Frühmittelalterliche Studien 2008
Herausgegeben von Gerd Althoff Hagen Keller Christel Meier Walter de Gruyter
I FRÜHMIT T E LA LT E RLI C HE STUDI EN
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F R Ü H M I T T E L A LT E R L I C H E S T U D I E N Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster
in Zusammenarbeit mit
Arnold Angenendt, Volker Honemann, Albrecht Jockenhövel, Ruth Schmidt-Wiegand, Nikolaus Staubach und Joachim Wollasch
herausgegeben von
GERD A LT HOFF, HAGE N K ELLER und C HRI STEL M EI ER
42. Band
2008
WA LT E R DE GRUY T E R · BERLI N · NEW YO RK
IV Redaktion: Dr. Franz Neiske Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Salzstraße 41 48143 Münster
ISSN 0071-9706 ISSN ( internet ) 1613-0812 ISBN 978-3-11-019675-7 © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck: Mercedes-Druck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Stein + Lehmann GmbH, Berlin
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Inhaltsverzeichnis Michail A. Bojcov, Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantin und des Bischofs Ambrosius (Taf. I–VII, Abb. 1-25) .
1–69
Ueli Zahnd, Novus David – N« . Zur Frage nach byzantinischen Vorläufern eines abendländischen Topos . . . . . . . . . . . . . . .
71–87
Michael Grünbart, Der Kaiser weint. Anmerkungen zur imperialen Inszenierung von Emotionen in Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89–108
Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach, Continuity of written administration in the Late Carolingian East c. 887–911. The Royal Fisc . . 109–146 Wojtek Jezierski, Paranoia sangallensis. A Micro-Study in the Etiquette of Monastic Persecution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147–168 Wojciech Fałkowski, Double Meaning in Ritual Communication . . . . . 169–187 Annelies Amberger, Insignienverlust – Insignienbesitz. Krone und Ring als Funeralinsignien im Grab Kaiser Heinrichs IV. und Herodesbilder in Lambach (Taf. VIII–X, Abb. 26-40) . . . . . . . . . . . . . . . . . 189–228 Claudia Garnier, Die Legitimierung von Gewalt durch die hoch- und spätmittelalterliche Friedensbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229–251 Antonie Wlosok, Rollen Vergils im Mittelalter (Taf. XI–XX, Abb. 41-58) . 253–269 Petra Korte, Christlicher Hades und vergilisches Fegefeuer. Die antike Unterwelt in der mittelalterlichen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 271–306 Kerstin Seidel, Vorzeigen und nachschlagen. Zur Medialität und Materialität mittelalterlicher Rechtsbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307–328 Ulrich Töns,
. Die Grammatik des Johannes Kerckmeister ( 1486 ) als Zeugnis des Humanismus in Münster . . . . 329–397 Klaus Schreiner, Von der Geliebten zur himmlischen Schutz- und Siegesfrau. Zur semantischen Umbesetzung einer biblischen Frau in der Hohenliedauslegung des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Taf. XX– XXII, Abb.59-65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399–423 Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache . . . . . . . . . . 425–429 Orts-, Personen- und Sachregister, bearbeitet von Franz Neiske . . . . . . 431–438
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Inhaltsverzeichnis
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Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes Dr. Annelies Amberger M. A., Hochschule für Philosophie SJ, Kaulbachstraße 31a, 80539 München Prof. Bernard S. Bachrach, University of Minnesota, Department of History, 1110 Heller Hall, 271 19th Ave. South, Minneapolis, Minnesota 55455 Prof. David S. Bachrach, University of New Hampshire, 132 Horton Social Science Center, 20 Academic Way, Durham, New Hampshire 03824 Prof. Dr. Michail Bojcov, Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters, Historische Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität, Lomonossowskij Prospekt 27–4, 119992 Moskau Prof. Dr. Wojciech Fałkowski, Institut of History, Warsaw University, Krakowskie Przedm. 26/28, 00–325 Warszawa, Poland PD Dr. Claudia Garnier, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster Prof. Dr. Michael Grünbart, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Byzantinistik, Scharnhorststr. 110, 48151 Münster Dr. Wojtek Jezierski, Stockholm University, Department of History, 106 91 Stockholm, Schweden Petra Korte, Bohmter Str. 28 A, 49074 Osnabrück Prof. Dr. Klaus Schreiner, Pläntschweg 73, 81247 München Dr. Kerstin Seidel, Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl Schmid-Strasse 4, CH-8006 Zürich Dr. Ulrich Töns, Wierling 13, 48163 Münster Prof. em. Dr. Antonie Wlosok, Johannes Gutenberg-Universität, Seminar für Klassische Philologie ( Philosophicum ), Jakob-Welder-Weg 18, 55099 Mainz Lic. theol., Ueli Zahnd, Universität Freiburg, Philosophisches Seminar, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg
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Inhaltsverzeichnis
Der Heilige Kranz
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MICHAIL A. BOJCOV
Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantin und des Bischofs Ambrosius 1 I. Die Trauerrede, S. 1. – II. Die seltsame Komposition, S. 4. – III. Die Augusta Helena und die Reliquien des Echten Kreuzes, S. 11. – IV. Die Prophezeiung Sacharjas, S. 17. – V. Der erste Kult der Nägel, S. 20. – VI. Der , S. 25. – VII. Der Handlungsort, S. 31. – VIII. Der zweite Nagel, S. 34. – IX. Das , S. 42. – X. Ambrosius und Reliquien, S. 53. – XI. Nach Ambrosius: das und die , S. 55. – XII. Nach Ambrosius: der , S. 61. – XIII. Ergebnisse, S. 67.
I. DIE TRAUERREDE
Am Sonntag, dem 25. Februar 395 hielt Ambrosius ( um 333–397 ), der Bischof von Mailand und einer der bekanntesten westlichen Kirchenväter wie auch ein erfahrener Politiker, die Trauerrede für Kaiser Theodosius, der genau 40 Tage vorher im Alter von ungefähr 48 Jahren unerwartet in Mailand verstorben war 2. Diese Rede wurde keinesfalls im engen Kreis der vertrauten Höflinge gehalten, sondern dem Bischof von Mailand hörten Tausende von Menschen zu. Vom höchsten Rang unter ihnen war gewiss der jüngere Sohn Theodosius’ und sein Nachfolger in der westlichen Hälfte des Reiches, Honorius 3, der damals nicht einmal 11 Jahre alt war.
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Diese Studie konnte nur dank der Unterstützung und Gastfreundschaft des ( inzwischen leider abgeschafften ) Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen ( August 2006 ) und des Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences ( NIAS ) in Wassenaar ( Februar 2007 ) entstehen. Den beiden Institutionen gegenüber fühlt sich der Verfasser außerordentlich verpflichtet. Aus dem Russischen von Michail A. Bojcov und Ludger Hartmann mit Beteiligung von Sylvie Schwarzwälder übersetzt. Zu der Trauerrede Ambrosius’ s. zunächst: Giorgio Bonamente, Potere politico e autorità religiosa nel di Ambrogio, in: Chiesa e Società dal secolo IV ai nostri giorni. Studi storici in onore del P. Ilarino da Milano ( Italia Sacra 30 ) 1, Rom 1979, S. 83–133; Franca Ela Consolino, L’optimus princeps secondo S. Ambrogio. Virtù imperatorie e virtù cristiane nelle orazioni funebri per Valentiniano e Teodosio, in: Rivista storica italiana 96, 1984, S. 1025–1045; Dies, Teodosio e il ruolo del principe cristiano dal De obitu di Ambrogio alle storie ecclesiastiche, in: Cristianesimo nella storia 15, 1994, S. 257–278 ( man vergleicht das Bild Theodosius’ in der Rede Ambrosius’ mit seinem Bild in den Werken der Historiker des 5. Jahrhundert ); Francesco Corsaro, Il trono e l’altare. Da Costantino a Teodosio: De obitu Theodosii di Ambrogio, in: Vescovi e pastori in epoca teodosiana. In occasione del XVI centenario della consacrazione episcopale di S. Agostino, 396–1996. XXV Incontro di studiosi dell’antichità Cristiana, Roma 1997, 2, S. 601–611; Marta Sordi, La morte di Teodosio e il di Ambrogio, in: Acta classica Debreceniensia 36, 2000, S. 131–136. [ … ] et nunc quadragesimam celebramus, adsistente sacris altaribus Honorio principe [ … ] – Ambrosius, De obitu Theodosii, 3 ( künftig wird im Text des Aufsatzes und in Anmerkungen allein die Nummer der entsprechenden Kapitel angegeben ); Fles, Honori, germen augustum, et lacrimis pium testificaris adfectum [ … ] – 54; Fles, etiam, imperator auguste [ … ] – 55. Die falsche Meinung, Arcadius, der ältere Sohn Theodosius’, habe auch der Rede Ambrosius’ beigewohnt, wurde geäußert in: Barbara Baert, A Heritage of Holy Wood.
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Michail A. Bojcov
Gerade deswegen muss man als die einflussreichste politische Figur unter den Anwesenden den Vormund Honorius’ und Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee, den dreißigjährigen Stilicho betrachten, der nun zum de facto-Herrscher über den westlichen Teil des Reiches wurde 4. Die Rede von Ambrosius verfolgten viele Höflinge, Kleriker und Mailänder Bürger, aber auch – und das war besonders wichtig – die Militärs. Jetzt standen Letztere Schulter an Schulter, aber nur kurz zuvor hatten sie noch heftig gegeneinander gekämpft. Dieses Heer, das Ambrosius zuhörte, bestand aus drei großen Teilen: den Siegern, den Besiegten und den Überläufern. Erstere hatte Theodosius sechs Monate zuvor vom Osten nach Italien mitgebracht, um den <Usurpator> Eugenius zu stürzen, der sich praktisch den gesamten Westen unterworfen hatte 5. Die zweite Gruppe kämpfte gerade hart für Eugenius in der höchst blutigen Schlacht am Fluss Frigidus 6, unterlag aber. Es wurde den Überlebenden gnädig gestattet, ihren Dienst fortzusetzen, jetzt allerdings in der Armee Theodosius’. Die Dritten waren ursprünglich an der Seite des Usurpators, wechselten aber im entscheidenden Moment
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The Legend of the True Cross in Text and Image ( Cultures, Beliefs and Traditions. Medieval and Early Modern Peoples 22 ) Leiden – Boston 2004, S. 28, Anm. 71. Die Trauerrede wird hier und weiter nach der folgenden Edition zitiert: Sanctus Ambrosius, Opera. Pars septima, hg. von Otto Faller ( CSEL 73 ) Wien 1955, hier S. 372, 400. Vgl. eine weitere Edition: Mary Dolorosa Mannix, Sancti Ambrosii oratio de obitu Theodosii. Text, Translation, Introduction and Commentary, Diss., Washington ( D.C. ) 1925. Die französische Übersetzung mit Einleitung und Kommentar bereitete Yves-Marie Duval ( † 2007 ) für die Reihe Sources chrétiennes vor, sie ist aber nicht erschienen. Gedruckt ist aber eine Vorstudie: Yves-Marie Duval, Commenter Ambroise: principes et application ( Obit. Theod. 1–8 et 17–19 ) in: Gérard Nauroy ( Hg. ), Lire et éditer aujourd’hui Ambroise de Milan: actes du colloque de l’Université de Metz ( 20–21 mai 2005 ) ( Recherches en littérature et spiritualité 13 ) Bern–Berlin–Bruxelles u. a. 2007, S. 125–164. Die deutschen Zitate weiter unten folgen meistens der Übersetzung: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften. Übersetzt und eingeleitet von Johann Ev. Niederhuber ( Des heiligen Kirchenvaters Ambrosius ausgewählte Schriften 3; Bibliothek der Kirchenväter 1. Reihe, 32 ) Kempten – München 1917, S. 394–423. Zwar gibt es keinen klaren Hinweis im Text, dass die Rede im Beisein Stilichos gehalten wurde, man wies aber schon vor Langem auf einige Indizien hin, die dafür sprechen: Jean-Rémy Palanque, Saint Ambroise et l’empire romain, Paris 1933, S. 304. Außerdem erkennt man in den Worten Ambrosius’ die folgende wahrscheinliche Andeutung an Stilicho. Theodosius hielt nichts aus seinem Nachlass vor seinen Söhnen geheim (d. h. der Kaiser hatte keine Absicht, etwas aus seinem Vermögen oder Rechten jemand Anderem als Arcadius und Honorius zu hinterlassen): ‚er hatte ihnen alles übergeben‘, was er besaß. Das einzige, was er vor ihnen verhüllte, war, dass er ‚sie dem anwesenden Verwandten anvertraue‘: […] de filiis enim nihil habebat novum, quod conderet, quibus totum dederat, nisi ut eos praesenti commendaret parenti – 5. Einer sehr komplizierten aber wahrscheinlichen Rekonstruktion von Alan Cameron zufolge musste Theodosius noch im Oktober angesichts seiner geplanten baldigen Rückkehr nach Konstantinopel die künftige Regentschaft Stilichos im Westen des Reiches öffentlich bekannt gemacht haben. Nach dem Tod des Kaisers kündigte aber Stilicho plötzlich an, Theodosius habe ihm auf dem Sterbebett nicht nur Honorius im Westen, sondern auch den inzwischen schon achtzehnjährigen Arcadius im Osten anvertraut. Die Worte des Ambrosius bezeugen tatsächlich, dass etwas in den politischen Ansprüchen Stilichos für den Mailänder Hof völlig überraschend war. Cameron hat durchaus Recht, wenn er diese Stelle bei Ambrosius als aus Vorsicht undeutlich formuliert bezeichnet. Schwer zu teilen ist dagegen der Zweifel des britischen Historikers daran, dass Ambrosius hier eben die Regentschaft meinen musste. Selbst wenn Ambrosius sie nicht als rechtsgemäß anerkennen wollte (so Cameron), so konnte er doch von ihr zumindest als ein Ziel der Bestrebungen Stilichos sprechen. S. dazu: Alan Cameron, Theodosius the Great and the Regency of Stilicho, in: Harvard Studies in Classical Philology 73, 1969, S. 247–280, bes. S. 274–275, 278 f. Ausführlich dazu: Joachim Szidat, Die Usurpation des Eugenius, in: Historia 28, 1979, S. 487–508. Jetzt Vipava ( Wippach ) in Slovenien, die Schlacht fand am 5. und 6. September 394 in der Nähe des heutigen Ortes Ajdovˇscˇ ina ( Haidenschaft ) statt.
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die Front und schenkten dadurch Theodosius den Sieg. In dieser Schlacht fielen die besten Truppen der westlichen Hälfte des Reiches – ein Verlust, von dem sich das Römische Imperium nie mehr zu erholen im Stande war. Diese äußerlich vereinigte, aber innerlich alles andere als geschlossene Armee war zu dieser Zeit die stärkste Militärkraft im ganzen Kaiserreich und von der Laune der Soldaten, an welche sich der Redner wendete, konnte vieles im Reich abhängen, vielleicht sogar alles. Diese Armee bestand zum großen Teil aus Barbaren. Auf der Seite Eugenius’ mussten u. a. Franken gekämpft haben, während Theodosius viele Goten mit sich brachte. Nur siebzehn Jahre zuvor hatten die Goten den Kaiser Valens in der Schlacht von Adrianopel vernichtend geschlagen, aber infolge der Beschwichtigungspolitik von Theodosius wurden die Goten wieder in die Gefüge des Römischen Staat bis zu einem bestimmten Grad integriert. Auf jeden Fall ist der Beitrag der Goten zum Triumph über Eugenius nicht zu hoch einzuschätzen, wie auch die Opfer, welche sie für diesen Sieg brachten 7. Es geschah übrigens gerade anlässlich der Kampagne gegen Eugenius, dass der Gotenhäuptling Alarich die Gebirgspässe Illyriens kennen lernte – Kenntnisse, die er knapp sieben Jahre später mit Erfolg ausnutzen konnte, um an der Spitze seiner kriegerischen Stammesgenossen diesmal gegen den Willen des Kaisers auf die Apennin-Halbinsel zurückzukehren und seinen Vormarsch nach Rom zu beginnen. Unter den Soldaten Theodosius’ waren ohne Zweifel immer noch zahlreiche Heiden ( vor allem unter den Besiegten ), obwohl die meisten bereits Christen waren. Aber auch diese Christen hielten sich an sehr unterschiedliche Ansichten: einige von ihnen erkannten den Kanon der ökumenischen Synode von Nicäa 325 an, viele Andere lehnten ihn jedoch völlig ab. Ambrosius hatte auch als Redner bei traurigen Gelegenheiten viel Erfahrung: außer sind weitere drei Trauerreden von ihm überliefert – zwei anlässlich des Todes seines eigenen Bruders und eine für den jung verstorbenen Kaiser Valentinian II. Ambrosius kennt die Normen des Genres durchaus und es mangelt bei ihm natürlich nicht an Lobpreisungen über den verstorbenen Theodosius. Seine Darstellung war aber nicht der Vergangenheit, sondern vielmehr der Zukunft zugewandt, weil ihre Hauptbotschaft in der unbedingten Fortsetzung der theodosianischen Dynastie bestand 8. Der Leitgedanke bei Ambrosius lässt sich auf zwei Thesen reduzieren 9. Erstens, Theodosius war ein glänzender Kaiser und hatte sich die himmlische Seligkeit durchaus verdient. Aber zweitens: 7
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Ausführlich dazu: Johannes Straub, Die Wirkung der Niederlage bei Adrianopel auf die Diskussion über das Germanenproblem in der spätrömischen Literatur, in: Philologus 95, 1943, S. 255–286; Massimiliano Pavan, La politica Gotica di Teodosio nella publicistica del suo tempo, Rom 1964; Émilienne Demougeot, Modalités d’établissement des fédérés barbares de Gratien et de Théodose, in: Mélanges d’Histoire Ancienne offerts à William Seston ( Publications de la Sorbonne, série Études 9 ) Paris 1974, S. 143–160; Evgenij P. Gluschanin, Die Politik Theodosius’ I. und die Hintergründe des sogenannten Antigermanismus im oströmischen Reich, in: Historia 38, 1989, S. 224–249; Robert Malcolm Errington, Theodosius and the Goths, in: Chiron 26, 1996, S. 1–27. S. z. B.: Palanque ( wie Anm. 4 ) S. 293 f.: „Cette idée de la perpétuité de la dynastie nous apparait précisément dominante dans le discours que l’évêque de Milan prononce aux obsèques de Théodose …“. Vgl. auch S. 301 f.; Richard Klein, Die Kaiserbriefe des Ambrosius. Zur Problematik ihrer Veröffentlichung, in: Athenaeum N.S. 48, 1970, S. 335–371, hier S. 363; Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 3 f. und andere mehr. S. z. B.: Otto Faller, Prolegomena, in: Sanctus Ambrosius ( wie Anm. 3 ) S. 116*.
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Michail A. Bojcov ‚ist er nicht vollständig von uns gegangen. Er hinterließ uns seine Kinder, in denen wir ihn wieder erkennen, in denen wir ihn erblicken und an ihm festhalten. Ihr Alter braucht uns keine Sorge bereiten! Die Treue 10 des Heeres bildet die Altersreife des Kaisers. Denn dort herrscht das volle Mannesalter, wo die vollendete Mannestugend herrscht. Sie stehen in Wechselwirkung. So ist umgekehrt die Glaubenstreue des Kaisers die Kraft des Heeres.‘ 11
Die These von der unverbrüchlichen Treue der Armee zu ihrem jungen Kaiser wiederholte Ambrosius mit immer neuen Worten wieder und wieder, als ob er seine Zuhörer hypnotisieren wolle. Dieser Nachdruck verrät uns seine Befürchtung, dass die Treue dieser erfahrenen und meistens barbarischen Soldaten, welche die blutige Schlacht am Frigidus erst kurz hinter sich hatten, gegenüber einem zehnjährigen Knaben, der völlig anders als ein glückreicher Heerführer aussah, gar nicht so selbstverständlich war, wie der Redner das der zuhörenden Menge suggerieren wollte. ‚Traget an seinen Söhnen die Schuld ab, die ihr dem Vater zu leisten habt! Mehr schuldet ihr ihm nach seinem Tode als zu seinen Lebzeiten. Denn wenn schon an den Kindern gewöhnlicher Leute die Minderjährigkeitsrechte nicht ohne schweres Verbrechen verletzt werden dürfen, wie viel weniger an den Kindern eines Kaisers?‘ 12. Ambrosius benutzt auch eine weitere, allen Anwesenden leicht verständliche Parallele aus dem Zivilrecht: ‚Denn wenn schon der letzte Wille von Privatpersonen und die letztwilligen Verfügungen gewöhnlicher Sterblicher dauernde Gültigkeit haben, wie könnte die letztwillige Bestimmung eines so großen Kaisers der Rechtsgültigkeit ermangeln?‘ 13 Der Redner erhebt sich also hier nicht in die Höhe der konstitutionellen Spekulationen, sondern bleibt auf dem festen Boden der alltäglichen Praxis. Er muss nicht Philosophen oder Theologen, sondern Soldaten und Offiziere davon überzeugen, dass sie sich vom jungen Sohn des verstorbenen Kaiser nicht abkehren dürfen. II. DIE SELTSAME KOMPOSITION
Nach einhelliger Forschermeinung besteht die Trauerrede Ambrosius’ aus drei klar voneinander trennbaren Hauptteilen. Im ersten ist der Verfasser hauptsächlich damit beschäftigt, die schon oben genannte These mit immer neuen Argumenten zu bekräftigen: allein die Söhne Theodosius’ seien dazu berechtigt, seine Herrschaft zu vererben. Im zweiten Teil werden die vielseitigen Tugenden des verstorbenen Kaisers mit großer Eloquenz gelobt, was ohnehin zum Kern jedes Enkomiums dieser Art gehören muss 14. Der dritte Teil bringt aber eine Überraschung: Ambrosius weicht völlig von 10
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Man kann nicht die Meinung akzeptieren, das Wort fides soll hier im Sinne „rapporto di mutua lealtà fra imperator e soldati“ verstanden werden. – Consolino, Teodosio ( wie Anm. 2 ) S. 260. Gerade in diesem Fall erwartet Ambrosius von den Soldaten, dass sie ihre durchaus <einseitige> Treue ihrem Kaiser gegenüber beweisen müssen. Ergo tantus imperator recessit a nobis, sed non totus recessit, reliquit enim nobis liberos suos, in quibus eum debemus agnoscere, et in quibus eum et cernimus et tenemus. Nec moveat aetas! Fides militum imperatoris perfecta aetas est; est enim perfecta aetas, ubi perfectus est virtus. Reciproca haec, quia et fides imperatoris militum virtus est. – 6. Vgl. auch 36. Solvite filiis eius, quod debetis patri. Plus debetis defuncto quam debuistis viventi. Etenim si in liberis privatorum non sine gravi scelere minorum iura temerantur, quanto magis in filiis imperatoris. – 11. [ … ] si enim privatorum ultimae voluntates et deficientum testamenta habent perpetem firmitatem, quomodo potest tanti principis esse inritum testamentum? – 5. Dieser Teil der Rede sieht wie eine Variation auf das Thema des Psalms 114 aus. Der Psalm wird gewöhnlich während des Trauergottesdienstes gesungen, deswegen spielt Ambrosius hier vielleicht auf
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seinem Thema ab und fängt plötzlich ohne jede Begründung an, die lange Geschichte zu erzählen, wie es der Augusta Helena, der frommen Mutter Kaiser Konstantins gelang, das Echte Kreuz in Jerusalem aufzufinden, an dem Christus gekreuzigt worden war. Dieser unerwartete Exkurs nimmt etwa ein Fünftel der ganzen Rede in Anspruch, was Historiker immer schon für rätselhaft hielten 15. Die Einschiebung der Helena-Geschichte wirkt auf Kenner der antiken Rhetorik wie auch des literarischen Nachlasses des Bischofs von Mailand beinahe abschreckend: ihr Auftreten widerspricht allen Normen, nach welchen eine Trauerlobrede zusammengestellt werden musste. Ambrosius vergisst seinen Protagonisten und spricht über längere Zeit von einer ganz anderen Person – ein rhetorischer Fehler, der selbst bei einem unerfahrenen Redner schwer zu erklären wäre 16. Lange schon wurde die Meinung geäußert, Ambrosius habe die Kreuzauffindungsgeschichte seinen Zuhörern in der Tat gar nicht vorgetragen, sondern sie sei von ihm erst nachträglich hinzugefügt worden, als er Monate ( vielleicht sogar etwa eineinhalb Jahr ) später den Text der Trauerrede zur schriftlichen Veröffentlichung vorbereitet habe 17. Gerade dieser mysteriöse dritte Teil von steht im Zentrum aller nachfolgenden Überlegungen, die allerdings weit über die Textgeschichte hinaus reichen werden. Der Redner nähert sich dem Thema der Helena allmählich: er beschreibt zuerst die himmlische Glückseligkeit, die Theodosius zweifelsohne jetzt schon in vollem Maße
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die Worte an, welche die Anwesenden soeben in der Liturgie gehört hatten. – Yves-Marie Duval, Formes profanes et formes bibliques dans les oraisons funèbres de Saint Ambroise, in: Manfred Fuhrmann ( Hg. ), Christianisme et formes littéraires de l’antiquité tardive en occident ( Entretiens sur l’antiquité classique 23 ) Genève 1977, S. 235–301, hier S. 278. Eine solche Teilung s. z. B. in: Bonamente ( wie Anm. 2 ) S. 86, 107, 117. Typisch für die Fachliteratur ist die folgende Bewertung des Exkurses über die Kreuzauffindung: „At this point Ambrose produces one of the most dazzling passages he ever wrote“. – John Moorhead, Ambrose. Church and Society in the Late Roman World, London – New York 1999, S. 204. Über stilistische Mittel, die Ambrosius vor allem in seinen Reden anwendete, s. zuerst: Franz Rozynski, Die Leichenreden des heiligen Ambrosius, insbesondere auf ihr Verhältnis zur antiken Rhetorik und den antiken Trostschriften untersucht. Diss. Breslau, 1910 ( das Hauptaugenmerk des Verfassers ist der Fortsetzung der antiken rhetorischen Tradition gewidmet ); Charles Favez, L’Inspiration chrétienne dans les Consolations de Saint Ambroise, in: Revue des études latines 8, 1930, S. 82–91 ( hier werden dagegen vor allem die christlichen Innovationen verfolgt, bleibt aber dabei so gut wie unberücksichtigt ); Giuseppe Mario Carpaneto, Le opere oratorie di S. Ambrogio, in: Didaskaleion. N.S. 9, 1930, S. 35–156; Mannix, Introduction, in: Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 1–45; Duval ( wie Anm. 14 ); Martin Biermann, Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand. Rhetorik, Predigt, Politik ( Hermes. Einzelschriften 70 ) Stuttgart 1995; Bénédicte Gerbenne, Modèles bibliques pour un empereur. Le De obitu Theodosii d’Ambroise de Milan, in: Rois et reines de la Bible au miroir des Pères ( Cahiers de Biblia patristica 6 ) Strasbourg 1999, S. 161–176. Louis Laurand, L’oraison funèbre de Théodose par saint Ambroise. Discours prononcé et discours écrit, in: Revue d’histoire ecclésiastique 17, 1921, S. 349–350; Charles Favez, L’episode de l’invention de la Croix dans l’oration funèbre de Théodose par St. Ambroise, in: Revue des études latines 10, 1932, S. 423–429, besonders S. 424. Diese beiden Autoren sind allerdings nicht darüber einig, in welchem Textabschnitt die tatsächlich vorgetragene Rede zum Ende kommt und die rein literarische Hinzufügung beginnt. Außerdem geht Laurand davon aus, dass die Helenapassage ursprünglich einer anderen, uns unbekannt gebliebenen Schrift Ambrosius’ angehört haben muss, wo hingegen Favez denkt, dass sie speziell für die Trauerrede 395 entworfen, allerdings erst kurz vor ihrer Herausgabe niedergeschrieben wurde.
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genießen müsse. Theodosius umarme im Jenseits den Kaiser Gratian ( 375–383 ) 18, aber auch die Mitglieder seiner eigenen Familie: seine zweite Ehefrau Aelia Flacilla ( die erste Gattin wird hier von Ambrosius ignoriert ) und zwei früh verstorbene Kinder – Gratian und Pulcheria –, die alle zusammen die Gesellschaft ihres Vaters genießen würden. Darüber hinaus unterhalte er sich mit dem Kaiser Konstantin. Der Verfasser versäumt aber hier die günstige Gelegenheit, den Gründer des Neuen Roms zu verherrlichen. Es geschieht eher das Gegenteil: er erwähnt den ersten christlichen Kaiser nicht nur sehr formell, sondern auch mit einer gewissen Kühle 19. Die gesamte Passage über die freudigen Zusammenkünfte Theodosius’ im Himmel benötigt der Autor in der Tat nur, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer von der Person des Theodosius über die durchaus intermediäre Figur Konstantin übergangslos auf die fromme Mutter des Letzteren, die heilige Helena, zu lenken. An diesem Punkt beginnt der Bericht über das Auffinden der wichtigsten Passionsreliquien auf Golgatha. Die Trauerrede 395 wurde in der Briefsammlung des Ambrosius herausgegeben, welche vom Autor selbst konzipiert und vorbereitet werden konnte, und die vielleicht noch zu seinen Lebzeiten erschien. Das ursprüngliche Konzept dieser Sammlung wie auch ihre Struktur bleibt allerdings ungesichert. Nach dem Rekonstruktionsversuch von Otto Faller und Michaela Zelzer 20 musste die Abschiedsrede von 395 eine Art An18
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Gratian zeichnete den Heerführer Theodosius ursprünglich mit seinem Vertrauen aus und stattete ihn später auch mit Purpur aus. Danach war ihr gegenseitiges Verhältnis allerdings nicht so idyllisch, wie Ambrosius es darstellen wollte. Aus seiner Sicht waren aber Gratian und Theodosius zwei gleich Herrscher, die sich vor allem durch ihre Treue im christlichen Glauben auszeichneten. Ambrosius stand in diesem Punkt allerdings nicht allein: er gibt wohl eine bestimmte Tendenz wieder, die unter den pronicäanischen Christen um 400 an Zuspruch gewann. Man erinnert sich etwa an die ambivalente Einstellung Sulpicius Severus’ Konstantin gegenüber als dem Kaiser, welcher sich einerseits bekehren ließ, andererseits aber die Arianer förderte. Helena hat aber dagegen viel Lob bei Sulpicius verdient – genau wie auch bei Ambrosius. In Laufe seiner Arbeit an der ersten akademischen Edition der Briefe Ambrosius’ entwickelte Otto Faller die Theorie, nach welcher Ambrosius kurz vor seinem Tod seine Briefsammlung in zehn Büchern veröffentlichte. Aufgebaut war dieses Werk nach dem Vorbild der Briefe Plinius’ des Jüngeren ( 61/62–113/115 ). Genau wie bei Plinius soll Ambrosius diejenigen seiner epistolae, welche verschiedene politischen Angelegenheiten betrafen, im abschließenden zehnten Buch gesammelt haben, wobei die vorangehenden neun dem Leser das Bild Ambrosius’ als Privatperson ( aber auch als Kirchenvorsteher ) vermitteln sollten. Nach dem Tod Fallers setzte Michaela Zelzer seine Arbeit auf Grundlage derselben Prämissen fort, was schließlich zur Veröffentlichung der Ausgabe geführt hat, die heute als Standard gilt: Sancti Ambrosii Opera. Pars X. Epistulae et acta, hg. von Otto Faller und Michaela Zelzer ( CSEL 82 ) 4 Bde., Wien 1968–1996. Die Begründung und weitere Entwicklung dieses Editionskonzepts s. jetzt zuerst in den Einleitungen von Zelzer zu den Bänden 2 und 3, wie auch in der Reihe ihrer einzelnen Studien: Michaela Zelzer, Die Briefbücher des hl. Ambrosius und die Briefe extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 112, 1975, S. 7–23; Dies., Zu Aufbau und Absicht des zehnten Buches des Ambrosius’, in: Herbert Bannert ( Hg. ), Latinität und Alte Kirche. Festschrift für Rudolf Hanslik zum 70. Geburtstag ( Wiener Studien, Beiheft 8 ) Wien 1977, S. 351–362; Dies., Probleme der Texterstellung im zehnten Briefbuch des heiligen Ambrosius und in den Briefen extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 115, 1978, S. 415–439; Dies., Linien der Traditionsund Editionsgeschichte der ambrosianer Briefe am Beispiel des zehnten Briefbuches und der Epistulae extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 117, 1980, S. 207–230; Dies., Mittelalterliche <Editionen> der Korrespondenz des Ambrosius als Schlüssel zur Überlieferung der Briefbücher, in: Wiener Studien 96 ( N.F. 17 ) 1983, S. 160–180; Dies.,
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hang zum abschließenden zehnten ( <politischen> ) Briefbuch dargestellt haben. Zum Verständnis des Charakters der gesamten Briefsammlung erscheint die Frage von wesentlicher Relevanz, ob der Helena-Exkurs von Anfang an in der Trauerrede vorgesehen war oder erst später hinzugefügt wurde. Die möglichen alternativen Antworten stellen Ambrosius als Autor und zugleich Herausgeber jeweils in einem völlig unterschiedlichen Licht dar. Sollte der Bischof seine Rede tatsächlich ohne Hemmungen nachträglich um ein Paar Textseiten bereichert haben, ist zwangsläufig davon auszugehen, dass er auch andere seiner Schriften radikal überarbeitet haben könnte, bevor er sie herausgeben ließ. Vielleicht erfand er sogar einige ( oder mehrere? ) seiner Briefe, ganz zu schweigen von den Namen seiner Adressaten. Das würde den historischen Wert der Briefsammlung Ambrosius’ natürlich keinesfalls mindern, aber die Fragestellungen wesentlich ändern, mit denen Historiker sich an diese dann weitgehend fiktionalen Texte wenden dürften. Sollte aber die Helena-Legende noch in der ursprünglichen <mündlichen> Redefassung vorgekommen sein, brächte man den Briefen Ambrosius’ in dem Sinne mehr Vertrauen entgegen, dass sie vielleicht die genuine Reaktion des Autors auf bestimmte Momente seines Lebens wie auch kirchliche und politische Ereignisse seiner Zeit vermitteln können. Die Hypothese, die Kreuzauffindungsgeschichte sei eine spätere Ergänzung gewesen, rettet Ambrosius als Redner, aber nicht als Schriftsteller. Zu welchem Zweck hatte Ambrosius diese lange seltsame Abweichung überhaupt benötigt, auch wenn sie nur in der späteren überarbeiteten Fassung seiner Rede vorkäme? Die Vorbereitung eines Textes zur Herausgabe besteht doch gerade in der Verbesserung seiner rhetorischen Qualität und der Beseitigung etwaiger stilistischer und sonstiger Mängel, aber nicht im Hinzufügen neuerer. Die Anhänger dieser Hypothese setzen hier bei Ambrosius üblicherweise didaktische Intentionen voraus: er wollte den jungen Honorius am Beispiel der frommen Augusta belehren 21 und zugleich den Anlass nutzen, um allgemeine Ansichten von der Natur der christlichen Herrschaft zum Ausdruck zu bringen. Unbeantwortet bleibt aber zugleich, welches außerordentlich relevante Vorbild in den Augen Ambrosius’ die Figur Helenas – und zwar sie allein – für Honorius darstellen
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Ambrosius von Mailand und das Erbe der klassischen Tradition, in: Wiener Studien 100, 1987, S. 201–226, besonders S. 215–226. Sein Einverständnis mit der Theorie von Faller und Zelzer äußerte auch Richard Klein: seiner Meinung nach gab gerade der Tod Theodosius’ Ambrosius den Anlass, seine Briefsammlung, oder zumindest ihr zehntes ( <politisches> ) Buch, veröffentlichen zu lassen: Klein ( wie Anm. 8 ) S. 364 f. Man hat allerdings auch gegen Faller und Zelzer für eine völlig andere Rekonstruktion der ursprünglichen Struktur der Briefsammlung Ambrosius’ argumentiert: Jean-Pierre Mazières, Un principe d’organisation pour le recueil des Lettres d’Ambroise de Milan, in: Yves-Marie Duval ( Hg. ), Ambroise de Milan. XVIe Centenaire de son élection épiscopale, Paris 1974, S. 199–218; Ders., Les Lettres d’Ambroise de Milan à Irenaeus, in: Pallas 26, 1979, S. 103–114. Einige schwerwiegende Einwände gegen die Annahme, dass Plinius als Muster für Ambrosius dienen konnte, sind auch formuliert in: Hervé Savon, Saint Ambroise a-t-il imité le recueil de lettres de Pline le Jeune?, in: Revue des Études Augustiniennes 41, 1995, S. 3–17. Daraus entsteht auch der Zweifel Savons, dass Ambrosius seiner Briefsammlung überhaupt eine bestimmte Gestalt geben konnte, was u. a. bedeuten würde, dass er seine Texte kaum wesentlich redigierte. Vgl. auch Savons Besprechung der Edition von Faller und Zelzer: Ders., La première édition critique de la correspondance officielle d’Ambroise de Milan, in: Revue des Études Augustiniennes 32, 1986, S. 249–254. Man wartet jetzt auf die Ergebnisse des internationalen Kolloquiums Ambroise de Milan’ in Saint-Etienne und Lyon, geplant für November 2009. S. hier z. B.: Otto Faller, Prolegomena ( wie Anm. 9 ) S. 116* f.
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konnte, dass ein so erfahrener Schriftsteller sich so weit vom Kanon der Trauerreden entfernen konnte und die Komposition seines Textes dadurch hoffnungslos verderben musste. Eine m. E. recht seltsame Vermutung äußerte dazu seinerzeit Franz Rozynski: der Bischof habe damit beabsichtigt, die alte römische Tradition mutatis mutandis fortsetzend, die glorreichen Vorfahren des Verstorbenen aufzuzählen 22. Zu allgemein klingt die Idee von Charles Favez ( die auch bei anderen Historikern mit verschiedenen Variationen vertreten wird ): Ambrosius wollte seinen Lesern an das Kreuz der Erlösung und die Gefahr der Autokratie erinnern, um die Herrscher dazu zu bewegen, den Weg des Glaubens weiter voranzuschreiten 23. Auf den christlichen Charakter der kaiserlichen Macht und die Pflicht Honorius hinzuweisen, den neuen Glauben voll und ganz zu unterstützen, wäre ohne Weiteres mit Hilfe von zur Situation viel besser passenden Beispiele möglich gewesen, etwa durch Bezug auf die vorbildlichen Taten des verstorbenen Theodosius’. Kaum überzeugender wirken aber auch die Erklärungen jener Forscher, die für die Zugehörigkeit des Helena-Teils zur ersten Redefassung plädieren. So demonstriert etwa Wolf Steidle die enge innere Kohärenz zwischen allen drei Teilen der Rede dann sehr gut, wenn er bestimmte formale Eigenschaften (Anzahl der Zeilen in einzelnen Textabschnitten) analysiert. Seine Überlegungen zu der möglichen inhaltlichen Korrelation zwischen der Geschichte der Kreuzauffindung einerseits und den übrigen Textteilen andererseits klingen zwar an und für sich plausibel, beantworten aber auch nicht die Frage, warum es für Ambrosius unentbehrlich war, die Idee der erblichen Übertragung des christlichen Glaubens von einem Herrscher zum anderen (hereditas fidei) wie auch der Etablierung des Christlichen Reiches als Folge dieser Übertragung 24 mit Hilfe eines so fern liegenden, aber mit vielen Einzelheiten nacherzählten Sujets auszulegen. Ebenso künstlich erscheint m. E. auch ein ähnlicher Vorschlag von Giorgio Bonamente, in der Helena-Geschichte eine „Allegorie des gekrönten christlichen Herrschers – princeps Christianus“ – zu sehen 25. Waren die Zuhörer-Soldaten tatsächlich im Stande, eine solche Allegorie richtig wahrzunehmen, wenn der Redner ihnen (d. h. zugleich auch uns) den Inhalt nicht in allen Einzelheiten erklärte? Konnten sie die angebliche Bestrebung Ambrosius’ richtig einschätzen, dem Thronfolger eine zusätzliche Legitimation zu verleihen, die sich auf seine Treue der katholischen Orthodoxie gegenüber stützen musste, wie Franca Ela Consolino vermutet 26? Hätten sie verstehen können, dass es um die göttliche „Erlösung des Reiches und der Kaiser“ ging, wie Marta Sordi
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Rozynski ( wie Anm. 16 ) S. 106 f. Favez, L’episode ( wie Anm. 17 ) S. 425–428. Wolf Steidle, Die Leichenrede des Ambrosius für Kaiser Theodosius und die Helena-Legende, in: Vigiliae Christianae 32, 1978, S. 94–112. Einverständnis mit Steidle wird geäußert auch in: Jan Willem Drijvers, Helena Augusta. The Mother of Constantine the Great and the Legend of Her Finding of the True Cross ( Brill’s Studies in Intellectual History 27 ) Leiden – New York – Kopenhagen – Köln 1992 S. 111. Bonamente ( wie Anm. 2 ) S. 87. Die Idee von der hereditas fidei wird von diesem Historiker auch stark betont. Consolino, L’optimus princeps ( wie Anm. 2 ) S. 1040. Die Verfasserin entwickelt ihre Theorie in einem Aufsatz, der mir unzugänglich blieb: Dies., Il significato dell’inventio crucis nel De obitu Theodosii, in: Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Siena 5, 1984, S. 161–180.
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glauben will 27? War es für Ambrosius tatsächlich so vordringlich, „den jungen Herrschern [Arcadius und Honorius – M.B.] die Notwendigkeit zu verdeutlichen, die gleichen Regeln zu befolgen, die auch ihr augusteischer Vater bewahrte“, wie es die Meinung Francesco Corsaros ist 28? Mehr verspricht die Erklärung Martin Biermanns: dieser Forscher ist zwar über die Länge der Helena-Passage verblüfft, erblickt in ihr aber die ausführliche Auslegung eines Verses aus dem Buch des Propheten Sacharja, die Ambrosius am Anfang des entsprechenden Textabschnitts anführt 29. Daraus entsteht aber sofort die Frage, worin die dringende Notwendigkeit für den Redner bestand, diese Bibelstelle so ausführlich auszulegen? Oder wenn eine einzige Zeile Sacharjas mehrere Seiten nachfolgender Erklärungen benötigte, die weit weg vom Hauptthema der Rede führten, warum konnte Ambrosius nicht völlig ohne diesen Vers auskommen? Es wurde u. a. die Meinung geäußert, die Verherrlichung Helenas durch Ambrosius, ja ihr Vergleich mit Maria sollte bestimmten hochrangigen Hofdamen schmeicheln 30. Dann aber welchen? Die Annahme, die Mutter Theodosius’ könne die Trauerfeierlichkeiten in Mailand miterlebt haben 31, bietet keine Anhaltspunkte. Von dieser Dame ist so gut wie nichts bekannt und über ihren eventuellen Einfluss am Hof noch weniger. Wahrscheinlich wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann noch 375 oder 376 hingerichtet 32. Die erste Ehefrau von Theodosius, Augusta Aelia Flacilla, verstarb 386 33, während die zweite – Galla – im Mai 394 ums Leben kam, die Tochter des Theodosius, Galla Placidia, war 395 nur etwa fünf Jahre alt. Die einzige Angehörige der Familie Theodosius’, die hier in Frage kommen könnte, war seine Nichte Serena, die Ehefrau Stilichos. Ein Vergleich mit Helena hätte ihr wohl in der Tat schmeicheln können, nur hätte das Öffentlichmachen eines solchen Vergleichs tragische Folgen für Serena selbst haben können. Darin konnte jeder eine klare Andeutung auf mögliche Pläne Stilichos erkennen, seinen und Serenas Sohn auf den Kaiserthron zu erheben. Das war ernst zu nehmen: gerade ein solcher Verdacht kostete alle Drei – Stilicho selbst, Serena, wie auch ihrem Sohn Eucherius – dreizehn Jahre später das Leben. Im Gegensatz zu vielen Forschern scheint mir der Helena-Exkurs praktisch die Kulmination der ganzen Rede Ambrosius’ zu sein, die natürlich auch von Anfang an im Text vorhanden sein musste. Dass Ambrosius ihn für den abschließenden Teil auf27
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Marta Sordi, Dall’elmo di Costantino alla corona ferrea, in: Giorgio Bonamente – Franca Fusco ( Hgg. ), Costantino il Grande. Dall’antichità all’umanesimo 2, Macerata 1993, S. 883–892, hier S. 887. Corsaro ( wie Anm. 2 ) S. 611. Auch die folgende Erklärung wirkt nicht mehr überzeugend: „The deceased is invested with the praiseworthy characteristics of figures from the Bible or from historical tales and the mourners are comforted with similar exemplary reflections. This must also have been the purpose of the Helena passage“. Baert ( wie Anm. 3 ) S. 25. Biermann ( wie Anm. 16 ) S. 188. Drijvers ( wie Anm. 24 ) S. 123 f. Baert ( wie Anm. 3 ) S. 29. Ausführlich dazu: Alexander Demandt, Der Tod des älteren Theodosius, in: Historia 18, 1969, S. 599–626. Es scheint, dass moderne Historiker öfter Parallelen zwischen Augusta Helena und Augusta Aelia Flacilla erkennen als die Zeitgenossen Theodosius’. Auf jeden Fall lässt sich in der Trauerrede Johannes Chrysostomos’ für Aelia Flacilla keine Andeutung auf ihre angebliche Ähnlichkeit mit der Mutter Konstantins erkennen. Warum sollten solche Andeutungen dann plötzlich in der Rede Ambrosius’ auftauchen? Über die Ehefrauen des Theodosius s. vor allem: Kenneth G. Holum, Theodosian Empresses. Women and Imperial Dominion in Late Antiquity, Berkeley – Los Angeles – London 1982, S. 21–47.
