E. Biesinger H. Iro (Hrsg.) HNO Praxis heute 24
E. Biesinger H. Iro (Hrsg.)
HNO Praxis heute Begründet von H. Ganz Band 24, Funktionsstörungen und funktionelle Störungen Unter Mitarbeit von A. Bozzato, J.A. Frasnelli, E. Gürlek, S. Heilmann, U. Hoppe, M. Hülse, K.-B. Hüttenbrink, T. Hummel, B.N. Landis, R. Laskawi, K.-H. Lechner, P. Leins, S. Rohrbach, F. Rosanowski, F. Waldfahrer, M.W. Winter, J. Zenk
Dr. med. Eberhard Biesinger Maxplatz 5 83278 Traunstein
Prof. Dr. med. Heinrich Iro Universitäts-HNO-Klinik Waldstraße 1 91054 Erlangen
ISSN 0173-9859 ISBN 3-540-20029-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. F. Kraemer / Dr. L. Rüttinger, Heidelberg Projektbetreuung: I. Conrad / S. Hofmann, Heidelberg Design: deblik, Berlin Titelbild: deblik, Berlin SPIN: 10954300 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Saladruck GmbH, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier 33/3160/is – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Einteilung und Klassifikation von Krankheiten und Gesundheitsstörungen wird häufig pauschal zwischen »organischen« und »funktionellen« Erkrankungen unterschieden. Während organische Erkrankungen morphologisch und apparativ, im Idealfall auch pathohistologisch fassbar sind,bezieht sich die Diagnose einer funktionellen Erkrankung häufig auf eine nicht oder nur bedingt objektivierbare Symptomatik. Dies bringt es mit sich, dass funktionelle Erkrankungen im engeren Sinn nur eine Ausschlussdiagnose darstellen,d.h.die Diagnose nur gestellt werden kann, wenn alle in Betracht kommenden organischen Ursachen ausgeschlossen sind. Sie alle kennen das diagnostische Dilemma, das sich aus diesen Aspekten ergibt. Es mag im Einzelfall sogar soweit gehen, dass Patienten mit entsprechenden Symptomen belächelt werden oder in der Praxis gefürchtet sind. Die medizinische Forschung der letzten Jahre hat uns allerdings einige bis dato als funktionell angesehene Erkrankungen als organisch bedingt erkennen lassen,so dass es an der Zeit ist, umfassend über den aktuellen Stand von Diagnostik und Therapie der so genannten funktionellen Erkrankungen zu informieren. Auch wenn bei einigen Erkrankungen und Symptomen auch heute die Pathophysiologie nicht abschließend geklärt ist, so sind dennoch einige therapeutische Fortschritte zu erkennen. Durch die Erweiterung der Thematik auf Funktionsstörungen können in diesem Zusammenhang auch Symptome bzw. Erkrankungen abgehandelt werden, die sowohl organischer als auch »funktioneller« Genese sein können. In den einzelnen Beiträgen wurde wie immer besonderer Wert auf den Praxisbezug gelegt. Die Herausgeber hoffen, dass Sie die im vorliegenden Band enthaltenen Informationen zum Wohl Ihrer Patienten nutzen können. Dr. med. Eberhard Biesinger, Professor Dr. med. Heinrich Iro Traunstein/Erlangen im Sommer 2004
VII
Inhaltsverzeichnis 1
2
Sialorrhoe und Xerostomie . . . . . . . .
1
6
Riechstörungen . . . . . . . . . . . . . . .
Ursachen und therapeutische Optionen
Ursachen, Diagnostik und Therapie
J. Zenk, P. Leins, A. Bozzato
T. Hummel, B.N. Landis, J.A. Frasnelli, S. Heilmann, K.-B. Hüttenbrink
Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
99
23 7
Aktuelle Aspekte zum Burning-mouth-Syndrom
Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) . . . . . . . . . . . . . 109 Eine interdisziplinäre Herausforderung
F. Waldfahrer K.-H. Lechner
3
Die subjektive Seite der Dysphonie . . .
39
8
Die vasomotorische Rhinopathie . . . . 121
F. Rosanowski, U. Hoppe Aktueller Stand der Therapie
4
Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde . . . . . . . . . . .
M.W. Winter
53 9
S. Rohrbach, R. Laskawi
Fragensammlung zur Selbstkontrolle
135
Zusammengestellt von E. Gürlek
5
Der vertebragene Schwindel . . . . . . . M. Hülse
77 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 143
IX
Autorenverzeichnis Bozzato, A., Dr. med. HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstr. 1 91054 Erlangen
Frasnelli, J.A., Dr. med. HNO-Klinik Technische Universität Dresden Fetscherstr. 74 01307 Dresden
Gürlek, E., Dr. med., HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstr. 1 91054 Erlangen
Heilmann, S., Dr. med. HNO-Klinik Technische Universität Dresden Fetscherstr. 74 01307 Dresden
Hoppe, U., Prof. Dr. Ing., Dr. rer. nat. Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Erlangen Bohlenplatz 21 91054 Erlangen
Hüttenbrink, K.-B., Univ. Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie am Universitätsklinikum Köln Kerpener Straße 62 50924 Köln
Hummel, T., Prof. Dr. med. HNO-Klinik Technische Universität Dresden Fetscherstr. 74 01307 Dresden
HNO-Klinik Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen
Rosanowski, F., Prof. Dr. med. Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Erlangen Bohlenplatz 21 91054 Erlangen
Landis, B.N., Dr. med.
Waldfaher, F., Dr. med.
Unité de Rhinologie-Olfactologie Hôpitaux Universitaires de Genève Rue Micheli-du-Crest 24 CH-1211 Geneve
HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstraße 1 91054 Erlangen
Laskawi, R., Prof. Dr. med.
Winter, M.W., Dr. med.
HNO-Klinik Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen
Marktstr. 59 83646 Bad Tölz ehemals: HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstr. 1 91054 Erlangen
Lechner, K.-H., Dr. med. dent. Zahn-, Mund- und Kieferklinik Universitätsklinikum Erlangen Glückstr. 11 91054 Erlangen
Hülse, M., Prof. Dr. med. HNO-Klinik Universitätsklinikum Mannheim Theodor-Kutzer-Ufer 68135 Mannheim
Rohrbach, S., Dr. med.
Leins, P., Dr. med. Abteilung für Nuklearmedizin Krankenhaus Kemnath Werner v. Siemens Str. 7 95478 Kemnath
Zenk, J., Priv.-Doz. Dr. med. HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstr. 1 91054 Erlangen
XI
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände Audiologie und Pädaudiologie Ambulante Rehabilitation (Seidler) Audiometrie, topodiagnostische (Fleischer/Kießling) Auditive Wahrnehmung, Diagnostik (Berger) Auditive Perzeption, therapeutische Ansätze (Hesse) Frühförderung, hörgestörter Kinder (Kruse) Hörgeräte (Niemeyer) Hörgeräte-Versorgung (Plath) Hörgeräte, knochenverankerte (Niehaus) Hörgeräteversorgung, aktuelle (von Wedel/Meister) Hörprüfung, im ersten Lebensjahr (Plath) Impedanzaudiometrie (Kießling) Lärmschwerhörigkeit, Begutachtung (Niemeyer) Ohrpassstück (Pawlata/Kubicke) Schwerhörigkeit durch Lärm (Niemeyer) Simulationsprüfung/objektive Audiometrie (Niemeyer)
Band 21 Band 1 Band 20 Band 21 Band 4 Band 1 Band 16 Band 15 Band 21 Band 4 Band 2 Band 20 Band 22 Band 18 Band 4
Otologie Abstehende Ohren (Koch) Akustikusneurinom (Haid) Antibiotika, ototoxische (Federspil) Cochlea-Implantate (Burian) Cochlea-Implantate, Neues (Laszig/Marangos) Emissionen, otoakustische (Koch) Funktionsweise des Innenohres (Ruppersberg) Hereditäre Hörstörungen, Otosklerose (Keßler) Hirnabszess, otorhinogener (Pellant et al.) Hörgeräte, Implantation (Weber) Hörsturz (Wilhelm) Innenohrschwerhörigkeit, Pathophysiologie (Zenner) Innenohrschwerhörigkeit, Pharmakologie (Zenner) Kinetosen (Delb) Labyrinthäre Gleichgewichtsstörungen (Morgenstern) Menière, Diagnostik (Delb) Mikrochirurgie des Ohres in der Praxis (Ganz) Mittelohrcholesteatom (Steinbach) Ohrerkrankungen, bei LKG-Spalten (Steinhart) Ohrmuscheltrauma (Weerda) Ohroperationen, Nachbehandlung (Ganz) Ohrtrompete, Erkrankungen (Tiedemann) Ohrtrompete, offene (Münker) Otitis externa (Ganz)
Band 12 Band 5 Band 2 Band 3 Band 18 Band 11 Band 16 Band 8 Band 19 Band 21 Band 7 Band 21 Band 21 Band 15 Band 8 Band 14 Band 1 Band 5 Band 17 Band 11 Band 14 Band 4 Band 12 Band 11
XII
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Otitis media, kindliche, Therapie (Federspil) Otitiskomplikationen heute (Fleischer) Otosklerose, Chirurgie (Schrader/Jahnke) RetroX (Wesendahl) Schwerhörigkeit im Alter (Brusis) Seromukotympanon (Tolsdorff ) Symphonix Soundbridge System (Lenarz) TICA-Hörsystem, Vollimplantation (Zenner) Tinnitus (Lenarz) Trauma, und Hörstörungen (Kellerhals) Tumoren des äußeren Ohres (Koch/Kiefer) Tympanoplastik, Fortschritte (Helms) Tympanosklerose (Steinbach) Vestibularisdiagnostik (Haid) Vertebragener Schwindel (Hülse) Zervikaler Schwindel (Mayer)
Band 4 Band 9 Band 14 Band 21 Band 7 Band 13 Band 21 Band 21 Band 10 Band 2 Band 16 Band 12 Band 7 Band 6 Band 24 Band 6
Rhinologie Aerodynamik der Nase (Mlynski) Allergie und Nase (Albegger) Entzündliche Erkrankungen der Nebenhöhlen, Komplikationen (Zenk/Constantinidis/Bozzato/Iro) Funktionsdiagnostik (Maranta/Gammert) Keilbeinhöhle, Erkrankungen (Knöbber) Nasenbluten (Koch/Bärmann) Nasenpolypen (Ganz) Nasentropfen, Entwöhnung (Ganz) Nebenhöhlenchirurgie heute Teil I: Stirnhöhlenchirurgie (Federspil) Nebenhöhlenchirurgie, endonasale (Draf/Weber) Nebenhöhlenchirurgie, Komplikationen (Ganz) Papilloma inversum (Schuss) Riechstörungen – Ursachen, Diagnostik und Therapie (Hummel et al.) Rhinopathie, vasomotorische (Paulsen) Rhinopathie, vasomotorische – Aktueller Stand der Therapie (Winter) Rhinoplastik, korrektive (Krisch) Septumoperationen (Ganz) Sinusitis beim Kinde (Knöbber) Sinusitistherapie in der Praxis (Messerklinger) Sinusitistherapie heute (Ganz) Tumoren und tumorähnliche Läsionen der Nase und Nasennebenhöhlen (Berghaus/Bloching) Ultraschalldiagnostik, der Nebenhöhlen (Mann) Verletzungen, seitliches Mittelgesicht (Ganz) Verletzungen, zentrales Mittelgesicht (Ganz) Zysten und Zelen der Nebenhöhlen (Ganz)
Band 20 Band 1 Band 22 Band 15 Band 17 Band 14 Band 5 Band 2 Band 8 Band 12 Band 3 Band 19 Band 24 Band 11 Band 24 Band 10 Band 2 Band 12 Band 1 Band 19 Band 16 Band 5 Band 9 Band 4 Band 8
XIII Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Mundhöhle/Rachen Burning-mouth-Syndrom (Reiß/Reiß) Mundschleimhaut- und Zungenbrennen, Burning-mouth-Syndrom (Waldfahrer) Dysphagie, Diagnostik (Walther) Globusgefühl (V. Jahnke) Pharyngitis, chronische (Ganz) Präkanzerosen Mundhöhle/Lippen (Rupec) Schleimhauterkrankungen Mundhöhle (V. Jahnke) Schluckauf (Federspil/Zenk/Iro) Schnarchen, Schlafapnoe-Syndrom (Schäfer/Pirsig) Schwellungen im Parotisbereich (Schätzle) Sialorrhoe und Xerostomie (Zenk et al.) Sonographie Schilddrüse (Becker) Speicheldrüsentumoren (Haubrich) Speichelsteinkrankheit (Knöbber) Speichelsteine, Therapie (Zenk/Iro) Tonsillektomie heute (Deitmer) Tonsillektomie und Immunologie (Haubrich/Botzenhardt) Tonsillitis (Wilhelm/Schätzle) Tumoren Mundhöhle und Mundrachen (Schedler/Schätzle) Verletzungen, Mundhöhle und Mundrachen (Ganz) Zysten und Fisteln des Halses (Chilla)
Band 22 Band 24 Band 14 Band 6 Band 9 Band 8 Band 3 Band 17 Band 10 Band 2 Band 24 Band 20 Band 4 Band 8 Band 17 Band 20 Band 6 Band 9 Band 10 Band 5 Band 14
Laryngologie/Phoniatrie Akute Luftnot – was tun? (Knöbber) Aphasien (Rosanowski/Eysholdt) Dysphonie, die subjektive Seite der (Rosanowski/Hoppe) Elektromyographie (Sˇram) Halsweichteilschwellungen (Knöbber) Kehlkopf und Trachea, Verletzungen (Ganz) Kehlkopf und untere Luftwege, Endoskopie (Roessler/Grossenbacher) Kehlkopfkarzinom (Steinhart) Kontaktgranulom (Barth) Laryngitis, chronische (Oeken/Behrendt/Görisch) Laryngotrachealstenosen (Gammert) Luft- und Speisewegsfremdkörper (Skerik) Lähmungen, Kehlkopf- (Barth) Musculus cricothyreoideus, Pathologie (Kruse) Phonochirurgie (Eysholdt) Recurrensparese, beidseitige (Iro) Rehabilitation von Kehlkopflosen (Plath) Schilddrüse und HNO-Arzt (Chilla) Singstimme, Erkrankungen (Barth) Sprachentwicklung, Störungen (Barth) Sprachentwicklung und ihre Störungen (Berger) Stimmlippenknötchen (Martin) Stimmstörungen, funktionell-psychogene (Brodnitz) Stimmstörungen, hyper- und hypofunktionelle (Kruse)
Band 7 Band 15 Band 24 Band 15 Band 11 Band 11 Band 11 Band 19 Band 5 Band 9 Band 4 Band 7 Band 7 Band 5 Band 18 Band 19 Band 8 Band 10 Band 14 Band 12 Band 16 Band 6 Band 5 Band 2
XIV
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Stottern und Poltern (Johannsen/Schulze) Tumoren, gutartige, des Kehlkopfes (Knecht/Meyer-Breiting)
Band 13 Band 17
Regionale plastische Chirurgie Regionale Lappenplastiken (Staindl) Wundheilung, Narbenbildung, Narbenkorrektur (Staindl)
Band 13 Band 9
Spezielle Tumorkapitel Adenoid-zystisches Karzinom (Wilke) Basaliome (Gammert) Diagnose kein Tumor (Ganz) Lippentumoren, maligne (Schedler/Federspil) Lymphome, maligne (Chilla) Melanom, malignes (Rosemann) Nasenrachentumoren, maligne (Schedler/Schätzle) Tumorschmerzen (Knöbber)
Band 6 Band 5 Band 6 Band 8 Band 15 Band 3 Band 13 Band 15
Allgemeine Themen/Randgebiete Aids-Manifestationen (Weidauer) Akupunktur im HNO-Gebiet (Ganz/Gleditsch/Majer/Pildner) Alternative Medizin (Friese) Antibiotikatherapie (Limbert/Klesel) Antibiotikatherapie, lokale (Ganz) Atopisches Kind (Fölster-Holst/Christophers) Autoimmunerkrankungen (Starek/Bystron) B-Bild-Sonographie (Ganz) Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde (Rohrbach/Laskawi) Computerassistierte Chirurgie (Plinkert/Federspil) Computergestützte Navigation (Heermann/Majdani/Lenarz) CT, Leistungsfähigkeit im HNO-Bereich (Elies) Dopplersonographie (Zenk/Iro) Duraläsionen (Oberascher) Endoskopie, an Ohr, Nase und Nebenhöhlen (Hörmann) Epithesen und Hörgeräte, knochenverankerte (Kurt/Federspil) Fibrinkleber im HNO-Bereich (Moritsch) Fokusproblem (Knöbber) Geruchs- und Geschmacksstörungen (Herberhold) Grenzprobleme zur Stomatologie I: Allgemeines (Muˇs ka) II: Parodontopathien (Strott) III: Odontogene Abszesse (Austermann) IV: Kiefergelenkserkrankungen (Strott) V: Okklusionsstörungen (Austermann/Umstadt) HNO-Onkologie, Lebensqualität (Greimel, Greimel) HWS-Distorsionen (Badke) HWS-Heilmittelverordnung (van den Berg) HWS-orthopädische Probleme (Wimmer) HWS-Physiotherapie (Belzl)
Band 10 Band 3 Band 18 Band 1 Band 7 Band 20 Band 20 Band 10 Band 24 Band 22 Band 22 Band 6 Band 17 Band 20 Band 12 Band 14 Band 11 Band 19 Band 13 Band 7 Band 10 Band 12 Band 3 Band 18 Band 22 Band 23 Band 23 Band 23 Band 23
XV Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
HWS-Röntgenbild und HNO-ärztliche Diagnostik (Biesinger) HWS-Traumen (Ernst) HWS-Weichteildistorsion, Akutdiagnostik (Ernst et al.) Idiopathische periphere Fazialisparese (Bell-Parese) (Streppel/Eckel/Stennert) Implantologie, an Kopf und Hals (Beleites/Rechenbach) Innervation des Kopf-Halsbereichs (Neuhuber) Kernspintomographie im HNO-Bereich (Grevers/Vogl) Knotenschieber, der (Schweckendiek) Kopfschmerz (Knöbber) Kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) – Eine interdisziplinäre Herausforderung (Lechner) Labor, des HNO-Arztes (Allner) Laseranwendungen in der HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie (Rudert/Werner) Laserchirurgie (Höfler/Burian) Literatursuche heute (Reiß/Reiß) Lokalanästhesie, therapeutische (Gross) Mykosen im HNO-Bereich (Stammberger/Jakse) Nahrungsmittelallergien (Thiel) Nahrungsmittelallergien (Rakoski) O2-Therapie, hyperbare (Muth) Piercing (Waldfahrer/Freitag/Iro) Pseudomonasinfektionen (Ganz) Quantenmedizin, und HNO (Pichler) Sportverletzungen im HNO-Bereich (Loch) Störungen der Halswirbelsäule, funktionelle (Biesinger) Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen (Micke/Büntzel) Syndrome und HNO (Ganz) Tauchsport und Fliegen (Moser/Wolf ) Tränenwegserkrankungen (Schätzle/Wilhelm) Umweltschäden, der oberen Luftwege (Winkler) Viruserkrankungen I: Herpes und Zoster (Rabenau/Doerr) II: Epstein-Barr-Infektionen (Schuster) III: Hirnnervenlähmungen (Ganz) IV: Schutzimpfungen (Quast) V: Virustatika (Estler) Wert Medizinischer Neuerungen (Ganz)
Band 23 Band 18 Band 23 Band 16 Band 12 Band 23 Band 11 Band 2 Band 13 Band 24 Band 1 Band 16 Band 4 Band 19 Band 1 Band 7 Band 6 Band 22 Band 20 Band 18 Band 3 Band 17 Band 3 Band 9 Band 23 Band 18 Band 9 Band 3 Band 12 Band 15 Band 15 Band 15 Band 15 Band 17 Band 17
1 Sialorrhoe und Xerostomie Ursachen und therapeutische Optionen J. Zenk, P. Leins, A. Bozzato
1.1
Einleitung
–2
1.2
Anatomie und Physiologie der Speicheldrüsen
1.3
Sialorrhoe
–2
–4
1.3.1 Ätiologie – 4 1.3.2 Therapeutische Optionen – 5 Verhaltensmodifikation und Biofeedback-Therapie – 6 Oral motorische Therapien und orofaziale Regulationstherapie Logopädische Therapie – 7 Bestrahlungstherapie – 7 Medikamentöse Therapie – 7 Zungenakupunktur – 8 Chirurgische Therapie – 9 Fazit – 10
1.4
Xerostomie
–6
– 10
1.4.1 Ätiologie – 11 1.4.2 Diagnostik – 13 Messung der Speichelsekretions- bzw. -flussrate – 14 1.4.3 Therapeutische Optionen – 16 Symptomatische Therapie – 16 Lokale Speichelstimulation – 17 Medikamentöse Therapie – 17 Präventive Maßnahmen bei der Mundhygiene – 18 Prävention der Xerostomie bei Bestrahlung von Kopf-Hals-Tumoren Fazit – 19
Literatur
– 20
– 18
1
2
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
1.1
Einleitung
Sialorrhoe und Xerostomie, ein Zuviel oder Zuwenig an Speichel und Mundhöhlenfeuchtigkeit führen zu einer starken Störung der Befindlichkeit und sind daher wichtige Krankheitszustände, die eine Klärung und Behandlung erfordern.Während bei der Sialorrhoe vor allem die soziale Stigmatisierung, bedingt durch die Unmöglichkeit, den Speichel im Mund zu behalten (meist im Zusammenhang mit einer neurologischen Grunderkrankung) im Vordergrund steht, ist beim Symptom Xerostomie das Geschmacksempfinden gestört und daher der Appetit gering. Der Patient isst zuwenig,es kommt zu Gewichtsverlust und Schwäche bis zu Kachexie. Sprache und Schlaf sind gestört. Sowohl die Symptomatik der Sialorrhoe wie auch der Xerostomie führen auf lange Sicht zu einem deutlichen Verlust an Lebensqualität bis hin zu Depressionen. Die Mundhygiene ist gestört, es können sich Schleimhautläsionen und Karies entwickeln und Zahnprothesen evtl. nicht mehr toleriert werden. In der folgenden Übersicht werden die aktuelle Ursachenforschung und die möglichen therapeutischen Optionen bei beiden Symptomen zum derzeitigen Stand zusammengefasst. Gerade Störungen der Funktion des Speichelflusses spielen, insbesondere in der Praxis des niedergelassenen HNO-Kollegen,wie auch des Allgemeinmediziners, eine nicht unwesentliche Rolle.
1.2
Anatomie und Physiologie der Speicheldrüsen
Speichel wird von den 3 großen, paarig angelegten Kopfspeicheldrüsen des Menschen produziert: ▬ der Gl. parotis, ▬ der Gl. submandibularis und ▬ der Gl. sublingualis. Ungefähr 90% der täglichen Speichelproduktion wird von diesen großen Drüsen übernommen. Die restlichen 10% werden von den zahlreichen (700 bis 1000) kleineren Drüsen im Bereich der Lippeninnenseite und Wangenschleimhaut sowie den Speicheldrüsen an Gaumen und im Pharynxbe-
reich produziert. Nach Art der Sekretion unterscheidet man seröse, muköse und seromuköse Drüsen,denen ein gemeinsamer ultrastruktureller Aufbau, bestehend aus einem aszendierenden und einem duktalen Funktionssystem, zugrunde liegt [67]. Endstücke, die den Primärspeichel produzieren, stehen über Schaltstücke (intralobulär) mit den Streifenstücken (interlobulär) in Verbindung. Diesen folgen Hauptgänge 1. und 2. Ordnung, die in die entsprechenden Hauptausführungsgänge münden. Die Gl. parotis ist die größte der Kopfspeicheldrüsen. Der 5 bis 6 cm lange Ausführungsgang (Stenon-Gang) überkreuzt den M. masseter, biegt nach medial um, durchdringt den M. buccinator in die Wangenschleimhaut und endet gegenüber dem 2. oberen Molaren im Vestibulum oris. Der aus serösen Läppchen bestehende Drüsenkörper liegt über und dorsal des M. masseter und dem Unterkiefer in der Fossa retromandibularis. Die seromuköse Gl. submandibularis liegt zwischen dem M. digastricus anterior und posterior auf dem M. hyoglossus. Der 5–6 cm lange Ausführungsgang (Wharton-Gang) zieht um den Hinterrand des M. mylohyoideus, überkreuzt den N. lingualis und verläuft im Mundboden bis zur Mündung an der Caruncula sublingualis. Die Gl. sublingualis, eine mukoseröse Drüse, liegt in der Fovea sublingualis submukös dem M. mylohyoideus auf. Der Ausführungsgang mündet entweder gemeinsam mit dem Wharton-Gang oder getrennt auf der Papilla salivaria in die Mundhöhle. Wichtig
Bei gesunden Individuen wird täglich ungefähr 1,5 l Gesamtspeichel produziert. Davon stammen etwa 20–25% aus der Gl. parotis, 70–75% aus der Gl. submandibularis und 5% aus der Gl. sublingualis.
Die Viskosität des Speichels ist jeweils abhängig von dem individuellen Anteil der verschiedenen sezernierenden Drüsen [39]. Betrachtet man die Produktion des Gesamtspeichels aller Speicheldrüsen, so werden unter Ruhebedingungen 0,3–0,5 ml/min und unter maximaler Stimulation 1,5 ml/min se-
3 1.2 · Anatomie und Physiologie der Speicheldrüsen
⊡ Abb. 1.1. Neurale Kontrolle der Speichelsekretion
1
Neurale Kontrolle der Speichelsekretion
zerniert. Die kontinuierliche Sekretion wird durch einen niedrigen parasympathischen Reiz ausgelöst und spielt eine wichtige Rolle in der Feuchthaltung der Mundhöhle. Der Speichelfluss wird durch die Speichelkerne im zentralen Nervensystem in der Medulla und Pons durch das autonome Nervensystem reguliert. Die großen Speicheldrüsen werden von parasympathischen und sympathischen Nerven innerviert (⊡ Abb. 1.1). Im Gegensatz zu anderen Organen im Körper wirken diese nicht antagonistisch. Beide Systeme stimulieren die Speichelproduktion, wenn auch unterschiedlich. Der Parasympathikus ist dabei von größerer Bedeutung. Sein Reiz führt zu rascher Sekretion von reichlich wässrigem Sekret, das reich an Enzymen ist.Gleichzeitig kommt es zu einer Vasodilatation. Im Gegensatz dazu verursacht eine sympathische Stimulation die Produktion einer kleineren Menge zähflüssigen, schleimigen Speichels, verbunden mit einer Vasokonstriktion. Das Speichelzentrum kann durch höhere Zentren im ZNS durch externe Faktoren beeinflusst werden (Sehen, Riechen oder gedankliche Vorstellung von Speisen).Dabei sind zwei Reflexe beteiligt: Der einfache unkonditionierte Speichelreflex und der erworbene konditionierte. Der einfache Reflex wird durch orale Chemorezeptoren und Barorezeptoren ausgelöst.Der konditionierte Reflex benö-
tigt keine Form der Stimulation (»das Wasser läuft jemandem im Mund zusammen«). Im parasympathischen Anteil verläuft die Stimulation der Speichelsekretion auf Rezeptorebene. Hierbei kommt auch bei der medikamentösen Therapie von Funktionsstörungen den Muskarinrezeptoren eine herausragende Rolle zu. Darüber hinaus kann insbesondere auch eine Exsikkose, Schlafmangel und Angstgefühle die Speichelproduktion hemmen. Speichel besteht zu 99,5% aus Wasser. Eiweiße, Elektrolyte, verschiedene Bakterizide und antimikrobiotische Faktoren machen 0,5% aus. Man kann grob 2 charakteristische Sekretionskompartimente unterscheiden: Zum einen den serös flüssigen Speichel, der bakterizide Substanzen wie Thiozyanate, proteolytische Enzyme (Lysozym) und Antikörper wie IgA sowie auch a-Amylase zur Verdauung von Stärke enthält. Das zweite ist die muköse Sekretion bzw. der muköse Anteil des Speichels, der das Austrocknen der Mundschleimhaut verhindert sowie Kau- und Schluckvorgänge wesentlich erleichtert. Darüber hinaus dient er der Verbesserung des Geschmacksempfindens und der Klarheit der Sprache [39]. Durch diese Komposition des Speichels schützt der kontinuierliche Speichelfluss vor Wundinfektionen und Karies. Bakterien und Nahrungsrückstände werden quasi weggespült.Kalziumphosphat
4
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
1
⊡ Abb. 1.2. 16-jähriger Patient mit Sialorrhoe bei multiplen Behinderungen und Krampfleiden
und Kalziumhydroxid tragen zur Remineralisation der Zähne bei. Der Bikarbonatanteil im Speichel puffert Säure aus Nahrungs- bzw. Bakterienstoffwechsel und verhindert so ebenfalls Karies.Bei vermehrtem Speichelfluss erhöht sich der pH-Wert und kann so möglicherweise auch die Schleimhaut des Ösophagus durch Pufferung der Magensäure bei Reflux schützen. Neure Untersuchungen sprechen dem Speichel auch eine zumindest parakrine Wirkung zu (z.B. Leptin; [9]).
1.3
Sialorrhoe
Die Bedeutung der Sialorrhoe und ihrer Therapie hängen von der Menge des Speichelflusses und der Persönlichkeitsstruktur des Erkrankten ab. Patienten mit geringer Sialorrhoe, aber normaler Intelligenz und evtl.geringer Sprachstörung fühlen sich sozial inkompetent und zurückgestoßen. Am anderen Ende der Skala steht der geistig Behinderte mit profuser Sialorrhoe, der in einer Anstalt untergebracht ist, 10 bis 15 Lätzchen täglich ein-
speichelt und sehr oft die Wäsche wechseln muss (⊡ Abb. 1.2). Diese Patienten sabbern, d.h. sie verlieren fortwährend ihren Speichel und beschmutzen damit Möbel,Teppiche,Spielzeuge,Telefone und Rufgeräte sowie die Kleider der Geschwister,Eltern,Pfleger und Spielkameraden. Sie werden deshalb oftmals sozial isoliert, erhalten weniger Zärtlichkeiten und Zuwendung: »Ein dauernd eingespeicheltes Kind ist nicht beliebt«. Die Komplexität der Sialorrhoe und die Vielzahl der Behandlungsmöglichkeiten machen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unbedingt erforderlich. Ein Team, bestehend aus HNO-Arzt, Zahnarzt, Kieferorthopäden, MKG-Chirurgen, Neurologen bzw. Neuropädiater und Logopäden sollte die Behandlung im Konsens durchführen.Zusammen muss entschieden werden, ob eine spontane Besserung zu erwarten ist. Falls keine spontane Besserung eintritt,muss entschieden werden,welche therapeutischen Modalitäten eingesetzt werden,insbesondere ob eine chirurgische Therapie erforderlich ist [27, 61].
1.3.1 Ätiologie Bis zum 4. Lebensjahr ist ein vermehrter Speichelfluss im Sinne einer Sialorrhoe physiologisch. Als pathologisch ist jedoch vermehrter Speichelfluss bei Kindern ab dem 4. Lebensjahr im wachen Zustand anzusehen. Wichtig
Der häufigste Grund für übermäßigen Speichelfluss ist meist Folge einer neurologischen Störung im Kindes- oder Erwachsenenalter. Die Inzidenz beträgt, in Abhängigkeit von der Art der jeweiligen Störung, 10–30%.
Dabei unterscheidet man zwischen verschiedenen zentral-neurologischen Störungen und geistiger Retardierung, der amyotrophen Lateralsklerose [38] und vor allem dem M. Parkinson. Daneben können auch periphere Störungen des N. trigeminus oder des N. facialis zu einer Störung der Speichelausflussrate führen.
5 1.3 · Sialorrhoe
Wichtig
Bei den neurologischen Störungen steht weniger eine Hypersekretion von Seiten der Speicheldrüsen im Vordergrund als vielmehr die Herabsetzung der Schluckfrequenz bzw. die neurologisch bedingte Schluckstörung.
Dabei hat vor allem der fehlende Lippenschluss mit die größte Bedeutung [49]. Weitere Ursachen bei den zentral bedingten Sialorrhoen sind, neben einem erhöhten intraluminalen ösophagealen Druck, aber weit häufiger die Unterbrechung der ersten, d.h. der oralen Phase des Schluckaktes. Unkoordinierte Zungenbewegungen verhindern den Transport des Speichels vom Mund in den Oropharynx. Besonders gut untersucht ist die Sialorrhoe bei Kindern mit Down-Syndrom. Hierbei spielt die allgemeine Muskelhypotonie sowie die relative Makroglossie mit der weiten Mundöffnung eine entscheidende ätiologische Rolle [61]. Neben der neurologisch bedingten Sialorrhoe (⊡ Abb. 1.2) unterscheidet man noch die medikamentös induzierte Hypersalivation.Am bekanntesten ist hier sicherlich die neuroleptika-induzierte Sialorrhoe. In der Pathophysiologie des neuroleptika-induzierten Speichelflusses spielen vor allem alpha-adrenerge und muscarinerge Rezeptoren eine Rolle. a1- und a2-Rezeptoren sind in der Speicheldrüse vorhanden. Bei beiden Rezeptoren wird angenommen,dass die Neuroleptika,insbesondere das Clozapin, eine antagonistische Wirkung entfalten, was zu einer vermehrten Durchblutung der Drüsen und somit zu einer vermehrten Speichelproduktion führt [29]. Bei den muscarinergen Rezeptoren sind die Rezeptoren M1 und M4 in exokrinen Drüsen exprimiert. Clozapin hat eine antagonistische Wirkung auf M1, M2, M3 und M5Rezeptoren, jedoch eine agonistische Wirkung auf zentrale M4-Rezeptoren, was insgesamt zu vermehrtem Speichelfluss führt.Fischer und Eichhorn [29] berichten von einem Patienten, der unter der Medikation mit Haloperidol und Thioridazin neben seiner psychotischen Verwirrung vor allem durch so viel Speichelfluss auffiel, dass seine Wäsche bis zu 5-mal am Tag gewechselt werden musste. Eine weitere Form der Hypersalivation stellt die idiopathische Hypersalivation dar. Nach einer Stu-
1
die von Johnson et al. [45] konnte gezeigt werden, dass auch normal entwickelte Kinder eine Verzögerung bei der Speichelkontrolle zeigen können. Diese Problematik löst sich aber in der Regel im weiteren Entwicklungsverlauf ohne Therapie von selbst. Neben der eigentlichen Ursache der Sialorrhoe spielen besonders auffällige Kofaktoren wie der gerade vorliegende emotionale Status,die Konzentrationsfähigkeit, Okklusionsstörungen sowie Zahnschäden und Körperhaltung eine wichtige Rolle.So ist z.B.bei Zahn- oder Zahnfleischschäden der Speichelfluss naturgemäß erhöht und bei nach vorne geneigtem Kopf der Speichelfluss aus dem Mund durch die Schwerkraft begünstigt. Darüber hinaus zeigen Patienten mit einer Nasenatmungsbehinderung bei weit geöffnetem Mund eher eine Neigung zur Sialorrhoe. Auch die Therapie mit antikonvulsiven Medikamenten begünstigt eine Hypersalivation [61]. Ein gastroösophagealer Reflux kann bei Kindern ein Problem darstellen und es wurde postuliert, dass das Refluxleiden eine Hyperstimulation der Speicheldrüsen mit vermehrter Speichelproduktion hervorrufen kann [27].Zwar wurde bisher keine Wirkung einer Antirefluxtherapie auf den Speichelfluss festgestellt, dennoch kann diese in Einzelfällen zu einer deutlichen Verbesserung führen [8].
1.3.2 Therapeutische Optionen Zur Beurteilung und zum Vergleich verschiedener therapeutischer Ansätze und Ergebnisse ist eine, zumindest grobe, Einschätzung der Schwere der Sialorrhoe erforderlich. Das Problem bei der Sialorrhoe ist, dass sie extrem starken zeitlichen Schwankungen unterliegt. Darüber hinaus ist die Sialorrhoe auch von Situation zu Situation, insbesondere hinsichtlich der emotionalen Anspannung, verschieden. Blasco et al. [8] haben die verschiedenen Methoden zur Quantifizierung der Symptome in drei Kategorien aufgeteilt: ▬ die einfache klinische Abschätzung (z.B.die Anzahl der benötigten Tücher oder T-Shirts); ▬ Skalierung der Sialorrhoe, basierend auf systematischen und zeitlich gestaffelten Beobachtungen [2];
6
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
▬ sialometrische Bestimmung zur absoluten Quantifizierung des Speichelflusses mit speziellen externen oder intraoralen Vorrichtungen zur Speichelsammlung [12, 36]. Alle diese verschiedenen Methoden können allerdings die Beobachtungen der Eltern oder Pflegekräfte über einen längeren Zeitraum nicht ersetzen. Der beste semiquantitative Maßstab ist die Anzahl von Tüchern oder T-Shirts, die im Laufe eines »typischen Tages«, eines »schlechten Tages« oder eines »besten Tages« benötigt werden.Die beste Methode herauszufinden, ob eine Behandlung fortgeführt werden soll oder nicht,ist oftmals die Befragung der Pflegeperson, ob sich die Lebenssituation des Patienten durch die Therapie verbessert hat [8]. Bei der Auswahl der verschiedenen Therapiemethoden kommen zahlreiche konservative Maßnahmen wie z.B. medikamentöse Therapieoptionen und letztendlich auch operative Maßnahmen zum Zug. Interessanterweise zeigt die angloamerikanische Literatur eine Fülle von verschiedenen operativen Optionen, während in der deutschen und europäischen Literatur eher konservative Maßnahmen im Vordergrund stehen. Die Problematik der Sialorrhoe scheint somit auch in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich wahrgenommen zu werden. In der deutschen Fachliteratur gibt es innerhalb der letzen 10 Jahre nahezu keine Veröffentlichung, die über operative Maßnahmen zur Therapie der Sialorrhoe berichtet. Vor einer spezifischen Therapie der Sialorrhoe steht primär die Korrektur von möglichen aggravierenden Faktoren. So kann die Beseitigung von Karies, die Resektion von hypertrophen Tonsillen oder die Beseitigung von Zahnfehlstellungen häufig schon zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik führen. Die Therapie der Sialorrhoe sollte somit immer eine Kooperation von HNO-Arzt, Zahnarzt, Kieferorthopäden, MKG-Chirurgen sowie Neurologen bzw. Neuropädiater beinhalten.
Verhaltensmodifikation und Biofeedback-Therapie Diese Therapiemethoden beruhen darauf,beim Patienten einen Schluckakt auszulösen, der durch ein auditorisches Signal getriggert ist [47]. In einer
Studie mit EMG-Biofeedback konnte, bei gering erhöhter Schluckrate, ein signifikanter Rückgang des Speichelflusses erreicht werden. Der Erfolg der Methode soll besonders auf einer Verbesserung der Schluckkoordination der oralen Phase beruhen, allerdings ist das Verfahren sehr zeitintensiv. Dennoch berichtet auch Rapp [66] bei Kindern mit einem mentalen Alter zwischen 18 Monaten und 8 Jahren über eine dauerhafte Symptomverbesserung.
Oral motorische Therapien und orofaziale Regulationstherapie McCrackan [53] berichtete 1978 bei der Behandlung von 3 Patienten über die Anwendung von sensorimotorischen Techniken. Hierbei wurden auf den M. masseter, den vorderen M. digastricus sowie im Bereich der Lippen für 2–3 min Vibrationen appliziert. Auch Harris u. Dignam [36] zeigten Erfolge dieser Therapietechniken auf. Letztendlich liegen bei dieser Behandlungsmethode aber nur Berichte über kleine Patientengruppen vor. In Deutschland sowie in Südamerika wird in der Literatur vor allem die orofaziale Regulationstherapie in Anlehnung an Castillo-Morales genannt [28, 50, 51]. Diese Methode beruht im Wesentlichen auf dem Anbringen von Acrylplatten im Bereich des Gaumens und des Vestibulum oris an Ober- und Unterlippe, als aktive Komponenten der Stimulation der intra- und zirkumoralen Muskulatur.Außerdem erfolgt eine Kombination mit oraler und fazialer Physiotherapie. Die Anwendung kann bereits bei Säuglingen ab einem Alter von 6 Wochen begonnen werden. Besonders gut untersucht ist die Wirkung in mehreren Studien bei M.-DownPatienten. Hier wurden vor allem die hypotonen Symptome mit der daraus resultierenden Optimierung der oralen Schluckfunktion und auch des Ausdrucks verbessert [50].Des Weiteren kommt es auch zur Verringerung der Zungenprotrusion mit einer Verbesserung des Lippenschlusses.Auch bei Patienten mit zentral-neurologischen Störungen kann diese Therapiemethode mit Erfolg angewendet werden. Limbrock et al. [50, 51] berichten über eine 72%ige Erfolgsrate bei 68 Schlaganfallpatienten mit besonders schweren Fällen der Sialorrhoe. Ähnliche Beobachtungen konnten auch bei zentralmotorisch geschädigten Kindern gemacht werden. Bei
7 1.3 · Sialorrhoe
1
zumindest der Hälfte der Fälle (n=71) konnte eine Verbesserung der spontanen Zungenposition, der Koordination der Zungenbewegungen, der Nahrungsaufnahme sowie der sprachlichen Entwicklung und der Sialorrhoe gesehen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten,dass die orofaziale Therapie die Sialorrhoe verbessern,aber sicherlich nur selten normalisieren kann [61]. Die Therapie sollte auf jeden Fall vor dem 4.Lebensjahr beginnen,andernfalls wird die Gaumenplatte nicht toleriert und es stellt sich kein sicherer Therapieerfolg ein.Ob die Gaumenplatte alleine oder die zusätzliche Physiotherapie die bessere Methode darstellt, ist ungeklärt [32].
bereits nach einer einmaligen Behandlung mit 8 Gy im Bereich der Submandibular und der Sublingualdrüse sowie im kaudalen Anteil der Gl. parotis gezeigt,wobei die Nebenwirkungen (Hautrötung und Brennen der Haut über einige Stunden sowie Halsschmerzen bzw.Übelkeit über einige Tage) minimal waren. Die Autoren folgern, dass gerade bei Patienten mit ALS durch die Einzeitbestrahlung auf eine nichtnebenwirkungsarme medikamentöse Therapie verzichtet werden kann. Darüber hinaus wird empfohlen, bei Sialorrhoe-Patienten mit neurologischen Grunderkrankungen und eingeschränkter Lebenserwartung bereits frühzeitig eine Bestrahlungstherapie durchzuführen.
Logopädische Therapie
Medikamentöse Therapie
Zwar wurde die logopädische Therapie zur Verminderung der Sialorrhoe experimentell eingesetzt, sie ist aber zeitaufwändig und nur bei kontinuierlicher Fortführung erfolgreich [53].
Grundlage vieler Therapieansätze mit Medikamenten ist deren anticholinerge Wirkung. Eine der ältesten und bekanntesten dieser Wirkstoffe ist das Scopolamin, ein cholinerger Muscarin-RezeptorAntagonist, der zu einer deutlichen Reduktion des Speichelflusses,auch im Vergleich zu Atropin,führt [77]. Die bekannteste Applikationsform ist das Scopoderm-Pflaster (Scopoderm TTS), das z.B. hinter dem Ohr direkt auf der Haut aufgebracht werden kann,nachdem diese mit 70%igem Alkohol gereinigt wurde. Das Pflaster kann bis zu 4 Tagen belassen und dann erneuert werden. Der Beginn der Wirkung setzt bereits 15 min nach Applikation ein [21]. Mit der Applikation des Scopoderm-Pflasters konnten bezüglich der Eindämmung der Sialorrhoe sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Scopolamin eignet sich dennoch am besten für eine Kurzzeittherapie, Langzeitergebnisse sind aus der Literatur nicht bekannt. Typische Nebenwirkung der Applikation von Scopolamin können die lokale Allergisierung sowie akute Psychosen und Verwirrtheitszustände sein. Relative Kontraindikationen stellen eine arterielle Hypertonie,ein Glaukom oder eine benigne Prostatahyperplasie dar. Selbst bei Patienten mit Sialorrhoe kann eine Xerostomie auftreten. Des Weiteren wurden nach einiger Zeit Medikamentenintoleranzen beobachtet [61]. Hyson et al. [41] berichten über die sublinguale Anwendung von Atropin-Tropfen zur Behandlung der Sialorrhoe bei Patienten mit Parkinson-Erkrankung. Hierbei zeigte sich eine signifikante Reduktion des Speichelflusses,die sowohl subjektiv
Bestrahlungstherapie Aus der Therapie von Kopf-Hals-Tumoren ist hinlänglich bekannt, dass die Behandlung der Speicheldrüsen mit Gammastrahlen das Symptom der Xerostomie hervorrufen kann. Das Ausmaß der Schädigung steigt dabei mit ansteigender Strahlendosis an. Vor allem in den 80er-Jahren ist die Strahlentherapie immer noch zur Behandlung der Sialorrhoe empfohlen worden. Es wurden Bestrahlungsdosen von 12,5–44 Gy angewendet. Das Problem bei dieser Therapie besteht zum einen darin, dass die individuelle Dosis nicht vorhersagbar ist und daher Rezidive auftreten. Zum anderen kann eine Überdosierung auch zu einer Änderung der Speichelviskosität und damit zum Syndrom der Xerostomie führen. Darüber hinaus sind evidente Strahlenschäden wie eine Osteoradionekrose, Karies und als Spätfolge auch maligne Tumoren möglich. Aufgrund der genannten Komplikationen kann die Strahlentherapie zur Behandlung der herkömmlichen Sialorrhoe nicht empfohlen werden [58, 66]. Allerdings beschreiben Harriman et al. [35] bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose und einer primär schlechten Lebenserwartung die Radiotherapie als Methode der Wahl, wenn eine ausgeprägte Sialorrhoe vorliegt. Ein Erfolg hatte sich
8
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
als auch objektiv messbar war. Zwei Patienten berichteten allerdings über verstärkte Halluzinationen. Die Autoren folgern daraus, dass gerade bei M. Parkinson die Behandlung mit sublingualen Atropin-Tropfen in einer Dosierung von 2¥0,5 mg in 1%iger Lösung pro Tag indiziert ist. Kontraindikationen sind nach Hyson et al. Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen und eine fortgeschrittene Demenz. Ein relativ neuer Wirkstoff, welcher in den letzten 10 Jahren weiterentwickelt und oftmals als Standardmedikation verabreicht wird ist Glycopyrolat (Rubinol; [5, 60]). Bei Erstanwendungen zeigten Studien eine Besserung der Sialorrhoe in 70–90% der Fälle.Allerdings zeigten sich in den verschiedenen Studien bei ein bis zwei Drittel der Patienten relativ hohe anticholinerge Nebenwirkungsraten. Die typischen Nebenwirkungen waren Trockenheitsgefühl im Mund, Obstipation, Urinretention, vermindertes Schwitzen und Hautrötung sowie Reizbarkeit oder andere Verhaltensänderungen. Allerdings waren keine dieser Nebenwirkungen besonders schwerwiegend oder irreversibel. Man sollte allerdings darauf hinweisen, dass die Patienten, trotz Besserung der Symptome, weiter an einer Sialorrhoe leiden. Ungefähr 30–35% der Anwender entscheiden sich daher nicht für eine Fortführung der Medikation von Rubinol in einer Dosierung von 0,04–0,4 mg/kg KG und Tag [8]. Weitere anticholinerge Medikamente, über die in der Literatur berichtet wird, sind Trihexiphenithyl und Benztropin. Gerade bei zusätzlicher Dystonie und Rigidität kann bei M.-Parkinson-Patienten hier ein weiterer Effekt erzielt werden [40]. Eine wesentliche Neuerung stellt die Anwendung von Botulinumtoxin A bei der Sekretionshemmung der Speicheldrüsen dar.Botulinumtoxin hemmt die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Acetylcholin aus dem synaptischen Spalt und führt durch eine Blockade der Signalübertragung zu einer Reduktion der Speichelproduktion und damit zu einer deutlichen Verbesserung der Sialorrhoe. Das Toxin ist ohne direkt toxischen Effekt auf die Azinuszellen der Drüsen [10, 24–26, 31, 46]. Zu beachten ist derzeit, dass die Behandlung der Hypersalivation mit Botulinumtoxin momentan als Off label use gilt ist, d.h. als Einsatz eines zugelassenen Medikamentes für eine nicht zugelas-
sene Indikation. Im Rahmen der Therapiefreiheit darf das Medikament aber auch für eine nicht angegebene Indikation verwendet werden, wenn dies begründet und medizinisch geboten ist.Bei der Anwendung im Bereich der Speicheldrüsen ist dies nach den derzeit vorliegenden Studien der Fall. Nach Ellies et al. [24–26] erfolgt am besten eine sonographiegesteuerte Injektion in beide Parotiden (2¥21 Einheiten Botox) sowie beide Gll. submandibulares (2¥10 Einheiten Botox). Die Beschwerdebesserung tritt bereits 3 Tage nach Anwendung des Botulinumtoxins auf. Bothwell et al. [10] wendeten Botulinumtoxin A in einem Kollektiv von Kindern mit Sialorrhoe bei verschiedenen neurologischen Grunderkrankungen an. Sie injizierten dabei 5 Einheiten Botulinumtoxin in die Gl. parotis. Nach 4 Wochen trat bei allen Patienten eine Reduktion der Hypersalivation ein. Bei 8 von 9 Patienten fand sich auch eine messbare Abnahme des objektiven Speichelflusses. 55% der Eltern waren der Meinung,dass die Behandlung erfolgreich verlaufen sei.Als Nebenwirkungen werden Kauschwierigkeiten, ein trockener Mund und eine vorübergehende Schwäche des Kieferschlusses berichtet, wobei letztere vermutlich bei falscher Injektion im Bereich des M. masseter auftritt. Man sollte auch über die Möglichkeit einer vorübergehenden Fazialisparese aufklären,die bisher in der Literatur im Zusammenhang mit der Anwendung von Botulinumtoxin allerdings nicht beschrieben wurde.Die Wirkdauer von Botulinumtoxin A beträgt 8 bis 16 Wochen,die Anwendung muss dann wiederholt werden.Die Erfolgsrate ist mit den anticholinergen Medikamenten (s. oben) ungefähr vergleichbar.
