halb erkannt und fürchtete das Gewitter, ohne zu wissen, woher der Wind blies. Napoleon, der die drei Minister nicht beargwöhnen konnte, schrieb diese Bewegung dem Haß zu, den sein Bruder am achtzehnten Brumaire erregt hatte, sowie dem festen Glauben der von 1793 Übriggebliebenen an eine unabänderliche Niederlage in Italien. Die Rufe in Saint-Cloud: ›Tod dem Tyrannen!‹ hallten noch immer in Lucians Ohr. Die Schlacht bei Marengo hielt Napoleon bis zum 25. Juni auf den Schlachtfeldern der Lombardei zurück; am 2. Juli kam er in Frankreich an. Nun stelle man sich die Gesichter der fünf Verschwörer vor, als sie den Ersten Konsul in den Tuilerien zu seinem Siege beglückwünschten. Fouché sagte im Salon selbst zu dem Tribunen – denn dieser Malin, den Sie vorhin sahen, hat auch etwas den Tribunen gespielt –, er solle noch abwarten, es sei noch nicht alles zu Ende. In der Tat schien es Herrn von Talleyrand und Fouché nicht, als sei Bonaparte mit der Revolution so eng verschwistert wie sie selbst, und zu ihrer eignen Sicherheit ketteten sie ihn durch die Erschießung des Herzogs von Enghien daran fest. Die Hinrichtung des Herzogs hängt durch greifbare Verästelungen mit dem zusammen, was während des Marengofeldzuges im Ministerium des Auswärtigen angesponnen worden war. Heute ist es sicherlich klar für jeden, der gut unterrichtete Leute gekannt hat, daß Bonaparte von Herrn von Talleyrand und von Fouché wie ein Kind gegängelt worden ist. Sie wollten ihn unwiderruflich mit dem Hause Bourbon entzweien, dessen Abgesandte damals Versuche beim Ersten Konsul machten.« »Als Talleyrand seine Whistpartie bei der Herzogin von Luynes spielte,« sagte einer der Zuhörer, »zog er um drei Uhr Morgens seine Uhr, unterbrach das Spiel und fragte seine drei Mitspieler plötzlich und ohne Übergang, ob der Prinz von Condé noch andre Kinder hätte als den Herzog von Enghien. 517
Eine so wunderliche Frage aus dem Munde des Herrn von Talleyrand erregte größte Überraschung. ›Warum fragen Sie uns nach etwas, was Sie so genau wissen?‹ fragte man ihn. ›Um Ihnen mitzuteilen, daß das Haus Condé in diesem Augenblicke erlischt.‹ Nun war Herr von Talleyrand seit Beginn des Abends im Hause Luynes' und wußte zweifellos, daß Bonaparte außerstande war, den Herzog zu begnadigen.« »Aber,« sagte Rastignac zu de Marsay, »ich sehe bei alledem nichts von Frau von Cinq-Cygne.« »Ach, Sie waren noch so jung, mein Lieber, daß ich den Schluß vergaß. Sie kennen die Geschichte der Entführung des Grafen von Gondreville, die den Tod der beiden Simeuses und des älteren Bruders Hauteserre zur Folge gehabt hat. Der jüngere wurde durch seine Heirat mit Fräulein von Cinq-Cygne Graf und später Marquis von Cinq-Cygne ...« Da mehrere Personen, denen die Abenteuer unbekannt war, de Marsay darum baten, erzählte er den Prozeß und sagte, die fünf Unbekannten seien Schnapphähne der politischen Polizei des Kaiserreichs gewesen, die den Auftrag hatten, Drucksachenballen zu vernichten, zu deren Verbrennung der Graf von Gondreville eigens gekommen war, als er das Kaiserreich für befestigt hielt. »Ich habe Fouché im Verdacht,« sagte er, »daß er dort zugleich nach Beweisen für den Briefwechsel zwischen Gondreville und Ludwig XVIII. hat suchen lassen, mit dem er stets im Einvernehmen stand, selbst zur Schreckenszeit. Aber in dieser furchtbaren Sache hat von Seiten des Hauptagenten, der noch lebt, Leidenschaft mitgespielt. Er gehört zu den großen Handlan518
gern, die sich nie ersetzen lassen, und hat sich durch erstaunliche Kraftproben hervorgetan. Anscheinend hat Fräulein von Cinq-Cygne ihn schlecht behandelt, als er zur Verhaftung der Simeuses erschien. Somit, Gnädigste, besitzen Sie das Geheimnis der Sache. Sie können es der Marquise von CingCygne erklären und ihr begreiflich machen, warum Ludwig XVIII. Schweigen bewahrt hat.«
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