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sparte, war auch alles andere als ein rhetorischer Fehler, der dem geschickten Prediger plötzlich unterlaufen sein sollte; im Gegenteil: gerade dadurch brachte er nochmals seine herausragende Redekunst zum Ausdruck. Aber um das richtig begreifen zu können, muss der Blickwinkel völlig geändert werden, unter dem man bisher die Trauerrede des Mailändischen Bischofs betrachtet hat. Es gilt, sich sowohl von rein philologischen, didaktischen als auch von spekulativ-philosophischen Ansätzen zu lösen und die Rede Ambrosius’ als publizistischen Text par excellence zu betrachten, in welchem die ganze rhetorische Ausschmückung wie auch theologische Überlegungen oder didaktische Motive nicht für sich existieren, sondern der politischen Zielsetzung untergeordnet sind; sie sind nur als Mittel zu verstehen, den Zuhörern die höchst akute politische Botschaft mit maximaler Effizienz zu suggerieren. Um das erkennen zu können, muss man allerdings auf die Helena-Episode näher eingehen und sie in verschiedene Kontexte setzen. Zuerst fällt auf, dass der Redner von der Erwerbung des H o l z e s des Echten Kreuzes zwar mit aller Ehrfurcht, aber allgemein ohne Einzelheiten berichtet – von politischen Kommentaren ganz zu schweigen. Sein Ton ändert sich aber, sobald er zu einem anderen Fund Helenas übergeht, und zwar zu den Nägeln: ‚Sie suchte die Nägel, mit denen der Herr ans Kreuz geheftet wurde, und fand sie. Aus dem einen hieß sie einen Pferdezaum (frenum ) machen, den anderen ließ sie auf ein Diadem auflegen (intexuit ): den einen bestimmte sie [ dadurch ] zur Verzierung, den anderen zur Verehrung. Maria ward heimgesucht zur Erlösung der Eva, Helena ward heimgesucht zur Erlösung der Kaiser, sie sandte also ihrem Sohn Konstantin das Diadem, mit Edelsteinen ( gemmis ) geschmückt, aber noch kostbarer als diese war das Juwel der göttlichen Erlösung, das im Eisen des Kreuzes enthalten war ( ferro innexa crucis ). Auch den Zaum sandte sie ihm. Beides nahm Konstantin in Gebrauch und vererbte den Glauben auf die folgenden Kaiser. Den Anfang bei den gläubigen Kaisern bildete also das Heiligtum über dem Zaume. Von daher rührte der Glaube, welcher die Verfolgung beendete, an deren Stelle die Gottesverehrung trat.‘ 34
Ambrosius entwickelt dieses Thema im nächstfolgenden Absatz weiter: ‚Weise handelte Helena, als sie das Kreuz auf das Haupt der Könige legte, damit das Kreuz Christi an den Königen verehrt werde 35. Nicht der Ungehörigkeit sei [diese Tat], sondern der Frömmigkeit zuzuschreiben, weil sie wegen der heiligen Erlösung geschah. Gut ist deshalb dieser Nagel des Römischen Reiches, der den ganzen Erdkreis regiert und die Stirn der Kaiser kleidet, so dass sie jetzt Verkündiger sind, die einst Verfolger zu sein pflegten. Zu Recht ruht der Nagel auf dem Haupte, damit dort, wo der Verstand (sensus) ist, auch dort der Schutz (praesidium) sei. Auf dem Haupte die Krone, in den Händen der Zügel. Die Krone vom Kreuz, damit der Glaube leuchte; desgleichen der Zügel vom Kreuz, damit die Herrschaft mit gerechter Mäßigkeit und nicht mit ungerechtem Eigenwille regiere. Mögen die Fürsten Christi von der Freigiebigkeit [Gottes] erwerben, dass vom römischen Kaiser in Nachahmung Christi das Wort gelte: Du hast eine Krone aus Edelstein auf sein Haupt gesetzt [Ps 21: 4]‘ 36. 34
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Quaesivit clavos, quibus crucifixus est dominus, et invenit. De uno clavo frenum fieri praecepit, de altero diadema intexuit; unum ad decorum, alterum ad devotionem vertit. Visitata est Maria, ut Evam liberaret, visitata est Helena, ut redimentur imperatores. Misit itaque filio suo Constantino diadema gemmis insignitum, quas pretiosior ferro innexa crucis redemptionis divinae gemma conecteret, misit et frenum. Utroque usus est Constantinus et fidem transmisit ad posteros reges. Principium itaque credentium imperatorum sanctum est, quod super frenum: ex illo fides, ut persecutio cessaret, devotio succederet. Ó 47. Eine solche Anwendung der Präposition de statt ex zum Material, aus welchem etwas hergestellt wurde, war zwar nicht ganz korrekt, aber möglich. – S. dazu den linguistischen Kommentar in: Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 137. D.h. jedes Mal, wenn der Kaiser verehrt wird, wird dadurch auch das heilige Kreuz verehrt. Sapienter Helena, quae crucem in capite regum locavit, ut Christi crux in regibus adoretur. Non insolentia ista, sed pietas est, cum defertur sacrae redemptioni. Bonus itaque Romani clavus imperii, qui totum regit orbem ac vestit principum fron-
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III. DIE AUGUSTA HELENA UND DIE RELIQUIEN DES ECHTEN KREUZES
An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz einige notwendige Erläuterungen zur Entstehung der Kreuzauffindungslegende anzuführen, zumal dieses Problem dank der Bemühungen mehrerer Historikergenerationen zumindest in einigen seiner Aspekte geklärt ist – soweit es überhaupt möglich erscheint. Die Reise der bereits bejahrten 37 Kaiserin nach Palästina Ende 324 oder im Frühjahr 325 38, Sommer 325 39, in der zweiten Hälfte 325 ( nach Juli ) oder gar 326 40, Herbst 326 oder im Frühjahr 327 41 wird unter allen zeitgenössischen Autoren nur von Eusebius von Cäsarea erwähnt 42. Er stilisiert dieses Unternehmen der Augusta ausschließlich als fromme Wallfahrt, obwohl die berechtigte Annahme auf der Hand liegt, dass ihre Gründe in erster Linie politischer Natur gewesen sein mussten 43. Die Auffindung der Passionsreliquien erwähnt Eusebius allerdings mit keinem einzigen Wort. Mehr noch: der Bischof von Cäsarea zog überhaupt nicht in Erwägung, dass auch jemand Anderes als Helena das Echte Kreuz aufzufinden vermochte – das Kreuz als materielle Reliquie existiert für ihn gar nicht. Dieses Schweigen ist noch erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass ein anderer Bischof, Kyrill von Jerusalem 44, nur etwa zehn Jahre nach Eusebius in seinen ( die 348–350 am Grab Christi vorgelesen wurden ) sich unzweideutig in dem Sinne äußerte, dass das Echte Kreuz in der Grabkirche aufbewahrt wurde, wobei seine Partikel sich schon in der ganzen Welt in Umlauf befanden 45. Außerdem behauptete
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tem, ut sint praedicatores, qui persecutores esse consueverant. Recte in capite clavus, ut ubi sensus est, ibi praesidium. In vertice corona, in manibus habena: corona de cruce, ut fìdes luceat, habena quoque de cruce, ut potestas regat sitque iusta moderatio, non iniusta praeceptio. Habeant hoc etiam principes Christi sibi liberalitate concessum, ut ad imitationem domini dicatur de imperatore Romano: Posuisti in capite eius coronam de lapide pretioso. Ó 48. Sie verstarb im Alter von etwa 80 Jahren wahrscheinlich Ende 328 oder Anfang 329. Zur Biographie Helenas s. zuerst neben dem Buch von Drijvers ( wie Anm. 24 ) den Artikel: Richard Klein, Art. , in: Reallexikon für Antike und Christentum 14, 1988, Sp. 355–375, wie auch das Buch: Hans A. Pohlsander, Helena – Empress and Saint, Chicago 1995. Stephan Borgehammar, How the Holy Cross was Found. From Event to Medieval Legend ( Bibliotheca theologiae practicae. Kyrkovetenskapliga studier 47 ) Stockholm 1991, S. 140. Michael Hesemann, Die Jesus-Tafel: die Entdeckung der Kreuz-Inschrift, Freiburg im Breisgau 1999, S. 202. Heinz Heinen, Helena, Konstantin und die Überlieferung der Kreuzesauffindung im 4. Jahrhundert, in: Erich Aretz – Michael Embach – Martin Persch – Franz Ronig ( Hgg. ), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995, S. 83–117, hier S. 111. Edward David Hunt, Holy Land Pilgrimage in the Later Roman Empire AD 312–460, Oxford 1984, S. 35; Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 59; Patrick Laurence, Helena, mère de Constantin. Metamorphoses d’une image, in: Augustinianum 42, 2002, S. 75–96, hier S. 83. Eusebius, Vita Constantini, III, 42–47. Stefan Heid, Der Ursprung der Helenalegende im Pilgerbetrieb Jerusalems, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 32, 1989, S. 41–71, hier S. 54 f.; Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 63–72 und sehr ähnlich: Laurence ( wie Anm. 41 ) S. 84–86. Zu ihm s. zuletzt die Studie von Jan Willem Drijvers, Cyril of Jerusalem: Bishop and City, Leiden 2004. Cyrillus Hierosolymitanus, Catecheses IV, 10; X, 19; XIII, 14. S. den Text in der neuen Edition: Cyrille de Jérusalem, Catéchèses mystagogiques, hg. von Auguste Piédagnel ( SC 126bis ) Paris 1988. Der Pilgerin Egeria zufolge blieb bereits in den 80er Jahren des 4. Jahrhundert nur ein verhältnismäßig kleines Fragment des Kreuzes in Jerusalem: der zelebrierende Bischof konnte es an beiden Enden mit seinen Händen halten. Vgl. Peregrinatio Aetheriae, 37. Den Text s. Itinera Hierosolymitana saeculi IIII–VIII, hg. von Paulus Geyer ( CSEL 39 ) Wien 1898, S. 87 f.
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er in seinem Brief aus dem Jahre 351 oder 353 ( vorausgesetzt natürlich es geht hier nicht um eine spätere Interpolation 46 ), dass diese Reliquie noch in der Zeit Kaiser Konstantins gefunden worden war, wobei dies die erste direkte Verbindung zwischen dem Fund und Konstantin ( bzw. seiner Familie oder anderen Personen aus seiner Umgebung ) in der Überlieferung ist. Allerdings erwähnt Kyrill die Rolle Helenas dabei gar nicht – beredtes Schweigen angesichts der Tatsache, dass er dem Kaiser Constantius II., also dem Enkel Helenas schrieb 47. Die ( wohl vom Süden Galliens stammende ) Pilgerin Egeria besuchte Jerusalem zwischen 381 und 384 48 und berichtete ausführlich über die Liturgie, in welcher den Gläubigen die Kreuzreliquie feierlich demonstriert wurde; auch sie erwähnt aber das angebliche Verdienst Helenas bei deren Auffindung mit keinem Wort. Als Johannes Chrysostomos sich in einer Homilie 390 an die Entdeckung der drei Golgatha-Kreuze erinnerte, sagte auch er nichts von Helena 49. Aus dem Vergleich der erwähnten Stellen wie auch weiterer Angaben ( hauptsächlich der frühesten überlieferten Pilgerberichte ), ergeben sich für verschiedene Gruppen von Historikern zwei sich gegenseitig ausschließende Vermutungen. Der ersten zufolge entstand der Kult des Echten Kreuzes zwar tatsächlich in Jerusalem, aber erst zwischen 333 ( als der sog. Anonymus Burdigalensis in seiner Beschreibung der Grabkirche keine Kreuzreliquien erwähnte ) und ca. 348 ( als Kyrill seine konzipierte 50 ). Die zweite Meinung geht von der Freilegung des Golgatha-Kreuzes noch in den 20er oder spätestens in der ersten Hälfte der 30er Jahren des 4. Jahrhunderts aus, wobei gerade dieser Fund ( und nicht die Entdeckung des Heiligen Grabes ) der eigentliche Anlass für die Errichtung der konstantinischen Basilika in Jerusalem war 51. Im letzten Fall muss man nolens volens annehmen, dass Eusebius die Entdeckung des Heiligen Kreuzes bewusst verschwieg – sei es etwa aus kirchenpolitischen 52 oder theologischen 53 Gründen. Er wollte dann offensichtlich die Aufmerksamkeit seiner Leser weg vom Kreuz – dem materiellen Symbol der Passion – völlig auf das Heilige Grab – 46
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Analyse der Meinungen zu dieser Frage mit dem Schlussergebnis zugunsten der Authentizität des Textes s. in: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 56. Kritische Edition: Ernest Bihain, L’épître de Cyrille de Jérusalem à Constance sur la vision de la vraie croix: Tradition manuscrite et édition critique, in: Byzantion 53, 1973, S. 264–296. Über Egeria s. zuerst: John Wilkinson, Egeria’s Travels to the Holy Land: Newly Translated with Supporting Documents and Notes, Jerusalem 1981. Migne PG 59, Sp. 461. Heid ( wie Anm. 43 ) S. 41 ff. Andere Folgen aus derselben Prämisse werden gezogen in: Marta Sordi, La tradizione dell’inventio crucis in Ambrogio e in Rufino, in: Rivista di storia della Chiesa in Italia 44, 1990, S. 1–9, hier S. 7. Vgl. auch: Dies., Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 886. Sordi datiert die Legende über die Auffindung der Kreuzreliquien auf die Zeit zwischen 351 und 395. Für sie ist diese Geschichte auf das Engste mit der Dynastie Konstantins verbunden und soll am Hofe Constantius II. entstanden sein. Die Annahmen Sordis scheinen allein schon deswegen bedenklich zu sein, weil der Kern der Legende auf jeden Fall Jerusalemer Abstammung gewesen sein musste. Das Beste, was der Kaiserhof hier bewirken konnte, war, die Verbreitung des schon gestalteten Sujets nach Möglichkeit zu fördern. Diese Forschungsrichtung wurde von der Studie Hunt ( wie Anm. 41 ) eröffnet. Ze’ev Rubin, The Church of Holy Sepulchre and the Conflict between the Sees of Caesarea and Jerusalem, in: Lee I. Levine ( Hg. ), The Jerusalem Cathedra, 2, Jerusalem – Detroit 1982, S. 79–105, hier S. 87–93. Peter W. L. Walker, Holy City, Holy Places? Christian Attitudes to Jerusalem and the Holy Land in the Fourth Century, Oxford 1990, S. 126–130, 275–281; Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 116–119.
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dem materiellen Symbol der Auferstehung – lenken 54. Wenn aber Eusebius andererseits selbst von der Auffindung des Kreuzes wusste und nichts dazu sagen wollte, bedeutet das noch nicht, dass es Helena war, die diese Reliquie ans Licht brachte. Das Kreuz konnte ja schon einige Jahre vor ihrer Ankunft in Palästina entdeckt worden sein 55. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen ( was Stephan Borgehammar tatsächlich tut ) und das Schweigen des Eusebius in dem Sinne interpretieren, dass die alte Legende völlig Recht habe: Es war also Helena, die das Kreuz fand 56. Auf die Argumente gegen die Theorie des frühen Auftauchens der Kreuzreliquie wie auch weitere Einzelheiten dieser recht speziellen Diskussion einzugehen, ergibt hier keinen Sinn 57: die ( selbst durchaus fiktive ) Legende an sich verdient in unserem Fall bei Weitem mehr Interesse als eine mögliche Rekonstruktion der <echten> historischen Ereignisse. Relevant in dieser Hinsicht ist allein, dass keine Indizien für die Verbreitung der Helenalegende vor der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts greifbar sind, und dass sie so gut wie sicher aus Jerusalem stammen muss 58. Die früheste bekannte schriftliche Fixierung der Legende findet sich wohl bei Gelasius von Cäsarea, der um 390 seine zusammenstellte. Letztere ist zwar leider nicht überliefert, wurde aber von Historikern des 5. Jahrhunderts so aktiv benutzt, dass erhebliche Teile des ursprünglichen Textes bis zu einem gewissen Grad nachempfunden werden können 59. In seinem Bericht über die Kreuzauffindung erzählt Gelasius eine recht gut gestaltete Geschichte, die über eine beträchtliche Zeit hindurch in der mündlichen Tradition schon existiert haben muss, bevor sie eine so weit entwickelte Form angenommen ha54
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Diese Argumentation wurde entwickelt in den Studien: Rubin ( wie Anm. 52 ); Harold A. Drake, Eusebius on the True Cross, in: Journal of Ecclesiastical History 36, 1985, S. 1–22 und – auf Grundlage dieser beiden Studien – in: Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 83–88. Die Meinung über die Entdeckung des Kreuzes in den 20er Jahren wird auch in Laurence ( wie Anm. 41 ) S. 92, vertreten; bei ihm findet man allerdings auch sonst so gut wie keine Abweichungen von der Position Drijvers. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 89, 93, 183. Rubin ( wie Anm. 52 ); Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 126–142. Vorsichtige Zustimmung zur Meinung Borgehammars wird auch geäußert in: Heinen ( wie Anm. 40 ) S. 112–114. Das Schweigen Eusebius’ wird bei Borgehammer immer reicher an Informationen. Der Bischof von Cäsarea berichtete nichts über den Besuch Helenas auf Golgatha, obwohl er beschrieb, wie sie Bethlehem und den Ölberg besichtigt hatte. Dies kann nur bedeuten – schlussfolgert daraus Borgehammar – dass Eusebius missfiel, womit sich Augusta auf Golgatha beschäftigte. Und womit konnte sie sich da beschäftigen? Nur mit der Suche nach dem Heiligen Kreuz! ( S. 125 f., 129 ). S. z. B. die Rezension des Buches von Borgehammar von Kenneth G. Holum, in: Speculum 69, 1994, S. 425 f., oder Rudolf Leeb, Konstantin und Christus: Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser, Berlin – New York 1992, S. 91. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 142; zu denselben Ergebnissen kommt man unabhängig in: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 44 ff. Ebd. s. auch den detaillierten Überblick verschiedener Standpunkte in den Diskussionen über die Helenalegende, wie auch umfangreiche bibliographische Hinweise. Der These von der verhältnismäßig späten Entstehung der Helenalegende widerspricht natürlich Borgehammar, weil er ihren Kern für glaubwürdig hält. Die Bedeutung des Werkes von Gelasius wurde demonstriert in: Friedhelm Winkelmann, Untersuchungen zur Kirchengeschichte des Gelasius von Kaisareia ( Sitzungsberichte der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 65/3 ) Berlin 1963; Ders., Charakter und Bedeutung der Kirchengeschichte des Gelasius von Kaisareia, in: Byzantinische Forschungen 1, 1966, S. 346–385.
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ben konnte 60. Die Version Gelasius’ nahm Einfluss – direkt oder indirekt – auf Autoren der des 5. Jahrhunderts 61: Rufinus 62 ( 402/403 ), Sozomenos 63 ( zwischen 439 und 450 ), Sokrates Scholastikos 64 ( 438–443 ), Theodoret von Kyrrhos 65 ( kurz nach 444 ) und Gelasius von Kyzikos 66 ( kurz nach 475 ). Aber nicht auf Ambrosius von Mailand. Es war gerade Ambrosius, der als erster im lateinischen Westen die Legende vom Fund Helenas nacherzählte. Mehr noch: seine Version erscheint überhaupt die früheste unter den überlieferten, denn das Werk Gelasius’ ist, wie bereits erwähnt, verloren 67. Erst kurz nach Ambrosius, im Jahre 402 oder 403, aber völlig unabhängig von ihm, überlieferte Rufinus die Helenalegende auf Latein, in einer Fassung, die er wohl von Gelasius übernahm. Im Jahre 403 machten zwei weitere Autoren etwas Ähnliches: Paulinus von Nola erzählt die Geschichte in seinem Brief an Sulpicius Severus 68, wobei Sulpicius gleich danach diesen Bericht in seiner ( II, 33–34 ) wiederholte. Bei großer Vielfalt einzelner Motive erkennt man in all diesen Texten ohne Weiteres verschiedene Variationen ein und derselben Ausgangsversion, und zwar derjenigen, die auch die griechischen Autoren der anregte. Daher 60
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Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 99; Heid ( wie Anm. 43 ) S. 63. Ein Rekonstruktionsversuch dieser Stelle bei Gelasius s. in: Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 53–55. Meine Einwände dagegen folgen weiter unten. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 99. Allgemeine Angaben zu den hier zitierten oder erwähnten Historikern der 4.–5. Jahrhundert s. z. B. in den folgenden neueren Studien: Glenn F. Chesnut, The First Christian Histories: Eusebius, Socrates, Sozomen, Theodoret and Evagrius ( Théologie historique 46 ) Paris 1977; Hartmut Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret, Göttingen 1996; Peter van Deun, The Church Historians after Eusebius, in: Gabriele Marasco ( Hg. ), Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A.D., Leiden – Boston 2003, S. 151–176; Hartmut Leppin, The Church Historians ( I ): Socrates, Sozomenus, and Theodoretus, in: ebd., S. 219–255; Peter van Nuffelen, Un héritage de paix et de piété. Étude sur les Histoires ecclésiastiques de Socrate et Sozomène, Leuven u. a. 2005. Rufinus, Historia ecclesiastica I ( X ), 7 f. Zitiert hier und weiter nach: Migne PL 21. Diese Stelle s. Sp. 475–477. Die alte Meinung, dass nicht Rufinus dem Gelasius folgte, sondern umgekehrt, ist zur Zeit zurückgewiesen. Sozomenos, Historia ecclesiastica II, 1. Hier und weiter folgen alle Zitate der Edition: Sozomenos, Historia ecclesiastica – Kirchengeschichte, hg. von Günther Christian Hansen, Teilbd. 1 ( Fontes Christiani 73, 1 ) Turnhout 2004. Hier S. 194–201. Socrates, Historia ecclesiastica I, 17. Text nach der Edition: Migne PG 67, Sp. 29–842, hier Sp. 117–121. Theodoret, Historia ecclesiastica I, 18. Edition: Theodoret, Kirchengeschichte, hg. von Léon Parmentier und Felix Scheidweiler, Berlin 1954. Zum Autor s. die neue Studie: Istvan Pásztori Kupán, Theodoret of Cyrus, London 2006. Gelasius Cyzicenus, Historia ecclesiastica, hg. von Gerhard Loeschke und Margret Heinemann ( Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 28 ) Leipzig 1918, S. 146. Das Werk Gelasius’ von Kyzikos bleibt weiter unberücksichtigt, weil er in seiner Schilderung der Kreuzauffindungsgeschichte fast wörtlich der Erzählung von Theodoret folgt. Die Trauerrede von Ambrosius gab sogar Anlass zur Vermutung, dass die Legende nicht aus dem Osten kam, sondern westlichen Ursprungs war: Marie Pardyová-Vodová, L’impératrice Hélène et l’invenˇ ada archeologickotion de la Sainte Croix, in: Sborník prací filozofické fakulty brnˇenské univerzity. R klasická 44/25, 1980, S. 235–240. Migne PL 61, Sp. 328. S. dazu auch: Carmelo Curti, L’„inventio crucis“ nell’epistola 31 di Paolino di Nola, in: Orpheus 17, 1996, S. 337–347.
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darf man alle oben genannten Schriftsteller – unabhängig davon, ob sie ihre Werke auf Griechisch oder Latein verfassten, ob sie zum Text von Gelasius direkten Zugriff hatten oder von ihm nichts wussten – für Vertreter einer identischen Tradition halten, die offenbar in Jerusalem entstand und ebenda auch weiter gepflegt wurde 69. Die Geburt einer solchen Tradition war gewiss auf das Engste mit dem starken Einsetzen von Wallfahrten zu heiligen Stätten verbunden und vielleicht auch gerade dadurch verursacht. Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte die Legende aus jenen Erläuterungen und Kommentaren erwachsen, welche Kleriker der Grabkirche den Pilgern in Nachbarschaft zur Kreuzreliquie vermittelten 70. Alle oben genannten Schriftsteller erscheinen als Träger ein und derselben mehr oder weniger einheitlichen und genuin <Jerusalemer Tradition>, ihnen steht ein Einziger entgegen, der meiner Meinung nach für eine ganz andere Linie in der Entwicklung des Helenasujets steht. Ambrosius von Mailand. Meine Behauptung widerspricht der vorherrschenden Meinung insoweit, dass die meisten Historiker den Unterschied zwischen zwei Traditionen bisher überhaupt nicht bemerkten: für sie gehören Ambrosius wie auch Rufinus und Paulinus – wie etwa bei Marta Sordi – zu „una tradizione comune“ mit dem einzigen Vorbehalt, dass Rufinus die frühere ( mögliche Entstehungszeit zwischen 351 und 395 ) und kürzere Variante der Legende nacherzählte ( „ … e di cui Rufino ci conserva forse la versione originaria“ ) 71 – während Ambrosius sich einer späteren und erweiterten Fassung bediente 72. Mittlerweile erscheinen die Unterschiede zwischen den <Jerusalemer> Autoren und Ambrosius bei näherer Betrachtung als vielfältig. Alle Träger der <Jerusalemer Tradition> widmeten ihre Aufmerksamkeit vor allem dem H o l z des Kreuzes, wobei sie den Nägeln zwar auch eine ehrenhafte, aber doch sekundäre Rolle zuwiesen. Diese Einstellung ist schon allein daraus verständlich, dass in Jerusalem gerade das Stück Holz als die allerwichtigste Passionsreliquie überhaupt verehrt wurde. Paulinus von Nola vergisst vollständig, die Nägel zu erwähnen – aus einem nahe liegenden Grund: zusammen mit seinem Brief schickte er seinem Korrespondenten und Freund – Sulpicius Severus – eine Partikel des Kreuzholzes: eine recht großzügige Gabe, die allerdings einer speziellen Erklärung bedurfte, weil Sulpicius von der Existenz einer solchen Reliquie bis dahin nichts gehört hatte. Natürlich spricht auch Sulpicius Severus in seinem Werk die Nägel nicht mehr an, war er doch völlig auf jene Informationen angewiesen, die ihm Paulinus mitgeteilt hatte. Ganz im Gegenteil waren aber gerade die Nägel in der Trauerrede Ambrosius’ von allergrößter Bedeutung. Die ganze <Jerusalemer Tradition> schrieb den umgewandelten Nägeln des Kreuzes die Funktion von Amuletten in Gefechten zu. Ambrosius 69
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Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ). Diese These bleibt bestehen, unabhängig davon, ob Drijvers Recht hat wenn er vermutet, Paulinus habe die Legende dank Melania der Älteren kennen gelernt, welche ein Stück des Kreuzholzes aus Jerusalem mitgebracht haben sollte. Vgl.: Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 122. Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 79 f. Sordi, La tradizione ( wie Anm. 50 ) S. 4, 6. ( Sordi berücksichtigt das Werk Gelasius von Caesarea überhaupt nicht ); Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 63–66; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 13, 26 f. Eine ähnliche, wenn auch etwas widersprüchlich formulierte Meinung s. in: Baert ( wie Anm. 3 ) S. 34 f.: „Ambrose, Rufinus ( via Gelasius ) and Paulinus of Nola all share a common core … Thus Ambrose deviates from a core shared by the other sources“. Dies., Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 884, 886 f.
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war mit dieser Interpretation zwar auch vertraut, aber mit ihr allein keinesfalls zufrieden 73. In seinen Augen stand den Golgatha-Nägeln eine immense historische und politische Bedeutung zu: diese Nägel halten nach ihm – ohne jede Übertreibung – das gesamte christliche Reich zusammen 74. Die Bekehrung Konstantins und die Christianisierung des Römischen Reiches waren durch die Erwerbung dieser Reliquien direkt verursacht worden. Allerdings zeigt sich Ambrosius dem Holz des Kreuzes gegenüber beinahe gleichgültig: er vergisst sogar zu sagen, was für alle <Jerusalemer> Autoren von erstrangiger Relevanz blieb: Helena sandte ihrem kaiserlichen Sohn neben den Nägeln auch ein großes Stück des Kreuzholzes. Für Ambrosius hatte dieses Geschenk offensichtlich überhaupt keine Bedeutung. Die ganze <Jerusalemer Tradition> betont die aktive Rolle Konstantins: er erhielt zwar die Nägel von Helena, entschied aber dann durchaus souverän, was aus ihnen hergestellt werden sollte. Allein Ambrosius verweigert Konstantin jegliche : das Einzige, was der Kaiser tat, war nur, rein passiv die Geschenke seiner frommen Mutter zu empfangen. Er diente dabei in der Tat bloß als Verbindungsglied zwischen Helena und den künftigen christlichen Kaisern, auch Theodosius und Honorius. Es gibt auch einige weitere auffallende Differenzen 75, entscheidend sind aber in meinen Augen nur die folgenden zwei. Die erste verrät uns einiges über die Tradition, welcher Ambrosius zugeordnet werden könnte, die zweite aber lässt sich vielleicht als Andeutung darauf verstehen, wie er als Autor selbst mit dem narrativen Stoff umging, der in seine Hände geriet. 1. In der Darlegung Ambrosius’ ist einer eschatologischen Prophezeiung aus dem alttestamentlichen Buch Sacharjas ein wichtiger Platz zugewiesen, wohingegen sie in der <Jerusalemer Tradition> nur am Rande und ausnahmsweise auftaucht. 2. Alle <Jerusalemer Autoren> stimmen ohne jede Ausnahme darin überein, dass Helena ( bzw. Konstantin selber ) aus einem Nagel ( bzw. aus ‚einem Teil‘ der Nägel ) einen H e l m herstellen ließ; an dieser Stelle spricht aber nur Ambrosius nicht vom Helm, sondern von einem D i a d e m .
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[ … ] quo inter proelia quoque tutus adsisteret et periculum non timeret. – 41. Jan Willem Drijvers glaubt, Ambrosius schenkte den Nägeln wegen der Prophezeiung Sacharjas so viel Aufmerksamkeit, von welcher weiter unten die Rede ist. – Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 112. So brauchten alle Vertreter der <Jerusalemer Tradition>, beginnend mit Gelasius, unbedingt ein Wunder in Form einer Heilung oder Auferstehung, damit das Echte Kreuz von den Kreuzen der beiden Räuber unterschieden werden konnte. Ambrosius äußerte sich dagegen durchaus nüchtern: Helena erkannte das richtige Kreuz dank der Tafel ( titulus ) mit Inschrift, die Pontius Pilatus daran befestigen ließ. Es fällt auf, dass der Syrer aus Antiochia, Johannes Chrysostomos, sich genau an dieselbe Version in einer seiner Homilien ( um 389 ) hielt. Gottes Vorsehung bestünde darin, dass Pilatus befahl, die Tafel am Kreuz anzubringen: Dank ihr gelang es, das Echte Kreuz zu identifizieren ( Johannes erwähnt Helena in diesem Zusammenhang allerdings gar nicht ) Migne PG 59, Sp. 461. Bei Ambrosius findet man eine ähnliche These. ‚[ Nicht umsonst ] hatte Pilatus den Juden [ auf ihr Ersuchen ] erwidert: „Was ich geschrieben habe, bleibt geschrieben“. Das heißt, nicht, das habe ich geschrieben, was euch gefallen würde, sondern das, was die Nachwelt erkennt – beinahe sagend: Helena sollte etwas zu lesen finden als Anhaltspunkt, um das Kreuz des Herrn daraus zu erkennen‘. – Hoc est, quod petentibus Iudaeis respondit Pilatus: Quod scripsi, scripsi, id est: non ea scripsi, quae vobis placerent, sed quae aetas futura cognosceret, non vobis scripsi, sed posteritati; propemodum dicens: Habeat Helena, quod legat, unde crucem domini recognoscat. ( 45 ). Könnte diejenige Variante der Legende, die Ambrosius in Mailand erreichte, vielleicht aus Syrien stammen?
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IV. DIE PROPHEZEIUNG SACHARJAS
Bei seinen Schilderungen der himmlischen Zusammenkünfte Theodosius’ (40) erwähnte Ambrosius, dass in der Zeit Konstantins die Prophezeiung des Propheten Sacharjas zur Erfüllung kam: ‚Zu der Zeit wird auf den Schellen der Rosse stehen: Heilig dem Herren‘. (Sach 14, 20) 76. So liest sich dieser Vers in der lutherischen Übersetzung. Die Texte von Septuaginta, Vulgata und der frühen lateinischen Bibelübersetzung, derer sich Ambrosius bediente 77, erlauben aber eine andere Lesart: ‚Zu der Zeit wird das dem Allmächtigen Gott [gewidmete] Heiligtum über dem Zaumzeug des Pferdes [sein]‘. Der Charakter ‚der Zeit‘, von welcher Ambrosius mit den Worten Sacharjas redet, erklärt sich aus dem Kontext: ‚Und es werden alle Töpfe in Jerusalem und Juda dem Herrn Zebaoth heilig sein, so dass alle, die da opfern wollen, kommen werden und sie nehmen und darin kochen werden‘. Es geht hier um den Tag des Jüngsten Gerichts, den vollständigen Triumph des wahren Glaubens – und es ist gerade dieser Sieg, den Ambrosius offenbar hier meint. Allerdings präsentieren die vorangestellten Verse das Bild der letzten Zeiten und der Weltkatastrophe kaum weniger beeindruckend als die Apokalypse – der in der Regierungszeit Konstantins begonnene Triumph des Christentums muss also im eschatologischen Kontext verstanden werden. In der Erfüllung dieser Prophezeiung besteht also in den Augen Ambrosius’ der Hauptsinn der mindestens aus unserer Sicht etwas seltsam wirkenden Entscheidung Helenas, einen der Kreuznägel in einen Pferdezaum verwandeln zu lassen. Mit dieser Interpretation bleibt Ambrosius allerdings nicht ganz allein. Sozomenos, der sich bisher als konsequenter Vertreter der <Jerusalemer Tradition> erwies, erlaubt sich hier plötzlich ein Motiv, das ihr fremd war. Er schreibt: ‚Aus diesen [ Nägeln ] – so wird es berichtet, – habe der Kaiser sich einen Helm fertigen lassen und auch einen Pferdezaum gemäß der Prophezeiung von Sacharja …‘ 78. Die Entstehung der beiden heiligen Gegenstände wird hier also nicht <pragmatisch> ( Schutz in Kriegsgefechten ), wie bei den <Jerusalemern>, sondern <eschatologisch> gerechtfertigt. Eine ähnliche, wenn auch gemilderte Meinung bietet auch Theodoret von Kyrrhos an 79. Üblicherweise stimmt er mit Sozomenos in den Fällen weitgehend überein, wo beide Historiker gemeinsam einer verlorenen Schrift ( die aber hier nicht das Werk Gelasius’ gewesen sein kann ) folgten. Hier dürfte er aber in Zweifel geraten sein und ergänzte die offenbar streng <escha76
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Cui licet baptismatis gratia in ultimis constituto omnia peccata dimiserit, tamen quod primus imperatorum credidit et post se heredidatem fìdei principibus dereliquit, magni meriti locum repperit. Cuius temporibus conpletum est propheticum illud: In illo die erit, quod super frenum equi, sanctum domino onnipotenti. ( 40 ). Ambrosius benutzte neben einigen frühen lateinischen Bibelübersetzungen und der Septuaginta auch drei weitere griechische Fassungen der Heiligen Schrift. Moorhead ( wie Anm. 15 ) S. 78 f. In diesem Fall bediente er sich allerdings einer lateinischen Textversion, die der Lesart der Septuaginta treu folgt, denn die alternativen griechischen Übersetzungen schlugen andere Interpretationen dieser dunklen Stelle vor, was Hieronymus später in seinem Kommentar zum Buch Sacharja erwähnte ( s. weiter unten ). [ … ] ξ ¹
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φ λ µ κ Z φ [ … ] ( II, 1, 9 ). Deutsche Übersetzung von Hansen ( wie Anm. 63 ). O κ
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tologische> Version seiner Vorlage ( die von Sozomenos treu übernommen worden sein muss ) mit der <pragmatischen>, die für die <Jerusalemer Tradition> kennzeichnend war – sofern die dazu gehörenden Schriftsteller das Thema der Nägel überhaupt berührten. Jan Willem Drijvers äußerte die Vermutung, Sozomenos könnte die Passage über Sacharja aus der Rede Ambrosius’ direkt entlehnt haben 80. Aber selbst das Material, welches dieser Forscher gesammelt hat, führt eher zu einer ganz anderen Hypothese, die m. W. bisher weder diskutiert noch überhaupt formuliert wurde. Neben den Texten der <Jerusalemer Tradition>, in welchen Helena immer als die wichtigste Protagonistin der Kreuzauffindungsgeschichte hervortritt, entwickelten sich bekanntlich zwei weitere Varianten derselben Legende. Eine von ihnen, in welcher die Hauptrolle der fiktiven Königin Protonike zugeteilt wurde, bleibt in meinen weiteren Überlegungen unberücksichtigt, weil diese Textgattung keine Berührungspunkte mit der Helenaepisode bei Ambrosius aufweist 81. Eine ganz andere Sache ist aber die zweite Legendenversion, in welcher Helena zwar auch vorkommt, allerdings die entscheidende Rolle bei der Auffindung des Kreuzes nicht der Augusta, sondern einem jüdischen Gelehrten Judas zugeteilt wurde, der sich erst für die Taufe entschied und den neuen Namen Kyriakos annahm, später zum Bischof von Jerusalem und schließlich zum Märtyrer und Heiligen wurde 82. Während des Mittelalters gewann die Geschichte von Judas Kyriakos große Popularität in ganz Europa ( wahrscheinlich dank ihrer unzweideutig antijüdischen Tendenz ), verdrängte andere Versionen der Kreuzauffindungslegende ( sogar die <Jerusalemer> Fassung ) und gelangte schließlich in populärste Vitensammlungen, wie die des Jakob de Voragine 83, welche die Vorstellungen der Christen des ganzen lateinischen Europas von ihren Heiligen entscheidend prägten. 80 81
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Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 105. Als Einführung s. vor allem: Stefan Heid, Zur frühen Protonike- und Kyriakoslegende, in: Analecta Bollandiana 109, 1991, S. 73–108; Jan Willem Drijvers, The Protonike Legend and the Doctrina Addai, in: Studia Patristica 33, 1996, S. 517–523; Ders., The Protonike Legend, the Doctrina Addai and Bishop Rabbula of Edessa, in: Vigiliae Christianae 51, 1997, S. 288–315. Die Analyse dieses Textes ist ebenfalls durchgeführt in: Johannes Straubinger, Die Kreuzauffindungslegende. Untersuchungen über ihre altchristlichen Fassungen mit besonderer Berücksichtigung der syrischen Texte, Paderborn 1912. Die Edition der ältesten erhaltenen Handschrift ( St.-Petersburg, Russische Nationalbibliothek ): Han J. W. Drijvers – Jan W. Drijvers ( Hgg. ), The Finding of the True Cross: the Judas Kyriakos Legend in Syriac ( Corpus scriptorum Christianorum orientalium 565; Subsidia 93 ) Louvain 1997. Die Ikonographie der Miniaturen in den syrischen Handschriften wird analysiert in: Ewa Balicka-Witakowska, The Story of the Invention of the Holy Cross Illustrated in two Syriac Manuscripts, in: Iconographica. Mélanges offertes à Piotr Skubiszewski, Poiters 1999, S. 1–14. Es wurde u. a. der Versuch unternommen, die Kreuzauffindungslegende dadurch in einem ganz neuen Licht erscheinen zu lassen, dass man in Helena eine Jüdin erkannte. – Joseph Vogt, Helena Augusta, das Kreuz und die Juden. Fragen um die Mutter Constantins des Großen, in: Saeculum 27, 1976, S. 211–222. Der einzige Grund für diese Vermutung besteht in den angeblich orientalischen Gesichtszügen einer Frauenfigur im konstantinischen Deckengemälde in Trier, in welchem einige Forscher die Augusta Helena erkennen wollen. Zu dieser Malerei s. zuerst: Erika Simon, Die Konstantinischen Deckengemälde in Trier ( Kulturgeschichte der Antiken Welt 34. Trierer Beiträge zur Altertumskunde 3 ) Mainz 1986; Winfried Weber, Constantinische Deckengemälde aus dem römischen Palast unter dem Trierer Dom, Trier 42000; Marice E. Rose, The Trier Ceiling: Power And Status On Display In Late Antiquity, in: Greece & Rome 53, 2006, S. 92–109. Dieselbe Version der Legende fand Verbreitung auch in Äthiopien, und zwar in verschiedenen Varianten gleichzeitig. – Witold Witakowski, Ethiopic and Hebrew Versions of the Legend of The Finding of the Holy Cross, in: Studia Patristica 35, 2001, S. 527–535.
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Die Kyriakoslegende steht schon seit langem im Zentrum intensiver akademischer Debatten, in welchen ihre ursprüngliche Sprache ( Griechisch, Syrisch oder Latein ), wie auch der Ort ihrer schriftlichen Fixierung, wie auch die Zeit, wann das geschehen ist, immer wieder diskutiert werden 84. Uns interessiert hier allerdings allein die Stelle dieser Legende, wo beschrieben wird, wie die Nägel des Kreuzes auftauchen, leuchtend wie Gold, direkt aus dem Boden nach intensivem Gebet des ehemaligen Rabbis Judas, der aber zu dieser Zeit schon Kyriakos war. Sobald er die neu gefundenen Reliquien der Augusta aushändigte, entschied sie nach einigem Überlegen, daraus einen Pferdezaum herstellen zu lassen ( von einem Helm ist hier nicht die Rede ) – ‚als ein schönes Zeugnis für künftige Generationen‘. Als sie dieses Erzeugnis bei einem erfahrenen Handwerker in Auftrag gab, sagte sie, dass ein solches Zaumzeug zu einer unwiderstehlichen Waffe gegen jeden Feind würde, denn der Sieg sei ab jetzt immer mit dem Kaiser gewiss, weshalb der Frieden den Krieg völlig verdrängen würde. So ließ sich das Wort des Propheten Sacharja erfüllen, der sagte: ‚Zu der Zeit wird der Pferdezaum zum Heiligtum für den Herrn‘ 85. Die Kyriakoslegende kommt der Kreuzauffindungsgeschichte in der Interpretation Ambrosius’ in mindestens vier Punkten sehr nahe. Zugleich unterscheiden sich die beiden Texte gerade in denselben vier Punkten ( wie auch in einigen weiteren ) von der gesamten <Jerusalemer Tradition>. Es wird, erstens, die Prophezeiung des Sacharja stark betont 86. Zweitens wird die Initiative der Umgestaltung der Nägel nicht Konstantin, sondern Helena zugewiesen. Drittens wird in beiden Texten eine Art Kommunikation mit dem Satan geführt ( bei Ambrosius muss Helena sich mit einem langen Monolog an ihn wenden; der symmetrische Protagonist Judas Kyriakos war aber gezwungen, einen gehässigen Spruch des Menschenfeindes anzuhören ). Viertens und schließlich handelt es sich bei Ambrosius um Schmähung der Juden – sie mussten nach dem Gewinn des Kreuzes eingestehen, dass ihre Sache verloren war ( 49 ) – genau unter dem Zeichen dieser Idee steht die ganze Kyriakoslegende 87. Höchst unwahrscheinlich wäre die Vermutung, die Autoren dieser Legendenfassung ( unabhängig davon, in welcher Sprache – Griechisch, Latein oder Syrisch – die erste Fassung niedergelegt wurde ) könnten dafür die Rede Ambrosius’ benutzt haben. Einerseits muss die räumliche, soziale und wohl doch sprachliche Distanz zwischen ihnen beträchtlich gewesen zu sein. Andererseits musste dann aber auch das Diadem unbedingt in die Kyriakoslegende Einlass finden, weil es für Ambrosius von außerordentlicher Relevanz war. Die wesentlich einfachere Hypothese bestünde aber darin, dass die Version von Ambrosius und 84
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Überblick der akademischen Diskussionen in: Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 16–29. Noch vor kurzem herrschte die Meinung vor, die Legende sei in Syrien, wahrscheinlich in Edessa, in der ersten Hälfte des 5. Jahrhundert entstanden. – Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 174 f., 165. Borgehammar entwickelte aber die Hypothese, ihre Urfassung sei auf Griechisch in Jerusalem entstanden: Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 146–149, 204 u. a. Schließlich äußerte selbst Jan Drijvers sein Einverständnis mit Borgehammar, aber unter dem Vorbehalt, dass die Kyriakoslegende auf jeden Fall sehr früh – nicht später als in der 1. Hälfte des 5. Jahrhundert – in Syrien bekannt und den dortigen Verhältnissen angepasst wurde: Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 25. Außerdem datiert Borgehammar die Entstehung der Legende erst nach 415, wobei dagegen Jan Drijvers denkt, dass ihr Kern wesentlich älter gewesen sein muss. Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 52 f., 70 f. Zur Anwendung dieser Prophezeiung bei Sozomenos und Theodoret s. weiter unten. Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 28.