Zungenakupunktur Wong et al. [82] berichten über die Möglichkeit der Zungenakupunktur und deren Wirksamkeit auf übermäßigen Speichelfluss. Es wurden dabei 10 Kinder mit schwerer körperlicher und geistiger Behinderung ausgewählt, die daher keiner Verhaltenstherapie oder anderen Therapiemethoden zugeführt werden konnten. Innerhalb von 6 Wochen wurden 30 Akupunkturen an mehreren Stellen der Zunge durchgeführt. Die Ergebnisse wurden anhand einer visuellen Analogskala und eines Sialorrhoe-Quotienten sowie anhand eines Fragebo-
9 1.3 · Sialorrhoe
gens erhoben. Nach der statistischen Auswertung konnte mit allen 3 Methoden eine signifikante Verbesserung des Speichelflusses festgestellt werden. Der Effekt hielt auch nach den 30 Sitzungen noch an und die Effizienz der Behandlung nahm mit steigender Anzahl der Sitzungen zu. Die Behandlung verlief insgesamt ohne Nebenwirkungen.Die Autoren begründen ihren Erfolg damit, dass die Zunge reich an neuralen, vaskulären und lymphatischen Geweben sei. So führe die Akupunktur durch die direkte Stimulation über Potenzierung von neuronalen Rezeptoren zu einer Verbesserung der Sialorrhoe. Angekündigte weitere Studien zu diesem Thema wurden allerdings bislang nicht publiziert.
Chirurgische Therapie Trotz konservativer Methoden ( s. oben) sind, bedingt durch die Nebenwirkungen oder auch Therapieversagen, operative Maßnahmen bei der Sialorrhoe oder beim »drooling« seit jeher indiziert gewesen [23]. Im Wesentlichen beruhen diese operativen Maßnahmen auf einer Reduktion der Speichelproduktion, einer Veränderung des Speichelabflusses,bzw.auf einer Kombination der einzelnen Methoden. Ein älteres Verfahren zur Reduzierung des Speichelflusses wie auch der Reduzierung des Frey-Syndroms (gustatorisches Schwitzen nach Parotidektomie) ist die transtympanale Neurektomie [68].Diese Methode führte häufig zu Rezidiven und vor allem auch zu einem Verlust der Geschmacksempfindung, evtl. sogar zur Xerostomie [57]. Sie wird aus diesem Grund heute nicht mehr durchgeführt. Eine Störung der Geschmacksempfindung ist bei Kindern und geistig Behinderten besonders gravierend,da orale Empfindungen für sie von sehr großer Bedeutung sind. Bei Schlaganfallpatienten ist eher die Schluckproblematik und nicht die Hypersalivation im eigentlichen Sinne Ursache einer Sialorrhoe. Dieser Umstand ist ein wesentlicher Ansatzpunkt der Kritik an den chirurgischen Methoden. Deswegen ist z.B. eine Maßnahme wie die transtympanale Neureketomie keine Methode der Wahl,da sie das Problem nicht an der Wurzel fasst [49]. Eine Reduktion der Speichelproduktion kann selbstverständlich auch durch eine Drüsenexstirpation erreicht werden. Hierbei stellt die Entfernung der beiden Submandibulardrüsen bei aus-
1
geprägter Sialorrhoe sicherlich die einfachste Möglichkeit dar. Einfache Ligaturen des Stenon- und/oder Wharton-Ganges sind beschrieben [22]. Anstelle von Ligaturen wird von einer Arbeitsgruppe der Verschluss des Stenon-Ganges mit Applikation von Neodym-YAG-Laser-Impulsen genannt, aus der eine konsekutive Stenosierung resultiert. Hierbei konnte bei 48 Patienten eine Besserung der Symptome von mehr als 90% erreicht werden [13]. Da der Anteil des Ruhespeichels der Gl. parotis am Gesamtspeichel eher gering ist, diese aber bei der Produktion des Reizspeichels eine Rolle spielt, sind alleinige Manipulationen am Ausführungsgang der Gl.parotis in der Literatur aber eher umstritten [61]. Weitere chirurgische Methoden zielen auf ein sogenanntes Rerouting der Ausführungsgänge ab. Hierbei wird sowohl der Ausführungsgang der Gl. parotis als auch der Ausführungsgang der Gl.submandibularis aus seinem natürlichen Verlauf heraus präpariert und im Bereich der Tonsillenloge reimplantiert.Wilkie [79] war 1967 der erste,der eine nach ihm benannte Operation vorschlug. Die Ausführungsgänge der Gl. parotis wurden dabei in die Tonsillenloge implantiert,um mit dem Speichelfluss einen direkten Schluckreflex auszulösen.Wilkie und Brodie [11, 80] modifiziertren diese Methode 1977 insofern, als dass sie zusätzlich noch die Submandibulardrüsen im gleichen Eingriff mit entfernten.Um eine Stenosierung bzw. rezidivierende Entzündung der Ausführungsgänge oder der Speicheldrüsen zu vermeiden,sollte im gleichen Eingriff auch eine Tonsillektomie durchgeführt werden.Selbst das Rerouting des Stenon-Ganges mit autologen Veneninterponaten wurde als mögliche Variation der WilkieOperation versucht [63]. Auch das Rerouting der Wharton-Gänge in die Tonsillenloge wurde beschrieben.Dieses Verfahren geht mit dem Risiko der Ausbilung einer Ranula einher [16, 17]. Ein Nachteil dieser operativen Methoden ist selbstverständlich auch die Hospitalisierung der Patienten. Darüber hinaus besteht das Risiko der Ausbildung einer lateralen Halszyste sowie ausgeprägtem Karies [17].Eine Kontraindikation des Reroutings der Ausführungsgänge in die Tonsillenloge besteht für Patienten mit Aspiration. Betrachtet man die Erfolgsrate der operativen Verfahren, so werden hierbei Erfolgsraten von 67 bis über 90% angegeben (⊡ Tabelle 1.1).
10
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
⊡ Tabelle 1.1. Erfolge der verschiedenen Operationsmethoden bei Sialorrhoe Autor und Jahr
Patientenzahl (n)
Operationsmethode
Erfolgsrate [%]
Crysdale 2001 [17]
107
Rerouting des Wharton-Gangs und Exstirpation der Gl. sublingualis
72
Stern 2002 [76]
93
Beidseitige Exstirpation der Gl. submandibularis und Ligatur des Stenon-Gangs
87
Panarese 2001 [64]
35
Rerouting des Wharton-Gangs
82,4 76,5 Langzeitergebnis
Wilson 1999 [81]
49
Rerouting des Wharton-Gangs und Ligatur des Stenon-Gangs Rerouting des Wharton-Gangs
96
16
75
Brody 1977 [11)
120
Rerouting des Stenon-Gangs (Wilkie-OP) und beidseitige Exstirpation der Gl. submandibularis
90
Chang 2001 [13]
48
Nd-YAG Laser Okklusion des Stenon-Gangs
>90
Fazit Die Notwendigkeit eines therapeutischen Vorgehens ergibt sich aus dem Schweregrad der Symptomatik sowie der subjektiven Beeinträchtigung des Patienten bzw. auch der Eltern und des Pflegepersonals. Diese Einschätzung drückt sich vermutlich am ehesten an der Anzahl der benötigten Tücher oder T-Shirts bzw. Kleidungswechsel aus. Zuallererst muss an die Korrektur von aggravierenden Kofaktoren durch Zahnarzt, HNO-Arzt, Kieferorthopäden, MKGChirurgen, Neurologen oder Neuropädiater gedacht werden. Im Folgenden sollten zunächst alle oben genannten konservativen Maßnahmen ausgeschöpft werden. Der Einsatz von Medikamenten kann zu bestimmten Zeiten zusätzlich sinnvoll erscheinen, genügt aber meistens nicht als alleinige Maßnahme. Erst nach dem Ausbleiben eines sichtbaren Erfolgs und einem anhaltenden Leidensdruck steht die Chirurgie als Ultima ratio (bei Kindern ab dem 5. bis 6. Lebensjahr) zur Verfügung.
1.4
Xerostomie Wichtig
Xerostomie oder trockener Mund ist die Beschreibung eines Symptoms und keine Diagnose (⊡ Abb. 1.3).
Es handelt sich dabei um das subjektive Gefühl einer unzureichenden Speichelmenge hinter der Mundhöhle, hervorgerufen durch eine negative Speichelbilanz [15, 30]. Die Xerostomie ist kein verlässlicher Parameter einer Hypofunktion der Speicheldrüsen, obwohl sie dennoch häufig mit einer Alteration der Speicheldrüsenfunktion vergesellschaftet ist [74]. Weitere Begleitsymptome der Xerostomie sind ▬ ein Brennen und Stechen in der Mundhöhle, ▬ Sprechschwierigkeiten, ▬ Behinderung der Nahrungsaufnahme, ▬ Geschmacks- und Schluckstörungen, ▬ trockene Lippen, Hals, Nase, Haut und Augen. Die Xerostomie hat eine Vielzahl von Ursachen und kann wiederum auch eine Vielzahl von nachfolgenden Veränderungen und Funktionsstörungen
11 1.4 · Xerostomie
1
die Produktion des Parotisspeichels sowie dessen Zusammensetzung auch im Alter konstant bleiben [37, 83]. Die meisten Autoren stimmen heute darin überein, dass die Reduktion des Speichels im Alter eher gering und nicht von physiologischer Bedeutung ist [71]. Daher ist auch das Symptom Xerostomie bei älteren Patienten ernst zu nehmen und verlangt dieselbe Ab- und Aufklärung wie bei jüngeren Patienten [30]. Weitere wichtige Ursachen der Xerostomie sind zentrale Störungen. Dabei können u. a. emotionale Faktoren wie Angst, Aufregung und Stress das zentrale Nervensystem derart beeinflussen, dass dem Patienten »die Spucke wegbleibt«. Auch Depressionen, Tumoren des zentralen Nervensystems sowie die Parkinson-Erkrankung können die zentrale Speichelstimulation beeinflussen [6]. Rauch [67] beschreibt eine zentral-nervös bedingte Xerostomie als ▬ seltenes Krankheitsbild (AOP: Adipositas, Oligomenorrhoe und rezidivierende Parotisschwellungen), ▬ hypophysäre Störung und ▬ Folge degenerativer und hereditärer Veränderungen im Diencephalon.
a
b ⊡ Abb. 1.3a,b. Trockener Mund
hervorrufen. Auch wenn das Symptom der Mundtrockenheit in der täglichen Praxis häufig vernachlässigt wird, ist es für den Patienten oftmals ein Symptom, das im Mittelpunkt steht, da es alle Aspekte der oralen Funktion und somit auch der Lebensqualität beeinflusst.
1.4.1 Ätiologie Die Xerostomie kann aus einer Vielzahl verschiedener Faktoren resultieren [15]. Zum einen wird postuliert, dass die Abnahme der peripheren Reize und/oder die Störung der affektiven Erregungsleitung die Speichelsekretion in Hinblick auf die Entwicklung einer Xerostomie beeinflussen. Dies könnte vor allem bei älteren Menschen, die häufiger über Mundtrockenheit klagen,zugrunde liegen, wenn keine anderen Ursachen zu finden sind. Allerdings gibt es auch Studien,die zeigen,dass z.B.
Darüber hinaus wurden auch Fälle von Schädeltraumata berichtet,die in der Folge zur Xerostomie führten [15]. Die medikamentöse Induktion ist heute eine der häufigsten Ursachen der Xerostomie. Es werden mehr als 500 verschiedene Medikamente beschrieben, die als Nebenwirkung einen trockenen Mund verursachen [75]. Interessanterweise kann allerdings nur bei einer geringen Anzahl dieser Medikamente tatsächlich auch ein reduzierter Speichelfluss nachgewiesen werden. So beeinflussen z.B. die modernen Inhibitoren der Serotoninaufnahme nicht den Speichelfluss, obwohl trizyklische Antidepressiva für ihre Nebenwirkungen im Sinne eines trockenen Mundes bekannt sind [59].Ein Großteil der Nebenwirkungen von Medikamenten, die eine Xerostomie verursachen, beruht auf deren anticholinerger Wirkung. Medikamente können darüber hinaus den Speichelfluss durch Vasokonstriktion in den Speicheldrüsen vermindern [70].Auch Chemotherapeutika wurden in der Vergangenheit immer wie-
12
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
Beispiele von Medikamenten, die eine Xerostomie verursachen können
Antiemetika Anti-Parkinson-Medikamente Antispasmolytika Mydriatika Antiarrhythmika (z.B. Natriumkanalblocker) Antihypertensiva Diuretika a-Blocker b-Blocker Kalziumantagonisten Antihistaminika Antidepressiva Antipsychotika MAO-Hemmer Pethidin Anxiolytika (z.B. Benzodiazepine) zentral wirksame Narkotika
der angeschuldigt, Mundtrockenheit zu verursachen. Eine neuere Studie [54] zeigte bei der Behandlung des Morbus Hodgkin allerdings keine Herabsetzung der Speichelflussrate. Wichtig
Betrachtet man insbesondere die Mundtrockenheit bei älteren Menschen, so muss man wissen, dass ungefähr 30% des Medikamentenkonsums in diese Altersgruppe fallen [59]. Davon sind die meisten Medikamente zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen rezeptiert, darauf folgen Analgetika, Tranquilizer oder Laxanzien. Somit wird vermutlich die Mundtrockenheit bei älteren Menschen oftmals auch durch diese Medikation verursacht.
Weitere Ursachen der Xerostomie stellen Störungen auf dem Niveau der Speicheldrüsen, d.h. der direkten Speichelproduktion dar. Fehlt dem Organismus Wasser, z. B. durch Hitzeexposition oder Dehydrierung (z.B.im Rahmen eines Diabetes mellitus oder Diabetes insipidus) kann der Speichelfluss stark eingeschränkt sein. Bei Patienten mit Diabetes mellitus gibt es Unterschiede hinsichtlich
des insulinabhängigen und nicht insulinabhängigen Typs. Typ-2-Diabetiker zeigten in Vergleichsstudien nicht sehr signifikant verschiedene Speichelsekretionsraten [14], während bei Patienten mit Typ-1, also insulinabhängigem Diabetes, eine deutliche Reduktion des Speichelflusses vorlag.Als mögliche Erklärung hierfür wird eine autonome Neuropathie verantwortlich gemacht [55]. Darüber hinaus kann auch chronischer Proteinmangel Einfluss auf die Speichelzusammensetzung haben. Nach Rauch [67] entsteht damit ein qualitativ minderwertiger Speichel, der weniger Immunglobuline zur Infektabwehr enthält. Die operative Entfernung von Speicheldrüsen stellt eine mögliche Ursache einer Xerostomie dar. Sie führt zwar zu einer messbaren Abnahme des Gesamtspeichels, allerdings nur in wenigen Fällen zu einer subjektiv belastenden Mundtrockenheit. Meistens tritt diese erst dann auf, wenn auch die kleinen Speicheldrüsen betroffen sind, die nach Rauch [67] ungefähr zu 20–40% (nach anderen Autoren [20] zu 7–8%) an der Gesamtproduktion des Speichels beteiligt sind. Eine sehr seltene Erkrankung,die mit deutlicher Mundtrockenheit einhergeht, ist die Aplasie aller Kopfspeicheldrüsen [15]. Daneben kann auch eine Einschränkung des Speicheltransportes, meist in Kombination mit Untergang von Speicheldrüsengewebe (z.B. bei der Sialolithiasis oder bei chronisch rezidivierenden Sialadenitiden) in seltenen Fällen eine Xerostomie verursachen. Eine der wichtigsten systemischen Erkrankungen, die durch Untergang von Zellen in den Speicheldrüsen zu einer Abnahme des Speichelflusses bzw. der Speichelproduktion führt, ist das SjögrenSyndrom (⊡ Abb. 1.4). Diese zweithäufigste rheumatische Erkrankung kann alleine,als primäres Sjögren-Syndrom oder in Verbindung mit anderen Autoimmunopathien, als sekundäres Sjögren-Syndrom, auftreten [30]. Hier ist die Erkrankung dann mit der rheumatoiden Arthritis, dem systemischen Lupus erythematodes oder der primär biliären Zirrhose vergesellschaftet. Nahezu alle Patienten mit Sjögren-Syndrom beklagen sich über einen trockenen Mund sowie trockene Augen und zeigen eine deutliche sekretorische Speicheldrüsenunterfunktion. Ungefähr 90% aller Sjögren-Patienten sind Frauen zwischen dem 40.
13 1.4 · Xerostomie
⊡ Abb. 1.4. Patientin mit Sjögren-Syndrom/Lupus erythematodes mit Zahnschäden und ausgeprägter Xerostomie
und 50. Lebensjahr, die sich in der Regel in der Menopause (oder kurz danach) befinden.Das SjögrenSyndrom wird allerdings auch schon im Kindesalter beschrieben [3]. Neben der typischen Klinik werden Autoantikörper gefunden [ANA, SS-A (Ro) und SS-B (La)], die sich gegen Epithelien der Speicheldrüsenausführungsgänge richten.Die Speicheldrüsenbiopsie,aus der Lippenschleimhaut oder der Gl. parotis gewonnen, stellt eine weitere wichtige Möglichkeit dar, die Diagnose zu sichern [4]. Eine Sarkoidose (M. Boeck) als Systemerkrankung kann ebenfalls eine Xerostomie verursachen. Aber auch die primäre Amyloidose kann aufgrund von Ablagerung von Amyloid innerhalb der Speicheldrüsen zu einer Verringerung der Speichelflussrate führen [34]. Bei Patienten nach Knochenmarktransplantationen und einer ausgeprägten Graft-vs.-host-Reaktion kann es zu einer Mitbeteiligung der Speicheldrüsen kommen. Hier findet sich, ähnlich wie beim Sjögren-Syndrom, eine ausgeprägte inflammatorische, immunmodulierte Reaktion [30]. Auch hier kann die Biopsie aus den kleinen Speicheldrüsen der Lippenschleimhaut Aufklärung bringen. Als weitere Ursache einer Xerostomie sollten Erkrankungen der Schilddrüse ebenfalls ausgeschlossen werden. Patienten mit einer HIV-Infektion zeigen gelegentlich eine Vergrößerung der Speicheldrüsen, die mit Xerostomie, aber in der Regel nicht mit trockenen Augen einhergeht. Hierbei kommt es zu einer Infiltration des Speicheldrüsenparenchyms mit T-Lymphozyten des Subtyps CD8+ (beim Sjö-
1
gren-Syndrom CD4+). Diese Beteiligung der Speicheldrüsen im Rahmen einer HIV-Erkrankung ist häufiger bei Kindern als bei Erwachsenen zu beobachten [34]. Nicht zuletzt sollte zur Abklärung einer Xerostomie, insbesondere bei Kindern, auch an eine zystische Fibrose gedacht werden. Neben medikamentösen und systemischen Ursachen ist eine weitere wichtige und häufige Ursache des Verlustes von Speicheldrüsenparenchym die perkutane Bestrahlungstherapie bei Tumorpatienten. Gerade bei Kopf-Hals-Tumoren liegen die großen und kleinen Speicheldrüsen zumeist im Bestrahlungsfeld. Ab einer Dosis von über ungefähr 52 Gy kommt es zu einer,in der Regel permanenten, Reduktion der Speichelproduktion [78]. Nicht zu vergessen ist auch der Untergang von Speicheldrüsengewebe bei der Radiojodtherapie zur Behandlung von Schilddrüsenkarzinomen, die je nach Dosis eine vorübergehende oder auch chronische und bleibende Hypofunktion der Speicheldrüsen verursachen kann [30]. Nicht zuletzt sollte man bei der Abklärung der Xerostomie auch an einen vermehrten Speichelverbrauch denken,der z.B.bei chronischer Mundatmung, bei Patienten mit verstärktem Schluckzwang (z.B. bei nicht passenden oder neuen Zahnprothesen) oder aus psychogenen Gründen auftreten kann [15].
1.4.2 Diagnostik Wegweisend für die Diagnostik der Xerostomie ist zunächst immer die typische Klinik und Anamnese der Patienten (s. oben). Darüber hinaus können Beschwerden der jeweiligen Grunderkrankung, z.B. Gelenkbeschwerden beim Sjögren-Syndrom oder trockene Augen, hinzukommen. Typische klinische Zeichen einer Speicheldrüsendysfunktion beinhalten trockene Lippen, eine blasse und trockene Mundschleimhaut, eine verdünnte und atrophe Mukosa sowie eine gerötete, fleischige, furchige und teilweise belegte Zungenoberfläche. Meist ist auch bei der ersten klinischen Inspektion kein Speichelsee im Bereich des Mundbodens sichtbar und bei Massage der Speicheldrüsen lässt sich aus den Ausführungsgängen kein
14
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
Speichel exprimieren. Sobald Speichel gewonnen werden kann, erscheint er ggf. verdickt oder bei chronischen Entzündungen auch mit flockig-gelblichen Veränderungen. Zur anamnestischen Erhebung gehört auch die Frage nach der Einnahme von Medikamenten ( s. oben).Aufgrund der fehlenden Schutzfunktion des Speichels kann bei Patienten mit Xerostomie ein kariöser Zahnstatus vorliegen. Ebenso ist auf Infektionen im Bereich der Mundschleimhaut (z.B. Pilzbefall) zu achten. Wichtig
Zur weiteren Abklärung einer Xerostomie gehört eine entsprechende Bildgebung. Unserer Meinung nach stellt hierbei die B-Scan-Sonographie der Speicheldrüsen das Mittel der Wahl dar (⊡ Abb. 1.5a–c).
Mit einem 7,5-MHz-Schallkopf sind alle großen Speicheldrüsen problemlos einer Untersuchung zugänglich. Das Bild eines M. Sjögren (⊡ Abb. 1.5c) oder auch einer Sarkoidose zeigt hierbei typische sonographische Veränderungen [42].CT- und MRT sowie die Sialographie können bei den allermeisten Untersuchungen durch den Ultraschall ersetzt werden. Eine weitere Möglichkeit der Speicheldrüsenfunktionsmessung ist die Szintigraphie mit 99m Tc. So konnte z.B. beim Sjögren-Syndrom häufig eine schnelle Aufnahme des Tc, aber ein verzögerter Abfluss in Richtung Mundhöhle beobachtet werden [30]. Bei Verdacht auf Autoimmunerkrankungen ist selbstverständlich die serologische Untersuchung und hier insbesondere die Suche nach SS-A und SS-B-Antikörpern, Rheumafaktoren etc. indiziert. Die Serumamylase, insbesondere das Iso-Enzym, kann bei Mitbeteiligung der Speicheldrüsen erhöht sein, stellt allerdings keinen spezifischen Marker dar. Gerade bei der Abklärung des Sjögren-Syndroms können bei fehlendem Antikörpernachweis Speicheldrüsenbiopsien Klärung bringen. Hierbei sollten von der Lippenschleimhaut mindestens 6 bis 10 kleine Speicheldrüsen exzidiert und untersucht werden.Biopsien können auch aus den großen Speicheldrüsen gewonnen werden. In der Literatur gibt es bezüglich der Wertigkeit zur Diagnostik des
Sjögren-Syndroms hierbei unterschiedliche Ansichten. Fox et al. [30] sehen keinen Vorteil in der Biopsie der großen Speicheldrüsen gegenüber der Exzision der Lippenspeicheldrüsen. Seiner Meinung nach birgt diese auch das kleinere operative Risiko.
Messung der Speichelsekretionsbzw. -flussrate Bei der Bestimmung der Speichelflussrate unterscheidet man zum einen zwischen der Sammlung des Gesamtspeichels und der Sammlung des Speichels einer einzelnen Speicheldrüse. Des Weiteren besteht die Möglichkeit einer Messung der Ruhesekretion bzw.der basalen Flussrate sowie des Reizspeichels. Für die Bestimmung der basalen Gesamtspeichelflussrate wurden viele verschiedene Methoden beschrieben.Neben Ausspucken des sich ansammelnden Speichels oder einfach des Ablaufenlassens kann der Speichel auch abgesaugt werden. Sinnvoll ist es, hierbei mindestens fünf Minuten lang den Gesamtspeichel zu sammeln, um die Speichelflussrate in ml/min. ausdrücken zu können. Die Bestimmung der stimulierten Speichelflussrate bzw. des Reizspeichels kann z.B. mit 1- bis 6%iger Zitronensäure durchgeführt werden. Hierbei wird alle 30 oder 60 s eine standardisierte Menge der Säure auf das vordere obere Ende der Zunge aufgebracht. Bevor die Zitronensäure immer wieder erneuert wird, muss der Patient den Speichel in ein Sammelgefäß ausspucken.Auch hier beträgt die Zeit der Sammlung mindestens 5 min. Zur Bestimmung der Speichelsekretionsrate einzelner Drüsen wurden ebenfalls verschiedene Vorrichtungen,einschließlich der Kathetersialometrie, entwickelt [15, 59]. Der Speichelfluss unterliegt während der verschiedenen Tageszeiten starken inter- und intraindividuellen Schwankungen. In der Regel ist er morgens am geringsten und am späten Nachmittag am stärksten ausgeprägt. Um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, sollte die Abnahme des Speichels jeweils zur gleichen Tageszeit erfolgen. In der Literatur finden sich aufgrund der hohen Variabilität des Speichelflusses auch unterschiedliche Angaben bezüglich der Speichelflussrate bei Xerostomie.Als Hinweis auf eine Hypofunktion der Drüsen nennt Fox [30] bei den meisten Patienten
15 1.4 · Xerostomie
⊡ Abb. 1.5a–c. Charakteristische Ultraschallbefunde der Gl. parotis. a Normalbefund: echohomogenes regelmäßiges Echomuster retromandibulär (MM: M. masseter, Uk: Unterkiefer, VRM: V. retromandibularis, MD: M. digastricus venter posterior, GP: Gl. parotis, MSCM: M. sternocleidomastoideus). b Strahlensialadenitis: echoarm aufgelockerte, teilweise inhomogene Echostruktur nach Bestrahlung mit 60 Gy. c M. Sjögren: typisches wolkiges Echomuster mit echoreichen und echoarmen Anteilen a
b
c
1
16
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
Werte von weniger als 0,1 ml/min bei der Basalsekretion und von weniger als 0,5 ml/min beim Reizspeichel. Bertram [7] spricht von einer Xerostomie, wenn die Flussrate des Gesamtspeichels höchstens 0,2 ml/15 min beträgt und von einer Hyposialie bei Werten >0,2 ml/15 min und <0,9 ml/ 15 min.Die Sekretion der Gl.parotis bei nüchternen Patienten sollte in der Regel mehr als 0,3 ml/15 min betragen, die des Reizspeichels mehr als 0,5 ml/ 15 min.Bei Werten des Reizspeichels unter 0,5 ml in 15 min wird bei Chilla et al. [15] eine Hyposialie bestätigt, wenn die Sekretion nicht nach Pilocarpingabe über diesen Wert ansteigt. Die mittlere Flussrate beträgt nach Greenspan et al. [34] für den Gesamtspeichel 0,3 ml/min und für die Gl. parotis 0,4–1,5 ml/min. Neben der zunächst primären Evaluierung der Xerostomie kann die Sialometrie darüber hinaus auch dazu eingesetzt werden, die Effizienz therapeutischer Maßnahmen wie z.B.den Wechsel von Medikamenten oder die Anwendung von Sialagoga zu evaluieren.
a
b
1.4.3 Therapeutische Optionen Wichtig
Die Therapie des trockenen Mundes richtet sich im Wesentlichen danach, die Ursache zu beseitigen, auch wenn bei vielen Patienten nur symptomatische Maßnahmen durchgeführt werden können, die über kurze oder längere Phasen das Gefühl der Mundtrockenheit deutlich verbessern.
Durch Einleitung prophylaktischer Maßnahmen lassen sich Folgezustände der Mundtrockenheit, wie Zahnkaries (⊡ Abb. 1.6a,b) oder Infektionen der Mundhöhle, verhindern. Sekretstimulierende Maßnahmen, die entweder lokal oder auch systemisch als Medikamente verabreicht werden können, bilden eine weitere Säule der Therapie. Zugrundeliegende Systemerkrankungen oder Erkrankungen der Speicheldrüsen müssen behandelt werden.
Symptomatische Therapie Die meisten Formen der Xerostomie benötigen,unabhängig von ihrer Ätiologie, irgendeine Form der
⊡ Abb. 1.6 a,b. Zahn- und Zahnfleischschäden nach Bestrahlung (mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Petschelt, Lehrstuhl für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Erlangen)
symptomatischen Therapie [59].Es ist wichtig,dass die Befeuchtung der Mundschkeimhaut durch Flüssigkeitszufuhr verbessert wird. Am einfachsten ist hierbei häufiges Trinken von bzw. die Mundspülung mit Wasser, zumal dieses fast überall erhältlich ist. Darüber hinaus kann die Vermeidung von zucker- oder koffeinhaltigen Getränken eine weitere Exsikkose verhindern. In trockenen Räumen lässt sich durch eine ausreichende Luftbefeuchtung die Symptomatik verbessern.Bei zusätzlich trockenen Lippen können befeuchtende Lippencremes (z. B. Petrolatum, Lanolin oder Vitamin-E-haltige Cremes) zu einer deutlichen Linderung führen. In der Literatur werden darüber hinaus auch spezifische Mundspüllösungen, die Glycerin oder auch schwarzen Tee enthalten,empfohlen.Schwarzer Tee sei insbesondere empfehlenswert, da er eine relativ hohe Fluoridkonzentration zur Protektion der Zähne enthalten soll [56]. Bei unzureichender Restaktivität der Speicheldrüsen stellt die Befeuchtung der
17 1.4 · Xerostomie
Mundhöhle mit Hilfe von Speichelersatzmitteln oftmals die einzig noch verbleibende Möglichkeit dar. Hier steht eine Vielzahl von Medikamenten zur Verfügung, die sich vor allem in der Art des Verdickungsmittels und der Zusammensetzung der Elektrolyte unterscheiden [56]. Hierbei lassen sich künstliche Speichel auf Muzin- (tierisches Muzin) bzw.Zellulosebasis (z.B.Carboxyethylzellulose),unterscheiden.Darüber hinaus werden auch Produkte verwendet,die auf Leinsamenöl,Sorbitol oder Polyethylenoxid basieren. Allen gemeinsam sind verschiedene organische Zusätze, Enzyme und verschiedene Puffer, die den jeweiligen pH-Wert einstellen.Wichtig für die Wirkung dieser künstlichen Speichelprodukte ist die lang anhaltende Benetzung der Mundschleimhaut sowie deren antimikrobielle und auch remineralisierende Wirkung auf die Zähne. Die Viskosität eines Präparates scheint hierbei eine untergeordnete Rolle zu spielen. Bezahnte Patienten sollten keine Präparate verwenden, die eine demineralisierende Wirkung auf Zahnhartsubstanzen besitzen [56]. Zur Linderung der bei ausgeprägter Xerostomie auftretenden Beschwerden eignen sich fluoridhaltige Speichelersatzmittel, vorzugsweise auf Muzinbasis, die darüber hinaus Kalzium und Phosphat enthalten. Mögliche Nebenwirkungen bei der Verwendung eines Speichelersatzpräparates sind z.B. ein unangenehmer Geschmack, Irritationen der Mundschleimhaut, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe. In solchen Fällen sollte das Präparat umgesetzt werden. In letzter Zeit wurden neuartige Mundspüllösungen entwickelt, die zusätzlich Abwehrstoffe beinhalten (Oral Balance, Biotene: Bipol Belgium). Diese Mittel zur Befeuchtung der Mundschleimhaut mit gleichzeitiger Verbesserung der antimikrobiellen Eigenschaften bieten interessante neue Möglichkeiten der Therapie der Xerostomie, wobei Langzeitresultate derzeit noch ausstehen. Nicht vergessen werden sollten kostengünstige alte Hausmittel, wie z.B. Mundspülungen mit Olivenöl. Die bei vielen Patienten schon zu einer deutlichen Besserung der Symptomatik führen [59].
Lokale Speichelstimulation Ist bei Patienten noch eine Restfunktion der Speicheldrüsen nachweisbar, können sie von den Me-
1
thoden der lokalen Speichelstimulation ohne weiteres profitieren.Diese lokalen Maßnahmen bestehen aus der Anwendung von Zahnpflegekaugummis und Mintbonbons,die ebenfalls ohne Zucker verabreicht werden sollten. Ein Nachteil von Kaugummis besteht darin, dass sie sich von Gebissträgern nur eingeschränkt verwenden lassen. Darüber hinaus können Irritationen der Mundschleimhaut, Übelkeit, unangenehme Geschmacksempfindungen, Probleme mit dem Kiefergelenk und Blähungen auftreten [30]. Auch zuckerfreie Zitronenlimonade kann zu einer deutlichen Besserung der Symptomatik führen, ebenso wie saure Drops oder saure Speisen. Allerdings sollten kohlensäurehaltige Speisen nicht über längere Zeit angewendet werden, da sie wiederum zu weiteren Zahnschmelz- und Mundschleimhautschäden führen.
Medikamentöse Therapie Bereits 1984 berichteten Prause et al. [65] über eine Zunahme des Tränenflusses bei Sjögren-Patienten, denen das Medikament Bromhexin,welches eigentlich als Mukolytikum Anwendung findet, verabreicht wurde. Bromhexin soll bei diesen Patienten auch den Speichelfluss anregen, klinische Studien hierzu wurden allerdings in der Literatur noch nicht erwähnt. Anethol (Mukzinol),das auch zur Anregung der Gallensekretion zum Einsatz kam, wurde bereits von Chilla et al. [15] 1984 als ein Präparat beschrieben, mit dem sich eine Verbesserung der Xerostomie erreichen lässt. Es soll eine gute Wirkung bei einer leichten Hypofunktion der Speicheldrüsen haben, bei schwerem Sjögren-Syndrom allerdings nicht wirksam sein [69]. Die Wirkung des Medikamentes soll auf einer Hochregulation der Muskarin-Rezeptoren in den Speicheldrüsen beruhen. Gleichzeitig wird über einen additiven Effekt bei der Anwendung von Pilocarpinhydrochlorid berichtet. Potente Medikamente zur Behandlung der Mundtrockenheit stellen auch die beiden Parasympathikomimetika Pilocarpin (erhältlich als Salagen) sowie Cevimelinhydrochlorid (Evoxac) dar,bei dem es sich um ein neueres Medikament handelt. Beide Präparate wurden bereits zur Behandlung des Sjögren-Syndroms eingeführt. Sowohl Pilocarpin wie auch Cevimelin sind Stoffe, die Acetyl-
18
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
cholin an Muskarinrezeptoren binden und die Speichelstimulation aktivieren. Derzeit sind fünf Subtypen (M1–M5) von Muskarinrezeptoren identifiziert und analysiert worden. Nach Anaya u. Thalal [4] zeigt Cevimelin eine Hochaffinität für M3-Rezeptoren im Bereich der Speicheldrüsen und der Tränendrüse. Sowohl Cevimelin als auch Pilocarpin haben eine ähnliche Affinität für M1-Rezeptoren im Bereich des zentralen Nervensystems. Die empfohlene Dosis zur Behandlung der Xerostomie beträgt bei Cevimelinhydrochlorid 3¥30 mg/Tag, bei Pilocarbinhydrochlorid 4¥5 mg/Tag. Neben Allergien auf die Wirkstoffe stellen die akute Iritis und das Engwinkelglaukom Kontraindikationen dar, da bei der Anwendung beider Präparate Akkommodationsstörungen auftreten können. Die Aktivierung von Muskarin-Rezeptoren kann u.a. auch zu bronchialen Konstriktionen führen, weshalb beide Medikamente nur vorsichtig und unter enger medizinischer Überwachung bei Patienten mit Asthma bronchiale, chronischer Bronchitis und chronisch obstruktiven pulmonalen Erkrankungen gegeben werden dürfen.Dies gilt auch bei kardiovaskulären Erkrankungen, Leberund Nierenerkrankungen sowie bei Nieren- und Gallensteinen. Bei der therapeutischen Dosierung von 30 mg Evoxac oder 20 mg Salagen täglich treten in vergleichbarer Häufigkeit Nebenwirkungen wie Schwitzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Sinusitis und Rhinitis,Diarrhoe,Verdauungsstörungen,Bauchschmerzen oder Harndrang auf [1]. Davies et al. [18, 19] untersuchten die Wirkung von Salagen im Vergleich zu einer künstlichen Speichelsubstanz auf Muzinbasis (Saliva Orthana) bei Patienten, die bei einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung unter Mundtrockenheit litten. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass künstlicher Speichel auf Muzinbasis zwar die Symptome der Xerostomie lindern konnte, die Verbesserung unter der Wirkung von Salagen allerdings signifikant besser war. Die Nebenwirkungsrate ist jedoch deutlich höher, wobei insbesondere mit Schwitzen (bei 29–37% der Patienten) zu rechnen ist. Dies ist eine der häufigsten Ursachen, warum Salagen wieder abgesetzt wird.
Präventive Maßnahmen bei der Mundhygiene Wichtig
Bei Patienten mit einer Hypofunktion der Speicheldrüsen, also mit deutlich verringertem Speichelfluss, sind Maßnahmen zur ausgiebigen Mundhygiene unumgänglich. Dazu gehören regelmäßiges Zähneputzen sowie die Anwendung von topischen und systemischen Fluoriden zur Kariesprophylaxe.
Darüber hinaus sollten engmaschig zahnärztliche Kontrollen (mindestens 3- bis 4-mal pro Jahr) durchgeführt werden. Da bei vielen Patienten herkömmliche Mundspüllösungen oder Zahncremes Irritationen der Mundschleimhaut hervorrufen können, gibt es von Seiten der Industrie heute eine wachsende Zahl von verschiedenen Produkten, die spezifisch auf die Bedürfnisse von Xerostomie-Patienten ausgerichtet sind. Auch die Benutzung von Kalziumphosphat-Präparaten zur Verbesserung der Remineralisation wird bei Xerostomie-Patienten zunehmend empfohlen [59].
Prävention der Xerostomie bei Bestrahlung von Kopf-Hals-Tumoren Gerade bei Tumorpatienten, die einer Bestrahlungstherapie zugeführt werden müssen,ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Auftreten einer Xerostomie zu rechnen.Wie oben erwähnt, kommt es ab 52 Gy zu einer irreversiblen Schädigung des bestrahlten Speicheldrüsenparenchyms (⊡ Abb. 1.5b). In einigen klinischen Studien wurden bisher zwei verschiedene Methoden bereits am Patienten evaluiert. Zum einen die Testung von radioprotektiven Substanzen, hier insbesondere das Amifostin (WR2721). Amifostin ist Vorläufer eines klinisch wirksamen Metaboliten, welcher selektiv vermehrt von gesundem Gewebe und weniger häufig von Tumorgewebe aufgenommen wird. Die protektive Wirkung von Amifostin vor einer durch Chemound Radiotherapie induzierten DNA-Schädigung beruht auf der Bindung und Neutralisation von reaktiven Formen alkylierender Stoffe sowie der Bindung von freien Radikalen [33]. Derzeit ist Amifostin von der FDA zur Reduzierung der Xerostomie
19 1.4 · Xerostomie
bei Patienten mit Bestrahlung von Kopf-Hals-Tumoren anerkannt worden. Es konnte in einer klinischen Studie sowohl die früh auftretende Mundtrockenheit innerhalb der ersten 90 Tage als auch die später auftretende Störung nach einem Jahr signifikant reduzieren [33]. In Deutschland ist dieses Medikament erhältlich als Ethyol, allerdings sind die Behandlungskosten relativ hoch (die Kosten für 3 Ampullen zu 500 mg betragen etwa 1000 EUR). Eine weitere Möglichkeit, die Funktion der Unterkieferspeicheldrüse zu erhalten, ist der sog. Transfer der Gl. submandibularis in die Submentalregion, die außerhalb des Bestrahlungsfeldes liegt. Jha et al. [43] berichteten zunächst in einer Studie mit 16 Patienten über den Nutzen dieser Therapie. Die Submandibulardrüse wird dabei bei der Neck dissection gestielt an der A.- und V.facialis belassen und unterhalb des anterioren Anteiles des M.digastricus im submentalen Raum platziert. Die Durchtrennung des M. mylohyoideus erlaubt gleichzeitig eine Reposition des Ausführungsganges der Gl. submandibularis sowie des Ganglion submandibulare. Die Drüse wird bei diesem Verfahren mit resorbierbaren Nähten in der Submentalregion fixiert. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass der chirurgische Transfer der Drüse ein möglicher Ansatz zur Verringerung der strahlungsinduzierten Xerostomie ist. In einer neueren Arbeit berichten Jha et al. [44] inzwischen von über 60 Patienten mit einem Nachbeobachtungszeitraum von im Mittel 14 Monaten. Hierbei kam es bei 81% der Patienten zu keiner oder nur zu einer minimalen Xerostomie und nur 19% entwickelten eine leichte bis schwere Mundtrockenheit. Der chirurgische Eingriff selbst führte zu keinerlei Nebenwirkungen. Einen experimentellen Ansatz zur Verhinderung bzw. Korrektur der Xerostomie bei bestrahlten Patienten stellt derzeit die Gentherapie dar. Hierbei wurde in verschiedenen tierexperimentellen Studien untersucht, inwieweit Aquaporin 1 durch rekombinante Adenoviren auf Speicheldrüsengewebe übertragen werden kann. In einer Studie an Primaten [62] wurden Adenoviren mit den entsprechenden Genen auf bestrahlte und nicht bestrahlte Drüsen übertragen.Klinisch konnte derzeit noch kein positiver Effekt auf die Speichelflussrate nachgewiesen werden.Aquaporine sind eine relativ neu entdeckte Familie von sog. Wasserkanälen, die
1
den osmotisch getriggerten Flüssigkeitsaustausch regeln. Mit Hilfe des Gentransfers erwartet man eine Verbesserung des intrazellulären Flüssigkeitstransportes bei noch funktionsfähigem Restgewebe nach Bestrahlung [30]. Bis zum klinischen Einsatz müssen hier noch weitere Vorleistungen und Untersuchungen durchgeführt werden. Ein weiterer experimenteller Ansatz findet sich im Bereich der mikrovaskulären Transplantation und Replantation der Speicheldrüsen. Spiegel et al. [72] zeigten,dass,z.B.während einer Bestrahlungstherapie bei Ratten, die Gl. submandibularis unter Anwendung mikrovaskulärer Techniken problemlos in den Bereich des rechten Oberschenkels verpflanzt werden kann. Nach einiger Zeit wurden diese Drüsen wieder in die Submandibularregion re-transplantiert. Die Autoren folgern, dass sich eine mikrovaskuläre Transplantation, trotz der geringen Größe der versorgenden Blutgefäße, mit einer sehr hohen Erfolgsrate (93%) durchführen lässt. Sie sehen hier auch beim Menschen eine Einsatzmöglichkeit [73]. Bei all diesen verschiedenen Therapiemöglichkeiten darf letztendlich aber nicht die Behandlung einer zugrunde liegenden Erkrankung, wie z.B. des M.Sjögren,vergessen werden.Die Therapie des Sjögren-Syndroms mit Kortison und anderen Zytostatika kann zu einer deutlichen Verbesserung der Speichelflussrate führen.Ebenso ist bei der systemischen Behandlung der Sarkoidose, einer Leberfunktionsstörung sowie des Diabetes mellitus eine Verbesserung der Speicheldrüsenfunktion und somit auch eine Verbesserung der Symptomatik der Xerostomie zu erwarten. Fazit Die Xerostomie als Symptom der subjektiven Mundtrockenheit ist eine häufige Beschwerde, deren Ursachen vielschichtig sein können. Insbesondere wenn mit der Xerostomie auch eine Hypofunktion der Speicheldrüsensekretion verbunden ist, stellt sie für den Patienten häufig ein schwerwiegendes Problem dar. Anders als bei bestrahlten Patienten, bei denen die Ursache der Mundtrockenheit auf der Hand liegt, sollten andere Patienten immer auch interdiszi▼
20
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
plinär von HNO-Arzt, Zahnarzt und Internisten gemeinsam diagnostiziert und behandelt werden. Es ist bei den meisten Patienten möglich, mit dem Einsatz der beschriebenen Methoden zumindest eine deutliche Besserung der Symptomatik und damit eine Verbesserung der Lebensqualität herbeizuführen.