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die Kyriakoslegende eine gemeinsame Wurzel hätten. Mit anderen Worten: der Bischof von Mailand muss sich von einer früheren Version der künftigen Kyriakoslegende inspiriert haben lassen. Für den entscheidenden Punkt, in welchem diese beiden Texte ihre innere Verwandtschaft am Deutlichsten verraten, halte ich gerade die Prophezeiung Sacharjas. Dieses Detail bleibt in der <Jerusalemer Tradition> durchaus nebensächlich und kann daraus auch nicht erklärt werden. Wozu könnte ein solches Motiv in einer Geschichte dienen, die den Reliquiencharakter des in der Grabkirche aufbewahrten Holzstücks legitimieren sollte? Das Sacharja-Thema ist ihr so fremd, dass man wohl gerade in der Verwendung dieses Motivs eine Art Kennzeichen sehen kann, um jene Texte identifizieren zu können, welche einer alternativen ( ) Tradition entstammten oder zumindest von ihr beeinflusst worden waren. Neben der Trauerrede Ambrosius’ ist zu dieser Textgattung etwa jene unbekannte Schrift zuzuordnen, welche als Informationsquelle für Sozomenos und Theodoret gedient haben muss, zumal man gerade an entsprechender Stelle bei Sozomenos ( II, 1,4 ) schon auf eine Parallele zur Kyriakoslegende hinwies 88: der Konstantinopeler Kirchenhistoriker gibt – wenn auch skeptisch – die Meinung wieder, dass der genaue Ort, an dem die Kreuze verborgen waren, schließlich von einem Juden entdeckt wurde, der der geheimen Schriften kundig war. Es fällt nicht schwer, in dieser Figur bei Sozomenos den legendären Judas Kyriakos zu erkennen. Sollte meine Vermutung weitere Unterstützung finden, die sei nicht mit der Jerusalemer Helenalegende, sondern mit der Kyriakosgeschichte am engsten verwandt, würde die Notwendigkeit entstehen, mehrere Fragen um diese b e i d e n Denkmälern wieder aufzuwerfen, wie auch unsere gesamte Vorstellung von der Entwicklung der Kreuzauffindungslegende neu zu überprüfen. Im Folgenden muss ich mich aber zuerst auf die Besprechung der Nägelreliquien Helenas und Konstantins allein einschränken. V. DER ERSTE KULT DER NÄGEL
Borgehammar nahm ohne jede Begründung in seine Rekonstruktion des Textes von Gelasius auch die Prophezeiung des Sacharja auf, obwohl Rufinus – jener Autor, der Gelasius am nächsten stand 89 – vom Spruch des Propheten im Zusammenhang mit der Kreuzauffindungsgeschichte offenbar gar nichts wusste. In der ursprünglichen Version der Helenalegende musste also diese Prophezeiung gefehlt haben – allerdings nicht sie allein. Niemand hat bis jetzt einen weiteren wichtigen Umstand bemerkt: Der Teil, der von der Entdeckung der Nägel handelt, erscheint bereits bei Rufinus ( d. h. höchstwahrscheinlich noch bei Gelasius ) außerhalb der Hauptgeschichte: es sieht so aus, als ob der entsprechende Abschnitt an die schon abgeschlossene Erzählung worden sei: 1. Helena findet das Kreuz. – 2. Helena baut auf dem Fundort 88 89
Straubinger ( wie Anm. 82 ) S. 76; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 20. Berechtigt scheint die Meinung zu sein, dass der Bericht Rufinus’ hier nichts Anderes als Übersetzung der entsprechenden Stelle bei Gelasius ist. Wenn dem so ist, erübrigt sich jede Notwendigkeit, den Text Gelasius’ überhaupt zu rekonstruieren. S. dazu: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 63; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 13.
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die Kirche. – 3. Helena findet die Nägel. Warum konnten die Sätze über den Fund der Nägel nicht dort stehen, wo es um die Entdeckung des Holzes ging? Bei ( Gelasius- ) Rufinus war diese kompositionelle Unstimmigkeit mit stilistischen Mitteln noch etwas verschleiert, in der Kyriakoslegende bekam sie dagegen ihre vollständige Entwicklung. Hier verwandelt sich die Suche Helenas nach den Nägeln in ein durchaus selbstständiges Unternehmen, welches dann deutlich eine gewisse Zeit nach der Entdeckung des Kreuzholzes schon vom zum Bischof gewordenen Kyriakos extra durchgeführt worden sein muss. Die Tatsache, dass die Geschichte über die Entdeckung der Nägel nicht zum ursprünglichen Kern der Legende gehören konnte, kann uns kaum verwundern: für die Jerusalemer Verhältnisse war sie durchaus überflüssig, sofern man dort im 4. Jahrhundert allein die Holzreliquie und keine Nägel aufbewahrte. Die Notwendigkeit, die ursprüngliche Geschichte zu ergänzen, musste erst dann entstanden sein, als Jerusalem immer mehr von solchen Pilgern besucht wurde, die schon sehr gut wussten, dass anderswo weitere Kreuzreliquien vorhanden waren, nämlich die Nägel. Vielleicht hatten sie sogar diese Reliquien noch auf dem Weg nach Jerusalem selbst bewundert. Reliquiengeschichten beinhalten in der Regel eine klare pragmatische Botschaft: sie sollen die Aufmerksamkeit der Gläubigen nicht auf abstrakte Dogmen oder Metaphern, sondern auf ganz bestimmte – in einer konkreten Stadt, Abtei oder Kirche real existierende – Gegenstände lenken. Das Anfügen des über den Fund der Nägel an die Jerusalemer Helenalegende stellte m. E. nichts anderes dar als die Reaktion der Jerusalemer Kleriker auf die Entstehung eines neuen Kultes. Von diesem angeblichen Kult wissen wir vor allem, dass er mit der Memoria Konstantins von Anfang an auf das Engste verbunden gewesen sein muss – wurden doch die Nägel in Gestalt des angeblich Konstantinischen Helmes und Pferdezaumes verehrt. Daraus darf man weiter annehmen, dass dieser Kult erst nach dem Todesjahr Konstantins 337 entstehen konnte, d. h. wohl in den 40er oder sogar 50er Jahren. Die ursprüngliche ( m ü n d l i c h e ) Fassung der Jerusalemer Legende wusste von einem solchen Kult noch nichts, sonst hätte sie entsprechende Angaben organisch in ihr Sujet einfließen lassen, etwa nach dem Muster: Helena findet das Kreuz u n d die Nägel, w o r a u f h i n die Kirche am Fundort errichtet wird. Aber auch die erste s c h r i f t l i c h fixierte Fassung musste sich jeder Erwähnung der Nägel enthalten haben, denn nur unter dieser Voraussetzung konnte die endgültige Komposition entstehen. Der schon einmal fixierte ( und dadurch ) Kern ließ sich nicht mehr verändern, weshalb man für die neue erst nach dem Kernteil Platz fand. Die Tatsache, dass Gelasius gerade diese Komposition nachvollzieht, spricht m. E. klar dafür, dass er – im Gegensatz zu gängigen Behauptungen in der Literatur – nicht der erste war, der die Helenalegende aufschrieb. Ganz im Gegenteil, er musste einen schon gut gestalteten, fixierten und mehr oder weniger Text als seine autoritative Vorlage vorgefunden haben, um diesem Muster in seiner eigenen Schrift zu folgen. Daraus ergibt sich aber, dass auch die erweiterte Fassung der Legende ( in welcher die Nägel schon berücksichtigt waren ) nicht von Pilgern selbst als Ergebnis ihrer spontanen folkloristischen Dichtung entstand, sondern ihnen schon in fertiger Form dargeboten und suggeriert wurde – offensichtlich in Folge der Erläuterungen, welche den Gläubigen von den speziell dazu beauftragten Klerikern am Heiligen Grab gegeben wurden.
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Es gibt m. E. einen weiteren Grund für die Behauptung, Gelasius könne weder Verfasser der ganzen erweiterten Legendenfassung noch allein der Nägelergänzung gewesen sein. Die narrative Struktur findet sich sowohl bei Ambrosius ( allerdings ohne zentrales Glied – die Errichtung der Kirche ) als auch in der Kyriakoslegende, wobei diese beiden Texte von dem Werk des Gelasius nicht beeinflusst worden sein können. Dies kann nur so verstanden werden, dass diese Struktur in einem schriftlich fixierten Text vorkam, der als gemeinsame Vorlage für alle drei Schriften ( einschließlich Gelasius ) dienen musste. Die einzige Schwierigkeit mit dem hypothetisch rekonstruierbaren Nägelkult in der Zeit zwischen 337 und 395 besteht allerdings darin, dass m. W. bis jetzt keine klaren Belege für seine Existenz ans Licht gekommen sind. Vor allem berichten die Pilger nicht von einem solchen Kult, obwohl ihr Schweigen nicht immer als letztes Argument wahrgenommen werden kann: so hinterließ niemand von ihnen eine Nachricht von einem großen Stück Kreuzholz – in der Länge des Ellenbogens –, das in der syrischen Stadt Apameia aufbewahrt worden wäre. Doch bezeugen sowohl Prokop von Cäsarea als auch Evagrius Scholastikus gleichermaßen die Verehrung dieser Reliquie noch im 6. Jahrhundert ebenda 90. Als erster Kandidat für den Ort, wo die Kreuznägel aufbewahrt worden sein könnten, kommt natürlich Konstantinopel in Frage. Für die Nacherzähler der Helenalegende, gleich wie für ihre Zuhörer, musste gerade diese Stadt die selbstverständliche Konstantins gewesen sein, an welche Helena die Reliquien zu senden hatte. Außerdem verehrte man in Konstantinopel in der Tat die Nägel der Kreuzigung – allerdings sind Belege dieses Kultes erst aus dem 6. Jahrhundert überliefert. Könnte er aber vielleicht älter gewesen sein? Wahrscheinlich nicht, weil die Einwohner der Reichshauptstadt noch Mitte des 5. Jahrhunderts fest davon überzeugt waren – darüber informiert uns Sokrates Scholastikos –, dass Konstantin ein Stück des H o l z e s ( aber keine Nägel ) in das Neue Rom mitbrachte, um es in seiner Statue einzuschließen, welche die Porphyrsäule ( errichtet zwischen 328 und 330 ) in der Mitte des Stadtforums bekrönte 91. Derselbe Au90
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Anatole Frolow, La relique de la Vraie Croix. Recherches sur le développement d’un culte ( Archives de l’Orient chrétien 7 ) Paris 1961, S. 184 f. ( Nr. 42 ). [ … ] χ« 9 ' K . , 9 ' /!9 $/) » K , λ φ λ !/ « . – Socrates ( wie Anm. 64 ) I, 47 ( Migne PG 67, Sp. 120 ). Vgl.: Raymond Janin, Constantinople Byzantine. Développement urbain et répertoire topographique ( Archives de l’Orient chrétien 4 ) Paris 1950, S. 83 – mit Hinweis auf dieselbe Stelle bei Socrates. Zur Statue als Beweis für Selbstidentifizierung Konstantins mit Sol invictus s.: Leeb ( wie Anm. 57 ) S. 12–17. Zur Säule und Kapelle in ihrem Sockel s. zuerst: Cyril Mango, Constantin’s Porphyry Column and the Chapel of St. Constantine, in: Cyril Mango, Studies on Constantinople 4, Aldershot 1993, S. 103–110; Martina Jordan-Ruwe, Das Säulenmonument. Zur Geschichte der erhöhten Aufstellung antiker Porträtstatuen ( Asia Minor Studien 19 ) Bonn 1995, S. 126–140. Eine neuere Hypothese über den Ursprung der Statue auf der Säule s. in: Garth Fowden, Constantine’s Porphyry Column: The Earliest Literary Allusion, in: Jornal of Roman Studies 81, 1991, S. 119–131. Es wird in der Fachliteratur nur selten erklärt, dass der Bericht des Sokrates über die Anwesenheit der Nägel der Kreuzigung innerhalb der Statue auf dem Forum als Zeugnis der Volksmeinung im Byzanz des 5. Jahrhundert, aber keinesfalls der Religionspolitik des historischen Konstantin betrachtet werden muss. Mehr noch, sie kann als Hinweis dafür gelten, dass es in Konstantinopel im 5. Jahrhundert noch keinen öffentlichen Kult des Kreuzholzes ( d. h. vielleicht auch keine Kreuzfragmente ) gab, sonst hätten die Stadteinwohner keinen Anlass, ihre Fantasien mit der Statue auf der Konstantinsäule zu verbinden. Die Vermutung, dass die ersten Stücke
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tor hörte zwar davon, dass Helm und Pferdezaum aus den Kreuznägeln für Konstantin hergestellt worden waren, verband aber diese Reliquien weder mit der Statue auf dem Forum noch mit irgendeinem anderen Ort in der Reichshauptstadt, dessen Einwohner er selbst war 92. Erst im 6. Jahrhundert berichtet Gregor von Tours von einem Nagel, der dem Wunsch Helenas entsprechend in die Statue Konstantins eingefügt worden sein soll 93. Der Kranz aus sieben Strahlen rund um den Kopf der Statue begann also zur Zeit Gregors wohl als eine Art <Synonym> für den Helm Konstantins aus der Legende wahrgenommen zu werden. Zweifelsohne geht es hier um eine spätere Umdeutung des ursprünglichen Sujets, wobei ein Holzstück in einen Nagel ( oder auch gelegentlich Nägel ) umgewandelt wurde. Seit dem 10. Jahrhundert will die recht verbreitete Meinung darauf beharren, dass schon die Strahlen um den Kopf der Statue aus den Nägeln der Kreuzigung geschmiedet worden waren 94. Die eben angeführte Stelle aus der Schrift Sokrates’ kann als gutes Beispiel dafür genommen werden, wie plastisch die Reliquiengeschichten waren: sobald sie nur etwas von ihren Ursprungsorten entfernt waren, ließen sich ihre Sujets unter dem Einfluss der spezifischen lokalen Gegebenheiten leicht transformieren. So wurde das <Jerusalemer> Motiv in Konstantinopel mit einer Ergänzung bereichert, die sich auf ein durchaus örtliches, aber höchst relevantes Objekt – die Konstantinsäule – bezog. Zuerst das Holz des Kreuzes und später die Nägel sollten also in der Statue von Apollo-Helios-Sol Invictus-Konstantin geborgen sein, damit diese Reliquien die Hauptstadt für alle Feinde unbesiegbar mache, wie Sokrates uns erklärt. Er will übrigens diesen Tatbestand nicht allein aus einer Schrift herausgelesen haben, denn wie er selbst betont, ‚bestätigen alle Bewohner von Konstantinopel, dass dies wahr ist‘ 95. Etwas Ähnliches musste also auch mit der Jerusalemer Kreuzauffindungsgeschichte noch im 4. Jahrhundert an einem anderen uns unbekannten Ort geschehen sein, wo sie eine Transformation unter der Wirkung der lokalen Nägelreliquien erlebte. ( Wobei es nicht auszuschließen ist, dass gerade die Jerusalemer Legende den örtlichen Klerus zuerst dazu bewegen konnte, seine eigenen Passionsreliquien zu entdecken ). Auch die transformierte lokale Version der Helenalegende, in welcher jetzt Helm und
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des echten Kreuzes erst unter Justin II ( 565–578 ) in die Reichshauptstadt gebracht wurden, wird begründet in: Holger A. Klein, Constantine, Helena, and the Cult of the True Cross in Constantinople, in: Jannic Durand – Bernard Flusin ( Hgg. ), Byzance et les reliques du Christ ( Centre de recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance, Monographies 17 ) Paris 2004, S. 31–59. Kλ 3« %« ξ [ … ] ² K ,« Ω [ … ] « λ φ " « [ … ] – Socrates ( wie Anm. 64 ) I, 17 (Migne PG 67, Sp. 120 ). Duo sunt, quae supra diximus, aptati in freno, tertius proiectus in fretum, quartum adserunt esse defixum in capite statuae Constantini, quae civitati, ut aiunt, totae excelsior esse suspicetur, scilicet ut tota cui eminet munitionem salutis quodadmodo galea coronata est. – Gregorii Turonensis Opera. Pars 2: Miracula et opera omnia, hg. von Bruno Krusch ( MGH SS rerum Merovingicarum 1/2 ) Hannover 1885, S. 491. Gregor von Tours begründet hier ausführlich, dass es insgesamt vier Nägel gab. Den ersten baute Helena ( ‚wie es behauptet wird‘ ) in die Konstantinstatue ein, den zweiten warf sie in die Adria und aus den übrigen zwei ließ sie den Zaum herstellen. Das Thema der Nägel, welche in der Konstantinsäule angeblich aufbewahrt waren, wird nur erwähnt, aber nicht weiter erforscht in der Studie: Gilbert Dagron, Constantinople imaginaire. Études sur le recueil des Patria ( Bibliothèque Byzantine. Études 8 ) Paris 1984, S. 329. Bibliographische Hinweise s. in: Frolow ( wie Anm. 90 ) S. 168. T !ξ $9 ' /5« 0. P« ξ µ ¹ κ K . & «, $#ξ« ρ φ
. – Socrates ( wie Anm. 64 ) I, 17 ( Migne PG 67, Sp. 120 ).
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Pferdezaum vorkamen, musste genauso gegenständlich gewesen sein wie auch die ursprüngliche kurze Fassung. Folglich musste um die Mitte des 4. Jahrhundert irgendwo genauso materiell ( und nicht nur metaphorisch oder legendär, wie viele Forscher annehmen ) Helm und Pferdezaum vorhanden gewesen sein, wie auch das Stück Holz in Jerusalem materiell und greifbar war, wobei auch diese zwei Gegenstände allmählich dazu übergingen, als Passionsreliquien verehrt zu werden 96. Bald danach, als der neue Kult des Helmes und des Pferdezaumes – die für transformierte Kreuzesnägel gehalten wurden – sich festigte und unter den Pilgern bekannt wurde, mussten wohl der Bischof von Jerusalem und/oder der Klerus der Grabkirche darauf reagieren, indem sie ihren Text der frommen für die Pilger mit einer neuen Episode über das Auffinden der Nägel ergänzten. Die Tatsache, dass der erste Kult der heiligen Nägel keine greifbaren Spuren hinterließ, spricht dafür, dass die beiden heiligen Gegenstände verhältnismäßig bald aus dem Ort verschwunden sein müssen, an dem sie zuerst verehrt wurden. Auch Ambrosius hätte es wohl schwer gehabt, sich in Mailand ohne weiteres auf den Pferdezaum Konstantins zu beziehen, wenn er dabei nicht sicher gewesen wäre, dass eine analoge Reliquie nicht schon anderswo im Zentrum eines lokalen Kultus stand. Über den Ort, wo zuerst dem Kult der Passionsnägel gehuldigt wurde, lässt sich nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse nur spekulieren. Antiochia würde z. B. nicht schlecht passen, zuerst schon weil es eine der beliebtesten Residenzen Konstantins war, wo sein Andenken eine gewisse Rolle gespielt haben muss. Außerdem befand sich dort das noch von Konstantin 341 gegründete oder die 97. Für dieses höchst repräsentative und programmatische Gebäude benötigte man wohl entsprechend hochwertige Reliquien, von deren Existenz allerdings nichts überliefert ist. Der Versuch, bestimmte archäologische Befunde als Hinweise auf eine mögliche Verehrung gerade der Nägel des Kreuzes in Syrien und speziell in Antiochia zu erklären, blieb bisher wenig überzeugend 98. Antiochia könnte aber auch unter dem Aspekt gut passen, dass die gesamten Schätze der bekanntlich schon 362 von Julian Apostata beschlagnahmt worden waren, was das spurlose Verschwinden des ersten Nägelkultes gut erklären könnte ( natürlich unter der Voraussetzung, dass es einen solchen in Antiochia je gegeben hat ). Wo immer man zuerst auf die Idee kam, die Nägel des Kreuzes zu verehren, musste die Prophezeiung Sacharjas zu den spezifischen Besonderheiten dieses Kultes gehört haben. Man benötigte am Kultort eine würdige christliche Erklärung eines sol96
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Ulrike Koenen gehört zu den verhältnismäßig wenigen Gelehrten, die auch davon ausgehen, dass die Entstehung einer Legende über die Nägel durch das Auftreten der entsprechenden materiellen Reliquie verursacht wurde – genau wie die Kreuzauffindungsgeschichte als Folge der Verbreitung zahlreicher Kreuzpartikel konzipiert wurde. – Ulrike Koenen, Symbol und Zierde auf Diadem und Kronreif spätantiker und byzantinischer Herrscher und die Kreuzauffindungslegende bei Ambrosius, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 39, 1996, S. 170–199, hier S. 174, Anm. 29. Über den Zusammenhang zwischen der Helenageschichte einerseits und der Anwesenheit des Kreuzes in der Grabkirche wie auch der Verbreitung der Fragmente dieser Reliquie andererseits s.: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 61 ff. Richard Krautheimer, Early Christian and Byzantine Architecture, New Haven – London 1986, S. 75–78; Glanville Downey, Ancient Antioch, Princeton ( NJ ) 1963, S. 150. Gustavus A. Eisen, The Great Chalice of Antioch, 1, New York 1923, S. 161–164, besonders 163. Der Verfasser will die Spuren des Kultes in einigen Talismanen erkennen, welche in syrischen Gräbern des 4. Jahrhunderts gefunden wurden.
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chen nicht ganz gewöhnlichen Objektes wie den Pferdezaum, der zuerst wohl allein der persönlichen Memoria Konstantins diente, später aber als eine der wichtigsten Passionsreliquien umgedeutet werden musste. Die Auslegung der Prophetenverse folgte dabei nicht dem aramäischen Text des Alten Testaments, sondern der Septuaginta 99, worin man vielleicht einen Hinweis auf die ethnische Zusammensetzung jener Gemeinschaft erkennen kann, in der die Nägel zum Kultobjekt wurden. Auf welchem Weg konnte dann diese Variante der Helenalegende Ambrosius erreicht haben? Solange man keinen Unterschied zwischen der Fassung Ambrosius’ und der Jerusalemer erkennen konnte, fiel die Antwort auf diese Frage leicht: die Kreuzauffindungsgeschichte konnte am besten mit dem Heer des siegreichen Theodosius nach Mailand gelangen, wie dies etwa Neil McLynn vermutet 100. Oder vielleicht konnte sie noch früher am westlichen Kaiserhof zirkuliert sein, und zwar deswegen, weil viele Pilger vom Osten über Mailand zurückzogen – wie z. B. Drijvers annimmt 101. Sollte aber der Bericht, welchen Ambrosius für seine Ziele benutzen konnte, eine spezifisch lokale Variante der Kreuzauffindungslegende dargestellt haben, darf man sich den möglichen Kreis der Zuträger für den Bischof von Mailand in dieser Frage verhältnismäßig eng vorstellen. Dies passt gut zu der Ausführlichkeit, mit welcher Ambrosius seine Geschichte erzählt haben muss: er erwartete wohl nicht von seinen Zuhörern ( auch vom östlichen Heer ), dass sie schon mit dem Thema seiner Überlegungen gut vertraut waren. Sein möglicher Informant konnte aber kaum ein westlicher Pilger gewesen sein, der aus dem Heiligen Land zurück kam, denn solche Reliquienkenner beschrieben üblicherweise die Heiligtümer und nicht jene aus dem verlorenen Bestand früherer Jahrzehnte. Außerdem muss dieser Berichterstatter ganz sicher gewesen sein, dass die heiligen Nägel nicht nur von ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort verschwunden waren, sondern auch, dass sie nicht unvermittelt anderswo wieder auftauchen würden. Nur unter dieser Voraussetzung wäre es politisch möglich, die Nägelreliquien mit der Person des Kaisers zu verbinden. Folglich muss die Person, welche dem Bischof von Mailand die Helenalegende ( wohl in geschriebener Fassung ) vermittelte, eher unter den Höflingen Theodosius’ gesucht werden, die mit der kirchenpolitischen Lage im Osten nicht nur gut vertraut waren, sondern sie bis zu einem bestimmten Grad vielleicht auch beeinflussen konnten. VI. DER
Sollte Ambrosius mit dem keine nebulöse Metapher, sondern ein bestimmtes materielles Objekt gemeint haben ( was sich m. E. aus dem oben Gesagten mit großer Wahrscheinlichkeit ergibt ), wäre es zum Verständnis sinnvoll, herauszufinden, wie dieser ausgesehen haben könnte – eine Aufgabe, welche Forschern schon über mehrere Jahrhunderte hindurch erstaunlich große Schwierigkeiten 99
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[ … ] 9 ' π!) 9 0 µ λ µ µ Ϊ/ ) $ ) [ … ]. Neil B. McLynn, Ambrose of Milan. Church and Court in a Christian Capital ( The Transformation of the Classical Heritage 22 ) Berkeley – Los Angeles – London 1994, S. 359. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 123.
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bereitet. Das griechische Wort .« 102, wie auch das lateinische fraenum in seinen verschiedenen Varianten 103 oder das syrische paguda aus den frühesten schriftlichen Versionen der Kyriakoslegende 104 konnten gleichermaßen sowohl den gesamten Pferdeschmuck, oder – öfter – Zügel oder allein das Metallteil des Zaumes ( Gebiss, Kandare, Trense ) bedeuten. Die Angelegenheit wird dadurch noch komplizierter, dass Ambrosius in seiner Rede als Synonym zum fraenum einmal auch habena benutzt. Wenn der Redner sagt in manibus habena ( 48 ), scheint die Sache klar zu sein: Der Reiter hält doch in seinen Händen weder den gesamten Pferdeschmuck noch die Kandare, sondern allein die rechten und linken Zügel. Aber wenn Ambrosius fortfährt: habena quoque de Cruce, wird seine Darstellung wieder unverständlich, denn es ist unklar, wie aus dem ( d. h. aus dem Nagel des Kreuzes von Golgatha ) überhaupt hergestellt werden konnten. Die Zügel wie auch der größte Teil des Pferdeschmucks werden bekanntlich aus Leder hergestellt, wobei das Stück für das Gebiss meist aus Metall geschmiedet wird. Allerdings können auch andere Details des Zaumes metallisch sein, etwa die Riemenverbindungsstellen, was man z. B. auf dem berühmten silbernen Ticinum Medaillon Konstantins 315 gut sehen kann 105 ( Abb. 1 ). Jenseits der rein professionellen Reiterterminologie besteht nicht nur in Latein, Griechisch und Syrisch, sondern auch in modernen Sprachen öfters Verwirrung darüber, was jedes Mal genau unter verstanden werden muss: Kopfgestell aus Lederriemen, Gebissstück aus Metall, allein die Zügel oder eben doch alles zusammen. Die Unklarheit des lateinischen frenum im Text von Ambrosius zwang die Übersetzer der Kreuzauffindungsgeschichte in die modernen Sprachen – und zwingt sie immer noch dazu – dieses Wort immer wieder auf eigene Faust zu interpretieren. So wissen die Franzosen genau, dass einer der Golgathanägel in ein mors 106 umgewandelt wurde, wobei die Italiener in demselben Zusammenhang auch von morso ( und nicht etwa vom weniger deutlichen freno briglie ) reden. Obwohl die beiden Wörter in ihren Sprachen auch unterschiedliche Deutungen erlauben, weisen sie aber gleichfalls eher auf das Gebissstück aus Metall als auf das 102
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Über die Assoziationen, welche mit diesem Wort bei Aischylos und Sophokles verbunden waren, s.: Elisabetta Villari, Il „chalinos“ come „sphragis“ del tiranno, in: Civiltà classica e cristiana 9, 1988, S. 111–121. Villari ( wie Anm. 3 ) S. 112, führt auch eine Stelle aus dem Traktat Xenophons <Über die Reitkunst> ( VI, 9 ) an, wo der Verfasser zwischen .! als Pferdegebiss und .« als Zaum deutlich unterscheidet. Dennoch blieb diese technische Unterscheidung in der griechischen Literatur nur wenig berücksichtigt. Ambrosius benutzt dieses Wort in seiner Rede einmal als accusativus masculinum pluralis: frenos, zweimal als nominativus neutrum pluralis: fraena, dreimal als nominativus neutrum singularis: fraenum und einmal als ablativus neutrum singularis: fraeno. Die Wortform im Singular gilt als seltener im Vergleich mit derjenigen im Plural: Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 137. Ich benutze diese Gelegenheit, um meine Dankbarkeit gegenüber Herrn Pieter van der Horst ( Utrecht ) für die Konsultation über die Bedeutung der entsprechenden Stelle in den beiden frühesten syrischen Texten der Legende zu äußern. S. hier zuerst: Konrad Kraft, Das Silbermedaillon Constantin des Großen mit dem Christusmonogramm auf dem Helm, in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 5/6, 1954/55, S. 151–178; Bernhard Overbeck, Das Silbermedaillon aus der Münzstätte Ticinum: ein erstes numismatisches Zeugnis zum Christentum Constantins I., Mailand 2000. Gerade mit diesem Wort wurde die Reliquie des in dem berümten Traktat 1543 bezeichnet: Jean Calvin, Traité des reliques suivi de l’Excuse à Messieures les Nicodémites, Paris 1921, S. 116 f.
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Riementeil 107. Die Briten äußern sich noch deutlicher, wenn sie nicht das unklare bridle, sondern das eindeutige bit benutzen und genau so sind die Deutschen, wenn sie in ihren Nacherzählungen der Helenageschichte dem unbestimmten das konkrete 108 oder 109 vorziehen. Ein Schmied hätte eine solche Übersetzung ohne weiteres akzeptieren können: für was sonst im Zaumzeug könnte man einen großen Nagel verwenden, wenn nicht für ein Gebiss? Sobald aber die ganze Angelegenheit nicht mehr mit den Augen eines Handwerkers betrachtet wird, drängt sich folgende Frage auf: Warum konnte die fromme Helena zur Aufbewahrung der Passionsreliquie keinen besseren Ort als das Pferdemaul finden? Das Problem des , welches im Laufe der letzten 16 Jahrhunderte schon fast hoffnungslos verworren erschien, hat in meinen Augen zwei mögliche Lösungen, welche einander gar nicht ausschließen, sondern sich eher gegenseitig ergänzen. Die erste ergibt sich aus den Studien der Texte, die zweite bieten uns die archäologischen Befunde. Zuerst aber zu den Texten. In den Fassungen der Kreuzauffindungslegende, in denen es um Herstellung von Helm und Zaum aus den Kreuzesnägeln geht, wurde explizit oder implizit vermerkt, dass diese neue Ausrüstung Konstantin in Kriegsgefechten sicher schützen musste. Mit anderen Worten wies man den Nägeln von Golgatha die noch durchaus vorchristliche Funktion der Amulett-Phylakterien zu. Dank der Studien von Franz Josef Dölger wissen wir inzwischen gut, dass die Christen des 4. und 5. Jahrhunderts plastische Kreuze aus verschiedenen Materialien, Partikel des Echten Kreuzes wie auch andere Reliquien, sehr gern als solche Phylakterien zu benutzten pflegten. Diese alte Praxis hat ihre direkte Fortsetzung auch in unserer Zeit, wenn Gläubige kleine Kreuze um den Hals hängend tragen. Für einen heutigen Christen würde aber eine andere – zur gleichen Zeit und aus denselben Gründen entstandene – Praxis wohl etwas befremdlich wirken: die Verwendung von christlichen Symbolen als Amulette für Tiere. Es gehörte aber seinerzeit offenbar zum Alltag, etwa erkrankten Kühen Kreuze umzuhängen ( was Johannes Chrysostomus bezeugt ) oder Pferde mit einem Christogramm zu brandmarken. Dölger weist auch auf einen Text hin, der zu unserem Fall ausgezeichnet passen könnte: in einem <Bukolischen Lied über den Segen des Kreuzeszeichens> von Severus Endelechius, einem Autor des späteren 4. Jahrhunderts, geht es darum, wie der Schäfer Egon dadurch seine Tiere vor der Pest zu retten vermochte, welche die Herde des Schäfers Bukol heimsuchte, dass er die Stirn seiner Kühe ‚in der Mitte‘ mit dem Zeichen des Kreuzes schmückte 110. Ob Egon diese Kreuze aufmalte oder sie als Kleinplastik aus Metall oder Keramik aufhängen ließ, spielt keine Rolle; es verrät uns aber,
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So wird unzweideutig von „morso per le briglie“ geredet, etwa in: Sordi, Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 885 f., 889 f. Wie z. B. in: Ernst Dassmann, Ambrosius von Mailand: Leben und Werk, Stuttgart 2004, S. 249. Wie z. B. in: Heinen ( wie Anm. 40 ) S. 93. Signum quod perhibent esse Crucis Dei: / Magnis qui colitur solus in urbibus / Christus, perpetui gloria Numinis, / Cujus filius unicus. / Hoc signum mediis frontibus additum, / Cunctarum pecudum certa salus fuit. / Sic vero Deus hoc nomine praepotens / Salvator vocitatus est. – Severus Endelechius, Carmen bucolicum de virtute signi crucis, in: Migne PL 19, Sp. 800, vv. 105–112. Z. Zt. wird die neue Edition dieses Textes in der Reihe CC vorbereitet.
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dass es im 4. Jahrhundert üblich war, bei Tieren christliche Phylakterien an der Stirn anzubringen 111. Zur Vermutung, dass der Nagel von Golgatha in der Wahrnehmung Ambrosius’ nicht ins Maul des Konstantinischen Pferdes, sondern auf dessen Stirn gelangen musste, führt noch eine Überlegung. Der als Amulett musste ein Gegenstück zum aus der angenommenen schriftlichen Vorlage zu diesem Teil der Darstellung des Bischofs darstellen: ihre gleichzeitige Herstellung zeigt, dass sie zusammen als eine Art konzipiert gewesen sein mussten. Dann dürfen wir von diesen Gegenständen eine semantische Symmetrie erwarten: eine Reliquie musste dann genau so den Kopf des Pferdes schützen, wie die zweite den Kopf des Reiters behütete. All dies kann in dem Sinne verstanden werden, dass ein Gegenstand, der nach der Meinung Ambrosius’ aus dem Nagel von Golgatha hergestellt und zu einem Teil des Zaumzeuges umgewandelt worden war, auf der Stirn des Pferdes – wahrscheinlich auf dem Stirnriemen ( nicht zufällig öfters auch als Schmuckriemen bezeichnet ) – angebracht wurde. Wie das ungefähr ausgesehen haben könnte, zeigen etwa das Reiterstandbild von Marc Aurel auf dem römischen Kapitol ( Ende des 2. Jahrhunderts ) ( Abb. 2 ) oder die Darstellung des reitenden Kaisers auf dem Barberini-Diptychon im Louvre ( 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts ) 112 ( Abb. 3 ). Ein christliches Phylakterion konnte durchaus ähnlich rund aussehen wie die phalerae auf den beiden Kaiserdarstellungen: es genügte vollkommen, entweder ein Kreuz oder ein Christogramm an ihm zu zeichnen. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, dass man dem ganzen Gegenstand auch die Form eines dieser zwei Zeichen geben konnte. Bischof Ambrosius musste wohl doch etwas Unbehagen empfinden, dass die Passionsreliquie auf die Stirn eines Tieres geriet – das ist daraus zu schließen, dass er zwischen den zwei Nägeln einen deutlichen Unterscheid kennzeichnet, nämlich zum Einen der Nagel für den Zaum und zum Anderen derjenige für das Diadem: der erste diente zur Ve r z i e r u n g ( d. h. einfach als Pferdeverzierung ), der zweite aber zur Verehrung ( unum ad decorum, alterum ad devotionem ). Übrigens konnte das Heiligtum im Maul des Pferdes kaum zu seiner Ausschmückung dienen: der Gegenstand musste doch gut sichtbar bleiben. Aber warum sollte der Nagel im Zaumzeug weniger Verehrung seitens der Christen verdienen, als derjenige im kaiserlichen Kranz? Könnte vielleicht der direkte Kontakt mit dem Kopf eines Tieres einer solchen Reliquie ihre heilenden Qualitäten nehmen? Es herrscht in diesem Punkt bei Ambrosius eine gewisse Unklarheit – 111
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Dölger führt hier als Parallele die Angaben der Ethnologen an, die noch in seiner Zeit beobachteten, wie die Bauern in Belgien und Italien Amulette auf die Stirne ihrer Pferde und Maultiere zu setzen pflegten. – Franz Joseph Dölger, Profane und religöse Brandmarkung der Tiere in der heidnischen und christlichen Antike, in: Ders., Antike und Christentum. Kultur- und religionsgeschichtliche Studien 3, Münster 1932, S. 25–61, hier S. 55 f. Zu dieser Plakette s. zuerst: Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters ( Römisch-Germanisches Zentralmuseum zu Mainz, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte, Kataloge vor- und frühgeschichtlicher Altertümer 7 ) Mainz 1976, S. 47 f. ( Nr. 48 ). Die Mehrheit der Forscher erkennt in dem dargestellten Kaiser Justinianus I., es wurden aber in diesem Zusammenhang auch Konstantin I., Constantius II. und Anastasius II. vorgeschlagen. Die Annahme, dass das Relief „einer früheren Epoche“ als dem 6. Jahrhundert angehören könnte ( „ce relief pourrait aussi bien appartenir à une époque plus haute“ ), wird geäußert in: André Grabar, L’empereur dans l’art byzantin: recherches sur l’art officiel de l’empire d’Orient ( Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg 75 ) Paris 1936, S. 49.
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wohl deswegen, weil ihn das heidnische Verständnis der Passionsreliquie nur als eines Pferdeamuletts nicht völlig befriedigen konnte, wobei ihm eine überzeugende christliche Begründung auch nicht einfiel. Eine weitere Schwierigkeit erwartete ihn aber mit dem schon zitierten Vers aus dem Buch Sacharjas. Schon oben wurde angedeutet, dass die Übersetzungen der Prophezeiungen Sacharjas in die modernen Sprachen weder einen , noch ein damit verbundenes kennen. So ist in der lutherischen Übersetzung von den <Schellen der Rosse> und der Inschrift auf diesen Schellen die Rede. Den Grund für ein solches Textverständnis bildet die autoritative Stellungnahme des heiligen Hieronymus. In seinem Kommentar zum Buch Sacharja räumte er ein, dass er bereit war, hier der Septuaginta zu folgen, die das Hebräische mesuloth als – Zaum ( id est frenum – erklärt Hieronymus die Sache seinem Leser ) wiedergibt. Als aber Hieronymus sich nach der genauen Bedeutung des Wortes bei einem gelehrten Juden erkundigte, stellte dieser klar, dass man hier nicht mesuloth, sondern mesaloth lesen müsse, was phalerae und andere Pferdeverzierungen bedeutete. Der Zaum muss im alten Hebräisch resen, nicht aber mesuloth sein – im Widerspruch zur Übersetzung der Siebziger 113. Und ein paar Zeilen später macht Hieronymus seine entscheidende Bemerkung: ‚Ich hörte auch eine Sache, welche zwar aus Frömmigkeit gesagt war aber seltsam wirkte, [ als ob ] die Nägel vom Kreuz des Herrn, aus welchen der Augustus Konstantin den Zaum für sein Pferd machen ließ, als Heiligtum des Herrn genannt wird. Die Entscheidung, ob diese Meinung akzeptiert werden kann, überlasse ich der Weisheit des Lesers.‘ 114
Die sarkastische Bemerkung des Hieronymus war m. E. ( im Gegensatz zu verbreiteten akademischen Vermutungen ) kaum speziell gegen Ambrosius gerichtet. Nach der von Hieronymus missbilligten Meinung soll erstens die Initiative zur Herstellung des Zaumes nicht bei der Augusta, sondern bei ihrem Sohn gelegen haben und zweitens, der Zaum nicht aus einem einzigen Nagel, sondern aus hergestellt worden sein. Im letzten Punkt könnte man vielleicht eher eine Parallele mit Rufinus als mit Ambrosius erblicken, wobei Rufinus allerdings nichts vom ‚Heiligtum des Herrn‘ wusste. Daraus ergibt sich der Schluss, dass 406, als Hieronymus seinen Kommentar schrieb, neben der noch eine weitere Erzählung über die Kreuzauffindung mit dem Hinweis auf die Prophezeiung Sacharjas weit genug verbreitet war, um die kritische Aufmerksamkeit von Hieronymus auf sich lenken zu können. Nach der Bemerkung Hieronymus’ hörte die <Weisheit der Leser> völlig auf, die Auslegung des vorletzten Verses aus dem Buch Sacharjas im Sinne von Ambrosius und seiner unbekannten Vorgänger wahrzunehmen 115 – anderenfalls könnte eine typische 113
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Soli Septuaginta , id est frenum, transtulerunt, quos et nos in hoc loco secuti sumus, ne nouum aliquid in quaestione uulgata uideremur afferre. Quod cum ab Hebraeo quaererem quid significaret, ait mihi, non debere nos legere mesuloth, sed mesaloth, quod significat phaleras equorum et ornatum bellicum, et excepto hoc loco, in nullo penitus sanctarum scripturarum uolumine hoc uerbum reperiri. Frenum autem lingua Hebraica resen appellari, et non mesuloth, quod LXX transtulerunt. – Hieronymus, In Zachariam, in: S. Hieronymi presbyteri opera, pars 1, vol. 6: Commentarii in prophetas minores, hg. von Marcus Adriaen ( CC 76A ) Turnhout 1970, S. 897. Audiui a quodam rem, pio quidem sensu dictam, sed ridiculam, clauos dominicae crucis, e quibus Constantinus Augustus frenos suo equo fecerit, sanctum Domini appellari. Hoc utrum ita accipiendum sit, lectoris prudentiae derelinquo. Ebd., S. 898. Allerdings wiederholte noch etwa Romanos Melodos ( um 485–555/562 ) die von Hieronymus verworfene Auslegung: Moorhead ( wie Anm. 15 ) S. 204, Anm. 32. Trotz aller Bemühungen Hieronymus’
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Insigniensammlung der christlichen Herrscher vielleicht um einen Gegenstand – den Pferdezaum – reicher werden … Der Text von Ambrosius, in welchem <der Zaum> nur aus einem einzigen Nagel fabriziert worden sein sollte, entspricht also m. E. dem Bild eines Phylakterions, das an den Stirnriemen des Pferdes gehängt wurde, in Übereinstimmung mit den oben zitierten zeitgenössischen Texten. Die archäologischen Befunde öffnen aber den Weg für eine andere Interpretation jener Technologie, welche die eventuelle Umwandlung einer Kreuzreliquie in einen in den Augen der Zeitgenossen ermöglichte, und die wohl den Autoren vorschwebten, die im Gegensatz zu Ambrosius meinten, dieser sei aus mehreren ( d. h. aus zwei ) Nägeln hergestellt worden. Bei Ausgrabungen in Spanien wurden gelegentlich bronzene Scheibenknebel ( ca. 10 cm in Durchmesser ) aus der Zeit um 400 gefunden, die als Trensenteile dienten, welche die Gebissstange des Pferdes seitlich von außen fixierten. Unter diesen Scheibenknebeln gibt es auch eine Reihe solcher, welche mit einem Christogramm verziert sind 116 ( Abb. 4 ). Bei ihrer unklaren symbolischen Bedeutung drängt sich jedoch die Vermutung auf, dass sie auch eine Art von Phylakterien für Rosse gewesen sein dürften. Solche Scheibenknebel sind zwar bislang nur auf der Iberischen Halbinsel bekannt, könnten aber eventuell auch anderswo im Reich vorgekommen sein. Gerade dort, wo sie selten, ja ganz vereinzelt auftauchten, konnte die Notwendigkeit für eine plausible Erklärung entstehen, warum das sonst bescheidene eiserne Gebiss von beiden Seiten mit bronzenen Christogrammen verziert ist. Wenn unsere Informanten aus dem 4.–5. Jahrhundert sich Konstantin auf dem Pferd mit einem Zaum solchen Typs vorstellten, konnte das Gebissstück bei ihnen tatsächlich als transformierte Passionsreliquie in Frage kommen. Aber weil die Gebissstange öfter aus zwei Teilen bestand, musste die Idee nahe liegen, dass Konstantin ( oder Helena ) sie nicht aus einem Nagel, sondern aus zweien hätten schmieden lassen. Diese Logik lässt sich etwa für Rufinus ( d. h. wohl auch Gelasius ) hypothetisch annehmen, aber nicht für Ambrosius, welcher doch nur von e i n e m Nagel im Zaum sprach, und die Reliquie sich also eher auf der Stirn des Rosses vorgestellt haben muss.
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bietet diese alttestamentarische Stelle noch heute Anlass für philologische Diskussionen. Dazu s. z. B.: Al Wolters, Targumic khrvbt ( Zechariah 14, 20 ) = Greek φ?, in: Journal of Biblical Literature 115, 1996, S. 710–713. Über den theologischen Sinn dieses Abschnitts stritt man auch heftig. Martin Luther verzichtete hier auf jeden Kommentar, weil ihm der Inhalt der Worte des Propheten unklar geblieben sein soll. Christoph Stiegemann ( Hg. ), Byzanz. Das Licht aus dem Osten. Kult und Alltag im Byzantinischen Reich vom 4. bis 15. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Mainz 2001, S. 350–352, Nr. IV.100. 1–2; Ludwig Wamser ( Hg. ), Die Welt von Byzanz. Europas östliches Erbe. Glanz, Krisen und Fortleben einer tausendjährigen Kultur, Ausstellungskatalog ( Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung 4 ) Stuttgart 2004, S. 352, Nr. 776; Alexander Demandt – Josef Engemann ( Hgg. ), Konstantin der Große – Imperator Caesar Flavius Constantinus, Ausstellungskatalog, Darmstadt 2007, S. 296, Nr. II. 1. 118. Über die technischen Besonderheiten der antiken Pferdezäume s. ausführlich: Christina Simon Ortisi, Studien zum römischen Pferdegeschirr aus Pompeji, Herculaneum und den Vesuvvillen: Metallzäume, Trensen und Kandaren. Diss., München 2003. Von derselben Verfasserin stammen auch die meisten der oben angeführten Katalogartikel.