Literatur 1. AL-Hashimi I, Taylor SE (2001) A new medication for treatment of dry mouth in Sjögren’s syndrome. Tex Dent J 118: 262–266 2. Allaire JH (2000) Saliva Assessment Instrument. Paper presented at the AACPDM Annual Meeting, Toronto 3. Anaya JM, Ogawa N, Talal N (1995) Sjogren’s syndrome in childhood. J Rheumatol 22: 1152–1158 4. Anaya JM, Talal N (1999) Sjogren’s syndrome comes of age. Semin Arthritis Rheum 28: 355–359 5. Bachrach SJ, Walter RS, Trzcinski K (1998) Use of glycopyrrolate and other anticholinergic medications for sialorrhea in children with cerebral palsy. Clin Pediatr 37: 485–90 6. Bassichis BA, Maple BF (2002) Dry mouth and nose in the older patient – What every PCP should know. Geriatrics 57: 22–24, 29, 32 7. Bertram U (1967) Xerostomia. Clinical aspects, pathology and pathogenesis. Acta Odont Scand 25:Suppl 49: 1– 126 8. Blasco PA Allaire J & Participants of the consortium of Drooling (2002) Management of drooling: 10 years after the Consortium on Drooling, 1990. Dev Med Child Neurol 44(11): 778–781 9. Bohlender J, Rauh M, Zenk J, Gröschl M (2003) Differential distribution and expression of leptin and the functional leptin receptor in major salivary glands of humans. J Endocrinol 178: 217–223 10. Bothwell JE, Clarke K, Dooley JM, Gordon KE, Anderson R, Wood EP, Camfield CS, Camfield PR (2002) Botulinum toxin A as a treatment for excessive drooling in children. Pediatr Neurol 27: 18–22 11. Brody GS (1977) Control of drooling by translocation of parotid duct and extirpation of mandibular gland. Dev Med Child Neurol 19: 514–517 12. Brown C, Allaire JH (2000) Technological Approaches. Presentation, Symposium on Sialorrhea. Paper presented at the AACPDM Annual Meeting, Toronto, 20th September 2000 13. Chang C-J, Wong AM-K (2001) Intraductal laser photocoagulation of the bilateral parotid ducts for reduction of drooling in patients with cerebral palsy. Plastic and Reconstr Surg 107: 907–913
14. Cherry-Peppers G, Sorkin J, Andres R, Baum BJ, Ship JA (1992) Salivary gland function and glucose metabolic status. J Gerontol 47: 130–134 15. Chilla R (1982) Klinik, Diagnostik und Therapie der Xerostomie. HNO 30: 201–207 16. Crysdale WS, White A (1989) Submandibular duct relocation for drooling: a 10-year experience with 194 patients. Otolaryngol Head Neck Surg 101: 87–92 17. Crysdale WS, Raveh E, McCann C, Roske L, Kotler A (2001) Management of drooling in individuals with neurodisability: a surgical experience. Dev Med Child Neurol 43: 379–83 18. Davies AN (2000) A comparison of artificial saliva and chewing gum in the management of xerostomia in patients with advanced cancer. Palliat Med: 197–203 19. Davies AN, Daniels C, Pugh R, Sharma K (1998) A comparison of artificial salive and pilocarpine in the management of xerostomia in patients with advanced cancer. Palliat Med 12: 105–111 20. Dawes C, Wood CM (1973) The contribution of oral minor mucous gland secretions to the volume of whole saliva in man. Arch Oral Biol 18: 337–342 21. Dettman CE (1984) Suppression of salivation in wind-instrument players with scopolamine. N Engl J Med 310: 1396 22. Dundas DF, Peterson RA (1979) Surgical treatment of drooling by bilateral parotid duct ligation and submandibular gland resection. Plast Reconstr Surg. 64: 47– 51 23. Ekedahl C (1974). Surgical treatment of drooling. Acta Otalaryng (Stockholm) 77: 215–220 24. Ellies M, Rohrbach-Volland S, Arglebe C, Wilken B, Laskawi R, Hanefeld F (2002) Successful management of drooling with botulinum toxin A in neurologically disabled children. Neuropediatrics 33: 327–330 25. Ellies M, Laskawi R, Rohrbach-Volland S, Arglebe C, Beuche W (2002) Botulinum toxin to reduce saliva flow: selected indications for ultrasound-guided toxin application into salivary glands. The Laryngoscope; 112: 82–86, 2002 26. Ellies M, Laskawi R, Rohrbach-Volland S, Rödel R, Beuche W (2001) Sekretionshemmung exokriner Drüsen des KopfHals-Bereiches durch Applikation von Botulinum Toxin A. HNO 49: 807–813 27. Faulconbridge RV L, Tranter RM, Moffat V, Green E (2001) Review of management of drooling problems in neurologically impaired children: a review of methods and results over 6 years at Chailey Heritage Clinical Services. Clin Otolaryngol 26: 76–81 28. Fischer-BrandisHm Avalle C, Limbrock CJ (1987) Therapy of orofacial dysfunctions in cerebral palsy according to Castillo-Morales. First Results of a new treatment concept. Eur J Orthodont 9: 139 29. Fischer RB, Eichhorn M (2001) Was tun bei neuroleptikainduzierter Hypersalivation? / What to do in NeurolepticInduced Sialorrhea. Psychiat. Praxis 28: 249–50 30. Fox PC(1997) Management of dry mouth. Dent Clin North Am 41: 863–75
21 Literatur
31. Giess R, Naumann M, Werner E, Riemann R, Beck M, Puls I, Reiners C, Toyka KV (2000) Injections of botulinum toxin A into the salivary glands improve sialorrhoea in amyotrophic lateral sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 69: 121–123 32. Glatz-Noll E, Berg R (1991) Oral Dysfunction in children with Down’s-Syndrome: an evaluation of treatment effects by means of video-registration. Eur J Orthod 13: 446–451 33. Grdina DJ, Murley JS, Kataoka Y (2002) Radioprotectants: current status and new directions. Oncology 63 Suppl 2: 2–10 34. Greenspan D (1996) Xerostomia: Diagnosis and management. Suppl. Oncology, 10: 7–11 35. Harriman M, Morrison M, Hay J, Revonta M, Eisen A, Lentle B (2001) Use of radiotherapy for control of sialorrhea in patients with amyotrophic lateral sclerosis. J Otolaryngol 30: 242–45 36. Harris MM, Dignam PF (1980) A non-surgical method of reducing drooling in cerebral-palsied children. Dev Med Child Neurol 22: 293–299 37. Heft MW, Baum BJ (1984) Unstimulated and stimulated parotid salivary flow rate in individuals of different ages. J Dent Res 63: 1182–1185 38. Hillel AD, Miller R (1989) Bulbar amyotrophic lateral sclerosis: patterns of progression and clinical management. Head Neck 11: 51–59 39. Holmes S. (1998) Xerostomia: aetiology and management in cancer patients. Support Care Cancer 6: 348–355 40. Hoon AH Jr, Freese PO, Reinhardt EM, Wilson MA, Lawrie WT Jr, Harryman SE, Pidcock FS, Johnston MV (2001) Agedependent effects of trihexyphenidyl in extrapyramidal cerebral palsy. Pediatr Neurol 25: 55–58 41. Hyson CH, Johnson AM, Jog MS (2002) Sublingual atropine for sialorrhea seconday to parkinsonism: A pilot study. Movement Disorders Society 17: 1318–1320 42. Iro H, Uttenweiler V, Zenk J (2000) Kopf-Hals-Sonographie. Springer Verlag Berlin Heidelberg New York 43. Jha N, Seikaly H, McGaw T, Coulter L (2000) Submandibular salivary gland transfer prevents radiation-induced xerotomia. Int J Radiat Oncol Biol Phys 46: 7–11 44. Jha N, Seikaly H, Harris J, Williams D, Liu R, McGaw T, Hofmann H, Robinson D, Hanson J, Barnaby P (2003) Prevention of radiation induced xerostomia by surgical transfer of submandibular salivary gland into the submental space. Radiother Oncol 66: 283–289 45. Johnson H, King J, Reddihough DS (2001) Children with sialorrhea in the absence of neurological abnormalities. Child Care Health Dev 27: 591–602 46. Jongerius PH, Joosten F, Hoogen JA, Gabreels FJM, Rotteveel JJ (2003) The treatment of drooling by ultrasound-guided intraGl.r injections of botulium toxin type A into the salivary glands. Laryngoscope113: 107–111 47. Koheil R, Sochaniwskyj AE, Bablich K, Kenny DJ, Milner M (1987) Biofeedback techniques and behaviour modification in the conservative remediation of drooling by children with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol 29: 19–26
1
48. Lavelle CLB (1988) Applied Oral Physiology, 2nd edn. Wright (Butterworth), Bristol. 49. Lespargot A, Langevin MF, Muller S, Guillemont S (1993) Swallowing disturbances associated with drooling in cerebral-palsied children. Dev Med Child Neurol 35: 298–304 50. Limbrock GJ, Hoyer H, Scheying H (1990) Regulation therapy by Castillo-Morales in children with Down syndrome: primary and secondary orofacial pathology. ASDC J Dent Child 57: 437–41 51. Limbrock GJ, Hoyer H & Scheyling H (1990) Drooling, chewing and swallowing dysfunctions in children with cerebral palsy: treatment according to Castillo-Morales. J ASDC J Dent Child 57: 445–51 52. Massengill R (1979) A follow-up investigation of patients who have had parotid duct transplantation surgery to control drooling Ann Plast Surg 2: 205–8 53. McCracken A (1978) Drool control and tongue thrust therapy for the mentally retarded. Am J Occup Ther 32: 79–85 54. Meurman JH, Laine P, Keinanen S, Pyrhonen S, Teerenhovi L, Lindqvist Cn (1997) Five-year follow-up of saliva in patients treated for lymphomas. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 83: 447–52 55. Meurman JH, Collin HL, Niskanen L, Toyry J, Alakuijala P, Keinanen S, Uusitupa M (1998) Saliva in non-insulindependent diabetic patients and control subjects: The role of the autonomic nervous system. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 86: 69–76 56. Meyer-Lueckel H, Kielbassa AM (2002) Die Verwendung von Speichelsersatzmitteln bei Patienten mit Xerostomie. Schweiz Monatsschr Zahnmed 112: 1037–1058 57. Michel RG, Johnson KA, Patterson CN (1977) Parasympathetic nerve section for control of sialorrhea. Arch Otolaryngol 103: 94–97 58. Myer CM (1989) Sialorrhea. Pediatr Clin North Am 36: 1495–500 59. Närhi TO, Meurman JH, Ainamo A (1999) Xerotomia and hyposalivation – Causes, consequences and teatment in the elderly. Drugs Aging 15: 103–116 60. Neverlien PO, Sorumshagen L, Eriksen T, Grinna T, Kvalshaugen H, Lind A-B (2000) Glycopyrrolate treatment of drooling in an adult male patient with cerebral palsy. Clin Exp Pharmacol Physiol 27: 320–322 61. Nunn JH (2000) Drooling: review of the literature an proposals for management. J Oral Rehabil 27: 735–743 62. O’Connell AC, Baccaglini L, Fox PC, O’Connell BC, Kenshalo D, Oweisy H, Hoque AT, Sun D, Herscher LL, Braddon VR, Delporte C, Baum BJ (1999) Safety and efficacy of adenovirus-mediated transfer of the human aquaporin-1 cDNA to irradiated parotid glands of nonhuman primates. Cancer Gene Ther 6: 505–513 63. Özgenel GY, Özcan M (2002) Bilateral parotid-duct diversion using autologous vein grafts for the management of chronic drooling in cerebral palsy. Br J Plastic Surg 55: 490–493 64. Panarese A, Ghosh S, Hodgson J, McEwan J, Bull PD (2001) Outcomes of submandibular duct re-implantation for siolorroea. Clin Otolaryngol 26: 143–146
22
1
Kapitel 1 · Sialorrhoe und Xerostomie
65. Prause JU, Frost-Larsen K, Hoj L, Isager H, Manthorpe R (1984) Lacrimal and salivary secretion in Sjogren’s syndrome: the effect of systemic treatment with bromhexine. Acta Ophthalmol (Copenh) 62: 489–497 66. Rapp D (1980) Drool control: long term follow-up. Dev Med Child Neurol 22: 448–453 67. Rauch S (1959) Die Speicheldrüsen des Menschen. Thieme, Stuttgart 68. Ross JA (1970) The function of the tympanic plexus as related to Frey’s syndrome. Laryngoscope. 1970 Dec; 80 (12): 1816–1833 69. Schiodt M, Oxholm P, Jacobsen A (1986) Treatment of xerostomia in patients with primary Sjogren’s syndrome with sulfarlem. Scand J Rheumatol Suppl 61: 250–252 70. Schubert MM, Izutsu KT (1987) Iatrogenic causes of salivary gland dysfunction. J Dent Res 66 Spec No: 680 71. Ship JA, Baum BJ (1990) Is reduced salivary flow normal in old people? Lancet 15; 336: 1507 72. Spiegel JH, Zhang F, Levin DE, Singer MI, Buncke HJ (2000) Microvascular transplantation of the rat submandibular gland. Plast Reconstr Surg 106: 1326–1335 73. Spiegel JH, Deschler DG, Cheney ML (2001) Microvascular transplantation and replantation of the rabbit submandibular gland. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 127: 991– 996 74. Sreebny LM, Valdini A (1988) Xerostomia: Part I: Relationship to other oral symptoms and salivary gland hypofuncion. Oral Surg Oral Med Oral Pathol 66: 451–458
75. Sreebny LM, Schwartz SS (1997) A reference guide to drugs and dry mouth–2nd edition. Gerodontology 14: 33–47 76. Stern Y, Feinmesser R, Collins M, Shott SR, Cotton RT (2002) Bilateral submandibular gland excision with parotid duct ligation for treatment of sialorrhea in children: long-term results. Arch Otolaryngol Head Neck Surg128: 801–803 77. Talmi YP, Zohar Y, Finkelstein Y, Laurian N (1988) Reduction of salivary flow with scopoderm TTS. Ann Otol Rhinol Laryngol 97: 128–130 78. Valdez IH, Atkinson JC, Ship JA, Fox PC (1993) Major salivary gland function in patients with radiation-induced xerostomia: flow rates and sialochemistry. Int J Radiat Oncol Biol Phys 25: 41–47 79. Wilkie TF (1967) The problem of drooling in cerebral palsy: a surgical approach. Can J Surg. 1967 Jan; 10(1): 60–67 80. Wilkie TF, Brody GS (1977) The surgical treatment of drooling. A ten-year review. Plast Reconstr Surg 59: 791–797 81. Wilson SW, Henderson HP (1999) The surgical treatment of drooling in Leicester: 12 years experience. Br J Plastic Surg 52: 335–338 82. Wong V, Sun JG, Wong W (2001) Traditional Chinese Medicine (tongue acupuncture) in children with drooling problems. Pediatr Neurol 25: 47–54 83. Wu AJ, Atkinson JC, Fox PC, Baum BJ, Ship JA (1993) Crosssectional and longitudinal analyses of stimulated parotid salivary constituents in healthy, different-ages subjects. J Gerontol 48: 219–224
2 Mundschleimhautund Zungenbrennen Aktuelle Aspekte zum Burning-mouth-Syndrom F. Waldfahrer
2.1
Einleitung und Begriffsbestimmung
– 24
2.2
Mundschleimhautbrennen als Symptom definierter Schleimhautund Systemerkrankungen – 24
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
Erregerbedingte Schleimhauterkrankungen – 24 Funktionsstörungen und Erkrankungen der Speicheldrüsen – 25 Erkrankungen infolge physikalischer Einwirkungen – 25 Stoffwechsel- und endokrine Erkrankungen, Mangelernährung – 26 Leber- und Nierenfunktionsstörungen – 27 Erkrankungen des rheumatologischen Formenkreises, Autoimmunerkrankungen – 27 2.2.7 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen – 27 2.2.8 Lokalisierte Schleimhauterkrankungen bzw. -veränderungen – 28
2.3
Mundschleimhautbrennen ohne assoziierbare Grunderkrankung (Burning-mouth-Syndrom im engeren Sinne) – 28
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
Epidemiologie – 28 Ätiologie und Pathogenese – 29 Symptome und Befunde – 30 Diagnostik – 31 Therapie – 33 Fazit – 35
Literatur
– 35
2
24
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
2.1
Einleitung und Begriffsbestimmung
Eine Vielzahl von Erkrankungen und Verletzungen kann mit den Symptomen Mundschleimhautbrennen bzw. Zungenbrennen einhergehen (sekundäres »Burning-mouth-Syndrom«); hierauf wird noch später im Rahmen differenzialtherapeutischer Betrachtungen einzugehen sein. Das Symptom erlangt den Rang eines eigenständigen Krankheitsbildes (ICD-10 K14.6), wenn sich keine auslösende Ursache bzw. Grundkrankheit assoziieren lässt. Im engeren Sinne versteht man also unter dem Burning-mouth-Syndrom das subjektive Symptom des Mundschleimhautbrennens ohne augenscheinliche Schleimhautveränderungen und ohne eruierbare Systemerkrankung (»sine materia«, »sui generis«, primäres Burning-mouth-Syndrom). Es existieren zahlreiche synonym verwendete Bezeichnungen: ▬ Glossodynie, Stomatodynie; ▬ Glossopyrosis, Stomatopyrosis; ▬ orolinguale Dysästhesie; ▬ Hot-tongue-Syndrom; ▬ Burning-mouth-Syndrom. Das Burning-mouth-Syndrom stellt somit eine Ausschlussdiagnose dar und wird daher häufig – vielfach zu Unrecht – als Manifestation einer psychischen Alteration angesehen oder sogar »belächelt«. Die Diagnose eines Burning-mouth-Syndroms im engeren Sinne macht den Ausschluss anderer Ursachen erforderlich [36, 43], die der eigentlichen Betrachtung dieses Krankheitsbildes vorangestellt werden.
2.2
Mundschleimhautbrennen als Symptom definierter Schleimhautund Systemerkrankungen
Mundschleimhautbrennen ist ein typisches und häufiges Leit- oder Begleitsymptom bei einer Vielzahl von Erkrankungen, die sich wie folgt kategorisieren lassen: ▬ erregerbedingte Schleimhauterkrankungen; ▬ Funktionsstörungen und Erkrankungen der Speicheldrüsen;
▬ Erkrankungen infolge physikalischer Einwirkungen; ▬ Stoffwechsel- und endokrine Erkrankungen, Mangelernährung; ▬ Leber- und Nierenfunktionsstörungen; ▬ Erkrankungen des rheumatologischen Formenkreises, Autoimmunerkrankungen; ▬ unerwünschte Arzneimittelwirkungen; ▬ lokalisierte Schleimhauterkrankungen bzw. -veränderungen.
2.2.1 Erregerbedingte Schleimhaut-
erkrankungen Im Rahmen einer an der Schleimhaut ablaufenden Entzündungsreaktion sind Missempfindungen in Form von Brennen, Jucken oder Stechen typisch. Als Erreger kommen Viren, Bakterien und Pilze in Betracht. Da Lymphfollikel und lymphatische Organe als Orte der »Infektabwehr« vor allem im Bereich des Pharynx (Waldeyer-Rachenring) mit hoher Dichte vorkommen, sind die Missempfindungen bei viralen Infekten zumeist auf die tieferen Pharynxabschnitte beschränkt; seltener wird auch über Zungenbrennen geklagt. Die Diagnose ist in aller Regel durch Inspektion zu stellen; als Therapieoption stehen nur symptomatische Maßnahmen (Mund- und Rachentherapeutika, Adstringentien) zur Verfügung. Wichtig
Lösungen mit dem Zusatz von Lokalanästhetika erbringen zwar, insbesondere bei Schluckschmerzen, eine vorübergehende Linderung der Symptome. Sie sollten aber, wegen der hohen Potenz einer allergischen Sensibilisierung, mit großer Zurückhaltung angewendet werden.
Bakterielle Mundschleimhauterkrankungen werden häufig durch Streptokokken und Staphylokokken verursacht. Im Zusammenhang mit Schleimhautbrennen müssen vor allem aber auch Furospirochätosen erwähnt werden, da sie sich häufig einer eindeutigen Blickdiagnose entziehen. Bei Burning-mouth-Syndrom wurde häufiger Helicobacter pylori in der Schleimhaut nachgewiesen als
25 2.2 · Mundschleimhautbrennen
bei Vergleichskollektiven [13]. Ein starker Mundgeruch sollte an die Beteiligung anaerober Mikroorganismen denken lassen. Pilzinfektionen werden überwiegend von Candida-Species,hier vor allem durch Candida albicans hervorgerufen.Da Candida albicans auch Bestandteil der normalen Schleimhautflora sein kann,muss strikt zwischen einer Candida-Besiedelung und einer Candida-Infektion unterschieden werden.Invasive Pilzinfektionen treten vor allem bei reduzierter Abwehrlage des Wirts auf (z.B. hämatologische Systemerkrankung, angeborene und erworbene Immundefizienz, zytostatische Behandlung, immunsuppressive Behandlung).
2.2.2 Funktionsstörungen
und Erkrankungen der Speicheldrüsen Wichtig
Vor allem die ubiquitär mit unterschiedlicher Dichte in der Mundschleimhaut lokalisierten kleinen Speicheldrüsen unterhalten die physiologische Feuchte der Schleimhäute. Die großen paarigen Speicheldrüsen, Gl. parotis, Gl. submandibularis und Gl. sublingualis, sind vor allem für die Deckung eines erhöhten Speichelbedarfs im Rahmen der Nahrungsaufnahme zuständig.
Funktionsstörungen der Speicheldrüsen können zu einer Reduktion der basalen Speichelsekretionsrate und somit zu einer Xerostomie führen. Eine unzureichende Befeuchtung der Schleimhaut führt praktisch regelmäßig zu Missempfindungen im Sinne von Schleimhautbrennen. Wichtig
Das Mundschleimhautbrennen ist ein Leitsymptom bei Xerostomie.
Ursächlich für die reduzierte Funktion der (kleinen) Speicheldrüsen können (unerwünschte) Arzneimittelwirkungen, rheumatische Systemerkrankungen, postradiogene Veränderungen und Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus, Urämie)
2
sein.Ausführlichere Hinweise hierzu finden sich in Kap. 1. Bei vielen lokalen Schleimhautirritationen (Entzündung, Trauma, Neoplasie) kann es aber auch zu einer Stimulation des Speichelflusses und damit zur Sialorrhoe kommen.
2.2.3 Erkrankungen infolge
physikalischer Einwirkungen Trivial dürfte die Feststellung sein, dass bestimmte Gewürze (Pfeffer, Chili) dosierungs- und sortenabhängig mehr oder minder starkes Schleimhautbrennen hervorrufen können. Die »Leitsubstanz« der Schärfe ist hierbei das Capsaicin (welches aber auch zur topischen und systemischen Therapie angewendet werden kann! – s. unten). Die Toleranz hinsichtlich der Schärfe von Nahrungsmitteln ist interindividuell verschieden und unterliegt zudem landes- bzw. regionsspezifischen Unterschieden. Zur Anamneseerhebung bei Burning-mouth-Syndrom gehört daher auch eine Befragung hinsichtlich der Ernährungsgewohnheiten. Auch Säure- und Laugenverätzungen verursachen bei Ingestion Schleimhautbrennen. Für das Burning-mouth-Syndrom ist in diesem Zusammenhang ausschließlich die endogene Säureverätzung durch Magensäurereflux relevant ( s. unten). Eine wichtige Ursache eines chronischen Schleimhautbrennens sind postradiogene Veränderungen nach Strahlentherapie von Kopf-HalsTumoren. Durch die Einwirkung ionisierender Strahlen kommt es zu einem Funktionsverlust der Speicheldrüsen mit konsekutiver Reduktion ihrer Sekretionsleistung. Die Feuchte der Schleimhäute hängt hierbei vor allem von der Funktion der kleinen Speicheldrüsen ab. Das Ausmaß der Speicheldrüsenfunktionsstörung korreliert mit dem bestrahlten Volumen, der applizierten Dosis und dem Fraktionierungsmuster. Auch als Folge einer Radiojodtherapie kommt es häufig zu einer persistierenden Xerostomie [39]. Durch die Applikation des »Radioprotektivums« Amifostin soll das Ausmaß einer Radioxerostomie reduziert werden können. Zur symptomatischen Therapie werden Speichelersatzpräparate und Parasympathikomimetika (z.B. Pilocarpin) eingesetzt.
26
2
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
Mundschleimhautbrennen wird auch in Verbindung gebracht mit habituellen mechanischen Traumatisierungen durch sog. »oral habits« (habituelle Parafunktionen). Hierunter sind z.B. Kauen auf der (Wangen)schleimhaut, Reiben der Zunge an den Zähnen oder an Zahnersatz, Daumenlutschen, aber auch das zumeist unbewusste Zähneknirschen (Bruxismus) etc. zu verstehen. Die rezivierenden Traumatisierungen hinterlassen Hyperkeratosen (»Hornhaut«, z.B. Morsicatio buccarum) oder Abdrücke (Impressiones digitatae, Glossitis traumatica). Manchmal hilft die Anpassung einer Aufbissschiene oder die Modifikation des Zahnersatzes (nur bei objektiven Auffälligkeiten!), nicht selten bedarf es psychotherapeutischer Methoden zur Behandlung einer assoziierten psychischen Störung.
2.2.4 Stoffwechsel-
und endokrine Erkrankungen, Mangelernährung Bei (unbehandeltem) Diabetes mellitus kann es zu charakteristischen Veränderungen der Zungenschleimhaut kommen,die als Pökelzunge bezeichnet werden. Die Zunge ist trocken, übermäßig rot und rissig; es finden sich zahlreiche Retentionszysten. Die Papillae fungiformes sind rarefiziert. Das häufig auftretende Zungenbrennen wurde bislang mit der durch die Hyperglykämie bedingten Schleimhautaustrockung (als Folge von Polyurie und Polydipsie) erklärt; neuere Studien legen jedoch auch als (zusätzlichen?) pathogenetischen Faktor einen durch die diabetische (Poly)neuropathie ausgelösten neuropathischen Schmerz nahe [12]. Ein Vitamin-B12-Mangel (Cobalamin-Mangel) wird ebenfalls mit charakteristischen Zungenschleimhautveränderungen in Verbindung gebracht. Bei der sog. Möller-Hunter-Glossitis ist die Zunge bleigrau oder kalbfleischfarben, kann aber »feuerrote« Inseln aufweisen.Durch den Verlust der Verhornung und die Rarefizierung der Papillae filiformes wirkt die Zunge glatt und spiegelnd. Typisch ist auch das Arndt-Zeichen: blasse,in der Zungenmitte lokalisierte Flecken und Streifen wandern beim mehrmaligen Herausstrecken der Zunge nach vorne. Auch die restliche Mundschleimhaut kann trophische Störungen aufweisen.
Im Blutbild zeigt sich typischerweise eine megaloblastische Anämie mit Anisozytose. Neurologisch manifestiert sich die funikuläre Spinalerkrankung mit Läsionszeichen der Hinterstränge und der Pyramidenbahn. Ursache des Vitamin-B12-Mangels ist häufig ein durch eine Autoimmungastritis ausgelöster Mangel des Vitamin-B12-bindenden Intrinsic factors. Auch bei Malabsorptionssyndromen, nach Magenresektionen,bei Mangelernährung (Vegetarier) und Fischbandwurmbefall kann es zu den beschriebenen Veränderungen kommen. Die Diagnose des Vitamin-B12-Mangels wird anhand von Serumspiegelbestimmungen und ggf. durch den Vitamin-B12-Resportionstest (SchillingTest) gestellt. Die Therapie erfolgt symptomatisch durch die (bevorzugt parenterale) Vitamin-B12-Substitution bzw., falls möglich, durch kausale Ansätze. Ein Folsäuremangel bedingt mit Ausnahme der neurologischen Symptome ein identisches Krankheitsbild und wird zumeist durch Mangelernährung (Alkoholismus, einseitige Ernährung) und/ oder Mehrbedarf (Schwangerschaft) verursacht. Die Diagnose erfolgt durch die Serumspiegelbestimmung und ggf. durch den Figlu-Test. Neben der Behandlung der Ursache erfordert die Therapie eine orale Folsäuresubstitution. Auch beim mit einer mikrozytär-hypochromen Anämie einhergehenden Eisenmangel kann ein Mundschleimhautbrennen auftreten. Die Zunge ist übermäßig rot (»feuerrot«) und weist ebenfalls einen Verlust der Verhornung und eine Rarefizierung der Papillae filiformes auf. Auch die übrigen Schleimhäute weisen Atrophiezeichen auf; am Ösophagus kann es zu sog. »Webs« kommen (Paterson-Kelly-Syndrom). Die häufig bei der Eisenmangelanämie ebenfalls als typisch angeführte Cheilitis angularis (»Faulecken«) kann auch bei anderen Krankheitsbildern vorkommen und ist demnach als nicht pathognomonisch anzusehen. Die Diagnose erfolgt durch laborchemische Bestimmung der Parameter des Eisenstoffwechsels (Eisen, Transferrin, Ferritin). Eine Ursachenforschung ist erforderlich. Zur Therapie stehen orale Substitutionspräparate zur Verfügung. Bei Hypothyreose kann es im Rahmen der hierdurch bedingten Schleimhautveränderungen, die bis hin zum Myxödem führen können, ebenfalls zu brennenden Schleimhautsensationen kommen.
27 2.2 · Mundschleimhautbrennen
2.2.5 Leber- und Nierenfunktions-
störungen Bei Leberzirrhose treten, infolge der weit reichenden Veränderungen des Stoffwechsels und des Hormonhaushaltes, ebenfalls häufig Schleimhautveränderungen auf. Die Zunge ist typischerweise dunkelrot gefärbt und aufgrund des Verhornungsverlusts und der Rarefizierung der Geschmackspapillen glatt und lackartig verändert.Die morphologischen Veränderungen gehen einher mit einer Xerostomie; häufig kommt es auch zu brennenden Missempfindungen. Ein typisches Symptom der Urämie ist eine generalisierte Mukositis.Vor allem bei akuter Niereninsuffizienz kann es zum Auftreten von Schleimhautveränderungen mit Schleimhautbrennen kommen. Bei chronischer Niereninsuffizienz kommt gelegentlich ein Mundschleimhautbrennen ohne erkennbare Schleimhautpathologie vor.
2.2.6 Erkrankungen des rheumato-
logischen Formenkreises, Autoimmunerkrankungen Das Sjögren-Syndrom ist ein typisches Beispiel für eine rheumatische Erkrankung mit Beeinträchtigung der Speicheldrüsenfunktion. Leitsymptom ist eine Xerostomie (mit begleitendem Schleimhautbrennen) durch einen Autoantikörper-induzierten Entzündungsprozess an den Speicheldrüsen. Man unterscheidet ein primäres und ein sekundäres Sjögren-Syndrom. Beim primären Sjögren-Syndrom bleibt die Pathologie auf die Speicheldrüsen beschränkt, beim sekundären Sjögren-Syndrom handelt es sich um die Mitbeteiligung der Speicheldrüsen im Rahmen anderer rheumatischer Systemerkrankungen (z.B. chronische Polyarthritis). Die Diagnose lässt sich durch charakteristische Befunde in der B-Bild-Sonographie der Speicheldrüsen und durch den Nachweis charakteristischer antinukleärer Antikörperprofile (Ribonukleoproteinpartikel SS-A bzw. Ro und SS-B bzw. La) stellen. Durch eine immunsuppressive Therapie kann häufig eine Besserung der Symptomatik erreicht werden. Vielfach wird das Burning-mouth-Syndrom auch mit einer allergischen Reaktion in Verbindung
2
gebracht. Bei nachgewiesener Sensibilisierung gegen ein Nahrungsmittel oder den Inhaltsstoff eines Kosmetikpräparats (Zahnpasta, Mundwasser etc.) kann dann – und nur dann – von einer allergischen Genese ausgegangen werden, wenn sich auch Korrelate der allergischen Reaktion an der Schleimhaut finden.
2.2.7 Unerwünschte Arzneimittel-
wirkungen Die Steuerung der Speicheldrüsensekretion erfolgt durch den Parasympathikus. Folglich können alle das autonome Nervensystem beeinflussende Pharmaka die Speichelsekretion beeinflussen.Parasympathikolytika (z.B. Atropin) hemmen die Speichel-
Pharmaka, die eine Xerostomie und damit ein Schleimhautbrennen auslösen können [1, 18]
Parasympathikolytika (z.B. Atropin, Glykopyrrolat, Ipratropium)
Psychopharmaka vor allem mit anti-
cholinergischer Wirkkomponente (Neuroleptika, klassische Antidepressiva, atypische Antidepressiva) Scopolamin Antihistaminika (vor allem ältere Generation) Diuretika Antihypertonika Antikonvulsiva Antivertiginosa
Wichtig
Bei Konfrontation mit dem Symptom Schleimhautbrennen ist immer eine dezidierte Medikamentenanamnese erforderlich. Die Fortführung einer Therapie mit potentiell als Auslöser in Frage kommender Substanzen muss kritisch hinterfragt werden; nicht selten hilft auch der Wechsel auf ein anderes Präparat innerhalb der gleichen Substanz- oder Indikationsgruppe.
28
2
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
sekretion und bewirken regelmäßig eine Xerostomie. In der folgenden Übersicht sind Substanzen bzw. Substanzgruppen aufgeführt, die eine Mundtrockenheit und damit ein Schleimhautbrennen auslösen können.
2.2.8 Lokalisierte
Schleimhauterkrankungen bzw. -veränderungen Schließlich können auch lokalisierte Schleimhauterkrankungen das Symptom Schleimhautbrennen auslösen. Klassisches Beispiel ist hier der Lichen planus mucosae, bei dem es häufig zu Missempfindungen kommen soll [2]. Aber auch bei anderen Schleimhauterkrankungen (z.B. Schleimhautpemphigoid) kann dieses Symptom anzutreffen sein. Bei unklaren Schleimhautveränderungen empfiehlt sich die Konsultation eines Dermatologen, mit dem die weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritte abgestimmt werden sollten.Sofern eine Schleimhautveränderung objektivierbar auf eine Irritation durch Zähne oder Zahnersatz (z.B. scharfe Kanten) zurückgeführt werden kann, sollte ein Zahnarzt konsultiert werden. Die Glossitis rhombica mediana ist eine angeborene Anomalie in der Zungenmitte und wird auf eine Persistenz des Tuberculum impar zurückgeführt. Die Prävalenz wird mit 0,28–1,39% angegeben. Es findet sich eine Schleimhautveränderung am Übergang zwischen den vorderen zwei Zungendritteln und dem Zungengrund, in der Gegend der Papillae vallatae.Diese Veränderung ist zumeist asymptomatisch und wird häufig erst im Rahmen einer gründlichen Untersuchung des Mund-Rachen-Bereichs entdeckt. Die Signifikanz dieses Befundes für das Burning-mouth-Syndrom ist unklar, jedoch scheint es bei Patienten mit Glossitis rhombica mediana häufiger zu lokalen, rezidivierenden Entzündungen (u.a.unter der Beteiligung von Candida albicans) zu kommen. Gleiches gilt für die Lingua gyrata bzw. plicata, die durch eine vermehrte Furchung der Zunge gekennzeichnet ist. Hierdurch kommt es häufiger zu Mikrotraumatisierungen und zur Retention von Speiseresten mit nachfolgender Entzündungsreaktion.
Bei der Lingua geographica (Exfoliatio areata linguae,Glossitis migrans; Prävalenz 1–2%) liegt eine fokale Verhornungsanomalie des Zungenepithels vor,die zu einem,im zeitlichen Verlauf wandernden, landkartenähnlichen Relief an der Zungenoberfläche führt.Die Veränderung hat per se keinen Krankheitswert, geht aber offensichtlich mit einer gehäuften Inzidenz von Zungenbrennen einher. Bei der Haarzunge (Lingua villosa nigra) liegt eine passagere Hyperplasie der Papillae filiformes vor. Hier kommt es zu einem dunklen, häufig schwarzen Belag am Dorsum linguae infolge bakterieller Zersetzungsvorgänge. Dieser Befund kommt z.B. nach Antibiotikatherapie, längerer Nahrungskarenz oder »idiopathisch« vor. Es ist nicht bewiesen, dass es hier häufiger zu Zungenbrennen kommt. Therapeutisch kommt die Anwendung einer Harnstofflösung mit nachfolgendem »Abbürsten« der Zunge mit einer Zahnbürste in Betracht.
2.3
Mundschleimhautbrennen ohne assoziierbare Grunderkrankung (Burning-mouthSyndrom im engeren Sinne)
Das Stellen der Diagnose Burning-mouth-Syndrom setzt den Ausschluss zahlreicher Ursachen voraus ( s. oben). Manche Ursachen lassen sich hierbei durch die Anamnese oder durch eine einfache Inspektion erkennen bzw. ausschließen. In vielen Fällen bedarf es zum Teil aufwändiger (Labor)diagnostik. Im Folgenden wird unter einem Burningmouth-Syndrom ein Zustand verstanden, bei dem der Betroffene subjektiv über Missempfindungen an der Mundschleimhaut klagt, ohne dass die Anamnese eine offensichtliche Ursache offenbart und ohne dass assoziierbare Schleimhautveränderungen erkennbar sind.
2.3.1 Epidemiologie Aufgrund der Verflechtung des Burning-mouthSyndroms mit zahlreichen möglichen Grundkrankheiten sind die Angaben zu Inzidenz bzw.
29 2.3 · Mundschleimhautbrennen ohne assoziierbare Grunderkrankung
Prävalenz der Erkrankung mit einer erheblichen Unschärfe behaftet. Die Prävalenz wird mit 0,7–7,9% der Bevölkerung angegeben; die meisten Literaturangaben liegen bei rund 5% [3, 44]. Wichtig
Frauen leiden deutlich (2,5- bis 9-mal) häufiger als Männer unter einem Bourning-mouth-Syndrom, wobei sich das Krankheitsbild häufig perioder postmenopausal manifestiert.
2
Angesichts der im ersten Teil dargestellten Erkrankungen und Zustände, die ein Mundschleimhautbrennen bedingen können, liegt die Vermutung nahe, dass die genannten Ursachen auch eine Rolle in der Ätiopathogenese spielen, selbst wenn keine erkennbaren Schleimhautpathologien vorliegen. Lamey u. Lamb [25] haben hierzu in einer prospektiven Studie 150 Patienten mit Burning-mouth-Syndrom einer umfangreichen (Labor)diagnostik unterzogen und konnten hierbei folgende Pathologien diagnostizieren:
Nach Tarkkila et al. 2001 [41] sind rund 15% der postmenopausalen Frauen betroffen. Nach einer kleinen Studie von Hampf [21] hat ein vom Burning-mouth-Syndrom betroffener Patient im Durchschnitt 2,5 Facharztkonsultationen (ohne Haus- oder Zahnarzt) hinter sich, bevor die Diagnose gestellt wird.
Vitamin-B1-, B2-, B6-Mangel Vitamin-B12-Mangel erniedrigtes Ferritin undiagnostizierter Diabetes mellitus schlecht eingestellter Diabetes mellitus Eisenmangel Folsäuremangel
2.3.2 Ätiologie und Pathogenese
Diese Daten aus Schottland lassen sich vielleicht nur bedingt auf Zentraleuropa übertragen. Trotzdem muss konstatiert werden: Auch bei normalem Schleimhautaspekt lassen sich signifikant pathologische Laborbefunde erheben, die als Ursache eines Burning-mouth-Syndroms zumindest in Frage kommen. Die zitierte Studie belegt auch eine Besserung der Symptome bei rund zwei Drittel der Patienten nach entsprechenden Interventionen. Im Zusammenhang mit dem Einfluss der weiblichen Geschlechtshormone auf das Burning-mouthSyndrom ist eine Studie von Ferguson et al. [9]erwähnenswert. In einer placebokontrollierten Untersuchung führte die Östrogensubstitution zwar zu einer signifikanten Besserung des Symptoms Dysgeusie, nicht aber zur Besserung einer Xerostomie oder des Mundschleimhautbrennens. Bei der Diskussion psychischer Faktoren im Zusammenhang mit Schleimhautbrennen muss immer die »Henne-Ei-Frage« gestellt werden, d.h. löst eine psychische Erkrankung die Symptome aus oder bedingt die auf anderen Faktoren beruhende Erkrankung sekundär psychische Symptome? Das psychische Profil von Burning-mouth-Patienten soll hinsichtlich der Merkmale Kanzerophobie,Verlusterlebnisse und Angststörungen häufig Auffälligkeiten zeigen [4, 20, 22].
Zusammenfassend kann zunächst die pauschale Feststellung getroffen werden, dass lokale, systemische und psychische Faktoren eine Rolle in der Ätiopathogenese des Burning-mouth-Syndroms spielen (könnten) [22, 30, 38, 44]. Als Ursachen des Mundschleimhautbrennens (ohne erkennbare Schleimhautpathologie) werden im einzelnen folgende Ursachen diskutiert [32,35,38,44]: ▬ Substrat- und Vitaminmangelerscheinungen, Eisenmangel; ▬ endokrine Ursachen: Menopause/Klimakterium, Diabetes mellitus, Hypothyreose; ▬ psychische/psychosomatische Faktoren (Kanzerophobie, Depression, Angststörungen); ▬ Allergien (Nahrungsmittel, Zahnhygieneprodukte, zahnärztliche Werkstoffe); ▬ habituelle orale Parafunktionen (Oral habits); ▬ rezidivierende Mikrotraumatisierungen (z.B. Zahnersatz), elektrogalvanische Potentialdifferenzen; ▬ Dys- bzw. Hypofunktion der Speicheldrüsen; ▬ gastroösophagealer Reflux: gastroesophageal reflux disease (GERD), gastroesophageal reflux laryngitis (GERL); ▬ unerwünschte Arzneimittelwirkungen.
17% 8% 5% 2,7% 2% 2% 0%
30
2
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
Bislang gibt es keine überzeugende Daten, dass allergische Reaktionen ursächlich für ein Schleimhautbrennen sein könnten, ohne dass an der Schleimhaut Veränderungen erkennbar wären. Auch Oral habits lassen sich nur bei einer Minderheit der von Mundschleimhautbrennen betroffenen Patienten nachweisen. Auffallend ist der hohe Anteil von Patienten, die das Mundschleimhautbrennen mit einer Zahnbehandlung in Verbindung bringen. Allerdings müssen hierbei ein laienhaftes Kausalitätsbedürfnis und suggestive Einflüsse der Medien berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt, dass ein Kausalzusammenhang mit einer Zahnbehandlung nur dann in Betracht zu ziehen ist, wenn sich lokale Schleimhautveränderungen zeigen.Dies gilt insbesondere auch für die Behandlung mit zahnärztlichen Werkstoffen. Bei fehlenden Lokalbefunden ist eine weiterführende Diagnostik in aller Regel nicht angezeigt, erst recht keine (probatorische) Entfernung von Füllungsmaterialien (z.B. Amalgam). Auch wird diskutiert, ob elektrogalvanische Potentialdifferenzen bei der Gegenwart von verschiedenen Implantat- bzw. Zahnfüllungsmaterialien ursächlich für die Mundschleimhautsensationen sein können.Von der Schulzahnheilkunde wird ein solcher Zusammenhang zumeist als unbelegt abgelehnt. Funktionsstörungen der Speicheldrüsen treten meist im Rahmen entzündlicher (rheumatischer) Systemerkrankungen, wie dem Sjögren-Syndrom, auf. Die Sialadenose ist ebenfalls mit einer Sekretionsstörung verbunden. Der Verlust einer großen Speicheldrüse (Parotidektomie, Submandibulektomie z.B. bei Speicheldrüsentumoren) kann eine Xerostomie und eine Mundtrockenheit nicht erklären, da die kleinen Speicheldrüsen die Basissekretion zur Schleimhautbefeuchtung bewerkstelligen. Wichtig
Ein gastroösophagealer Säurereflux (GERD: »gastroesophageal reflux disease«) wird typischerweise mit dem Leitsymptom Sodbrennen verknüpft [28]. Aber auch beim Fehlen dieses Symptoms ist eine (nächtlicher) Säurereflux nicht ausgeschlossen.
Der HNO-Arzt kennt in diesem Zusammenhang das typische Bild der posterioren Laryngitis, die Folge eines Reflux ist und folgerichtig als GERL (»gastroesophageal reflux laryngitis«) bezeichnet wird.Das Mundschleimhautbrennen wird ebenfalls mit einem nächtlichen Reflux von Magensäure bis in Pharynx und Mundhöhle in Verbindung gebracht. Bezüglich unerwünschter Arzneimittelwirkungen siehe Abschnitt 2.2.7. Untersuchungen neueren Datums haben zu einer Erweiterung des Wissens um die Pathogenese des Burning-mouth-Syndroms geführt.Jääskeläinen et al. [24] konnten zeigen, dass bei Patienten mit Burning-mouth Syndrom eine Störung des Blinkreflexes nachweisbar war.Aus diesen Befunden folgerten sie, dass eine Affektion des N. trigeminus vorliegt.Hagelberg et al.[19] aus derselben Arbeitsgruppe wiesen mittels PET-Untersuchungen präsynaptische Dysfunktionen im nigrostriatalen dopaminergen System, lokalisiert im Putamen, nach. Beide Befunde lassen die Hypothese zu, dass beim Burning-mouth-Syndrom ein neuropathischer Schmerz vorliegt [12]. Grushka et al. [17] stellen die weitergehende Hypothese auf,dass das Burning-mouth-Syndrom (wie auch die Kiefergelenksmyoarthropathie und die atypische Odontalgie) durch eine Hyperaktivität von sensorischen (sensiblen) und motorischen Fasern des N. trigeminus hervorgerufen wird. Der zugrundeliegende Verlust der zentralen Inhibition soll durch eine periphere Schädigung der gustatorischen Fasern der Chorda tympani und/oder des N. glossopharyngeus ausgelöst werden. Auch Gao et al. [14] wiesen bei Patienten mit Burning-mouth-Syndrom Pathologien bei der Ableitung somatosensorisch evozierter Potentiale am N.trigeminus nach.Auf die sich hieraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen wird unten eingegangen.
2.3.3 Symptome und Befunde Die Missempfindungen werden am häufigsten an der Zunge wahrgenommen, können aber praktisch die gesamten Schleimhäute der Mundhöhle umfassen. Nach der Zunge sind die Lippen und dann der Gaumen am häufigsten betroffen [33]. Van der Ploeg et al.[34] befragten 157 vom Burning-
31 2.3 · Mundschleimhautbrennen ohne assoziierbare Grunderkrankung
⊡ Tabelle 2.1. Lokalisation des Schleimhautbrennens (n=157). Mehrfachnennungen waren möglich (nach van der Ploeg et al. [34]) Lokalisation
Häufigkeit [%]
Zungenspitze Lateraler Zungenrand Zungenrücken Lippen Gaumen Prothesenlager Oberkiefer Prothesenlager Unterkiefer Wangenschleimhaut
71 46 46 50 46 25 19 21
mouth-Syndrom betroffene Patienten über die genaue Lokalisation der Missempfindungen (⊡ Tabelle 2.1). Demgegenüber gibt es wohl keine Berichte über ein »Burning-nose-Syndrom«. Somit scheint das Krankheitsbild entweder auf Plattenepithel begrenzt oder mit den Funktionen der Mundhöhle untrennbar verknüpft zu sein. Typisch für die Symptomatik ist eine Zunahme der Beschwerden im Tagesverlauf.Beim Essen,Trinken,Kaugummikauen und bei Ablenkung tritt typischerweise eine Besserung der Symptomatik ein. Dies gilt insbesondere bei Kaltreizen. Klassische Analgetika sind praktisch ohne jede Wirkung auf die Symptome.Die Beschwerden sind in aller Regel beidseitig lokalisiert, wobei die Lokalisation nicht den bekannten nervalen Innervationszonen (N.trigeminus,N.glossopharyngeus) entspricht. Durst ist ein häufiges Begleitsymptom. Nicht selten ist auch die Schmeckwahrnehmung im Sinne einer Parageusie (35%) oder Phantogeusie (60%) gestört [11, 15]. Am häufigsten ist hierbei ein bitterer Geschmackseindruck. Eine Xerostomie kommt bei 63% der Burning-mouthPatienten vor.
2.3.4 Diagnostik Die Anamnese bei Patienten mit Mundschleimhautbrennen sollte dezidiert folgende Aspekte umfassen[11]:
2
▬ Zeitpunkt und Umstände des erstmaligen Auftretens der Symptomatik: in einem Drittel plötzlicher Beginn, in zwei Dritteln kontinuierliche Entwicklung; Zahnbehandlung in zeitlicher Nähe (bei rund einem Drittel der Patienten); ▬ begleitende Xerostomie; ▬ Schmeckstörungen; ▬ Medikamentenanamnese; ▬ Sodbrennen, Refluxsymptomatik; ▬ vorausgegangene Strahlentherapie, Radiojodtherapie; ▬ Allergien, Nahrungsmittelunverträglichkeiten; ▬ Appetit, Essgewohnheiten, Gewichtsverlust; ▬ Genussmittelanamnese (Nikotin, Alkohol); ▬ bei Frauen: Zyklusanamnese, Menopause; ▬ internistische Erkrankungen: rheumatischer Formenkreis, Leber, Niere; ▬ »Psyche«: Verlusterlebnisse, Stimmung, Kanzerophobie, Angststörungen, Schlafstörungen, Antrieb. Zur Basisdiagnostik gehört die genaue Inspektion der Mundschleimhaut und der Mundwinkel. Gegebenfalls kann das Untersuchungsmikroskop herangezogen werden. Spezielle Beachtung sollte der Zahnstatus finden. Selbstverständlich muss vorher jeder nicht festsitzende Zahnersatz entfernt werden.Auf Zeichen habitueller Parafunktionen (Kauleisten, Impressiones digitatae, Abnutzungen im Backenzahnbereich) sollte ebenfalls Augenmerk gelegt werden. Die indirekte Laryngoskopie bzw. Lupenlaryngoskopie verfolgt vor allem den Zweck, Befunde nachzuweisen, die auf eine Refluxlaryngopathie (GERL) hinweisen: z.B. eine posteriore Laryngitis oder eine Schleimhauthyperplasie im Interarytaenoidbereich (»Gartenzaunphänomen«). Wie oben ausgeführt, kommen viele Ursachen für ein Mundschleimhautbrennen in Betracht, die sich nur durch Labordiagnostik erkennen bzw. ausschließen lassen.Beim labordiagnostischen Programm dürfen jedoch ökonomische Erwägungen nicht außer Acht gelassen werden. Dies heißt, dass die Diagnostik gestaffelt werden muss; keinesfalls sollten im ersten Schritt alle in Betracht kommenden Parameter ohne Beachtung des Einzelfalls in einem »Rundumschlag« bestimmt werden. Die Übersicht zeigt einen Vorschlag für ein Routine-La-
32
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
borprogramm, nachfolgend werden die einzelnen Parameter erläutert.
2 Diagnostisches Routineprogramm (1. Stufe) bei Burning-mouth-Syndrom
Blutbild; AST oder ALT; Eisen, Ferritin, Transferrin; Vitamin B12; Folsäure; Kreatinin, ggf. Kreatinin-Clearance; Glukose, HbA1c; TSH.
nicht verzichtet werden, da ein Folsäuremangel einer vergleichsweise einfachen Therapie durch orale Substitution zugänglich ist. Auch bei normalem roten Blutbild ist ein Folsäure- oder Vitamin B12-Mangel nicht ausgeschlossen. Kreatinin, ggf. Kreatinin-Clearance. Die Bestimmung des Serum-Kreatinins dient zur orientierenden Information über die Nierenfunktion, die Bestimmung der Kreatinin-Clearance stellt die verfeinerte Methode bei auffälligen Kreatinin-Konzentrationen dar.Pathologische Befunde verlangen nach einer Abklärungsdiagnostik.Die Bestimmung der Harnstoffkonzentration ist eine sinnvolle Ergänzung der Diagnostik.
Blutbild. Das Blutbild informiert vor allem über das
Glukose, HbA1c. Die Nüchternblutzuckerkonzen-
Vorhandensein einer Anämie. Eine mikrozytäre Anämie sollte eine Erweiterung der Diagnostik in Richtung des Eisenstoffwechsels nach sich ziehen. Eine megaloblastische Anämie lenkt den Verdacht auf einen Vitamin B12- oder Folsäure-Mangel und gibt Veranlassung zur entsprechenden Diagnostik.
tration im Serum reicht im Prinzip aus, um die Diagnose Diabetes mellitus zu stellen. Bei bekanntem Diabetes hilft die Bestimmung der HbA1c-Konzentration bei der Beurteilung der Stoffwechseleinstellung.
AST oder ALT. Diese beiden Transaminasen sind als
Screening-Parameter für die Leber anzusehen.Auffällige Befunde verlangen nach differenzierter Diagnostik (GGT, GLDH, Albumin, Bilirubin etc.). Eisen, Ferritin, Transferrin. Diese drei Parameter
geben schlüssig Auskunft über den Eisenstoffwechsel und seine Störungen. Die alleinige Bestimmung der Serum-Eisenkonzentration unterliegt erheblichen intraindividuellen Schwankungen (z.B. in Abhängigkeit von der Ernährung) und ist als alleiniger Parameter unzuverlässig. Vitamin B12. Die Bestimmung der Vitamin B12-Kon-
zentration im Serum dient der Abklärung eines eventuellen Vitamin B12-Mangels. Die Aussagekraft eines einmalig erniedrigten Serumspiegels ist – bei fehlendem Nachweis einer megaloblastischen Anämie – allerdings eingeschränkt. Folsäure. Auch die einmalige Bestimmung der Folsäure-Serumkonzentration hat nur eine bedingte Aussagekraft. Dennoch sollte auf diesen Parameter
TSH. Ein normaler TSH-Wert schließt eine relevante Schilddrüsenfunktionsstörung so gut wie aus. Pathologische Befunde verlangen eine differenzierte Diagnostik (T3, T4, Schilddrüsensonographie, ggf. Szintigraphie). Von anamnestischen Besonderheiten und den Ergebnissen dieses Basisdiagnostikprogramms sind die weiteren diagnostischen Schritte abhängig zu machen.Diese erweiterte Labordiagnostik kann beispielsweise die Bestimmung der antinukleären Antikörper und weiterer immunologischer (Entzündungs)parameter bei Anhaltspunkten für eine Autoimmunerkrankung umfassen. Die Sinnhaftigkeit einer Bestimmung der weiblichen Sexualhormone (vor allem Östrogene und Gestagene) wird durch die oben dargestellten Studienergebnisse in Frage gestellt, zumal auch die Hormonsubstitution jüngst in die Kritik geraten ist. Eine Verordnung von Östrogenpräparaten durch den HNO-Arzt ist,ohne gynäkologischen Rückhalt, abzulehnen. Die Bestimmung von Tumormarkern ist nicht indiziert; in einer Studie von VucicevicBoras et al. [42] ergab sich zu einem gesunden Vergleichskollektiv keinerlei Auffälligkeit bei Bestimmung von CEA, CA19-9, AFP und CYFRA 21-1.
33 2.3 · Mundschleimhautbrennen ohne assoziierbare Grunderkrankung
Eine Schleimhautbiopsie ist grundsätzlich nur dann angezeigt, wenn eine pathologische Schleimhautveränderung augenscheinlich ist. Die Biopsie aus einer normal erscheinenden Schleimhaut führt in aller Regel nicht zu einem relevanten Ergebnis. Eine allergologische Diagnostik ist in Abwesenheit pathologischer Schleimhautveränderungen ebenfalls entbehrlich. Dies gilt explizit vor allem auch für den Nachweis einer Sensibilisierung gegenüber zahnärztlichen Werkstoffen. Wichtig
Bei normaler Schleimhaut ist weder eine Biopsie noch eine allergologische Diagnostik von Relevanz.