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VII. DER HANDLUNGSORT
Die öffentlichen Auslegungen Ambrosius’ über den Sinn des Diadems und des Pferdezaums wirken recht abstrakt, solange der Forscher nicht die oben vorgeschlagene Stellungnahme akzeptiert, dass die Trauerrede von durchaus greifbaren Gegenständen handelt, welche sich zudem noch vor den Augen der Zuhörer befanden 117. Mit anderen Worten: Ambrosius erzählte nicht nur von zwei Heiligtümern, er wies sein Publikum auch noch darauf hin. Man braucht keine speziellen Begründungen für die Annahme, dass heilige Objekte von solchem Wert sich ausschließlich im Besitz des Kaisers befinden konnten. In unserem Fall sind zwar zwei Kaiser gleichzeitig anwesend – ein toter und ein lebendiger – es bestehen aber keine Zweifel, wem von ihnen die Reliquien gehören sollten. Wenn nun das Diadem mit dem ‚Nagel des Imperiums‘ das Haupt des leblosen Theodosius’ geschmückt hätte, wären die meisten Erwägungen Ambrosius’ als politisch sinnlos erschienen. Darüber hinaus bliebe unklar, in welchem Zusammenhang mit dem Leichnam Theodosius’ der Zaum seines Pferdes stehen konnte, es sei denn die kaiserlichen Diener führten das Lieblingsross des Verstorbenen in seinem vollen Pferdegeschirr direkt an den Sarg des Kaisers. Die ganze Textstelle ist dagegen verhältnismäßig einfach unter der Voraussetzung zu erklären, dass die beiden Reliquien in direkter Verbindung mit der Person des lebendigen Kaisers Honorius zur Schau gestellt waren. Der Kranz schmückte dann die Stirn des jungen Herrschers und der Zaum war natürlich seinem Pferd ( Pony? ) angelegt. Gerade dieser letzte Punkt benötigt eine besondere Erklärung. Aus der Rede Ambrosius’, in welcher er genau so oft vom Zaum wie vom Diadem spricht, ergibt sich m. E. klar, dass das kaiserliche Pferd mit seinem Zaum allen Anwesenden genau so gut wie der Kaiser mit seinem Diadem sichtbar gewesen sein muss. Konnte sich dann diese Szene überhaupt innerhalb eines Kirchengebäudes abgespielt haben? Man kennt zwar im Mittelalter Situationen, in denen Rosse tatsächlich durch Kirchen geführt wurden: vor allem in Opferprozessionen bei Trauerfeierlichkeiten, aber vielleicht auch bei sonstigen Anlässen, wenn Pferde der entsprechenden Kirche werden mussten. Für die christliche Spätantike ist ein ähnlicher Brauch m. W. nicht belegt 118. Daher würde unser Fall durch die Vorstellung vereinfacht, dass die ganze Trauerzeremonie nicht in der Kirche, sondern vor seiner Fassade ablief, wobei vielleicht auch der ( vom
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Fachleute, die sich hauptsächlich mit dem Oeuvre des Bischofs von Mailand und seinen Ideen beschäftigen, bemerken die seiner Äußerungen über Diadem und Zaum normalerweise nicht – im krassem Gegensatz zu denen, die sich vor allem bemühen, sein mit der konkreten Krone aus der Kathedrale von Monza zu verbinden. Letztere interessieren sich aber ihrerseits nicht so sehr für die Aufklärung der Gedankenwelt von . Als maßgebendes Beispiel hierfür s.: Sordi, La tradizione ( wie Anm. 50 ); Dies., Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 891. Mein Ansatz ist aber auch für Vertreter der mehr archäologisch als ideengeschichtlich orientierten Forschungsrichtungen nicht selbstverständlich. S. z. B. die Meinung, welche den Gegensatz zu meiner Prämisse darstellt: „Es wäre dann weniger wahrscheinlich, dass sich die Aussage des Ambrosius auf bereits existierende Realien bezieht, sondern vielmehr anzunehmen, dass erst aufgrund der Aussage des Ambrosius entsprechende Formen auf dem kaiserlichen Diadem auftreten“. – Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 177. Eine der seltenen bildlichen Darstellungen von Pferden innerhalb der Kirchengebäude, und zwar während der Trauermesse, findet sich als Holzschnitt Hans Burgkmairs des Älteren in <Weisskunig> Kaiser Maximilians ( 1516 ).
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Bischof kurz angedeutete ) Altar unter freiem Himmel stand 119. Eine solche Rekonstruktion der äußeren Umstände, unter welchen Ambrosius seine Abschiedsrede halten musste, wurde m. W. in der Forschung bislang niemals vorgeschlagen, obwohl sie im Einklang mit der allgemein anerkannten Ansicht steht, dass nicht zuletzt ( oder sogar in erster Linie ) an das Heer – also an ein sehr großes Publikum adressiert war 120. Im Mailand des späteren 4. Jahrhunderts sind drei repräsentative Kirchen bekannt, die am besten dazu geeignet wären, den feierlichen Abschied vom verstorbenen Kaiser durchzuführen ( Abb. 5 ). Die erste war die neue Stadtkathedrale, die wahrscheinlich von Constantius II. etwa zwischen 345 und 350 erbaut worden war. Zeitgenossen nannten sie die oder , wobei sie später – schon im Mittelalter – als die Kirche der Heiligen Thekla ( Santa Tecla ) bekannt wurde. Man begann diese Kirche 1389 abzubauen und sie war 1548 völlig abgerissen; ihre Fundamente kamen aber 1943 wieder ans Licht und wurden 1960–1962 gründlich erforscht. Dieser tatsächlich große Kirchenbau konnte genug Platz für fast dreitausend Menschen bieten 121, was also für die Stadtgemeinde gut geeignet war – nicht aber für den Fall, dass noch das kaiserliche Heer dazu kam 122. Mussten die Regimenter also draußen bleiben und wurden in den nahe liegenden Straßen aufgestellt, damit sie die Rede des Bischofs nur aus der Entfernung verfolgen konnten? Dafür gab es keine Notwendigkeit, weil es einfacher war, die Truppen nicht in der Stadtmitte, sondern vor einer der Kirchen zu sammeln, welche außerhalb der dicht bebauten Stadtviertel errichtet worden waren. Gerade in der nächsten Umgebung Mailands und offenbar in der Nähe des kaiserlichen Palastes ( dessen exakte Lage sich noch immer nicht bestimmen lässt ) befand sich die zweite beeindruckende Kirche Mailands, die genauso wie die auch im kaiserlichen Auftrag errichtet worden war und heute als San Lorenzo bekannt ist ( ob dieses Patrozinium ursprünglich war, lässt sich nicht mehr feststellen ) 123. So119
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[ … ] et nunc quadragesimam celebramus, adsistente sacris altaribus Honorio principe [ … ] – 3. Ambrosius konnte allerdings nicht unbedingt den Altar als solchen, sondern den Gottesdienst allgemein meinen. S. z. B.: Audistis certe, milites, qui circumfusi estis, quia ubi perfidia, ibi caecitas est. – 10. Richard Krautheimer, Three Christian Capitals: Topography and Politics, Berkeley – Los Angeles 1983, S. 75–77. Vgl. auch: Ders., Early Christian and Byzantine Architecture ( wie Anm. 97 ) S. 84 f. Von einer ganz anderen Vorstellung geht Martin Biermann aus. Er setzt a priori voraus, dass die Trauerfeierlichkeiten unbedingt in der Kathedrale stattfinden mussten. Daraus ergibt sich, dass die Zahl der Teilnehmer ungefähr 3000 gewesen sein muss, weil dieses Bauwerk für genau so viele Menschen Platz bieten konnte, Biermann ( wie Anm. 16 ) S. 13, 180. Mehrmals wurde die Vermutung geäußert, diese Kirche sei die basilica Portiana, deretwegen Ambrosius mit der Regierung Valentinians II. 385–386 im Streit lag ( ein Konflikt, der zu einer ernsten politischen Krise führte ). Sollte aber Portiana tatsächlich mit der heutigen Kirche San Lorenzo identisch sein ( welche offenbar völlig aus kaiserlichen Mitteln und am kaiserlichen Hof errichtet worden war ), warum musste sich dann der Kaiser ihrer fast mit Gewalt bemächtigen? Warum befand sich dieser kaiserliche Bau vor der Krise in den Händen des Bischofs von Mailand? Zu diesem viel diskutierten Konflikt um die Basilika ( oder sogar um zwei Kirchen ) s. zuletzt: Andrew Lenox-Conyngham, The Topography of the Basilica Conflict of A.D. 385/6 in Milan, in: Historia 31, 1982, S. 353–363; Ders., Juristic and Religious Aspects of the Basilica Conflict of A.D. 386, in: Studia Patristica 18, 1985, S. 55–58; Gunther Gottlieb, Der Mailänder Kirchenstreit von 385/386. Datierung, Verlauf, Deutung, in: Museum Helveticum 42, 1985, S. 37–55; Timothy D. Barnes, Ambrose and the Basilicas of Milan in 385 and 386. The Primary Documents and their Implications, in: Zeitschrift für antikes Christentum 4, 2000, S. 282–299 ( mit Begründung einer neuer Datierung und neuer Interpretation des politischen Wesens
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wohl über die Zeit der Errichtung dieses außergewöhnlichen Baus, als auch über den Anlass für den Bau und die Person des Auftraggebers wird seit Langem heftig diskutiert. Richard Krautheimer war der Auffassung, San Lorenzo sei 375–378 entstanden als Kathedrale der Homöer, die eine starke Partei in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers Valentinian II. darstellten 124. Unabhängig von dieser Meinung muss San Lorenzo zweifelsohne der kaiserlichen Repräsentation gedient haben. In der Epitome der des spanischen Bischofs Hydatius ( ca. 400–ca. 469 ) heißt es sogar, der einbalsamierte Körper Theodosius’ sei in San Lorenzo beerdigt worden. Diese Behauptung war natürlich falsch, könnte aber vielleicht ein Nachklang der Tatsache gewesen sein, dass der Leichnam des Kaisers hier öffentlich aufgebahrt wurde und/oder der Trauergottesdienst ebendort stattfand 125. Die heute noch erhaltenen feierlichen Propyläen aus korinthischen Kolonnen am Eingang zum großzügig angelegten Atrium ( wo Ambrosius möglicherweise neben dem Sarg von Theodosius stehend seine Rede gehalten hat ), könnten als eine sehr beeindruckende Kulisse für die Trauerfeierlichkeiten 395 gedient haben. Allerdings darf auch die dritte wichtige Mailändische Kirche nicht vergessen werden, die vom Bischof Ambrosius erbaute Kirche der Heiligen Apostel ( später San Nazaro ). In ihren symbolischen Ansprüchen übertraf diese Kirche alle Basiliken, die um die Stadt herum auf Kosten des Bischofs errichtet wurden – selbst die berühmte Ambrosiana. Mit ihrem auffallenden Grundriss in Form eines Kreuzes, dem nicht weniger auffallenden Patrozinium und Reliquien der Apostel Johannes, Andreas und Thomas ( die wahrscheinlich von keinem anderen als Theodosius selbst gestiftet waren ) erinnert die Mailänder Apostelkirche an das Apostoleion in Konstantinopel – jene Kirche, wo seit Konstantin Kaiser begraben wurden 126. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Ambrosius seine Kirche zu dem Zweck erbaute, dort einen Bestattungsort für Mitglieder der kaiserlichen Familie zu begründen 127. Für eine gewisse Rolle dieser Kirche im kaiserlichen Zeremoniell spricht aber nicht allein ihr Patrozinium, sondern auch der Platz selbst, welcher zur Errichtung dieses Baus gewählt wurde. Das Mailänder Apostoleion stand auf der via porticata, die den feierlichen Zugang in die Stadt darstellte: Die
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dieser Auseinandersetzung ); Marcia L. Colish, Why the Portiana? Reflections on the Milanese Basilica Crisis of 386, in: Journal of Early Christian Studies 10, 2002, S. 361–372. Als Einleitung in die bauhistorischen Probleme um San Lorenzo herum s. die Diskussion: Dale Kinney, The Evidence for the Dating of S. Lorenzo in Milan, in: The Journal of the Society of Architectural Historians 31, 1972, S. 92–107; Suzanne Lewis, San Lorenzo Revisited: A Theodosian Palace Church at Milan, in: The Journal of the Society of Architectural Historians, 32, 1973, S. 197–222. Das vorangehende Stadium der Erforschung der Kirche wird zusammengefasst in: Aristide Calderini – Gino Chierici – Carlo Cecchelli, La Basilica di S. Lorenzo Maggiore in Milano, Mailand [ 1952 ]. Krautheimer, Three Christian Capitals ( wie Anm. 121 ) S. 89–92; Ders., Early Christian and Byzantine Architecture ( wie Anm. 97 ) S. 79–81. Theodosius ualetudine metropis Mediolano defunctus est. Ann. regni sui septemo decimo aromatus sancti ecclesiae Laurencii sepultus est. – The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana. Two Contemporary Accounts of the Final Years of the Roman Empire, edited with an English translation by Richard W. Burgess, Oxford 1993, S. 154. Vgl.: Mark J. Johnson, On the Burial Places of the Theodosian Dynasty, in: Byzantion 61, 1991, S. 330–339, hier S. 331. Krautheimer, Three Christian Capitals ( wie Anm. 121 ) S. 80. Eine Prinzessin aus dem Haus Theodosius’ scheint dort doch begraben zu sein: Krautheimer, Early Christian and Byzantine Architecture ( wie Anm. 97 ) S. 82.
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Römische Straße war an beiden Seiten über eine Länge von mehr als einer Meile vor dem Stadttor mit Portiken geschmückt. Wenn der Kaiser in Mailand einzog, fuhr er zuerst durch den Triumphbogen 128 und dann zwischen zwei Kolonnaden hindurch, die sich rechts und links erstreckten bis zur Porta Romana. Genau in der Mitte dieser Prachtstraße stand auf der rechten Seite die Kirche der Heiligen Apostel 129. In unserem Fall könnte allerdings die Bewegungsrichtung nicht zum Stadtzentrum, sondern umkehrt – aus der Stadt hinaus – von nicht weniger Relevanz sein. Der einbalsamierte Körper Theodosius’ musste aus Mailand an die Ufer des Bosporus gebracht werden, um ebendort in der Kirche der Heiligen Apostel seine letzte Ruhe zu finden. Dieses Ziel wurde tatsächlich erreicht, aber erst am 8. November 130. Sollte der tote Kaiser mit dem Schiff transportiert werden, musste sein Weg aus Mailand zu den Häfen der italienischen Ostküste ( Ravenna u. a. ) von der Porta Romana beginnen. Sollte aber der Sarg den Soldaten der Einheiten anvertraut werden, die Stilicho gerade zurück nach Osten ziehen ließ, mussten diese Truppen unbedingt über Aquileia marschieren ( wo Theodosius wenige Monate zuvor Italien betreten hatte ); die Landstraße in Richtung Aquileia hatte aber auch ihren Anfang an derselben Porta Romana. Der tote Kaiser sollte direkt nach dem Ende der Rede von Ambrosius zu seiner letzten Reise aufbrechen: der Bischof kündigt dies selbst deutlich genug an 131. So wird verständlich, warum auch das Pferd des Honorius’ mit seinem Zaum zur allgemeinen Schau präsentiert wird – der junge Herrscher wird sich bald zusammen mit seinen Höflingen und einem Teil der kaiserlichen Truppen auf den Weg machen, um dem Körper seines Vaters Kondukt zu leisten. ( ‚Du weinst, Honorius, erlauchter Spross … Noch entbehrt ja die Leiche des Vaters der ehrenvollen Grabstätte und durch weite Fernen musst du sie überführen‘ ). Allerdings wird Honorius seinen Vater natürlich nicht bis zur ‚ehrenvollen Grabstätte‘ in der Apostelkirche der Reichshauptstadt begleiten: Er wird vielleicht aus dem Hafen, vielleicht aus Aquileia oder schon wesentlich früher, etwa nur ein paar Meilen ( oder ein paar Dutzend Meilen ) entfernt von Mailand wieder umkehren: ‚Du weinst auch deshalb, erlauchter Kaiser, weil du nicht selbst die ehrwürdigen Überreste nach Konstantinopel geleiten kannst.‘ 132 VIII. DER ZWEITE NAGEL
Der erste Nagel musste also in der Vorstellung des Ambrosius’ mit großer Wahrscheinlichkeit in ein Phylakterion für ein Pferd umgearbeitet worden sein. Bevor das Schicksal des zweiten Nagels verfolgt werden soll, stellt sich jedoch die Frage, wie viele Nägel es überhaupt gegeben haben könnte. Berichte der Evangelisten sind in diesem Punkt widersprüchlich: nach Lukas ( 24, 39–40 ) ergibt sich, dass sowohl die Hände als auch die Füße Jesu mit Nägeln durchbohrt wurden; Johannes ( 20, 25–27 ) lässt sich dagegen eher in dem Sinn verstehen, dass Jesus nur an den Händen Wunden von Nägeln hatte. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher einige frühere Autoren – einschließlich 128 129 130 131 132
Krautheimer, Three Christian Capitals ( wie Anm. 121 ) S. 69. Diese Rekonstruktion s. in: McLynn ( wie Anm. 100 ) S. 232. Otto Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr., Stuttgart 1919, S. 287. Sed iam veniamus ad augusti corporis transmissionem. – 54. Fles etiam, imperator auguste, quod non usque Constantinopolim reverendas reliquias ipse prosequeris. – 55.
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Ambrosius – erzählten, Helena ließe z w e i Nägel umwandeln, verrät m. E. ihre Prämisse, dass Christus nur an den Händen an das Kreuz geschlagen worden war 133. Im gleichen Sinn sind auch die frühesten erhaltenen visuellen Darstellungen der Golgatha-Kreuzigung konzipiert, wie eine Elfenbeinplatte aus Norditalien ( 420er oder 430er Jahren ) 134 ( Abb. 6 ), oder die 431–433 geschnitzten Holztüren der Kirche von Santa Sabina in Rom 135 ( Abb. 7 ). Eine ähnliche Ikonographie blieb auch später gefragt, wie z. B. der Einband des Codex Aureus von Echternach ( 9. Jahrhundert ) oder das Tor der Kirche von San Zeno in Verona ( ca. 1138 ) zeigen. Aber schon für den Sokrates Scholastikos scheint die Antwort auf die Frage, mit wie vielen Nägeln Jesus ans Kreuz geschlagen worden ist, nicht mehr so ganz selbstverständlich gewesen zu sein. Er fand es auf jeden Fall notwendig zu präzisieren, dass es in der Geschichte über die Herstellung des Helmes und des Pferdezaums um jene Nägel ging, ‚mit welchen die Hände Jesu‘ befestigt waren 136, ohne jedoch zu erklären, was mit den Nägeln für die Beine geschah, wenn es denn solche überhaupt gab. Rufinus und Theodoret sind in ihren Äußerungen etwas deutlicher: beide gehen wohl davon aus, dass es vier Nägel gewesen sind. So ließ Konstantin Rufinus zufolge den Zaum aus ‚einigen Nägeln‘ und den Helm aus den ‚anderen‘ herstellen 137, und Theodoret schreibt ähnlich: Helena befahl, einen ‚Teil der Nägel‘ für den Helm, und einen weiteren ‚Teil‘ für den Pferdezaum zu verwenden 138. Das war in der Ikonographie der Kreuzigungsszene seit dem 6. Jahrhundert sehr verbreitet und bleibt seitdem auch in der orthodoxen Welt bis heute noch maßgebend. Von Interesse für uns ist eine karolingische Miniatur, die nicht nur drei frisch ausgegrabene Golgatha-Kreuze darstellt, sondern auch je vier Nägel, die neben jedem der Kreuze sorgfältig ausgestellt werden ( Abb. 8 ). Aber etwa Johannes Malala ( ca. 491–578 ) war davon überzeugt, dass Helena fünf Nägel der Kreuzigung auffand 139. Im ältesten überlieferten Text der Kyriakoslegende ( der syrischen aus St. Petersburg, 5. Jahrhundert ), will Helena in den Besitz jener Nägel gekommen sein, die ‚in die Hände‘ Jesu geschlagen 133
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Doch verbreitete sich die Meinung im Mittelalter, die Kirchenhistoriker des 4.–5. Jahrhunderts seien davon ausgegangen, dass Helena den dritten Nagel für sich selbst behalten habe. Spätestens seit dem 6. Jahrhundert begann man in populären Legenden das Fehlen eines Nagels ( oder gar zweier Nägel ) auch damit zu erklären, dass Helena ihn ( sie ) ins Adriatische Meer warf, um einen gefährlichen Sturm zu beruhigen. Volbach ( wie Anm. 112 ) S. 82 f., Nr. 116. Tafel 61. Vgl.: Josef Engemann, Das Kreuz auf spätantiken Kopfbedeckungen ( cuculla – Diadem – Maphorion ), in: Theologia crucis – signum crucis. Festschrift für Erich Dinkler, Tübingen 1979, S. 137–153, hier S. 148. S. die neue Studie: Gisela Jeremias, Die Holztür der Basilika S. Sabina in Rom ( Bilderhefte des Deutschen Archäologischen Instituts Rom 7 ) Tübingen 1980. Kλ 3« %« ξ, θ ,« λ X µ µ / [ … ] – Socrates I, 17 ( Migne PG 67, Sp. 120 ). Johannes Chrysostomos spricht in einer Homilie auch klar über die mit Nägeln durchstoßenen Hände, erwähnt aber die Füße nicht, wohl voraussetzend, dass es zwei Nägel gewesen sein mussten. Clavos quoque, quibus corpus Dominicum fuerat affixum, portat ad filium. Ex quibus ille frenos composuit, quibus uteretur ad bellum: et ex aliis galeam nihilominus belli usibus aptam fertur armasse. – Rufinus I ( X ), 8. ( Migne PL 21, Paris 1841, Sp. 477 ). S. oben, Anm.79. [ … ] µ 7µ ! µ ! $ % – Ioannis Malalae Chronographia, hg. von Ioannes Thurn ( Corpus fontium historiae Byzantinae, Series Berolinensis 35 ) Berlin – New York 2000, S. 245 ( XIII, 5 ).
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worden waren 140, während die nächst älteste Handschrift ( auch syrisch, aber aus London, um 500 ) schon die Lesart ‚in die Hände und Füße‘ aufweist 141. Die Frage nach der Anzahl der Nägel, mit denen Jesus am Kreuz befestigt war, blieb unter Theologen während des gesamten Mittelalters und sogar in der Moderne strittig 142. Das heute so vertraute <westliche> ikonographische Schema der Kreuzigung mit drei Nägeln erscheint erst im 12. Jahrhundert, verdrängt aber im lateinischen Europa aus theologischen Gründen schon im 13. Jahrhundert die früheren Konzepte 143. Wie auch immer der Fall liegt, gelangte der zweite zur ‚Verehrung‘ und nicht bloß zur ‚Verzierung‘ bestimmte Nagel laut der Version des Ambrosius’ nicht in einen Helm sondern in einen Kranz. Helm durch Kranz zu ersetzen, war schon allein deswegen vernünftig, weil die Reliquie das Haupt des zehnjährigen Knaben schmücken musste, der sich bisher noch an keiner Schlacht beteiligt hatte. In der Rede Ambrosius’ blieb jedoch die gesamte Argumentation der ursprünglichen Legendenversion, in welcher es sich nicht um ein Diadem, sondern um einem Helm handelte, beibehalten: ‚Selig Konstantin ob einer solchen Mutter, die ihrem kaiserlichen Sohne ein Mittel aus Gottes Gnadenhand verschaffte, durch welches er selbst mitten im Schlachtengewühl sicher 140 141 142
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Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 50, 68. Straubinger ( wie Anm. 82 ) S. 43; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 49, 69. Die Gegenstände, welche von den Gläubigen als Nägel vom Golgathakreuz verehrt werden, können keinesfalls helfen, die Frage nach ihrer ursprünglichen Anzahl zu lösen. Es sind heute mehr als 30 solcher Artefakte bekannt, die in Rom, Paris, Wien, Prag, Trier, Florenz, Venedig, Mailand, Monza, Aachen, Nürnberg, Bamberg, Escorial, Moskau und weiteren Orten aufbewahrt werden. In bestimmtem Sinn können sie alle theoretisch sein, weil man im Mittelalter die sehr effiziente Technologie der Reliquienvermehrung beherrschte. Es reichte, nur ein Teilchen des <echten> Nagels in einen etwa neu fabrizierten Nagel einzuschmieden, damit letzterer alle Qualitäten der Ausgangsreliquie erwarb. Die Übertragung solcher Qualitäten war aber auch in Folge des engen physischen Kontakts zwischen und durchaus möglich. Ein bekanntes Beispiel einer erfolgreichen Reliquienmultiplikation stellt die Krakauer Kopie der dar – auch mit einmontiertem Kreuzesnagel. Otto III. ließ sie für den polnischen Fürsten Bolesław Chrobry vom Original herstellen, das sich heute unter den Reichsinsignien in Wien befindet. Als Einführung in dieses viel diskutierte Thema s.: Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik ( Schriften der MGH 13 ) Stuttgart 1954/1978, 2, S. 492–537. Weder schriftliche noch ikonographische Quellen liefern Angaben darüber, ob die Füße der Gekreuzigten überhaupt angenagelt wurden, und wenn ja, auf welche Art und Weise und mit wie viel Nägeln: Joseph William Hewitt, The Use of Nails in the Crucifixion, in: The Harvard Theological Review 25, 1932, S. 29–45. Archäologen verfügen bisher nur über den einzigen Fund von Überresten eines Gekreuzigten aus der hellenistisch-römischen Antike, der zum Vergleich mit den spärlichen schriftlichen Nachrichten herangezogen werden kann: er wurde 1968 in einem Grab im Nordosten Jerusalems gefunden und in die erste Hälfte oder Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. ( vielleicht 52–60 ) datiert. Beide Füße des Gekreuzigten waren von e i n e m Nagel durchbohrt, wobei er zuerst durch das rechte und dann das linke Fersenbein ging. Der Nagel selbst ist erhalten geblieben, wobei seine ursprüngliche Länge nur 11,5 cm beträgt: wegen dieser Kürze konnte er wohl kaum in das harte Holz des Kreuzes geschlagen werden: Heinz-Wolfgang Kuhn, Der Gekreuzte von Givcat ha-Mivtar. Bilanz einer Entdeckung, in: Theologia crucis – signum crucis. Festschrift für Erich Dinkler zum 70. Geburtstag, hg. von Carl Andresen und Günter Klein, Tübingen 1979, S. 303–334, besonders S. 308–310, 315, 322 f. Ausführlich dazu: Karl-August Wirth, Die Entstehung der Drei-Nagel-Cruzifixus, seine typengeschichtliche Entwicklung in Frankreich und Deutschland bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Diss. Masch., Frankfurt am Main 1953; Ders., Art., , in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 4, 1958, Sp. 534 f.; Gérard Cames, Recherches sur les origins du crucifix à trois clous, in: Cahiers Archeologiques 16, 1966, S. 185–202.
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war und keine Gefahr fürchten brauchte.‘ 144 Das Diadem passt aber überhaupt nicht zum ‚Schlachtengewühl‘, wobei der Pferdezaum bestenfalls nur zum Teil passen würde: ist er doch dazu geeignet, Unglück eher vom Pferd als vom Reiter abzuwehren. Der eben zitierte Satz ergibt also nur dann Sinn, wenn hier ursprünglich der Helm und nicht das Diadem gemeint wurde und stellt folglich einen klaren Überrest der früheren dar. Diese winzige Kleinigkeit ist für uns von großer Relevanz, weil sie dafür spricht, dass Ambrosius nicht bloß bescheidener Fortführer einer uns sonst unbekannten Tradition war, in welcher anstatt des kaiserlichen Helms ein kaiserlicher Kranz vorkam. Er tritt hier selbst als souveräner Begründer eben dieser Tradition hervor. Daher entsteht natürlich sofort der Verdacht, Ambrosius war überhaupt der allererste, dem einfiel, ein Diadem mit dem heiligen Kreuzesnagel zu versehen 145. Sobald Ambrosius die Passionsreliquie nicht in einen Helm, sondern in ein Diadem platziert, beraubt er sie ihrer ursprünglichen Funktion des militärischen Amuletts, welche seinen Zuhörern aus dem kaiserlichen Heer durchaus verständlich gewesen sein musste. Vielleicht deswegen hatte er hier für eine neue Begründung einer solchen Anwendung des Kreuzesnagels zu sorgen: von hier an betritt der Redner den riskanten Weg des politisch-symbolischen Experimentierens. Ambrosius fängt mit der Rechtfertigung von Helenas Handlungen an: der Bischof war offenbar nicht so sicher, dass die Manipulationen Helenas mit den Christusreliquien bei seinen Zuhörer unbedingt Verständnis finden würde: Als Helena die Häupter der Könige mit dem Kreuz versah, tat sie das nicht aus Hochmut ( insolentia ), sondern aus Frömmigkeit ( pietas ). Mehr noch: Helena handelte weise ( sapienter ), denn die Verehrung der Könige wurde jetzt zur Verehrung des Kreuzes in den Königen 146. Dieses Argument ist genauso überraschend wie auch raffiniert. Im selben Satz macht Ambrosius einen neuen, unauffälligen aber wichtigen Zug: er setzt das H o l z und den in dieses Holz eingeschlagenen N a g e l gleich: beide erscheinen als , und zwar im gleichen Maß 147. Die Identität der erlösenden Qualitäten von Metall und Holz konnte den Zuhörern des Ambrosius nicht unbedingt als selbstverständlich erscheinen; darüber könnten bei ihnen zumindest bestimmte Fragen oder sogar Zweifel entstehen. Gerade deswegen postuliert der Redner diese Gleichheit apodiktisch, allerdings bereitet er rhetorisch diese These schon zwei Sätze früher vor, als er eine neue Begrifflichkeit entwickelt, indem er vom ‚Eisen des Kreuzes‘ ( ferrum crucis ) spricht – eine klare Spiegelung der Wendung ‚Holz 144
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Beatus Constantinus tali parente, quae imperanti filio divini muneris quaesivit auxilium, quo inter proelia quoque tutus adsisteret et periculum non timeret. – 41. Dass dieser Satz den Nachhall der ursprünglichen Erzählung vom Helm beibehielt, ist auch zu Recht bemerkt in: Sordi, Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 50 ) S. 885. Die gegensätzliche Schlussfolgerung wird gemacht in: ebd., S. 888: „ … è a mio avviso estremamente improbabile che essa sia una sua invenzione“. Ambrosius soll sich auf eine Tradition stützen, welche sich am Mailänder Hof schon früher gestaltete. Das Diadem mit dem heiligen Nagel wurde einerseits für die Legitimierung der neuen kaiserlichen Dynastie, welche die Dynastie Konstantins ablöste und zweitens im Zusammenhang mit der Verlegung der Residenz nach Mailand hergestellt. Beides soll auf die Regierungszeit Valentinians I. ( 364–375 ) hinweisen. Die Umwandlung des Helms in ein Diadem soll daher den Übergang von der christlichen D y n a s t i e Konstantins zum christlichen R e i c h a l s p o l i t i s c h e r I n s t i t u t i o n bedeutet haben. Ebd., S. 891 f. Sapienter Helena, quae crucem in capite regum locavit, ut Christi crux in regibus adoretur. Non insolentia ista, sed pietas est, cum defertur sacrae redemptioni. – 48. Engemann nimmt an, man meinte hier die äußere ( kreuzartige ) Form der Reliquie, schließt aber auch die hier bevorzugte Interpretation nicht aus: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144.
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des Kreuzes‘ ( lignum crucis ). Aber warum musste sich dieses ferrum crucis unbedingt auf dem Kopf des Kaisers befinden, warum nicht etwa an dessen Brust hängen, wie die Talismane bei vielen Soldaten, welche in militärischer Ordnung vor Ambrosius stehen mussten, aber bestimmt auch bei den ihn umgebenden Höflingen und Klerikern 148? Der Bischof erklärt: ‚Mit Recht ruht der Nagel auf dem Haupte, damit dort, wo der Verstand ( sensus ) thront, auch Schutz ( praesidium ) herrsche‘ 149. Dieser Teil des heiligen Kreuzes hört also nicht auf, als Phylakterion zu dienen, als ob er immer noch im Helm verbleiben würde. Dieses Phylakterion behütet aber seinen Besitzer nicht vor Waffen, sondern vor Anschlägen auf seinen Verstand ( wie man das polysemantische Wort sensus übersetzten darf ), d. h. vor dem so gefürchteten ‚Bösen Blick‘ 150, wie auch anderen dunklen Kräften, sei es unter heidnischem oder unter christlichem Namen. Der vorangehende Satz von Ambrosius erhebt aber das Diadem mit der Christusreliquie hoch über übliche Phylakterien und misst ihm fast universelle, ja kosmische Relevanz bei: ‚Ein Gut ist also dieser Nagel des Römischen Imperiums, der den ganzen Erdkreis beherrscht und die Stirne der Kaiser schmückt, so dass diejenigen jetzt Prediger sind, die so oft Verfolger waren‘. Von einem ‚Nagel des Römischen Imperiums, der den ganzen Erdkreis beherrscht‘ hat man weder vor Ambrosius noch nach ihm etwas gehört. Als Allererster unternahm er also den Versuch, eine c h r i s t l i c h e S t a a t s r e l i q u i e zu kreieren und ihr institutionelle Relevanz beizumessen. Diese durchaus revolutionäre Neuerung des Mailänder Bischofs wurde von Historikern bis heute nicht richtig bewertet, ja überhaupt nicht bemerkt – wahrscheinlich deswegen, weil seine Initiative in den nachfolgenden Jahren weder unterstützt noch weiter entwickelt wurde. Trotz dieses Mangels an sichtbarem Erfolg verdienen Kühnheit und Erfindungsgabe des Mailändischen Bischofs vollen Respekt. Sein ‚Nagel des Imperiums‘ war zweifelsohne eine höchst wertvolle Reliquie: nur dank ihr – so Ambrosius – entstand das christliche Kaiserreich und es war diese Reliquie ( und nicht etwa der Kaiser ), die jetzt ‚in der ganzen Welt regiere‘ ( totum regit orbem ). Ein solches Artefakt musste bestimmt über gewaltige politische Kapazität verfügt haben. Ambrosius lenkte die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer weg vom Knaben im kaiserlichen Gewand hin zum sakralen Gegenstand, der sich im Besitz dieses Knaben befand, ja dessen Kopf schmückte. Die offensichtliche Tatsache, dass die Persönlichkeit des jungen Kaisers nicht besonders überzeugend wirkte, durfte keinen Grund zur Besorgnis über die Zukunft des Reiches zulassen, weil sie nicht nur von diesem Kind, sondern auch vom wunderbaren ‚Nagel des Imperiums‘ abhing, der 148
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Brustkreuze mit eingeschlossenen Reliquien tauchen erst im 5. Jahrhundert auf. Doch wurden Enkolpionen anderer Formen seit frühester Zeit getragen. Im 4. Jahrhundert pflegten schon mehrere Christen Kreuze ( allerdings ohne Reliquien ) um den Hals zu haben. Sobald man in den Besitz von Reliquien gekommen war, trug man sie in einer runden Kapsel ( bulla ) um den Hals. S. dazu: Otto Nussbaum, Das Brustkreuz des Bischofs. Zur Geschichte seiner Entstehung und Gestaltung, Mainz 1964, S. 12 f., 19. Ambrosius verwendet das Wort praesidium noch an zwei weiteren Stellen seiner Rede, und in demselben Sinn. An ihrem Anfang ( 2 ) spricht er von vielen, die mit dem Tod Theodosius’ seines väterlichen Schutzes beraubt wurden: Sed plurimos tamquam paterno destitutos praesidio dereliquit [ … ], und später ( 15 ) davon, dass Theodosius beim Herrn den besten Schutz für seine Söhne sichern werde: Quis ergo dubitabit filiis eius apud dominum maximum praesidium fore? Zu dem spätantiken ‚Bösen Blick‘ und den Abwehrmitteln gegen ihn s. ausführlich: Josef Engemann, Zur Verbreitung magischer Übelabwehr in der nichtchristlichen und christlichen Spätantike, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 18, 1985, S. 22–48.
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durchaus fähig war, die notwendige Regimentsqualität selbst bei einem minderjährigen Reichsoberhaupt zu gewährleisten. Sollte Ambrosius tatsächlich eine solche Motivation für die Erfindung des ‚Reichsnagels‘ gehabt haben, wäre das sehr aussagekräftig in Bezug darauf, wie seine Zeitgenossen die Staatsordnung wahrgenommen haben. In der allgemeinen Vorstellung erschien die Regierung offenbar nicht institutionell, sondern personifiziert und das Reich wurde eher als die Erweiterung der Persönlichkeit des Reichsoberhauptes verstanden. Die Aufgabe Ambrosius’ bestand aber gerade darin, dieses Bild nach Möglichkeit zu depersonalisieren. Heute – wie auch schon etwa in der Frühen Neuzeit – hätte man für den gleichen Zweck wohl am einfachsten auf das System der staatlichen Institutionen hinweisen können, das selbst dann noch imstande ist, für das bonum publicum durchaus erfolgreich zu sorgen, wenn das Staatsoberhaupt völlig regierungsunfähig wäre. Die Tatsache, dass Ambrosius in seiner Rede nicht auf die Effizienz des Staatsapparates verweist, ist wohl als indirekter Beweis dafür zu verstehen, in welchem Zustand sich dieser Apparat zu seiner Zeit befand. Auf jeden Fall mussten Menschen niederen Standes, wie etwa Soldaten, keine besonderen Erwartungen in die Effizienz der Regierungsbürokratie gesetzt haben, sonst hätte der Redner diese Erwartungen mit entsprechenden Worten bestärkt. Die Genialität Ambrosius’ besteht aber gerade darin, dass er in der Erkenntnis der Soldatenmasse einen ganz anderen Weg zur Depersonifizierung der Macht gefunden hatte: die offensichtliche Schwäche der Herrscherpersönlichkeit wird bei ihm durch Mystifizierung seiner Machtbefugnisse, durch Herstellung einer direkten Verbindung zwischen ihm und dem Herrn des ganzen Universums ausbalanciert – und das alles nur mit Hilfe der heiligsten aller Reliquien, der des Echten Kreuzes. Allerdings musste Ambrosius seine revolutionären politisch-religiösen Konstruktionen vor dem Hintergrund vollständiger Unkenntnis seitens des großen ( vielleicht sogar des größten ) Teils seiner Zuhörer über den Tatbestand entwickeln, dass die Kreuzreliquien überhaupt gefunden worden waren: noch etwa im Jahre 430 wurde die Nachricht davon für Sulpicius Severus zur echten Sensation. Gerade angesichts dieser allgemeinen Unkenntnis war Ambrosius gezwungen, die Geschichte der ruhmreichen Entdeckung Helenas so ausführlich wie möglich zu erzählen. Er musste am Anfang beginnen und selbst den besonderen Sinn der Kreuzverehrung erklären, der offenbar vielen anfangs unklar blieb: Helena ‚betete den König, nicht fürwahr das Holz an; denn das wäre heidnischer Wahn und gottloser Aberglaube. Den vielmehr betete sie an, der am Holz gehangen …‘ 151. Der Bischof hatte also für den abschließenden Teil seiner Rede die sensationelle Nachricht wie auch die öffentliche Enthüllung des großen Staatsgeheimnisses aufgespart: die von der frommen Helena gefundenen Kreuzreliquien hatten sowohl ihren Sohn Konstantin als auch seine Nachfolger auf dem römischen Thron zum Christentum bekehrt. Es waren also diese Kreuzreliquien, die zur Entstehung des christlichen Kaiserreiches geführt hatten. Und dieselben Reliquien ‚regierten die Welt‘ auch jetzt, selbst wenn sich das kaiserliche Zepter in der Hand eines Kindes befand. Jeder even151
[ … ] regem adoravit, non lignum utique, quia hic gentilis est error et vanitas impiorum, sed adoravit illum, qui pependit in ligno [ … ] – 46.
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tuelle Versuch, die Kontinuität der Reliquienübergabe von Konstantin zu Theodosius und jetzt zu Honorius zu unterbrechen, hätte bedeutet, die ganze Existenz des christlichen Reiches in Frage zu stellen. Ambrosius ruft hier nicht Honorius dazu auf, seine Treue zum Christentum zu bewahren, wie es immer wieder in der Fachliteratur behauptet wird. ( Nach dem Sieg über Eugenius, welcher von der <östlichen> Propaganda als Gönner des Heidentums gebrandmarkt wurde, wäre der Übergang Honorius’ zur völlig unvorstellbar ). Ambrosius schüchterte hier die christlichen Soldaten ein ( und zwar nicht nur die Anhänger der offiziellen Nicäaner Orthodoxie, sondern auch gleichermaßen die wohl in großer Zahl anwesenden ) mit der Möglichkeit einer Rückkehr der heidnischen Kaiser und vielleicht der Wiederaufnahme der Christenverfolgung für den Falle, dass das Heer seine von ihm erwartete Unterstützung für den jungen Honorius selbst mit Besitz seiner heiligen Reliquien verweigere. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung kann ich auch die folgenden Passagen Ambrosius’ nicht als didaktisch betrachten: ‚Doch ich frage: Warum steht auf dem Zaume, wenn nicht um dem Übermut der Kaiser einen Zügel anzulegen? Um die Ungebundenheit der Tyrannen zu bändigen, die sonst wie lüstern wiehernde Hengste sich gebärden würden, weil es ihnen freistünde, ungestraft Ehebruch zu treiben 152? Was für Schandtaten sind uns von Männern wie Nero, wie Caligula und von anderen bekannt, denen kein auf dem Zaume stand? Was anders bezweckte Helena mit ihrem Bemühen um die Führung der Zügel, als gleichsam kraft des Heiligen Geistes allen Herrschern zuzurufen: „Seid nicht wie Pferd und Maultier!“ ( Ps 31, 9 ); ihre Backen vielmehr in Zaum und Zügel zu legen, falls sie sich nicht zu dem Zweck als Könige fühlten, um ihre Untertanen zu leiten?‘ 153.
Welcher politische Sinn bestünde darin, öffentlich dem zehnjährigen Honorius solche abstrakten Belehrungen zu geben? In der Tat belehrt der Redner hier den augusteischen Knaben gar nicht: er wendet sich an das Heer mit dem Versprechen: der neue Kaiser wird unter keinen Umständen zu einem neuen Nero oder Caligula ( die auch im jungen Alter an die Macht gelangten ), er wird also nicht zum Tyrann und zwar gerade deswegen, weil er im Besitz der heiligen Reliquien ist und sie ihn vor einer Entwicklung in dieser Richtung absichern. Man hat also keinen Grund, bei der Komposition der Trauerrede von einer Inkongruenz zu sprechen: alle ihre Teile folgen einander durchaus logisch, wobei der gesamte Text völlig dem Hauptziel untergeordnet ist. Dieses Ziel besteht allerdings nicht etwa in einer akademischen Auslegung der politisch-theologischen Theorien Ambrosius’ und nicht in der öffentlichen Belehrung des jungen Kaisers, sondern einfach darin, das mächtige Heer auf die Seite Honorius’ zu bringen. Der Bischof fängt mit einigen zivilrechtlichen Argumenten an und erhebt sich schließlich mit Hilfe der Passionsreliquien zu Argumenten des Glaubens und des Wunders. Ambrosius wählte schon vorher den alttestamentarischen Propheten Nathan zu seinem Vorbild. Aber das Letzte, 152 153
Über die Geschichte der Metapher s.: Villari ( wie Anm. 102 ). Sed quaero: Quare sanctum super frenum, nisi ut imperatorum insolentiam refrenaret, conprimeret licentiam tyrannorum, qui quasi equi in libidines adhinnirent, quod liceret illis adulteria inpune committere? Quae Neronum, quae Caligularum ceterorumque probra conperimus, quibus non fuit sanctum super frenum! Quid ergo aliud egit Helenae operatio, ut frena dirigeret, nisi ut omnibus imperatoribus sancto dicere spiritu videretur: Nolite fieri sicut equus et mulus, sed in freno et camo maxillas eorum constringeret, qui se non agnoscerent reges, ut regerent sibi subditos? – 50 f.
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was Nathan ausführte, war die Übergabe des Königreiches vom sterbenden David an Salomo, obwohl Adonia schon in Begriff war, die Macht an sich zu reißen 154. Die ganze lange Geschichte von der Auffindung des Echten Kreuzes war notwendig, um den unkundigen Zuhörern zu erklären, welchen Ursprung die heiligen Reliquien hatten, die Ambrosius feierlich seinem Publikum präsentierte. Die Reliquien waren aber nötig, um das Recht ihres jungen Besitzers auf Kaiserwürde und Macht in der westlichen Hälfte des Reiches unbestreitbar zu machen. Es kann also keine Rede von einem erst nachträglich in den Text der Trauerrede eingefügten selbstständigen Fragment mit der Helenalegende sein. Daraus ergibt sich aber noch nicht, dass Ambrosius seine Rede überhaupt nicht nachgearbeitet hätte. Man kann wohl doch auf mindestens eine Spur späterer redaktioneller Arbeit hinweisen. Es handelt sich allerdings nur um eine vorsichtige Korrektur, was die Hoffnung ermöglicht, dass Ambrosius auch in anderen Fällen seinen ursprünglichen Text auch eher schonend für die Veröffentlichung nachbesserte. Seine Korrektur besteht meiner Meinung nach im Hinzufügen der letzten beiden Sätze in die Passage über die Juden, welche durch das Auffinden des heiligen Kreuzes in außerordentliche Verstimmung kamen 155. Nach all ihren Klagen, die mit den Worten ‚wie werden wir den Königen widerstehen? Vor dem Eisen seiner Füße beugen sich die Könige‘ zu Ende kommen, erscheinen plötzlich zwei Thesen, die in einem ganz anderen Stil gehalten sind: ‚Die Könige beten ihn an, und die Photinianer wollen seine Gottheit leugnen! Den Nagel seines Kreuzes tragen die Kaiser an ihrem Diadem, und die Arianer wollen seine Macht schmälern!‘ 156 Die Juden demonstrieren hier nicht nur verblüffende Kenntnisse der konkurrierenden Strömungen im Christentum, sie ironisieren noch über jene, die von den Nicäanischen Dogmen abwichen. Der Mangel an Logik vom heutigen Standpunkt aus gesehen bedeutet bei weitem noch nicht, dass Ambrosius eine eigene Logik fehlte. Diese ist jedoch leicht zu erraten: das Auffinden der Kreuzreliquien bedeutete eine Beschämung der Gegner des wahren Glaubens, zu welchen sowohl Juden als auch alle Arten von antinicäanischen Ketzern gezählt werden müssen. Ambrosius konnte aber am Sarg von Theodosius diese zwei kurzen Sätze zur Verurteilung der Ketzer selbst aus dem Mund von Juden in der Tat nicht laut aussprechen – schon deswegen nicht, weil unter seinen Zuhörern gerade diejenigen in großer Zahl anwesend waren, die er als Arianer brandmarkte. Zu ihnen gehörte bekanntlich auch der Regent Stilicho und die Beziehungen zu ihm zu verderben, gehörte keinesfalls zu den ureigenen Interessen des Bischofs. Ambrosius war zu dieser Zeit schon allgemein als militanter Gegner aller theologischen Auslegungen bekannt, die im Widerspruch mit den Nicäanischen Auslegungen standen. Diese seine Einstellung benötigte von ihm 154 155
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1 Kön 1, 5–53. Das antijüdische Motiv wurde wohl bald nach der Regierung Julians Apostata ( 361–363 ) in den Stoff der Helenalegende aufgenommen, der eine judenfreundliche Politik führte und sogar Schritte zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels unternahm. Heid ( wie Anm. 43 ) S. 69. Quomodo regibus resistemus? Ferro pedum eius reges inclinantur. Reges adorant, et Photiniani divinitatem eius negant! Clavum crucis eius diademate suo praeferunt imperatores, et Arriani potestatem eius inminuunt! – 49. In seiner Edition versuchte Faller, die Unlogik dieser Stelle mit Hilfe der Interpunktion zu überwinden: er setzte die die Lamentationen der Juden abschließenden Anführungszeichen zu früh: schon nach dem Satz über die Könige, die sich vor dem Eisen der Füße Christi neigen. Der Kritik an Juden und Häretiker wird praktisch die zentrale Stelle in der ganzen Rede zugeschrieben in: Heinen ( wie Anm. 40 ) S. 91–93.