Die Entnahme eines Abstrichs zur mikrobiologischen Diagnostik bei unauffälliger Schleimhautbeschaffenheit führt meist nur zum Nachweis der physiologischen Standortflora.Auch Candida albicans gehört zur normalen Flora! Eine invasive Pilzinfektion lässt sich zumeist nur durch eine Biopsie nachweisen und ist beim Immungesunden eine Rarität. Zur Abklärung eines möglichen »stillen« gastroösophagealen Reflux eignet sich die 24-Stunden-pH-Metrie. Ein pragmatischer Ansatz besteht in der probatorischen Verordnung von Protonenpumpeninhibitoren.
2.3.5 Therapie Aufgrund der möglichen multifaktoriellen Genese des Burning-mouth-Syndroms gestaltet sich die Therapie äußerst schwierig. Sofern die oben dargestellten diagnostischen Maßnahmen eine potentielle Ursache offenbaren konnten, sollte – soweit möglich – ein entsprechender Therapieansatz verfolgt werden. Bei nachgewiesenem Vitamin- oder Eisenmangel ist eine bedarfsgerechte Substitutionstherapie (ggf. nach Abklärung der Ursache!) angezeigt. Wichtig
Eine Vitamin-B12-, Folsäure- oder Eisentherapie ohne bewiesenen Mangel ist nicht indiziert.
2
Allerdings berichten Lamey et al. [26] über einen 88%igen »Erfolg« bei der Behandlung mit einem Vitamin-B-Mischpräparat. Da bei der oralen Applikation wasserlöslicher Vitaminpräparate in aller Regel keine Hypervitaminosen zu erwarten sind, kann ggf. die probatorische Verordnung eines solchen Präparats erwogen werden. Eine Nikotinkarenz ist natürlich immer zu empfehlen, nicht zuletzt wegen der möglichen positiven Beeinflussung des Mundschleimhautbrennens. Auch zu einem probatorischen Wechsel der Zahnpflegeprodukte kann geraten werden. Wichtig ist in jedem Fall das Counseling in dem Sinne, dass dem Patient die Gewissheit vermittelt wird, dass keine gefährliche Erkrankung (z.B. ein Krebsleiden) vorliegt. Wichtig
Das Bourning-mouth-Syndrom ist mit keiner erhöhten Inzidenz maligner Erkrankungen verknüpft.
Falls erforderlich sollten psychotherapeutische Verfahren,insbesondere kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze, angewendet werden. Maßnahmen am Zahnersatz sind nur dann sinnvoll, wenn durch diesen erkennbare Irritationen der Schleimhaut hervorgerufen werden (z.B. Druckstellen). Ggf. kann der Versuch einer Prothesenkarenz unternommen werden. Umfangreiche Sanierungsmaßnahmen am Eigengebiss unter der Annahme von Werkstoffallergien, elektrogalvanischen Potentialdifferenzen oder bei Vorliegen einer«Amalgamphobie« entbehren einer wissenschaftlichen Grundlage, sofern die Schleimhaut einen unauffälligen Aspekt hat. Dem Drängen von Patienten nach entsprechenden Attesten für die Kostenübernahme einer Zahnsanierung sollte standhaft entgegen getreten werden. Wenn die Medikation des Patienten Präparate beinhaltet, die Mundtrockenheit verursachen können, sollte, wenn erforderlich unter Einbeziehung der jeweiligen Fachärzte, eine Umstellung der Medikation erwogen werden. Eine Diabetestherapie ist ggf. zu optimieren. Bei positiver Anamnese bezüglich eines gastroösophagealen Säurerefluxes ist die Indikation zur
34
2
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
Verordnung eines Protonenpumpeninhibitors gegeben. Auch die probatorische Therapie ist gerechtfertigt,wenngleich die 24-Stunden-pH-Metrie als diagnostische Methode der Wahl anzusehen ist. Bleibt ein Therapieerfolg innerhalb einer Woche aus, sollte die Medikation abgesetzt werden. In einzelnen Kasuistiken wird auch über den Erfolg einer probatorischen (oralen bzw.topischen) Flucanozol-Therapie berichtet. Wichtig
Der Nachweis von Sprosspilzen in einem (ohnehin entbehrlichen) Schleimhautabstrich rechtfertigt per se keine antimykotische Therapie, da Candida spp. zur physiologischen Flora gehören.
Es gibt Berichte über den erfolgreichen Einsatz von Capsaicin (0,025%ige Lösung lokal), Tretinoin (lokal) und Clonazepam (lokal).Clonazepam wurde in einer Studie von Woda et al.[45] in einer Dosierung von 0,5 –1 mg 3-mal täglich lokal appliziert. Bei 10 von 25 Patienten kam es innerhalb von 3 bis 29 Monaten zu einer »Heilung«, bei 9 zu einer »Besserung«, wobei als Referenz ein Symptomen-Score herangezogen wurde.Es handelt sich hier sicherlich um einen interessanten Therapieansatz.Allerdings muss kritisch geprüft werden, inwieweit es durch die in der gleichen Studie nachgewiesene Resorption des zur Familie der Benzodiazepine gehörenden Wirkstoffs zu unerwünschten systemischen
Nebenwirkungen kommt. Culhane u. Hodle [5] berichten sogar über das Auftreten einer Burningmouth-Symptomatik in Zusammenhang mit einer systemischen Clonazepam-Medikation.Umgekehrt wurde auch systemisches Clonazepam erfolgreich eingesetzt [16]. Vor dem unkritischen Einsatz von Benzodiazepinen im Rahmen einer Langzeittherapie muss allerdings ausdrücklich gewarnt werden. Amitryptilin als Vertreter der klassischen trizyklischen Antidepressiva wird vielfach zur systemischen Therapie eingesetzt bzw.empfohlen.Ohne Konsultation eines Psychiaters ist die Verordnung des Medikaments jedoch als kritisch anzusehen. Auch existieren Hinweise auf die Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Reuptake-Hemmern (SSRI; [31]). Entsprechend der Annahme eines neuropathischen Schmerzes kann auch die systemische Applikation von Gabapentin oder Carbamazepin in Erwägung gezogen werden.Bemerkenswerterweise gibt es keine Therapiestudien über den Einsatz von systemischen oder topischen Corticosteroiden bei Burning-mouth-Syndrom. In der Literatur finden sich insgesamt neun placebokontrollierte Studien zur Therapie des Burning-mouth-Syndroms. Hierbei konnten nur durch eine kognitive Verhaltenstherapie und durch die systemische Applikation von a-Liponsäure sowie von Capsaicin signifikante Therapieergebnisse erzielt werden (⊡ Tabelle 2.2). In einer Cochrane-Metaanalyse von 6 Studien [46] erwiesen sich die kognitive Verhaltenstherapie und zusätzlich die Gabe von Vitaminpräparaten
⊡ Tabelle 2.2. Placebokontrollierte Therapiestudien. s. signifikant, n.s. nicht signifikant. (nach Witt u. Palla [44], ergänzt um Lauritano [27]) Autor
Jahr
Therapie
Pisanty Ferguson Loldrup Hugoson Tammiala Bergdahl Sardella Femiano Femiano Lauritano
1975 1981 1989 1991 1993 1995 1999 2000 2002 2003
Östrogen topisch Östrogen systemisch Clomipramin/Mianserin B1, B2, B6 Trazodon Kognitive Therapie Benzydamin topisch a-Liponsäure a-Liponsäure Capsaicin systemisch
Fallzahl (n) 22 145 57 16 37 30 30 42 60 84
Ergebnis n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 66% Verbesserung n.s. 76% Verbesserung s. s. (p<0,05)
35 Literatur
ebenfalls als signifikant wirksam. a-Liponsäure wurde in dieser Studie nicht berücksichtigt. Femiano et al. [7] untersuchten in einer placebokontrollierten Studie die Wirkung von a-Liponsäure auf die Dysgeusie bei Burning-mouth-Patienten und konstatieren für den Verumarm einen signifikanten Nutzen.In einer anderen placebokontrollierten Studie konnten Femiano u. Scully [8] bei 70% der Patienten des Verumarms eine mindestens ein Jahr anhaltende Besserung eines Mundachleimhautbrennens nachweisen. Bei der a-Liponsäure handelt es sich um eine Substanz,die den Antioxidantien zugerechnet wird und vornehmlich auf das Glutathion-System wirkt. Die Tagesdosis beträgt 600–1200 mg, wobei zu beachten ist, dass die Substanz mindestens 30 min vor einer Mahlzeit eingenommen werden sollte. Es steht auch eine intravenöse Applikationsform zur Therapieeinleitung zur Verfügung.Durch Alkoholkonsum wird die Wirksamkeit beeinträchtigt. Die Wirkung setzt nach den vorliegenden Mitteilungen innerhalb von 2 Monaten ein.a-Liponsäure scheint vorbehaltlich weiterer Studienergebnisse somit auch unter der Annahme eines neuropathischen Schmerzes eine Bereicherung des therapeutischen Arsenals bei Burning-mouth-Syndrom zu sein. Ein Problem besteht darin, dass sich die Zulassung der Substanz auf »Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie« beschränkt. Die Verordnung bei Nichtdiabetikern stellt somit einen Off label use dar. Ferner muss berücksichtigt werden, dass alle Studien zur Wirksamkeit der a-Liponsäure bislang von einer Arbeitsgruppe stammen. Capsaicin wurde sowohl topisch ( s. oben) als auch systemisch (50 mg Kapseln mit 0,25% Capsaicin 3-mal täglich) beim Burning-mouth-Syndrom angewendet. Die systemische Therapie erbrachte gegenüber Placebo signifikante Verbesserungen [27].
Fazit Mundschleimhaut- bzw. Zungenbrennen erlangt als Burning-mouth-Syndrom erst dann den Rang eines eigenständigen Krankheitsbildes, wenn sich anhand eines diagnostischen ▼
2
Stufenprogramms keine assoziierbare Grundkrankheit bzw. Ursache eruieren lässt und keine augenscheinlichen Schleimhautveränderungen vorliegen. Mögliche Ursachen eines Burning-mouthSyndroms sind z.B.: Infektionen; Funktionsstörungen der Speicheldrüsen; endokrine Störungen; Mangelernährung; Hypovitaminosen; Organdysfunktionen; ein gastroösophagealer Reflux; Autoimmunerkrankungen. Neueste Untersuchungsergebnisse lassen das Burning-mouth-Syndrom als Manifestation eines neuropathischen Schmerzsyndroms erscheinen. Es darf somit nicht primär als Symptom einer psychischen Störung angesehen bzw. »abqualifiziert« werden. Dennoch ist das Counseling wichtiger Therapiebestandteil; auch eine kognitive Verhaltenstherapie erwies sich als effizient. Hinsichtlich der Pharmakotherapie sind B-Vitaminpräparate und a-Liponsäure als Mittel der ersten Wahl anzusehen; die Wirkung von Protonenpumpeninhibitoren ist empirisch belegt. Die Indikation zum Einsatz von Psychopharmaka ist demgegenüber eher zurückhaltend zu stellen. Ein interessanter, aber noch evaluationspflichtiger Ansatz ist die lokale Therapie mit Capsaicin.
Literatur 1. Abdollahi M, Radfar M (2003) A review of drug-induced oral reactions. J Contemp Dent Pract 4: 10–31 2. Agarwal R, Saraswat A (2002) Oral lichen planus: an update. Drugs Today 38: 533–547 3. Bergdahl M, Bergdahl J (1999) Burning mouth syndrome: Prevalence and associated factors. J Oral Pathol Med 28: 350–354 4. Bogetto F, Maina G, Ferro G, Carbone M, Gandolfo S (1998) Psychiatric comorbidity in patients with burning mouth syndrome. Psychosom Med 60: 378–385 5. Culhane NS, Hodle AD (2001) Burning mouth syndrome after taking clonazepam. Ann Pharmacother 35: 874–876
36
2
Kapitel 2 · Mundschleimhaut- und Zungenbrennen
6. Drage LA, Rogers RS (2003) Burning mouth syndrome. Dermatol Clin 21: 135–145 7. Femiano F, Gombos F, Scully C, Busciolano M, De Luca P (2000) Burning mouth syndrome (BMS): Controlled open trial of the efficacy of alpha-lipoic acid (thioctic acid) on symptomatology. Oral diseases 6: 274–277 8. Femiano F, Scully C (2002) Burning mouth syndrome (BMS): Double blind controlled study of alpha-lipoic acid (thioctic acid) therapy. J Oral Pathol Med 31: 267–269 9. Ferguson MM, Carter J, Boyle P, Hart DM, Lindsay R (1981) Oral complaints related to climacteric symptoms in oophorectomized women. J R Soc Med 74: 492–498 10. Fermiano F, Scully C, Gombos F (2002) Idiopathic dysgeusia; An open trial of alpha lipoic acid (ALA) therapy. Int J Oral Maxillofacial Surg 31: 625–628 11. Formaker BK, Frank ME (2000) Taste function in patients with oral burning. Chem Senses 25: 575–581 12. Forssell H, Jääskeläinen S, Tenovuo O, Hinkka S (2002) Sensory dysfunction in burning mouth syndrome. Pain 99: 41–47 13. Gall-Troselj K, Mravak-Stipetic M, Jurak I, Ragland WL, Pavelic J (2001) Helicobacter pylori colonization of tongue mucosa-increased incidence in atrophic glossitis and burning mouth syndrome (BMS). J Oral Pathol Med 30: 560–563 14. Gao S, Wang Y, Wang Z (2000) Assessment of trigeminal somatosensory evoked potentials in burning mouth syndrome. Chin J Dent Res 3: 40–46 15. Grushka M (1987) Clinical features of burning mouth syndrome. Oral Surg Oral Med Oral Pathol. 63: 30–36 16. Grushka M, Epstein J, Mott A (1998) An open-label, dose escalation pilot study of the effect of clonazepam in burning mouth syndrome. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral radiol Endod 86: 557–561 17. Grushka M, Epstein JB, Gorsky M (2003) Burning mouth syndrome and other oral sensory disorders: A unifying hypothesis. Pain Res Manag 8: 133–135 18. Guggenheimer J (2002) Oral manifestations of drug therapy. Dent Clin N Am 46: 857–868 19. Hagelberg N, Forssell H, Rinne JO, Scheinin H, Taiminen T, Aalto S, Luutonen S, Nagren K, Jääskeläinen S (2003) Striatal dopamine D1 and D2 receptors in burning mouth syndrome. Pain 101: 149–153 20. Hakeberg M, Hallberg LR, Berggren U (2003) Burning mouth syndrome: experiences from the perspective of female patients. Eur J Oral Sci 111: 305–311 21. Hampf G (1987) Dilemma in treatment of patients suffering from orofacial dysaesthesia. Int J Oral Maxillofac Surg. 16: 397–401 22. Hornstein OP (1996) Atypische orale Schmerzsyndrome und psychogene Funktionsstörungen der Mundregion. In: Hornstein OP Erkrankungen des Mundes. Kohlhammer, Stuttgart 23. Hugoson A, Thorstensson B (1991) Vitamin B status and response to replacement therapy in patients with burning mouth syndrome. Acta Odontol Scand. 49: 367–375
24. Jääskeläinen SK, Forssell H, Tenovuo O (1997) Abnormalities of the blink reflex in burning mouth syndrome. Pain 73: 455–460 25. Lamey PJ, Lamb AB (1988) Prospective study of aetiological factors in burning mouth syndrome. Br Med J 296: 1243–1246 26. Lamey PJ, Hammond A, Allam BF, McIntosh WB (1986) Vitamin status of patients with burning mouth syndrome and the response to replacement therapy. Br Dent J. 160 81–84 27. Lauritano D, Petruzzi M, Baldoni M (2003) Protocollo preliminare sull’utilizzo della capsaicina sistemica per la terapie della sindrome della Bocca Bruciante. Minerva Stomatol 52: 273–278 28. Lazarchik DA, Filler SJ (1997) Effects of gastroesophageal reflux on the oral cavity. Am J Med 24: 107–113 29. Loldrup D, Langemark M, Hansen HJ, Olesen J, Bech P (1989) Clomipramine and mianserin in chronic idiopathic pain syndrome. A placebo controlled study. Psychopharmacology 99: 1–7 30. Maier H, Tisch M (2003) Mundtrockenheit und Mundschleimhautbrennen. Ursachen und Therapiemöglichkeiten. HNO 51: 739–747 31. Maina G, Vitalucci A, Gandolfo S, Bogetto F (2003) Comparative efficacy of SSRIs and amisulpride in burning mouth syndrome: a single-blind study. J Clin Psychiatry 64: 337–338 32. Muzyka BC, De Rossi SS (1999) A review of burning mouth syndrome. Cutis 64: 29–35 33. Pisanty S, Rafaely B, Polishuk (1975) The effect of steroid hormones on buccal mucosa of menopausal women. Oral Surg Oral Med Oral Pathol 40: 346–353 34. Van der Ploeg HM, van der Waal N, Eijkman MA, van der Waal I (1987) Psychological aspects of patients with burning mouth syndrome. Oral Surg Oral Med Oral Pathol. 63: 664–668 35. Reiß M, Knecht M, Reiß G (2000) Das Burning-Mouth-Syndrom. MMP 23: 157–159 36. Rhodus NL, Carlson CR, Miller CS (2003) Burning mouth (syndrome) disorder. Quintessence Int 34: 587–593 37. Sardella A, Uglietti D, Demarosi F, Lodi G, Bez C, Carrassi A (1999) Benzydamine hydrochloride oral rinses in management of burning mouth syndrome. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 88: 683–686 38. Scala A, Checchi L, Montevecchi M, Marini I, Giamberardino MA (2003) Update on burning mouth syndrome: overview and patient management. Crit Rev Oral Biol Med 14: 275–291 39. Seifert G (1996) Strahlen-Sialadenitis. In: Seifert, G (Hrsg) Oralpathologie I, 2.Aufl. Springer, Berlin Heidelberg NewYork Tokio, S 196–208 40. Tammiala-Salonen T, Forssell H (1999) Trazodone in burning mouth pain: a placebo-controlled, double-blind study. J Orofac Pain 13: 83–88 41. Tarkkila L, Linna M, Tiitinen A, Lindqvist C, Meurman H (2001) Oral symptoms at menopause – The role of hormone replacement therapy. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 92: 276–280
37 Literatur
42. Vucicevic-Boras V, Lukinac LJ, Cekic-Arambasin A (2003) Evaluation of tumour markers in patients with burning mouth syndrome. Oral Oncol 39: 742–744 43. Van der Waal I (1992) Mundschleimhautbrennen. In: Van der Waal I (Hrsg) Das Burning-Mouth-Syndrom. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 44. Witt E, Palla S (2002) Mundbrennen. Schmerz 16:389–394
2
45. Woda A, Navez ML, Picard P, Gremeau C, Pichard-Leandri E (1998) A possible therapeuic soultion for stomatodynia (burning mouth syndrome). J Orofacial Pain 12: 272–278 46. Zakrzewska JM, Glenny AM, Forssell H (2003) Interventions for the treatment of burning mouth syndrome (Cochrane Review). In: The Cochrane Library, Issue 1. Oxford: Update Software
3 Die subjektive Seite der Dysphonie F. Rosanowski, U. Hoppe
3.1
Paradigmenwechsel in der Medizin – Psychosomatik als Einstellung – 40
3.2
Die psychosoziale Dimension der Dysphonie
3.3
Gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Dysphonien – 41
3.4
Emotionale Störungen bei Patienten mit Dysphonien
3.5
Körperbeschwerden bei Patienten mit Dysphonien
3.6
Stimmbezogene Lebensqualität
3.7
Lebensqualität, Angst, Depressivität und Körperbeschwerden bei Patienten mit Dysphonien – Fazit für die Praxis – 45
3.8
Messung der subjektiven Betroffenheit durch Dysphonien – Voice Handicap Index – 46
3.9
Psychosoziale Aspekte von Dysphonien – das Patientengespräch – 47 Literatur
– 49
– 40
– 42 – 44
– 45
40
Kapitel 3 · Die subjektive Seite der Dysphonie
3.1 Paradigmenwechsel in der Medizin – Psychosomatik als Einstellung
3
In den letzten Jahren fand bei der Bewertung der medizinischen Diagnostik und Therapie ein Paradigmenwechsel statt. Neben den biologischen Kriterien von Krankheiten und Störungen finden heute psychosoziale Aspekte zunehmend eine gleichwertige Berücksichtigung. So gilt in der Medizin nunmehr auch das subjektive Erleben der Patienten als bedeutsamer Endpunktparameter. Dies betrifft gleichermaßen die Inhalte des Behandlungsprozesses und die Kommunikation mit dem Arzt und gilt sowohl bei Patienten mit benignen als auch mit malignen Erkrankungen, wenn auch mit unterschiedlichem Schwerpunkt. Losgelöst von der Terminologie der ärztlichen Weiterbildungsordnung erfüllt dieses Prinzip nach der Begrifflichkeit des Wissenschaftsrates die Kriterien der Psychosomatik, die als eine Einstellung zu begreifen ist und die den Rahmen beschreibt, in dem sich die moderne praktische Medizin bewegen sollte. Wichtig
Psychosomatik bedeutet die gleichwertige Berücksichtigung biologischer und psychosozialer Aspekte von Krankheiten und Störungen.
3.2
Die psychosoziale Dimension der Dysphonie
In Unkenntnis oder Ablehnung der psychosozialen Dimension standen Patienten mit (funktionellen) Dysphonien in der Vergangenheit häufig im Verdacht, ihre Störungen über zu betonen [51]. Diese Einschätzung ist nach nosologischen Überlegungen unsinnig,denn funktionelle Dysphonien könnten prinzipiell auch den somatoformen Störungen zugeordnet werden, bei denen ein körperliches Symptom ohne pathologisches Organkorrelat das Leitsymptom darstellt [36, 37]. Und dies gilt losgelöst von der individuellen Ätiologie für die Mehrzahl von Patienten mit funktionellen Dysphonien. Es ist also zu prüfen, ob sich die psychosoziale Di-
mension bei Patienten mit organischen Stimmstörungen anders darstellt als die bei Patienten mit funktionellen Störungen, denn nur dann wäre überhaupt die Bewertung als somatoforme Störung zulässig. Wichtig
Die Annahme, funktionelle Stimmstörungen seien Ausdruck einer psychischen Störung, muss zunächst vor dem Hintergrund gültiger Krankheitsklassifikationssysteme geprüft werden.
Die weiter unten dargelegten Forschungsergebnisse werden belegen, dass eine psychische Genese von Stimmstörungen zwar grundsätzlich möglich, aber doch sehr selten ist. In jedem Einzelfall sollte geklärt werden, ob denn eine angenommene oder tatsächliche psychosoziale Auffälligkeit eines dysphonen Patienten überhaupt einen Krankheitswert hat und, wenn dies so ist, ob diese die Ursache oder aber die Folge der Dysphonie ist. Häufiger dürfte eine psychosoziale Auffälligkeit eines dysphonen Patienten unabhängig von der Stimmstörung bestehen. Der »klinische Blick« und holzschnittartig einfache Entscheidungskategorien dürften eine diagnostische Zuordnung kaum leisten. In einer qualitätsgesicherten Medizin sollte die Bewertung der psychosozialen Dimension auf der Basis valider Untersuchungsverfahren erfolgen. Eine ggf. erforderliche Behandlung psychosomatischer Störungsaspekte hat mit Verfahren zu erfolgen, deren Wert gesichert ist. Je nach Lage des Einzelfalles ist ein interdisziplinäres Vorgehen erforderlich, in dem biologische, psychische und soziale Ursachen, Folgen und Bedingungsfaktoren integriert berücksichtigt werden [48]. Wichtig
Die gemeinsame Betrachtung biologischer, psychischer und sozialer Aspekte von (Stimm)störungen bedarf einer professionellen Aus-, Fortund Weiterbildung. Die psychosozialen Aspekte können in einer zeitgemäßen Medizin nicht mehr nur quasi »im Nebenschluss« gewürdigt werden.
41 3.3 · Gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Dysphonien
Psychosoziale Aspekte von Kommunikationsstörungen haben auch eine erhebliche ökonomische Bedeutung. Aktuelle Berechnungen [41] weisen auf ihre immensen volkswirtschaftlichen Folgen in westlichen Gesellschaften hin, so dass dieser Aspekt (funktioneller) Stimmstörungen nicht bagatellisiert, sondern gezielt beachtet werden sollte.
3.3
Gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Dysphonien
Die psychosozialen, sog. weichen Parameter von Störungen werden u.a. auch in aktuellen deutschenVersorgungsleitlinien [9] übergreifend durch den Begriff »gesundheitsbezogene Lebensqualität« operationalisiert [7]. Diese wurde mittlerweile bei zahlreichen organischen und funktionellen Störungen und auch im Kopf-Hals-Bereich systematisch untersucht, und zwar sowohl bei benignen [16, 17, 33, 45] als auch bei malignen Erkrankungen [3, 26, 32, 43, 44]. Wichtig
Die gesundheitsbezogene Lebensqualität kann heute inhaltlich valide mit einfachen, kommerziell erhältlichen Testmaterialien gemessen werden. Dies gilt sowohl für den Einsatz in der Forschung als auch für die Anwendung in der klinischen Praxis.
Zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität steht z.B. die kommerziell erhältliche deutsche Version des international gebräuchlichen ShortForm(SF)-36-Fragebogens (SF-36 Health Survey) zur Verfügung [4, 8]. Dieser Fragebogen setzt sich aus acht Subskalen zusammen: ▬ körperliche Funktionsfähigkeit, ▬ körperliche Rollenfunktion, ▬ körperliche Schmerzen, ▬ allgemeine Gesundheitswahrnehmung, ▬ Vitalität, ▬ soziale Funktionsfähigkeit, ▬ emotionale Rollenfunktion, ▬ psychisches Wohlbefinden.
3
Die Rohwerte jeder dieser acht Subskalen werden in Skalenwerte von 0 (schlechtester Zustand) bis 100 (bester Zustand) transformiert. Die Ergebnisse der einzelnen Subskalen gehen in die Berechnung einer körperlichen und einer psychischen Summenskala ein [15, 49]. Als Vergleichsdaten finden sich im Handbuch des Tests alters- und geschlechtsspezifische Normdaten.Für die einfache Auswertung steht seitens des Anbieters auch ein elektronisches Auswerteprogramm zur Verfügung [8]. In einer eigenen Studie [27] an 108 Patienten (64 Frauen, 44 Männer) im Alter von 45,3±15,1 Jahren mit unterschiedlichen benignen organischen Stimmstörungen (n=69) und mit funktionellen Stimmstörungen (n=39) zeigte sich eine im Vergleich mit Stimmgesunden insgesamt eine eingeschränkte Lebensqualität. Frauen und Männern sind in gleicher Weise betroffen, unabhängig von der Art der Stimmstörung (organisch vs. funktionell). Auch beim Vergleich innerhalb eines Geschlechts (organisch vs. funktionell) ergaben sich keine Unterschiede. Nach den Ergebnissen dieser Erhebung ist die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Dysphonien benigner Ursache eingeschränkt. Für die Diskussion über die Ressourcenallokation im Gesundheitswesen steht somit ein stichhaltiges Argument zur Verfügung. Und zwar dann, wenn in Zukunft Mittel für die Untersuchung und Behandlung nur noch für die Lebensqualität messbar einschränkende Erkrankungen und Störungen bereitgestellt werden. Für die klinische Bewertung der subjektiven Seite funktioneller Stimmstörungen kann aus den Ergebnissen folgendes geschlossen werden: Eine funktionelle Stimmstörung beeinflusst das subjektive Erleben der betroffenen Patienten genauso wie eine organische Dysphonie. Damit liegt ein wichtiges Argument zur Widerlegung der These vor,Patienten mit funktionellen Dysphonien neigten zu einer Überbetonung ihres Leidens. Gemeinhin wird angenommen, dass Frauen (funktionelle) Störungen anders erleben als Männer [1]. Auch diese These wird durch das Ergebnis der berichteten Erhebung zumindest im Hinblick auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität nicht gestützt. Erstaunlicherweise lagen die Werte des SF-36 jedoch höher als in einem englischen Kollektiv, das
42
3
Kapitel 3 · Die subjektive Seite der Dysphonie
denselben Test durchlaufen hat [51]. Unter der Voraussetzung, dass die Kollektive beider Studien identisch sind, würde dieser Aspekt die Vermutung nahe legen, dass es »transkulturelle« Unterschiede des subjektiven Erlebens von Stimmstörungen gibt. Eine andere – aber nicht belegbare – mögliche Ursache wäre, dass das Inanspruchnahmeverhalten der Patienten vom jeweiligen Gesundheitssystem abhängt und in England nur Patienten mit ausgeprägteren Störungen eine entsprechende Fachambulanz aufsuchen.Dieser Gesichtspunkt mag in Zukunft vor dem Hintergrund der Angleichung der europäischen Sozialsysteme Bedeutung erlangen. Andererseits belegt dieser Vergleich aber auch die Notwendigkeit, das subjektive Erleben der Patienten immer im direkten Zusammenhang mit der (subjektiven und objektiven) Bestimmung des Ausmaßes der Dysphonie zu bewerten [12]. Natürlich bildet die isolierte Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität deren Art und Ausmaß ebensowenig ab wie z.B. die Konsequenzen einer u.U. nur geringen Dysphonie in einem sprechintensiven Beruf [42]. Der methodische Vorteil des Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität liegt zweifelsfrei in der Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Patienten mit sehr unterschiedlichen Störungen. Dies ist möglicherweise in Zukunft, insbesondere vor dem Hintergrund der oben genannten Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen, bedeutsam. Methodisch nachteilig ist jedoch genauso zweifelsfrei die nur ungenügende Abbildung störungsspezifischer Aspekte und – bei isolierter Betrachtung eines Testergebnisses – die fehlende Korrelation mit Daten zum Ausmaß einer Dysphonie sowie deren möglichen Folgen im individuellen beruflichen Umfeld. Weiterhin sollte unbedingt beachtet werden,dass eine verminderte Lebensqualität nicht notwendigerweise Ausdruck einer medizinisch relevanten,d.h.einer zu Lasten eines Kostenträgers zu untersuchenden und zu behandelnden Gesundheitsstörung ist. Für die klinische Praxis gilt: »Gesundheitsbezogene Lebensqualität« ist ein unspezifischer Parameter,der zudem nicht notwendigerweise eine Störung mit Krankheitswert abbildet. Insofern ist ihre Messung, zumindest im Umfeld von Patienten mit Stimmstörungen, eher von »nur« akademi-
schem Wert. Im Einzelfall sollten gezielt bedeutsame Teilaspekte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität – wie emotionale und körperliche Beschwerden – spezifisch untersucht werden.
3.4
Emotionale Störungen bei Patienten mit Dysphonien
In der allgemeinen Bevölkerung sind Angst und Depressivität die häufigsten emotionalen Störungen.Für eine Großstadtbevölkerung werden Prävalenzen einer Angststörung von 9,1% bei Männern und 18,1% bei Frauen angegeben [52].Depressionen finden sich bei 2,6–12,7% der Männer und 2,5–21% der Frauen, je nach den gewählten Diagnose- und Erhebungskriterien [10, 20]. Weiterhin zeigt sich eine eindeutige Altersabhängigkeit der Prävalenzen beider Störungen, die mit steigendem Alter zunehmen [47, 53]. Bereits vor dem Hintergrund dieser epidemiologischen Daten muss davon ausgegangen werden, dass dem Arzt in einer nichtpsychiatrischen (Stimm)sprechstunde eine relevante Zahl von Patienten mit einer Angststörung und/oder Depression gegenübertreten. Dabei ist die Frage des möglichen ursächlichen Zusammenhanges mit einer (Stimm)störung zunächst nachrangig, denn es dürfte nicht die Aufgabe des HNO-Arztes oder des Phoniaters sein, diesen zu klären, bzw. die spezifische Diagnostik oder Behandlung der emotionalen Störung durchzuführen. Wichtig
Unter den Rahmenbedingungen der kassenärztlichen Praxis sollte unter psychosomatischen, salutogenetischen [36] Gesichtspunkten das Ziel darin bestehen, mit einem einfachen Screeningtest diejenigen Patienten »herauszufiltern«, die einer gezielten weiteren Abklärung bedürfen und die dafür in Frage kommenden Patienten entsprechend zu beraten.
Zum Zweck der Befunderhebung kann die deutsche Version der Hospital Anxiety and Depression Scale HADS-D eingesetzt werden. Dieser Test ist kommerziell erhältlich und nach aller Erfahrung
43 3.4 · Emotionale Störungen bei Patienten mit Dysphonien
bestens für die einfach handhabbare klinische Anwendung geeignet [20]. Ursprünglich wurde die HADS 1983 als Screeninginstrument für Angst- und depressive Störungen bei Patienten mit somatischen Störungen entwickelt [55], insofern ist die Anwendung auch bei Patienten mit Dysphonien naheliegend. Mittlerweile liegen in der Literatur zahlreiche Arbeiten mit der deutschen Version der HADS vor.Die HADS hat zwei Subskalen (A: Angst, D: Depressivität), die jeweils aus sieben Fragen bestehen. Für jede Frage stehen vier Antwortmöglichkeiten zur Verfügung. Es können Werte zwischen 0 und 3 erreicht werden. Für die Subskalen ergeben sich somit jeweils mögliche Punktwerte zwischen 0 und 21. Der Inhalt der Fragen basiert auf den Kriterien zur Diagnosestellung einer Angststörung bzw. einer Depression, entsprechend DSM-III-R [55]. Für die Angstskala der HADS-D (HADS-D/A) gilt, dass Punktwerte zwischen 0 und 7 als unauffällig, Punktwerte zwischen 8 und 10 als grenzwertig und Punkwerte größer als 10 als auffällig zu betrachten sind [55]. In der englischsprachigen Originalarbeit wurden diese Grenzen auch für die Depressionsskala der HADS-D (HADS-D/D) verwendet. Es zeigte sich allerdings in nachfolgenden Arbeiten, dass sich ein niedrigerer Punktwert als 11 besser eignete, Fälle einer möglichen Depression zu finden. In der Literatur zur deutschen Version der HADS wird ein Schwellenwert von 9 empfohlen, d.h.Werte größer oder gleich 9 sind als Ausdruck einer möglichen Depression zu betrachten [20]. Mit einem Schwellenwert von 11 für die Angstskala und 9 für die Depressionsskala lassen sich für die HADS-D eine Sensitivität von 83,3% und eine Spezifität von 61,5% erzielen [20]. In einer eigenen Studie [29] an 93 Patienten (55 Frauen, 38 Männer) im Alter von 45,2±14,5 Jahren mit unterschiedlichen benignen organischen Stimmstörungen (n=60) und mit funktionellen Stimmstörungen (n=33) zeigten sich auf der Depressivitätsskala mit 18,3% (18,2%) der Patienten mit organischen (funktionellen) Dysphonien im Vergleich zu Stimmgesunden (3,2%) statistisch signifikant erhöhte Werte sowohl der untersuchten Frauen als auch der untersuchten Männer (p<0,001).Ein Anteil von 18,3% (15,2%) der Patienten mit organischen (funktionellen) Dysphonien hatte beim Vergleich mit Stimmgesunden (6,8%) auf der Angstskala sta-
3
tistisch signifikant erhöhte Werte (p<0,01). Beim Vergleich der Subgruppen des Studienkollektivs (funktionell vs. organisch, weiblich vs. männlich) zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Wichtig
Der Anteil vermuteter emotionaler Störungen bei Patienten mit Dysphonien ist also gegenüber der Normalbevölkerung statistisch signifikant erhöht, und zwar unabhängig von der Art der Stimmstörung (organisch vs. funktionell) und unabhängig vom Geschlecht.
Dies kann in der fachärztlichen Sprechstunde nicht unberücksichtigt bleiben. Das Ergebnis stützt somit das Resultat der Erhebung zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität, bei der (u.a.) die »emotionalen« bzw.»psychischen« Sub- und Summenskalen auffällige Werte gezeigt hatten. Im Unterschied zur Untersuchung mittels des SF-36 signalisieren die Ergebnisse des HADS-D aber – basierend auf internationalen Klassifikationssystemen psychischer Erkrankungen – das Vorhandensein tatsächlicher Störungen im medizinischen Sinne. Die Häufigkeit dieser angenommenen Störungen führt zu dem Schluss,dass Ängstlichkeit und Depressivität in der Stimmsprechstunde im Rahmen einer Screeninguntersuchung gezielt hinterfragt werden sollten. Der HADS-D ist dafür ein geeignetes Instrument, da er durch seine Konstruktion mit nur insgesamt 14 Testfragen für Screeningzwecke angemessen ist, adäquate Gütekriterien mit einer höheren Sensitivität als Spezifität hat und auch dem primär organmedizinisch tätigen Arzt eindeutige Daten für sein Beratungsgespräch mit dem betroffenen Patienten liefert. Das Ergebnis der geschilderten Studie lässt auch den Schluss zu, dass die Annahme emotionaler Auffälligkeiten bei Patienten mit Dysphonien in einer erheblichen Zahl der Fälle zutreffend ist. Offenbar ist dies jedoch kein Spezifikum für Patienten mit funktionellen Dysphonien,sondern gilt in gleichem Maße auch für organische Stimmstörungen. Eine geschlechtsspezifische Häufung kann aus den Ergebnissen nicht abgeleitet werden, was dem üblichen Verteilungsmuster emotionaler Störungen widerspricht und ein weiteres Argument
44
Kapitel 3 · Die subjektive Seite der Dysphonie
für ihre besondere Bedeutung bei Patienten mit Dysphonien darstellt.
3.5
3
Körperbeschwerden bei Patienten mit Dysphonien
Losgelöst vom Postulat einer psychosomatischen Einstellung, die psychosoziale Aspekte von Krankheiten und Störungen neben biologischen gleichwertig berücksichtigt, wird das aus der klinischen Erfahrung bekannte gemeinsame Auftreten spezifischer körperlicher Erkrankungen und spezifischer seelischer Störungen auch in wissenschaftlich motivierten Beobachtungsstudien abgebildet.Diese Assoziation betrifft sowohl Patienten, die sich primär wegen einer körperlichen als auch solche, die sich primär wegen einer seelischen Störung in Behandlung befinden [18].Körperliche Folgen psychischer Störungen sind seit langem Gegenstand der kurativen und der wissenschaftlichen Medizin [19]. Umfassend belegt sind mittlerweile auch psychische Aspekte schwerer körperlicher Erkrankungen, so z.B. in der Onkologie [14, 24, 35, 43, 46]. Wichtig
Die gemeinsame Berücksichtigung biologischer, psychischer und sozialer Aspekte von Krankheiten und Störungen ist keineswegs ein nur akademisch motiviertes Vorgehen, sondern aus der Notwendigkeit der praktischen Medizin geboren.
Problematisch ist die Bewertung einer Assoziation von seelischen und körperlichen Beschwerden in den Fällen, in denen keine pathologischen Organbefunde vorliegen, ein Funktionsdefizit, wie z.B. eine gering ausgeprägte Heiserkeit, banal anmutet und bei denen seitens der Organmedizin zunächst zumindest der Verdacht besteht, der Patient könne unter einer »psychosomatischen« Störung leiden. Oft haben diese Patienten nicht nur ein, sondern mehrere Symptome, und diese oft in unterschiedlicher und zu verschiedenen Zeitpunkten wechselnder Ausprägung und subjektiver Beeinträchtigung [36, 37]. Dies wird bei einem Teil der Patienten mit funktionellen Stimmstörungen beobachtet und in den körperlichen Sub- und Summenskalen des
SF-36-Fragebogens zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität abgebildet. Das gleichzeitige Auftreten von multiplen Körperbeschwerden, für die sich keine organmedizinische Ursache finden lässt, ist ein Leitsymptom der somatoformen Störung [13, 36]. Patienten mit somatoformen Störung stellen sich wegen ihrer Beschwerden häufig bei unterschiedlichen Fachärzten vor [11]. Die Diagnose wird insbesondere dann nicht gestellt, wenn der jeweilige Spezialist nur die Beschwerden auf seinem Fachgebiet erfasst und die Häufung unterschiedlicher Symptome und konsultierter Fachdisziplinen nicht beachtet. Da heute wissenschaftlich abgesicherte Verfahren zur Behandlung dieser Störungen zur Verfügung stehen [37], sollte man, auch im Hinblick auf eine ganzheitliche Therapie von Dysphonien, diesen möglichen Aspekt bei Patienten mit Stimmstörungen in der klinischen Praxis berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der im SF-36 zu körperlichen Beschwerden erhobenen Daten stellt sich die Frage, ob ein Teil der Patienten mit Stimmstörungen weitere Beschwerden auch in anderen Körperregionen angibt – ein möglicher Hinweis für eine zumindest komorbide somatoforme Störung. Dem wurde in einer eigenen Studie mit einem für die Bearbeitung dieser Frage ausgewiesenen Erhebungsinstrument nachgegangen, nämlich dem Gießener Beschwerdebogen GBB-24 [5, 6, 28]. Die 24 Items fragen nach der Belästigung durch körperliche Beschwerden,wobei jeweils 6 Items den 4 Subskalen Erschöpfung, Magenbeschwerden, Gliederschmerzen und Herzbeschwerden zugeordnet werden; die Summe aus diesen 4 Subskalen bildet die 5. Skala, den »Beschwerdedruck«. Die durch Ankreuzen zu gebenden Antworten lauten »nicht«, »kaum«, »einigermaßen«, »erheblich« und »stark«. Sie werden in die Zahlenwerte 0 (»nicht«) bis 4 (»stark«) transformiert und addiert,demnach kann ein Maximalwert von 96 Punkten entsprechend einem größten Beschwerdedruck erreicht werden. Untersucht wurden 80 Patienten (50 Frauen, 30 Männer) im Alter von 43,7±11,4 Jahren. Davon litten 32 Frauen (17 Männer) an einer benignen organischen und 18 Frauen sowie 13 Männer an einer funktionellen Dysphonie. Das Gesamtkollektiv dysphoner Frauen zeigte mit Ausnahme der Subskala »Gliederschmerzen«
45 3.7 · Lebensqualität, Angst, Depressivität und Körperbeschwerden
signifikant auffällige Werte. Beim Vergleich mit dem Normkollektiv lag bei funktionell dysphonen Frauen ein signifikanter Unterschied in der Subskala »Magenbeschwerden« vor (p<0,01), bei organisch dysphonen Frauen in den Subskalen Erschöpfung (p<0,05), Magenbeschwerden (p<0,05) und Herzbeschwerden (p<0,01).Das Gesamtkollektiv dysphoner Männer hatte beim Vergleich mit dem Normkollektiv bei der Subskala »Gliederschmerzen« und beim »Beschwerdedruck« signifikant auffällige Werte (p<0,05). Bei den Vergleichen der Subgruppen organisch bzw. funktionell dysphoner Männer mit dem Normkollektiv bestanden keine statistisch signifikanten Unterschiede (p>0,05). Beim Vergleich dysphoner Frauen mit dysphonen Männern zeigte sich unabhängig von der Art der Stimmstörung in keiner der Subskalen ein statistisch signifikanter Unterschied (p>0,05). Unabhängig vom Geschlecht bestand bei der Gegenüberstellung funktionell und organisch dysphoner Patienten kein signifikanter Unterschied (p>0,05). Insgesamt leiden Patienten mit Dysphonien also abhängig von der individuellen Diagnose und vom Geschlecht unter weiteren körperlichen Beschwerden. Davon sind auch Patienten mit organischen Dysphonien betroffen. Damit kann die Hypothese verworfen werden, Dysphonien seien somatoforme Störungen. Die gefundene Häufigkeit sowohl von Magen- als auch von Herzbeschwerden sollte dazu motivieren, diese auch in der Stimmsprechstunde gezielt zu beachten – der ursächliche Zusammenhang mit Dysphonien bleibt aber unklar. Für die klinische Praxis können aus diesen Befunden mangels prospektiver Studien,die auch Verläufe von Stimmstörungen unter bestimmten therapeutischen Interventionen erfassen, noch keine abschließenden Empfehlungen ausgesprochen werden.Gleichwohl: Offenbar haben Patienten mit Dysphonien derartig häufig andere Körperbeschwerden,dass dieser Aspekt in der klinischen Forschung weiter verfolgt werden muss.
3.6
Stimmbezogene Lebensqualität
Zwar ist die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Dysphonien messbar einge-
3
schränkt, aber als Endpunktparameter der Diagnostik und Therapie ist sie aber, v.a. wegen der mangelnden Störungsspezifität und wegen des geringen Bezuges zu Krankheitsklassifikationssystemen, eher ungeeignet. Im amerikanischen Schrifttum finden sich Versuche, dieses Defizit durch die Messung einer »stimmbezogenen Lebensqualität« (»voice related quality of life«, VRQOL) zumindest teilweise auszugleichen [21]. Die bisher in der Literatur zu diesem – 10 Fragen umfassenden – Test vorliegenden Daten lassen noch keinen Rückschluss auf seinen Nutzen in der klinischen Praxis und in der Therapieforschung zu. Nach eigenen vorläufigen Ergebnissen hat das Verfahren eine große Übereinstimmung mit den Ergebnissen des SF-36-Fragebogens und auch mit dem des Voice Handicap Index VHI ( s. unten). Grundsätzlich würde eine Reduktion der Parameterzahl (SF-36: 36;VRQOL: 10) natürlich die praktische Anwendbarkeit steigern, andererseits ginge damit im Einzelfall auch ein Informationsverlust einher. Schlussfolgerungen für die klinische Praxis lassen sich zu diesem Verfahren derzeit also noch nicht formulieren.
3.7
Lebensqualität, Angst, Depressivität und Körperbeschwerden bei Patienten mit Dysphonien – Fazit für die Praxis
Der Paradigmenwechsel bei der Bewertung medizinischer Maßnahmen, nämlich weg von einer nur organbezogenen und hin zu einer ganzheitlichen, psychosomatischen Einstellung, lässt sich, vor dem Hintergrund der Daten in der Literatur, auch bei Dysphonien nachvollziehen: ▬ Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist für die Anwendung im klinischen Einzelfall ein zu allgemeines Kriterium. Sie wird zudem in den gängigen Krankheitsklassifikationssystemen nicht abgebildet: Eine eingeschränkte Lebensqualität hat im strengen Sinne also keinen Krankheitswert. Grundsätzlich ist aber die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Dysphonien (ausgewiesen durch den SF-36-Fragebogen) eingeschränkt.
46
3
Kapitel 3 · Die subjektive Seite der Dysphonie
▬ Das Konstrukt der stimmbezogenen Lebensqualität ist bisher zu wenig untersucht und kann in seinem Wert für die Klinik und für die Therapieforschung bisher noch nicht abschließend bewertet werden. ▬ Die in der allgemeinen Bevölkerung häufigsten vorhandenen emotionalen Störungen, nämlich Angst und Depressivität, finden sich bei Patienten mit Dysphonien statistisch signifikant häufiger als in der »stimmgesunden« Bevölkerung. Ihr Auftreten sollten daher im Umfeld einer Stimmsprechstunde regelmäßig geprüft werden.Als Test bietet sich unter Screening-Gesichtspunkten der HADS-D an. ▬ Patienten mit funktionellen und organischen Dysphonien haben eine statistisch signifikante Häufung von Herz- und Magenbeschwerden. Zum einen sind funktionelle Dysphonien damit keine somatoformen Störungen. Zum anderen sollten bei dysphonen Patienten auch andere Körperbeschwerden erfragt werden, und zwar losgelöst vom möglichen individuellen Ursachengefüge. Mit Ausnahme der noch weiter zu untersuchenden stimmbezogenen Lebensqualität erweitert die Messung der genannten Parameter unter dem Gesichtspunkt des psychosomatischen Zuganges störungsunspezifisch das Verständnis von Dysphonien. Ob ihre routinemäßige Messung die Therapie und die Prognose des Einzelfalles beeinflusst, muss in weiteren prospektiven Studien untersucht werden. Auch die Frage, ob die Patienten diesen ganzheitlichen Zugang überhaupt wünschen und wertschätzen, bedarf der Klärung. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass auch aktuelle Empfehlungen [12] zum strukturierten diagnostischen Umgang mit Patienten,die unter Dysphonien leiden, den psychosomatischen Aspekt – im Vergleich mit den körperlichen Kriterien – methodisch nur auf einem niedrigeren Niveau berücksichtigen.Insbesondere im Hinblick auf einen messbaren therapeutischen Wert des ganzheitlichen Zuganges besteht jedoch weiterer Forschungsbedarf. So wird die Frage nach einer frühzeitigen, genauen und ökonomischen Erfassung psychosomatischer Patienten in der Stimmsprechstunde im Sinne der Entwicklung einer Screeningstrategie
Forschungsgegenstand sein müssen. Ergebnisse aus dem Umfeld der gynäkologischen Praxis legen nahe, dafür allgemeine Instrumente, wie z.B. den HADS-D und den GBB-24,mit einem Verfahren zur Messung der störungsspezifischen Betroffenheit zu kombinieren [22].
3.8
Messung der subjektiven Betroffenheit durch Dysphonien – Voice Handicap Index
Nach der Terminologie der WHO lassen sich für die Einordnung unterschiedlicher Aspekte von Krankheiten und Störungen mehrere Parametergruppen differenzieren, ▬ das den Organschaden beschreibende »impairment«, ▬ die durch diesen Organschaden bedingte Funktionseinbuße »disability« und ▬ die dadurch hervorgerufene Behinderung bzw. sozial-kommunikative Beeinträchtigung »handicap« [42, 54]. Im Hinblick auf Dysphonien folgt dieser Struktur auch ein Vorschlag der European Laryngeal Society, ELS. Die verschiedenen Methoden zur Untersuchung des Kehlkopfes und der Stimme sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben [12]. Hier wird das international gebräuchlichste und auch in deutscher Übersetzung vorliegende Verfahren zur Messung des Stimmhandicaps vorgestellt, nämlich der Voice Handicap Index,VHI [2, 25, 33]. Er wurde 1997 von Jacobson et al. [25] eingeführt. Der VHI ist ein 30 Items umfassender Fragebogen mit 3 Subskalen: ▬ Funktionalität (»functional«) beschreibt störungsabhängige Veränderungen des Stimmgebrauchs im Sozialkontakt einschließlich des Berufslebens, ▬ Fragen der Körperlichkeit (»physical«) zielen auf Art und Ausprägung der Stimmstörung und ▬ die Fragen der Emotionalität (»emotional«) haben Reaktionen im eigenen Erleben zum Inhalt. Die Anwendung des VHI wurde mittlerweile vielfältig dargelegt [2, 3, 17, 23, 31, 38, 39, 40].
47 3.9 · Psychosoziale Aspekte von Dysphonien – das Patientengespräch
Für die deutsche Version von Nawka et al. [34] liegen mittlerweile auch Daten zur Testgüte vor: Auf der Basis der Untersuchung von 316 Personen weisen diese Autoren eine sehr hohe interne Konsistenz (Crohnbachs a=0,96) nach, ohne dass jedoch die 3 Subskalen der Originalpublikation hätten nachvollzogen werden können. Die durchgeführte Analyse ergab jedoch keine Notwendigkeit der Eliminierung einzelner Items. Unter Federführung von Nawka (persönliche Mitteilung:
[email protected]) sollen die unterschiedlichen deutschen Versionen des VHI – einschließlich der in ⊡ Tabelle 3.1 abgedruckten – für die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammengeführt und dann unter klinischen Bedingungen weiter erprobt werden. In einer eigenen Studie [50] wurden 108 Patienten im Alter von 45,3±15,1 Jahren untersucht.Davon litten 40 Frauen (29 Männer) an einer benignen organischen Dysphonie, 24 Frauen (15 Männer) hatten eine funktionelle Dysphonie. Hoch signifikante Unterschiede (p<0,001) bestanden zwischen den dysphonen Patienten und den stimmgesunden Kontrollpatienten. Beim Vergleich der Patienten nach Geschlecht und Diagnosegruppen (organisch vs.funktionell) zeigten sich keine signifikanten Unterschiede (p>0,05). Auch nach den Ergebnissen der berichteten Studie kann die Annahme verworfen werden,Patienten mit funktionellen Dysphonien neigten im Vergleich zu Patienten mit organischen Dysphonien zu einer Überbetonung ihres Leidens. Frauen und Männer erleben ihre Stimmstörung ähnlich:Auch dies deckt sich mit den Ergebnissen der anderen Erhebungsverfahren zur Selbstbewertung einer Dysphonie. Beim Vergleich der heute zur Verfügung stehenden Erhebungsinstrumente erscheint der VHI am ehesten geeignet, die psychosozialen Aspekte von Dysphonien störungsspezifisch standardisiert abzubilden. Einzelne Items des VHI bedürfen aber vor dem Hintergrund sozialrechtlicher Vorgaben der Überprüfung ihrer Validität: Weiterer Forschungsbedarf besteht im Hinblick auf die möglichen beruflichen Folgen einer Dysphonie, die im Einzelfall durch ein strukturiertes Interview mit offenen Fragen möglicherweise besser erfasst werden können als mit dem VHI.
3
Bisher ist der mögliche Stellenwert des VHI als sog. Assessmentverfahren jedoch unklar. Es ist nämlich nicht gesichert,ob ein bestimmter Schwellenwert der Subskalen oder der Summenskala, z.B. bei funktionellen Dysphonien,ein spezifisches therapeutisches Vorgehen (ambulante Therapie im Wochenrhythmus, Intensivtherapie mit mehreren Behandlungssitzungen pro Woche bzw. bei entsprechender beruflicher Situation eine stationäre Stimmrehabilitationsmaßnahme), nahe legt [30]. Auch dieser Aspekt sollte durch eine weitere Versorgungsforschung geklärt werden. Wichtig
Der VHI ist ein einfaches Selbstbewertungsverfahren für Patienten mit Dysphonien und sollte im klinischen Umgang mit Stimmpatienten benutzt werden.
3.9
Psychosoziale Aspekte von Dysphonien – das Patientengespräch
Aus den psychosozialen Faktoren von Dysphonien ergibt sich die Forderung einer sowohl psychisch als auch somatisch orientierten Diagnostik und Therapie. Unter der Annahme einer genügenden Verbreitung organmedizinischer Kompetenz müssen dafür v.a. psychotherapeutische Behandlungsansätze auf den Umgang mit stimmkranken Patienten übertragen werden. Dies droht aber im Versorgungsalltag aus mehreren Gründen zu scheitern [48]: ▬ Das Zeitfenster psychodiagnostischer und -therapeutischer Interventionen ist auf eine 50-Minuten-Sitzung zugeschnitten und muss auf den Kontext des sehr viel engeren Zeitrahmens des primär organmedizinisch konzipierten Versorgungsalltags in der HNO-Heilkunde und/oder Phoniatrie adaptiert werden. ▬ Die Versorgungsrealität erfordert eine Integration organmedizinischer und psychosozialer Aspekte. Die organ- und funktionsbezogene Diagnostik und Therapie kann im Alltag nicht von der Beachtung psychosozialer Aspekte abgekoppelt werden. Es bedarf also eines »Mehrebenenansatzes«.
48
Kapitel 3 · Die subjektive Seite der Dysphonie
⊡ Tabelle 3.1. Fragen des Voice Handicap Index
3
Frage
Kennzeichnung
Die Leute hören mich wegen meiner Stimme schlecht
F
Beim Sprechen muss ich nach Luft schnappen
K
Wenn es laut in einem Zimmer ist, verstehen mich andere nur mühsam
F
Im Verlauf eines Tages unterliegt der Klang meiner Stimme Schwankungen
K
Meine Familie hört mich kaum, wenn ich im Hause nach ihnen rufe
F
Ich benutze das Telefon weniger oft, als ich gerne würde
F
Wegen meiner Stimme bin ich innerlich angespannt, wenn ich mit anderen Leuten spreche
E
Wegen meiner Stimme meide ich Personengruppen
F
Vielen Leuten geht meine Stimme scheinbar auf die Nerven
E
Ich werde gefragt, was mit meiner Stimme los sei
K
Wegen meiner Stimme spreche ich weniger oft mit Freunden, Nachbarn oder Verwandten
F
Im Zwiegespräch werde ich gebeten, manche Dinge zu wiederholen
F
Meine Stimme klingt unangenehm knarrend und rau
K
Ich habe das Gefühl, meine Stimme nur unter Anstrengung benutzen zu können
K
Meiner Meinung nach haben andere Leute kein Verständnis für mein Stimmproblem
E
Meine Stimmschwierigkeiten gehen auf Kosten meines Privatlebens und des gesellschaftlichen Umganges mit anderen Menschen
F
Wie klar meine Stimme ist, ist nicht vorhersagbar
K
Ich versuche die Stimme zu verstellen, um anders zu klingen.
K
Aus Unterhaltungen fühle ich mich wegen meiner Stimme ausgeschlossen
F
Sprechen kann ich nur unter großer Anstrengung
K
Abends geht es meiner Stimme schlechter
K
Wegen meiner Stimme muss ich Einkommenseinbußen hinnehmen
F
Ich empfinde meine Stimmprobleme als bedrückend
E
Wegen meines Stimmproblems lebe ich zurückgezogener
E
Ich empfinde mein Stimmproblem als Behinderung
E
Beim Sprechen lässt mich meine Stimme plötzlich im Stich.
K
Es nervt mich, wenn Leute mich bitten, etwas noch einmal zu sagen
E
Es ist mir peinlich, wenn Leute mich bitten, etwas noch einmal zu sagen
E
Wegen meiner Stimme fühle ich mich den Dingen nicht gewachsen
E
Ich schäme mich für mein Stimmproblem
E
Die mit »F« gekennzeichneten Fragen gehören zur funktionellen (»functional«), die mit »K« gekennzeichneten zur körperlichen (»physical«) und die mit »E« gekennzeichneten Fragen zur emotionalen (»emotional«) Subskala. Die einzelnen Fragen sind nach den Kategorien »nie« (0 Punkte), »so gut wie nie« (1 Punkt), »gelegentlich« (2 Punkte), »fast immer« (3 Punkte) oder »immer« (4 Punkte) anzukreuzen. Der Gesamt- bzw. der Subskalenscore errechnet sich durch die Summe der Ergebnisse der Einzelantworten.
49 Literatur
▬ Die professionelle Sozialisation mit der Verankerung von Elementen der psychosomatischen Grundversorgung ist in der Aus-, Fort- und Weiterbildung nach wie nur unzureichend umgesetzt. ▬ Damit ist der Aufbau handlungsorientierter Wissensstrukturen nicht sichergestellt. ▬ Für die Diagnostik und Therapie stimmkranker Patienten fehlen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin konzipierte, psychosomatisch orientierte, aber auch störungsspezifische Handlungsanweisungen. Die Minimalbestandteile einer effektiven psychosomatischen Grundversorgung von Patienten mit Dysphonien lassen sich für die Praxis gut mit dem Stufenschema des PLISSIT-Modells beschreiben [48]: ▬ Permission (Akzeptanz) bedeutet die Herstellung einer tragfähigen Arzt-Patienten-Beziehung, die Problemanalyse mit Klärung von Behandlungsnotwendigkeit (und ggf. Verzicht auf Behandlung) sowie den Aufbau einer Bereitschaft für Folgeinterventionen. ▬ Limited information (Aufklärung) bedeutet die Vermittlung von Krankheits- und Behandlungswissen, die Vermittlung des individuellen Krankheitsgefüges mit organisch-funktionellen und psychosozialen Aspekten sowie den Aufbau einer einsichtigen, eigenverantwortlichen und aktiven Änderungsmotivation. ▬ Special suggestions (Anleitung) bedeutet die Anleitung zur Selbstwahrnehmung insbesondere eigener Gefühle (z.B. Angst) und zur Reaktivierung individueller, bewährter Bewältigungsstrategien. ▬ Intensive therapy (Weiterbehandlung) bedeutet den Motivationsaufbau und die Anbahnung der Bereitschaft zur Inanspruchnahme weiterer fachärztlicher Untersuchungen und Behandlungen sowie die Festlegung von Entscheidungskriterien für die individuelle Weiterbehandlung. Das beschriebene Vorgehen im klinisch, nicht wissenschaftlich motivierten Gespräch mit dem individuellen Patienten ist theoretisch fundiert. Nach allgemeiner Übereinkunft kann es in (fachspe-
3
zischen) Kursen zur psychosomatischen Grundversorgung professionalisiert werden, was zu einer Verbesserung der Versorgungssituation der Patienten und zu einer größeren Arbeitszufriedenheit der beteiligten Ärzte führt. Grundsätzlich ist zu fordern, dass die (fachgebundene) Psychosomatik auch in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung ähnlich streng verankert wird wie die Erfüllung anderer Kriterien (z.B. die Erbringung selbständiger operativer Leistungen). Die psychosomatische Grundversorgung stimmkranker Patienten lässt sich auch in einer,im Zeitrahmen beengten, Sprechstunde realisieren. Hilfreich für das Arzt-Patienten-Gespräch ist in der Diagnostik die Ergänzung mit standardisierten Testverfahren. Sie zielen auf folgende Teilaspekte: ▬ Störungsspezifische subjektive Betroffenheit (Voice Handicap Index), ▬ emotionale Störungen (HADS-D), ▬ andere, am ehesten störungsunspezifische körperliche Aspekte (GBB-24). Diese Verfahren ergänzen sinnvoll die persönliche Diagnostik im Anamnesegespräch und sind eine gute Basis für eine gezielte ärztliche Gesprächsintervention, die nach dem Schema des PLISSIT-Modells erfolgreich gestaltet werden kann. Grundsätzliche Voraussetzung ist aber die ärztliche Bereitschaft zum ganzheitlichen, psychosomatischen Denken, im Einzelfall also zunächst zu einer Änderung der eigenen Einstellung.
Literatur 1. Bankier B, Littman AB (2002) Psychiatric disorders and coronary heart disease in women – a still neglected topic: review of the literature from 1971 to 2000. Psychother Psychosom 71: 133–140 2. Benninger MS, Ahuja AS, Gardner G, Grywalski C (1998) Assessing outcomes for dysphonic patients. J Voice 12: 540–550 3. Billante CR, Spector B, Hudson M, Burkard K, Netterville JL (2001) Voice outcome following thyroplasty in patients with cancer-related vocal fold paralysis. Auris Nasus Larynx 28: 315–321 4. Brazier JE, Harper R, Jones NMB, O´Cathain A, Thomas KJ, Usherwood T, Westlake (1992) Validating the SF-36 health survey questionnaire: new outcome measure for primary care. BMJ 305: 160–164
50
3
Kapitel 3 · Die subjektive Seite der Dysphonie
5. Brähler E, Scheer JW (1994) Der Gießener Beschwerdebogen (GBB). Huber, Göttingen 6. Brähler E, Schumacher J, Brähler C (2000) Erste gesamtdeutsche Normierung der Kurzform des Gießener Beschwerdebogens GBB-24. Psychother Psychosom med Psychol 50:14–21 7. Bullinger M (1997) Health-related quality of life and subjective health: a survey of research on a new assessment criterion in medicine. Psychother Psychosom med Psychol 47: 76–91 8. Bullinger M, Kirchberger I (1998) SF-36: Fragebogen zum Gesundheitszustand. Hogrefe, Göttingen 9. Bundesärztekammer: Nationale Versorgungs-Leitlinie Diabetes Mellitus Typ 2. http://www.uni-duesseldorf/ awmf/II/index.htlm 10. Clarke D, Beck A (1999) Scientific foundations of cognitive theory and therapy of depression. 1st edn. Wiley & Sons, Chichester 11. Cuntz U (1998) Patienten mit Somatisierungssymptomen in der Arztpraxis – zwischen der Gefahr der Chronifizierung und der Chance zur Besserung. Verhaltenstherapie 8: 94–100 12. Dejonckere PH, Bradley P, Clemente P, Cornut G, CrevierBuchman L, Friedrich G, Van De Heyning P, Remacle M, Woisard V (2001) A basic protocol for functional assessment of voice pathology, especially for investigating the efficacy of (phonosurgical) treatments and evaluating new assessment techniques. Eur Arch Otorhinolaryngol 258: 77–82 13. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (1993) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 2. Aufl. Huber, Bern 14. Flatten G, Jünger S, Gunkel S, Singh J, Petzold E (2003) Traumatische und psychosoziale Belastungen bei Patienten mit akuten Tumorerkrankungen. Psychother Psych Med 53: 191–201 15. Fosså SD, Dahl AA (2002) Short Form 36 and Hospital Anxiety and Depression Scale: A comparison based on patients with testicular cancer. J Psychosom Res 52: 79–87 16. Gutenbrunner C, Ptok M, Gehrke A (1998) Stimmheilintensivtherapie – Aspekte der Physikalischen Medizin. Phys Med Rehab Kuror 8: 128–134 17. Hajioff D, Rattenbury H, Carrie S, Carding P, Wilson J (2000) The effect of Isshiki type 1 thyroplasty on quality of life and vocal performance. Clin Otolaryngol 25: 418–422 18. Härter MC (2000) Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen. Psychother Psychosom Med Psychol 50: 274–286 19. Härter M, Reuter K, Schretzmann B, Hasenburg A, Schenbrenner A, Weis J (2000) Komorbide psychische Störungen bei Krebspatienten in der stationären Akutbehandlung und medizinischen Rehabilitation. Rehabilitation 39: 317–323 20. Herrmann C, Buss U (1995) HADS-D: Hospital Anxiety and Depression Scale – Deutsche Version. Huber, Bern 21. Hogikyan ND, Sethuraman G (1999) Validation of an instrument to measure voice-related quality of life (V-RQL). J Voice 13: 557–569
22. Hörhold M, Bolduan D, Klapp C, Volger H, Scholler G, Klapp B (1997) Testung einer Screening-Strategie zur Identifizierung psychosomatisch auffälliger Patientinnen in einer gynäkologischen Praxis. Psychother Psychosom Med Psychol 47: 156–162 23. Hsiung MW, Pai L, Wang HW (2002) Correlation between voice handicap index and voice laboratory measurements in dysphonic patients. Eur Arch Otorhinolaryngol 259: 97–99 24. Hürny C (2003) Psychische und soziale Faktoren in Entstehung und Verlauf maligner Erkrankungen. In: Adler RH, Herrmann JM, Köhle K, Schonecke OW, Uexküll T von, Wesiack W (Hrsg) Psychosomatische Medizin, 6. Aufl. Urban & Fischer, München, S 1013–1030 25. Jacobson BH, Johnson A, Grywalski C, Silbergleit A, Jacobson G, Benninger MS, Newman CW (1997) The Voice Handicap Index (VHI): Development and Validation. Am J Speech Lang Pathol 6: 66–70 26. Kollbrunner J, Zbären P, Quack K (2001) Lebensqualitätsbelastung von Patienten mit großen Tumoren der Mundhöhle. Eine deskriptive Studie der psychosozialen Auswirkungen von Krankheit und primär chirurgischer Therapie in 3 Teilen – Teil 1: Quantität und Qualität des Lebens. HNO 49: 985–997 27. Krischke S, Weigelt S, Hoppe U, Köllner V, Klotz M, Eysholdt U, Rosanowski F (2003) Quality of life in dysphonic patients. J Voice (im Druck) 28. Krischke S, Hoppe U, Eysholdt U, Köllner V, Rosanowski F (2003) Körperbeschwerden bei Patienten mit Dysphonien. HNO (in Vorbereitung) 29. Krischke S, Köllner V, Rudolph M, Eysholdt U, Rosanowski F (2003) Anxiety and depression in dysphonic patients. Folia phoniatrica et logopaedia (in Vorbereitung) 30. Machulla R, Hacki T, Hoppe U, Rosanowski F (2003) Voice Handicap Index (VHI): Outcome-Parameter der stationären Stimmrehabilitation. Vortrag 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, Rostock 31. MacKenzie K, Millar A, Wilson JA, Sellars C, Deary IJ (2001) Is voice therapy an effective treatment for dysphonia? A randomised controlled trial. BMJ 323: 658–661 32. Maune S, Bosse F, Heissenberg MC, Schmidt C, Berens M, Küchler T (2002) Konzept zur Erhebung der Lebensqualität bei Patienten mit Karzinomen des oberen Aerodigestivtraktes. HNO 50:347–353 33. Murry T, Rosen CA (2000) Outcome measurements and quality of life in voice disorders. Otolaryngol Head Neck Surg 33:905–916 34. Nawka T, Gonnermann U, Wiesmann U (2002) Deutsche Fassung des Voice Handicap Index (VHI). In: Gross M, Kruse E (Hrsg) Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2002/2003. Median, Heidelberg, S 131–136 35. Pauli HG, Schüfel W (1998) Wandel des Denkens in der Medizin? Wandel der ärztlichen Ausbildung? In: Schüffel W, Brucks U, Johnen R, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U (Hrsg) Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis. Ullstein medical; Wiesbaden, S. 245–259
51 Literatur
36. Rief W, Hiller W (1999) Toward empirically based criteria for somatoform disorders. J Psychosom Res 46: 507– 518 37. Rief W, Bleichhardt G, Timmer B (2002) Gruppentherapie für somatoforme Störungen – Behandlungsleitfaden, Akzeptanz und Prozeßqualität. Verhaltenstherapie 12: 183–191 38. Rosen CA, Murry T, Zinn A, Zullo T, Sonbolian M (2000) Voice Handicap Index change following treatment of voice disorders. J Voice 14: 619–623 39. Rosen CA, Murry T (2000) Voice Handicap Index in singers. J Voice 14: 370–377 40. Roy N, Gray SD, Simon M, Dove H, Corbin-Lewis K, Stemple JC (2001) An evaluation of the effects of two treatment approaches for teachers with voice disorders: A prospective randomized clinical trial. J Speech Lang Hear Res 44: 286–296 41. Ruben RJ (2000) Redifining the survival of the fittest. Communication disorders in the 21st century. Laryngoscope 110: 241–245 42. Sataloff RT, Abaza MM (2000) Impairment, disability, and other medico-legal aspects of dysphonia. Otolaryngol Clin North Am 33: 1143–1152 43. Schuster M, Hoppe U, Kummer P, Eysholdt U, Rosanowski F (2003) Krankheitsbewältigungsstrategien laryngektomierter Patienten. HNO 51: 337–343 44. Schuster M, Kummer P, Eysholdt U, Rosanowski F (2003) Quality of life in laryngectomees after prosthetic voice restoration. Folia Phoniatrica Logopaedia 55: 211–219 45. Spector BC, Netterville JL, Billante C, Clary J, Reinisch L, Smith TL (2001) Quality of life assessment in patients with unilateral vocal cord paralysis. Otolaryngol Head Neck Surg 125: 176–182 46. Stommel M, Given BA, Given CW (2002) Depression and functional status as predictors of death among cancer patients. Cancer 94: 2719–2727
3
47. Stordal E, Mykletun A, Dahl AA (2003) The association between age and depression in the general population: a multivariate examination. Acta Psychiatrica Scand 107: 132–141 48. Vauth R, Härter M, Hohagen F, Kemmerich C, Herrmann JM, Haag G, Nolte J, Niebling W, Stadtmüller G, Fritzsche K, Berger M (1999) Psychosomatische Grundversorgung auf der Grundlage des PLISSIT-Modells. Nervenarzt 70: 54–63 49. Ware JE, Gandek B, Kosinski M, Aaronson NK, Apolone G, Brazier J, Bullinger M, Kaasa S, Leplege A, Prieto L, Sullivan M, Thunedborg K (1998) The equivalence of SF-36 summary health scores estimated using standard and country-specific algorithms in 10 countries: results from the IQOLA project. International Quality of Life Assessment. J Clin Epidemiol 51: 1167–1170 50. Weigelt S, Krischke S, Klotz M, Hoppe U, Köllner V, Eysholdt U, Rosanowski F (2003) Voice Handicap Index: Instrument zur Bestimmung der subjektiven Beeinträchtigung durch organische und funktionelle Dysphonien. HNO (im Druck) 51. Wilson JA, Deary IJ, Millar A, Mackenzie K (2002) The quality of life impact of dysphonia. Clin Otolaryngol 27: 179–182 52. Wittchen HU, Essau CA, von Zerssen D, Krieg JC, Zaudig M (1992) Lifetime and six-month prevalence of mental disorders in the Munich Follow-Up Study. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 241: 247–258 53. Wittchen HU (2002) Generalized anxiety disorder: prevalence, burden, and cost to society. Depress Anxiety 16: 162–171 54. World Health Organization (2001) International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). WHO, Geneva 55. Zigmond AS, Snaith RP (1983) The Hospital Anxiety and Depression Scale. Acta Psychiatrica Scandinavica 67: 361–370
4 Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde S. Rohrbach, R. Laskawi
4.1
Einleitung
– 55
4.2
Botulinumtoxin
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4
Wirkungsmechanismus – 55 Wirkungseintritt, -dynamik und -dauer; individuelles Therapiekonzept Nebenwirkungen – 57 Verschiedene Botulinumtoxin-Typen – Kontraindikationen – 58
4.3
Allgemeine Therapieziele bei der Behandlung von Bewegungsstörungen – 59
4.4
Grundlagen der Dystonie
4.5
Die Behandlung von muskulären Bewegungsstörungen im Kopf-Halsbereich – 60
– 55
– 59
4.5.1 Spasmus facialis, Blepharospasmus, Synkinesien und Meige-Syndrom 4.5.2 Therapie – 61
4.6
Botulinumtoxin in der Behandlung anderer muskulärer Bewegungsstörungen
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5
Oromandibuläre Dystonie – 62 Bruxismus – 65 Dysphagie – 65 Zervikale Dystonie – 66 Spasmodische Dysphonie (laryngeale Dystonie)
4.7
Seltene Indikatonen
– 68
4.7.1 Tremor palatinus – 68 4.7.2 Beidseitige Recurrensparese
– 56
– 68
– 62
– 67
– 60
4.8
Botulinumtoxin im autonomen Nervensystem
4.8.1 4.8.2 4.8.3 4.8.4
Gustatorisches Schwitzen – 69 Hypersalivation und Speichelfistel Hyperlakrimation – 71 Kraniofaziale Hyperhidrose – 71
4.9
Neue Indikationen
– 70
– 72
4.9.1 Spannungskopfschmerz und Migräne 4.9.2 Nasale Hypersekretion – 73 4.9.3 Kosmetische Indikationen – 73
4.10 Off-label-use-Problematik Fazit
– 74
Literatur
– 74
– 73
– 72
– 69
55 4.2 · Botulinumtoxin
4.1
Einleitung
Botulinumtoxin wird in der HNO-Heilkunde bei einer Vielzahl von Erkrankungen des muskulären sowie des autonomen Nervensystems erfolgreich angewendet. Neben den klassischen Indikationen wie den fazialen Hyperkinesien (z.B. Blepharospasmus, Spasmus facialis) können komplexe Dystonien (oromandibuläre,spasmodische,zervikale),Dysphagien unterschiedlicher Genese,das gustatorische Schwitzen, verschiedene Hypersalivationszustände und Krokodilstränen erfolgreich behandelt werden. In der Behandlung von Spannungskopfschmerzen und Migräne stellt die Botulinumtoxin-Behandlung eine Alternative dar. Eine neue Indikation könnte sich in der Therapie der nasalen Hypersekretion durch die Toxinwirkung auf die nasalen Drüsen ergeben. Inzwischen wird Botulinumtoxin im ästhetischen Bereich auch bei Gesunden zur Reduktion von Hautfalten im Gesicht verwendet. Historisches. Die ersten Erwähnungen einer systemischen Vergiftung durch die Toxine von Clostridium botulinum reichen bis in das Mittelalter zurück und wurden auch schon in Schriften aus dem römischen Reich erwähnt. Erstmals ausführlich beschrieb der deutsche Arzt und Dichter Justinus Kerner 1817 in den »Tübinger Blättern für Medizin und Arzneykunde« die Symptome des Botulismus (»Botulus«,lat.»Wurst«, nach Verzehr von Wurst aufgetretene Vergiftung), die völlig unterschiedliche Organsysteme betrafen [1]. Die Wursthülle stellte dabei die passende anaerobe Atmosphäre für die Vermehrung der Clostridien dar. Neben Sodbrennen, Erbrechen, Durchfall und Bradykardie beschrieb Kerner bei erkrankten Patienten eine verminderte Speichelsekretion, Mundtrockenheit, eine Abnahme der Tränensekretion, lichtstarre weite Pupillen und eine Ptosis. Diese Beobachtungen unterstützte er durch für uns heroisch erscheinende Selbstexperimente. In einer zweiten von ihm veröffentlichen Monographie [2] stellte er weitsichtig die Möglichkeit einer therapeutischen Nutzung zur Behandlung von Krankheiten mit einem Überwiegen des sympathischen Nervensystems in Aussicht. Pierre van Ermengem, einem Mikrobiologen aus Ghent, gelang die Isolierung des Bakteriums
4
Bacillus botulinus, dem späteren Clostridium botulinum, nachdem 1895 im Rahmen eines Leichenschmauses eine Trauergesellschaft erkrankte [3]. Als biologische Waffe war Botulinumtoxin in der militärischen Forschung, insbesondere im 2. Weltkrieg, interessant. Daher wurde auch eine Vakzine entwickelt. Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts verwendete Alan B. Scott von der Smith-Kettlewell Eye Research Foundation in San Francisco Botulinumtoxin erstmals therapeutisch für die Behandlung des Strabismus,wobei er sich den muskelparalysierenden Effekt zum Ausgleich von Schielwinkeln zu Nutze machte [4]. In den folgenden Jahren verwendete er Botulinumtoxin unter anderem auch zur Therapie des Nystagmus, des Spasmus facialis und der zervikalen Dystonie [5]. Seit 1985 wird das Toxin auch in der Behandlung des Blepharospasmus angewendet, der bis dahin keiner befriedigenden Therapie zugänglich war. Seitdem sind zahlreiche Indikationen verschiedenster Fachdisziplinen hinzugekommen. Insbesondere in der HNO-Heilkunde kann die anticholinerge Wirkung von Botulinumtoxin in der Behandlung von muskulären, aber auch das autonome Nervensystem betreffende Dysfunktionen einen positiven Effekt zeigen.
4.2
Botulinumtoxin
4.2.1 Wirkungsmechanismus Wichtig
Botulinumtoxin bewirkt die Blockade der Acetylcholinausschüttung an der cholinergen Synapse. Dabei wirkt es sowohl an der neuromuskulären Synapse als auch an sympathischen und parasympathischen Ganglienzellen sowie an postganglionären parasympathischen und sympathischen cholinergen Neuronen.
Botulinumtoxin führt nicht zu einem Untergang der Neurone. Es bewirkt vielmehr eine zeitlich begrenzte reversible Blockade der cholinergen synaptischen Übertragung. Durch proteolytische Enzyme wird die eigentliche zweikettige Endform des
56
4
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
Toxins hergestellt, die aus einer leichten (MW: 50 kDa) und einer schweren Kette (MW: 100 kDa) besteht. Die beiden Ketten sind primär über eine Disulfidbrücke miteinander verbunden.Die schwere Kette ist verantwortlich für die Bindung des Toxins an spezifische Rezeptoren und dessen Aufnahme in die cholinerge Nervenendigung. Letzteres ist ein energieabhängiger Prozess. Die leichte Kette ist für die spezifisch-toxische Wirkung des Botulinums verantwortlich. Durch die Veränderung des strukturellen Zusammenspiels verschiedener membranständiger (Syntaxin), zytoplasmatischer (SNAP 25) und in den synaptischen Vesikeln lokalisierten Proteinen (Synaptobrevin 2) wird die Fusion der Vesikel mit der Membran des synaptischen Spalts und damit letztlich die Entleerung des Neurotransmitters Acetylcholin verhindert.Die verschiedenen Toxintypen (Typ A bis G) haben unterschiedliche Angriffspunkte. Botulinumtoxin A war der erste Serotyp, der am Menschen verwendet wurde. Er zeigt im Tierexperiment den längsten Effekt. Die anderen Serotypen haben einen starken muskel-paralysierenden Effekt, jedoch soll die Regenerationszeit im Vergleich zum Serotyp A kürzer sein. Botulinumtoxin A spaltet selektiv SNAP 25. Es kommt zur Degeneration der Nervenendigung, wobei sich, bis auf eine Anreicherung mit synaptischen Vesikeln entlang der präsynaptischen Membran, keine morphologischen Veränderungen zeigen [6,7].Durch Neuaussprossung kommt es zur Wirkungsbeendigung, wobei der genaue molekulare Mechanismus nicht bekannt ist. Der Regenerationsprozess des sog.»sproutings« dauert abhängig vom Wirkort unterschiedlich lange und kann an der humanen neuromuskulären Synapse mehrere Wochen bis Monate dauern. Im autonomen Nervensystem hält der Effekt wesentlich länger an [8]. Die Gründe dafür sind noch nicht bekannt.
4.2.2 Wirkungseintritt, -dynamik
und -dauer – individuelles Therapiekonzept Die Wirkung des Botulinumtoxins tritt (mit einer hohen interindividuellen Differenz von 1–14 Tagen) zeitlich verzögert nach etwa 3–5 Tagen ein [9].Auch die Ansprechbarkeit auf gleiche Dosen variiert zwi-
schen den einzelnen Patienten erheblich, d.h., dass die Dosis, die bei einem Patienten therapeutisch wirkt, beim nächsten schon ungünstige Wirkungen auslösen oder aber keinerlei Effekt zeigen kann. Bei der ersten Behandlung wird daher die Injektion mit einer zunächst geringen – der muskulären Dysfunktion jedoch angemessenen – Dosis bevorzugt, um negative Auswirkungen zu verhindern. Eine Nachinjektion einer geringeren Menge bei nicht ausreichendem therapeutischen Effekt ist bei den fazialen Indikationen kurzfristig problemlos möglich. Wichtig
Es hat sich gezeigt, dass Botulinumtoxin an der aktivsten neuromuskulären Synapse den stärksten Effekt entfaltet.
Daher wird bei einem hyperaktiven Muskel besonders der Anteil mit der stärksten pathologischen Bewegung gelähmt [10]. Durch elektromyographische Ableitungen einzelner Muskelfasern gibt es Hinweise für eine Botulinumtoxin-Wirkung an Muskeln, die von der Injektionsstelle weit entfernt liegen [11, 12]. Beim Gesunden passiert Botulinumtoxin nicht die Blut-Hirn-Schranke und scheint keinen unmittelbaren Effekt auf das zentrale Nervensytem zu haben. Jedoch kommt es nach Injektion zu einem schnellen retrograden axonalen Transport zu ipsilateralen Vorderhornzellen [13] wie auch zu korrespondierenden kontralateralen Rückenmarksegmenten. Diese Beobachtung legt nahe, dass es zu einer transsynaptischen Wirkung mit Beeinflussung der präsynaptischen Funktion anderer Motoneurone kommen könnte [14]. Diskutiert wird auch die hämatogene Ausbreitung, die ebenfalls zu einer Wirkung an entfernten Muskeln führen könnte [14]. Die Dynamik des therapeutischen Effektes verläuft – nach subjektiven Angaben – nach Wirkungseintritt auf einem konstanten Wirkplateau. Nach einer bestimmten Zeit kommt es zur Phase der abgeschwächten Wirkung, bevor eine erneute Injektion notwenig wird. Dieser zeitliche Verlauf korreliert mit den morphologischen und elektrophysiologischen Untersuchungen. Dabei formen zunächst die langsam neuaussprossenden motorischen Nervenendigungen synaptische Kontakte
4
57 4.2 · Botulinumtoxin
[15, 16]. Dieser Vorgang erreicht seinen Höhepunkt nach etwa 5–10 Wochen [17, 18]. Zu diesem Zeitpunkt können die neuausgesprossenen Nervenendigungen, nicht jedoch die »alten« Nerven, die Funktion übernehmen. Innerhalb der folgenden 4 Wochen regenerieren die »alten« Nervenendigungen, die neuausgesprossenen Endigungen verlieren an Aktivität. Trotz dieser groben zeitlichen Einteilung kann die Dauer der Wirkzeit für die unterschiedlichen Krankheitsbilder sehr verschieden sein. Die Gesamtwirkdauer bei den fazialen Dyskinesien wird mit 2 bis 5 Monaten angegeben, wobei Patienten mit einem Spasmus facialis im Mittel am längsten von der Botulinumtoxin-Behandlung profitieren. Eigene Untersuchungen bei 29 Patienten mit einem Spasmus facialis [19] zeigten eine durchschnittliche Substanzwirkung von 18,2 Wochen, einen optimalen Effekt von 12,6 Wochen und einen abgeschwächten Effekt über weitere 5,6 Wochen. Die Wirkspanne liegt zwischen 11 und 27 Monaten. Bei Patienten mit Synkinesien nach Hypoglossusfacialis-Anastomose – bei Z.n. Resektion eines Akustikusneurinoms – beträgt nach eigenen Erfahrungen [20] die mittlere Wirkdauer 13,8 Wochen,die Dauer des optimalen Effektes 8,9 Wochen und die der abgeschwächten Wirkung 4,9 Wochen. Ein individuelles Therapiekonzept ist wegen der genannten unterschiedlichen Ansprechbarkeit auf das Toxin essentiell. Obwohl das Wirkungsausmaß des Botulinumtoxins in keinem Falle vorhersagbar ist und viele vom Patienten abhängige, nicht messbare Faktoren dafür verantwortlich sind, haben sich für die verschiedenen Erkrankungen unterschiedliche Injektionsdosen und -punkte bewährt. In einigen Fällen zeigt die Botulinumtoxin-Anwendung keinerlei Wirkung. Selten gibt es sog. Primärversager und auch ein Wirkungsverlust durch Bildung von das Toxin neutralisierenden Antikörpern ist bei den Dosen, die im HNO-Bereich verwendet werden,äußerst selten.Bei Patienten mit zervikaler Dystonie soll es in etwa 4% der Fälle zu einer Antikörperbildung kommen. Mögliche Gründe hierfür sind ▬ die bei dieser Erkrankung verwendeten höheren Dosen, ▬ Injektionsabstände unter 3 Monaten, ▬ in relativ kurzen Abständen vorgenommene, sog. Booster-Injektionen.
Die Angaben über eine Antikörperbildung bei der zervikalen Dystonie variieren zwischen 2,5% [21] und 15,3% [22].Auch eine Antikörperbildung gegen die Trägerproteine ist möglich. Mittels verschiedener Tests lassen sich klinisch Resistenzen oder laborchemisch neutralisierende Antikörper nachweisen [23, 24]. Zur Vermeidung der Bildung von Antikörpern wird daher empfohlen ▬ ein Injektionsintervall von 10,besser 12 Wochen nicht zu unterschreiten; ▬ Booster-Injektionen zu vermeiden; ▬ die kleinst mögliche Dosis zu verwenden; ▬ falls Patienten Botulinumtoxin-Injektionen für verschiedene Erkrankungen erhalten sollen, sollte der Injektionszeitpunkt synchronisiert werden.
4.2.3 Nebenwirkungen Insgesamt sind Nebenwirkung nach Botulinumtoxin-Behandlung selten und treten passager auf. Sie sind zum einen auf eine lokale Überdosierung zurückzuführen. Zum anderen kann eine Schwächung von Muskelgruppen auftreten, die nicht Ziel des therapeutischen Effektes waren. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass die Nebenwirkungen deutlich kürzer anhalten als der positive therapeutische Effekt, also nach etwa 2 bis 3 Wochen nicht mehr vorhanden sind. Nach Therapie fazialer Dyskinesien können folgende typische Nebenwirkungen passager auftreten: Ptose Augentränen Augenbrennen Lagophthalmus Doppelbilder Trockenes Auge Umschriebene Hämatome
2–14% 3–10% 2–10% 1,9% 1,6–6% 6% 1–10%
Im Vergleich zu der meist erheblichen Beeinträchtigung der Patienten werden die passageren Nebenwirkungen als »kleineres Übel« angesehen. Sowohl die oben genannte Antikörperbildung,die das Toxin neutralisieren, als auch eine Proliferation
58
4
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
neuer Nervenendigungen [25] kann zu einem Ausbleiben der erwarteten Wirkung führen. Es muss insbesondere darauf hingewiesen werden,dass der inzwischen als Generikum verwendete Name »Botox« für Botulinumtoxin A impliziert, dass die verschiedenen auf dem Markt erhältlichen Toxine ( s. unten) vergleichbar wären. Das kann desaströse Folgen mit äußerst unerwünschten Nebenwirkungen haben. Die Mouse units für Botox sind mit den Mouse units für Dysport nicht unmittelbar zu vergleichen. Die für den Menschen geschätzte tödliche Dosis Botulinumtoxin A wird mit etwa 3000–3500 Mouse units angegeben [26, 27]. Dies macht deutlich, dass eine versehentliche intravasale Injektion lediglich zu einem Substanzverlust, nicht jedoch zu einer systemischen Auswirkung führt. Es wird empfohlen, die Dosis von 400 Einheiten Botox (etwa 1200 Einheiten Dysport) pro Behandlungssitzung nicht zu überschreiten [28].
4.2.4 Verschiedene Botulinumtoxin-
Typen – Kontraindikationen Insgesamt existieren 7 unterschiedliche Botulinumtoxin-Typen (Typ A bis G). Therapeutische Anwendung finden bisher die Typen A, B und F. Im klinischen Alltag wird am häufigsten Typ A verwendet. Dieses wird als Botox (100 Einheiten pro Flasche, amerikanisches Präparat der Firma Allergan; Vertrieb in Deutschland durch die Firma Merz) oder als Dysport (500 Einheiten pro Flasche – englisches Präparat– Vertrieb durch die Firma Ipsen) für den deutschen Markt angeboten. Die Wirkung der beiden Präparate unterscheidet sich nicht, jedoch ist die Zubereitung der Substanzen unterschiedlich. Eine Einheit Botox entspricht der für die MausLD50,intraperitoneal (bestimmt an Swibb-WebsterMäusen mit einem Gewicht von 18–20 g). Obwohl die Stärke von Dysport auch über die Maus-LD50 bestimmt wird, sind die Einheiten der beiden Präparate nicht identisch. Es werden Vergleiche zwischen Botox- und Dysport-Dosen gezogen, die zwischen 1:1 [29] und 1:8 [30] liegen.Obwohl es viele Studien zugunsten des einen und des anderen Präparates gibt,scheinen beide ähnliche qualitative und quantitative klinische Effizienz und Neben-
wirkungen zu zeigen. Für die häufigsten Indikationen wie den Spasmus facialis,den Blepharospasmus und die zervikale Dystonie liegt das Dosisverhältnis wahrscheinlich zwischen 1:3 bis 1:5. Die Hersteller haben ihre Preise so angepasst, dass die effektive Behandlung sich preislich ähnelt. Aus unserer Sicht ist es empfehlenswert, dass man sich als Behandler für eines der beiden Typ ABotulinumtoxine entscheidet, um Routine in der therapeutischen Anwendung zu bekommen und um Dosen vergleichen zu können, die bei Langzeitbehandlungen von Patienten verwendet wurden. Bei Primärversagern oder Auftreten von Antikörpern gegen Botulinumtoxin A kann die Anwendung von Botulinumtoxin Typ B (NeuroBloc , MYOBLOC) erfolgen. Botulinumtoxin B wird als Lösung geliefert, die 2500, 5000 und 10.000 Mouse units in einer Standardkonzentration von 5000 µ/ml enthalten. Die tödliche Dosis NeuroBloc liegt bei etwa 2400 Mouse units/kg KG. Botulinumtoxin F wurde bei Botulinumtoxin-A-Resistenz in der Behandlung einer Sialozele der Gl. parotis erfolgreich eingesetzt [31]. Kontraindikationen sind das Vorliegen einer Myasthenia gravis sowie eines Lambert-EatonRooke-Syndroms. Eine Dosisreduktion sollte bei mitochondrialen Myopathien erfolgen. Eine unkontrollierbare Wirkungsverstärkung ist bei gleichzeitiger Einnahme von Aminoglykosidantibiotika zu erwarten, so dass, falls notwendig, auf andere Antibiotika zurückgegriffen werden sollte. Eine relative Kontraindikation besteht bei der gleichzeitigen Einnahme von Tetrazyklinen,Lincomycin und Polymyxinen. Wichtig
Botulinumtoxin sollte in der Schwangerschaft und Stillzeit nicht angewendet werden. Kinder können ebenso wie Erwachsene behandelt werden. Sie erfahren bei den meisten Indikationen eine Dosisreduktion.
59 4.4 · Grundlagen der Dystonie
4.3
Allgemeine Therapieziele bei der Behandlung von Bewegungsstörungen
Zunächst werden die Patienten über den Ablauf der Behandlung, über therapeutische Ziele und mögliche Nebenwirkungen ausführlich aufgeklärt. Jeder Patient gibt seine schriftliche Einverständniserklärung.Wie oben erwähnt,muss abhängig von der Symptomintensität, der genauen Lokalisation der pathologisch arbeitenden Muskeln,den Schmerzen und der Konstitution des Patienten ein individuelles Dosisschema erarbeitet werden. Bei Erkrankungen wie der zervikalen Dystonie oder komplexen Dystonien im Kopf-Hals- und Schultergürtelbereich empfiehlt sich die enge Zusammenarbeit mit den mitbehandelnden Physiotherapeuten. Behandlungsziel ist es, die optimal mögliche Verbesserung der Bewegungsstörung/Spastik sowie die Reduktion der Schmerzen unter Auslassung oder Minimierung möglicher Nebenwirkungen zu erreichen. Dies ist häufig nicht bei der ersten Behandlungssitzung möglich, da zunächst mit einer geringen Anfangsdosis begonnen wird, die häufig noch nicht den optimalen therapeutischen Effekt erbringen wird. Der Patient sollte darüber aufgeklärt werden.
4.4
Grundlagen der Dystonie
Eine große Zahl der zu behandelnden Patienten weist eine Dystonie auf. Als Dystonie bezeichnet man unfreiwillige Muskelaktivitäten, die ohne Unterbrechung (tonisch), spasmodisch (schnell oder klonisch), unregelmäßig oder repetetiv vorkommen [32]. Die pathologische Muskelaktivität verursacht häufig abnorme Haltungen wie z.B. Drehungen (Torticollis), Flexion oder Extension (Anterocollis, Retrocollis) oder Adduktion und Abduktion (spasmodische Dysphonie). Da die Dystonie insgesamt gesehen ein seltenes Krankheitsbild ist, kommt es oft zu Fehldiagnosen. Nicht selten haben die Patienten bei Diagnosestellung eine jahrelange Ärzteodyssee hinter sich. Besonders schmerzlich für die meisten Betroffenen ist es, dass ihre Krankheit häufig zunächst als nichtorganisches oder psychiatrisches Krankheitsbild eingestuft wird. Be-
4
sonders die Gesichtsdystonien werden oft als sog. Tic fehlgedeutet. Da häufig Fehldiagnosen gestellt werden, ist es schwierig, Aussagen zur Prävalenz der Dystonie zu treffen. Bei schätzungsweise einem von 3000 Menschen wird die Diagnose Dystonie gestellt. Die fokalen Dystonieformen sind weitaus häufiger als generalisierte Formen [33]. Die Dystonien können nach der Ätiologie, der Lokalisation und der Symptome oder nach dem Alter der Patienten bei Auftreten von Symptomen eingeteilt werden. Neben der primären Dystonie (mit oder ohne nachweisbarer genetischer Manifestation), bei der keine anamnestischen Hinweise bzw. weder körperliche noch laborchemische Untersuchungsergebnisse verantwortlich gemacht werden können,unterscheidet man sekundäre Dystonien, z.B. als Folge einer Medikamentenüberdosierung oder neurologischer Krankheiten. Nach der Lokalisation unterscheidet man die fokalen von den segmentalen und generalisierten Formen. Fokale Dystonien betreffen eine umschriebene Muskelgruppe an einem Teil des Körpers, bei den segmentalen Dystonien sind benachbarte Muskelgruppen miteinbezogen und die generalisierten Formen weiten sich über große Teile des Körpers aus. Werden die Patienten vor ihrem 2. Lebensjahr symptomatisch, spricht man von einer infantilen Dystonie, werden sie zwischen dem 2. und 26. Lebensjahr symptomatisch, wird von einer Dystonie des Kindesalters gesprochen. Nach dem 26. Lebensjahr spricht man von einer Erwachsenendystonie [34]. Bei Patienten mit einer idiopathischen Dystonie gibt es keine einheitlichen morphologischen oder funktionellen Gehirnabweichungen. Bei Verletzungen des Gehirns, die eine symptomatische Dystonie auslösen, scheinen die Basalganglien eine Schlüsselrolle für das Auftreten von Dystonien einzunehmen.Mit Hilfe verschiedener Neuroimagingmethoden (Magnetresonanztomographie,Positronenemissionstomographie) konnten Überaktivitäten im Nucleus lentiformis und im Thalamus dargestellt werden [35].
60
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
4 a, b
c ⊡ Abb. 4.1a–c. Patienten mit fazialen Dyskinesien. a Beim Spasmus facialis kommt es zu einer Verkrampfung der gesamten mimischen Muskulatur einer Gesichtshälfte. b Beim Blepharospasmus sind in den meisten Fällen beide
4.5
Die Behandlung von muskulären Bewegungsstörungen im Kopf-Halsbereich
4.5.1 Spasmus facialis,
Blepharospasmus, Synkinesien und Meige-Syndrom Die häufigsten Indikationen für die Behandlung mit Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde sind Dyskinesien der mimischen Muskulatur wie der Spasmus facialis, eine sich meist in kraniokaudaler Richtung ausbreitende, eine Gesichtshälfte betreffende, unwillkürliche Verkrampfung (⊡ Abb. 4.1a). Im Elektromyogramm sind typische Veränderungen zu finden (⊡ Abb. 4.2). Wichtig
Der Spasmus facialis wird nicht zu den fokalen Dystonien gezählt. Frauen (14,5/100.000) sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer (7,47/100.000; [37]). Ätiologisch wird für den Spasmus facialis eine Kompression des noch unmyelinisierten Anteils des N. facialis durch ein Gefäß am Austritt aus dem Hirnstamm verantwortlich gemacht.