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kein weiteres öffentliches Bekennen. Es wäre aber äußerst unangebracht, interkonfessionelle Auseinandersetzungen zumal in so aggressiver Form gerade in dem gefährlichen Moment zu schüren, als die Macht des verstorbenen Theodosius nach Möglichkeit reibungslos an seine schwachen Söhne Arcadius und Honorius übergeben werden sollte. Unter den Zuhörern des Bischofs mussten auf einer Seite viele Mailändische Geistliche und Bürger gewesen sein (die meisten waren Anhänger der Nicäaner), auf der anderen Seite waren aber viele antinicäisch Gesinnte unter den Soldaten, deren Wohlwollen unter den aktuellen Umständen von vorrangigem Wert war. Die Instrumentalisierung der Kreuzreliquien, die für die beiden streitenden Richtungen im Christentum gleichermaßen von außerordentlicher Relevanz waren, musste als Ziel nicht die Spaltung gehabt haben, sondern im Gegenteil die Vereinigung aller Anwesenden um die Person des zehnjährigen Sohnes von Theodosius, unabhängig von ihrer Konfession. Etwas später, als der riskante Moment des Machtübergangs vorbei war und die Regierung Honorius’ und Stilichos sich schon sicher fühlte, konnte es sich Ambrosius (der sich inzwischen faktisch von den Hofangelegenheiten distanziert hatte) erlauben, einen kleinen antiketzerischen Strich rückwirkend in den Text seiner Rede einzufügen. IX. DAS
Wie radikal die Neuerung im Bereich des politischen Symbolismus war, die Ambrosius 395 wagte, lässt sich erst richtig einschätzen, wenn man berücksichtigt, dass ( soweit bekannt ) weder römische Kaiser noch barbarische Häuptlinge sich mit irgendwelchen Kränzen schmückten und ganz besonders nicht mit solchen, die Amulette enthielten, sei es heidnischer oder christlicher Art 157. Es ist hier natürlich nicht der richtige Platz, die spätrömische Praxis ausführlich zu schildern, wie Kränze oder auch Diademe im Allgemeinen und etwa im Besonderen Verwendung fanden, zumal diese Praxis recht vielfältig war. Kränze wurden zwar ständig in Heirats- wie auch Begräbnis- und Gedenkriten benutzt, sie galten aber zugleich als Symbole des Sieges 158. Gerade in dieser letzten Deutung wurde der Kranz in die frühchristliche Rhetorik und Ikonographie übernommen, die später auch maßgeblichen Einfluss auf die Symbolik der mittelalterlichen Kronen ausübte. Vom Königskranz als Zeichen des Triumphes über die Feinde redeten sowohl Hinkmar von Reims 159 als auch Krönungsordnungen aus der spät- und postkarolingischen Zeit. Beim ganzen Reichtum an Sinndeutungen und Assoziationen, die von Zeitgenossen Cäsars, Konstantins oder Theodosius in Diademen und anderen Kränzen bewusst oder unbewusst wahrgenommen wurden, musste für sie jede der Besonderheiten dieser Insignien keine spezifische symbolische Relevanz gehabt haben.
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S. die inzwischen schon etwas veraltete Studie: Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 2 Bde., Würzburg 1942, hier 2, S. 57–82, wie auch die neuen Überblicke: Helmut Castritius, Art., , in: RGA 17, 2001, S. 381–384; Matthias Hardt, Art.; , in: ebd., S. 389–392; Ders., Art., , in: ebd., 14, 1999, S. 457–466. Karl Baus, Der Kranz in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Tertullians, Diss., Bonn 1940. Eichmann ( wie Anm. 157 ) 2, S. 58.
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Für die allgemeine Einstellung der Römer den Kränzen gegenüber, mit denen man ihre Kaiser zu krönen pflegte, ist wohl die Stelle bei Ammianus Marcellinus aussagekräftig, wo er die Kaisererhebung Julians Apostata 360 beschreibt. Seine Soldaten stellten ihn auf einen Schild, hoben ihn in die Höhe und riefen ihn zum Kaiser aus. Dann forderte man ihn auf, sich ein Diadem bringen zu lassen. ‚Auf seine Versicherung, ein solches nie gehabt zu haben, begehrte man etwas von dem Halsoder Kopfschmuck seiner Gemahlin. Dagegen wendete er ein, die Anwendung von Weiberputz möchte nicht die beste Vorbedeutung für einen Regenten sein und so sah man sich nach einem Pferdeschmuck um: gekrönt sollte er einmal sein, um dadurch eine, wenn auch unvollkommene Vorstellung von seiner höheren Würde auszudrücken. Allein auch dieses verwarf er als unanständig und so nahm sich endlich ein gewisser Maurus ein Herz und legte den Torques, den er als Fahnenträger am Hals trug, dem Julian aufs Haupt.‘ 160
Nicht nur weiblicher Schmuck, sondern auch phalerae für Pferde konnten demzufolge ohne Weiteres in kaiserliche Kränze umfunktioniert werden – und das wohl nicht allein aus jenem Grund, dass das Heer Julians zum größten Teil aus Germanen bestanden haben muss. Selbst wenn seine Legionäre keine große Kenner der Reichssymbolik waren, erschien die begeisterte Improvisation des Fahnenträgers Maurus so gut für sie passend, dass die Krönung des neuen Kaisers mit einem Torques bald zur festen römischen und später byzantinischen Tradition wurde. Römische Münzen erlauben uns auch nicht, Kränze festzustellen, welche einen besonderen symbolischen Wert für ihre Besitzer gehabt haben konnten: ein und derselbe Herrscher konnte sich in ganz verschiedenen – sowohl tatsächlich existierenden, wie auch imaginierten – Kränzen darstellen lassen, wobei man heute kaum irgendein System darin erkennt, warum diese oder jene Kranzesform unter Umständen bevorzugt oder vernachlässigt wird. Das goldene Diadem geschmückt mit Juwelen scheint erst von Konstantin zum o f f i z i e l l e n Attribut der Kaisermacht erhoben worden zu sein 161. Aber selbst er entschied schließlich – wenn man seinen Darstellungen auf Münzen glaubt –, vom königlichen Diadem zum goldenen Kranz – dem Attribut nicht eines Königs, sondern eines Triumphators – zurückzukehren 162. Die Nachfolger Kon160
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[…] iubebatur diadema proferre, negansque umquam habuisse, uxoris colli vel capitis poscebatur. Eoque adfirmante primis auspiciis non congruere aptari muliebri mundo, equi phalerae quaerebantur, uti coronatus speciem saltem obscuram superioris praetenderet potestatis sed cum id quoque turpe esse adseveraret, Maurus nomine quidam […] abstractum sibi torquem, quo ut draconarius utebatur, capiti Iuliani inposuit confidenter. – Ammianus Marcellinus, Res Gestae a fine Corneli Taciti. XX, 4, 17–18. Deutsche Übersetzung nach: Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, übersetzt von Ludwig Troß und Carl Büchele, Stuttgart 1853, S. 329 f. mit einigen Korrekturen. Richard Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts von Constantinus Magnus bis zum Ende des Westreiches ( Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 8 ) Berlin – Leipzig 1933, S. 56–62; Andreas Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, S. 158 f. Über die Geschichte der königlichen Kopfbinde s. vor allem: Hans-Werner Ritter, Diadem und Königsherrschaft. Untersuchungen zu Zeremonien und Rechtsgrundlagen des Herrschaftsantritts bei den Persern, bei Alexander dem Großen und im Hellenismus (Vestigia 7) München – Berlin 1965. Gegen die vorherrschende Meinung Ritters nach dem persischen Ursprung des Diadems tritt Andreas Alföldi mit der Behauptung hervor, es habe genuin hellenische Wurzeln und war „als agonistisches Kennzeichen der Hervorragendesten“ zuerst eine Siegerbinde: Andreas Alföldi, Zur Geschichte der Herrscherbinde in Griechenland und Rom, in: Ders., Caesar in 44 v. Chr., 1: Studien zu Caesars Monarchie und ihren Wurzeln, aus dem Nachlaß hg. von Hartmut Wolff, Elisabeth Alföldi-Rosenbaum und Gerd Stum (Antiquitas 3, 16) Bonn 1985, S. 105–132. Die Gegenargumente Ritters s. in: Hans-Werner Ritter, Die Bedeutung des Diadems, in: Historia 36, 1987, S. 290–301. Weiter s. vor allem: Nikolaus Gussone –
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stantins pflegten allerdings gern Diademe verschiedener Art zu benutzen, und das diadema gemmis insignitum, von dem Ambrosius spricht und welches er – wie ich vermute – dem Publikum auf dem Haupt Honorius’ zeigte, muss demselben Typ Kopfschmuck angehört haben. Wie konnte nun diese – in der europäischen Geschichte erste – Heilige Krone ausgesehen haben – also das , das Ambrosius entweder tatsächlich vorfand oder mit neuen symbolischen Deutungen bereicherte oder aber vielleicht sogar selbst neu herstellen ließ? Schmiedete man aus dem heiligen Eisen ( vielleicht unter Hinzufügung ganz üblichen Metalls ) einen dünnen Reifen, in welchen Juwelen eingefasst wurden? Oder war das Diadem selbst aus Gold, wobei seine Einzelglieder an der Innenseite mit einem eisernen Reifen zusammengehalten wurden ( eine inzwischen schon alte Vermutung, die aber zuletzt etwa von Marta Sordi wieder geäußert wurde ) 163? Das Aussehen des typischen Kopfschmucks der römischen Herrscher um 400 wird am besten auf den Münzen von Konstantin, Theodosius, Honorius und anderer Kaiser dieser Zeit vermittelt ( Abb. 9 ). Man trug damals immer noch um den Kopf gebundene Diademe, wobei deren Glieder weitgehende Beweglichkeit beibehielten, weil jedes von ihnen entweder auf einem Stoffband befestigt oder mit anderen Gliedern durch Scharniere verbunden wurde. Kronen in Form eines geschlossenen Reifens aus Edelmetall sind zwar gerade aus den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts vereinzelt bekannt, stellten dann aber eine auffallende Neuerung dar 164. Deswegen wäre es alles andere als überzeugend, einen Kranz in dieser damals höchst modernen Gestalt für eine Insignie aus der Zeit Helenas und Konstantins auszugeben. Gegen die Krone scheint aber auch die Wendung Ambrosius’ Helena diadema intexuit zu sprechen. Das Verb integere bedeutet , wobei Wörterbücher m. W. keine wesentliche Abweichungen von dieser Auslegung bieten. Daher musste Ambrosius sich die Technologie Helenas also eher so vorgestellt haben, dass die Augusta den Nagel auf eine bestimmte Grundlage ( etwa Purpurstoff oder eher eine goldene Platte ) als Schmuck , aber nicht in ein tragendes Element einer Konstruktion ( ein innerer oder äußerer Ring ) umgestalten ließ. Wie also konnte man den Heiligen Nagel mit einem Diadem dieser Form vereinigt haben? Steckte man etwa den alten verrosteten krummen Nagel einfach von oben nach unten in das Zentralglied des Diadems? Das hätte bestimmt sehr seltsam ausgesehen. Josef Engemann vermutete, man konnte dem Nagel die Form eines Kreuzes geben und ihn auf jeden Fall auf die obere Randkante des Diadems aufsetzen 165. Einer
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Heiko Steuer – Heinrich Beck, Art., , in: RGA 5, 1984, S. 351–376, mit weiterführenden bibliographischen Angaben. In Zusammenhang mit unserem Thema s. dort vor allem den Abschnitt über Diademe Konstantins und seiner Nachfolger (S. 359–363). Man erwartet das Erscheinen eines Sammelbandes mit wichtigen Beiträgen, welche während der Tagung unter der Leitung von Achim Lichtenberger und Dieter Salzmann im Januar 2009 in Münster präsentiert wurden. „ … con cerchio de ferro all’interno.“ – Sordi, La tradizione ( wie Anm. 50 ) S. 8. Ausführlich dazu: Klaus Wessel – Elisabeth Piltz – Corina Nicolescu, Art., , in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 3, 1978, Sp. 369–498, hier Sp. 373–379. Als erste Belege der Reifenkronen werden Skulpturdarstellungen von Valentinian II. ( 375–392 ) und seinem Nachfolger, dem <Usurpator> Eugenius ( 392–394 ), angeführt: Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) Tafel 92 f., 112–115. Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144.
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anderen Idee von ihm zufolge kann der Nagel von Golgatha für die Ursache der auffälligen späteren Transformation des sogenannten Trifoliums gehalten werden 166. Als Trifolium ( Dreiblatt ) wird in der Numismatik eine spezifische Verzierung des oberen Randes kaiserlicher Kränze bezeichnet, die normalerweise aus drei länglichen Vorsprüngen nach oben bestand, welche in der Literatur gewöhnlich als <schmale Blätter> oder interpretiert wurde 167. Die Trifolien sahen verschieden aus, blieben aber bei all ihren Modifikationen immer leicht erkennbar 168. Sie erschienen zuerst noch auf Diademen Konstantins, um dann im Laufe der Jahrhunderte – fast bis zum Ende des Mittelalters – nicht mehr ganz von Kronen zu verschwinden 169. Ulrike Koenen machte den Versuch, auf der Grundlage umfassenden ikonographischen Materials die beiden Hypothesen Engemanns zu bestätigen. Man muss ihr wie auch Engemann vielleicht Recht in dem Verdacht geben, dass das erstaunlich stabile Trifolium-Motiv nicht ein bloß dekoratives Element gewesen war, sondern einen bestimmten symbolischen Sinn gehabt haben muss. Aber auf der Suche nach dem <eigenen Sinn des Trifoliums> ließen sich die beiden Historiker von einer riskanten Idee locken. Sie erkannten in der spezifischen Form, die die der Trifolien seit der Mitte des 5. Jahrhundert gelegentlich annahmen, eine visuelle Ähnlichkeit mit Nägeln. Aus dieser Beobachtung entstand eine kühne Theorie: seit dieser Zeit habe man angefangen, die alte Trifoliumverzierung als eine Art Erinnerung an den Nagel von Golgatha neu zu interpretieren, den die Mutter Konstantins im Kaiserkranz hatte einschließen lassen. Diese Umdeutung des schon traditionell gewordenen Motivs sei Folge direkter Wirkung der Trauerrede Ambrosius’ gewesen 170. Das Trifolium in der spezifischen sei allerdings nur in solchen Fällen dargestellt worden, wenn man den Kaiser als Heerführer präsentieren wollte. Dann habe der Golgatha-
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Ebd., S. 145; Josef Engemann, Der -Gestus – ein antiker und frühchristlicher Abwehr- und Spottgestus?, in: Ernst Dassmann – Karl Suso Frank ( Hgg. ), Pietas. Festschrift für Bernhard Kötting ( Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 8 ) Münster 1980, S. 483–498, hier S. 486. Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. 59; Josef Deér, Der Ursprung der Kaiserkrone, in: Ders., Byzanz und das abendländische Herrschertum. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Peter Classen ( Vorträge und Forschungen 21 ) Sigmaringen 1977, S. 11–41, hier S. 15, 38; Philipp Lederer, Beiträge zur römischen Münzkunde V.: Kaiserbildnisse mit Kreuzdiadem, in: Deutsche Münzblätter 54, 1934, Nr. 384, S. 213–220, 242–245, 267–270, hier S. 220. Ich bedanke mich bei Frank Rexroth und Lars Franke ( beide Göttingen ) sehr für Zusendung der Kopie dieses seltenen Drucks. Die Anzahl solcher Vorsprünge ( oder ) konnte von einem bis zu fünf variieren, aber im 5. Jahrhundert wurde die Dreizahl zur Regel: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 146. Für Historiker des abendländischen Mittelalters könnte das Trifolium als mögliche Urquelle der künftigen wie auch vielleicht der heraldischen Lilie vom besonderen Interesse erscheinen. S. in diesem Zusammenhang z. B.: Hans Peter L’Orange, L’originaria decorazione del Tempietto Cividalese, in: Ders., Likeness and Icon. Selected Studies in Classical and Early Medieval Art, Odense 1973, S. 218–242, hier S. 235–238. Es scheint allerdings, dass die Möglichkeit einer morphologischen Verbindung zwischen all diesen Figuren bisher noch von niemandem ernsthaft diskutiert, geschweige denn bewiesen wurde. Die Vermutung, das Trifolium symbolisiere Strahlenbündel des von Konstantinus so beliebten Sonnengottes Sol invictus, s. in: Marcell Restle, Kunst und byzantinische Münzprägung von Justinian I. bis zum Bilderstreit ( Texte und Forschungen zur byzantinisch-neugriechischen Philologie 47 ) Athen 1964, S. 136 f. Schwerwiegende Einwände gegen diese Meinung sind formuliert in: Wessel – Piltz – Nicolescu ( wie Anm. 164 ) Sp. 380 wie auch natürlich in: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 147. Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 146; Koenen ( wie Anm. 96 ) passim.
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Nagel ( genauer gesagt seine dreimalige symbolische Darstellung in Form des Trifoliums ) wieder in seiner uralten Funktion als Amulett in der Schlacht gedient. Es fehlt dieser Theorie in meinen Augen leider jede nachvollziehbare Begründung, sie braucht aber hier nicht kritisiert zu werden, weil sie bestenfalls allein spätere eventuelle <Erinnerungen> an das betreffen kann, aber nicht das Diadem, welches das Haupt Honorius’ am Tag der Trauerfeiern für Kaiser Theodosius zierte. Unabhängig davon, ob das von einem ( noch durchaus <normalen> und nicht ) Trifolium geschmückt wurde oder nicht, konnte der kaum vor den Blicken der Anwesenden etwa in einem Reliquiar versteckt bleiben, weil diese Reliquie laut Ambrosius Kaiser in die ‚Verkünder des neuen Glaubens‘ verwandelte. Diese musste dann darin bestehen, dass jeder den Kreuzesnagel direkt sehen, seine Bedeutung begreifen und seine Auswirkung auf sich fühlen konnte. Allerdings kann man sich kaum vorstellen, dass der alte Nagel einfach ins Diadem gesteckt und über dem Haupt des Kaisers emporgehoben wurde. Es wäre dagegen nur naturgemäß, einem Nagel, der bestimmt war, auf das Diadem ‚aufgelegt‘ zu werden, genau so eine neue Form zu geben 171, wie der erste Nagel zur ‚Verzierung‘ des Pferdezaumes angepasst werden musste. Denn der symbolische Wert der Nägel bestand nicht in ihrer ursprünglichen pragmatischen Funktion, die in ihrer äußerlichen Form zum Ausdruck kam, sondern darin, dass sie Teile des Kreuzes Christi waren, weil das <Eisen> – so Ambrosius – in diesem Sinn mit dem identisch war. Dann den Nagel etwa in ein Kreuz umschmieden zu lassen, würde keinesfalls bedeuten, die Reliquie zu schädigen; im Gegenteil ermöglichte das, den echten Sinn dieses Gegenstandes besser an das Tageslicht zu bringen. Nicht weniger naturgemäß wäre aber vielleicht eine ähnliche, dafür etwas andere Lösung, auf die sich in der Rede Ambrosius’ selbst wohl eine kleine Andeutung erkennen lässt. Er vergleicht den <Edelstein> des Nagels mit den übrigen Steinen des Diadems, wobei der erste natürlich unvergleichbar wertvoller erscheint 172. Wenn man bereit ist, auch in diesem Vergleich etwas mehr als bloß eine Metapher zu sehen, dann entsteht natürlich die Vermutung, der Nagel wurde in einen eisernen <Stein> umgeschmiedet, wodurch ihm eine Form gegeben wurde, in welcher er bequem dem Diadem werden konnte. In welches Glied man den Nagel-Stein einmontiert hätte, darüber gibt es keine Zweifel: sein Platz konnte nur dort gewesen sein, wo man schon seit der Zeit Diokletians das wichtigste, größte und schönste Juwel des Kranzes hineinzusetzen pflegte 173. Ambrosius äußert sich selbst hier unzweideutig: der Nagel ‚schmückte die Stirn des Herrschers‘ – vestit principum frontem. Als Valeriana Maspero sich darum bemühte, Geschichte und Aussehen des Diadems nachzuvollziehen, welches Ambrosius „mit eigenen Augen beim Begräbnis von Theodosius sah“, erlaubte sie sich eine große Menge äußerst zweifelhafter Annahmen.
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Ulrike Koenen geht allerdings davon aus, dass der Nagel auch nach seinem Einfügen in das Kaiserdiadem seine ursprüngliche Form beibehalten haben muss: Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 182. Sie folgt hier Engemann, der die besondere Effizienz spitzer Gegenstände als apotropäische Symbole stark betonte: Josef Engemann, Zur Verbreitung ( wie Anm. 150 ); Ders., Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 143. [ … ] diadema gemmis insignitum, quas pretiosior ferro innexa crucis redemptionis divinae gemma conecteret [ … ] Ó 47. Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 178.
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In einem Punkt allerdings kann man ihre Meinung keinesfalls bestreiten: sie setzt die Reliquie auch ins Zentralglied des Diadems. Allerdings glaubt Maspero aus unklaren Gründen, dass Helena darin einen großen und wertvollen Stein von hellblauer Farbe einsetzen ließ, „in welchem ein Teilchen des Kreuzh o l z e s [ ? ] eingeschlossen war, wie der Heilige Ambrosius schrieb [ ?? ].“ 174 Aus den Nägeln aber schmiedete man – Maspero zufolge – zwei Bögen, die sich über das Diadem erhoben, damit man es besser am Kampfhelm befestigen konnte. Es wäre m. E. wesentlich einfacher, sich die Sache so vorzustellen, dass ‚der größte und wertvollste Stein‘ des Diadems selbst nichts Anderes als der Kreuzesnagel war, welcher die Form bekam, die nicht nur geeignet war, in den Kranz eingefasst zu werden, sondern auch eine symbolische Implikationen besaß. Denn diese äußere Form konnte als visueller Ausdruck der Idee dienen, dass die Passionsreliquie selbst ein Edelstein, und zwar der allerwertvollste sei. Der ikonographische Befund hätte natürlich helfen können, sich die Innovation Ambrosius’ besser visuell vorstellen zu können, er ist aber leider äußerst bescheiden. Nicht ohne Grund hält Sabine MacCormack die Regierung Honorius’ für den Tiefpunkt in der Krise der spätrömischen kaiserlichen Ikonographie, als die heidnische Symbolik schon völlig veraltet, die christliche dagegen aber noch nicht entwickelt war 175. Eine solche einfache Gegenüberstellung von und erscheint mir allerdings problematisch: die erste ist nämlich allmählich in die zweite übergegangen ( was auch am Beispiel der des kaiserlichen Kranzes in der Rede Ambrosius’ zu sehen ist ). Die Forscherin hat allerdings wohl darin Recht, dass die Darstellung Honorius’ auf dem Probus-Diptychon 176 406 zur Erforschung der Herrschaftszeichen tatsächlich weniger hergibt, als zu wünschen wäre ( Abb. 10 ). Auf dem Diptychon ist allerdings sowohl das Diadem gut zu sehen, wie auch speziell der große Zentralstein in der Rautenform ( über welchem sich übrigens ein Trifolium erhebt ) 177 ( Abb. 11 ). Der Künstler hinterließ uns aber keinen Ansatzpunkt für irgend eine Annahme, dass dieser <Stein> aus dem Nagel von Golgatha hergestellt sei oder für einen solchen gehalten werden konnte. Die erhaltenen Darstellungen des Kaisers Honorius auf Münzen bieten auch keinen Hinweis auf die Art und Weise, wie die Passionsreliquie eventuell an dem Material für die Bekrönung befestigt worden sein konnte. Seine Diademe, die meistens aus zwei Perlenschnüren mit einem großen Stein über der Stirn bestanden, weisen allein eine, für uns kaum relevante, Besonderheit auf, die bereits von Richard Delbrueck bemerkt 174
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„Esso [ das Diadem – M.B. ] era dotato da una piastra centrale che probabilmente portava una gemma più preziosa di tutte perché contenente un frammento del legno della croce, come aveva scritto sant’Ambrogio, che l’aveva visto con i suoi occhi al funerale di Teodosio“. – Valeriana Maspero, Alla ricerca del Sacro Chiodo: la ricostruzione dell’elmo diademato di Costantino, in: Arte Cristiana 92, 2004, No. 823, S. 299–310, hier S. 308. Vgl.: Dies., La corona ferrea. La storia del più antico e celebre simbolo del potere in Europa, Monza 2003, S. 18. Sabine G. MacCormack, Art and Ceremony in Late Antiquity ( The Transformation of Classical Heritage 1 ) Berkeley – Los Angeles – London 1981, S. 257, 259 und passim. Heute in der Sakristei der Kathedrale von Aosta. Wird üblicherweise für das älteste überlieferte Konsulardiptychon gehalten. Ohne jede Begründung bleibt die Annahme Deérs, es sei hier schon eine Krone mit dem steifen Kronreif und nicht mehr das biegsame Diadem mit Bindeschnüren dargestellt: Deér ( wie Anm. 167 ) S. 30, auch Anm. 105. Die Meinung, das Trifolium auf dem Probus-Diptychon sei überhaupt das früheste z. Zt. bekannte, wird geäußert in: Wessel – Piltz – Nicolescu ( wie Anm. 164 ) Sp. 380 f.
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wurde: sie haben aus ungeklärten Gründen eine Gestalt, welche Kaiser des östlichen Reichsteiles bevorzugten, wohingegen westliche Herrscher normalerweise nicht Diademe in Form von Perlenschnüren, sondern eines Kranzes klassischer Form trugen 178. Umso eindrucksvoller erscheint vor diesem kargen Hintergrund eine berühmte Kamee, die im Mittelalter vielleicht in der Palastkirche der Heiligen Sergius und Bacchus in Konstantinopel aufbewahrt worden sein dürfte 179. Seit 1889 befindet sie sich in der Kunstsammlung der Familie Rothschild. Auf dem Cameo – einer Rundscheibe aus zweischichtigem Onyx mit einem Durchmesser von ca. 16 cm – sieht man Brustbilder eines jungen Kaiserpaars dargestellt ( Abb. 12 ). Sachkenner waren schon immer damit einverstanden, dass die Kamee anlässlich einer Hochzeit in der regierenden Familie geschnitten worden sein muss, mit der Identifizierung der dargestellten Personen gab es aber Schwierigkeiten. Zuerst erkannte man in dem kaiserlichen Paar Justinian und Theodora 180, dann aber Theodosius und Aelia Flacilla. Nach einer Publikation des bekannten Kunsthistorikers Salomon Reinachs im Jahr 1926 ( der die Gesichter der Kaiser auf Rothschild-Kamee und Probus-Diptychon verglich ) wurde allgemein anerkannt, dass es Honorius und die Tochter Stilichos, Maria, darstellt. Wenn dem so ist, muss das Bild anlässlich der Eheschließung zwischen den beiden 398, d. h. nur drei Jahre nach dem Tod Theodosius’ und der Trauerrede Ambrosius’ hergestellt worden sein. Diese Meinung wurde von Sachkennern wie Delbrueck 181 und L’Orange 182 unterstützt. Doch schlug man 1957 eine alternative Lösung vor: die Kamee zeige Constantius II. mit seiner ersten Ehefrau ( deren Name nicht überliefert ist ) 183, und die Schnitzerei müsse deswegen auf 335 datiert werden. Die Argumente des Autors dieser Datierung sind zwar ernst zu nehmen, sie wirken aber etwas subjektiv und haben auf jeden Fall nicht die notwendige Kraft, um den letzten Punkt in der Diskussion setzen zu können. Vielleicht bleibt gerade deswegen die ältere Meinung – man erkenne auf der Rothschild-Kamee Honorius und Maria – in der Fachliteratur nicht nur stehen, sondern auch nach wie vor dominierend. Jede Darstellung Honorius’ könnte für die eventuelle Rekonstruktion des natürlich von Nutzen sein, die Rothschild-Kamee ist aber dafür von ganz besonderer Relevanz – vorausge178 179
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Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. 64. Diese Vermutung wird anhand der mittelalterlichen Inschriften auf der Kamee gemacht, die beide dargestellten Personen als die Heiligen Sergius und Bacchus identifizierte – Ernest Babelon, Les camées antiques de la Bibliothèque Nationale ( quatrième et dernier article ), in: Gazette des beaux-arts 1, 1899, S. 101–116, hier S. 113. „Il représente, en demi ronde-bosse, les bustes de Justinien et de Théodora …“, ebd. Richard Delbrueck, Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler 2 ( Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 2 ) Berlin – Leipzig 1929, Nr. 66; Ders., Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 164 ) S. 206 f., Tafel 105. Hans Peter L’Orange, Studien zur Geschichte des spätantiken Porträts, Oslo 1933, S. 77. Etienne Coche de La Ferté, Le Camée Rothschild, un chef d’œuvre du IVe siècle après J-C, Paris 1957. Koenen erwähnt diese Publikation in ihrem Apparat nicht; sie verzichtet auf die Besprechung dieses Cameos überhaupt ( obwohl dieser Artefakt für ihre Überlegungen wesentliche Bedeutung hätte haben können ), sich auf einen einzigen Satz beschränkend, das Christogramm sei nicht unbedingt zur gleichen Zeit wie das Cameo selbst entstanden, man könnte es erst später eingraviert haben. – Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 177 f. Coche de La Ferté, welcher das Cameo Rothschild selbst und nicht seine Abbildungen erforschte, bemerkte keine chronologischen Unterschiede in der Technik, in der das Christogramm eingraviert wurde. Darüber hinaus stützt sich die Begründung seiner Datierung des gesamten Kunstwerkes im Wesentlichen gerade auf die graphische Gestalt des Christogramms.
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setzt natürlich, dass sie in der Tat den jüngeren Sohn Theodosius’ und nicht einen anderen Kaiser darstellt. Der Kopf des jungen Mannes auf der Kamee ist mit einem Kranz von ungewöhnlicher Form geschmückt, den Delbrueck für einen Hochzeitskranz hielt 184 ( Abb. 13 ) Seine Vermutung ist aber wenig plausibel, schon weil erstens, die Frau keinen ähnlichen Kranz trägt und, zweitens, Hochzeitkränze normalerweise aus Blumen und Gras, aber nicht aus Lorbeer geflochten wurden. Man erkennt aber m. E. stilisierte Lorbeerblätter als Muster für die Diademglieder. Seiner Gestalt nach ähnelt dieser Kranz eher dem kaiserlichen Diadem, und zwar dem Typ, der im Westen des Reiches bevorzugt wurde ( was übrigens als ein weiteres Argument für die Identifizierung des dargestellten Herrschers als Honorius und nicht als Constantius II. dienen könnte ). Man kann natürlich nie ausschließen, dass der Künstler kein <materielles> Muster vor Augen hatte und seine Inspiration aus der eigenen Phantasie schöpfte; die Glieder der Blätter sehen aber durchaus aus, wobei man auch direkte Analogien von ihnen in anderen Kaiserbildnissen findet, etwa auf Konstantinsmünzen ( Abb. 9à ). In der Mitte des Juwelenkranzes zieht ein quadratischer, gefasster Tafelstein ( mit einem nicht gerade gewöhnlichen Trifolium oben ) größte Aufmerksamkeit auf sich. Über seine ganze Fläche ist das Christogramm Chi–Rho eingraviert ( Abb. 14 ). Die gängige Meinung lautet, dass Zeichen dieser Art – seien es Kreuze, seien es Christogramme – die Tatsache manifestierten, dass der Besitzer seine Zugehörigkeit zum Christentum öffentlich bekennt, und/oder seine persönliche Frömmigkeit betonen will 185. Philipp Lederer meinte, das Kreuz- und Christogrammzeichen bei den direkten Nachfolgern Konstantins soll gezeigt haben, dass ihre Besitzer nicht einfach dem Christentum generell, sondern speziell seiner antinicäanischen Richtung angehörten 186. Sollte diese Regel tatsächlich gegolten haben, müsste das Christogramm als Argument zugunsten der Identifikation des Kaisers auf der Kamee nicht als Honorius, sondern als Constantius II. gelten. Die Belegbasis Lederers ist aber noch zu wenig breit, um auf dieser Grundlage jede Zuweisung aufbauen zu können. Auf jeden Fall darf man gerade bei diesem Christogramm einen ganz anderen Sinn vermuten. Forscher sahen bisher in den Kreuz- oder Christogrammzeichen keine Andeutung einer besonderen Qualität jener Gegenstände, auf welchen diese Zeichen angebracht waren, und zwar vor allem nicht in Hinblick auf das mögliche Vorhandensein von Kreuzreliquien. Nun ist es natürlich nicht so, dass jedes Christogramm unbedingt diesem Zweck diente, sonst müssten wir zwangsläufig zugeben, dass in der gesamten Mittelmeerregion schon im 4. Jahrhundert Partikel des Heiligen Kreuzes breit verstreut waren – so häufig findet man dort bekanntlich das Christogrammzeichen. Es lässt sich aber wohl die Möglichkeit einer anderen Gesetzmäßigkeit vorschlagen: beim
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„Für bestimmte Gelegenheiten wurden anscheinend eigene Diademformen mit einer Sonderbedeutung geschaffen. So trägt Honorius auf dem Cameo Rothschild einen Kranz von großen, paarig angeordneten Blättern mit quadratischem Stirnjuwel, der wohl sein Hochzeitkranz ist; mit dem Lorbeerkranz hat er jedenfalls wenig Ähnlichkeit“ – Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. 206. Schramm ( wie Anm. 142 ) S. 383. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 268.
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Vorhandensein einer Kreuzreliquie musste ihr Aufbewahrungsort normalerweise mit einem Christogramm oder Kreuz gekennzeichnet werden. Es kann hier ein aussagekräftiges Beispiel angeführt werden. Gregor von Nyssa berichtet über das Ableben seiner Schwester, der frommen Makrina, im Jahre 379 187. Nach ihrem Tod fand man auf ihrem Herzen an einer fein geflochtenen Schnur befestigt ein kleines Kreuz aus Eisen und einen Fingerring aus dem gleichen Material. Auf der Siegelplatte dieses Ringes war ein Kreuz eingraviert. Weitere Untersuchungen führten zu einer Entdeckung: der Ring war hohl und in der Hohlkapsel lag ein Teilchen vom Holze des Lebens verborgen. Hier folgt bei Gregor von Nyssa der für uns sehr wichtige Satz: ‚Und so bekundet das Kreuz oben darauf mit seinem Zeichen das, was darunter verborgen ist‘ 188. Könnte dieser Satz vielleicht auch für das Diadem auf der Kamee der Rothschilds gelten? Sollte das Christogramm in der Tat gleichzeitig mit dem gesamten Bild eingefügt worden sein, würde das die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Künstler nicht bloß die christliche Frömmigkeit des Kaisers kennzeichnen wollte ( fehlte sie denn der Kaiserin in solchem Ausmaß, dass sie nur ohne Christogramm dargestellt werden konnte? ), sondern in seinem Kranz die Anwesenheit einer durchaus materiellen Christusreliquie. Für diese Vermutung spricht auch die Tatsache, dass sowohl Kreuze als auch Christogramme im 4. Jahrhundert auf dem Kopfschmuck der Kaiser noch sehr selten angebracht wurden und ihr rein zufälliges Erscheinen dort höchst unwahrscheinlich war. Es ist gut bekannt, dass die ersten Zeichen den Helm Konstantins geschmückt haben: sie sind auf seinen Münzen und Medaillons in den Jahren von 315 bis 324 zu sehen 189. Helme mit Christogrammen ( gezeichnet entweder auf dem Nasenschutz oder an silbernen bzw. bronzenen , die am Helmkamm befestigt wurden ), sind seit einigen Jahrzehnten auch archäologisch gesichert; sie alle stammen allerdings erst aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts 190 ( Abb. 15 ). Diese Funde 187
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Ausführlich in: Franz Joseph Dölger, Das Anhängekreuzchen der hl. Makrina und ihr Ring mit Kreuzpartikel. Ein Beitrag zur religiösen Volkskunde des 4. Jahrhunderts nach der Vita Macrinae des Gregor von Nyssa, in: Ders., Antike und Christentum ( wie Anm. 111 ) S. 81–116. [ … ] λ « Ν# π φ/λ« ) $ &) ) ! µ :!. – Migne PG 46, Sp. 989. Der Helm Konstantins und die Frage nach einer möglichen Entstehung der Kaiserkrone des Mittelalters aus ihm wird in mehreren Studien diskutiert: Andreas Alföldi, The Helmet of Constantine with the Christian Monogram, in: Journal of Roman Studies 22, 1932, S. 9–23; Ders., Eine spätrömische Helmform und ihre Schicksale im germanisch-romanischen Mittelalter, in: Acta Archaeologica 5, 1934, S. 99–144; Deér ( wie Anm. 167 ); Percy Ernst Schramm, Die Kronen des frühen Mittelalters, in: Ders., Herrschaftszeichen ( wie Anm. 142 ) S. 377–417; Eichmann ( wie Anm. 157 ) 2, S. 57–81 ( § 3 Die Krone ); Elisabeth Piltz, Kamelaukion et mitra. Insignes Byzantines imperiaux et ecclèsiastiques, Stockholm 1977, wo die Verfasserin die Meinungen aller erwähnten Forscher völlig ablehnt ( S. 74 ff. ) und ihre eigene Theorie entwickelt, nach welcher die geschlossene Krone eine Entlehnung von den Barbaren sei. Jelle Prins, The of a Late Roman Officer. A Hoard from the Meuse Valley ( Netherlands ) with Helmet and Gold Coins, in: Bonner Jahrbücher 200, 2000, S. 309–328, besonders 309, 311, 314–316, 320 f., László Kocsis, A New Late Roman Helmet from Hetény in the Hungarian National Museum, in: Ádám Szabó – Endre Tóth ( Hgg. ), Pannonica: provincialia et archeologia ( Libelli Archaelogici N.S. 1 ) S. 521–552, besonders 531–534; Angela Donati – Giovanni Gentili ( Hgg. ), Costantino il Grande. La civiltà antica al bivio tra Occidente e Oriente, Mailand 2005, S. 235–236, Nr. 49 a–b, 50; Demandt – Engemann ( wie Anm. 116 ) S. 154 ( Nr. I.13.124 ), S. 235 ( Nr. I.13.121 ), S. 243
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gehörten ursprünglich natürlich nicht den Kaisern, sprechen aber dafür, dass Darstellungen auf den Münzen Konstantins keine reinen Phantasieprodukte der Künstler waren, sondern höchst wahrscheinlich die damals tatsächlich existierenden Helme des Herrschers als Vorbilder hatten. An dieser Stelle muss klar betont werden, dass Reliquien des Echten Kreuzes zwischen 315 und 324 selbst nach den optimistischen Einschätzungen Borgehammars noch nicht aufgefunden worden sein konnten. Daraus folgt, dass die historisch belegten Helme Konstantins im Unterscheid zum Helm aus der Legende noch keine Passionsreliquien tragen konnten und es das Christogramm alleine war, welches wohl dieselbe uns schon bekannte Funktion des <militärischen Phylakterions> erfüllt haben muss. Die Christogramm tragenden Helme Konstantins bestätigen die Legende insofern, dass man an dem uns unbekannten Kultort tatsächlich über einen Helm verfügen konnte, der ( egal ob zu Recht oder nicht ) als Helm Konstantins galt und der ein Zeichen trug, welches als Hinweis auf das Vorhandensein der Christusreliquie verstanden werden konnte, i.e. ein Christogramm. Diese Umdeutung konnte nur dann geschehen, wenn die Kreuzreliquien schon wiederentdeckt worden waren, und zwar unter direktem Einfluss der Jerusalemer Legende, die das Auffinden des Echten Kreuzes mit der Mutter Konstantins verband. Die Legende über die Umwandlung der Kreuzesnägel in Helm und Zaum spiegeln also m. E. mit großer Wahrscheinlichkeit nicht den Umgang Helenas oder Konstantins mit den neu erworbenen Passionsreliquien wieder, sondern eine Aufwertung der beiden Gegenstände, die zuerst als Teil der Memoria Konstantins hoch geschätzt, später aber schon als Kreuzesreliquien religiös verehrt wurden. Nach 324 verschwinden Christogramme von kaiserlichen Helmen auf Münzen. Es taucht aber die erste Darstellung eines Kreuzes auf dem kaiserlichen Kopfschmuck auf: man sieht sie auf einem Solidus Constantius’ II. aus dem Jahre 353 191 ( Abb. 16 ). Es wurde der Verdacht geäußert, das Kreuz sei hier zufällig in Folge eines Fehlers des Künstlers entstanden, welcher sein Muster missverstand. Solche Zwischenfälle kamen aber meistens in provinziellen Münzstätten vor, wobei jedoch der Solidus 353 in Konstantinopel geprägt wurde, was die Möglichkeit eines bloßen Versehens verringert. Der Kaiser auf der Münze trägt einen Helm mit einem Diadem darauf. Obwohl das Bild keine eindeutige Entscheidung erlaubt, ob das Kreuz ein Teil des Diadems oder des Helms war, scheint die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher zu sein. Das Erscheinen dieses Kreuzes auf der Münze wird gelegentlich in Verbindung mit dem schon oben erwähnten Brief Kyrills von Jerusalem gebracht, in welchem er dem Kaiser von einem bedrohlichen Zeichen berichtet: ein strahlendes Kreuz erschien im Himmel – ein Ereignis, welches in seiner Vorstellung wesentlich wichtiger war als die Auffindung des hölzernen Kreuzes in Jerusalem 192. Solidi dieses Typs sind äußerst selten: selbst auf anderen Münzen derselben Serie fehlt das Kreuz auf dem Helm. Nur um der Vollständigkeit willen sollen hier die übrigen ikonographischen Denkmäler aus der Zeit um 400 genannt werden. Es geht nur um zwei plastische Darstellun-
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( Nr. I.13.122 ); Michael Mackensen, Vergoldete Bronzebeschläge mit Christogramm von spätrömischen Kammhelmen aus dem mittleren und unteren Donauraum, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 72, 2007, S. 355–365. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 213, Abb. 1, Tafel 143, Nr. 1. Die Vermutung wird geäußert in: Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 196.
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gen von Kaiserinnen mit nicht leicht erkennbaren Christogrammen auf ihren Kränzen. Die Datierung der Statuette aus dem Pariser Cabinet des Médailles bleibt problematisch, vor allem weil die Identifikation der Kaiserin schwer fällt (Abb. 17). Zuerst hat man sie für Aelia Flacilla gehalten, dann erkannte Delbrueck in ihr Helena und verlegte die Herstellungszeit auf 325–326 193, später aber kehrte L’Orange zur ersten Hypothese zurück, allerdings mit der Korrektur, dass die Statuette erst nach dem Tod der Ehefrau Theodosius’ in der Regierungszeit von Arcadius und Honorius geschaffen wurde 194. Auf dem zentralen Juwel des Diadems oder erkennt man mit Mühe ein undeutliches Relief, in welchem Delbrueck ein Christogramm erkannte. Als zweite Plastik tritt ein Bronzegewicht in Form einer Kaiserin hervor, welches in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts entstanden sein muss. Auf dem zentralen Stein des Diadems sieht man deutlich ein schräges Kreuz, das vielleicht als ein vereinfachtes Christogramm verstanden werden kann 195 ( Abb. 18 ). Die Versuchung ist groß, auch in dieser Kaiserin die heilige Helena zu erkennen, es stehen aber keine Argumente für diese Annahme zur Verfügung. Diese kurze Aufzählung zeigt deutlich, dass es in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhundert alles andere als selbstverständlich war, kaiserliche Häupter mit Christogrammen oder Kreuzen zu schmücken. Vor dem eben gewonnenen – und ausgesprochen blassen – ikonographischen Hintergrund erscheint das Christogramm auf der Kamee der Rothschilds als recht auffallende Neuerung und die Darstellung eines Kaisers im Kranz mit solchem Zeichen als politisches Manifest. Nichts Ähnliches findet man in der kaiserlichen Ikonographie bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts. Erst kurz vor 450 lässt die Kaiserin Licinia Eudoxia sich mit einem <Strahlenkranz> darstellen, in dem sich in der Mitte ein Kreuz erhebt 196 (Abb. 19). Nach der Rekonstruktion Philipp Lederers pflegte auch ihr Ehemann Valentinian III. sich ebenfalls ähnlich mit einem Kreuz darstellen zu lassen; seine Münzen sind aber nicht erhalten und nur von späteren Abzeichnungen bekannt 197. Es muss nicht notwendig gesondert bewiesen werden, dass es von dem Kranz der Rothschild-Kamee zu dem der Münze Licinia Eudoxias überhaupt keine Kontinuität gibt: ein Christogramm auf dem zentralen Stein des Diadems ist morphologisch gesehen etwas ganz Anderes als ein Kreuz, das sich über dem oberen Rand des Kranzes erhebt. Auch später findet sich keine Parallele zum Kranz auf der Kamee. Zwar erscheint das Kreuz (kein Christogramm) wieder auf dem Helm des Kaisers Anastasios I. (491–518), und zwar auf Münzen, die in seinen Namen im Ostgotenreich
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Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 164 ) Tafel 64, S. 164, Abb. 58. Hans Peter L’Orange, Der subtile Stil. Eine Kunstströmung aus der Zeit um 400 nach Christus, in: Ders., Likeness and Icon ( wie Anm. 169 ) S. 54–71, hier S. 67; Max Wegner, Frauen der Tetrarchen, des Constantinus und dessen Familie, in: Hans Peter L’Orange, Das spätantike Herrscherbild von Diokletian bis zu den Konstantin-Söhnen 284–361 n. Chr. ( Das Römische Herrscherbild, III. Abteilung ) Berlin 1984, S. 141–165, hier S. 145. Late Antique and Byzantine Art ( Victoria and Albert Museum ) London 1963, Abb. 4. Vgl.: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144. John P.C. Kent – Bernhard Overbeck – Armin U. Stylow, Die römische Münze, München 1973, Nr. 762v; Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 164 ) Tafel 24, Nr. 4 f.; Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 219, Tafel 143, Nr. 4. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 218 f.; Coche de La Ferté ( wie Anm. 183 ) S. 32; Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144.