Als häufigstes komprimierendes Gefäß wird die A. cerebelli anterior posterior inferior (AICA) ge-
Mm. orbiculares oculi betroffen. c Synkinesien des M. orbicularis oculi treten im Rahmen von Fazialisdefektheilungen bei »Fremdbewegungen« (hier Lippenspitzen) anderer Muskelpartien auf
nannt. Natürlich können auch Tumoren, vaskuläre Malformationen oder umschriebene infektiöse Prozesse eine Kompression hervorrufen [38]. Daher ist bei dieser Erkrankung eine bildgebende Diagnostik (Magnetresonanztomographie, AngioMRT) besonders wichtig. Zum Ausschluss einer peripheren Ursache eines Spasmus facialis sollte eine Untersuchung der Gl. parotis erfolgen. Der Blepharospasmus (⊡ Abb. 4.1b), der durch einen unwillkürlichen, kräftigen nicht adäquaten Augenschluss charakterisiert ist [39], betrifft beide Augen meist symmetrisch. Es handelt sich beim Blepharospasmus um eine im Erwachsenenalter auftretende idiopathische fokale Dystonie. Das Erkrankungsalter liegt meist zwischen der 5.und 7.Lebensdekade. Frauen sind häufiger betroffen. Über die Jahre hinweg kann sich diese fokale Dystonie ausweiten und benachbarte Muskelgruppen mitbetreffen. Erkrankte Patienten beschreiben gelegentlich, lange vor Erkrankungsmanifestation, unter Photophobie oder »Augenreizung« gelitten zu haben.Viele beschreiben eine Triggerung des unwillkürlichen Augenschlusses durch äußere Faktoren wie Wind oder Licht,körperliche Anstrengung oder psychischen Stress. Eine Zunahme der Symptomatik gegen Abend ist typisch.Während es bei Krankheitsmanifestation meist zunächst intermittierend zum Augenschluss kommt,können die Betroffenen mit Krankheitsprogression funktionell blind werden.Beim sog.Levatorinhibitionstyp (Lidöffnungs-
61 4.5 · Die Behandlung von muskulären Bewegungsstörungen im Kopf-Halsbereich
4
⊡ Abb. 4.2. Typische polyphasische »Bursts« bei einem Patienten mit einem Spasmus facialis. Ableitung am M. orbicularis oculi (Aus [36]: Abb. 2)
apraxie),einer Sonderform des essentiellen Blepharospasmus, fehlen die Lidverkrampfungen weitgehend oder ganz [40]. Trotzdem ist der Patient nicht in der Lage, die Augen zu öffnen. Differentialdiagnostisch müssen insbesondere faziale Tics vom Spasmus facialis und Blepharospasmus differenziert werden. Diese können meist willkürlich unterdrückt werden,manifestieren sich in jüngerem Alter und gehen häufig mit anderen Tics oder bestimmten Persönlichkeitsstrukturen einher. Im Gesicht werden Synkinesien (⊡ Abb. 4.1c) nach einer Fazialisdefektheilung (z.B. als Folge einer Bell-Lähmung mit degenerativem Verlauf) oder nach Hypoglossus-facialis-Anastomose ebenfalls erfolgreich behandelt. Sie kommen als Mitbewegungen bestimmter mimischer Muskelpartien bei Fremdbewegungen anderer Muskelregionen vor. So tritt beispielsweise bei der Bewegung »Lippenspitzen« ein unwillkürlicher Augenschluss ein, umgekehrt zeigt sich beim Augenschluss eine Mitbewegung der perioralen Muskulatur und des Platysmas. Pathophysiologisch ist eine Fehlaussprossung von sich regenerierenden Axonen für die pathologischen Mitbewegungen verantwortlich. Nach abgelaufener Regeneration fehlt eine korrekte Zuordnung zwischen kortikalen motorischen Feldern und der peripheren Muskulatur [41].Bei einer existenten Fazialisparese kann zur Protektion des Auges eine gewollte Ptose gesetzt werden. Eine Parese des R. marginalis mandibulae kann durch Behandlung der Gegenseite ästhetisch korri-
giert werden,indem der gesunde M.depressor labii inferioris gelähmt wird.Es entsteht so eine optische Angleichung. Komplexere Dystonieformen wie das MeigeSyndrom (segmentale kraniale Dystonie),die neben einem Blepharospamus auch die oromandibuläre Muskulatur mit und ohne Zungenmuskulatur, die Halsmuskulatur oder die Kehlkopfmuskulatur betreffen können, werden ebenso therapiert.
4.5.2 Therapie Injiziert wird individuell in die hyperkinetische oder fehlinnervierte Muskulatur, also in den M. orbicularis oculi, in den Glabella-Bereich, den M. frontalis, den M. orbicularis oris, die Mm. mentalis und -depressor labii inferioris, die Mm. zygomatici und risorii und in das Platysma. Bei den genannten Indikationen wird bis auf die Mm. frontalis, risorius und zygomaticus sowie im GlabellaBereich subkutan injiziert (⊡ Abb. 4.3). Dabei werden Dosen von 1,25–5 Einheiten Botox pro Injektionspunkt verwendet. Je nach Masse der hyperaktiven Muskulatur, Ausprägungsgrad der Bewegung und Konstitution des Patienten werden von uns bei den fazialen Dyskinesien Gesamtdosen von etwa 20–60 Einheiten Botox verwendet. Vermieden werden sollten Injektionspunkte wie das mediale Augenlid (um den M. levator palpebrae nicht zu beeinflussen und eine Ptose zu verhindern), der mediale Augenwinkel (um den aktiven
62
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
gesunde Patienten, da viele Betroffene vor einem neurochirurgischen Eingriff zurückschrecken. Einige Patienten mit Blepharospasmus lassen sich eine Brille anfertigen, die am oberen inneren Brillenrand einen Metallbügel besitzt,der das Oberlid mechanisch am Lidschluss hindert. Diese Konstruktion kann in manchen Situationen, wie z.B. beim Autofahren oder Lesen, eine zusätzliche Hilfe nach Botulinumtoxin-Behandlung sein oder in Phasen der abgeschwächten Wirkung des Toxins den unwillkürlichen Augenschluss einschränken. Bei Patienten mit Levatorinhibitionstyp, bei denen Botulinumtoxin keine Wirkung zeigt, empfehlen wir die Suspensionsoperation, die durch die ophthalmologischen Kollegen durchgeführt wird [43]. Beachtet man die genannten Punkte, dann ist die Botulinumtoxin-Therapie von fazialen Dyskinesien hocheffektiv mit sehr guten Erfolgsraten (⊡ Abb. 4.4–4.7; [44]).
4
4.6
Botulinumtoxin in der Behandlung anderer muskulärer Bewegungsstörungen
⊡ Abb. 4.3. Gebräuchliche faziale Injektionspunkte. Die individuelle Auswahl der Punkte erfolgt bezogen auf das jeweilige Krankheitsbild. Es werden pro Punkt Dosen von 1,25–5 Einheiten Botox verwendet (Aus [36]: Abb. 4)
4.6.1 Oromandibuläre Dystonie
Tränenabtransport nicht zu behindern) und die Injektion in die kraniale und laterale Mundwinkelmuskulatur (zum Verhindern eines Herabhängens des Mundwinkels). Durch Beachtung dieser Einschränkungen kann die Integrität des Gesichtes passager weitestgehend wiederhergestellt werden. In der Regel ist bei den Gesichtshyperkinesien die elektromyographische Untersuchung nicht erforderlich. Hilfreich sein kann sie aber bei Problemfällen, wie z.B.bei einer Sonderform des Blepharospamus,dem Levatorinhibitonstyp ( s. oben). Die oben beschriebene Kompression des N. facialis durch ein Gefäß als Ursache für einen Spasmus facialis, macht diesen, bei einem eindeutigen Nachweis, auch einer neurochirurgischen Therapie (Dekompressionsoperation nach Jannetta, [42]) als kurativer Maßnahme zugänglich. Dafür entscheiden sich jedoch meist nur junge,ansonsten
Die Ätiologie der oromandibulären Dystonie ist ähnlich wie bei den anderen genannten fokalen oder segmentalen Dystonien [45]. Das klinische Bild (⊡ Abb. 4.8) kann erheblich variieren. Unwillkürliche Bewegungen der Zunge können genauso auftreten wie Kieferöffnungsbewegungen, Seitdeviationen oder Kieferschließbewegungen. Zusammen mit einem Blepharospamus wird eine oromandibuläre Dystonie als Meige-Syndrom bezeichnet (oder auch Brueghel-Syndrom, nach dem flämischen Maler Pieter Brueghel, der im 16. Jahrhundert das Bild »Der Gähner« malte,das einen Betroffenen mit offenbar oromandibulärer Dystonie zeigt). Auch bei diesem komplexen Krankheitsbild kommt es häufig zu Fehldiagnosen, wie z. B. Kiefergelenksmyoarthropathien. Die Bewegungsstörungen bei einer oromandibulären Dystonie sind häufig sehr komplex. Da die Zunge oft mitbeteiligt und für die stärksten Be-
63 4.6 · Botulinumtoxin in der Behandlung anderer muskulärer Bewegungsstörungen
4
a
b
c
d ⊡ Abb. 4.4a–d. Patientin mit Meige-Syndrom. a Spontane Verkrampfungen des M. orbicularis oculi bds. schließen die Augen komplett. Die Patienten sind nicht selten invalidisiert.
b Zungenprotrusionen können eine Dysarthrie verursachen. c Bereits wenige Tagen nach Therapie ist eine deutliche Besserung zu erkennen, d die über mehrere Wochen konstant ist
schwerden der betroffenen Patienten verantwortlich ist, sich eine Injektion in die intrinsische Zungenmuskulatur jedoch wegen dysarthrischer und dysphagischer Beschwerden verbietet,ist die Therapie mit Botulinumtoxin schwierig. Oft ist nur eine Linderung der Symptomatik zu erreichen [46]. Im Rahmen der Diagnostik ist es wichtig,durch Inspektion und Palpation sowie ggf.durch Elektromyographie die dyston aktiven Muskeln zu identifizieren, um gezielt injizieren zu können.Grundsätzlich kann in die Mm. temporalis, masseter, pterygoideus medialis und lateralis, digastricus anterior, genio- und hypoglossus injiziert werden.Bezogen auf alle Indikationen treten Nebenwirkungen nach Behandlung der oromandibulären Dystonie relativ häufig auf (5–7%). Insbesondere eine Dysphagie kann durch eine Injektion in »falsche« Muskelpartien, durch
relative Überdosierung und nicht voraussehbare Diffusion des Toxins zu Problemen führen. Ein interessanter Effekt ist eine sog. Fernwirkung auf Muskelpartien, die nicht injiziert wurden und der injizierten Muskulatur nicht benachbart sind: ▬ Bei Patienten mit Meige-Syndrom erfahren die pathologischen Bewegungen der oromandibulären Dystonie, nach ausschließlich periokulärer Injektion, häufig eine passagere Reduktion; ▬ beim Blepharospasmus kann sich, bei einseitiger Injektion, die Gegenseite mit entspannen; ▬ bei ausschließlich periokulärer Behandlung des Spasmus facialis entkrampft konsekutiv das Platysma.
64
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
4
a
b ⊡ Abb. 4.5a,b. Spasmus facialis der linken Gesichtshälfte a vor und b nach Therapie
a
b ⊡ Abb. 4.6a,b. Patientin mit Synkinesien des rechten M. orbicularis oculi nach Hypoglossus-Facialis-Anastomose rechts. a Bei Verzehr eines Bonbons schließt sich das rechte Auge komplett durch die Aktivierung der Orbicularis-oculi-
Muskulatur. b Nach Botulinumtoxin-Therapie bleibt das Auge geöffnet, die ästhethische Integrität des Gesichtes ist deutlich gebessert
65 4.6 · Botulinumtoxin in der Behandlung anderer muskulärer Bewegungsstörungen
⊡ Abb. 4.7. Patient mit rechtsseitiger kompletter Fazialisparese. Durch die Injektion von 2,5–10 Einheiten Botox in den M. levator palpebrae kann zur Protektion der Cornea eine Ptose erzeugt werden. Nach ca. 3 Monaten, also praktisch par-
⊡ Abb. 4.8. Oromandibuläre Dystonie vom Kieferöffnungstyp. Zu erkennen sind die typischen spontanen Kieferöffnungsbewegungen
Die Ursache für diese Fernwirkung ist unklar. Diskutiert wird ein Feedback-Mechanismus über afferente trigeminale Neurone, die über die Information des veränderten Zustands der injizierten Muskulatur Einfluss auf das Zentralnervensystem nehmen.Verwendet werden Dosen von 30–120 Einheiten Botox.
4.6.2 Bruxismus Fast alle Menschen knirschen mehr oder minder stark mit den Zähnen.Eine Schienentherapie ist bei
4
allel zur Reinnervation der Parese, kann das Auge wieder geöffnet werden. Voraussetzung für diese Maßnahme ist eine gute Sehkraft der gesunden Seite
stärker ausgeprägtem Bruxismus indiziert. Reicht diese nicht aus, kann Botulinumtoxin injiziert werden. Empfehlenswert ist diese Behandlungsform aber nicht nur bei Therapieresistenz auf konventionelle Maßnahmen, sondern auch bei starker Schädigung der Schienen, bei funktionellen Störungen,Schmerzen und erwünschter Ruhigstellung von Kieferfrakturen.Injiziert werden die Mm.masseter und temporalis nach Palpation unter Muskelanspannung, wobei Gesamtdosen von etwa 10–40 Einheiten Botox appliziert werden. Botulinumtoxin wird auch bei muskulär bedingter Kieferklemme,bei Hypermobilitätsstörungen des Kiefergelenkes mit Luxationsneigung durch die Überaktivität meist des M. pterygoideus lateralis und bei Masseter- und Temporalishypertrophie erfolgreich eingesetzt.
4.6.3 Dysphagie Der M. cricopharyngeus agiert als oberer Ösophagussphinkter. Eine fehlende Relaxation beim Schlucken kann zur Dysphagie führen.Dieser Spasmus ist häufiges Symptom vieler neurologischer Erkrankungen, zum Beispiel nach Schlaganfällen, beim Postpolio-Syndrom, bei der amyotrophen Lateralsklerose und kommt auch idiopathisch vor [47, 48]. Durch die Botulinumtoxin-Anwendung ist bei vielen Patienten,die häufig älter sind und eine hohe
66
4
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
Komorbidität aufweisen, eine chirurgische Maßnahme (Dilatation, Plexusneurektomie, cricopharyngeale Myotomie) zu umgehen. Sollte eine Myotomie dennoch notwendig erscheinen, kann mithilfe einer Botulinumtoxin-Injektion die chirurgische Maßnahme simuliert werden. Auch zur Behandlung von Schluckstörungen nach Tumorresektionen mit narbenbedingt fehlender oder verminderter Erschlaffung im Bereich des Ösophaguseingangs wird Botulinumoxin angewendet.Nach Laryngektomie und narbiger Striktur oder Spasmus des ösophagopharyngealen Übergangs kann mittels Botulinumtoxin nicht nur die Schluckfunktion, sondern auch die Sprachersatzfunktion gebessert werden.Vor der Behandlung ist die interdisziplinäre Abklärung der Dysphagie sowie eine genaue funktionelle Diagnostik, z.B. mit Hilfe der Videofluoroskopie und der Ösophagusmanometrie erforderlich. Am häufigsten wird Botulinumtoxin transoral in einer kurzen Vollnarkose injiziert, z. B. eine Gesamtdosis von 30 Einheiten Botox, verteilt auf 3 Punkte im Bereich der dorsalen Pharynxwand (lateral rechts, lateral links, medial dorsal). Bewährt hat sich eine Kurznarkose ohne Intubation, die auch bei Risikopatienten ohne größere Belastungen durchgeführt werden kann. Als transorale Begleitbehandlung nach laserchirurgischer Schwellendurchtrennung führt Botulinumtoxin zu einem besseren Dauererfolg, da es im Verlauf der Wundheilung durch die relaxationsbedingte weitere Dehiszenz der Muskelfasern zu einer geringeren narbigen Restenosierung kommt [49].
4.6.4 Zervikale Dystonie Die zervikale Dystonie ist die häufigste Form der idiopathischen fokalen Dystonie (⊡ Abb. 4.9; [50]). Wichtig
Der im täglichen Sprachgebrauch verwendete Terminus Torticollis spasmodicus sollte Patienten vorbehalten sein, die eine ausgeprägte spastische Komponente mit einem Rotationstorticollis haben.
⊡ Abb. 4.9. Zervikale Dystonie mit Kopfreklination und Rotation nach links
Das mittlere Manifestationsalter liegt bei etwa 40 Jahren. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer (1,0:1,2; [51]). Die meisten Patienten berichten über einen allmählichen Beginn und Zunahme der Symptome. Bei einem Drittel der Erkrankten mit idiopathischer zervikaler Dystonie bildet sich eine segmentale Dystonie (Schreibkrampf, Armdystonie, oromandibuläre Dystonie) aus. Die Patienten leiden unter einer unwillkürlichen tonischen, tremorösen oder repetetiv-phasischen Aktivität meist der Mm. sternocleidomastoideus, splenius capitis und trapezius, aber auch der Skalenusgruppe und des M.levator scapulae.Da insgesamt etwa 50 Muskeln an der Kopfhaltung beteiligt sind, ist häufig ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedener Muskeln, auch die der Gegenseite, an der Pathologie beteiligt. Im Vordergrund der Beschwerden stehen funktionelle Bewegungseinschränkungen, Schmerzen und die Stigmatisierung. Sekundäre Veränderungen der Halswirbelsäule können im Laufe der Zeit hinzukommen. Differentialdiagnostisch können viele neurologische Erkrankungen,aber auch Erkrankungen des Skelettes,lokale Infektionen (Pharyngitis,Lymphadenitis, prävertebrale Abszesse) oder eine Verkürzung des Muskelapparates durch eine Fibrose nach lokaler
67 4.6 · Botulinumtoxin in der Behandlung anderer muskulärer Bewegungsstörungen
Bestrahlung eine zervikale Dystonie vortäuschen. Früher wurde die zervikale Dystonie oft als psychogen eingestuft.Die Diagnose einer psychogenen zervikalen Dystonie ist jedoch selten und sollte mit Vorsicht gestellt werden. Hinweise für ihr Vorliegen ist ein plötzlicher Krankheitsbeginn, begleitet von oft bizarren Bewegungsmustern und einer großen Variabilität des klinischen Bildes [52]. Je nach Bewegungsmuster und -richtung wird eine Einteilung in Antero-, Retro- und Laterocollis getroffen.Ein typisches Phänomen ist die sog.geste antagonistique (»sensory trick«), mit der die Patienten ohne Druck noch Kraft, nur mit einem sensiblen Stimulus an Kinn, Hinterkopf oder Scheitelregion, die dystone Bewegung unterdrücken können. In einer Studie zeigten 13 von 25 Patienten, die eine »geste antagonistique« durchführten, schon vor Beendigung der Intentionsbewegung eine deutliche Reduktion (50%) der dystonen Bewegung im EMG [53]. Seit den späten 80er-Jahren wird die Botulinumtoxin-Therapie bei der zervikalen Dystonie als Mittel der Wahl angesehen. Die gezielte Anwendung in die betroffene Muskulatur ohne systemische Nebenwirkungen, wie sie die vielen früher angewendeten zentralwirkenden Medikamente häufig zeigten, erlauben eine symptomorientierte effektive Therapie. Um die optimale Platzierung des Toxins in die Zielmuskulatur zu gewährleisten hat sich die Injektion der hyperkinetischen Muskulatur mit einer Kanüle bewährt, die parallel eine EMG-Ableitung erlaubt. Die verwendeten Substanzmengen sind hierbei deutlich höher als bei den fazialen Indikationen,weswegen es auch relativ häufiger zur Bildung von Antikörpern kommen kann ( s. oben). So injizieren wir häufig eine Gesamtmenge von 40–120 (oder mehr) Einheiten Botox. Passagere Nebenwirkungen nach der Behandlung sind ▬ Mundtrockenheit (bis 21,9%); ▬ Dysphagie (bis 21,9%); ▬ lokaler Schmerz (bis 14%); ▬ Müdigkeit (bis 18,4%); ▬ Sprechstörungen (4,3%) ▬ und Übelkeit (1,3%).
4
4.6.5 Spasmodische Dysphonie
(laryngeale Dystonie) Dystone Bewegungen im Bereich des Larynx können sich als spasmodische Dysphonie äußern. Es wird ein Abduktor- von dem weitaus häufigeren (>90%) und besser zu behandelnden Adduktortyp [54] unterschieden. Frauen sind häufiger betroffen (63%; [55]). Die Patienten und ihre Umgebung erfahren diese Störung, vorwiegend beim Adduktortyp, als Stimmveränderung mit staccatoartig gepresster Stimme von dysreguliertem Rhythmus.Der Abduktortyp ist vornehmlich durch verhauchte Sprachsequenzen gekennzeichnet. Häufig pressen die Betroffenen die stimmbildende Luft mit großer Kraftanstrengung durch die dystone Larynxmuskulatur, was zu thorakalen Schmerzen und subjektiver Luftnot führen kann. Die Botulinumtoxin-Injektion gilt als Therapie der Wahl [56]. Eine logopädische Therapie kann unterstützend gute Erfolge erzielen, soll aber alleine keine deutliche Verbesserung erreichen [57]. Bei vielen Patienten wird mit der Diagnose einer psychogenen Dysphonie jahrelang eine Psychotherapie durchgeführt. Eine Psychotherapie kann sicherlich den Stress, den die spasmodische Dysphonie auf den Betroffenen ausübt, relativieren. Jedoch sollte es nicht so weit gehen, dass eine Psychotherapie anstatt einer Botulinum-Therapie durchgeführt wird. Beim Adduktortyp sind der M. vocalis oder der M. thyroarytenoideus, beim Abduktortyp der M.cricoarytenoideus posterior die Zielmuskulatur für die Botulinumtoxin-Injektion. Grundsätzlich kann die Injektion transoral oder transkutan (mit EMG-Kontrolle) erfolgen.Ist eine zumutbare Injektion in Oberflächenanästhesie nicht möglich, kann im Rahmen einer Mikrolaryngoskopie in Kurznarkose ohne Intubation die topisch exakte Applikation erfolgen (⊡ Abb. 4.10). Dabei verwenden wir Mengen von 1,25–5 Einheiten Botox pro Injektionspunkt.Unterschiedliche Meinungen gibt es zur Frage, ob uni- oder bilateral injiziert werden sollte, nur glottisch oder auch auf supraglottischer Ebene. Wie auch bei den anderen genannten Indikationen für eine BotulinumtoxinBehandlung muss für jeden Patienten ein indivi-
68
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
verschluss sein. Bei adäquater Dosierung und Platzierung können diese meist vermieden werden. Die Dosis richtet sich nach der Analyse der muskulären Fehlfunktion. Es kann z.B. eine Dosis von 2,5 Einheiten Botox pro Seite in den M. tensor veli palatini gegeben werden.
4
4.7.2 Beidseitige Recurrensparese
⊡ Abb. 4.10. Ansicht der mikrolaryngoskopischen Botulinumtoxin-Applikation in Narkose ohne Intubation. Zu erkennen ist die Infiltration der Substanz in die linke supraglottische Muskulatur
duelles Behandlungskonzept mit Dosierungen erarbeitet werden, die vom unteren Dosisbereich gesteigert werden sollten, um Nebenwirkungen wie ▬ Schmerzen (bis 10%), ▬ Heiserkeit (bis 10%) ▬ oder Dysphagie mit oder ohne Aspiration (10–22%) zu verhindern. Weitere, jedoch seltene Indikationen sind das Stimmlippen-Granulom [58, 59] und die Synechiebildung in der hinteren Kommissur [60].
4.7
Seltene Indikatonen
4.7.1 Tremor palatinus Eine im Vergleich zu den anderen fokalen Dystonien seltene Erkrankung ist der Tremor palatinus, der mit pathologischen Bewegungen des weichen Gaumens einhergeht und von einem sog. ear click als äußerst störendem Geräusch für die Patienten – gelegentlich auch für die Umwelt – begleitet ist.Ziel der Botulinumtoxin Behandlung ist der M. tensor veli palatini, um die Gaumensegelhyperkinesie zu reduzieren. Nebenwirkungen können Schluckbeschwerden mit nasaler Regurgitation aufgrund einer palatalen Insuffizienz und die Entwicklung einer Otitis media durch unzureichenden Tuben-
Eine weitere laryngeale Anwendungsmöglichkeit wird von einigen Arbeitsgruppen beim beidseitigen Stimmbandstillstand gesehen. Es soll bei der Paramedianstellung der Stimmbänder nach Injektion in beide Mm.cricothyreoidei eine Änderung eintreten, indem durch eine zusätzliche temporäre medikamentöse Affektion des N.laryngeus superior eine Intermediärstellung der Stimmbänder ausgelöst wird und es zu einer ausreichenden Luftzufuhr kommt [61]. Dadurch könnte eine Tracheotomie vermieden werden. Die Dosis, die hierbei verwendet werden kann, beträgt z.B. 5 Einheiten Botox. Durch eine entsprechende Nachinjektion ließe sich die Zeit bis zur Regeneration der Nervenfunktion überbrücken. Diese Behandlungsform bleibt sicherlich zur Zeit Einzelfällen vorbehalten und bedarf weiterer Untersuchungen hinsichtlich einer generellen, als Primärtherapie geltenden, Anwendbarkeit. Eine weitere theoretische Möglichkeit der gewollten Abduktion besteht bei einer »funktionellen Parese« oder »Autoparalyse« der Stimmlippe. Durch Fehlaussprossung nach degenerativer Nervenläsion werden als Defektheilungszustand gleichzeitig Adduktion und Abduktion innerviert, was klinisch eine fehlende Bewegung der Stimmlippe bedeutet. Nach einigen Monaten (also nicht in der Akutphase einer kompletten Lähmung) könnte durch gezielte Schwächung der Adduktion durch Botulinumtoxin ein sog. Tonusüberwiegen der Abduktoren zur Öffnung des Glottisspalts führen. Dies kann theoretisch auch bei inkompletten Lähmungen wirksam sein, die mit Luftnot einhergehen. Als weitere seltene Indikation für die Anwendung am Kehlkopf ist die Schwächung der abduzierenden Muskulatur ▬ bei multipler Sklerose, ▬ als Korrektur bei der anteromedialen Form der Aryknorpelluxation,
69 4.8 · Botulinumtoxin im autonomen Nervensystem
▬ bei der Taschenfaltenstimme, ▬ begleitend nach Larynxverschlussoperationen ▬ und bei Stotterern zu nennen.
4.8
Botulinumtoxin im autonomen Nervensystem
4.8.1 Gustatorisches Schwitzen Seit dem ersten Bericht der Behandlung des gustatorischen Schwitzens (Frey-Syndrom) mit Botulinumtoxin [62,63] wird diese Therapieform inzwischen als Methode der Wahl angesehen (⊡ Abb. 4.11a–d). Vor der Injektion muss die Ausdehnung des schwitzenden Areals genau lokalisiert werden, was meist mit dem Test nach Minor (Jod-Stärke-Test), unter Einbeziehung der angrenzenden behaarten Kopfhaut, geschieht.
4
Nach Markierung mit einem abwaschbaren Stift und weiterer Unterteilung (um Doppel- und Fehlinjektionen zu vermeiden) erfolgt die intrakutane Injektion, die für die Patienten meist sehr unangenehm ist.Kein Schmerz heißt in dem Fall,in die falsche Hautschicht zu injizieren und die Hautschweißdrüsen nicht zu erreichen. Bei besonders schmerzempfindlichen Patienten hat sich das Auftragen von anästhesierender Salbe, z.B. Emla Creme, bewährt [64]. Pro unterteiltem Kästchen, was einer Fläche von ca. 4 cm2 entspricht, verwenden wir etwa 2,5 Einheiten Botox oder weniger. Trotz der topographischen Nähe zur mimischen Muskulatur, insbesondere im Mundwinkelbereich, kann bei streng intrakutaner Injektion eine Affektion der Gesichtsmuskulatur verhindert werden. Da die Erfahrung zeigt,dass auch kleine schwitzende Areale subjektiv gravierende Beschwerden verursachen können [65],hat sich bei Patienten mit
a
b
c
d ⊡ Abb. 4.11a–d. Therapie des gustatorischen Schwitzens. a Nach Durchführung des Minor-Testes wird b die Fläche markiert und eine Einteilung in Subflächen vorgenommen.
c Die Injektionen erfolgen Fläche für Fläche intracutan. d Nach der Applikation bleibt nach gustatorischem Reiz die gesamte Fläche trocken
70
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
persistierenden Beschwerden ein Kontroll-Minortest 2 Wochen nach Injektion bewährt. Diese Patienten können dann eine Nachinjektion erhalten. Interessanterweise ist die Wirkdauer des positiven therapeutischen Effektes wesentlich länger als bei den muskulären Indikationen (im Mittel 17,3 Monate, mit großer Variabilität; [66]). Der Grund dafür ist unbekannt. Nebenwirkungen können ein Spannungsgefühl,Schmerzen und eine Rötung unmittelbar nach Injektion sein.
4
4.8.2 Hypersalivation
und Speichelfistel Relativ jung ist die Behandlung der Hypersalivation durch intraglanduläre Injektion von Botulinumoxin in die Gll. parotideae und submandibulares [67]. Eine relative oder absolute Hypersalivation mit störendem »sabbern«,(»drooling«) und Unterbrechung des Redeflusses wegen Speichelschluckpausen kann im Rahmen neurologischer Erkrankungen sowie postoperativ, durch eine passagere Schluckunfähigkeit des Speichels (z.B. nach Resektion großer Tumoren) auftreten. Die primäre Hypersalivation ist selten (⊡ Abb. 4.12a,b).
In Tierversuchen konnte mit Hilfe immunhistochemischer Methoden gezeigt werden, dass die lokale Botulinumtoxin Anwendung zu einer signifikanten Reduktion der Acetylcholinesterase führt, die eine Verminderung der Speichelmenge zur Folge hat [68]. Empfehlenswert ist die Injektion unter sonographischer Kontrolle, um eine optimale Platzierung des Toxins zu gewährleisten und Nebenwirkungen zu minimieren (⊡ Abb. 4.13). Diese schließen z.B. Mundtrockenheit oder Dysphagie durch Ausweitung in die Mundboden- und Pharynxmuskulatur ein, sind jedoch in unserem Krankengut nicht aufgetreten. Es hat sich die Injektion von 3¥7,5 Einheiten Botox in jede Gl.parotis sowie 1¥10 Einheiten Botox in jede Gl. submandibularis bewährt, wobei Nachinjektionen bei nicht ausreichender Wirkung problemlos möglich sind. Bei Kindern erfolgt eine Dosisreduktion. Auch bei postoperativem Auftreten einer Speichelfistel kann die Injektion geringer Mengen des Toxins (ca. 2,5–12,5 Einheiten Botox) um die Fistelöffnung zum Verschluss derselben führen. Dabei ist gelegentlich die mehrfache Injektion notwendig. Prinzipiell ist die Symptomatik mit notwendiger Re-
a
b ⊡ Abb. 4.12a,b. Indikationen für die Reduktion des Speichelflusses. a Kind mit neuropädiatrischer Erkrankung und Unfähigkeit, den Speichel zu schlucken.
b Persistierende Speichelfistel nach linksseitiger Parotidektomie (Sonde in Fistelgang)
71 4.8 · Botulinumtoxin im autonomen Nervensystem
⊡ Abb. 4.13. Die Injektion in die Speicheldrüsen erfolgt meist unter sonographischer Kontrolle. Als Standarddosis hat sich uns die Injektion von 3¥7,5 Einheiten Botox in jede Gl. parotis und von 10–12,5 Einheiten Botox in jede Gl. submandibularis bewährt
4
Anteils des N.facialis kann es zur Fehlaussprossung autonomer Nervenfasern, die ursprünglich die Speicheldrüse versorgten, in die Tränendrüse kommen. Dies kann zu einer inadäquaten übermäßigen Tränensekretion bei Nahrungsaufnahme führen. Da die Produktion der Tränenflüssigkeit ebenfalls über die Vermittlung des Neurotransmitters Acetylcholin erfolgt, kann durch Injektion von z.B. 1,25–10 Einheiten Botox in die Pars palpebralis der Tränendrüse, nach Anheben des Oberlides und Medialblick, eine Reduktion der Tränenabsonderung erreicht werden (⊡ Abb. 4.15a,b). Bei einer kompletten Fazialisparese besteht unter Umständen eine relative Hyperlakrimation, die reduziert werden kann Die Botulinumtoxin-Injektion kann zu trockenen Augen oder einer lokalen Infektion führen.Eine Ptosis oder eine Diplopie durch Diffusion in angrenzende Muskeln ist selten.
4.8.4 Kraniofaziale Hyperhidrose duktion des Speichelflusses nach BotulinumtoxinTherapie meist drastisch gebessert (⊡ Abb. 4.14a,b).
4.8.3 Hyperlakrimation Normalerweise innervieren sekretomotorische Fasern des N. facialis die Tränendrüse über den N. petrosus major. Nach Affektion des proximalen
Aus dem dermatologischen Fachgebiet ist die Behandlung der axillären-, palmaren- und plantaren Hyperhidrose bekannt. Die kraniofaziale Hyperhidrose ist eine seltene Form einer fokalen Hyperhidrose. Sie kann so ausgeprägt sein, dass die Betroffenen sich sozial isolieren und in repräsentierenden Berufen deutlich eingeschränkt sind.Die intradermale Injektion von Botulinumtoxin zeigt
a
b ⊡ Abb. 4.14a,b. Demonstration der Wirkung von Botulinumtoxin. a Z.n. Laserresektion eines ausgedehnten Larynxkarzi-
noms mit Speichelaspiration. b Nach Botulinumtoxin-Injektion in die Speicheldrüsen ist der Introitus laryngis nahezu trocken
72
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
4
a
b ⊡ Abb. 4.15. Kauschwitzen nach Fazialisparese rechts mit Defektheilung. a Im Schirmer-Test sieht man eine verstärkte Durchfeuchtung des Papierstreifens rechts.
b Es erfolgt die Injektion von Botulinumtoxin (1,25–10 Einheiten Botox) in die Pars palpebralis der Tränendrüse
guten Erfolg [69, 70]. Das Lokalisierungs- und Injektionsprinzip unterscheidet sich nicht von dem bei der Diagnostik und Therapie des gustatorischen Schwitzens.
zeptive Mechanismen die Schmerzentstehung und -weiterleitung beeinflussen. Kritiker beanstanden das Fehlen kontrollierter Studien,so dass der Placeboeffekt oder die Wirkung der Injektionsnadeln an sich,vergleichbar mit dem Akupunktureffekt,nicht auszuschließen sei. Zahlreiche offene Studien der letzten Jahre sowie eigene Erfahrungen haben sowohl eine Minderung der Schmerzstärke (und damit die Möglichkeit der Reduktion der Einnahme von Analgetika und Antivertiginosa) als auch – bei der Migräne – eine Reduktion der Anfallsfrequenz aufgezeigt. Injiziert wird intramuskulär in den M. trapezius, den M. splenius capitis, die Mm. frontalis und temporalis sowie in die Glabellaregion, wobei sich pro Injektionspunkt eine Dosis zwischen 2,5 und 10 Einheiten Botox bewährt hat. In den M. trapezius kann je nach Beschwerdeintensität und Lokalisationsmaximum des Schmerzes eine Gesamtdosis von 30–60 Einheiten injiziert werden, wobei wir in den M. splenius capitis nicht mehr als 7,5 Einheiten Botox injizieren. In die Mm. frontalis und temporalis sowie die Glabella werden ca. 10–40 Einheiten Gesamtdosis Botox injiziert. Einige Tage nach der Injektion kann es zu muskelkaterartigen Schmerzen kommen, die rasch nachlassen.
4.9
Neue Indikationen
4.9.1 Spannungskopfschmerz
und Migräne Patientinnen, die zur Faltenreduktion eine Botulinumoxin-Injektion in den M. frontalis erhielten, berichteten neben einer Glättung ihrer Falten von einem Rückgang der vormals bestehenden Migräne. Dies war der Anfang des Einsatzes von Botulinumtoxin in der Behandlung von Spannungskopfschmerz und Migräne. Bei der Entstehung von Spannungskopfschmerz und Migräne sollen vaskuläre,neuronale und myofaziale Mechanismen eine Rolle spielen.Der Nutzen von Botulinumtoxin in der Therapie dieser Erkrankungen soll einerseits, wie von einigen Autoren beschrieben, in der »muskelrelaxierenden« Wirkung und Aufhebung von Muskelspasmen liegen [71, 72]. Diese Vorstellung wird kontrovers diskutiert, da beim Spannungskopfschmerz, dessen Name einen erhöhten Muskeltonus oder -spasmen impliziert, meist eine normale EMG-Aktivität aufgezeichnet wird [73]. Andererseits sollen antinozi-
73 4.10 · Off-label-use-Problematik
4
Klinik die Wirkung von Botulinumtoxin auf die Hypersekretion bei Patienten mit intrinsischer und allergischer Rhinitis untersucht. Bei einigen Patienten scheint diese Behandlungsform effektiv und wenig invasiv zu einer Reduktion der Rhinorrhoe zu führen.
4.9.3 Kosmetische Indikationen
⊡ Abb. 4.16. Behandlung der nasalen Hypersekretion mittels Schwämmcheneinlage. Nach Einführen des Schwämmchens wird es mit der Botulinumtoxin-haltigen Lösung getränkt und verbleibt eine halbe Stunde in situ. Die Entfernung erfolgt durch Zug am Sicherungsfaden
4.9.2 Nasale Hypersekretion Die Innervation der Nasenschleimhaut ist sehr komplex und im einzelnen nicht vollständig untersucht. Die nasalen Drüsen werden aber zu einem großen Teil cholinerg innerviert [74]. Die nasale Hypersekretion bei Patienten mit allergischer oder intrinsischer Rhinitis kann bisher häufig nicht auseichend therapiert werden. Patienten mit intrinsischer Rhinitis wurden von Kim et al. [75] durch Botulinumtoxin-Injektion in die Nasenmuscheln erfolgreich behandelt. Es kam zu einer signifikanten Reduktion der Hypersekretion. Im Tierversuch [76] zeigte sich eine passagere Degeneration und Apoptose der submukösen Drüsen, nachdem die Tiere mittels in Botulinumtoxin getränkter Schwämmchen nasal behandelt wurden. Die Behandlung einer Patientin im Rahmen eines Heilversuchs zeigte nach Schwämmchenapplikation unter Verwendung von insgesamt 40 Einheiten Botox neben einer deutlichen Reduktion der Hypersekretion auch eine Verbesserung der Nasenatmungsbehinderung (⊡ Abb. 4.16; [77]). Zur Zeit wird mit einer randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie an unserer
In der nichtmedizinischen Öffentlichkeit ist Botulinumtoxin vornehmlich im plastisch-ästhetischen Gesichtsbereich bekannt. Die Zeichen des Alterns, von Krähenfüssen über Zornes- bis Sorgenfalten, lassen sich temporär effektiv durch Injektionen in die periokuläre, frontale und periorale Muskulatur sowie in das Platysma korrigieren (⊡ Abb. 4.17a,b). Zu bedenken ist allerdings, dass hierbei gesunde Menschen behandelt werden, die, im Vergleich zu stigmatisierten Patienten, in der Erwartung eines ästhetisch perfekten Individuums, mit Nebenwirkungen möglicherweise schlechter umgehen können, so dass eine detaillierte Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen besonders wichtig ist.
4.10
Off-label-use-Problematik
Wichtig
Botulinumtoxin A ist den HNO-Bereich betreffend vom Bundesgesundheitsamt für 4 Indikationen zugelassen: für den essentiellen Blepharospamus, den Spasmus facialis, die zervikale Dystonie und neuerdings auch für die fokale Hyperhidrose.
Viele andere Erkrankungen werden allerdings weltweit sehr erfolgreich mit Botulinumtoxin behandelt. Für einige von ihnen bestehen in anderen europäischen Ländern Zulassungen. Zunehmend problematisch wird die Anwendung für die nicht zugelassenen Indikationen, den sog. Off label use. Mit Hinweis auf nicht bestehende Zulassungen ist in der letzten Zeit die Kostenerstattungsfähigkeit durch die gesetzliche Krankenversicherung bezweifelt worden. Teilweise kam es in erheblichem Ausmaß zu Regressanforderung an einzelne Ärzte.
74
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
4
a
b ⊡ Abb. 4.17a,b. Einsatz von Botulinumtoxin zur Glättung von Platysmafalten. a Deutlich sichtbare Faltenbildung.
b Deutliche Glättung nach multiloculärer Injektion von Botulinumtoxin A
Allerdings dürfen den Versicherten keine unverzichtbaren und erwiesenermaßen wirksamen Therapien vorenthalten bleiben, wodurch ausnahmsweise eine Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht kommen soll.Die Diskussion über die Verwendung des Toxins bei den Off-label-Indikationen ist noch nicht abgeschlossen. Die Konsequenz einer Nichterstattung durch die Krankenkassen würde für viele Patienten bedeuten, eine effektive Behandlung nicht erfahren zu können.
Literatur
Fazit Botulinumtoxin wirkt als sehr effektives, nebenwirkungsarmes und nach Beachtung einiger Aspekte gut anzuwendendes Therapeutikum bei muskulären Dysfunktionen und Störungen im autonomen Nervensystem. Neuere Indikationen, wie die Behandlung der Hypersalivation, der nasalen Hypersekretion sowie von Spannungskopfschmerzen und Migräne, gilt es weiter zu untersuchen.
1. Kerner J (1817) Vergiftung durch verdorbene Würste. Tübinger Blätter für Naturwissenschaften und Arzneykunde 3: 1–25 2. Kerner J (1822) Das Fettgift oder die Fettsäure und ihre Wirkungen auf den thierischen Organismus, ein Beytrag zur Untersuchung des in verdorbenen Würsten giftig wirkenden Stoffes. Cotta Stuttgart, Tübingen 3. Van Ermengem EP (1897) Über einen neuen anaeroben Bacillus und seine Beziehung zum Botulismus. Z Hyg Infektionskrankh 26: 1–56 4. Scott AB (1979) An alternative to strabismus surgery. Transactions of the 4th Int Orthoptic Congress, Bern 24–25 5. Scott AB, Rosenbaum A, Collins CC (1973) Pharmacological weakening of extraocular muscles. Invest Ophthalmol 12: 924–927 6. Neale EA, Bowers LM, Jia M, Bateman KE, Williamson LC (1999) Botulinum neurotoxin A blocks synaptic vesicle exocytosis but not endocytosis at the nerve terminal. J Cell Biol 147: 1249–1260 7. Osen Sand A, Staple JK, Naldi E, Schiavo G, Rossetto O, Petitpierre S, Malgaroli A, Montecucco C, Catsicas S (1996) Common and distinct fusion proteins in axonal growth and transmitter release. J Comp Neurol 367: 222–234 8. Naumann M, Jost WH, Toyka KV (1999) Botulinum toxin in the treatment of neurological disorders of the autonomic nervous system. Arch Neurol 56: 914–916
75 Literatur
9. Laskawi R (1998) Die therapeutische Anwendung von Botulinum-Toxin im Hals-Nasen-Ohren-Bereich. Teil 1: Die Behandlung von Bewegungsstörungen der mimischen Muskulatur. HNO 46: 281–287 10. Hallett M, Glocker F, Deutschl G (1994) Mechanism of action of botulinum toxin. Ann Neurol 36: 449–450 11. Lang DJ, Brin MF, Warner CL, Fahn S, Lovelace RE (1987) Distant effects of local injections of botulinum toxin. Muscle Nerve 10: 552–555 12. Olney RK, Aminoff MJ, Gelb DJ, Lowenstein DH (1988) Neuromuscular effects distant from the site of botulinum neurotoxin injection. Neurology 38: 1780–1783 13. Wiegand H, Erdmann G, Wellhoner HH (1976). 125 Labelled botulinum A neurotoxin: pharmacokinetics in cats after intramuscular injection. Naunyn-Schmiedebergs Arch Pharmacol 292: 161–165 14. Garner CG, Straube A, Witt TN, Gasser T, Oertel WH (1993) Time course of distant effects of local injections of botulinum toxin. Mov Disord 8: 33–37 15. Simpson LL (1989) Peripheral actions of the botulinum neurotoxins. Botulinum Neurotoxin and Tetanus Toxin. San Diego, CA: Academic Press 153–178 16. Pamphlett R (1989) Early terminal and nodal sprouting of motor axons after botulinum toxin. J Neurol Sci 92: 181–192 17. Holland RL, Brown MC (1981) Nerve growth in botulinum toxin poisoned muscles. Neuroscience 6: 1167–1179 18. Duchen LW, Strich T (1968) The effects of botulinum toxin on the pattern of innervation of skeletal muscle in the mouse. QJ Exp Physio 53: 84–89 19. Laskawi R, Ellies M, Drobik C, Bätz A (1994) Botulinum toxin treatment in patients with hemifacial spasm. Eur Arch Otorhinolaryngol 251: 271–274 20. Laskawi R (1997) Combination of hypoglossal-facial nerve anastomosis and botulinum toxin injections to optimize mimic rehabilitation after removal of acoustic neurinoma. Plast Reconstr Surg 99: 1006–1011 21. Kessler K, Skutta M, Benecke R (1999) Long-term treatment of cervical dystonia with botulinum toxin A. Efficacy, safety, and antibody frequency. J Neurol 246: 265–274 22. Duane C, Clark M, LaPointe L, Case JLMD (1995) Botulinum toxin A antibodies in initial and delayed restistance to botulinum toxin A therapy in cervical dystonia. Mov Disord 10: 394 23. Hanna P, Jankovic J (1998) Mouse bioassay versus Western blot assay for botulinum toxin antibodies. Neurology 50: 1624–1629 24. Birklein F, Erbguth M (2000) Sudomotor or sweating test for Bt antibodies. Mov Disord 15: 146–147 25. Alderson K, Holds JB, Anderson RL (1991) Botulinuminduced alterations of nerve-muscle interactions in the human orbicularis oculi following treatment for blepharospasm. Neurology 41: 1800–1805 26. Meyer KF, Eddie B (1951) Perspectives concerning botulism. Z Hyg Infektionskrankh 133: 255–263 27. Schantz EJ, Sugiyama H (1974) Toxic proteins produced by Clostridium botulinum. J Agr Food Chem 22: 26–30
4
28. Tsui JKC, O´Brien CF (1994) Clinical trials for spasticity. In: Janacivic J (ed) Therapy with Botulinum Toxin. Marcel Dekker Inc, New York 523–533 29. Wohlfahrt K, Göschel H, Frevert J, Dangler R, Bigalke H (1997) Botulinum toxin A toxins: units versus units. Naunyn-Schmiedebergs. Arch Pharmacol 335: 335–340 30. Elston J (1993) In: Current therapy in neurologic disease. Mosby Year Book, 276–281 31. Marchese Ragona R, Blotta P, Pastore A, Tugnoli V, Eleopra R, De Grandis D (1999) Management of parotid sialocele with botulinum toxin. Laryngoscope 109: 1344–1346 32. Brin MF (2003) Fundamentals of dystonia. In: Moore P, Naumann M (eds) Handbook of Botulinum Toxin Treatment. 2nd edn, Blackwell Science, Massachusetts, pp. 101–118 33. Nutt JG, Muenter MD, Aronson A, Kurland LT, Melton LJ III (1988) Epidemiology of focal and generalized dystonia in Rochester. Minnesota Mov Disord 3: 188–194 34. Fahn S, Marden CD, Calne DB (1987) Classification and investigation of dystonia. In: Marsden CD, Fahn S (eds) Movement Disorders 2nd edn, Butterworths, London, pp 332–358 35. Marsden CD, Obeso JA, Zarranz JJ, Lang AE (1985) The anatomical basis of symptomatic hemidystonia. Brain 108: 463–483 36. Laskawi R, Roggenkämper P (2004) Botulinumtoxin-Therapie im Kopf-Hals-Bereich, 2. Aufl. Urban & Vogel, München 37. Brin MF, Danisi F, Blitzer A (2003). Blepharospasm, oromandibular dystonia, Meige’s syndrome and hemifacial spasm. In: Moore P, Naumann M (eds) Handbook of Botulinum Toxin Treatment, 2nd edn. Blackwell Science, Massachusetts, pp 119–141 38. Boghen DR, Lesser RL (2000) Blepharospasm and hemifacial spasm. Curr Treat Options Neurol 2: 393–400 39. Fahn S (1988) Blepharospasmus: a form of focal dystonia. Adv Neurol 49: 125–133 40. Ceballos-Baumann AO (1996) Dystonien. In: Conrad B, Ceballos-Baumann AO (Hrsg) Bewegungsstörungen in der Neurologie. Thieme, Stuttgart 41. Laskawi R, Roggenkämper P (1999) Die Behandlung von Synkinesien mit Botulinum-Toxin. In: BotulinumtoxinTherapie im Kopf-Hals-Bereich. Urban und Vogel, München, S 82–84 42. Jannetta PJ, Abbasy M, Maroon JC, Ramos FM, Albin MS (1977) Etiology and definitive microsurgical treatment of hemifacial spasm. J Neurosurg 47: 321–328 43. Roggenkämper P, Nüssgens Z (1997) Frontalis suspension in the treatment of essentiell blepharospasm unresponsive to botulinum toxin therapy: Long term results. Graefe’s Arch Clin Exp Ophthalmol 235: 486–489 44. Laskawi R (2000) Botulinum-Toxin in der Behandlung von Innervationsstörungen der Hirnnerven – Eine Bestandsaufnahme. Laryngo-Rhino-Otol 79: 675–676 45. Brin MF (1992) Advances in dystonia: genetics and treatment with botulinum toxin. In: Smith B, Adelman (eds) Neuroscience Year, Supplement to the Encyclopedia of Neuroscience. Birkhauser, Boston pp 56–58
76
4
Kapitel 4 · Die Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde
46. Laskawi R, Rohrbach S (2001) Oromandibuläre Dystonien. Laryngo-Rhino-Otol 80: 708–713 47. McKenna JA, Dedo HH (1992) Cricopharyngeal myotomy. Indications and technique. Ann Otol Rhinol Laryngol 101: 216–221 48. Blitzer A (1997) Cricopharyngeal muscle spasm and dysphagia. Op Tech Otolaryngol Head Neck Surg 116: 328– 329 49. Pototschnig W, Thumfart WF (1999) Die Behandlung von Schluckstörungen. In: Laskawi R, Roggenkämper P (Hrsg) Botulinum-Toxin-Therapie im Kopf-Hals-Bereich. Urban & Vogel, München, S. 156–170 50. Stacy M (2000) Idiopathic cervical dystonia: an overview. Neurology 55: 2–8 51. Kessler KR, Skutta M, Benecke R (1999) Long-term treatment of cervical dystonia with botulinum toxin A. Efficacy, safety and antibody frequency. J Neurol 246: 265– 274 52. Factor SA, Podskalny GD, Molho ES (1995) Psychogenic movement disorders. Frequency, clinical profile and characteristics. J Neurol Neurosurg Psychiatry 59: 406–412 53. Wissel J, Müller J, Ebersbach G, Poewe W (1999) Trick manoeuvres in cervical dystonia: investigation of movement- and touch-related changes in polymyographic activity. Mov. Disord 14: 994–999 54. Brookes GB. Laryngeal dystonia. In: Moore P (ed) Botulinum toxin treatment. Blackwell, Oxford, pp 181–205 55. Blitzer A, Brin MF, Stewart CF (1998) Botulinum toxin management of spasmodic dysphonia (laryngeal dystonia): a 12-year experience in more than 900 patients. Laryngoscope 108: 1435–1441 56. Sulica L, Verheyden J, Blitzer A (2003) The larynx and pharynx In: Moore P, Naumann M (eds) Handbook of Botulinum Toxin Treatment, 2nd edn. Blackwell Science, Massachusetts, pp 142–157 57. Murry T, Woodson GE (1995) Combined-modality treatment of adductor spasmodic dysphonia with botulinum toxin and voice therapy. J Voice 9: 460–465 58. Nasri S, Sercarz JA, McAlpin T, Berke GS (1995)Treatment of vocal fold granuloma using botulinum toxin type A. Laryngoscope 105: 585–588 59. Orloff LA, Goldman SN (1999) Vocal fold granuloma:successful treatment with botulinum toxin. Otolaryngol Head Neck Surg 121: 410–413 60. Nathan CO, Yin S, Stucker FJ (1999) Botulinum toxin: adjunctive treatment for posterior glottic synechiae. Laryngoscope 109: 855–857 61. Pototsching C, Thumfart F (1999). Behandlung des beidseitigen Stimmlippenstillstandes. In: Laskawi R, Roggenkämper P (Hrsg) Botulinumtoxin-Therapie im Kopf-HalsBereich. Urban & Vogel, München 62. Drobik C, Laskawi R (1994) Fey-Syndrom: Behandlung mit Botulinum-Toxin. HNO Aktuell 2: 142–144
63. Drobik C, Laskawi R (1995) Frey’s syndrome: treatment with botulinum toxin. Acta Otolaryngol 115: 459–461 64. Laskawi R, Rohrbach S (2001) Teatment of gustatory sweating with botulinum toxin: Special aspects. ORL 63: 294–297 65. Laskawi R, Rohrbach S (2002) Frey`s syndrome. Treatment with botulinum toxin. In: Kreyden OP, Böni R, Burg G (eds) Hyperhidrosis and botulinum toxin in dermatology. Curr Probl Dermatol. Karger, Basel, pp 170–177 66. Laskawi R, Drobik C, Schönbeck C (1998) Up-to-date report of botulinum toxin type A treatment in patients with gustatory sweating (Frey`s syndrome). Laryngoscope 108: 381–384 67. Ellies M, Laskawi R, Rohrbach-Volland S, Arglebe C, Beuche W (2002) Botulinum toxin to reduce saliva flow: Selected indications for ultrasound-guided toxin application into salivary glands. Laryngoscope 112: 82–86 68. Ellies M, Laskawi R, Götz W, Arglebe C, Tormählen G (1999) Immunhistochemical and morphometric investigations of the influence of botulinum toxin on the submandibular gland of the rat. Eur Arch Otorhinolaryngol 256: 148–152 69. Kinkelin I, Hund M, Naumann M, Hamm H (2000) Effective treatment of frontal hyperhidrosis with botulinum toxin. Br J Dermatol 143: 824–827 70. Böger A, Herath H, Rompel R, Ferbert A (2000) Botulinum toxin for treatment of craniofacial hyperhidrosis. J Neurol 415: 857–861 71. Rosales RL, Arimura K, Takenaga S, Osame M (1996) Extrafusal and intrafusal effects in experimental botulinum toxin A injections. Muscle Nerve 19: 488–496 72. Giladi N (1997) The mechanism of action of botulinum toxin type A in focal dystonia is most probably through its dual effect on efferent (motor) and afferent pathways at the injected site. J Neurol Sci 152: 132–135 73. Nurmikko TJ (2003) Managment of pain with botulinum toxin. In: Moore P, Naumann M (eds) Handbook of Botulinum Toxin Treatment, 2nd edn. Blackwell Science, Massachusetts pp 404–421 74. Rohrbach S, Olthoff A, Laskawi R, Götz W (2002) Neuronal nitric oxide synthase- immunoreactivity – A neuromodulating system independent of peripheral nasal gland denervation in guinea pig nasal mucosal tissue after treatment with botulinum toxin type A. ORL 64(5): 330–334 75. Kim K-S, Kim S-S, Yoon J-H, Han JW (1998) The effect of botulinum toxin type A injection for intrinsic rhinitis. J Laryngol Otol 112: 248–251 76. Rohrbach S, Olthoff A, Laskawi R, Giefer B, Götz W (2001) Botulinum toxin type A induces apoptosis in nasal glands of guinea pigs. Ann Otol Laryngol 110: 1045–1050 77. Rohrbach S, Laskawi R (2001) Minimally invasive application of botulinum toxin type A in nasal hypersecretion. ORL 63: 382–384
5 Der vertebragene Schwindel M. Hülse
5.1
Einleitung – 78
5.2
Anatomie
5.3
Pathophysiologie
5.4
Anamnese
– 78 – 80
– 81
5.4.1 Subjektive Schwindelsymptomatik – 81 Drehgefühl – 81 Asystemischer Schwindel – 82 Fluktuierende Intensität des Schwindels – 82
5.5
Untersuchungsmethoden
– 82
5.5.1 Allgemeine neurootologische Untersuchung – 82 5.5.2 Orientierende manuelle Untersuchung – 83 Obere Halswirbelsäule – 83 Kiefergelenke – 83 5.5.3 Die vestibulospinalen Reaktionen – 85 Hüftabduktion (Priener-Abduktionstest) – 86 Zwei-Waagen-Test – 86 Einbeinstand – 86 Posturographie – 86 Kraniokorporographie (CCG) – 86 5.5.4 Untersuchung des Gleichgewichts – 88 Zervikalnystagmus – 88 Periphere und zervikogene Gleichgewichtsstörung – 94
5.6
Therapie Fazit
– 95
– 95
Literatur
– 96
5
78
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
5.1
Einleitung
Etwa 10% aller Patienten des Allgemeinarztes und 10-20% aller Patienten in einer neurologischenoder HNO-Praxis führen »Schwindelbeschwerden« als Leitsymptom an [35]. Bei über 50-Jährigen ist der Schwindel das häufigst geklagte Symptom in einer Allgemeinarztpraxis. Etwa ein Drittel aller Schwindelbeschwerden haben eine Erkrankung des peripher-vestibulären Apparates als Ursache [50], am häufigsten eine Canalolithiasis. Der Anteil des psychogen verursachten Schwindels wird von Eckardt-Henn auf 30–50% geschätzt [35]. In den Leitlinien »Schwindel« der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie werden neben der Canalolithiasis als weitere peripher-vestibuläre Erkrankungen mit Schwindelbeschwerden »ohne Hörstörung« der akute Vestibularisausfall (Neuropathia vestibularis), die Dekompensation eines alten Vestibularisausfalls und die »zentral-vestibuläre Störung« erwähnt.
dische Erkrankung mit dem Leitsymptom Schwindel gebe und dass die Diagnose eines zervikogenen Schwindels eine Verlegenheitsdiagnose sei.Ähnlich schreiben Arnold und Ganzer [5] abschließend in ihrem Abschnitt über den zervikalen Schwindel: »Die zervikalen Afferenzen sind im vestibulären Kerngebiet sehr schlecht repräsentiert, so dass eine Störung leicht von anderen Systemen kompensiert werden kann.« Dies bedeutet, dass anhaltende zervikogene Schwindelbeschwerden nicht angenommen werden dürfen. Dieser Einschätzung widerspricht jedoch die tägliche, praktische Erfahrung. Wichtig
Unter vertebragenem Schwindel wird ein Schwindel verstanden, der durch eine Störung im Propriozeptorenbereich der tiefen Nackenmuskulatur und der Kopfgelenke ausgelöst wird. Eine solche Störung wird durch ein funktionelles Defizit in der oberen Halswirbelsäule hervorgerufen.