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geprägt wurden 198, dies könnten aber wohl Nachahmungen der Solidi von Constantius II. sein (Abb. 20). Erst unter Tiberius II. Constantinus (578–582) festigte sich endlich das uns so vertraute Bild des Kreuzes, das sich über der Krone erhebt 199 (Abb. 21). Sofern das Diadem von der Rothschild-Kamee keine Parallele in der kaiserlichen Repräsentation seiner Zeit findet, wäre es vielleicht logisch, ihr Erscheinen mit ähnlich einzigartigen Umständen zu verbinden. Sicherlich wäre die Behauptung höchst unvorsichtig, der eines jungen Mannes auf der Kamee der Rothschilds sei nichts anderes als der , von dem Ambrosius von Mailand so eloquent redete; man sollte aber die Frage nach einer möglichen Verwandtschaft zwischen diesen beiden Kronen doch ernster diskutieren, sollte die Identifikation des jungen Kaisers als Honorius solider begründet werden. Die folgende These darf wohl auf der jetzigen Etappe der Forschung doch für korrekt genug gehalten werden: Alle Versuche sich vorzustellen, wie das Diadem auf dem Haupt Honorius’ am 21 Februar 395 ausgesehen hatte, können nur hypothetisch sein, ein Forscher würde allerdings etwas weniger riskieren, sollte er als Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion den Kranz der Rothschild-Kamee nehmen, und nicht irgendeinen anderen aus derselben Zeit, von der Krone zu Monza ganz zu schweigen. X. AMBROSIUS UND RELIQUIEN
Die Verehrung von Passionsreliquien ( wie auch von Reliquien christlicher Märtyrer und anderer Heiliger ) war Ende des 4. Jahrhunderts noch nicht gewohnheitsmäßig – im Gegenteil, es war eine neue Praxis, besonders in der westlichen Hälfte des Reiches. Die erste maßgebliche Kirchenfigur im Westen, die konsequent begann, sich mit der Entdeckung von Reliquien Heiliger und ihrer Translationen zu beschäftigen, war kein anderer als Ambrosius von Mailand selbst. Erst er gab das autoritative Beispiel, welchem zuerst die Bischöfe Norditaliens, aber später auch solche in anderen Teilen des lateinischen Europa folgten. Ambrosius hatte das glückliche Talent, heilige Reliquien genau in dem Moment aufzufinden, als ein solcher Fund eine komplizierte politische Situation entscheidend beeinflussen konnte. Sein erster Erfolg dieser Art war die Entdeckung der Überreste der beiden früher völlig unbekannten Märtyrer Gervasisus und Protasius. Dies geschah 386 auf dem Höhepunkt einer äußerst gefährlichen Auseinandersetzung mit der Regierung des Kaisers Valentinian II., als es für Ambrosius um seine persönliche Freiheit, wenn nicht vielleicht sogar um sein Leben ging 200.
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Alfred R. Bellinger – Philip Grierson ( Hgg. ), Catalogue of the Byzantine Coins in the Dumborton Oaks Collection and in the Whittemore Collection 1: Anastasius I to Maurice, 491–602, Washington ( DC ) 1966, Nr. 3j; Kent – Overbeck – Stylow ( wie Anm. 196 ) Nr. 789v; Wolfgang Hahn, Moneta Imperii Byzantini, 1: Von Anastasius bis Justinuanus I ( 491–565 ), einschließlich der ostgotischen und vandalischen Prägungen ( Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 109; Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1 ) Wien 1973, 82/4. Nr. 19, 21, 22a; Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 220; Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 268 f.; Deér ( wie Anm. 167 ) S. 31. Über die Einstellung Ambrosius’ zu den Märtyrerreliquien s. vor allem: Ernst Dassmann, Ambrosius und die Märtyrer, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 18, 1975, S. 49–68 mit weiteren Literaturhinweisen, wie auch: McLynn ( wie Anm. 100 ) S. 209–219.
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Eine ganze Reihe bekannter Episoden bezeugen gut, dass der Bischof von Mailand die schwierige Kunst mit Perfektion beherrschte, wechselhafte Launen der sozial niederen Bevölkerungsschichten für seine politischen Interessen zu manipulieren. Vielleicht gerade wegen dieser Feinfühligkeit vermochte Ambrosius früher als seine Zeitgenossen zu erkennen, welche große Rolle heilige Reliquien zur Konsolidierung breiter Schichten des für bestimmte politische Ideen spielen konnten. Es gab damals viele christliche Intellektuelle, die sich von der rein materiellen Seite des Glaubens gerade deswegen fast mit Abscheu distanzierten, weil eben diese den niederen Bevölkerungsgruppen besonders imponierten. Was können auch Werkzeuge der Folter und Tötung oder gar Leichenfragmente ( selbst wenn diese Leichenteile von heiligen Menschen stammten ) mit dem spirituellen Kern echter Religiosität zu tun haben? Eusebius von Cäsarea hatte wohl gerade aus diesen Gründen das Auffinden des Heiligen Kreuzes überhaupt nicht , sofern dieser Fund tatsächlich zu seiner Zeit erfolgte. Ambrosius war allerdings auf jeden Fall nicht weniger ein geborener Politiker wie ein Theologe und in dieser seiner Qualität verstand er es sehr gut, die Möglichkeiten richtig einzuschätzen, die in der Neigung der impulsiven Volksfrömmigkeit zur des Glaubens lagen. Das plötzliche Auftauchen des in der höchst brisanten politischen Situation des ungesicherten Machtübergangs entspräche voll und ganz der Logik des Umgangs Ambrosius’ mit heiligen Reliquien. Der einzige wesentliche Unterschied zu der Situation 386 bestand nur darin, dass die Körper von Gervasius und Protasius zur mächtigen Waffe im Kampf gegen die werden mussten, welche die direkte Unterstützung der kaiserlichen Familie genossen, während das <Eisen des Kreuzes> zum Mittel wurde, sowohl die Nicäaner als auch ihre Gegner um die Person des neuen Kaisers in Eintracht zu vereinigen. Weniger als anderthalb Jahre vor der Trauerrede für Kaiser Theodosius, Anfang November 393, war Ambrosius bereits mit den Nägeln der Kreuzigung beschäftigt. Auf der Flucht vor dem <Usurpator> Eugenius öffnete er auf dem jüdischen Friedhof in Bononia ( Bologna ) die Gräber von zwei weiteren Märtyrern, Agricola und Vitalis. Ambrosius wollte festgestellt haben, dass Agricola gekreuzigt worden war, wobei dessen Körper mit einer Menge Nägel durchbohrt worden war ( ‚es gab mehr Wunden als Körperglieder‘ ). Mit seinen eigenen Händen sammelte Ambrosius diese Nägel mit anderen Reliquien zusammen direkt im geöffneten Grab auf 201. Einen Teil dieses Fundes legte er schon im nächsten Jahr feierlich in das Fundament des Domaltars in Florenz 202. Hätte er damals vielleicht nicht zwei Nägel von der Kreuzigung in Bologna bei sich behalten können, die sich wenige Monate später auf wundersame Weise als Ant201
202
Detuli ergo vobis munera quae meis legi manibus, id est, crucis tropaea, cujus gratiam in operibus agnoscitis. Certe et ipsi daemones confitentur. Condant alii aurum atque argentum, ac de latentibus eruant venis; legant pretiosa monilium serta; temporalis ille thesaurus est, et saepe habentibus perniciosus: nos legimus martyris clavos, et multos quidem, ut plura fuerint vulnera quam membra. Clamare martyrem diceres ad populum Judaeorum, cum clavos ejus colligeremus: Mitte manus tuas in latus meum, et noli esse incredulus, sed fidelis ( Joan. XX, 27 ). Colligimus sanguinem triumphalem et crucis lignum. – Ambrosius, Exhortatio virginitatis, in: Migne PL 16, Sp. 351–380, hier Sp. 354 ( 9 ). Die alten Römer pflegten Nägel in Gräbern beizulegen, öfter auf die Brust des Toten und in großer Menge. – Henri Leclercq, Art., , in: Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie 3, 1914, Sp. 2034–2037, besonders 2036–2037. Palanque ( wie Anm. 4 ) S. 283 f.
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wort auf seine leidenschaftlichen Gebete in die Nägel der Kreuzigung auf Golgatha verwandelten? Oder benötigte er nur einen, weil der Pferdezaum mit dem Christogramm ohnehin schon vorhanden war? Dies ist natürlich eine Spekulation, die nicht ernst genommen werden kann. Aus den vorangehenden Überlegungen geht aber ziemlich klar hervor, dass Ambrosius von Mailand die Ehre der Erfindung einer in der europäischen politischen Kultur zuvor völlig unbekannten Insignie gebührt, nämlich des Kranzes, der zugleich ein Reliquiar für eine Kreuzreliquie darstellt. Das Risiko, dass Ambrosius einging, um für die Legitimierung des jungen Kaisers zu einem, in den Augen des Heeres wie auch anderer einflussreicher Gruppen, durchaus ungewöhnlichen Mittel zu greifen, ja dieses Mittel erst zu erfinden, um die Volksimagination dadurch beeinflussen zu können, verrät uns, welche ernsten Befürchtungen er im Februar 395 für die Zukunft eines zehnjährigen Jungen, aber vielleicht auch für seine eigene hatte. XI. NACH AMBROSIUS: DAS UND DIE
Ambrosius war als Erfinder einer prinzipiell neuen Insignie wohl deswegen bis jetzt nicht anerkannt, weil sich die Linie einer möglichen Entwicklung von seinem zu den heiligen Kronen des Mittelalters nicht nachvollziehen lässt. Historiker bewiesen allerdings ( trotz Ermangelung entsprechenden ikonographischen Materials wie auch klarer Äußerungen bei Autoren des 5. Jahrhunderts ) schon einige Bemühungen, zu zeigen, dass die Idee einer Bereicherung des Kaiserkranzes mit dem Kreuz ( als Reliquie oder zumindest als Zeichen ) fortlebte. So meinte Delbrueck ( ihm folgten allerdings auch andere Fachleute ), Johannes Chrysostomos erwähne zweimal das Kreuz auf dem Diadem des Arcadius: in und in <Expositio in Psalmum CIX> 203. Im ersten Fall gibt es für eine solche Interpretation tatsächlich gewisse Gründe. In der sagt Johannes: ‚Die Könige nehmen, ihre Diademe ablegend, das Kreuz auf, das Zeichen Seines Todes; Kreuz ist auf den Porphyren, Kreuz ist auf dem Diadem, Kreuz bei Gebeten, Kreuz auf den Waffen, Kreuz auf dem heiligen Tisch, und im ganzen Universum strahlt das Kreuz heller als die Sonne‘ 204. Der erste Satzteil erlaubt verschiedene Deutungen, im zweiten geht es wohl um diverse – sowohl zwei- als auch dreidimensionale – D a r s t e l l u n g e n des Kreuzes, so musste etwa das Kreuz auf dem kirchlichen Altar – dem plastisch sein. Zu Kreuzreliquien fällt hier bei Chrysostomos allerdings kein Wort. Die zweite Stelle, die Delbrueck anführt, ist sehr problematisch: ‚Nicht nur einfache Menschen, sondern auch jene, die in Diademen sind, tragen das Kreuz auf der Stirn höher als Diademe; und das völlig zu Recht, weil es höher ist als die Menge der
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Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. XVI, 65; Joachim Ott, Krone und Krönung: Die Verheißung und Verleihung von Kronen in der Kunst von der Spätantike bis um 1200 und die geistige Auslegung der Krone, Mainz am Rhein 1998, S. 167. O¹ /
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.«, λ 7$ .«, λ Ρ .« [ … ] – Migne PG 48, Sp. 824, 58.
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Diademe‘ 205. Nur wenn man diesen Satz ohne seinen Kontext interpretiert, kann man auf die Idee kommen, es handele sich hier um den Kaiserkranz, der mit dem Kreuz am oberen Rand geschmückt ist. Im vorangehenden Satz sagt jedoch Chrysostomos: ‚Dieses Kreuz war früher Zeichen des verdammten Todes, des allerschändlichsten Todes; es wurde aber jetzt wertvoller als das Leben selbst und ruhmhafter als Diademe – so, dass wir alle es auf unserer Stirn tragen, wobei wir uns davor nicht schämen, sondern es für unseren Schmuck halten.‘ Mit anderen Worten: Nicht allein Könige tragen ein Kreuz auf ihren Häuptern, sondern <wir alle> tun das, auch . Es handelt sich offenbar nicht um einen materiellen Gegenstand, sondern um die kreuzförmige Ölung des Hauptes bei der Taufe. Aus der auch ebenda angeführten Gegenüberstellung: ‚Das Diadem verziert das Haupt, das Kreuz aber beschützt die Seele‘ geht klar hervor, dass d i e s e s Kreuz weder den Kopf verzieren, noch ein Teil des kaiserlichen Diadems sein konnte. Gewisse Andeutungen, welche für uns vielleicht von Nutzen sein könnten, findet man wohl am häufigsten bei Augustinus. Er wiederholt immer wieder die folgende These: es gebe im kaiserlichen Diadem keinen Stein, der wertvoller sei als ( oder an einer anderen Stelle ), welches 206. Geht Augustinus also tatsächlich davon aus, dass die Kaiserkränze seiner eigenen Zeit ( d. h. jene von Arcadius und Honorius oder von einem der beiden ) nicht nur mit einer Kreuzesd a r s t e l l u n g verziert sind, sondern auch physische Teile des beinhalten? Auf diesem recht wackligen Fundament aus wenigen Äußerungen Johannes’ Chrysostomos und Augustinus’ sind bisher alle Vermutungen aufgebaut, das Diadem von Arcadius müsse auch mindestens ein Z e i c h e n des Kreuzes oder ein Christogramm getragen haben. Sollte man jedoch diese kühne Hypothese ernst nehmen, welche vor allem von Delbrueck entwickelt wurde, könnte man demzufolge seine riskante Konstruktion noch weiter nachbauen. Unter der Annahme, ein auf dem Kranz solle die Anwesenheit eines Stückchen des Heiligen Kreuzes signalisieren, bleibt zwangsläufig zu akzeptieren, dass, erstens, das Diadem Arcadius’ auch eine Passionsreliquie beinhalten musste, aber, zweitens, diese Reliquie schon keinen Nagel mehr darstellen konnte, weil die beiden Ambrosius und seiner höfischen Umgebung bekannten Nägel schon in Mailand im Einsatz waren. Diese Reliquie könnte dann nur ein Holzpartikel sein. Wenn dem so ist, sollten die Historiker der europäischen Herrschaftszeichen eine Kontinuitätslinie nicht direkt vom „Diadem Helenas und Honorius’“ zu mittelalterlichen Kronen mit Kreuzreliquien, sondern eher vom – allerdings 205
206
O7 !ξ & $ !., $ λ 7λ ¹ "! ! λ != :ξ "! 7µ ( d. h. Kreuz ) >
, λ ! &.«α ! / ! $!. – Migne PG 55, Sp. 274, 15. Ament vobiscum Christum, qui eo ipso quo videbatur victus, vicit orbem terrarum. Vicit enim orbem terrarum sicut videmus, fratres: subjecit omnes potestates, subjugavit reges, non superbo milite, sed irrisa cruce; non saeviens ferro, sed pendens ligno; patiendo corporaliter, faciendo spiritualiter. Illius corpus erigebatur in cruce: ille mentes cruci subdebat. Denique quae gemma pretiosior in diademate, quam crux Christi regnantium in fronte? – Migne PL 38, Sp. 334. S. auch: [ … ] iam in frontibus regum pretiosius est signum crucis, quam gemma diadematis. – Aurelii Augustini Opera, Pars 10,2: Enarrationes in psalmos 51–100, hg. von Eligius Deckers ( CC 39 ) Turnhout 1956, S. 1010, vgl. auch: Aurelii Augustini Opera, Pars 10,1: Enarrationes in psalmos 1–50, hg. von Eligius Deckers ( CC 38 ) Turnhout 1956, S. 264. Vgl.: Ott ( wie Anm. 203 ) S. 167.
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rein hypothetischen – ziehen, wobei letzteres vielleicht erst unter dem Einfluss der Trauerrede Ambrosius’ entstanden sein dürfte. Mittelalterliche Texte erwähnen zwar einige real existierende oder nur legendäre Kronen mit Stückchen des Kreuzh o l z e s , kennen aber m. W. keine Herrscherkränze, welche das <E i s e n des Kreuzes> einschlossen. Die Ursache dieser ( hier nur als provokative Spekulation angenommenen ) Entwicklung könnte bei allem Schweigen der Quellen genauso spekulativ im ruhmlosen Schicksal des erraten werden. Die außerordentliche Relevanz, welche Ambrosius diesem Gegenstand 395 zuschrieb, ging bald verloren: sei es weil der schon erwachsene Honorius andere Mittel für seine Legitimation zu bevorzugen begann, sei es weil das Diadem in den Kriegen und politischen Wirren im Italien des 5. Jahrhunderts einfach verloren ging, sei es weil der Kranz mit anderen kaiserlichen Insignien nach dem Sturz Romulus Augustulus 476 von Odoaker nach Konstantinopel geschickt wurde, wo diese Krone, durch Niederlagen der Kaisermacht im Westen kompromittiert, in der Palastschatzkammer verschwand. Sicher steht nur fest, dass das aus den bisher bekannten Quellen völlig verschwindet, nachdem Ambrosius es dem Heer des verstorbenen Theodosius auf dem Haupt des jungen Kaisersohns präsentiert hatte. Auch später – während des ganzen Mittelalters – sind keine Versuche bekannt, etwa auf dem ein oder anderen Weg wieder in den Besitz dieses Diadems zu kommen. Der Text geriet zwar in nachfolgenden Jahrhunderten nicht in Vergessenheit, bewegte aber offenbar niemanden zum Suchen nach dem von Ambrosius mit so großem Pathos beschriebenen Diadem – was natürlich erstaunt. Die tauchten allerdings mindestens zweimal auf. Im Oktober 816 erhielt Ludwig der Fromme in Reims vom Papst Stefan IV. eine goldene und mit Edelsteinen geschmückte Krone, welche der Pontifex aus Rom mitgebracht haben soll. Ein Zeitgenosse – der Dichter Ermoldus Nigellus – bezeichnete sie als ‚den Kranz Konstantins‘ 207. Ohne auf die Probleme einzugehen, die für Historiker im Zusammenhang mit dieser Krone entstehen können, reicht es hier, einfach festzustellen, dass diese Krone durchaus als Ergebnis literarischer Reminiszenz entstehen konnte. Man nahm aber dabei wohl nicht Bezug auf die Trauerrede Ambrosius’, sondern auf eine ganz andere Schrift: das 208. Als der Papst zweimal – zuerst vor der Krönung und dann schon während dieser Zeremonie – wiederholte: ‚Das ist Dir Geschenk Petri‘ 209, wollte er damit wahrscheinlich sagen, dass er namens des 207
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„Roma tibi, Caesar, transmittit munera Petri, Digna satis digno, conveniensque decus“. Tum jubet adferri gemmis auroque coronam, Quae Constantini Caesaris ante fuit. – Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici, vv. 1074–1077. Der Text wird nach der folgenden Edition zitiert: Ermold le Noir, Poème sur Louis le Pieux et épitres au roi Pépin, hg. und übersetzt von Edmond Fartal ( Les classiques de l’histoire de France au Moyen Age 14 ) Paris 1932, S. 84. Eichmann ( wie Anm. 157 ) 1, S. 43 f., 46. Einwände gegen diese Vermutung s. in: Gerhard Laehr, Die Konstantinische Schenkung in der abendländischen Literatur des Mittelalters bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ( Historische Studien 166 ) Berlin 1926, S. 15 ( Ermoldus führe kein einziges Zitat aus dem an ). Trotzdem unternahm man sogar Versuche, eine äußere Ähnlichkeit zwischen der von Nigellus erwähnten Krone und dem kaiserlichen Kranz aus dem zu erkennen: Deér ( wie Anm. 167 ) S. 17; Eichmann ( wie Anm. 157 ) 2, S. 72. Hoc tibi Petrus ovans cessit, mitissime, donum Tu quia justitiam cedis habere sibi. – Ermoldus Nigellus ( wie Anm. 207 ) S. 86, vv. 1100–1101.
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Apostelfürsten Ludwig jenen Kranz zurückgibt, welchen Kaiser Konstantin dem Papst Silvester seinerzeit geschenkt hatte und der den Päpsten nicht geeignet erschien 210. Die entsprechende Episode mit der Opferung der Krone kommt bekanntlich nur in der späteren Version des , nicht aber in der ursprünglichen Darstellung dieser Legende in den vor 211. Über dem Hauptaltar der Hagia Sophia von Konstantinopel konnte man über längere Zeit hindurch den ( oder sogar mehrere ) aufgehängt sehen, was von vielen Autoren bezeugt wurde. Der erste unter ihnen war bekanntlich Konstantin VII. Porphyrogennetos, der in seiner Schrift über die Verwaltung des Reiches ( zwischen 948 und 952 ) die ausführlichste Nachricht darüber hinterließ 212. Wie die Aachener kann auch dieser Kranz ( bzw. diese Kränze ) in keinen Zusammenhang mit dem gebracht werden – weder in seiner äußeren Form, noch in seiner symbolischen Bedeutung. Seiner Form nach stellte diese Insignie, Konstantin Porphyrogennetos zufolge, ein Kamelaukion – d. h. nicht ein Diadem dar, sondern einen ganz anderen Typ des Kranzes, der allerdings vor der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts nicht verwendet wurde 213. Es dürfte vielleicht derselbe Kranz gewesen sein, welchen ( der von Theophanes zufolge ) Hofdamen dem Kaiser Mauricius ( 582–602 ) am Ostersonntag 601 schenkten, und welchen er alsbald in der Hagia Sophia über dem Hauptaltar als Weihegabe aufhängen ließ 214. Was aber die symbolische Deutung angeht, ist hier entscheidend, dass kein Autor von Passionsreliquien innerhalb des Kamelaukions spricht. Konstantin Porphyrogennetos begründete die Sakralität dieser Insignie mit Hilfe ganz anderer Argumente: 210
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Decrevimus itaque et hoc, ut isdem venerabilis pater noster Silvester, summus pontifex, vel omnes eius successores pontifices diademam videlicet coronam, quam ex capite nostro illi concessimus, ex auro purissimo et gemmis pretiosis uti debeant et eorum capite ad laudem dei pro honore beati Petri gestare; ipse vero sanctissimus papa super coronam clericatus [ … ] omnino ipsam ex auro non est passus uti coronam, frygium vero candido nitore splendidam ressurectionem dominicam designans eius sacratissimo vertici manibus nostris posuimus [ … ] – Das Constitutum Constantini ( Konstantinische Schenkung ): Text, hg. von Horst Fuhrmann ( MGH Fontes iuris 10 ) Hannover 1968, S. 91 f. S. den neuesten Versuch, die alte Diskussion über Zeit, Ort und Zweck der Herstellung des wieder zu beleben: Johannes Fried, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and Its Original Meaning ( Millennium-Studien 3 ) Berlin – New York 2007. Der Verfasser entwickelt die Hypothese, dass das nicht um die Mitte des 8. Jahrhunderts in Rom, sondern im Frankenreich erst während der Regierung Ludwigs des Frommen zusammengestellt wurde. Ein ähnlicher Versuch, den Fälscher in nordfränkische Klöster und sogar in noch späterer Zeit ( um 840–850 ) , wurde allerdings schon vorher unternommen: Hermann Grauert, Die Konstantinische Schenkung, in: Historisches Jahrbuch 3, 1882, S. 1–30; 4, 1883, 45–95; 525–617; 674–680. S. den griechischen Text etwa in der Edition: KONSTANTIN BAGR®NORODN«I—, Ob upravlenii imperie“, Moskau 1991, S. 54, 56. Die langen Diskussionen über das Aussehen des Kranzes-Kamelaukions und seiner Entstehung bringen einige Historiker zur pessimistischen Schlussfolgerung, dass diese Form jetzt schon überhaupt nicht mehr greifbar sei: Wessel – Piltz – Nicolescu ( wie Anm. 164 ) Sp. 387 f. Eine ähnlich skeptische Meinung selbst über die Möglichkeit, die Deutung des Wortes genau zu definieren, und zwar besonders in Bezug auf die Kronen, wird geäußert in: Taxiarches ¯ Kolias, Kamelaukion, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik, 32/3, 1982, S. 493–502. Diese Vermutung wurde geäußert in: Hans-Dietrich Kahl, Die „Konstantinskrone“ in der Hagia Sophia zu Konstantinopel. Ein Beitrag zur byzantinischen Konstantinslegende, in: Ruth Stiehl – Gustav Adolf Lehmann ( Hgg. ), Antike und Universalgeschichte. Festschrift Hans Erich Stier zum 70. Geburtstag am 25. Mai 1972, Münster 1972, S. 302–322, hier S. 322.
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sie sei ( zusammen mit anderen ‚Mänteln und Kränzen‘ ) dem Kaiser Konstantin von Gott durch einen Engel zugesandt worden. Diese Behauptung des Schriftstellers muss natürlich nur cum grano salis wahrgenommen werden, denn er äußert hier nicht seine eigene Meinung, sondern führt die Geschichten an, welche den gierigen barbarischen Fürsten erzählt werden sollten, um ihnen den Appetit auf die öffentlich ausgestellten Schätze der Hagia Sophia zu nehmen. Der Porphyrogennetos hätte aber das eventuelle Vorhandensein eines Kreuzstückchens im Kranz schon allein deswegen kaum verschweigen brauchen, weil der Hinweis auf die heilige Reliquie seine eigene Argumentation für die absolute Unveräußerlichkeit des Kamelaukions nur unterstützen konnte. Nach möglichen Parallelen zum byzantinischen muss man unter solchen Kronen suchen, die zur Gänze als Berührungsreliquien einer heiligen Person und nicht in einzelnen ihrer Teile galten. Als das bekannteste Beispiel einer solchen Krone kann die des heiligen Stephan in Ungarn angeführt werden. Kränze dieses Typs konnten nicht nur über Altären aufgehängt werden, sondern auch Häupter der Statuen und Reliquiare von Heiligen verzieren. Im Unterschied zu Votivkronen konnten solche Kränze auch bei Krönungen durchaus irdischer Herrscher Anwendung finden – wie es auch bei dem in Konstantinopel der Fall war 215. In einem anderen Typ mittelalterlicher Kronen dienten die Kränze nur als Behälter für Reliquien ( vor allem Passionsreliquien ). Hier sollte man aber wieder zwischen zwei Gruppen von Kronen unterscheiden. Bei der ersten handelt es sich um Reliquiare, welche zwar Kronenform hatten, aber für keinen irdischen Regenten vorbestimmt waren. Kronen der zweiten Gruppe stehen in Hinblick auf ihre Morphologie und Funktion dem ambrosianischen ( oder vielleicht eher dem rein hypothetischen ) am Nächsten – einerseits bargen sie Reliquien, andererseits durften aber Kaiser und Könige sie gelegentlich tragen. So setzte Ademar von Chabannes ( 989–1034 ) voraus, die Krone Karls des Großen müsse ein Stück des Holzes vom Heiligen Kreuz enthalten haben 216. Diese seine Bemerkung sagt uns über die wirklichen Kronen Karls natürlich nichts aus, sie verdeutlicht aber, dass man sich um 1000 einen echten Herrscher am besten mit Kreuzpartikel in seinem Königskranz vorstellte. Die älteste heute bekannte Erwähnung einer Krone dieses Typs – corona aurea cum ligno Domini – soll sich im Vermächtnis des Grafen Eberhard von Friaul 867 befinden 217. Die bekannteste unter den Kronen des war wohl die französische ( Couronne de saint Louis ), wo man einen Stachel vom Dornenkranz Jesu in einem <Etui> aus speziell bearbeitetem Edelstein eingeschlossen hielt. Obwohl 1793 eingeschmolzen wurde, erlauben
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Mit diesem Kranz wurde der Anführer des Aufstandes gegen Andronikos I. Komnenos 1185, Isaak II. Angelos, in der Hagia Sophia gekrönt, wie Niketa Choniates in seiner Chronik berichtet ( , II, 11 ). Et in diademate lignum sanctae crucis positum est. – Ademari Cabannensis Chronicon, hg. von Pascale Bourgain ( Ademari Cabannensis Opera Omnia, pars I ) ( CC Cont. Med. 129 ) Turnhout 1999, S. 111 ( II, 25 ). Vgl. auch: Schramm, Herrschaftszeichen ( wie Anm. 142 ) 1, S. 312. Reinhard Elze, Die <Eiserne Krone> in Monza, in: Schramm, Herrschaftszeichen ( wie Anm. 142 ) 2, S. 450–479, hier S. 461.
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erhaltene Darstellungen, sie ins 14. Jahrhundert zu datieren 218. Aus derselben Zeit stammt auch die tschechische Wenzelskrone, die eine analoge Reliquie beinhaltet haben soll, welche Karl IV. ( von Luxemburg ) als Geschenk in Paris erhalten haben dürfte. Auf jeden Fall lautet die Inschrift, welche ein kleines Kreuz mit Edelsteinen auf dem Scheitelpunkt umgibt Hic est spina de corona domini 219. Erhalten ist auch eine Krone aus dem Dom zu Namur, welche speziell zur Aufbewahrung von zwei Dornen zwischen 1207 und 1218 hergestellt wurde 220. Bei dieser besteht aber der Verdacht, dass sie von Anfang an nicht für einen Menschen, sondern für eine Statue Christi oder eines Heiligen bestimmt war. Die Annahme, dass alle Kronen mit Passionsreliquien im engeren Sinn auf das zurückgingen, bleibt zwar verlockend aber unbegründet, weil die <Pause> zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert zu lange ist. Für diese 500 Jahre sind m. W. bis jetzt keine glaubwürdigen Belege gefunden, dass die von Ambrosius begründete Tradition von jemandem weiter fortgesetzt wurde. Nur als handfeste Spekulation könnte man vermuten, dass die rein hypothetische , die als Nachahmung des Kranzes Honorius’ entstehen konnte, als Muster für spätere, noch hypothetischere byzantinische Kränze diente, wobei dann die letzten zu Vorbildern der reliquientragenden Kronen im Westen wurden. Solange man aber keine Quellenbeweise dieser Entwicklung festgestellt hat, darf diese Entwicklungslinie nicht ernsthaft diskutiert werden. Aber selbst wenn sie als Folge neuer Recherchen doch eine gewisse Bestätigung gefunden haben, muss zunächst anerkannt werden, dass der Ausgangspunkt dieser ganzen Entwicklung – das – fast zwölf Jahrhunderte lang so gut wie vollständig vergessen blieb. Man erinnerte sich erst wieder im 16. Jahrhundert an diesen Kranz dank der Vereinigung von humanistischen Studien, die zu dieser Zeit von den antiken Klassikern auch auf die Werke der christlichen Väter erweitert wurden, mit dem Geist der Gegenreformation. Erst im Jahre 1587 identifizierte der Dominikaner Gaspare Bugati eine Krone, die seit langem in der Sakristei der Kathedrale von Monza aufbewahrt wurde, als den ‚Kranz Konstantins‘, den der sterbende Theodosius seinem Sohn durch Ambrosius hinterlassen haben sollte 221. Den Hauptanlass für diese Identifikation gab der angeblich eiserne Reif, der alle sechs goldenen Kronensegmente miteinander von innen zusammenhielt ( Abb. 22 ). Eben dieser Eisenreif stellte nach Bugati die Passionsreliquie dar, weil er aus dem Nagel vom Kreuze Christi gefertigt worden sein sollte. Die Erinnerung an diesen wie auch tiefe Ehr218
219
220 221
Danielle Gaborit-Chopin, Regalia. Les instruments du sacre des rois de France. Les , Paris 1987, S. 95–98. S. z. B.: Karl Schwarzenberg, Die Sankt Wenzels-Krone und die böhmischen Insignien. Wien – München 1960, S. 20; Alexander Belohlávek, ˇ Die böhmischen Krönungsinsignien, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53, 1990, S. 209–215, hier S. 213. Schramm ( wie Anm. 142 ) 3, S. 850–853. Gasparo Bugati, L’Aggiunta dell’Historia Universale, Mailand 1587, S. 155. Ausführlich zu dieser Studie und den nachfolgenden gelehrten Diskussionen des 16. und 17. Jahrhunderts über die Krone aus Monza s.: Renato Mambretti, La corona ferrea segno di regalità e reliquia nella storiografia dei secoli XIV–XVIII, in: La Corona Ferrea nell’Europa degli Imperi 2: Alla Scoperta del Preziose Oggeto, 1: Arte e Culto, hg. von Graziella Buccellati, Monza 1998, S. 56–70. Einem späteren Bericht zufolge war es der Erzbischof von Mailand ( und künftige Heilige ) Carlo Borromeo, welcher noch 1578 die Monzeser Krone als Passionsreliquie verehrte.
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furcht vor dieser Insignie soll – so Bugati – in den Legenden von der <Eisernen Krone der Könige der Langobarden> durch das ganze Mittelalter erhalten geblieben sein. Die Theorie Bugatis war schon Ende des 17. Jahrhunderts vom großen italienischen Gelehrten Ludovico Muratori in seiner bis heute maßgebenden Studie über den real existierenden Kranz aus Monza und die imaginierte <Eiserne Krone> völlig widerlegt worden 222. Er zeigte zurecht, dass die Chronisten, welche seit ungefähr 1230 Legenden über die <Eiserne Krone> nacherzählten, weder von der in ihr eingeschlossenen Reliquie, noch von der angeblichen Beteiligung Helenas, Konstantins, Theodosius’, Honorius’ oder Ambrosius’ am Schicksal dieser Krone wussten. Sie verbanden ihre corona ferrea dagegen mit ganz anderen historischen Persönlichkeiten: dem Kaiser Maximianus ( Herculius ) ( 286–310 ), Theoderich dem Großen und selbst Karl dem Großen 223. Wesentlich bleibt aber, dass niemand unter diesen Autoren sich selbst die kleinste Andeutung erlaubte, es könne in der <Eisernen Krone> eine solch erstklassige Reliquie verborgen sein wie der Nagel vom Kreuze Christi. Die Krone von Monza wird noch heute eifrig von Gläubigen als Passionsreliquie verehrt, obwohl 1993 eine gründliche Untersuchung zeigte, dass ihr Innenreifen nicht aus Eisen, sondern aus purem Silber besteht 224. Und es gibt heute noch genug Historiker, die in diesem Gegenstand das sehen wollen, obwohl die Technik, in welcher er hergestellt wurde, eher für eine Entstehung in der Zeit der Karolinger spricht 225 … XII. NACH AMBROSIUS: DER
Noch spannender scheint die Fortsetzung der Geschichte mit dem zu sein. Wie oben schon erwähnt, tauchte der im 6. Jahrhundert in Konstantinopel wieder auf, wodurch – wie ich vermute – der z w e i t e Kult der Nägel von Golgatha gegründet wurde. Der Zaum soll 553 neben den Evangelien 222
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225
Lodovico Antonio Muratori, De Corona Ferrea, qua Romanorum imperatores in Insubribus coronari solent, in: Ders., Anecdota, Quae Ex Ambrosianae Bibliothecae Codicibus nunc primum eruit, Mailand 1698, S. 267–358, wie auch weitere zahlreiche Auflagen. Die Forschung Muratoris hinderte aber die Kongregation der heiligen Riten nicht, 1717 den Kult des heiligen Nagels in Monza zu billigen, wenn auch ohne speziell auf die Frage der Echtheit der Reliquie einzugehen. Ausführlich: Giovanni Morello, Il processo romano per il culto della corona ferrea, in: La Corona Ferrea ( wie Anm. 221 ) S. 129–133. Den Argumenten Muratoris folgt auch der Verfasser der von Mediävisten am meisten zitierten Studie: Elze ( wie Anm. 217 ). Elze ( wie Anm. 217 ) S. 474. Augusto Calderara, Corona Ferrea: tecniche costruttive e stato d’uso, in: La Corona Ferrea nell’Europa degli Imperi 2: Alla Scoperta del Preziose Oggeto, 2: Scienza e Tecnica, hg. von Graziella Buccellati, Monza 1998, S. 71–170, hier S. 91. Maspero, Alla ricerca ( wie Anm. 174 ); Dies., La corona ferrea ( wie Anm. 174 ). Vorsichtiger äußert sich Sordi: obwohl die Krone in Monza das ambrosianische ( wenn auch in umgewandelter Form ) tatsächlich darstellt, sei dieses Diadem selbst wahrscheinlich erst in der Zeit Valentians I. ( 364–375 ) hergestellt: Sordi, Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 889 f.; Dies., La tradizione ( wie Anm. 50 ). Ihr folgt auch Baert ( wie Anm. 3 ) S. 27 f., Anm. 67. Die Untersuchung 1993 bestätigte, dass die Krone in ihrem heutigen Zustand in der Karolingerzeit entstand, einzelne ihrer Glieder könnten aber vielleicht bis in das 5. Jahrhundert zurückgehen: Silvia Lusuardi Siena, L’identità materiale e storica della corona: un enigma in via di risoluzione?, in: La Corona Ferrea 2,2 ( wie Anm. 224 ) S. 173–249, besonders S. 220 f.
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und weiteren ( offenbar unbearbeiteten ) Nägeln der Kreuzigung während der Sitzungen des 5. Ökumenischen Konzils ( Konstantinopel II ) öffentlich ausgestellt worden sein, wie eindeutig von Papst Vigilius erwähnt wird, der zu dieser Zeit in Konstantinopel weilte 226. Es musste derselbe Pferdezaum gewesen zu sein, von welchem Gregor von Tours etwas später – in den 70er oder 80er Jahren des 6. Jahrhunderts – schrieb. Er wusste dabei genau, dass der Zaum nicht aus einem, sondern aus zwei Nägeln hergestellt worden war. Dadurch gibt er sich als Nachfolger nicht der literarischen Tradition Ambrosius’, sondern derjenigen von Rufinus oder eher Theodorites zu erkennen. In Richtung Theodorites weist noch eine Besonderheit der Erzählung des Bischofs von Tours. Er teilt zwar die Meinung der <Jerusalemer Autoren> darüber, dass der heilige Zaum vor allem im Krieg von Nutzen sei, weil er alle Feinde in die Flucht schlüge, vergisst aber dabei auch nicht die Prophezeiung Sacharjas. Allerdings wird der eschatologische Sinn dieser Textstelle von Gregor wohl überhaupt nicht erkannt, zumal er diesen Vers selbst einer auffallenden Verzerrung unterzieht: ‚Es wird so, – sagt er [ Sacharja ], – dass das Heiligtum des Herrn ins Pferdemaul gelegt wird‘ 227. Diese merkwürdige Texttransformation ist für uns insofern wichtig, weil sie verrät, welche der möglichen Interpretationen des undeutlichen Begriffes .« – fraenum – paguda sich im 6. Jahrhundert schließlich durchzusetzen vermochte. Hier geht es schon zweifelsohne um das Gebiss, also um die Trense und nicht etwa um einen Anhänger auf dem Zaumriemen. Dass Gregor diese Angaben selbst frei erdichtet haben könnte, scheint schon deswegen unwahrscheinlich zu sein, weil er die Statue Konstantins auf dem Forum in der Reichshauptstadt mit demselben Atemzug erwähnt – eine klare Andeutung darauf, dass er Informationen wiedergeben konnte, welche ihn aus Konstantinopel erreicht hatten. Daraus ergibt sich, dass der , welcher – dem Papst Vigilius zufolge – auf dem Konzil 553 demonstriert werden sollte, wahrscheinlich auch schon die Trense und nicht einen anderen Teil des Pferdegeschirrs darstellte. Der Bischof von Tours erzählt auch eine Geschichte über diese Reliquie nach, welche wohl ursprünglich vor allem für Pilger bestimmt war. Kaiser Justin wurde zwei Nächte nacheinander von Dämonen verfolgt, die ein Zauberer gegen ihn geschickt hatte. Als aber der Kaiser in der dritten Nacht die Trense neben sein Haupt legte‚ blieb den Dämonen kein Platz mehr, von wo sie ihre Angriffe ausführen konnten‘ 228. Diese Episode ähnelt sehr der Erzählung über die zufällige A u f f i n d u n g einer Reliquie: sollten dem Kaiser die wunderbaren Qualitäten seiner Trense schon vorher bewusst gewesen sein, warum hätte er sich auch die zweite Nacht dem schweren Kampf gegen die Dämonen aussetzen sollen? Umso wertvoller für uns ist in diesem Kontext die Erwähnung des Kaisers Justin I. ( 518–527 ), weil sie ermöglicht, mit ihm die Entstehung des des Zaumes zu verbinden. Vielleicht entdeckte man die übrigen 226
227
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Charles Rohault de Fleury, Mémoire sur les instruments de la passion de N.-S. J.-C., Paris 1870, S. 172 f., 320 f. [ … ] et de duobus quidem frenum imperatoris munivit, quo facilius, si adversae gentes restitissent principi, hac virtute fugarentur. De quibus non est ignotum Zacchariam vaticinasse prophetam: Erit, inquit, quod in os equi ponitur, sanctum Domini. – Gregorii Turonensis Opera ( wie Anm. 93 ) S. 491. Magnam adserunt virtutem esse huius freni, quod ambigeri nequaquam potest, quod Iustinus imperator publicae expertus ac suis omnibus patefecit. Inlusus enim a quodam mago propter pecuniam emissam, quae sibi daemonis umbra intolerabilis per duarum curricula noctium sustenuisset insidias; sed cum tertia nocte frenum capiti collocasset, locum insidiandi inimicus ultra non habuit, repertumque auctorem insidiarum gladio perculit. Ebd., S. 491.
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Nägel des Echten Kreuzes auch in den Regierungsjahren Justins? Auf jeden Fall bemerkt der römische Diakon Rusticus 549 in seinen Überlegungen zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Personen der Dreieinigkeit, dass der Kult d e r N ä g e l ( im Plural ) und des Holzes des Echten Kreuzes von der gesamten Kirche anerkannt sei 229. Er könnte natürlich allein die gemeint haben – war sie doch nach Gregor ( d. h. wohl nach seinen Konstantinopeler Informanten ) aus zwei Nägeln geschmiedet worden. Es ist aber wahrscheinlicher, dass er hier auch auf weitere Nägel Bezug nahm, denn sie waren nur vier Jahre später – laut Papst Vigilius – während der Konzilssitzungen öffentlich exponiert, d. h. schon eine gewisse Zeitspanne als Reliquien anerkannt. Wenn der in seinem <ersten Kult> (mit bisher unbekannter Lokalisierung), wie oben begründet, wahrscheinlich ein Phylakterion etwa in Form einer auf der Pferdestirn befestigten Phalera darstellte, erschien sie im (Konstantinopeler) Kult als eine Trense. Diese neue Gestalt der Reliquie entstand natürlich nach unklaren Worten von Kirchenhistorikern des 6. Jahrhunderts vor allem wohl aufgrund des Berichts von Theodoret in Folge der intellektuellen Verarbeitung seitens uns unbekannt gebliebener aber bestimmt politisch verantwortlicher Personen. Aus einer ganzen Reihe möglicher Interpretationen dessen, wie ein aus einem oder zwei Nägeln hergestellt werden konnte, wählte man endlich eine einzige aus, und zwar jene, welche eher einem Schmied als einem Theologen als selbstverständlich erscheinen konnte. Die gelangte nicht in die berühmteste Reliquiensammlung, welche im Großen Kaiserpalast, und zwar in der wunderbaren der Gottesmutter von Pharos ( errichtet um die Mitte des 10. Jahrhundert ) zur Schau und Verehrung ausgestellt wurde. Zahlreiche Pilger aus verschiedenen Ländern bezeugten neben anderen in der Palastkirche aufbewahrten erstrangigen Reliquien auch entweder einen Nagel der Kreuzigung oder sogar zwei solcher Nägel 230. Diese Reliquie( n ) behielt( en ) 229
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Nec non et clavos quibus confixus est, et lignum venerabilis crucis, omnis per totum mundum Ecclesia absque ulla contradictione adorat; et non solum quae duae naturae sunt Deus et crux, sed et illud sanctum ferrum, praeter illud venerabile lignum, alia est natura, et altera rursus ipsa Domini caro. – Migne PL, 67, Sp. 1229. Vgl.: Frolow ( wie Anm. 90 ) S. 177 f. ( Nr. 30 ). Die Aufzählung der meisten überlieferten Zeugnisse s. in: Frolow ( wie Anm. 90 ) S. 301–305 ( Nr. 283 ). Vgl.: Raymond Janin, La géographie ecclésiastique de l’empire Byzantin, 1er Partie 3: Les églises et les monastères, Paris 1969, S. 235; ALEKSEI— M. LIDOV, Cerkovц Bogomateri Farossko“. Imperatorski“ hram-relikvari“ kak konstantinopolцski“ Grob Gospoden, in: Vizanti“ski“ mir: iskusstvo Konstantinopolѕ i nacionalцn«e tradicii, Moskau 2005, S. 79–108. Die Hypothesen über die Zeit der Errichtung der Kirche und Entstehung der Reliquiensammlung ebenda s. in: Paul Magdalino, L’église du Phare et les reliques de la Passion à Constantinople ( VIIe – XIIIe siécles ), in: Jannic Durand – Bernard Flusin ( Hgg. ), Byzance et les reliques du Christ ( Centre de recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance. Monographies 17 ) Paris 2004, S. 15–30. Eine kurze Übersicht der Berichte abendländischer Pilger im 11.–13. Jahrhundert s. jetzt in: Michel Bacci, Relics of the Pharos Chapel: a View from the Latin West, in: ALEKSEн M. LIDOV ( Hg. ), Vostoљnohristianskie relikvii, Moskau 2003, S. 234–246, besonders die Konkordanz S. 243–245. Von mehreren Nägeln berichten z. B. unabhängig voneinander die Zeitzeugen aus Frankreich und Russland Rober de Clari und Antonij von Nowgorod. So steht etwa bei dem erstgenannten genau, dass es zwei Nägel gab: ‚[ … ] et si i trova [ … ] les deux cleus qu’il eut fichiés par mi les mains et par mi les piés [ … ]‘ – Robert de Clari, La conquête de Constantinople, hg. von Philippe Lauer ( Les classiques française du Moyen Age 40 ) Paris 1924, S. 82 ( cap. 82 ). In der Beschreibung Antonijs geht es einfach um Nägel im Plural ( gvozdi ): Kniga Palomnik. Skazanie mest svѕt«h vo Caregrade Antoniѕ arhiepi-
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aber offenbar ihr ursprüngliches Aussehen und war( en ) weder in Helm oder Krone eingefügt, noch in eine Trense umgestaltet. Sonst hätte ein so ausgezeichnet informierter Autor wie der Sakristan dieser Kirche Nikolaos Mesarites 1201 etwas mehr gesagt haben können, als dass ‚der Würdige Nagel‘ ( ! « ?« ) nicht verrostet sei, weil er zusammen mit drei anderen Nägeln in das Fleisch Christi geschlagen worden war 231. Antonij von Nowgorod berichtet allerdings um 1200 nicht nur von ‚Nägeln‘ in der Palastkirche, sondern darüber hinaus von einem Nagel 232 im Kloster der Auferstehung ( Anastasis ) und von einem weiteren im Kloster des Christus Philanthropos 233. Man dürfte dann wohl in einem der letzten beiden Nägel den erkennen. Das Kloster des Christus Philanthropos war bekanntlich von der Ehefrau des Kaisers Alexios I. Komnenos ( 1081–1118 ) gegründet und auch von Alexios selbst gefördert worden, was eine gute Erklärung geben könnte, wie die Mönche überhaupt in den Besitz einer so hervorragenden Reliquie kommen konnten. Die Tatsache aber, dass die nicht ( mehr? ) im Kaiserpalast aufbewahrt wurde, spricht auf jeden Fall dafür, dass die Bedeutung dieser Reliquie um 1200 im Vergleich zum Beginn des im 6. Jahrhundert, wesentlich gesunken war. Das Vorhandensein der Nägel in Konstantinopel bedeutet bei weitem nicht, dass an Höfen anderer Herrscher die Nägel von Golgatha völlig fehlen mussten. So wurde einer von ihnen in der Aachener Marienkirche aufbewahrt. Obwohl dieser Nagel zum ersten Mal in einem verhältnismäßig späten ( 12.–13. Jahrhundert ) Inventar der Kirchenschätze explizit genannt wurde 234, wird er schon auf der Liste jener Reliquien genannt, welche von einem Vertrauten Karls des Großen, dem Priester und Dichter Angilbert ( ca. 780–814 ) erworben worden waren 235. Kurz vor 1130 sollen Kreuzritter noch einen Nagel in Ramallah ( das als Geburtsort Josefs von Arimathäa galt ) aufgefunden haben. Dieser Nagel wurde seither in der Palastkapelle der Könige von Jerusalem verehrt 236. Später nahm die Anzahl der Nägel immer mehr zu, was die schon oben in einer der Anmerkungen angeführte unvollständige Liste der Orte erklärt, die beanspruchen, in Besitz der Nägelreliquien gekommen zu sein 237.
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skopa Novgorodskogo v 1200 g., hg. von Chrisanf M. Loparëv, in: Pravoslavn«“ Palestinski“ sbornik 17/3, Sankt-Petersburg 1899, S. 1–111, besonders S. 18. Nikolaos Mesarites, Die Palastrevolution des Johannes Komnenos, hg. von August Heisenberg ( Programm des Königlichen Alten Gymnasiums zu Würzburg 1906/07 ) Würzburg 1907, S. 29 f. In einigen Redaktionen wird hier nur von ‚einem Teil des Nagels‘ gesprochen. Vgl.: Janin ( wie Anm. 230 ) S. 20, 526. Heinrich Fichtenau, Byzanz und die Pfalz zu Aachen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 59, 1951, S. 1–54, hier S. 16 f., Anm. 80. De clavis unde crucifixus est. – Angilberti abbatis de ecclesia Centulensi libellus, hg. von Georg Waitz, in: MGH SS 15/1, Hannover 1887, S. 173–179, hier S. 176 ( cap. 2 ). Vgl.: Fichtenau ( wie Anm. 234 ) S. 17. Hans Eberhard Mayer, Die Hofkapelle der Könige von Jerusalem, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44, 1988, S. 489–509, hier S. 494 f. Vgl. o. Anm 142. Selbst in der römischen Kirche Santa Croce in Jerusalemme ( 4. Jahrhundert ), welche sowohl mit dem Kult des Echten Kreuzes, als auch mit der Memoria Helenas eng verbunden war, scheinen die heute dort aufbewahrten Passionsreliquien ( einschließlich der Nägel ) kaum früher als im 12. Jahrhundert erworben worden zu sein: Sible de Blaauw, Jerusalem in Rome and the Cult of the Cross, in: Renate L. Colella – Meridith J. Gill – Lawrence A. Jenkens – Petra Lamers ( Hgg. ), Pratum Romanum: Richard Krautheimer zum 100. Geburtstag, Wiesbaden 1997, S. 55–73, hier besonders S. 73.
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Die verschwand offensichtlich 1204 aus Konstantinopel während der Plünderung der Stadt durch die Kreuzritter. Dagegen erschien eine sehr ähnliche Reliquie Anfang des 13. Jahrhunderts in der Kathedrale der südfranzösischen Stadt Carpentras, wo ihr Aufenthalt schon seit 1226 urkundlich greifbar ist. Der lokalen Tradition zufolge hatte ein Teilnehmer des 4. Kreuzzuges die Trense nach dort mitgebracht. Darstellungen der Reliquie aus Carpentras zeigen gut, dass es sich hier tatsächlich um eine Trense mit Psalien handelt, wobei ein Sachkenner diesen Gegenstand vielleicht allein auf Grund seines Aussehens datieren könnte ( Abb. 23 ). Kaum jemand wird je vermögen, mit ganzer Sicherheit diese Trense als diejenige Reliquie zu identifizieren, die bis 1204 in Konstantinopel verehrt wurde. Allerdings kann heute die Möglichkeit, dass es sich tatsächlich um ein- und dasselbe Artefakt handelt, nicht völlig ausgeschlossen werden. Der Fall des zweiten vorhandenen – diesmal aus dem Mailänder Dom – ist insofern komplizierter, als diese Reliquie erst seit 1389 quellenmäßig nachvollziehbar ist 238. Obwohl einige durchaus fromme Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts davor warnten, den Mailänder <Echten Nagel> für den zu halten 239, erkennen zahlreiche Pilger und Touristen in diesem Gegenstand noch heute nichts anderes als <Sacro Morso>. Dieselbe Interpretation scheint aber auch den Domklerikern gar nicht so fremd gewesen zu sein: es ist wohl vor allem auf die Konkurrenz der überzeugend aussehenden Trense aus Carpentras zurückzuführen, dass man mit der Bezeichnung der Mailänder Reliquie als Zaum im 19. Jahrhundert vorsichtiger wurde. Als guter Beweis dafür, dass die Mailänder schon lange der Meinung waren, sie verfügten nicht bloß über einen Nagel, sondern über einen , könnte das Reliquiar dienen, in welchem der Nagel noch in der alten Kathedrale – der Kirche Santa Tecla – aufbewahrt worden war, bevor die Reliquie 1461 in den neuen Dom überführt wurde. Obwohl dieses Reliquiar verschollen ist, sind zwei seiner visuellen Darstellungen auf Miniaturen in Mailänder Handschriften des späteren 14. Jahrhunderts erhalten. Die erste, welche wie ein eher typisiertes Bild aussieht, befindet sich heute in Paris 240, die zweite, die individuelle Besonderheiten des Reliquiars besser wiedergebend, ist in der Universitätsbibliothek von Modena zugänglich 241. Auf beiden Miniaturen erkennt man, dass das Reliquiar aus Metall ( Gold oder vergoldetem Silber ) hergestellt war, wobei seine obere Seite Bilder vom Kreuz und der aufzubewahrenden Reliquie trug. Die Miniatur aus Modena gibt genug Einzelheiten wieder, um hierin ein Erzeugnis byzantinischer Künstler erkennen zu können 242 ( Abb. 24 ). Die abgebildete Reliquie stellt zweifelsohne die dar, wobei sie in ihrer Konstruktion und Form ( etwa der Psalien ) an die Trense aus Carpentras er238
239 240 241
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Edith W. Kirsch, An Early Reliquary of the Holy Nail in Milan, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 30, 1986, S. 569–576. Fleury ( wie Anm. 226 ) S. 176. Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 757, fol. 255r. Modena, Biblioteca Estense Universitaria, Ms. Lat. 842, fol. 234r. S. die Faksimile-Edition: Libro d’ore del Maestro di Modena: Officium Beatae Mariae Virginis; Lat. 842 = alfa.R.7.3, Biblioteca Estense Universitaria, Modena, Modena 2006. An der Illuminierung des Manuskripts arbeitete wahrscheinlich der Künstler Tommasino da Vimercate. Kirsch ( wie Anm. 238 ) S. 573 f.
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innert. Allerdings hat dieses Bild mit der Mailänder Reliquie erstaunlicherweise nichts gemein. Es ergibt sich aus all diesen Gegebenheiten, dass das Reliquiar mit großer Wahrscheinlichkeit in Konstantinopel hergestellt worden sein musste, und zwar zur Aufbewahrung des , der schon als verstanden wurde. Dann wäre das 6. Jahrhundert die geeignetste Zeit für seine Entstehung, wobei man natürlich auch spätere Datierungen ( bis um 1200 ) nicht ausschließen darf. Nach Mailand konnte das Reliquiar nur nach der Plünderung Konstantinopels 1204 gelangen, wobei es wohl aus einem der zwei oben erwähnten Klöster ( Christus Philanthropos oder Anastasis ) entwendet worden sein dürfte. Sollte man annehmen, die Trense aus Carpentras sei tatsächlich diejenige, welche früher in Konstantinopel verehrt wurde, müsste das <Mailänder> Reliquiar ursprünglich dazu gehört haben. Die Trennung der Reliquie von ihrem Behälter war wohl auch eine Folge der Katastrophe von 1204 – dies konnte entweder noch während der Eroberung der Stadt oder aber erst etwas später geschehen sein, solange Konstantinopel noch unter lateinischer Herrschaft stand. Wie konnte aber der Mailänder <Echte Nagel> mit dem Behälter für die vereinigt werden? Auf diese Frage sind heute wohl drei gleichermaßen hypothetische Antworten möglich. Die erste würde uns nicht weiter führen: der erschien verhältnismäßig spät in Mailand, erst nach dem Reliquiar. Dann verhielten sich beide Gegenstände zueinander nur formell: der Sakristan von Santa Tecla suchte einfach einen passenden Behälter für die neuerworbene Reliquie unter den Schätzen seiner Kirche aus. Die zweite ist ähnlich, nur wird der Nagel für eine ältere Erwerbung gehalten. Die Mailänder missverstanden oder ignorierten gar die ursprüngliche Bestimmung des byzantinischen Reliquiars. Allein sein hoher Wert und vielleicht noch das Zeichen des Kreuzes auf der Vorderseite machten daraus ein würdiges <Etui> für die wichtigste Passionsreliquie Mailands. In diesen beiden hypothetischen Fällen geschah die Verwandlung des Mailänder <Echten Nagels> in <Sacro Morso> erst später, und zwar unter dem suggestiven Einfluss durch das Trense-Bild auf dem Reliquiar auf den Klerus und die Gläubigen. Nur die dritte – ganz spekulative – Antwort könnte interessante Forschungsperspektiven eröffnen. Nur weil der Mailänder <Echte Nagel> schon lange vor 1200 als <Sacro Morso> verstanden wurde, unternahmen die Mailänder zielgerichtete Anstrengungen, um das vielleicht von Venezianern aus Konstantinopel entwendete Reliquiar für die Kirche von Santa Tecla zu beschaffen – gerade deswegen, weil es die Darstellung des zeigte, die ihren eigenen Vorstellung vom Sinn ihrer eigenen Reliquie entsprach. Die Passionsreliquie aus der ehemaligen Kirche von Santa Tecla ähnelt äußerlich weder einer Trense noch einem anderen technischen Teil des Pferdezaumes. Sollten die Mailänder in diesem Gegenstand tatsächlich noch v o r Erwerbung des byzantinischen Reliquiars einen erkannt haben, müsste sich diese gar nicht selbstverständliche Interpretation auf eine lange und feste Tradition gestützt haben. Wären die verwickelten eisernen <Schnüre> von der Mailänder Reliquie beseitigt worden, hätte man in ihr eine Art Anhänger in Form eines Nagels mit prismatischen Kopf erkennen können ( Abb. 25 ). Obwohl er völlig anders als eine Phalera aussieht, könnte dieser vielleicht doch irgendwie für die des Pferdegeschirrs Anwendung gefunden haben.
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Hätten die Mailänder beweisen können, dass sie spätestens im 12. Jahrhundert nicht einfach den Nagel der Kreuzigung, sondern den aus einem solchen Nagel hergestellten verehrten, wäre dies eine gute Möglichkeit, ihre alten Rivalen aus Carpentras endlich zu übertreffen. Denn die französische Reliquie gibt das Verständnis der Wörter .« – fraenum – paguda aus der Kreuzauffindungslegende wieder, welches sich erst im 6. Jahrhundert durchsetzte. Die Interpretation des als einen Anhänger zum Pferdegeschirr muss aber wesentlich näher zur ursprünglichen gewesen sein, die darin ein auf der Stirn des Pferdes befestigtes Phylakterion sah. Schade, dass solche Beweise kaum gefunden werden können, sonst könnte der <Echte Nagel> aus Mailand vielleicht auch in der Gelehrtenwelt als Reliquie anerkannt werden, und wenn nicht als heilige, dann zumindest als historische. Dann könnte es ein Gegenstand gewesen sein, der vielleicht zwischen 400 und 500 auftauchte, und zwar als Nachklang der politischen Trauerrede des Mailänder Bischofs Ambrosius, nachempfunden gerade dem , auf den er, am Sarg Theodosius’ stehend, die Menschenmenge hinwies 243. XIII. ERGEBNISSE
Es wurde auf den vorhergehenden Seiten eine ganze Reihe neuerer Thesen formuliert, deren Begründungen verschieden sicher sind: einige stützen sich auf mehr oder weniger überzeugende Belege, andere bleiben dagegen nur Vermutungen. Eine solch bunte Ansammlung der nach ihrem Ursprung vielfältigen Bekenntnisse in ein zusammenfassendes Narrativ zu vereinigen, würde bedeuten, gerade diese Unterschiede an Plausibilität einzelner Behauptungen zu nivellieren. Aus Gründen einer narrativen Kohärenz müssen selbst völlig fehlende Verbindungsglieder durch rein hypothetische Annahmen ersetzt werden. Trotzdem könnte das daraus resultierende Bild für den Leser von Nutzen sein, vorausgesetzt, er erkennt darin nicht den Anspruch des Autors, Begebenheiten der Vergangenheit so darzustellen, ‚wie sie eigentlich gewesen‘ waren, sondern tatsächlich einen Ausgangspunkt für weitere Diskussionen – sowohl über Zweck und Inhalt der Rede , als auch über die Entwicklung der Kreuzauffindungslegende und nicht zuletzt über die Geschichte der europäischen Insignien und Reliquien. Die wichtigsten der oben gemachten Beobachtungen können also etwa in folgender Art und Weise subsumiert werden. Der beeindruckende Erfolg der Holzreliquie aus Jerusalem regte schon um die Mitte des 4. Jahrhundert auch in anderen Orten des Ostens den lokalen Klerus zur Suche nach weiteren Reliquien der Passion Christi an. In einem uns heute unbekannt bleibenden ( syrischen? ) Ort ( vielleicht in Antiochia selbst? ) kam es zur Auffindung von zwei Nägeln der Golgatha-Kreuzigung, die aber zu dieser Zeit schon durchaus neue Gestalt bekommen haben mussten. Die Entdecker der Nägelreliquien ließen sich dabei gleichzeitig von zwei unabhängigen Traditionen inspirieren. Einerseits kannte man die in Jerusalem damals schon als offiziell geltende , welche ausführlich das Auffinden des Holzes des Echten Kreuzes durch Augusta Helena beschrieb. Andererseits pflegte man aber an diesem unbekann243
Dass die Reliquie aus dem Mailänder Dom nichts Anderes als „il morso constantiniano“ sein kann, wird für selbstverständlich gehalten etwa in: Maspero, La corona ferrea ( wie Anm. 174 ) S. 76 u. ö.
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ten Ort auch die eigene Memoria des Kaisers Konstantin, die unter Anderem ( oder sogar vor Allem ) mit zwei Artefakten verbunden war: einem Helm und einem Pferdezaum. Man ging davon aus ( vielleicht auch zu Recht ), dass beide sich im persönlichen Besitz Konstantins befunden hatten und von ihm selbst benutzt worden waren. Helm und Zaum waren mit Phylakterien versehen, welche christliche Zeichen – wahrscheinlich Christogramme – darstellten, ähnlich wie bei Helmen und Trensen, die Archäologen gelegentlich in den letzten Jahrzehnten gefunden haben. Unter dem Einfluss sich neu gestaltender Praktiken im Zusammenhang mit der rasch verbreiteten Verehrung der Kreuzespartikel erhielten die Christogramme auf Helm und Zaum eine neue Interpretation. Man wollte in ihnen jetzt einen Hinweis auf die physische Anwesenheit der Kreuzreliquien erkennen. Dies legt den zwangsläufigen Schluss nahe, dass diese Reliquien nicht aus Holz, sondern aus Metall bestanden haben mussten. Als <metallische Kreuzreliquien> kamen natürlich zuallererst die Nägel in Frage, weswegen der Helm und der Zaum ( genauer gesagt ein Anhänger zum Zaum ) als verwandelte Kreuzesnägel umgedeutet wurden und dadurch als Objekt christlicher Verehrung Erhebung fanden. Die angebliche Anwendung des Nagels ausgerechnet für den Pferdezaum wurde allerdings von Pilgern und Klerus nicht als selbstverständlich wahrgenommen und benötigte eine explizite Rechtfertigung, wofür man die dunkle Prophezeiung Sacharjas heranzog. Nachrichten über die Etablierung des Nägelkultes bei einer ( syrischen? ) Schwesterkirche bewogen den Bischof von Jerusalem mit dem Klerus der Grabkirche, ihre eigene Version der Kreuzauffindungslegende entsprechend zu erweitern. Man fügte dem schon vorhandenen fixierten Legendentext ein ( kompositionell nicht besonders gelungenes ) über den Fund der Nägel hinzu, wobei diese bereicherte Fassung weite Verbreitung fand, bald auch außerhalb Jerusalems. Sie stellte auch die schriftliche Vorlage für die entsprechende Stelle bei Gelasius dar, weshalb dieser keinesfalls als erster Autor der Helenalegende gelten kann. Aus dem Ort, wo der erste Nagelkult gepflegt wurde, verbreitete sich aber eine eigene Variante derselben Legende, die in verschiedenen Versionen auch dann im Umlauf blieb, als die beiden verehrten Gegenstände in Folge unbekannter Ereignisse entwendet oder aufgrund anderer Ursachen als verschollen galten, wodurch natürlich auch ihr Kult erlosch. Der Abbruch des Nägelkultes bedeutete u. a. das Verschwinden der Kontrolle über die lokale Tradition der Kreuzauffindungslegende, die früher von Klerikern in ihren Erklärungen vor den Reliquien immer wieder kohärent festgehalten wurde – genauso wie es auch in Jerusalem gemacht wurde. Dies musste zu einer Revitalisierung der mündlichen Überlieferungsformen führen, d. h. zur Vervielfältigung der Legendenvarianten und zu ihrer allmählich fortschreitenden Entfernung vom ursprünglichen Kern. Eine verhältnismäßig frühe Fassung jener Kreuzauffindungslegende, die ihren Ursprung schon nicht mehr direkt in Jerusalem, sondern am Ort des ersten Nagelkultes hatte, lässt sich nach der Erwähnung der Prophezeiung Sacharjas erkennen, – ein Motiv, welches der genuin Jerusalemer Tradition völlig fremd war. Zu diesen heute noch greifbaren Fassungen gehören also: 1. jener Text, welcher Ambrosius bei der Vorbereitung seiner Rede zur Verfügung stand und welcher noch von und nicht reden musste, 2. die eigene Erzählung Ambrosius’ in , 3. der Text, welcher zum Anlass für die Ironie Hieronymus’ wurde, 4. die zweite ( nach
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der des Gelasius ) gemeinsame Vorlage für Kreuzauffindungsberichte von Sozomenos und Theodoret, 5. die Kyriakoslegende. Gregor von Tours passt schon deswegen nicht mehr in diese Reihe, weil er als Träger einer ganz neuen narrativen Tradition erscheint, die erst durch die Entstehung des zweiten Nägelkultes im 6. Jahrhundert – diesmal in Konstantinopel – ins Leben gerufen wurde und vor allem auf dem Bericht Theodorets beruhte. Der <Exkurs> über Helena und die Kreuzauffindung konnte keinesfalls eine spätere Hinzufügung in den Text gewesen sein: er gehörte von Anfang an zu den wichtigsten Teilen der Rede, ja stellte vielleicht sogar ihren Höhepunkt dar. Das Hauptziel dieser ( genauso wie der ganzen Rede ) war weder rein literarischer, noch theologischer und schon gar nicht didaktischer Natur. Es ging Ambrosius nicht um die Auslegung seiner theoretischen Ansichten oder um Belehrung des jungen Kaisers, sondern um eine rein politische Angelegenheit: er sorgte für die Absicherung des Machtübergangs an die Regierung Honorius’. Mit Hilfe der zur Schau gestellten Passionsreliquien beabsichtigte Ambrosius, die Legitimierung des zu jungen und offenbar schwachen Kaisers entscheidend zu stärken und dies vor allem in den Augen der Soldaten. Der Bischof von Mailand setzte seine kühnen Experimente mit der Instrumentalisierung christlicher Reliquien für politische Zwecke fort, die er 386 mit der Entdeckung der Märtyrer Gervasius und Protasius begonnen hatte, wobei er diesmal einen durchaus neuen Typ sakraler Objekte erfand – Kronen, die gleichzeitig auch Reliquiare sind; jenen Typ, der im mittelalterlichen Europa hohes Ansehen und weite Verbreitung finden sollte. Dadurch erscheint Ambrosius in unseren Augen als Autor einer wichtigen kulturell-symbolischen und politischen Innovation, was von Historikern bisher meist übersehen wurde. Es lassen sich allerdings heute keine deutlichen Verbindungslinien vom Ambrosianischen zu mittelalterlichen Kronen mit Kreuzesreliquien nachweisen. Es gibt nach wie vor keine ernstzunehmenden Argumente dafür, dass der Kranz auf dem Haupt Honorius’ sich später in eine der ( sei es in Aachen Anfang des 9. Jahrhunderts, sei es in Konstantinopel Mitte des 10. Jahrhunderts ), in die durchaus legendäre <Eiserne Krone> der Könige der Langobarden oder in die heute noch real existierende Krone aus dem Dom zu Monza verwandelte. Keine Beweise können auch für die Annahme geliefert werden, dass die Veränderungen in der Form des Trifoliums auf Helmen und Kronen byzantinischer Herrscher späterer Zeiten auf eventuelle Erinnerungen an das mit dem zurückgeführt werden können. Als die beste visuelle Parallele zu diesem Diadem kann der Kaiserkranz auf der Rothschild-Kamee gelten. Es bestehen allerdings noch keine sicheren Gründe für die verlockende Vermutung, dass der Kranz mit Christogramm auf dem Haupt des jungen Kaisers auf der Rothschild-Kamee nichts anderes sei als die bildliche Darstellung des heiligen Diadems Helenas und Konstantins, auf welches Ambrosius von Mailand am 25. Februar 395 in seiner Trauerrede hinwies, während es das Haupt des jungen Kaiser Honorius zierte.
Novus David
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Novus David – N« Zur Frage nach byzantinischen Vorläufern eines abendländischen Topos 1 Der biblische König David ist, weit über das Mittelalter hinaus, aus dem Herrschaftsbild des christlichen Abendlandes nicht wegzudenken 2. Im höfischen Zeremoniell, in der Repräsentation, aber auch in der Kritik von Herrschaft dient David als Vorbild, als Typus, als Ideal. Fürsten, Könige und Kaiser geben sich als neue Davide, imitieren den alttestamentlichen Herrscher, der bereits in der Bibel als idealer König hochstilisiert, der als genealogischer Stammvater des judäischen Königtums und, so will es die Bibel, als direkter Vorfahre des Jesus von Nazareth nicht nur zum Typus Regis, sondern zum Typus Christi wird, zur heilsgeschichtlichen Antizipation des verheißenen Friedensfürsten 3. Sie imitieren David, den von Gott erwählten König Israels, der als unterstellter Dichter und Sänger der biblischen Psalmen nicht nur zur idealen Verkörperung der christlichen Tugenden – Glaube, Liebe, Hoffnung –, sondern mit den in den Psalmen zu findenden Verheißungen selbst zum Propheten wird: david rex et propheta ist denn auch eine seiner gängigen Bezeichnungen 4. Sie imitieren schließlich einen David, der sich den biblischen Berichten zufolge durchaus nicht immer nur vorbildlich verhalten hat. So führt er etwa gegen seinen eigenen Sohn Abshalom Krieg oder zeugt mit Batsheba, einer sicherlich schönen, aber leider bereits mit einem anderen verheirateten Frau ein Kind – seinen Nachfolger Salomon – und lässt Batshebas Mann kurzum beseitigen. Allein, von Nathan zur Raison gebracht, bekennt er – und das ist im mittelalterlichen Verständnis das Entscheidende – seine Fehltat und zeigt sich bußfertig, so dass er schließlich in solch vorbildlich reumütigem Umgang mit sei-
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Dies ist die überarbeitete Version eines Vortrages, welchen der Verfasser anlässlich des Tandem-Seminars des Promotionskollegs der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gehalten hat. Für seine wertvollen Hinweise im Anschluss an den Vortrag sei Raimondo Tocci herzlich gedankt, ebenso Michael Grünbart für seine kritische Durchsicht des vorliegenden Manuskripts. Sämtliche hier vertretenen Thesen obliegen dennoch natürlich allein der Verantwortung des Autors. Einen sehr breiten und fundierten Überblick über die Rezeptionsgeschichte Davids bietet Walter Dietrich – Hubert Herkommer ( Hgg. ), König David. Biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt ( Kolloquien der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 19 ) Fribourg 2003. Einen Katalog bildlicher Darstellungen präsentiert Colum Hourihane ( Hg. ), King David in the Index of Christian Art ( Resources 2 ) Princeton 2002. Ein ausführlicher Überblick über mittelalterliche David-Imitationen sowie eine reichhaltige Bibliographie finden sich bei Hubert Herkommer, Typus Christi – Typus Regis. König David als politische Legitimationsfigur, in: Dietrich – Herkommer ( wie Anm. 2 ) S. 383–436. Vgl. Adrian Mettauer, David sanctissimus rex. Ein frühmittelalterliches Herrscherideal im Schnittpunkt klerikaler und laikaler Interessen, in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 25–38.
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nen Verfehlungen zum Garant einer spezifisch christlichen Herrschertugend wird, nämlich der Demut 5. David ist der Herrscher par excellence. Eine der ausgefeiltesten David-Imitationen findet sich bereits bei Karl dem Großen, als erstem westlichem Kaiser gleichsam bei dem Begründer des abendländischen Herrscherbildes. Nicht nur in seinem Umfeld wurde er mehrfach dezidiert mit David verglichen 6, vielmehr inszenierte Karl sich selbst als Vollstrecker davidischer Anliegen, wenn er etwa 794 Papst Hadrian I. den so genannten Dagulf-Psalter zu schenken beabsichtigte, einen mit Elfenbein-Platten geschmückten Band, der neben einer Reihe von Glaubensbekenntnissen eine revidierte, gewissermaßen Fassung des Psalmtextes repräsentieren sollte, wodurch sich Karl, wie auch das Bildprogramm der Elfenbein-Platten unterstreicht 7, wenn natürlich nicht als Verfasser, so doch als Hüter, ja als Bürge des Psalmtextes in eine Linie mit David und Hieronymus stellte. Am deutlichsten aber tritt Karls David-Mimesis im Rahmen eines Namenspiels hervor, das – wohl auf Anregung Alkuins – an seinem Hof gepflegt wurde und bei welchem jeder sich einen passenden Namen aus der griechischen oder biblischen Antike zulegte: Karl ließ sich in diesem Kreis schlichtweg als David ansprechen 8. Weil nun aber Karl, gerade was die Selbstdarstellung seines Kaisertums, das höfische Zeremoniell oder etwa auch die Rituale bei seiner Einsetzung betrifft 9, sich in weiten Teilen an den byzantinischen Ritus anlehnte, ihn zum Teil schlechthin kopierte, lag es in der Erforschung des westlichen Herrscherbildes schon immer nahe zu fragen, inwiefern nicht auch Karls Anlehnung an das große alttestamentliche Vorbild und damit die ganze Davidisierung abendländischer Herrschaftstradition letztlich bloß die Kopie einer byzantinischen Legitimationsstrategie war. Tatsächlich finden sich vor allem in der älteren Literatur zur byzantinischen Kunst- und Kulturgeschichte zahlreiche Bestätigungen, dass David im byzantinischen Herrscherbild seit jeher eine wichtige Rolle gespielt habe. So stellt André Grabar bereits 1936 in einer Monographie zu Kaiserdarstellungen in der byzantinischen Kunst fest, es gebe keinen Zweifel „sur l’intention des artistes de faire ressortir le parallèle entre le règne de David et le gouvernement des basileis contemporains.“ 10 Zwei Jahre spä5
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2Sam 11 und 2Sam 18; vgl. Heinz Bellen, Christianissimus Imperator. Zur Christianisierung der römischen Kaiserideologie von Constantin bis Theodosius, in: Ders., Politik – Recht – Gesellschaft. Studien zur Alten Geschichte, Stuttgart 1997, S. 153–166, bes. S. 164 f.; sowie Rudolf Schieffer, Von Mailand nach Canossa, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 28, 1972, S. 333–370, S. 340 f. So wohl zuerst von Alkuin in einem Brief von 794/795, vgl. Epistolae Karolini aevi 2, hg. von Ernst Dümmler ( MGH Epp. 4 ) Berlin 1895, Nr. 41, S. 84, 17–19. Vgl. Adrian Mettauer, Orthokratie und Orthodoxie. Der Dagulf-Psalter als Geschenk Karls des Großen an Papst Hadrian I., in: Michael Stolz – Adrian Mettauer ( Hgg. ), Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation, Berlin – New York 2005, S. 41–63. Vgl. Herkommer ( wie Anm. 3 ) S. 409, sowie für weitere Belege die Dissertation von Ernst Rieber, Die Bedeutung alttestamentlicher Vorstellungen für das Herrscherbild Karls des Großen und seines Hofkreises, Tübingen 1949. Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz, Sigmaringen 1985; nun auch Rudolf Schieffer, Neues von der Kaiserkrönung Karls des Großen ( Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 2004 Heft 2 ) München 2004. André Grabar, L’empereur dans l’art byzantin. Recherches sur l’art officiel de l’empire d’orient, Strasbourg 1936, S. 96 ( Hervorhebung im Original ); die Studie wurde 1971 bei Variorum Reprint, London, neu aufgelegt, gehört inzwischen aber, auch wenn sie weiterhin noch zitiert wird, wohl eher zur Forschungsgeschichte.
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ter bemerkt Otto Treitinger in einer Studie zur oströmischen Kaiser- und Reichsidee, es sei jeder byzantinische Kaiser in der Nachfolge Konstantins des Großen selbst „ein neuer Konstantin und damit ein neuer dreizehnter Apostel, ein ‚neuer David‘, ‚Moses‘ usw.“, denn „der byzantinische Kaiser sollte eben wieder als Nachfolger der alttestamentlichen Könige, ja selbst als ein solcher erscheinen.“ 11 Dass damit eine Davidisierung des oströmischen Kaisertums bereits in frühbyzantinischer Zeit – wenn nicht sogar bereits unter Konstantin dem Großen – stattgefunden habe, wurde in der Folge immer wieder reklamiert 12; bis heute ist, oft unter Berufung auf die zwei genannten Autoren, die These weit verbreitet, dass es, wie es etwa Rainer Stichel in einer 2007 veröffentlichten Studie zur Rezeptionsgeschichte des Psalters formuliert hat, „zu allen Jahrhunderten“ den byzantinischen Kaisern gefallen habe, „wenn Hofredner, Hofdichter, Theologen sie als ‚neuen David‘ priesen.“ 13 Der Schluss lag daher seit jeher nahe, die abendländische David-Mimesis, und insbesondere die Karls des Großen tatsächlich in imitierender Konkurrenz zu Byzanz zu verstehen 14, was Hugo Steger noch 1961 in einer bis heute als Klassiker geltenden Monographie zum abendländischen Herrscherbild ausformuliert hat: Weil eine „imitatio David regis durch den Herrscher auch für den byzantinischen Raum“ bereits „Jahrhunderte früher als im Norden“ bezeugt gewesen sei, sei Karls imitatio „im Zuge des geistigen Ringens um Gleichberechtigung zwischen Aachen und Byzanz“ als „politische Rivalität der Karolinger mit dem <novus David> in Byzanz“ zu verstehen 15. Karls David-Mimesis wäre demnach direkt von byzantinischen Vorbildern inspiriert. 11
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Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Jena 1938, ND Darmstadt 1956, S. 130 f. Zum Stellenwert Treitingers und Grabars ( wie Anm. 10 ) in der Forschungsliteratur s. Peter Schreiner, Byzanz 565–1453 ( Oldenbourg Grundriss der Geschichte 22 ) München 32008, S. 203. Vgl. Heinrich Fichtenau, Byzanz und die Pfalz zu Aachen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 59, 1951, S. 1–54, S. 30; Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Theodor Mayer ( Hg. ), Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen ( Vorträge und Forschungen 3 ) Sigmaringen 1956, S. 7–73, S. 11; Francis Dvornik, Early Christian and Byzantine Political Philosophy. Origins and Background ( Dumbarton Oaks Studies 9 ) Washington ( D.C. ) 1966, S. 645; Hugo Buchthal, The Exaltation of David, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 37, 1974, S. 330–333, S. 332; Susanne Alexander Spain, Heraclius, Byzantine Imperial Ideology, and the David Plates, in: Speculum 52, 1977, S. 217–237, S. 227 f. Rainer Stichel, Beiträge zur frühen Geschichte des Psalters und zur Wirkungsgeschichte der Psalmen, Paderborn 2007, S. 537; vgl. bereits Ders., Scenes from the Life of King David in Dura Europos and in Byzantine Art, in: Bianca Kühnel ( Hg. ), The Real and Ideal Jerusalem in Jewish, Christian and Islamic Art. Studies in Honor of Bezalel Narkiss on the Occasion of his Seventieth Birthday ( = Jewish Art 23/24, 1997/98 ) Jerusalem 1998, S. 100–116, S. 100–103. Von sprachen insbesondere Peter Bloch, Das Apsismosaik von Germigny-des-Près. Karl der Große und der alte Bund, in: Wolfgang Braunfels ( Hg. ), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, 4 Bde., Düsseldorf 21966, 3, S. 234–261, S. 259, und Heinrich Fichtenau, Karl der Große und das Kaisertum, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61, 1953, S. 257–334, S. 332; vgl. auch Josef Fleckenstein, Karl der Große und sein Hof, in: Braunfels, 1, S. 24–50, S. 45. Hugo Steger, David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts, Nürnberg 1961, S. 128. Das Werk blieb freilich nicht ohne Kritik, s. beispielsweise die Rezension von David H. Wright, in: Speculum 39, 1964, S. 751–753.
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Die These einer verbreiteten David-Mimesis bereits der frühbyzantinischen Kaiser blieb bis vor wenigen Jahren unhinterfragt bestehen, als Claudia Ludwig in recht unspezifischer Weise anmerkte, „die Figur des biblischen König David“ gehöre „seltener als man erwarten würde“ ins „Standardrepertoire“ byzantinisch-kaiserlicher Selbstdarstellung 16. Die These einer Konkurrenz-Situation zwischen dem byzantinischen und dem fränkischen David hingegen wurde schon früher in Frage gestellt, weil die Entwicklungen am fränkischen Hof auch unabhängig von Byzanz und höchstens „mittelbar durch das Kaisertum angeregt“ verstanden werden konnten 17. Tatsächlich bedürfen die beiden Thesen einer eingehenden kritischen Prüfung, und zwar aus folgenden Gründen: Sofern sich erstens moderne Autoren überhaupt die Mühe machen, eine frühbyzantinische David-Mimesis – die Voraussetzung für eine imitierende Übernahme im Westen – mit konkreten Beispielen zu belegen, so handelt es sich fast durchgehend um immer dieselben, fast schon stereotyp wiederholten Fälle; zweitens sind diese immer gleichen Belege nur gerade zwei an der Zahl, nämlich Kaiser Herakleios, der von 610 bis 641 regiert hat, und Basileios I., byzantinischer Kaiser von 867 bis 886 unserer Zeitrechnung. Damit springt sogleich ein dritter Punkt ins Auge: Nur eines dieser Beispiele stammt überhaupt aus der Zeit vor Karl dem Großen. Anlass genug also, die Problematik um Übernahmen, Imitationen und Beeinflussung in der Herrschaftslegitimation zwischen Byzanz und dem Abendland im Hinblick auf David neu aufzurollen. Dies soll im Folgenden ansatzweise versucht werden, indem in einem ersten Schritt die greifbaren möglichen David-Belege aus dem Umfeld frühbyzantinischer Kaiser gesammelt und geprüft werden 18. Dabei wird sich zeigen, dass der Vergleich mit dem biblischen König in Selbstverständnis und Repräsentation byzantinischer Kaiser vor dem Jahr 800 nahezu keine Rolle spielt. In einem zweiten Schritt wird dieser Befund kurz zu interpretieren und mit den abendländischen sowie den byzantinischen Ereignissen nach 800 in Beziehung zu setzen sein.
I Entgegen der wiederholten Behauptung, schon Konstantin der Große sei ein neuer David gewesen, ist über zeitgenössische David-Vergleiche aus dem Umfeld des ersten christlichen Kaisers nichts bekannt 19. Wohl lässt sich nachweisen, dass Kon-
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Claudia Ludwig, David – Christus – Basileus. Erwartungen an eine Herrschergestalt, in: Dietrich – Herkommer ( wie Anm. 2 ) S. 367–382, S. 369 mit Anm. 1. So bereits Ewig ( wie Anm. 12 ) S. 37; vgl. Wolfram von den Steinen, Karl und die Dichter, in: Braunfels ( wie Anm. 14 ) 2, S. 63–94, S. 77: „Karls Betitelung als David“ sei „etwas anderes“ gewesen „als der bloße Vergleich mit David, wie er seit Konstantin gern gebraucht wurde.“ Ebenso nun auch Herkommer ( wie Anm. 3 ) S. 411: Die charakteristische Gestalt des abendländischen Königtums sei „unabhängig von der noch älteren Einbeziehung Davids in die oströmisch-byzantinische Kaiseridee“ entstanden. Den umfangreichsten Katalog an möglichen David-Vergleichen bietet Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 f. Anm. 54. Vgl. auch Marc Philonenko, L’histoire du roi David dans l’art byzantin. Nouvel examen des plats de Chypre, in: Rudolf Zeitler ( Hg. ), Les pays du nord et Byzance ( Scandinavie et Byzance ). Actes du colloque d’Upsal 20–22 avril 1979 ( Figura 19 ) Uppsala 1981, S. 353–357, S. 353. Was in der Forschung eigentlich auch längst schon bekannt ist, vgl. bereits Ewig ( wie Anm. 12 ) S. 138.
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stantin sich nicht nur als 13. Apostel, sondern gar als neuer Christus inszeniert hat 20, wohl sind Moses-Vergleiche aus seinem Umfeld bekannt 21 – David hingegen fehlt komplett. Erst gut hundert Jahre nach seinem Tod wird in kirchlichen Kreisen bisweilen ein Vergleich mit David gezogen werden 22. Dies ist für die vorliegende Untersuchung verständlicherweise belanglos, zumal wegen der gänzlichen Abwesenheit jeglicher zeitgenössischer Indizien bei einer doch sehr beachtlichen Menge an erhaltenen Quellen zum Zeremoniell und zur Selbstdarstellung Konstantins des Großen ausgeschlossen werden kann, dass diese späten, rückblickenden Belege auf eine bereits seit Konstantin bestehende, aber verloren gegangene Tradition zurückgreifen würden 23. Ohnehin ist, anders als später im Abendland, bei Belegen aus kirchlichem Umfeld im römischen und damit auch im byzantinischen Bereich Vorsicht geboten. Weil das römische Kaisertum zum Zeitpunkt der konstantinischen Wende, die ja auch in anderen Bereichen gar keine Wende war 24, schon auf eine 350jährige Herrschaftstradition zurückblicken konnte, seine spezifischen Legitimationsstrategien damit längst ausgebildet, das Zeremoniell längst gefestigt hatte, kam kirchlichen Würdenträgern in der imperialen Repräsentation über weite Strecken bloß eine Statistenrolle zu. Als ehemaliger Pontifex Maximus blieb auch der christliche, byzantinische Kaiser gewissermaßen der Kirche 25 – er rief beispielsweise die Konzilien ein, während es etwa erst im 6. Jahrhundert dem konstantinopolitanischen Patriarchen zukommen sollte, den Kaiser zu krönen, was ihm aber bezeichnenderweise nicht als kirchlichem Würdenträger, sondern als vornehmstem B ü r g e r Konstantinopels zustand 26. Erst ab dem 7. Jahrhundert fanden Krönungen in Sakralräumen statt und erst im 13. Jahrhun20
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Dazu ausführlich Rudolf Leeb, Konstantin und Christus. Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser, Berlin – New York 1992; vgl. auch Bellen ( wie Anm. 5 ). Dazu grundlegend Erich Becker, Konstantin der Große, der ‚neue Moses‘. Die Schlacht am Pons Milvus und die Katastrophe am Schilfmeer, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 31, 1910, S. 161–171. So in der Kirchengeschichte Theodorets, Historia ecclesiastica, hg. von Léon Parmentier, Berlin 31998, lib. 1, cap. 33, S. 89 ( vgl. Migne PG 82, Sp. 989B ); zudem im Jahre 457 in einem Brief der isaurischen Bischöfe an Kaiser Leo I. ( Mansi 7, S. 559 ), der insofern höchstens der leonischen Propaganda zuzuordnen wäre ( s. unten bei Anm. 39 ); schließlich in einer anonymen Biographie über Petrus den Iberer, hg. von Richard Raabe, Petrus der Iberer. Ein Charakterbild zur Kirchen- und Sittengeschichte des 5. Jahrhunderts. Syrische Übersetzung einer um das Jahr 500 verfassten griechischen Biographie, Leipzig 1895, S. 40. Steger ( wie Anm. 15 ) S. 108, behauptet dies – leider ohne es begründen zu können – für die anonyme Biographie Petrus’ des Iberers, deren betont monophysitische Haltung aber unmöglich mit dem orthodoxen Hof in Verbindung gebracht werden kann. Vgl. die ausführliche Diskussion bei Klaus M. Girardet, Die Konstantinische Wende und ihre Bedeutung für das Reich. Althistorische Überlegungen zu den geistigen Grundlagen der Religionspolitik Konstantins d. Gr., in: Ders., Die Konstantinische Wende. Voraussetzungen und geistige Grundlagen der Religionspolitik Konstantins des Großen, Darmstadt 2006, S. 39–155, S. 48–52. Inwiefern der Status des byzantinischen Kaisers als Caesaropapismus umschrieben werden kann, bleibt umstritten; positiv äußern sich etwa Marie Theres Fögen, Das politische Denken der Byzantiner, in: Iring Fetscher – Herfried Münkler ( Hgg. ), Pipers Handbuch der politischen Ideen II, München – Zürich 1993, S. 41–85, S. 64–67; sowie Leeb ( wie Anm. 20 ) S. 148; kritisch hingegen bleiben Ralph-Johannes Lilie, Byzanz. Kaiser und Reich, Köln – Weimar – Wien 1994, S. 40 ff., und Schreiner ( wie Anm. 11 ) S. 208 ( mit weiterführender Literatur ). Dazu grundlegend Frank E. Brightman, Byzantine Imperial Coronations, in: Journal of Theological Studies 2, 1901, S. 359–392.