Wichtig
Ist die Schwindelsymptomatik mit einer Hörstörung verbunden, muss an einen M. Menière, einen »Hörsturz mit vestibulärer Beteiligung«, eine Labyrinthreizung, eine Contusio labyrinthi, ein Cholesteatom oder an eine Otitis media gedacht werden.
Der vertebragene oder zervikogene Schwindel bezeichnet also keine Schwindelbeschwerden, die auf eine Durchblutungsstörung im Bereich der A. vertebralis oder der A. basilaris zurückgeführt werden.
5.2 Bei den retrocochleären Schwerhörigkeiten sind Kleinhirnbrückenwinkelprozesse oder zentrale Erkrankungen, wie z.B. die multiple Sklerose, auszuschließen. Alle diese aufgeführten Schwindelerkrankungen sind durch einen pathologischen Nystagmus objektivierbar. Der »zervikale Schwindel« wird in den Leitlinien 2-mal angeführt: ▬ unter »pathologischer Nystagmus ohne Hörstörung«und ▬ unter »keine pathologischen Nystagmen bei cochleovestibulärem Normalbefund«. Trotzdem ist die Existenz einer solchen Schwindelsymptomatik auch heute noch sehr umstritten. Brandt [35] führt aus, dass es keine orthopä-
Anatomie
Wegen der Beweglichkeit des Halses ist die Kopfstellung nicht immer identisch mit der Körperstellung, so dass die Lage des Individuums im Raum nur durch die kombinierte Verrechnung von vestibulären (Kopfstellung und -bewegung) und propriozeptiven Impulsen aus den Halsrezeptoren (Kopf-zu-Rumpfstellung) erfasst werden kann. Die Koordination von Kopf-,Augen- und Körpermotorik erfordert also die »Verrechnung« labyrinthärer, visueller und propriozeptiver Impulse. Um einem bewegten Objekt mit dem Blick folgen oder etwas gezielt greifen zu können, muss in die motorischen Kommandos an die beteiligten Muskeln stets auch die Information über die Kopf-zu-Körperstellung eingehen.
79 5.2 · Anatomie
5
Subokzipitale Muskeln, vor allem die tiefen Nackenmuskeln im Kopfgelenksbereich, weisen eine hohe Dichte an Muskelspindeln auf. Insbesondere bei langsamen Kopfbewegungen sind sie dem Vestibularapparat bei der Detektion von Kopfbewegungen und -stellungen überlegen [52]. Für die »Berechnung« der Kopf-zu-Rumpf-Stellung sind sie von fundamentaler Bedeutung. Hierbei spielen die muskulären Propriosensoren, insbesondere die Muskelspindeln, und weniger die Gelenksensoren, die eher auf endgradige Bewegungen, v.a. im schmerzhaften Bereich ansprechen,die wesentliche Rolle (⊡ Abb. 5.1). Direktes Zielgebiet dieser afferenten Informationen im Rückenmark ist der Ncl. cervicalis centralis,
Motoneurone für Halsmuskeln sowie propriospinale Neurone, die zum unteren Zervikal- und Lumbalmark projizieren [42]. Aufsteigend erreichen propriozeptive Afferenzen direkt den Ncl. cuneatus externus (Relaiskern zum Cerebellum), die Vestibulariskerne, den Ncl. praepositus hypoglossi sowie den ventralen Cochleariskern.Alle direkten Projektionen sind ipsilateral.Der Ncl.cervicalis centralis ist aber auch Ausgangspunkt für eine kontralaterale Projektion zum Kleinhirn und zu den Vestibulariskernen, so dass zervikale propriozeptive Afferenzen auch indirekt den kontralateralen Vestibulariskernkomplex erreichen. Von zentraler Bedeutung für den Kopfgelenksbereich sind die Afferenzen des Spinalnervs C2 (⊡ Abb. 5.2; [42]). Im Kopf-Hals-Übergangsbereich treffen die Innervationsgebiete von Hirn- und Spinalnerven zusammen. Die Kinn-Ohr-Scheitellinie trennt das Trigeminusareal von jenem des N.occipitalis major (dorsaler Ast aus C2) und der Hautäste des Plexus cervicalis (C2 – C4). Da der 1. Spinalnerv über keinen oder nur einen sehr kleinen sensorischen
⊡ Abb. 5.1. Schema der Verteilung propriozeptiver Afferenzen des Spinalnervs C2 im Zentralnervensystem. Direkte Zielgebiete im Rückenmark sind der Ncl. cervicalis centralis (CCN), die Motoneurone für Halsmuskeln sowie propriospinale Neurone, die zum unteren Zervikal- und Lumbalmark
projizieren. Aufsteigend erreichen die propriozeptiven Afferenzen direkt den Ncl. cuneatus externus (ECN, Relaiskern zum Kleinhirn), die Vestibulariskerne (VEST), den Ncl. praepositus hypoglossi (PH) sowie den ventralen Cochleariskern (COCH). (Aus [42]: Abb. 5)
Wichtig
Den Propriorezeptoren im Kopfgelenksbereich kommt bei der Koordination von Kopf- und Augenbewegungen sowie bei der Kontrolle der Körper- und Extremitätenstellung eine Schlüsselrolle zu [43].
80
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
⊡ Abb. 5.2. Afferenzen zum Spinalnerv C2
5 Anteil verfügt, gelangen Afferenzen aus diesem Bereich in das Spinalganglion C2. Generell werden Wirbelgelenke von ihren 2 benachbarten Spinalnerven mitversorgt, so dass zum posterioren Spinalnerven C2 Afferenzen aus den Gelenken Occiput/C1 und auch C2/C3 gelangen. Ferner ziehen afferente Fasern aus Muskelspindeln der Zunge und des M. geniohyoideus über die Ansa cervicalis profunda in die posterioren Wurzeln von C2 und C3. Ebenso ist eine afferente Verbindung vom Kiefergelenk zu C2 nachgewiesen worden.
5.3
Pathophysiologie
Jede Muskelverspannung im Bereich der tiefen Nackenmuskulatur kann zu einer Irritation im Propriorezeptorensystem führen.Eine solche Myogelose ist aber nicht isoliert zu sehen, vielmehr ist regelmäßig das gesamte Segment, das sog Arthron, betroffen. Das Arthron als kybernetische Einheit umfasst Gelenk, Muskulatur und Innervation sowie die vegetative Innervation des Segmentes. Eine Störung in einem Arthron wird als »funktionelles Defizit« bezeichnet, die Manualtherapeuten gebrauchen noch häufig den alten Ausdruck der »Blockierung« [48]. Eine Bewegungshemmung im Gelenk hat stets eine Änderung der Aktivität der sensiblen und motorischen Nerven und eine Änderung des Muskeltonus und damit der Arbeitsfähigkeit der Muskulatur des Segmentes zur Folge; eine primäre Muskelstörung bedingt immer eine Beweglichkeitsstörung im Gelenk. Ein solches funktionelles Defizit ist in der Regel voll reversibel und hat kein pathomorphologisches Substrat. Als Folgen einer Blockierung sind denkbar
▬ eine Beeinträchtigung der rezeptoriellen Leistungsfähigkeit und/oder ▬ eine blockierungsbedingte Seitendifferenz des Rezeptoren-Informationsstromes Für den Kopfgelenksbereich bedeutet dies,dass ein Hypertonus der tiefen Nackenmuskulatur als Folge der Blockierung zu einer Irritation der Propriozeptoren in diesen Muskeln führt. Daraus resultiert eine Änderung des Afferenzeinstroms zum Rückenmark und zum Hirnstamm. Das gesamte Störungsbild bei einer funktionellen Kopfgelenksstörung (Cephalgie, Ohrmissempfindung, Schwindelbeschwerden) lässt sich als eine »vertebragene Afferentationsstörung« auffassen [27]. Eine solche vertebragene Afferentationsstörung führt zu einer Unausgewogenheit des direkten propriozeptiven Einstroms zum Vestibulariskernkomplex aus den Halsmuskeln oder zu einem vermehrtem Durchdringen nicht-propriozeptiver Afferenzen (störendes »Rauschen«; [43]) aus dem Bewegungsapparat des Halses zu den Vestibulariskernen. Ein solches »Rauschen« könnte ebenfalls eine Afferentationsstörung bewirken, vergleichbar dem Phänomen einer Hyperalgesie. Die Komplexität des Gleichgewichtssystems besonders unter Berücksichtigung der Afferenzen aus dem Kopfgelenksbereich erklärt die vielseitige, subjektive Störung, die als »Schwindel« vom Patienten geklagt wird. Eine einseitige Irritation der Rezeptoren im Kopfgelenksbereich, wie sie bei einem Muskelhypertonus bei Kopfgelenksblockierung vorliegt, wird z. B. der vestibulären Verrechnungsstelle signalisieren, dass der Kopf zum Rumpf nach rechts rotiert ist – eine Information die den anderen Wahrnehmungen vom Auge aber auch von den Re-
5
81 5.4 · Anamnese
Wichtig
Schwindel ist definiert als eine subjektive, kortikale Missempfindung mit Verbindung zum limbischen System. Sie ergibt sich aus einem Missverhältnis zwischen den Afferenzmustern der verschiedenen in die Gleichgewichtsregulation eingehenden Sinnessysteme einerseits und der sensorischen Erwartung andererseits.
zeptoren aus den unteren Extremitäten widerspricht. Über den zerviko-okulären Reflex wird aber auch das Auge beeinflusst [40, 55]: Die subjektiv empfundene visuelle Vertikale wird bei geradem Kopf allein durch einseitige elektrische Stimulation der Nackenmuskulatur abgelenkt.
5.4
Anamnese
Fast 40% der Patienten können weder den exakten Zeitpunkt noch ein bestimmtes Ereignis für den Beginn der Beschwerden angeben. Dieser hohe Prozentsatz ist deshalb von Bedeutung, da er erkennen lässt, dass an ein Zervikalsyndrom nicht nur nach einem Unfall gedacht werden darf. Ein Unfall als auslösende Ursache wurde nur in 38% der Fälle angegeben [27]. Diese Zahl zeigt, dass nicht immer ein »desiderium rentis’« eine chronische Schwindelsymptomatik erklärt. Selbst bei einer reinen Psychogenität wird häufiger, schon um das Kausalitätsbedürfnis zu befriedigen, ein ursächliches Ereignis angeführt. Die Bedeutung der Anamnese als wesentlicher Schritt zur Diagnose ist unbestritten. Die Unsicherheit einer Angabe über den Beginn der Beschwerden zeigt jedoch, dass es eine für den vertebragenen Schwindel pathognomonische Anamnese nicht gibt. Bemerkenswert war die Angabe bei fünf unserer Patienten,dass erst eine wegen anderer Beschwerden durchgeführte Manualtherapie der Wirbelsäule die Schwindelbeschwerden auslöste.Die häufigste Komplikation bei manualtherapeutischen Eingriffen ist übrigens Schwindel [14], wobei nicht immer an eine Irritation der A. vertebralis gedacht werden darf. In einigen Fällen wird über einen vertebragenen Schwindel erstmals nach einer klassischen Bindegewebsmassage geklagt. Sauer [45] spricht von
einem »Postmassagesyndrom«, das nicht selten mit einer Latenz von 2–5 Tagen nach einer Massage des Nackens auftritt. Foye et al. [16] berichten über Schwindelbeschwerden, die allein durch die Hyperextension des Halses beim Haarwaschen in einem Frisiersalon auftraten. Auch die Traktion und Überstreckung des Halses bei der Intubation kann zu Kopfschmerzen und Schwindel führen [18]. Solche Einzelbeobachtungen dokumentieren wiederum, dass eine funktionelle Kopfgelenksstörung eine klinisch relevante subjektive und objektive Gleichgewichtssymptomatik hervorrufen kann.
5.4.1 Subjektive
Schwindelsymptomatik In ⊡ Tabelle 5.1 sind häufige subjektive Symptome bei Schwindel zusammengefasst.
Drehgefühl Eine vestibuläre Läsion oder eine Labyrinthreizung (z.B. kalorisch oder rotatorisch) verursacht einen klaren, deutlichen Drehschwindel. Der Betroffene hat das Gefühl, als ob er sich selbst oder sich die Umgebung um ihn dreht. Der Patient kann, wenn
⊡ Tabelle 5.1. Subjektive Symptomatik bei Schwindel Anamnestische Angabe
Häufigkeit [%]
Drehschwindel (Drehrichtung kann in der Regel nicht angegeben werden)
36
Schwankschwindel
32
Unsicherheitsgefühl, Taumeligkeit
32
Abweichtendenz beim Laufen, Stolpern, Fallneigung
10
Gehen auf Watte, »Schweben«, der Boden gibt nach
8
Benommenheitsgefühl, Leere bzw. »Schwabbern« im Kopf
4
Übelkeit, flaues Gefühl
4
82
5
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
es sich nicht um einen Sekundenschwindel handelt, angeben, in welche Richtung sich die Umgebung dreht: So wird z.B. bei einem Nystagmus nach rechts ein Drehen der Umgebung nach rechts empfunden. Auch bei dem optokinetischen Nystagmus wird eine Bewegung empfunden. Im Gegensatz zu dem vestibulären und okulären Schwindel ist bei einer Irritation im propriozeptiven System eine Scheinbewegung nicht zu empfinden.Und dennoch geben ca. ein Drittel aller Patienten mit einem vertebragenen Schwindel einen »Drehschwindel« an. Typisch ist bei diesen Patienten jedoch, dass, im Gegensatz zu den Patienten mit einer vestibulären Störung oder mit einem okulären Schwindel, die Drehrichtung fast nie angegeben werden kann. Vielmehr klagt der Patient, dass es sich »im Kopf drehe«. Bei diesen Patienten findet man unter der Frenzelbrille oft keinen Spontannystagmus,obwohl bei der Untersuchung ein Drehschwindel angegeben wird. Auffällig häufig findet sich bei Patienten nach einer HWS-Distorsion in den ersten Tagen die Angabe eines Drehschwindels. Innerhalb von Wochen oder Monaten wandelt sich das Bild des Schwindels und geht in einen anhaltenden asystemischen Schwindel – meist Schwankschwindel, Trunkenheitsgefühl – über. Es ist aber sicher nicht korrekt, wenn behauptet wird, dass bei einem reinen zervikalen Schwindel ein »echter Drehschwindel« nicht auftreten kann [53].
Asystemischer Schwindel In zwei Drittel der Fälle wird ein eher asystemischer Schwindel angegeben. Im Vordergrund stehen die Schilderungen eines »Unsicherheitsgefühls«,»Trunkenheitsgefühls«, »Schwankschwindels« und »Taumeligkeitsgefühls«. In einigen Fällen kann nicht sicher entschieden werden, ob der Patient mit einem vertebragenen Kopfschmerz diesen als Schwindel angibt, da er sich durch die starken Hinterkopfschmerzen verunsichert fühlt.
Fluktuierende Intensität des Schwindels Sehr häufig findet sich die Angabe des Patienten, dass das subjektive Schwindelgefühl morgens stärker als mittags und abends empfunden wird und durch plötzliche Kopf- und Körperbewegungen ausgelöst oder verstärkt wird.Charakteristisch ist auch eine Verstärkung des Schwindels beim Treppen-
heruntersteigen und beim Aufrichten aus der Bückhaltung (Kopfanteflexion und -retroflexion). Die Erschütterungen während längerer Autofahrten führen ebenfalls zu einer Schwindelverstärkung. Besonders wenn keine neurologischen Ursachen für den Schwindel gefunden werden, ist die Angabe eines Kopfschmerzes – meist einseitig betont, eher nuchal oder okzipital – fast pathognomonisch für einen zervikalen Schwindel. Da das Schwindelgefühl oft im Vordergrund steht, wird nicht selten eine Cephalgie nicht spontan angegeben,weshalb immer danach gefragt werden muss. Der Kopfschmerz ist häufig auch ein erstes Symptom und der subjektive Schwindel wird erst bei einer Intensivierung des Kopfschmerzes empfunden. Wichtig
Während der zervikale Schwindel sehr häufig von einer Cephalgie begleitet wird, ist bei allen peripher-vestibulären Erkrankungen eine Schmerzsymptomatik atypisch.
Hörstörungen werden wegen ihrer Geringfügigkeit vom Patienten oft nicht bemerkt. Häufiger wird über eine Missempfindung, wie Wattegefühl im Ohr, Ohrdruckgefühl oder Otalgie geklagt. Zusammenfassend muss der Aussage von Hamann [19] widersprochen werden, dass es zumindest bei der subjektiven Beschwerdeschilderung für einen »zervikalen Schwindel« eine »typische« Anamnese nicht gebe.
5.5
Untersuchungsmethoden
5.5.1 Allgemeine neurootologische
Untersuchung Nach Erhebung des HNO-Inspektionsbefundes erfolgt die Höruntersuchung mit Hörschwellenaudiogramm, Stapediusreflexaudiometrie und möglichst mit Hirnstammaudiometrie. Es folgt die Untersuchung auf Blickrichtungs- und Spontannystagmus, anschließend die Untersuchung mit der Frenzelbrille. Nach der Prüfung auf Kopfschüttelnystagmus wird nach einem unter der Frenzelbrille er-
83 5.5 · Untersuchungsmethoden
kennbaren Zervikalnystagmus (CN) gefahndet.Die de Kleijn-Probe lässt bei positivem Ausfall an eine Insuffizienz der A. vertebralis denken. Der Patient muss mit dem ihm bekannten Provokationsmanöver versuchen, einen subjektiven Schwindel auszulösen. In Einzelfällen kann allein durch feste Palpation des gestörten Wirbelgelenkes ein unter der Frenzelbrille erkennbarer Nystagmus, verbunden mit subjektivem Schwindel,provoziert werden. Mit der anschließenden Untersuchung auf dem Lagetisch, einschließlich der Lagerung nach Hallpike, muss eine Canalolithiasis ausgeschlossen werden. Die Canalolithiasis darf nicht mit einem HWS-Syndrom verwechselt werden, besonders da sie mit dem Lagerungsmanöver von Semont [20, 50] so erfolgreich behandelt werden kann.
▬
5.5.2 Orientierende manuelle
Untersuchung
▬
Obere Halswirbelsäule Es folgt die manuelle, etagenweise Untersuchung der Halswirbelsäule unter besonderer Berücksichtigung der Kopfgelenke.Beim vertebragenen Schwindel weist der Manualbefund immer ein funktionelles Defizit in Höhe der Articulationes ▬ atlantooccipitales und/oder ▬ atlantoaxiales und/oder ▬ C2/C3 auf.
▬
▬ Ein vertebragener Schwindel ist ohne einen solchen pathologischen Manualbefund im Kopfgelenksbereich nicht zu diagnostizieren. Die Höhe der Gelenk-Dysfunktionen (Occiput bis C2/C3) lässt erkennen, dass die beim älteren Menschen regelmäßig anzutreffenden degenerativen Veränderungen der unteren Halswirbelsäule,die oft eindrucksvoll im Röntgenbild erkennbar sind, für die Diagnose des vertebragenen Schwindels unerheblich sind. Auch der nicht speziell ausgebildete HNO-Arzt kann mit folgenden Untersuchungen in vielen Fällen bereits eine Störung im HWS-Bereich feststellen: ▬ Untersuchung der Kopfrotation bei aufgerichtetem,vor- und rückgeneigtem Kopf.Besonders bei einer Kopfgelenksstörung ist die Kopfrota-
5
tion in Anteflexion in einer Richtung stärker eingeschränkt. Besonders beim liegenden Patienten auf dem Lagetisch bietet sich die Untersuchung der Halswirbelsäule und der tiefen Nackenmuskulatur an, da beim liegenden Patienten die oberflächliche Halsmuskulatur entspannt ist. Direkt hinter dem aufsteigenden Unterkieferast ist der Altlasquerfortsatz palpabel. Eine Druckschmerzhaftigkeit weist auf Myogelosen der ansetzenden Muskeln hin. In der Mittellinie ist unter der Protuberantia occipitalis der Dornfortsatz von C2 sehr deutlich palpabel.Geht der palpierende Finger von diesem Punkt aus nach lateral über den Muskelwulst des M.semispinalis capitis, tastet er häufig die Gelenkkapsel von C2/3, die sich bei Blockierungen dolent und verquollen darstellt. An der Schädelbasis muss der N. occipitalis major (aus C2) aufgesucht werden. Er ist häufig sehr druckempfindlich. Die oft gestellte Diagnose einer »Occipitalisneuralgie« bei von hier ausstrahlenden Kopfschmerzen ist meist keine Neuralgie, sondern Ausdruck einer Kopfgelenksblockierung. Ist die oberflächliche,kräftige Nackenmuskulatur (M. trapezius, M. splenius capitis, M. semispinalis capitis) entspannt,können dolente Verhärtungen im Bereich der tiefen Nackenmuskulatur leicht getastet werden (⊡ Abb. 5.3). Am liegenden und am sitzenden Patienten muss nach Triggerpunkten vor allem im Bereich des M. trapezius, des M. sternocleiodomastoideus und des Masseters gesucht werden, da von diesen Punkten klinisch relevante Myogelosen unterhalten werden können (z.B. Triggerpunkt im Bereich des M. trapezius am Schulteransatz, der einen Hypertonus im M. pterygoideus lateralis unterhalten kann.)
Kiefergelenke Durch die enge reflektorische Verbindung zwischen Kiefergelenk und Kopfgelenk geht eine funktionelle Störung des einen Bereiches fast regelmäßig mit einer funktionellen Störung auch des anderen Bereiches einher. Dies bedeutet, dass bei einer funktionellen Kopfgelenksstörung immer nach einer
84
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
Galea aponeurotica
Venter occip. m. epicranii
5
Linea nuchae suprema
A. und V. occip.
Protuberantia occip. ext. A. occipitalis A. auricularis post. M. auricularis post. N. occip. major N. occip. tertius M. trapezius M. semisp. capitis M. splenius capitis M. sternocleidomastoideus
Nodus lymph. occip. Nodus lymph. retroauricularis
Lam. superf. fasciae cervicalis, mit Ausnahme der Verdichtungszone erhalten
R. med. des R. dorsalis C4 N. occip. minor
V. cervicalis superf.
N. auricularis magnus
Nodi lymphatici cervicales superf.
(N. cutaneus cervicis) N. accessorius R. med. des Ramus dorsalis C6
R. med. des R. dorsalis C6, Begleitarterie, -nerv und -vene
R. med. des Ramus dorsalis C8
Vertebra prominens
⊡ Abb. 5.3. »Landmarken« im Nackenbereich (Aus [36]: Abb. 139)
kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) und umgekehrt bei einer CMD nach einer funktionellen Kopfgelenksstörung gefahndet werden muss. ▬ Auffälligstes Zeichen einer CMD ist häufig eine »Gesichtsskoliose«:Augenachse und Mundachse verlaufen nicht horizontal und genau parallel sondern konvergieren nach einer Seite; eine Gesichtshälfte erscheint größer als die andere. ▬ Die Mundöffnung erfolgt nicht gleichmäßig und seitengleich.
▬ Im Masseter und im M. pterygoideus medialis sind dolente Myogelosen oder aber auch Triggerpunkte palpabel. ▬ Meersseman-Test: Der Priener-Abduktionstest ( s. unten) lässt eine deutliche Minderung der Hüftabduktion erkennen.Beißt nun der Patient in Höhe der 2. Prämolaren bzw. in Höhe des 1. Molaren auf 2–3 Streifen Papier, so verbessert sich sofort die Hüftabduktion um 20° und mehr (⊡ Abb.5.4; [39, 47]).
85 5.5 · Untersuchungsmethoden
⊡ Abb. 5.4. Meersseman-Test: Der Patient beißt in Höhe der 2. Prämolaren bzw. in Höhe des 1. Molaren auf 2–3 Streifen Papier. Dadurch lässt sich eine geminderte Hüftabduktion um 20° und mehr verbessern
5
untersucht. Beim Neugeborenen können diese Stellreflexe noch regelmäßig nachgewiesen werden (⊡ Abb. 5.5a–c). Bei Kopfrotation werden die Extremitäten der Seite, zu der der Kopf gedreht wird, gestreckt und die Extremitäten der Gegenseite flektiert. Kopfrückneigung führt zu einer Streckung der vorderen Gliedmaßen und zu einer Flexion der Beine. Kopfanteflexion führt zur Flexion in den oberen Extremitäten und zur Streckung in den Beinen (ein Verhalten, das sich jeder Turner beim Handstand automatisch zu Nutze macht).Diese Reflexe werden im Säuglingsalter nicht einfach abgebaut, vielmehr werden diese primitiven Reflexe in die Bewegungsmuster des heranwachsenden Kindes eingebaut [9]. Die Bedeutung der posturalen Nackenreflexe wird deutlich, wenn im Propriorezeptorenbereich der Kopfgelenke eine Störung auftritt. Experimentell wurde dies von Dietrich et al. [11] beschrieben. Wichtig
5.5.3 Die vestibulospinalen
Reaktionen Den Propriorezeptoren im Kopfgelenksbereich kommt bei der Koordination von Kopf- und Augenbewegungen sowie bei der Kontrolle der Körperund Extremitätenstellung eine Schlüsselrolle zu. Die Afferenzen aus dem Propriozeptorensystem sind besonders für die automatischen posturalen Reflexe und weniger für das Bewusstwerden der Kopfbewegung von enormer Bedeutung. Die tonischen Nackenreflexe wurden von Magnus (1924)
a
b
⊡ Abb. 5.5a–c Stellreflexe des Säuglings: a Bei Kopfrotation werden die Extremitäten der Seite, zu der der Kopf gedreht wird gestreckt und die Extremitäten der Gegenseite flektiert. b Kopfrückneigung führt zu einer Streckung der vorderen
Nach Lokalanästhesie der dorsalen Wurzel von C2 (durchgeführt zur Behandlung eines zervikogenen Kopfschmerzes) weichen die Patienten zur anästhesierten Seite ab.
Allum et al. [3] konnten bei ihren Untersuchungen an Patienten mit und ohne Vestibularisstörungen nachweisen,dass die vordere Beinmuskulatur deutlich von einem vestibulospinalen und propriozeptiven »input« beeinflusst wird,während der M.triceps surae vor allem von Rezeptoren aus den Fußgelen-
c
Gliedmaßen und zu einer Flexion der Beine. c Kopfanteflexion führt zur Flexion in den oberen Extremitäten und zur Streckung in den Beinen
86
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
ken und Knien moduliert wird. Zum Nachweis der pathologischen posturalen und vestibulospinalen Reflexe bieten sich eine Vielzahl einfacher Teste an, die im Folgenden beschrieben werden.
blockierung nur 6 beide Beine symmetrisch belasten. Von den übrigen 39 Patienten normalisierte sich der Befund in 28 Fällen nach »Lösung« der Blockierung [38].
Hüftabduktion (Priener-Abduktionstest)
Einbeinstand
Wichtig
5
Bei einer Irritation der Kopfgelenke ist im PrienerAbduktionstest regelmäßig eine Einschränkung der Hüftabduktion erkennbar.
Dieser Test hat sich besonders bei Kindern bewährt,da er spielerisch durchgeführt werden kann. Bei pathologischen Befunden können selbst größere Kinder und auch Erwachsene die Balance kaum 10 s halten.
Posturographie Bei einer Kopfgelenksblockierung kann die Hüftabduktion um bis zu 50° vermindert sein und wird sich nach einer erfolgreichen Manualtherapie sofort vollkommen normalisieren. Dieser Test ist so zuverlässig, dass er zur sofortigen Erfolgskontrolle der Manualtherapie herangezogen werden kann (⊡ Abb. 5.6; [29]).
Bei der Posturographie steht der Patient auf einer Posturographieplatte. Diese Untersuchung bietet den großen Vorteil, dass die Untersuchung mit geradem Kopf, aber auch mit nach rechts bzw. links rotierten Kopf durchgeführt werden kann (⊡ Abb. 5.7a,b; [4, 10, 32, 33]).
Zwei-Waagen-Test
Die CCG ist lediglich eine Registrierung der bekannten Untersuchungen nach Romberg und Unterberger. Dementsprechend führt man eine statische CCG und eine dynamische CCG durch. Bei der statischen CCG (entsprechend dem Romberg-Versuch) werden Kopf- und Schulterbewegungen getrennt aufgezeichnet. Soto Varela et al. [49] sehen in der statischen CCG eine aussagekräftige Methode für die Diagnostik eines verte-
Bei diesem Test stehen die Patienten mit jedem Bein auf je einer Waage. Bei gleichmäßiger Belastung der Beine werden beide Waagen ein gleiches Gewicht anzeigen. Rechts-Links-Differenzen von mehr als 5 kg sind als pathologisch zu werten. Da die Kopfgelenke einen starken Einfluss auf den Tonus der gesamten Rückenmuskulatur haben, konnten von 45 Patienten mit einer Kopfgelenks-
Kraniokorporographie (CCG)
⊡ Abb. 5.6. Priener-Abduktionstest: Hüftabduktionstest nach Patrick-Kubis in der Modifikation von Marx. Bei einer Irritation der Kopfgelenke lässt sich eine Einschränkung der Hüftabduktion um bis zu 50° nachweisen
87 5.5 · Untersuchungsmethoden
5
a
b
⊡ Abb. 5.7a,b. Posturographischer Befund (mit der Posturographieplatte von Tönnies) bei einer 38-jährigen Patienten mit
zervikaler Gleichgewichtsstörung a vor und b nach Manualtherapie
bragenen Schwindels – auch in der Abgrenzung zu einem vestibulären Schwindel. Bei der dynamischen CCG muss der Patient in einem vollkommen dunklen Raum 60 s auf einem Teppichboden barfuß auf der Stelle treten (⊡ Abb. 5.8). Durch die Sensoren auf dem Helm und den Schultern wird jede Bewegung aufgezeichnet. Die Untersuchungsergebnisse sind bei der von Claussen zuerst beschriebenen Aufzeichnung mit einer Polaroid-Kamera sehr gut reproduzierbar. Hülse et al. [28] führten bei 102 Patienten mit einer funk-
tionellen Kopfgelenksstörung die dynamische CCG durch. Der Ausgangsbefund wurde 2-mal aufgezeichnet. Der Körpereigenspin während der einminütigen Untersuchung lag durchschnittlich bei 60°. Nach erfolgter Manualtherapie der Kopfgelenke zeigte sich bei der dynamischen CCG eine hochsignifikante Besserung (Körpereigenspin von 10°). Diese Untersuchung unterstreicht, dass eine pathologische CCG auch mit einem »verbreiterten Lateralschwanken« nur in seltenen Fällen auf eine Hirnstammschädigung zurückgeführt werden kann. Sie wird in den meisten Fällen
⊡ Abb. 5.8. Dynamische Craniocorpographie: 35-jähriger Patient mit zervikaler Gleichgewichtsstörung: Gangabweichung nach links um 76°
88
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
durch eine funktionelle Kopfgelenksstörung verursacht.
5.5.4 Untersuchung
des Gleichgewichts Wichtig
5
Bei der Vestibularisprüfung findet sich selten ein Spontan- oder Blickrichtungsnystagmus. In etwa einem Drittel der Fälle zeigt sich ein Kopfschüttelnystagmus mit 3–5 Schlägen.
Eine peripher-vestibuläre Störung kann durch die experimentelle Gleichgewichtsuntersuchung ausgeschlossen werden (⊡ Abb. 5.9a–f). Wenn kein Spontan- oder Kopfschüttelnystagmus erkennbar ist und sowohl die rotatorische als auch die kalorische Gleichgewichtsuntersuchung unauffällig ausfallen,ist ein Zervikalnystagmus nahezu pathognomonisch für einen »zervikogenen Schwindel« (⊡ Abb. 5.9e). Unterstrichen wird diese Feststellung,wenn der Zervikalnystagmus nach der manualtherapeutischen Behandlung der Kopfgelenksblockierung verschwunden ist (⊡ Abb. 5.9f). Als Ausnahme muss jedoch daran gedacht werden, dass eine alte, aber voll kompensierte periphere Gleichgewichtsstörung mit einer Untererregbarkeit eines peripheren Labyrinthes durch eine funktionelle Kopfgelenksstörung dekompensieren kann. Aber auch in diesem Fall wird die aktuelle Schwindelsymptomatik letztendlich durch die Kopfgelenksstörung ausgelöst und unterhalten.
Zervikalnystagmus Der propriozeptive Zervikalnystagmus (CN) wird auch heute sehr kontrovers diskutiert. Üblicherweise wird der CN untersucht, indem die notwendigen Drehstuhlbewegungen sowie die Fixierung des Kopfes des Patienten manuell durchgeführt werden. Damit sind unter Laborbedingungen reproduzierbare Testbedingungen nicht gegeben. Holtmann et al. [23, 24] führten eine Fixierung des Kopfes mit einem »Kopffixiergestänge« und einer zusätzlichen Oberkieferzahnfixierung durch. Erfolgte nun eine Rumpfdrehung mit einer Ge-
schwindigkeit von 5°/s,so war bei den gesunden Probanden »fast immer« [24] ein Zervikalnystagmus zu registrieren. Fast regelmäßig war auch ein sog. zervikaler Nachnystagmus zu beobachten, der einige Sekunden in den tonischen Halteteil der Untersuchung hineinreicht (nach persönlicher Mitteilung 3–5 s). Die erläuterten Untersuchungen zeigen, dass ▬ subjektive Empfindungen, ▬ die Instruktionen an den Patienten während der Untersuchung und ▬ die Rumpfdrehgeschwindigkeit das Untersuchungsergebnis wesentlich beeinflussen. Holtmann et al. [24] halten abschließend fest: »Der Halsdrehtest wird sich nur dann als eine gültige klinische Untersuchungsmethode etablieren, wenn sich die zerviko-okulären Reizantworten Gesunder von denen Kranker unterscheiden und wenn die erhobenen Befunde reproduzierbar sind.« Brandt et al. [8] betonen, dass ein CN als diagnostisches Kriterium für den vertebragenen Schwindel ungeeignet sei, da dieser Nystagmus auch bei gesunden Probanden vorkomme und bei Patienten ohne vertebragenen Schwindel besonders ausgeprägt sei. Besonders die Untersuchungen mit dem dynamischen CCG bei »gesunden« Probanden haben gezeigt, dass eine Kopfgelenksstörung sehr häufig vorkommt und zu pathologischen vestibulospinalen Reaktionen führen kann, ohne dass ein subjektives Beschwerdebild vorliegt. Die Feststellung, dass bei »Gesunden« ein CN nachweisbar ist, dürfte also nur nach Ausschluss einer Kopfgelenksblockierung gestellt werden. Hülse [25, 27] hat wiederholt darauf hingewiesen, dass dem CN bei der vertebragenen Gleichgewichtsstörung sehr wohl eine erhebliche diagnostische Bedeutung zukommt.Besonders seit der Einführung der Videonystagmographie (VNG) hat sich die Aussagekraft der Untersuchung auf einen CN weiter verbessert, da die Untersuchung für den Patienten in einem absolut abgedunkelten Raum stattfindet und gleichzeitig der Untersucher auf dem Bildschirm die Augenbewegungen kontrollieren kann. Erst mit der Videonystagmographie konnte ein vertikaler Zervikalnystagmus nachgewiesen werden. Bei der früher üblichen Elektronystagmographie war ein CN wegen möglicher
89 5.5 · Untersuchungsmethoden
5
a
b
c ⊡ Abb. 5.9a–c. Videonystagmographie-Befunde bei einer 42-jährigen Patientin mit seit etwa sechs Monaten bestehendem fluktuierenden Schwankschwindel. a kalorische Prüfung: Spülung 44°C rechts (obere Kurve), Spülung 44°C links (untere
Kurve). b rotatorische Prüfung (1,5°/sec2 bis zur Endgeschwindigkeit von 90°/sec, dann Stopp): Rechtsdrehung, perrotatorisch/postrotatorisch. c Linksdrehung, perrotatorisch/postrotatorisch.
90
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
⊡ Abb. 5.9d–f. d Registrierung des Spontannystagmus (kein Spontannystagmus erkennbar). e Körperrotation nach rechts bei fixiertem Kopf führt zu einem deutlichen Nystagmus nach links oben. f nach Manualtherapie wird durch Körperrotation nach rechts und fixiertem Kopf ein Nystagmus nicht mehr provoziert. Der Befund ging mit einer subjektiven Beschwerdefreiheit einher
5 d
e
f
91 5.5 · Untersuchungsmethoden
a
b
5
c
⊡ Abb. 5.10a–c. Untersuchung auf einen Zervikalnystagmus. a Körperdrehung nach rechts bei fixiertem Kopf;
b Körper und Kopf gerade; c Körperdrehung nach links bei fixiertem Kopf
Lidartefakte nicht sicher zu beurteilen und konnte nur vermutet werden (⊡ Abb. 5.10a–c; [25]). In unserer Klinik wird bei manuell fixiertem Kopf der Stuhl innerhalb von 5–10 s. soweit wie vom Patienten toleriert gedreht. Da der Patient bei dieser Untersuchung die Augen geschlossen hält, und die Drehung des Stuhles langsam von Hand erfolgt,fehlt ihm die Orientierung, wie weit der Stuhl gedreht wird.Häufig ist so eine Rotation im Bereich der Kopfgelenke weiter möglich, als nach der aktiven Halsdrehung zu erwarten wäre. In der Regel werden also 70° bis 80° erreicht. Eine Augenunruhe oder ein Augengegenrucken werden nicht gewertet.Die Endstellung mit der Körperrotation wird mindestens 60 s, bei Auftreten eines Nystagmus bis 120 s,beibehalten. Ein so definierter Nystagmus unterscheidet sich klar von einem »zervikalen Nachnystagmus« [24] der »nur wenige Sekunden anhält«. Unter diesen Kriterien konnte bei gesunden (ohne Kopfgelenkblockierung), schwindelfreien Patienten ein »Zervikalnystagmus« nicht registriert werden. Ein CN, wie er von uns beschrieben wird, erhält somit einen pathognomonischen Wert.
Eine weitere Zuordnung eines pathologischen CN ist dadurch möglich, dass häufig ein Zusammenhang zwischen Richtung des CN und Manualbefund beobachtet werden kann: häufig schlägt ein einseitiger oder einseitig betonter CN zu der Seite, auf der sich das funktionelle Defizit der Kopfgelenke am stärksten manifestiert hat. So ist z.B. bei einer linksseitigen Kopfgelenksstörung ein propriozeptiver CN nach links zu erwarten. Ein CN ist in etwa 85% der Fälle nach rechts und nach links nachweisbar. Auf Grund der neueren Beobachtungen kann aber nicht mehr gefordert werden, dass ein propriozeptiver CN nach beiden Seiten nachweisbar sein muss, um als CN identifiziert werden zu können. Bei einem nur in eine Richtung schlagenden propriozeptivem CN muss aber ein korrelierender Manualbefund vorliegen. Folgende Kasuistik zeigt den Verlauf eines ausgeprägten zervikogenen Drehschwindels (⊡ Abb. 5.11a–i): Die Patientin kam mit sehr ausgeprägten, anhaltenden Drehschwindelbeschwerden in unsere Klinik. Sie hat sich bei uns bereits vor einem Jahr wegen einer vertebragenen Gleichgewichtsstörung vorgestellt. Damals wurde nach einer einmaligen Manualtherapie eine Beschwerdefreiheit erreicht, die bis zur jetzigen stationären Aufnahme anhielt. Bei der aktuellen stationären Aufnahme im Oktober 2001 war das subjektive Schwindelgefühl sehr ausgeprägt.Mit Hilfe einer experimentellen Gleichgewichtsuntersuchung (rotatorisch und kalorisch) ließ sich eine periphere Gleichgewichtsstörung
Wichtig
Ein Nystagmus wird dann als echter »Zervikalnystagmus« gewertet, wenn er in mindestens 15 s mindestens 6 Schläge aufweist und eine Amplitude von >2°pro Schlag besitzt. Entscheidend ist der »Nachnystagmus« nach Erreichen der maximalen Körperrotation. Untersucht wird also der tonische Zervikalnystagmus.
92
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
5 a
b
c
d ⊡ Abb. 5.11a–d. VNG-Verlaufskontrolle bei einer 52-jährigen Patientin mit ausgeprägtem zervikogenem Drehschwindel. a–c Ausgangsbefund: a Kopf in Neutralstellung mit subjektiv
den geringsten Beschwerden, b Kopf um 30° nach rechts geneigt, c Kopf um 40° nach links geneigt. d–f 2 Tage später: d Kopf in Neutralstellung (Schwindel leicht gebessert)
93 5.5 · Untersuchungsmethoden
5
e
f
g
h ⊡ Abb. 5.11e–h. e Kopf um 40° nach rechts geneigt, f Kopf um 40° nach links geneigt. g–i Nach 5 Tagen, als Beschwerde-
freiheit erreicht war: g Kopf in Neutralstellung (subjektiv kein Schwindel mehr), h Kopf um 40° nach rechts geneigt
94
5
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
i ⊡ Abb. 5.11i. Kopf um 40° nach links geneigt
ausschließen. Die neurologische und bildgebende Untersuchung (einschließlich MRT) ergab keinen richtungsweisenden Befund.Bei der Untersuchung auf einen Zervikalnystagmus reichte eine Kopfrotation um 40° nach links aus,um einen Umschlag des ausgeprägten nach links gerichteten Spontannystagmus in einen deutlichen nach rechts gerichteten Nystagmus zu registrieren (⊡ Abb. 5.11a–c). Ein solches Phänomen kann weder durch eine periphere noch durch eine zentrale Vestibulariserkrankung erklärt werden. Wir führten fünf Tage lang täglich eine Manualtherapie bis zum Erreichen der Beschwerdefreiheit durch. Eine weitere Therapie, z.B. mit Medikamenten, erfolgte nicht. Videonystagmogaphisch konnte der Befund objektiviert und der Verlauf dokumentiert werden. Im Mai 2003 berichtete die Patienten bei einer Kontrolluntersuchung, dass zwischenzeitlich keine Schwindelbeschwerden aufgetreten waren. Die Dokumentation dieses Verlaufs unterstreicht eindrucksvoll, dass, wenn auch selten, eine Kopfgelenksblockierung auch einen »echten« Drehschwindel verursachen kann. Dieser ist sonst fast nur bei peripheren Vestibularisstörungen zu beobachten. Die reine Körperrotation bei fixiertem Kopf führt vor allem zu einer Bewegung im Gelenk C1/2 und C2/3. Um auch die anderen Kopfgelenke erfassen zu können, muss diese Untersuchung auch bei Kopfanteflexion und -retroflexion sowie bei Kopfseitneigung durchgeführt werden. Besonders bei der Kopfanteflexion und –retroflexion können in einigen Fällen deutliche vertikale Zervikalnystagmen registriert werden. Die früher im Elektronys-
tagmogramm vermuteten vertikalen Zervikalnystagmen konnten jetzt durch die Videonystagmographie eindeutig bestätigt werden. Wir sind uns durchaus bewusst, dass diese Untersuchung auf einen CN bei weitem nicht den Laborkriterien von Holtmann genügt. Grundlage ist jedoch die pragmatische Vorstellung, dass ein Patient unter den Bedingungen untersucht werden muss, unter denen er einen Schwindel provozieren kann. Mit dieser groben Untersuchungsmethode und den genannten Kriterien läuft man kaum Gefahr, einen »physiologischen« Nystagmus zu registrieren. Der von uns beschriebene und registrierte CN ist für den »vertebragenen Schwindel« von pathognomonischer Bedeutung. Dies erkennt man daran, dass der CN nach erfolgreicher Manualtherapie mit Abklingen der subjektiven Schwindelsymptomatik mittels VNG-Kontrolle nicht mehr nachzuweisen ist. Eine Normalisierung des Kopfgelenksbefundes, die mit einem Nachlassen der subjektiven Schwindelbeschwerden einhergeht, dürfte kaum zum Verschwinden eines »physiologischen« Phänomens führen.Unterstrichen wird dies nicht nur durch eigene Befunde, sondern auch durch die von Moser [41] und Scholtz et al. [46] publizierten Erfahrungen. Wichtig
Bei deutlichem propriozeptivem Zervikalnystagmus, entsprechendem HWS-Befund und erfolgreicher Manualtherapie darf jedoch nie auf die komplette neurootologische Durchuntersuchung verzichtet werden.