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dert sollte bei der Kaiserkrönung auch ein Salbungsritual eingeführt werden 27. Entscheidende Legitimationsinstanzen blieben für den ganzen hier interessierenden Zeitraum vielmehr der Senat, das Heer und das Volk 28. Da sich kirchliche Äußerungen an oder über den Kaiser insofern auch nicht als Legitimationsangebot verstehen lassen, sagt es noch nichts über das kaiserliche Selbstverständnis oder gar über eine aktive Propagierung einer David-Mimesis aus, wenn einzig irgendein Provinzbischof oder ein Kirchenhistoriker den byzantinischen Kaiser mit David vergleichen sollte. Besonders deutlich zeigt sich dies unter Konstantins Sohn und Nachfolger Konstantius, unter welchem sich zum ersten Mal ein zeitgenössischer David-Vergleich findet. Der Kirchenvater Athanasius, im Jahr 356 zum dritten Mal von seinem Bischofssitz abgesetzt und ins Exil geschickt, fühlte sich verleumdet und schrieb daher dem Kaiser: „Ahme den David nach, der da spricht: Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den werde ich verfolgen“, und weiter: „denn der heiligste David, dem – darin stimmen alle überein – nachzueifern Dir wohl bekäme, hat derartige Menschen nicht geduldet, sondern sie wie tollwütige Hunde verfolgt.“ 29 Statt eine David-Mimesis zu belegen, unterstreicht der Konjunktiv im zweiten Zitat vielmehr, dass es dem Kaiser von sich aus offensichtlich nicht in den Sinn gekommen wäre, sich mit David zu identifizieren 30. Etwas anders gestaltet sich die Situation unter Theodosius I., gesamtrömischer Kaiser von 379–395. Auch er wird von einem Kirchenvater, dem Mailänder Bischof Ambrosius, mit David verglichen; dies sogar zweimal. Ein erstes Mal, als nach dem Brand einer Synagoge in Kallinikos in Kleinasien Theodosius dem dortigen Bischof die Finanzierung des Wiederaufbaus der Synagoge aufbürden wollte, weil diese offensichtlich von Christen angezündet worden war. Ambrosius schrieb ihm: ‚Was war die Forderung durch den Propheten Nathan an König David selbst, jenen frommen und sanften Menschen? „Ich“, sagte er, „ich habe dich als jüngsten aus deinen Brüdern erwählt, ich habe dich mit einem sanftmütigen Geist gefüllt, ich habe dich durch Samuel gesalbt, in welchem ich und mein Name gewesen sind, ich habe dich, nachdem ich jenen vorderen König erduldet habe, den ein böser Geist geritten hat, so dass er die Priester des Herrn verfolgt hat, ich habe dich von einem Exulanten zum Triumphator gemacht. … Und du bringst meine Diener in die Gewalt meiner Feinde? Du nimmst weg, was meinem Diener gewesen ist, so dass nicht nur du von Sünden gezeichnet wirst, sondern zudem meine Feinde noch Grund zu triumphieren erhalten?“‘ 31
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Vgl. Christopher Walter, Raising on a Shield in Byzantine Iconography, in: Revue des Études Byzantines 33, 1975, S. 133–175, S. 171 f.; sowie Georg Ostrogorsky, Zur Kaisersalbung und Schilderhebung im spätbyzantinischen Krönungszeremoniell, in: Herbert Hunger ( Hg. ), Das byzantinische Herrscherbild, Darmstadt 1975, S. 94–108. Unter Volk ist dabei meistens die Stadtbevölkerung Konstantinopels zu verstehen, vgl. Schreiner ( wie Anm. 11 ) S. 74 f., S. 78 f. Athanasius, Apologia ad Constantium, hg. von Jan Szymusiak ( SC 56 ) Paris 1987, S. 99, S. 133. Das erste Zitat spielt zudem nicht auf David als Herrscher, sondern auf David als Psalmisten an; mehr dazu unten bei Anm. 71. Wie wenig aus der Existenz dieser Vergleiche geschlossen werden kann, dass sie an ein bereits bestehendes kaiserliches Selbstverständnis appellierten, unterstreicht schließlich auch die Tatsache, dass Athanasius den Kaiser ebenso mit dem Antichristen, bzw. mit dessen Wegbereiter vergleicht: Athanasius, Historia Arianorum, hg. von Hans-Georg Opitz, Berlin 1935 f., cap. 46,3, cap. 67,3 f., cap. 76,1; vgl. Patricia Just, Imperator et Episcopus. Zum Verhältnis von Staatsgewalt und christlicher Kirche zwischen dem 1. Konzil von Nicaea ( 325 ) und dem 1. Konzil von Konstantinopel ( 381 ), Stuttgart 2003, S. 64. Ambrosius, Epistolae, hg. von Michaela Zelzer ( CSEL 82,3 ) Wien 1982, Nr. 41, cap. 25, S. 159.
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Wie einst der Prophet Nathan den König David wegen seines Ehebruchs mit Batsheba und der Ermordung ihres Mannes zur Rechenschaft gezogen hat, so versucht nun auch Ambrosius als neuer Nathan den Kaiser in die Rolle des bußfertigen David zu drängen. Noch deutlicher wird dieses Ansinnen in einem zweiten Schreiben, als nach einem Zwischenfall in Thessaloniki zahlreiche Zivilisten auf Geheiß des Kaisers massakriert werden. Ambrosius lässt ihm mitteilen, er könne des Kaisers Teilnahme am Abendmahl nicht rechtfertigen, müsse ihn exkommunizieren und könne ihn erst wieder in die Gemeinde aufnehmen, wenn er öffentlich Buße getan habe. Dazu schreibt er ihm: ‚Oder schämst du dich, Kaiser, zu tun, was David, der König und Prophet, der Stammvater Christi dem Fleische nach, getan hat? Ihm ist gesagt worden, dass ein Reicher, der mehrere Herden hatte, wegen der Ankunft eines Gastes das einzige Lamm eines Armen raubte und schlachtete; und weil er erkannte, dass er selbst beschuldigt wurde, da er es selbst getan hatte, sagte er: „Ich habe vor Gott gesündigt.“ Sei deshalb nicht unfähig zu ertragen, Kaiser, wenn dir gesagt wird: „Du hast ebenso getan“, was dem König David vom Propheten gesagt worden ist. Denn wenn du dir dies aufmerksam anhören und dann sagen würdest: „Ich habe vor Gott gesündigt“, wenn du jenes königliche Prophetenwort sagtest: „Kommt, lasst uns anbeten und niederfallen vor ihm, lasst uns bitten vor unserem Herrn, der uns gemacht hat“, so soll auch dir gesagt werden: „Weil es dich verdrießt, vergibt dir der Herr deine Sünden, und du wirst nicht sterben.“‘ 32
Die beiden Episoden könnten nun ebenfalls als Dokumente k i r c h l i c h e r Beeinflussungsversuche, die nichts mit dem imperialen Herrscherbild zu tun haben, ad acta gelegt werden, wenn denn nicht Theodosius den bischöflichen Anliegen in beiden Fällen nachgekommen wäre. So ersparte er dem kallinikischen Bischof tatsächlich den Wiederaufbau der abgebrannten Synagoge und zögerte auch nicht, öffentlich Buße zu tun, um am Weihnachtstag 390 feierlich wieder zum Gottesdienst zugelassen zu werden 33. Hat damit Kaiser Theodosius eine David-Mimesis in sein höfisches Zeremoniell aufgenommen? Mangels weiterer, positiver Belege für eine aktive Propagierung eines David-Vergleichs von kaiserlicher Seite her sollte die Frage nicht allzu leichtfertig bejaht werden. Denn eines fällt auf: Als Theodosius 395 stirbt, darf derselbe Bischof Ambrosius die Trauerrede halten, und er flicht in diese Rede erneut eine Reihe von DavidVergleichen ein. Erstaunlich ist nur, dass alle Vergleiche bloß implizit erschließbar sind, etwa aus nicht als solchen gekennzeichneten Psalmzitaten, in einem Fall sogar durch Anlehnung an eine Wendung aus einem der beiden oben zitierten Mahnbriefe 34. Nur Insider konnten damit die Parallelisierung überhaupt nachvollziehen; und auch wenn solche versteckten Andeutungen bisweilen ins Repertoire einer antiken – und erst recht einer byzantinischen – Rede gehören 35, kann man sich beim Lesen dieser Rede 32 33
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Ambrosius ( wie Anm. 31 ) Nr. 51, cap. 7, S. 214. Vgl. Herkommer ( wie Anm. 3 ) S. 392 f.; sowie Bellen ( wie Anm. 5 ) S. 163 f. mit seiner einleuchtenden Argumentation, dass vom Bußakt von Mailand nicht vorschnell eine Linie nach Canossa gezogen werden dürfe ( so bereits Schieffer [ wie Anm. 5 ] S. 368 f. ). Vgl. Ambrosius, De obitu Theodosii, Migne PL 16, cap. 17, Sp. 1391 mit Ps 116,1; ebd., cap. 27, Sp.1394 mit 2Sam 24,17; sowie ebd., cap. 34, Sp. 1396 (quod privati erubescunt, non erubuit imperator, publicam agere poenitentiam ) mit dem ersten Satz des oben bei Anm. 32 zitierten Abschnitts, schließlich: Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum, hg. von Pierre Hadot und übers. von Marius Cordier ( SC 239 ) Paris 1977, lib. 4, cap. 15, S. 92 ( Quod erubescunt facere privati rex non erubuit confiteri ). Vgl. Herbert Hunger, Art. , in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2, 1994, S. 92–118, S. 95; vgl. bereits Ders., Aspekte der griechischen Rhetorik von Gorgias bis zum Un-
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des Verdachts nur schwer erwehren, es sei Ambrosius versagt worden, Theodosius noch einmal mit David zu vergleichen. Die Gründe hierfür lägen auf der Hand, denn Ambrosius hat sich mittels der biblischen Parallele eine Einflussmöglichkeit auf den Kaiser zu verschaffen gesucht, die am Kaiserhof kaum auf Gegenliebe gestoßen sein dürfte. Das Bild des vorbildlich-gehorsamen Königs David, das Ambrosius auch noch anderweitig zu popularisieren versuchte 36, entsprach dem römisch-byzantinischen Herrscherbild offenbar nicht 37. Auch unter den nachfolgenden Kaisern sind es ausschließlich kirchliche Belege, die einen David-Vergleich artikulieren: So wurde Markian auf dem Konzil von Chalcedon 450 als ‚neuer Konstantin, neuer Paulus‘, und, erst an dritter Stelle, als ‚neuer David‘ akklamiert, dem Gott eine ebenso lange Regierung geben solle, wie David sie gehabt habe 38. Als Kaiser Leo I., Markians Nachfolger, von sämtlichen Bischöfen des Reiches Stellungnahmen zu den chalcedonensischen Beschlüssen verlangte, wurde auch er in drei dieser bischöflichen Antwortschreiben mit David verglichen 39. Nicht anders erging es im 6. Jahrhundert schließlich Iustin I., Kaiser von 518 bis 527, der von Papst Hormisdas ebenso wie von Bischof Innozenz von Maronia in zum Teil nicht ein-
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tergang von Byzanz ( Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 277,3 ) Wien 1972, S. 25. Ambrosius schrieb zwei Verteidigungsschriften für David, um dessen biographische Ausrutscher in ein für antike Leser rühmliches Licht zu rücken und David als Vorbild zu präsentieren ( Apologia prophetae David [ wie Anm. 34 ]; Apologia altera prophetae David, Migne PL 14, Sp. 925–959 ); ein vergleichbares Ziel verfolgte er auch in mehreren Abschnitten seines De officiis ministrorum, hg. von Maurice Testard ( CC 15 ) Turnhout 2000, lib. 2, cap. 32–38; vgl. auch ebd. lib. 1, cap. 31 und lib. 2, cap. 6. Zudem veranlasste er wohl selbst den in Holz geschnittenen David-Zyklus an den Türen von St. Ambrogio in Mailand, vgl. Ernst Dassmann, Zu den Davidszyklen im Apollon-Kloster von Bawit, in: Ders. – Klaus Thraede ( Hgg. ), Tesserae. Festschrift für Josef Engemann, Münster 1991, S. 126–137, S. 132; Gude Suckale-Redlefsen, Die Bilderzyklen zum Davidleben. Von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Diss. München 1972, S. 6. Zur generell ablehnenden Haltung des Kaisers gegenüber Ambrosius vgl. Just ( wie Anm. 30 ) S. 195–202. Concilii Chalcedonensis Actio 4. Acclamationes Episcoporum, in: Acta Conciliorum Oecumenicorum 2.1.2, S. 155 ( vgl. Mansi 7, S. 169 ). Zu beachten ist die viel wichtigere Rolle Konstantins: ‚Markian ist ein neuer Konstantin, ein neuer Paulus, ein neuer David. Die Jahre Davids dem Kaiser. Bewahre, Herr, sein Leben. Er ist ein neuer Konstantin. … Ewiges Gedenken dem neuen Konstantin. Den von Anbeginn Rechtgläubigen behüte Gott. … Markian ist ein neuer Konstantin, Pulcheria eine neue Helena.‘ Vgl. das Gebet des Bischofs Sabinianus, wonach Gott auch zu diesem Herrscher sagen könne: ‚Ich habe einen Auserwählten aus meinem Volk erhöht; ich habe meinen Knecht David gefunden und ihn mit meinem heiligen Öl gesalbt‘: Actio 15. Libelli Sabiniani, ebd., 2.1.3, S. 65 ( vgl. Mansi 7, S. 316 ). So schreiben ihm die Bischöfe der Provinz Europa: ‚Gegen die Feinde erhebst du dich wie ein Löwe, unter den Friedlichen aber und Unterworfenen gibst du dich als Nachahmer des sanftmütigsten David, da du deine Herrschaft ja von Gott her erhalten hast‘ ( Mansi 7, S. 539 ). Die isaurischen Bischöfe bringen den bereits erwähnten Konstantinvergleich ( dazu oben, Anm. 22 ); und die Vorsteher der Provinz Armenia Prima antworten ihm: ‚Der wahre Gott, unser Herr Jesus Christus, der stets die besten Gaben den Menschen überlässt, lässt uns nie unumsorgt zurück. In dieser Gnade ist er auch um den wahren Glauben besorgt, der die Hoffnung auf unser Heil ist, und hat deshalb an dich, oh frommer und christlichster Herrscher, wie an einen zweiten David die Befehlsgewalt übertragen: Von welchem er schon in der Wiege gewusst hat, dass er gottesfürchtig dienen werde, von dem hat er beschlossen, dass er den ganzen Erdkreis beherrschen solle. Denn wohin sich auch die Wohltaten eurer Herrschaft auf die Untertanen ergießen, da überwiegt stets ein frommes Urteil, weil eure Sanftmut nur im Glauben richtet‘ (Mansi 7, S. 587 ).
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mal an den Kaiser gerichteten Briefen mit David verglichen wurde 40. Von keinem dieser Kaiser ist allerdings bekannt, dass er dem Vergleich besondere Beachtung geschenkt oder ihn sogar selbst inszeniert hätte. Damit machen all diese Belege deutlich, dass der Vergleich zwar in bescheidenem Maße im kirchlichen Vokabular auftaucht, in den Bereich der imperialen Repräsentation aber bisher keinen Eingang gefunden hat. Mehr Beachtung verdient allenfalls ein Mosaik aus dem Katharinen-Kloster am Sinai, welches von Suzanne Alexander Spain als Beleg für eine David-Mimesis des Kaisers Justinian ins Spiel gebracht worden ist 41. In der Mitte des 6. Jahrhunderts nicht nur als Festung gegen die südlich benachbarten Araber erbaut, sondern auch als Hort der Orthodoxie in einem von monophysitischen Häretikern durchdrungenen Gebiet, prangt in der Apsis der Theotokoskirche zu Füßen des verklärten Jesus – als zentrales Portrait in der Mitte der alttestamentlichen Propheten – König David, als kunsthistorisches Novum zum ersten Mal überhaupt mit einer Krone auf dem Kopf 42. Zeigt schon diese Neuerung, dass David nun offenbar auch als Herrscher statt bloß als Psalmsänger oder jugendlicher Bezwinger Goliaths ikonographische Beachtung findet, so wird das Portrait für die vorliegende Problematik erst recht interessant, wenn man es der zeitgenössischen Darstellung Justinians gegenüberstellt, welche sich in der Chiesa San Vitale von Ravenna findet: Die Ähnlichkeit der beiden Gesichter ist unverkennbar 43. Offensichtlich soll den zum Monophysitismus neigenden Syrern und Ägyptern als warnende Mahnung David bzw. Justinian, oder eben: Justinian als novus David, als Hüter und Verteidiger der Orthodoxie, vor Augen gehalten werden. David wird damit, innerhalb der imperialen Repräsentation, zum religionspolitischen Instrument. Allein – ist dies nun die viel beschworene verbreitete David-Mimesis byzantinischer Kaiser? In einer Außenbastion mitten in der Wüste am südöstlichen Zipfel des Reiches? Die Ähnlichkeit ist tatsächlich frappant, doch ebenso frappant ist, dass auch aus Justinians Zeit jegliche weiteren Belege solcher religionspolitischer Instrumentalisierung Davids fehlen und auch in den folgenden fast hundert Jahren nicht einmal ein kirchlicher David-Vergleich überliefert ist, ja, dass man sich sogar bis ins 9. Jahrhundert gedulden muss, bis eine Darstellung des gekrönten David aufgenommen wird und eine nennenswerte Verbreitung findet 44. Die zentrale Stellung Davids im Apsismosaik allerdings lässt sich auch mit der theologischen Grundintention des gesamten Bildprogramms erklären, nämlich als „Anspielung auf die Zweinaturenlehre“ 45, indem der 40
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Epistola 44. Hormisda Episcopus Justino Augusto, Mansi 8, S. 462. Hat Hormisdas seine Regenten wie einst Ambrosius anhand von biblischen Figuren zu angemessenem Handeln bewegen wollen, so hat er sie interessanterweise lieber mit Hiskia als mit David verglichen: vgl. Epistola 11, Hormisda Anastasio Augusto, Mansi 8, S. 413; sowie Epistola 78. Hormisda Justino Augusto, Mansi 8, S. 518. Vgl. Spain ( wie Anm. 12 ) S. 229. Dazu Anna D. Kartsonis, Anastasis. The Making of an Image, Princeton 1986, S. 186. Abgebildet beispielsweise bei Ruth E. Leader, The David Plates Revisited. Transforming the Secular in Early Byzantium, in: The Art Bulletin 82, 2000, S. 407–427, S. 416, Fig. 12, S. 417, Fig. 13. Für die offenbar einzigen vier greifbaren früheren Beispiele von Abbildungen Davids als König s. Kartsonis ( wie Anm. 42 ) S. 186 Anm. 85. So Kurt Weitzmann, Zur Kunst des Katharinenklosters, in: John Galey ( Hg. ), Sinai und das Katharinenkloster, Stuttgart – Zürich 1979, S. 81–160, S. 84. Weiterführend nun auch Leader ( wie Anm. 43 ) S. 417, welche in Kleidung und Krone Davids dennoch einen deutlich , byzantinisch-kaiserliche Tradition aufnehmenden und damit auch repräsentierenden Zug sieht.
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menschliche Stammvater Jesu dem verklärten, seine göttliche Natur offenbarenden Jesus zu Füßen gestellt wird. Als Beleg für eine David-Mimesis, die als Vorläufer und Vorbild dessen gelten könnte, was sich später im Abendland finden wird, kann auch diese Übereinstimmung nicht gehandelt werden. In noch ganz anderem Ausmaß als Justinian wird auch Herakleios, Kaiser von 610 bis 641, als Beleg für eine David-Mimesis frühbyzantinischer Herrscher herangezogen 46. Von Karthago aus war Herakleios 610 als Feldherr mit seiner Flotte Richtung Konstantinopel gefahren, um den ohne großen Rückhalt regierenden Kaiser Phokas zu stürzen. Nach wohl mehr als bloß rituellem Zögern ließ er sich zum Kaiser krönen und erbte damit ein Reich, das nicht nur durch die Usurpation, sondern auch durch einen stets drohenden Zweifrontenkrieg mit den Awaren im Norden und den Persern im Süden in einer innen- wie außenpolitischen Krise steckte 47. Besonders laut wurde die Kritik, als 615 Jerusalem von den Persern eingenommen und die Kreuzesreliquie gestohlen wurde. Doch nachdem es Herakleios bis 623 gelungen war, mit den Awaren eine Waffenruhe auszuhandeln, zog er, Feldherr der er war, persönlich gegen die Perser in den Krieg 48, nicht ohne vorher noch seinen Witwenstand zu beenden und seine um etliches jüngere Nichte Martina zu heiraten ( was auch nach damaligem Recht unzulässig war ) und sie mit auf den Feldzug zu nehmen, wo sie ihm ein Kind nach dem anderen gebar. Weil nun aber die angeborenen Behinderungen einiger dieser Kinder als schlechtes Omen gedeutet wurden, und weil zudem die Erfüllung dieses Omens nicht lange auf sich warten ließ – 626 kündigten die Awaren ihre Waffenruhe und belagerten gemeinsam mit den Persern Konstantinopel –, wurde diese inzestuöse Ehe des fernab weilenden Kaisers plötzlich zum Politikum 49: Herakleios geriet erneut in die Kritik, seine Herrschaft wankte. Es sollte jedoch anders kommen. Von der religiös durchtränkten Kriegsrhetorik des Patriarchen Sergios aufgepeitscht, leisteten die Konstantinopolitaner erbitterten Widerstand, so dass die Awaren schließlich erneut mit sich verhandeln ließen und abzogen, während Herakleios im Süden gegen die Perser – nunmehr mit der entsprechenden Rhetorik einen ‚heiligen Krieg‘ führend 50 – einen Sieg nach dem anderen errang und den Persern im Dezember 627 eine so entscheidende Niederlage zufügen konnte, dass das Perserreich in der Folge völlig untergehen sollte. In der nun gepflegten Rhetorik war Herakleios unversehens wieder der Erwählte, und so dürfte es nicht
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Neben Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 f., und den eingangs zitierten Autoren auch Claudia Ludwig, Kaiser Herakleios, Georgios Pisides und die Perserkriege, in: Poikila Byzantina 11, 1991, S. 73–128. Zu Herakleios’ Aufstieg und Regierung s. Walter E. Kägi, Heraclius, Emperor of Byzantium, Cambridge 2003; Gerrit J. Reinink ( Hg. ), The Reign of Heraclius ( 610–641 ). Crisis and Confrontation, Leuven 2002; sowie John F. Haldon, Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture, Cambridge 1990. Was seit Theodosius I. im 4. Jahrhundert kein römischer Kaiser mehr getan hatte, vgl. Kägi ( wie Anm. 47 ) S. 68 f. Laut Paul Speck, Das geteilte Dossier ( Poikila Byzantina 9 ) Bonn 1988, S. 37, überlebte von fünf zwischen 623 und 626 geborenen Kindern nur eines; ihm wird hier in der Datierung der Heirat zwischen Herakleios und Martina ( im Jahre 622, s. ebd., S. 33–40 ), nicht aber in der Datierung des Aufkommens einer ersten Kritik an dieser Heirat gefolgt ( ebd., S. 68–74 und S. 366–369 plädiert Speck für ein spätes Aufkommen um 630, statt, wie hier vertreten wird, bereits um 626 ). Vgl. Kägi ( wie Anm. 47 ) S. 126.
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allzu fern gelegen haben, sich eines anderen Erwählten zu besinnen, der ebenfalls fast an einer unlauteren Ehe gescheitert wäre: Noch 627, als sich die Aufhebung der Belagerung Konstantinopels zum ersten Mal jährte, predigte Theodoros Synkellos, Herakleios könne ein ‚heute regierender Abkömmling Davids‘ genannt werden und die Zionsverheißung aus Jes 37,35 – ‚Ich will diese Stadt schützen, dass ich sie errette um meinetwillen und um meines Knechtes David willen‘ – gelte nunmehr auch für Konstantinopel, ‚denn auch unser Herrscher ist in der Frömmigkeit zu Gott und in der Sanftmütigkeit zu den Untertanen ein David.‘ 51 Dass es sich dabei um mehr als bloß einen weiteren k i r c h l i c h e n David-Vergleich handelt, wird aus Herakleios’ eigenem Verhalten deutlich: Noch vor der entscheidenden Schlacht von Ninive bringt Martina im November 627 einen weiteren Sohn zur Welt, den die beiden – was zumindest für frühbyzantinische Zeiten ein Unikat ist – auf den Namen David taufen lassen. Zudem entstehen unter Herakleios wohl in einer konstantinopolitanischen Werkstatt 52 sechs einzigartige Silberplatten mit Szenen aus dem Jugendleben Davids, die nach der gängigen Interpretation dem Bereich der imperialen Repräsentation zugerechnet werden und – bezogen auf das Ende des Perserfeldzugs – zwischen dem Sieger Herakleios und dem Helden David eine Parallele zeichnen sollen 53. Auch wenn sich ein direkter Vergleich zwischen Herakleios und David höchstens an kleinen Details festmachen lässt 54, scheint David damit in bisher ungekannter Weise in den Bereich der imperialen Repräsentation Eingang gefunden zu haben. Als weiterer Beleg könnte der Umstand herangezogen werden, dass Herakleios den alttestamentlichen Königstitel ins Titular des byzantinischen Zeremoniells einführt 55; zudem spielt der Hofpoet und Panegyriker Georgios Pisides im Proömium zu seinem Hexaemeron auf die Taten des Herakleios an, nennt zum Schluss aber David 56, was, wie Claudia Ludwig festgestellt
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Theodoros Synkellos, Homilia de obsidione Avarica Constantinopolis, hg. von Leo Sternbach, Analecta Avarica, Krakau 1900, S. 313, S. 320. Vgl. Galit Noga-Banai, Byzantine Elite Style. The David Plates and Related Works, in: Boreas 25, 2002, S. 221–237, S. 236 f. Gar für eine höfische Werkstatt plädierte Erika Cruikshank Dodd, Byzantine Silver Stamps ( Dumbarton Oaks Studies 7 ) Washington ( D.C. ) 1961, S. 32 f. So Suckale-Redlefsen ( wie Anm. 36 ) S. 6; Spain ( wie Anm. 12 ) S. 229 f.; James Trilling, Myth and Metaphor at the Byzantine Court. A Literary Approach to the David Plates, in: Byzantion 48, 1978, S. 249–263. Für eine Datierung nach den Perserfeldzügen spricht die angeschlagene finanzielle Situation des Reiches, vgl. Andreas N. Stratos, Byzantium in the Seventh Century, übers. von Marc OgilvieGrant ( Bd. 1 ) und Harry T. Honides ( Bde. 2 und 3 ) Amsterdam 1968–1975, 1, S. 257–262. So können auf der Platte mit dem Goliath-Kampf die drei Steine, welche David für seine Schleuder gesammelt hat, auch als die Äpfel der Hesperiden gedeutet werden, womit eine Identifizierung David – Herkules – Herakleios gewährleistet sein soll, vgl. Marlia Mundell Mango, Imperial Art in the Seventh Century, in: Paul Magdalino ( Hg. ), New Constantines. The Rhythm of Imperial Renewal in Byzantium, 4th–13th Centuries ( Papers from the Twenty-Sixth Spring Symposium of Byzantine Studies, St Andrews, March 1992 ) Cambridge 1994, S. 109–138, S. 116, S. 126. Dass nur drei Steine statt der biblisch verbürgten fünf abgebildet sind, ist aber nicht zwingend auf eine künstlerische Absicht zurückzuführen, da durchaus gerade griechische Versionen von 1Sam 17,40 nur von drei Steinen sprechen, vgl. Philonenko ( wie Anm. 18 ) S. 356 f. So zumindest Spain ( wie Anm. 12 ) S. 232; Mango ( wie Anm. 54 ) S. 128; sowie Otto Kresten, Herakleios und der Titel «, in: Poikila Byzantina 18, 2000, S. 178 f. und Ders., Oktateuch-Probleme. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung, in: Byzantinische Zeitschrift 84/85, 1991/1992, S. 501–511, S. 504 Anm. 13. Georgios Pisides, Hexaëmeron, Migne PG 92, cap. 1, v. 1–56, Sp. 1426–1430.
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hat, nur nachvollziehbar sei, wenn „eine bestehende Gleichsetzung von Herakleios und David“ vorausgesetzt werde 57. Dennoch bleibt auffallend, wie sehr diese allfälligen Parallelisierungen im Vergleich zu westlichen Ausarbeitungen bloß andeutend sind und indirekt erschlossen werden müssen; zudem lassen sich die meisten Indizien auch anders interpretieren: Dass die Silberplatten mit offiziellen Stempeln aus Herakleios’ Regierungszeit versehen sind, heißt noch lange nicht, dass sie auf Anregung aus dem kaiserlichen Umfeld angefertigt worden seien. Ihr Bildprogramm und nicht zuletzt ihr Fundort auf Zypern lassen sie weit schlüssiger fernab von jeglichen imperialen Repräsentationsversuchen ins häusliche Umfeld eines reichen Bürgers einordnen, und zwar als Versuch, eine pagane Tradition spätantiker Silbertafeln in nunmehr christianisierter Weise aufzunehmen 58. Der -Titel lässt sich auch als Anlehnung an Alexander den Großen 59 oder als Übernahme persischer Titulatur verstehen 60 – wenn denn der neue Titel nicht einfach auf die Gräzisierungs-Bestrebungen in Herakleios’ Verwaltungsreform zurückzuführen ist. Einmal abgesehen von Herakleios’ Sohn David Tiberius fehlt damit eine eindeutige Bezugnahme auf David auch unter Herakleios, was umso erstaunlicher ist, als sich in seinem Leben durchaus Episoden finden würden, die einen direkten und expliziten Vergleich mit David geradezu nahe legten: Wie einst David die Bundeslade nach Jerusalem zurückgeführt hat, führt Herakleios wohl noch 628 die Kreuzesreliquie in einer großen Prozession nach Jerusalem zurück, was – zumindest in den erhaltenen Quellen 61 – von den Zeitgenossen aber ausschließlich als Imitatio Konstantins des Großen gedeutet wird, der die Kreuzesreliquie ursprünglich nach Jerusalem gebracht hatte 62. Zudem entstehen noch zu Lebzeiten des Kaisers Legenden, er habe während des Perserkrieges einen Zweikampf gegen einen persischen Riesen gewonnen, was von den Zeitgenossen zwar berichtet, aber nie mit Davids Kampf gegen Goliath in Verbindung gebracht wird 63 – ganz im Gegensatz übrigens zu westlichen Chroniken, die die offensichtliche Parallele sogleich ziehen 64. Über einige mögliche Ansätze hinaus 57
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Ludwig ( wie Anm. 46 ) S. 110; vgl. ebd., S. 104–114 für weitere Anklänge an eine mögliche Parallelisierung zwischen Herakleios und David. So ausführlich Leader ( wie Anm. 45 ) und nun auch Kägi ( wie Anm. 47 ) S. 198 f.; vgl. bereits Stichel, Scenes ( wie Anm. 13 ) S. 102 f. So Peter Schreiner, Das Herrscherbild in der byzantinischen Literatur des 9. bis 11. Jahrhunderts, in: Saeculum 35, 1984, S. 132–151, S. 132. So bereits Hélène Ahrweiler, L’idéologie politique de l’Empire byzantin, Paris 1975, S. 22. So schlägt Steven H. Wander vor, in einem fehlenden Abschnitt aus der des Georgios Pisides wäre die Parallele „in all likelihood“ ausgeführt gewesen: Ders., The Cyprus Plates. The Story of David and Goliath, in: Metropolitan Museum Journal 8, 1973, S. 89–104. Georgios Pisides, In restitutionem Sancti Crucis, hg. und übers. von Agostino Pertusi, Giorgio di Pisidia Poemi 1, Ettal 1959, S. 227 f., v. 47–63; vgl. neben Spain ( wie Anm. 12 ) S. 226, und Ahrweiler ( wie Anm. 60 ) S. 22, nun v. a. Jan W. Drijvers, Heraclius and the Restitutio Crucis. Notes on Symbolism and Ideology, in: Reinink – Stolte ( wie Anm. 47 ) S. 175–190, der allerdings wegen des vorhandenen Vergleichs des Kreuzes mit der Bundeslade bei Georgios Pisides ( ebd., S. 228, v. 73–77 ) an einer davidischen Interpretation festhält. Vgl. Speck ( wie Anm. 49 ) S. 138 f. und S. 317–320; sowie Georgios Pisides, De expeditione persica, Migne PG 92, cap. 3, v. 82 ff., Sp. 1240 f. Um 650 bereits Fredegar, Chronica, hg. von Andreas Kusternig, Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 4a ) Darmstadt 1982,
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scheint eben auch die immer wieder reklamierte David-Mimesis des Herakleios nicht gegangen zu sein. Herakleios’ politischer Höhenflug übrigens endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Durch das Machtvakuum, das mit dem Zusammenbruch des persischen Großreichs im Süden entstand, drangen bereits ab den frühen 30er Jahren die Araber nach Norden vor, nahmen Syrien und Ägypten ein, und bereits 638 fiel Jerusalem erneut. Damit wurde es auch hinfällig, Herakleios als Erwählten zu sehen, und so erfuhr eine mögliche David-Parallele höchstens noch ein unrühmliches Nachspiel in der Person der Martina, die – wie einst Batsheba mit Salomon – alles daran setzte, dass nach Herakleios’ Tod einer ihrer Söhne auf den Thron kam. Den Byzantinern ging das zu weit, nach nur wenigen Monaten Regentschaft setzten sie diesen Sohn Heraklonas III. ab, schickten ihn mit der Mutter nach Rhodos in die Verbannung, nicht ohne vorher dem Heraklonas die Nase ab- und der Martina die Zunge herausgeschnitten zu haben 65. Selbst wenn daher diese Geschichten um Herakleios zum ersten Mal belegen sollten, dass David ansatzweise in die imperiale Repräsentation eines byzantinischen Kaisers Eingang gefunden habe, so erzählen sie doch auch zugleich die Geschichte des Scheiterns dieser Legitimationsstrategie 66. Für die folgenden gut 150 Jahre lässt sich aus dem byzantinischen Raum gerade noch ein einziger, erneut kirchlicher Beleg für den Vergleich eines Kaisers mit David anführen 67. Damit befinden wir uns aber bereits in der Zeit Karls des Großen, und so dürfte sich – angesichts der doch sehr verbreiteten Abwesenheit an Vorbildern von David-Imitationen im frühen Byzanz – die These einer im Vergleich zum Abendland „noch älteren Einbeziehung Davids in die oströmisch-byzantinische Kaiseridee“ erledigt haben 68: Abgesehen von einer möglichen bildlichen Parallele unter Justinian und einigen nur indirekt erschließbaren Anspielungen unter Herakleios hat David in der Zeit vor Karl dem Großen noch gar keinen Eingang gefunden in die imperiale Repräsentation byzantinischer Kaiser.
II Dass David in spätantiken und frühbyzantinischen Herrschaftsvorstellungen fehlt, ist nun allerdings gar nicht so erstaunlich. Es wurde bereits betont, dass mit der Wende unter Konstantin das nunmehr christliche Kaisertum nicht neu erfunden
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lib. 4, cap. 64, S. 230; dazu Steven H. Wander, The Cyprus Plates and the Chronicle of Fredegar, in: Dumbarton Oaks Papers 29, 1975, S. 345–346. Vgl. aus dem 8. Jahrhundert auch die anonyme Continuatio Isidoriana hispana, hg. von Theodor Mommsen ( MGH AA 11 ) Berlin 1894, ND München 1981, S. 336. Vgl. Stratos ( wie Anm. 53 ) 2, S. 81–83, S. 176, S. 178, S. 204 f. Ludwig ( wie Anm. 16 ) S. 376 sieht im Scheitern der Strategie einen wichtigen Grund, weshalb sie unter byzantinischen Kaisern keine weitere Verbreitung gefunden habe. Mehr dazu unten bei Anm. 74. Die Akklamation von Papst Leo an Konstantin IV. anlässlich des 6. ökumenischen Konzils von Konstantinopel ( Epistola 3, Migne PL 96, Sp. 411B ), welche Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 Anm. 54 anführt, ist Teil der pseudo-isidorischen Fälschungen und stammt damit erst aus dem 9. Jahrhundert. In Frage kommt nur das Bibelzitat ‚Ich habe David, einen Mann nach meinem Herzen gefunden, der soll meinen ganzen Willen tun‘ ( Act 13,22, vgl. 1Sam 13,14 ), welches Leos Vorgänger Agatho in einem Brief an Konstantin IV. auch auf diesen bezogen wissen will: Epistola Agathonis, Concilii Constantinopolitanis 3 Actio 4, Mansi 9, S. 282. So Herkommer ( wie Anm. 3 ) 411.
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wurde, sondern bestehende Vorstellungen weitergeführt und höchstens umgedeutet wurden 69. In der dennoch sich allmählich vollziehenden Verschmelzung von römischen und christlichen Herrschaftsvorstellungen dürfte zudem entscheidend gewesen sein, dass auch im christlichen Bewusstsein der Spätantike David gar nicht eigentlich als König oder Herrscher wahrgenommen wurde: Bereits im Neuen Testament, aber dann auch in den altkirchlichen Ausarbeitungen fand David zwar in den eingangs erwähnten Funktionen als Typus Christi, als Stammvater Jesu, sowie als Dichter der Psalmen rege Beachtung 70; sein eigenes Wirken als Herrscher hingegen blieb außen vor, Szenen seiner Regentschaft, die fürs spätantik-byzantinische Zeremoniell durchaus anschlussfähig gewesen wären, blieben unterbelichtet – im christlichen Verständnis war David nicht König, sondern P s a l m i s t 71. Fast noch entscheidender dürfte gewesen sein, dass für die heidnische Antike David als Ethnarch über ein paar trockene Hügel einer inzwischen längst dem römischen Großreich einverleibten Provinz schlicht nicht erwähnenswert war: Im Gegensatz zum uralten Moses oder zum weisen Salomon war der K ö n i g David keine Gestalt, die es mit klassischen antiken Vorbildern hätte aufnehmen können 72. Aus spätantik-frühbyzantinischer Perspektive wäre es letztlich wohl nur schwer nachvollziehbar gewesen, hätte jemand diesen Provinz-Regenten mit dem römischen Kaiser verglichen. Was David schließlich als König zu bieten gehabt hätte, nämlich seine göttliche Erwähltheit, sein religionspolitisches Einstehen oder sein Einsatz für den Zusammenhalt seines Reiches, bot ein anderer im spätantiken Bewusstsein noch viel stärker: Konstantin selbst, der denn auch die prägende Figur für das byzantinische Herrscherbild blieb 73. Dürften all diese Faktoren eine Rolle gespielt haben, warum David ins byzantinische Kaiserbild keinen Eingang gefunden hat 74, so dürften sie interessanterweise im lateinischen Abendland nach Untergang des weströmischen Reiches kaum eine Bedeutung erlangt haben: Weder gab es hier ein bestehendes Zeremoniell, in welches sich neue Vorstellungen hätten einfügen müssen, noch setzte eine Gründungsfigur wie 69 70
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S. oben, S. 5; sowie Bellen ( wie Anm. 5 ). Typus Christi: Mk 2,23 f.; Act 7,45–51; Stammvater Jesu: Mt 1,1–17.20; 9,27; 12,13; 15,22; 20,30 f.; 21,9.15; 22,42; Mk 10,48 f.; Lk 1,27.69; 2,4; 18,38 f.; Rö 1,3; 2Tim 2,8; Apk 5,5; 22,15; Psalmdichter: Mt 22,43 f. par; Act 1,46; Rö 4,6; 11,9; Heb 4,7; Prophet: Act 2,30; 4,25. Wo doch einmal David als König in den Blick kommt, geschieht dies erneut bloß in typologischem Ausblick auf Christus: Mk 11,10; Lk 1,32; Act 15,16; Apk 3,7. Vgl. John H. Lowden – Johannes Irmscher – Anthony Cutler, Art. , in: Oxford Dictionary of Byzantium 1, 1991, S. 588–589. Gerade im Hinblick auf die Akklamation, welche bis ins 15. Jahrhundert konstitutive Größe des byzantinischen Krönungsrituals blieb, hätte es nicht unbedeutend sein können, dass David zuerst vom Volk ( 2Sam 2,4 ) und später durch die Ältesten zum König ausgerufen wird ( 2Sam 5,3 ). Vgl. zudem Jan Wojcik, Discriminations against David’s Tragedy in Ancient Jewish and Christian Literature, in: Raymond-Jean Frontain – Jan Wojcik ( Hgg. ), The David Myth in Western Literature, West Lafayette 21980, S. 12–35. Entsprechend betont Ambrosius, der David gerne populärer gemacht hätte, dass ‚manches, lange bevor man von den Philosophen auch nur dem Namen nach vernahm, durch den Mund des heiligen David offen ausgesprochen‘ worden sei ( De officiis ministrorum [ wie Anm. 36 ] lib. 2, cap. 6; vgl. ferner lib. 1, cap. 31, cap. 94 und cap. 118; sowie lib. 3, cap. 1 ); s. oben, S. 8. Vgl. beispielsweise Athanasios Markopulos, Constantine the Great in Macedonian Historiography. Models and Approaches, in: Magdalino ( wie Anm. 54 ) S. 159–170. Und dies wohl mehr noch als das <Scheitern> der Ideologie unter Herakleios, oder dann auch unter Basileios I., wie Ludwig ( wie Anm. 16 ) S. 376, vorgeschlagen hat.
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Konstantin allen Ausformulierungen von Herrscherbildern ihr überragendes Gepräge auf 75. Auch trafen die biblischen Gestalten in den nicht auf eine der Antike vergleichbare Kultur, vor deren Heroen sie hätten klein beigeben müssen. Nicht zuletzt hatte das christliche Davidbild dank der literarischen Interventionen eines Ambrosius inzwischen an Konturen gewonnen: Tatsächlich scheint sich in der Nachfolge des Mailänder Bischofs ein davidisches Herrscherideal relativ früh ausgebildet zu haben. So entschuldigt etwa im 6. Jahrhundert Gregor von Tours in seinen einen Krieg, den der nicht eigentlich als duldsam und reumütig bekannte Chlothar I. gegen seinen unbotmäßigen Sohn Chramn führt, mit dem Verweis auf David und Abshalom 76; und wenn damit natürlich keineswegs belegt ist, dass Chlothar diesen Vergleich selbst inszeniert habe, so dürfte es doch auch ihm ganz gelegen gekommen sein, dass sich mit der neuen christlichen Religion selbst Kriege gegen den eigenen Nachwuchs legitimieren ließen 77. Nicht von ungefähr stammten die oben angeführten kirchlichen David-Vergleiche mehr und mehr aus dem lateinischen Bereich, und es waren westliche Chronisten, welche die Parallelen zwischen Herakleios und David als erste explizit ausarbeiteten. Als sich dann zur Mitte des 8. Jahrhunderts Papsttum und fränkischer Hausmeier einig wurden, dass ein karolingischer König die gegenseitigen Interessen besser zu wahren wüsste als ein merowingischer, ließ eine Davidisierung des neuen Königsgeschlechts nicht lange auf sich warten. Zum Teil in bewusster Abgrenzung von der byzantinischen Herrscheridee wurde Pippin der Jüngere spätestens 754 von Papst Stephan II. zum König gesalbt 78. In der nachfolgenden Korrespondenz zwischen den beiden wurde Pippin mehr und mehr mit David verglichen und schließlich als neuer David hingestellt 79. Auch von Pippin ist zwar nicht bekannt, dass er eine David-Mimesis selbst aktiv gepflegt habe, der Stellenwert der päpstlichen Belege ist hier aber ein grundsätzlich anderer als in Byzanz, da bei der Einsetzung des Usurpators Pippin die Kirche entscheidende Legitimationsinstanz, ihr Herrscherbild damit konstitutiv auch für Pippins Herrschaftsverständnis gewesen ist. Entsprechend war es nur noch ein kleiner Schritt zu Pippins Sohn Karl, der dieses Herrscherbild aufnahm und in der bereits vorgestellten Weise inszenierte. Die sakral-davidische Herrscheridee dürfte also einen anderen Ursprung haben als die byzantinisch-römische. Damit dürfte denn auch die zweite im vorliegenden Aufsatz diskutierte These noch einmal widerlegt sein, es sei 75
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Was nicht heißen soll, dass Konstantin für westliche Herrscherbilder keine Rolle gespielt hätte; er hat nur nicht jede Ausformulierung schon von vornherein entscheidend geprägt, vgl. bereits Eugen Ewig, Das Bild Constantins des Großen in den ersten Jahrhunderten des abendländischen Mittelalters, in: Historisches Jahrbuch 75, 1956, S. 1–46. Gregor von Tours, Libri historiarum X, hg. von Bruno Krusch ( MGH SS rer. Merov. 1,1 ) Hannover 1937, lib. 4, cap. 20, S. 153, 14–18. Vgl. Georg Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 162. Zur Debatte, wann und wie oft Pippin gesalbt worden ist, vgl. Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung, Düsseldorf 2003. Zu dieser Entwicklung s. Mettauer ( wie Anm. 4 ), wobei fraglich bleibt, ob es sich beim David-Epithet wirklich um einen kirchlich-laikalen Kompromiss handelt. Zum ebenfalls verbreiteten Moses-Titel vgl. nun auch ergänzend: Werner Telesko, Moses – Joseph – Christus – Benedikt. Beiträge zu einer Typologie im Zeichen des Orantengestus, in: Römische historische Mitteilungen 45, 2003, S. 373–398, S. 385.
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die Davidisierung des westlichen Herrscherbildes in welcher Art auch immer durch Byzanz angeregt worden. Untermauert wird dies durch den Umstand, dass die sakral-davidische und die byzantinisch-römische Konzeption von Herrschaft auch unter Karl weiterhin kaum miteinander haben vereinbart werden können. Denn als Karl im Jahr 800 zum Kaiser gekrönt werden sollte, verzichtete der Papst plötzlich vollständig auf David-Vergleiche, nannte Karl vielmehr einen ‚neuen Konstantin‘ und war auch sonst darum besorgt, dass die Krönung in den Formen und Symbolen des byzantinischen Zeremoniells ablief 80. Auch Einhard, der Verfasser der , versuchte, Karl in Anlehnung an antike Vorbilder so römisch wie möglich darzustellen, und verzichtete daher konsequent auf jeglichen David-Vergleich. Bei Alkuin hingegen, einem der Propagatoren der davidischen Königsidee an Karls Hof, fanden sich auch nach Karls Kaiserkrönung kaum Belege dafür, dass er seinen ehemaligen David nunmehr imperator genannt hätte 81. Das davidische Königtum war eben etwas anderes als das römische Kaisertum. Die echten römischen Kaiser aber, die byzantinischen nämlich, schienen sehr wohl bemerkt zu haben, was sich da bereits in St. Denis und später dann in Aachen und in Rom abspielte. Als Karl kurz nach 790 als Reaktion auf das zweite Konzil von Nizäa die