95 5.6 · Therapie
Eine eigene Beobachtung [26] bestätigte eine Mitteilung von Dix [12], dass bei einem Patienten mit einem Akustikusneurinom ein »propriozeptiver Zervikalnystagmus« nachgewiesen werden konnte. Auch Lewit [37] beschrieb 1977, dass er bei einem Akustikusneurinom manualtherapeutisch »eine relativ lang anhaltende Besserung der Beschwerden« (Schwindel und Kopfschmerzen) erzielen konnte. Die Beobachtungen eines CN bei Vorliegen eines Akustikusneurinoms lassen hypothetische Überlegungen zu, nach denen auch eine Irritation der Dura zu einem CN (verbunden mit Schwindel) führen kann.
den Patienten wesentlich größer ist als bei Ohrgesunden [34]. Wird die Kopfgelenksblockierung in diesen Fällen erfolgreich behandelt, sind oft erstaunliche Beschwerdelinderungen zu beobachten. An eine vertebragene Komponente muss immer gedacht werden, wenn sich bei einem Jugendlichen nach einem Vestibularisausfall die Kompensation der Gleichgewichtsstörung verzögert oder erneut Dekompensationserscheinungen auftreten. Bei männlichen Patienten bis zum 45.und bei weiblichen Patienten bis zum 50.Lebensjahr wird ein peripherer Gleichgewichtsausfall mit großer Sicherheit innerhalb von Wochen bis Monaten zentral voll kompensiert, so dass Beschwerdefreiheit eintritt.
Periphere und zervikogene Gleichgewichtsstörung
Wichtig
Die manuelle Untersuchung der Halswirbelsäule und die Untersuchung auf einen Zervikalnystagmus sollte vor allem dann nicht unterbleiben, wenn ein Patient mit einem peripheren Gleichgewichtsausfall bei der rotatorischen Prüfung eine weitgehende Kompensation erkennen lässt, aber weiter über deutlichen Belastungsschwindel klagt.
Wichtig
Durch die kalorische Vestibularisuntersuchung lässt sich eine periphere Gleichgewichtsstörung ausschließen oder erkennen. Gleichzeitig erhält man auch eine Aussage über einen latenten Spontannystagmus und ein pathologisches Überwiegen der Nystagmusrichtung. Eine einseitige Unter- oder Unerregbarkeit gehört nicht zum Bild einer vertebragenen Gleichgewichtsstörung.
Der gesamte experimentelle Nystagmus (wobei die Auswertung vor allem anhand der Amplitude erfolgte) war in ca. 25% der Fälle so ausgeprägt, dass von einer Hyperexzitabilität gesprochen werden muss [1, 25]. Eine vertebragene Gleichgewichtsstörung kann nicht nur neben einer peripheren Gleichgewichtsstörung bestehen, sie ist vielmehr fast regelmäßig nach länger bestehenden peripher- und zentral-vestibulären Schwindelbeschwerden zu beobachten. Bei gleichzeitiger vertebragener und peripherbzw. zentral-vestibulärer Gleichgewichtsstörung kommt es nicht nur zu einer Addition der Beschwerden, vielmehr scheinen sich beide Störungen eher zu potenzieren. Vergleichende Untersuchungen über die »zerviko-vestibuläre Interaktion« bei gesunden Personen und bei Patienten mit einer einseitigen Labyrinthstörung lassen erkennen,dass der Einfluss der zervikalen Afferenzen bei
5
Der Morbus Menière darf sicher nicht mit dem Beschwerdebild der funktionellen Kopfgelenksstörung verwechselt werden. Dennoch sind bei Menière-Patienten häufig Störungen im Bereich der oberen Halswirbelsäule und der Kiefergelenke nachweisbar. Bei ihren M. Menière-Patienten vermuten Bjorne et al. [6], dass die Schwindelattacken in etwa 75% der Fälle durch eine Kopfgelenksstörung ausgelöst werden. Diese Triggerung der Menière-Anfälle könnte durch eine Manualtherapie deutlich positiv beeinflusst werden.
5.6
Therapie Wichtig
Der vertebragene Schwindel ist eines der Hauptdomänen der Manualmedizin.
Bei fast der Hälfte der Schwindelpatienten kann die manuelle Behandlung der Kopfgelenke wahre
96
5
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
Wunder bewirken oder zumindest eine deutliche Beschwerdelinderung erreichen. In neuerer Zeit wiesen verschiedene Kliniken auf die exzellenten Therapieerfolge der Manualtherapie bei vertebragenen Gleichgewichtsstörungen hin [7, 17, 21, 31, 33, 44, 56]. Um die Dauer des Therapieerfolges nach alleiniger Manualmedizin erfassen zu können, befragten Hülse et al. [30] 100 Patienten mit vertebragenen Schwindelbeschwerden, wie sich die Beschwerden bei ihnen nach der Manualtherapie entwickelt hätten. Die letzte Behandlung bei diesen Patienten lag mindestens sechs Monate zurück.Obwohl die Schwindelbeschwerden vor der ersten manualtherapeutischen Behandlung im Durchschnitt bereits 17,8 Monate bestanden hatten und die Patienten von Vertretern der verschiedensten Fachrichtungen medizinisch untersucht und behandelt worden waren, gaben 82% der Befragten nach der manuellen Therapie eine anhaltende Beschwerdefreiheit oder nur noch minimale Restbeschwerden an. Diese Zahlen unterstreichen, dass die Manualtherapie beim vertebragenen Schwindel eine anhaltende Beschwerdefreiheit erreichen kann und somit die Therapie der Wahl darstellt.
Fazit Schwindel stellt eine subjektive Missempfindung dar, die den Betroffenen sehr stark belästigt und die physische und psychische Leistungsfähigkeit erheblich einschränkt. Bei der Diagnostik der subjektiven Schwindelbeschwerden besteht die Gefahr, »noch normale Befunde« zu überinterpretieren oder aber Befunde und vor allem auch Angaben des Patienten nicht in die Diagnostik einfließen zu lassen. Dies trifft vor allem für die »vertebragenen Schwindelbeschwerden« zu, die auf eine Afferentationsstörung aus dem Propriozeptorensystem des Kopfgelenksbereiches zurückzuführen sind. Eine zentral-vestibuläre oder eine peripher-vestibuläre Störung ist bei einem HWS-Schwindel primär nicht nachweisbar (auch wenn nahezu regelmäßig die Beschwerdesymptomatik durch eine funktionelle Kopfgelenksstörung erheblich verstärkt wird und deshalb eine manuelle HWS-Behandlung eine ▼
deutliche Beschwerdelinderung erreichen kann). Eine Begleitsymptomatik (Kopf- und/oder Nackenschmerzen bzw. Globusgefühl) gehört primär nicht zu einer reinen peripher-vestibulären Gleichgewichtsstörung und weist bereits auf eine deutliche vertebragene Komponente bei den Schwindelbeschwerden hin. Die Schwindelbeschwerden werden meist als Schwankschwindel, Trunkenheitsgefühl oder als Drehempfindung ohne Angabe einer Drehrichtung geschildert. Die vestibulospinalen Reaktionen lassen sehr oft eine erhebliche Unsicherheit erkennen, ein pathologischer Zervikalnystagmus ist in vielen Fällen nachweisbar. Eine Druckdolenz im Bereich der tiefen Nackenmuskulatur ist immer tastbar. Häufig finden sich auch Zeichen einer kraniomandibulären Dysfunktion. Auch der manualtherapeutisch unerfahrene Arzt findet mit dem Priener-Hüftabduktionstest und dem Meersseman-Test bereits deutliche Hinweise auf eine Kopfgelenks- und Kiefergelenksstörung. Die Behandlung der Wahl ist eine Manualtherapie der Kopfgelenke, mit der auch über einen längeren Zeitraum eine Beschwerdefreiheit erreichen werden kann. Nach eigenen Erfahrungen, die von vielen Manualtherapeuten bestätigt werden, muss ein großer Teil der als psychogen eingestuften Schwindelbeschwerden einer vertebragenen Störung zugeordnet werden, die entsprechend therapeutisch angegangen werden kann.
Literatur 1. Albertus S (1984) Cervical vertebral problems as a cause of variations in the nystagmographic R-factor. Acta Otolaryngol (Stockh) 97: 27–32 2. Alcantara J, Plaugher G, Klemp DD, Salem C. (2002) Chiropractic care of a patient with temporomandibular disorder and atlas subluxation. J Manipulative Physiol Ther 25(1): 63–70 3. Allum JH, Honegger F, Acuna H (1995) Differential control of leg and trunk muscle activity by vestibulo-spinal and proprioceptive signals during human balance corrections. Acta Otolaryngol (Stockh) 115: 124–129
97 Literatur
4. Alund M, Larsson SE, Ledin T, Ödkvist L, Möller C (1991) Dynamic Posturography in cervi cal vertigo. Acta Otolaryngol (Stockh) Suppl. 481: 601–602 5. Arnold W, Ganzer U (1990) Checkliste Hals-Nasen-OhrenHeilkunde Thieme, Stuttgart 6. Bjorne A, Berven A, Agerberg G (1998) Cervical signs and symptoms in patients with Meniere’s disease: a controlled study. Cranio 16(3): 194–202 7. Bracher ES, Almeida CI, Almeida RR, Duprat AC, Bracher CB (2000) A combined approach for the treatment of cervical vertigo. J Manipulative Physiol Ther 23(2): 96–100 8. Brandt T, Bronstein AM (2001) Nosological Entities? Cervical vertigo. J Neurol Neurosurg Psychiatry 71: 8–12 9. Buchmann J, Bülow B (1983) Funktionelle Kopfgelenksstörungen bei Neugeborenen im Zusammenhang mit Lagereaktionsverhalten und Tonusasymmetrie. Manuelle Medizin 21: 59–62 10. Conte A, Caruso G, Mora R (1997) Static and dynamic posturography in prevalent laterally directed whiplash injuries. Eur Arch Otorhinolaryngol 254: 186–192 11. Dietrich M, Pöllmann W, Pfaffenrath V (1993) Cervicogenic headache: electronystagmography, perception of verticality and posturography in patients before and after C2blockade. Cephalgia 13: 285–288 12. Dix MR (1983) Positional nystagmus of central type and its neural mechanism. Acta Otolaryng 95: 585–589 13. Dutia MB (1991) The muscles and joints of the neck: their specialisation and role in head movement. Progr Neurobiol 37: 165 –178 14. Dvorák J, Orelli von F (1982) Das Verhältnis von Komplikationen zu durchgeführten Manipulationen in der Schweiz. Schweiz Rdsch Med Prax 71: 64–69 15. Endo K, Ichimaru K, Shimura H, Imakiire A. (2000) Cervical vertigo after hair shampoo treatment at a hairdressing salon: a case report. Spine 25(5): 632–634 16. Foye PM, Najar MP, Camme A A Jr, Stitik TP, DePrince ML, Nadler SF, Chen B (2002) Pain, dizziness, and central nervous system blood flow in cervical extension: vascular correlations to beauty parlor stroke syndrome and salon sink radiculopathy Am J Phys Med Rehabil 81: 395–399 17. Galm R, Rittmeister M, Schmitt E (1998) Vertigo in patients with cervical spine dysfunction. Eur Spine J; 7: 55–58 18. Goldmann R, Bornscheuer A, Schultze-Florey T, KriebelGoldmann C, Holtje M (2002) The early axial traction of the cervical spine after anaesthesia with intubation and extreme reclination of the head. Anaestesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 37: 94–98 19. Hamann KF (1994) Diskussionsbeitrag. Eur Arch Otorhinolaryngol (Suppl II): 220 20. Hamann KF (2000) Der gutartige Lagerungsschwindel. HNO aktuell 8: 311–316 21. Heikkila H, Johansson M, Wenngren BI (2000) Effects of acupuncture, cervical manipulation and NSAID therapy on dizziness and impaired head repositioning of suspected cervical origin: a pilot study. Man Ther 5: 15–157 22. Hammill JM, Cook TM, Rosecrance JC (1996) Effectiveness of a physical therapy regimen in the treatment of tensiontype headache. Headache 36: 149–153
5
23. Holtmann S, Reimann V (1989) Zervikale Afferenzen und ihre Einbindung in die Gleichgewichtsregulierung. Laryngorhinootologie 69: 72–77 24. Holtmann S, Reimann V, Beinert U (1988) Quantifizierung der Reizparameter beim Halsdrehtest. Laryngorhinootologie 68: 460–464 25. Hülse M (1983) Die zervikale Gleichgewichtsstörung. Springer Berlin Heidelberg New York 26. Hülse M (1988) Zervikale Gleichgewichtsstörungen. In: Wolff HD (Hrsg) Die Sonderstellung des Kopfgelenkbereiches. Springer, Berlin Heidelberg New York 27. Hülse M (1998) Klinik der Funktionsstörungen des Kopfgelenkbereiches. in Hülse M, Neuhuber WL, Wolff HD (Hrsg) Der kranio-zervikale Übergang. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 43–97 28. Hülse M, Hölzl M (2000) Vestibulospinale Reaktionen bei der zervikogenen Gleichgewichtsstörung, HNO 48: 295–301 29. Hülse M, Hölzl M (2003) Nachweis der Wirksamkeit einer »modifizierten« Atlas-Impuls-Therapie nach Arlen. Manuelle Medizin 41: 453–458 30. Hülse M, Hölzl M (2004) Effektivität der manuellen Medizin in der HNO – eine retrospektive Langzeituntersuchung. HNO 52: 227–234 31. Kaeser HE, Ettlin T (1999) Little known sequelae of sprains of the cervical spine. Schweiz Rundsch Med Prax 88: 2021–2024 32. Karlberg M, Johansson R, Magnusson M, Fransson PA (1996) Dizziness of suspected cervical origin distinguished by posturographic assessmebnt of human postural dynamics. J Vestib Res 6: 37–47 33. Karlberg M, Magnusson M, Malmstrom EM, Melander A, Moritz U (1996) Postural and symptomatic improvement after physiotherapy in patients with dizzuiness of suspected cervical origin. Arch Phys Med Rehabil 77: 872– 882 34. Kobayashi Y, Yagi T, Kamio T (1986) Cervico-vestibular interaction in eye movements. Auris Nasus Larynx 13 (Suppl 2): 87–95 35. Kruse W (2000) Kongressbericht: Leitsymptom Schwindel als interdisziplinäre Aufgabe. Deutsches Ärzteblatt 97 (42): 2793–2794 36. Lanz Wachsmuth (1979) Praktische Anatomie, erster Band, Teil 1B. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 359 37. Lewit K (1977) Manuelle Medizin. Urban & Fischer, München 38. Lewit K (1992) Manuelle Medizin. Barth, Leipzig 39. Marx G (2000) Über die Zusammenarbeit mit der Kieferorthopädie und Zahnheilkunde in der Manuellen Medizin. Manuelle Medizin 38: 342–345 40. McCrea RA, Gdowski GT. Boyle R, Belton T (1999) Firing behavior of vestibular neurons during active and passive head movements. J Neurophysiol 82: 416–428 41. Moser M (1985) Objektivierung von HWS-Schwindel durch Zervikalnystagmus. Arch Ohr Nase Kehlkopf Heilkd Suppl II: 124 – 125 42. Neuhuber WL (1998) Der kraniozervikale Übergang: Entwicklung, Gelenke, Muskulatur und Innervation. In Hülse M, Neuhuber WL, Wolff HD (Hrsg) Der kranio-zervikale Übergang. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 11–31
98
5
Kapitel 5 · Der vertebragene Schwindel
43. Neuhuber WL, Bankoul S (1992) Der Halsteil des Gleichgewichtsapparates. Manuelle Medizin 30: 35–39 44. Niere K, Robinson P (1997) Determination of manipulative physiotherapy treatment outcome in headache patients. Man Ther 2: 199–205 45. Sauer H (1994) Das Postmassagesyndrom. Eur Ororhinolaryngol Suppl II: 221–222 46. Scholtz JH, Buchmann J, Sievert U (1988) Erweiterte Fahndung nach Zervikalnystagmus. HNO Prax 13: 3–8 47. Schupp W (2001) Gesichtsschmerz aus Sicht der Kieferorthopädie. Manuelle Medizin 39: 327–336 48. Seifert K (1995) Funktionelle Störungen der Halswirbelsäule. In Naumann HH, Helms J, Kastenbauer E (Hrsg) OtoRhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 3. Thieme Stuttgart, S. 256–270 49. Soto Varela A, Santos Perez S, Vaamonde Lago P, Labella Caballero T (2001) The usefulness of craniocorpography in the diagnosis of patients with dizziness and increasing muscle tension in the neck. Acta Otorrinolaringol Esp 52: 398–403
50. Strupp M (2002) Diagnostik und Therapie von Schwindelsyndromen. www.derneurologe-psychiater.de 4: 18 – 27 51. Strupp M, Arbusow V, Dietrich M (1988) Perception and oculomotor effects of neck muscle vibration in vestibular neuritis. Brain 12: 677 – 685 52. Taylor JL (1992) Perception of the orientation of the head on the body in man. In: Berthoz A. Vidal PP, Graf W (eds) The head-neck sensory motor system. Oxford University Press, New York, pp. 488–490 53. Thoden U, Doerr M, Leopold HC (1983) Motion perception of head or trunk modulates cervico-ocular reflex. Arcta Otolaryngol (Stockh) 96: 9–14 54. Vetter C (2000) Schwindel: Psychogene Natur wird unterschätzt. Deutsches Ärzteblatt 97 (10): 568 55. Wappner S, Werner H, Chandler KA (1951) Experiments on sensory-tonic field theory of perception. J Exp Psychol 42: 341–345 56. Wrisley DM, Sparto PJ, Whitney SL, Furman JM (2000) Cervicogenic dizziness: a review of diagnosis and treatment. J Orthop Sports Phys Ther 30: 755–766
6 Riechstörungen Ursachen, Diagnostik und Therapie T. Hummel, B.N. Landis, J. A. Frasnelli, S. Heilmann, K.-B. Hüttenbrink
6.1
Einleitung
– 100
6.2
Beschreibung olfaktorischer Störungen
6.3
Ursachen
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6
Postinfektiöse Ursachen – 101 Sinunasale Ursachen – 101 Posttraumatische Ursachen – 101 Kongenitale Ursachen – 101 Neurodegenerative Erkrankungen – 102 Andere Ursachen – 102 Toxisch/medikamentös – 102 Internistische Krankheiten – 102
6.4
Folgen von Riechstörungen
6.5
Diagnostik
– 100
– 103
– 103
6.5.1 Patientenuntersuchung – 103 6.5.2 Testung des Riechvermögens – 104
6.6
Therapieansätze Fazit
– 105
Literatur
– 105
– 104
– 100
6
100
Kapitel 6 · Riechstörungen
6.1
Einleitung
Im Vergleich zu den anderen menschlichen Sinnen wird dem Riechen und Schmecken seitens der Medizin wenig Beachtung geschenkt. Einer der Gründe ist sicherlich die landläufige Auffassung, beim Riechsinn handele es sich um einen »niederen«, beim Menschen rudimentär ausgebildeten Sinn [1]. Auf das Tierreich verweisend, wird dem menschlichen Riechorgan eine geringe Leistungsfähigkeit zugeschrieben. Im Gegensatz zum Sehen und Hören, deren physiologische Grundsätze Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgeklärt wurden, war man sich über die Organisation des Riechsystems bis vor kurzem nicht sicher [2, 3]. Diese Situation hat sich in den letzten 10 Jahren geändert. Anfangs der 90er Jahre konnte erste molekularbiologische Hinweise vorgelegt werden, dass die menschliche Riechverarbeitung auf spezialisierten Rezeptoren beruht [4]. Ausschließlich in der Riechschleimhaut exprimierte Rezeptorproteine erlauben eine spezifische Erkennung der uns umgebenden Düfte. Die Gene für diese Proteine, von denen der Mensch etwa 400 besitzt, nehmen etwa 1% der gesamten Erbinformation ein [4]. Diese Erkenntnis hat der molekularbiologischen Forschung enormen Auftrieb gegeben mit dem Ergebnis, dass im letzten Jahrzehnt mehr und mehr der hohe Organisationsgrad und gleichzeitig die Komplexität des Geruchssinnes aufgedeckt wurde [5, 6]. Mit einigen wenigen Jahren Vorsprung scheint auch die klinische Riechforschung ihre Renaissance erlebt zu haben. Mit der Entwicklung von zuverlässigen, haltbaren und standardisierten Riechtests [7–9] und der Verfügbarkeit von objektiven Messmethoden [10] des Riechsinnes wurde eine Welle der klinischen Forschungsarbeiten ausgelöst. Ähnlich, wie in der Grundlagenforschung, hat auch die klinische Forschung erstaunliches ans Licht gebracht, wie z.B. die regelhafte Störung des Riechvermögens bei neurodegenerativen Erkrankungen wie M. Alzheimer und M. Parkinson [11]. Zudem scheint ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung (etwa 5%) an einer kompletten Anosmie zu leiden [12]; bei Menschen älter als 50 Jahre findet sich eine Riechstörung in 25% der Fälle [13].
Zu dieser positiven Entwicklung hinsichtlich der klinisch orientierten Riechforschung hat in Deutschland ganz wesentlich auch die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Olfaktologie und Gustologie der Deutschen Gesellschaft für Hals-NasenOhren-Heilkunde,Kopf-,Hals- und Gesichtschirurgie beigetragen (http://www.hno.org/olfaktologie/ index.html).
6.2
Beschreibung olfaktorischer Störungen
Anosmie beschreibt das Fehlen des Riechvermögens, spezifische Anosmie beschreibt die Unfähigkeit, einen bestimmten Duftstoff wahrnehmen zu können [14]. Hyposmie bedeutet ein vermindertes, Hyperosmie ein verstärktes Riechvermögen.Dysosmie bezieht sich auf eine gestörte Wahrnehmung von Duftstoffen. Unter den Dysosmien wird die Parosmie von der Phantosmie abgegrenzt, wobei Ersteres die qualitativ »falsche« Wahrnehmung von Duftstoffen und Letzteres die Wahrnehmung von Gerüchen in Abwesenheit einer entsprechenden Duftquelle beschreibt. Bei der Parosmie nehmen die Patienten also z.B. nach Darbietung eines nach Rose riechenden Duftstoffes etwas wahr, allerdings wird dieser Geruch nicht mehr als Rosengeruch, sondern anders,verändert wahrgenommen.Genau der gleiche Geruch wird von vielen Parosmikern auch nach Darbietung anderer Duftstoffe wahrgenommen. Von fast allen Patienten werden diese »anderen« Geruchseindrücke als unangenehm empfunden. Eine Parosmie ist typischerweise mit einer Hyposmie assoziiert [15].
6.3
Ursachen
Jede Disziplin gliedert die Krankheiten etwas anders, so ist in der Neurologie die Unterscheidung zwischen peripher und zentral entscheidend, während in der HNO-Heilkunde das betroffene Organ im Mittelpunkt steht. Die derzeit gängige Einteilung der Riechstörungen richtet sich im Wesentlichen nach der Patientenanamnese, welche eine zentrale Rolle bei der Untersuchung von Riechstörungen einnimmt.
101 6.3 · Ursachen
Nach ihrer Ursache lassen sich die Riechstörungen in fünf große Gruppen einteilen: ▬ postinfektiöse, ▬ sinunasale, ▬ posttraumatische, ▬ neurodegenerative und ▬ idiopathische Ursachen. Der überwiegende Teil der Riechstörungen lässt sich mit dieser Unterteilung erfassen. Ein kleiner Teil ist kongenitaler Natur. Die verbleibenden Riechstörungen treten im Zusammenhang mit toxisch/medikamentösen Affekionen oder im Rahmen internistischer Grunderkrankungen auf.
6.3.1 Postinfektiöse Ursachen Häufig verlieren die Patienten das Riechvermögen während einer Erkältung,beunruhigen sich jedoch nicht und konsultieren im Durchschnitt ein bis zwei Monate nach Abklingen der nasalen Symptome aufgrund eines nicht wieder eingetretenen Riechvermögens einen Arzt. Betroffen sind vor allem ältere Personen (über 50 Jahre) wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer [16]. Epidemiologische Angaben über das infektiöse Agens fehlen weitgehend, wobei eher Viren als Bakterien als Verursacher angesehen werden [16].Es ist zudem nicht klar ob, es sich um eine direkte neuropathische oder indirekte Schädigung, z.B. im Rahmen eines Autoimmunphänomens, handelt. Postvirale Riechstörungen werden häufig von Parosmien begleitet.
6.3.2 Sinunasale Ursachen Sinunasal bedingte Riechstörungen treten meistens zusammen mit einer sinunasalen oder allergischen Begleitsymptomatik auf. Diese kann eine erschwerte Nasenatmung, chronischen Nasenfluss, frontale bzw. fronto-okzipitale Kopfschmerzen sowie nasalen Juck- und Niesreiz umfassen. Die ausgeprägteste Riechstörung findet sich bei nasaler Polyposis bei vollständiger Verlegung der Riechspalte [17].Anamnestisch ist vor allem auf die über Jahre progressive Zunahme der Riechstörung sowie
6
auf das fluktuierende Auftreten der Riechstörung zu achten [18, 19]. Neben der nasalen Endoskopie und einem koronaren CT kann ein Ansprechen auf lokal, bzw. systemisch verabreichte Kortikoide diagnostisch hilfreich sein [19, 20].
6.3.3 Posttraumatische Ursachen Traumatisch bedingte Riechstörungen treten in allen Altersgruppen auf und können auch bereits durch geringfügige Traumata verursacht werden. Die Schwere des Traumas scheint allerdings in Beziehung zur Schwere der Riechstörung zu stehen [21, 22]. Bei den posttraumatischen Riechstörungen lassen sich verschiedene Verläufe beobachten.Auch Traumata und Frakturen im Bereich der Nasenhöhle bzw. des Gesichtsschädels können zu Riechstörungen führen. In etwa 10% der posttraumatischen Riechstörungen lässt sich eine vorübergehende Riecheinschränkung beobachten.Diese ist möglicherweise auf ein vorübergehendes Ödem der Nasenschleimhaut mit Beteiligung der Regio olfactoria zurückzuführen. In der Mehrzahl der Fälle geht man aber davon aus, dass es sich um Läsionen im Bereich der Regio olfactoria handelt.Dabei stehen der Abriss der Fila olfactoria und die Fraktur der Lamina cribrosa mit Einblutungen im Bereich der Schleimhaut und Narbenbildung im Bereich der Regio olfactoria im Vordergrund [23]. Diese Verletzungen entstehen vorzugsweise nach okzipitalen Traumata aufgrund der entstehenden Scherkräfte im Rahmen von Coup-Contre-Coup Bewegungen des Gehirns [24]. Posttraumatische Läsionen finden sich aber nicht nur an den Fila und dem Bulbus, sondern lassen sich radiologisch in den am Riechen beteiligten Strukturen, wie den Temporal- und Frontallappen, nachweisen [25, 26].
6.3.4 Kongenitale Ursachen Bei den kongenitalen Ursachen unterscheidet man heute grundsätzlich zwischen isolierten kongenitalen Anosmien und kongenitalen Anosmien, welche im Verbund mit anderen Symptomen auftreten [27]. Der klinisch häufigere Fall sind die isolierten Anosmien. Sie entstehen durch eine Hypo- oder
102
6
Kapitel 6 · Riechstörungen
Aplasie der Bulbi olfactorii und sind wahrscheinlich viel häufiger als früher angenommen. Anomalien des Bulbus olfactorius können erst seit kurzem im MRT mit genügender Sicherheit festgestellt werden [28,29].Mehr noch als bei den anderen Ursachen ist die Anamnese, welche sich durch ein fehlendes aktives Erinnerungsvermögen für Gerüche charakterisiert, das entscheidende diagnostische Kriterium. Bei den nicht isolierten Anosmien ist das Kallmann-Syndrom [30] die in der Klinik am häufigsten anzutreffende Störung. Hierbei handelt es sich um eine Anosmie in Verbindung mit einem hypogonadotropen Hypogonadismus. Klinisch präsentiert sich das Kallmann-Syndrom mit den Kardinalsymptomen Infertilität und Anosmie, wobei die Infertilität durch Substitution von Gonadotropinen erfolgreich therapiert werden kann [31]. Grundsätzlich kann zu kongenitalen Anosmien angemerkt werden, dass deren Erstdiagnose oft in die Periode vom 8. bis 14. Lebensjahr fällt. Es bleibt Spekulation weshalb dies so ist, aber offenbar scheint der Geruchsinn und dessen Verbalisierung bis zu dieser Periode weder den Kindern noch den Eltern ins Bewusstsein zu rücken.
6.3.5 Neurodegenerative
Erkrankungen Besonderes Augenmerk verdienen die Erkenntnisse über Riechstörungen bei den neurodegenerativen Krankheiten,wovon insbesondere der Morbus M. Parkinson und die Alzheimer-Erkrankung zu erwähnen sind [11]. Seit rund 20 Jahren wurden Riechfunktionsstörungen bei diesen weitverbreiteten Krankheiten vermutet.Die systematische Untersuchung der Krankheitsdauer und der Symptomatik im Zusammenhang mit dem Riechsinn hat erstaunliches ergeben. Beim M. Parkinson, bei welchem selbst durch erfahrene Neurologen in bis zu 20% der Fälle diagnostische Unsicherheit besteht, kommt der Riechverlust etwa so häufig vor wie die drei anderen Kardinalsymptome Tremor, Rigor und Akinesie [32].Weiter ist bemerkenswert, dass der Riechverlust offenbar in einer sehr frühen, relativ symptomarmen Phase auftritt, so dass die Riechstörung mittlerweile auch als diagnostisches Kriterium diskutiert wird [32]. Ähnliches gilt für
die Alzheimer-Erkrankung. Die Riechstörung erreicht schon früh, während der kognitiv noch unauffälligen Krankheitsphase, eine relativ ausgeprägte Form [11, 33, 34]. Da charakteristischerweise histopathologisch weite Gebiete betroffen sind, die der zentralen Riechbahn angehören, wurde auch schon über eine rhino-olfaktogene Eintrittspforte für das die Alzheimer-Krankheit verantwortliche »Agens« spekuliert [32, 35]. Bei beiden Erkrankungen muss nach einer Riechstörung gezielt gesucht werden, da sie in aller Regel von den Patienten nicht geäußert wird,wahrscheinlich; weil sich der Riechverlust schleichend im Verlauf von Jahren einstellt.
6.3.6 Andere Ursachen Toxisch/medikamentös Eine große Anzahl von Toxinen kann zu einer Verminderung oder sogar zum kompletten Verlust des Riechvermögens führen. Die große Vielfalt der möglichen Ursachen der toxisch bedingten Riechstörungen bedeutet jedoch, dass zur Beurteilung von Einzelfällen oft relativ wenig systematisch erhobene Informationen zur Verfügung stehen [36]. Die Literatur zeigt eine Fülle von Einzelfallbeschreibungen von Substanzen, welche Riechstörungen verursachen, ohne dass systematische Untersuchungen dazu vorliegen. Nähere und ausführlichere Informationen kann der interessierte Leser an anderer Stelle finden [37, 38].
Internistische Krankheiten Im Verlauf der letzten Jahre wurde zusehends klar, dass der Geruchsinn bei einer Reihe internistischer Krankheiten beeinträchtigt ist. Dies scheint für viele endokrine Krankheiten zuzutreffen [39]. Insbesondere bei Hypothyreose und Diabetes mellitus [40], den wahrscheinlich häufigsten endokrinen Krankheiten, zeigen sich in den Riechtests pathologische Resultate. Zudem gibt es immer mehr Hinweise, dass eine Mehrzahl der metabolischen Krankheiten [41], welche Leber [42, 43] und Nierenfunktion [44] beeinträchtigen, ebenfalls zu Riechstörungen führen. Von besonderem Interesse sind diese Riechstörungen, weil sie häufig von den Patienten unbemerkt bleiben, aber möglicherweise
103 6.5 · Diagnostik
erheblich mit deren Ernährungsgewohnheiten interferieren.
6.4
Folgen von Riechstörungen
Der Geruchssinn trägt nicht nur entscheidend zu dem bei, was gemeinhin als »Lebensqualität« bezeichnet wird,sondern er lässt uns z.B.einen Brand frühzeitig erkennen oder schützt uns vor dem Genuss verdorbener Nahrungsmittel. Riechverlust führt daneben auch zu nicht unerheblichen sozialen Schwierigkeiten,man denke nur daran, dass der eigene Körpergeruch nicht mehr wahrgenommen werden kann. In der Regel wird der Wert dieser Sinneswerkzeuge aber erst dann erkannt, wenn sie verloren gegangen sind.
6
erleben natürlich das Anbrennen von Speisen oder die fehlende Wahrnehmung verdorbener Speisen, legen sich aber Strategien zurecht um diese Probleme zu umgehen. Befragt man die Patienten intensiver,so wird rasch klar,dass der eigentliche Leidensdruck in der verminderten und teilweise fast vollkommen verschwundenen Lebensqualität besteht. Keine richtige Freude mehr am Essen zu haben und damit auch sozial mit Anderen nicht richtig interagieren zu können,beim Frühlingsspaziergang den Duft der blühenden Flora nicht wahrzunehmen oder gar den Partner oder die eigenen Kinder nicht mehr zu riechen, schlägt sich bei den meisten Patienten in einer depressiven Stimmungslage nieder [45].
6.5
Diagnostik
Wichtig
Grundlage für die Wahrnehmung eines Aromas ist das Zusammenspiel von wenigstens drei Sinneskanälen, nämlich dem gustatorischen, dem olfaktorischen und dem trigeminalen System.
▬ Das gustatorische System (N. glossopharyngeus, N. facialis, N. vagus) vermittelt die vier grundlegenden Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig und bitter. ▬ Der N. trigeminus vermittelt Empfindungen wie das Brennen von Meerrettich,oder die kühlende, prickelnde Wirkung von Menthol. ▬ Schließlich vermittelt der N. olfactorius eine Fülle von Riecheindrücken,wie z.B.den Geruch von Vanillin oder von faulen Eiern. Dabei werden beim Essen die Duftstoffmoleküle der Regio olfactoria über den retronasalen Weg zugeführt. Genaugenommen ist der sog. Feinschmecker also ein Feinriecher. Hieraus wird auch klar, wie entscheidend sich der Verlust des Geruchssinnes auf das tägliche Leben auswirken kann. In Übereinstimmung mit der Literatur [45,46] beobachtet man im klinischen Alltag, dass sich die Patienten nicht so sehr über ausströmendes Gas oder verdorbene Lebensmittel beklagen, sondern eher der verlorengegangenen Lebensqualität nachtrauern. Die meisten Patienten
6.5.1 Patientenuntersuchung Der erste Schritt der Untersuchung ist eine ausführliche Anamnese. Diese sollte Fragen nach den oben genannten Ursachen, dem Zeitrahmen, in dem Störung auftrat, nach eventuellen Grunderkrankungen, Operationen und eingenommenen Medikamenten beinhalten. Um den Leidensdruck einzuschätzen, sollte das Vorhandensein von Parosmie oder Phantosmie bzw.der Einfluss der Riechstörung auf die tägliche Lebensqualität und die Stimmung eruiert werden. Ferner sollten die Ess-, Trink und Rauchgewohnheiten, bzw. deren Änderungen seit dem Auftreten der Riechstörung, oder auch ein Gewichtsverlust erfragt werden. Bei Verdacht auf eine kongenitale Anosmie muss nach der Ausprägung sekundärer Geschlechtsmerkmale bzw. der sexuellen Entwicklung gefragt werden. Bei der körperlichen Untersuchung muss der HNO-ärztliche Bereich genauestens abgeklärt werden. Die endoskopische Untersuchung der Nase ist unerlässlich. Hier muss insbesondere auf Polypen im Bereich der mittleren und oberen Nasenmuschel geachtet werden. Eine neurologische Zusatzuntersuchung kann bei Verdacht auf eine Mitbeteiligung anderer Nerven oder des ZNS hilfreich sein. CT- bzw. MRT-Untersuchungen sind nötig, um dem Verdacht auf eine intrakranielle Raumforderung nachzugehen. Daneben ist das MRT bei der Beurteilung angeborener
104
Kapitel 6 · Riechstörungen
Riechstörungen mit Fehlen des Bulbus olfactorius bzw. verkürztem Sulcus olfactorius von entscheidender Bedeutung [29]. Differentialdiagnostisch sollte nach Diabetes mellitus, Hypothyreoidismus, Lupus erythematodes,Zinkmangel,Vitamin A- oder B12-Mangel gefahndet werden [47].
6.5.2 Testung des Riechvermögens
6
In den letzten Jahren wurden standardisierte Tests zur psychophysischen Untersuchung von Riechstörungen entwickelt, so z.B.: ▬ der UPSIT (University of Pennsylvania Smell Identification Test), bei dem Duftstoffe mikroverkapselt auf Papier aufgebracht werden [7, 48]. Die verschiedenen Duftstoffe müssen in diesem Test anhand einer Liste mit je 4 Begriffen identifiziert werden (www.smelltest.com); ▬ die Riechstifte »Sniffin’ Sticks« [8, 49–51]: hier werden Duftstoffe in Filzstifte abgepackt und durch Abnehmen der Stiftkappe freigesetzt (www.burghart.net). Mit ihnen ist die Prüfung der Identifikation bzw. der Diskrimination von Gerüchen,ein Schwellentest sowie ein schneller Screening-Test möglich. Für diese Tests liegen altersabhängige Normwerte vor [50]. Zur objektivierenden Testung von Riechstörungen stehen als elektrophysiologische Testverfahren olfaktorisch evozierte Potentiale zur Verfügung [52, 53]. Diese Methode wird zwar aufgrund des relativ hohen apparativen Aufwands nur in wenigen Zentren durchgeführt, trägt aber gerade bei gutachterlichen Fragestellungen zur Klärung des Sachverhaltes bei. Die retronasale Wahrnehmung von Gerüchen wird vielfach bei gutachterlichen Fragestellungen mit untersucht [54].Eine Überlegung dabei ist,dass anosmische Patienten nicht in der Lage sein sollten, oral applizierte Aromastoffe mit anderen Begriffen als »süß«, »sauer«, »salzig« und »bitter« zu beschreiben. Hier wurde allerdings gezeigt [55], dass ▬ die spontane Beschreibung von oral verabreichten Aromastoffen Anosmikern zwar schlechter als Hyposmikern und Normosmikern gelang, aber auch keineswegs allen Normosmikern möglich war;
▬ dass sowohl Sensitivität (86%) als auch Spezifität (62%) in der Unterscheidung zwischen Hyposmie und Anosmie ausgesprochen gering war, der Test also letztlich nicht für gutachterliche Zwecke geeignet erscheint. Zusätzlich werden bei gutachterlichen Fragestellungen häufig trigeminale Reizstoffe verwendet,um die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Patienten zu überprüfen. Der Gedanke ist hierbei, dass anosmische Patienten in der Lage sein müssen, Duftstoffe mit starker trigeminaler Reizkomponente wahrzunehmen, wie z.B. Essigsäure oder Ammoniak. Geben die Patienten an, dass sie den dargebotenen Reizstoff nicht wahrnehmen, so kann dies allerdings auch auf eine verminderte trigeminale Sensibilität zurückführen lassen [56].
6.6
Therapieansätze Wichtig
Grundsätzlich hängt die Prognose der Riechstörung von ihrer Ursache ab.
Altersbedingte und kongenitale Riechstörungen können nicht beeinflusst werden.Bei den posttraumatischen und postinfektiösen Anosmien gibt es zwar komplette Spontanremissionen, diese sind jedoch selten.Hingegen unterscheiden sich die beiden Gruppen in Hinsicht auf eine partielle Erholung. Während bei den posttraumatischen Anosmien über die Jahre hinweg in 10 bis 20% der Fälle eine partielle Erholung auftritt, lässt sich diese bei den postinfektiösen Riechstörungen in etwa 40% der Fälle beobachten.Erfahrungsgemäß beobachtet man die größten Remissionsraten in den ersten zwei Jahren nach dem Auftreten des Riechverlustes. Zwar sind Remissionen auch Jahre nach dem traumatischen oder infektiösen Geschehen nicht ausgeschlossen, aber doch als Ausnahme anzusehen. Derzeit gibt es praktisch keine Aussagen hinsichtlich zuverlässiger prognostischer Faktoren, um die Remissionswahrscheinlichkeit auf individueller Ebene voraussagen zu können. Eine seriöse Abklärung, ein aufklärendes Gespräch und – sofern der Wunsch vorhanden ist – ein Angebot, die
105 Literatur
Riechleistung in regelmäßigen Abständen zu testen, geben dem Patienten oft das Gefühl, in seinem Anliegen ernst genommen zu werden und können positiv auf die Krankheitseinstellung einwirken. Die posttraumatischen und postinfektiösen Anosmien werden von den Patienten, wohl vor allem wegen ihres plötzlichen Auftretens, als ganz besonders belastend empfunden.Bei diesen beiden Riechstörungen kommt es auch am häufigsten zu Parosmien, seltener auch zu Phantosmien. Diese treten häufig erst mit einer gewissen Latenz auf und können so zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung der Stimmungslage des Patienten führen.Hier ist es wichtig, den Patienten aufzuklären, dass Parosmien die Tendenz haben sich graduell abzuschwächen und in vielen Fällen spontan verschwinden. Obschon keine eindeutigen Beweise hierfür bestehen, interpretiert man Parosmien eher als Zeichen einer, wenn auch nicht gelungenen, Regenerationsarbeit des olfaktorischen Systems. Neben den oben genanten, eher betreuerischen Therapieansätzen, gibt es eine Reihe von Therapieformen, die bei Riechstörungen angewendet werden. Diese haben sich bei sinunasal bedingten Riechstörungen als effizient erwiesen. Dabei werden Kortikoide topisch und systemisch eingesetzt [20]. Bei schweren mechanischen Behinderungen der Riechfunktion sowie bei fortgeschritteneren Stadien der nasalen Polypose hat sich die funktionelle endoskopische Nasennebenhöhlenchirurgie als erfolgversprechend erwiesen [20, 57]. Abschließend seien hier noch zwei vielversprechende Therapieansätze bei den postviralen Riechstörungen erwähnt. Quint et al. [58] berichteten über signifikante Besserungen der Riechleistung nach 4-wöchiger Therapie mit Caroverin, einem NMDA-Antagonisten, der auch in der Therapie des Tinnitus angewendet wird.In einer weiteren Studie konnten Hummel et al. [59] zeigen, dass sich die Riechleistung unter a-Liponsäure bei postinfektiösen Riechstörungen nach 4-monatiger Therapie besserte. Daneben wurde auch über eine Verminderung der parosmischen Missempfindungen berichtetet. Die beiden Untersuchungen geben zu Hoffnung Anlass. Dennoch kann keine dieser unverblindeten Studien den Therapieeffekt von einer möglichen partiellen Spontanremission abgrenzen. Um dies abzuklären sind derzeit großangeleg-
6
te doppeltblinde Studien zu den getesteten Substanzen im Gang,deren Ausgang abgewartet werden muss.
Fazit Riechstörungen sind häufig. Obwohl in den letzten Jahren reliable Verfahren entwickelt wurden, um Riechstörungen zuverlässig zu diagnostizieren, bzw. Veränderungen des Riechvermögens auch im Verlauf zu erfassen, gibt es mit Ausnahme der sinunasal bedingten Riechstörungen bisher keine etablierten therapeutischen Verfahren. Neuere Untersuchungen deuten allerdings an, dass eine pharmakologische Behandlung posttraumatischer und postviraler Riechstörungen möglich zu sein scheint. Angesichts der hohen Spontanerholungsrate, vor allem bei postviralen Riechstörungen, muss allerdings erst das Ergebnis entsprechender doppeltblinder, placebokontrollierter Untersuchungen abgewartet werden.
Literatur 1. von Skramlik E (1924) Über die Lokalisation der Empfindungen bei den niederen Sinnen. Z Sinnesphysiol 56: 69 2. Amoore, JE (1967) Specific anosmia: a clue to the olfactory code. Nature 214(93): 1095–1098 3. Mozell MM, Jagodowicz M (1973) Chromatographic separation of odorants by the nose: retention times measured across in vivo olfactory mucosa. Science 181(106): 1247–1249 4. Buck L, Axel R (1991) A novel multigene family may encode odorant receptors: a molecular basis for odor recognition. Cell 65(1): 175–87 5. Mombaerts P et al. (1996) Visualizing an olfactory sensory map. Cell 87(4): 675–686 6. Malnic B et al. (1999) Combinatorial receptor codes for odors. Cell 96(5): 713–723 7. Doty RL, Shaman P, Dann M (1984) Development of the University of Pennsylvania Smell Identification Test: A standardized microencapsulated test of olfactory function (UPSIT). Physiol Behav 32: 489–502 8. Hummel T et al. (1997) »Sniffin’ sticks«: olfactory performance assessed by the combined testing of odor identification, odor discrimination and olfactory threshold. Chem Senses 22: 39–52 9. Cain WS. et al. (1988) Evaluation of olfactory dysfunction in the Connecticut Chemosensory Clinical Research Center (CCCRC). Laryngoscope 98: 83–88
106
6
Kapitel 6 · Riechstörungen
10. Kobal G (1981) In: Elektrophysiologische Untersuchungen des menschlichen Geruchssinns. Thieme Verlag, Stuttgart 11. Mesholam RI et al. (1998) Olfaction in neurodegenerative disease: a meta-analysis of olfactory functioning in Alzheimer’s and Parkinson’s diseases. Arch. Neurol 55: 84–90 12. Landis BN, Konnerth CG, Hummel T (2004) A study on the frequency of olfactory dysfunction. Laryngoscope (im Druck) 13. Murphy C et al. (2002) Prevalence of olfactory impairment in older adults. Jama 288(18): 2307–2312 14. Amoore JE (1991) Specific anosmias. In: Getchell TV et al. (eds) Smell and taste in health and disease, Raven Press, New York. pp 655–664 15. Leopold D (2002) Distortion of olfactory perception: diagnosis and treatment. Chem Senses 27(7): 611–615 16. Sugiura M et al. (1998) An epidemiological study of postviral olfactory disorder. Acta Otolaryngol. Suppl. (Stockh.) 538: 191–196 17. Fein BT, Kamin PB, Fein NN (1996) The loss of sense of smell in nasal allergy. Ann Allergy 24(6): 278–283 18. Seiden AM, Litwin A, Smith DV (1989) Olfactory deficits in allergic rhinitis. Chem Senses 14: 746–747 19. Seiden AM, Duncan HJ (2001) The diagnosis of a conductive olfactory loss. Laryngoscope 111: 9–14 20. Wolfensberger M, Hummel T (2002) Anti-inflammatory and surgical therapy of olfactory disorders related to sino-nasal disease. Chem Senses 27 (7): 617–622 21. Costanzo RM, Zasler ND (1991) Head trauma. In: Getchell TV et al. (eds) Smell and Taste in Health and Disease, Raven Press, New York, pp 711–730 22. Doty RL et al. (1997) Olfactory dysfunction in patients with head trauma. Arch Neurol 54 (9): 1131–1140 23. Delank KW, Fechner G (1996) Zur Pathophysiologie der posttraumatischen Riechstörungen. Laryngol Rhinol Otol 75: 154–159 24. Zusho H (1982) Posttraumatic anosmia. Arch. Otolaryngol 108: 90–92 25. Yousem DM et al. (1999) Posttraumatic smell loss: relationship of psychophysical tests and volumes of the olfactory bulbs and tracts and the temporal lobes. Acad Radiol,. 6 (5): 264–272 26. Schellinger D, Henkin RT, Smirniotopoulos JG (1983) CT of the brain in taste and smell dysfunction. Am J Neuroradiol 4(3): 752–754 27. Jafek BW et al. (1990) Congenital anosmia. Ear Nose Throat J 69: 331–337 28. Yousem DM et al. (1996) MR evaluation of patients with congenital hyposmia or anosmia. Am J Radiol 166: 439–443 29. Abolmaali ND et al. (2002) MR Evaluation in Patients with Isolated Anosmia Since Birth or Early Childhood. AJNR Am J Neuroradiol 23: 157–164 30. Kallmann FJ, Schoenfeld WA, Barrera SE (1944) The genetic aspects of primary eunuchoidism. Am J Ment Defic 48: 203–236
31. Wustenberg EG et al. (2001) Normosmie bei Kallmann Syndrom – Ein Fallbericht. Laryngorhinootologie 80: 85–89 32. Hawkes CH, Shephard BC, Daniel SE (1999) Is Parkinson’s disease a primary olfactory disorder? Qjm 92 (8): 473–480 33. Bacon AW et al. (1998) Very early changes in olfactory functioning due to Alzheimer’s disease. Ann N Y Acad Sci 855: 723–731 34. Doty RL, Reyes P, Gregor T (1987) Presence of both odor identification and detection deficits in Alzheimer’s disease. Brain Res Bull 18: 597–600 35. Hyman BT, Arriagada PV, Van Hoesen GW (1991) Pathologic changes in the olfactory system in aging and Alzheimer’s disease. Ann NY Acad Sci 640: 14–19 36. Hastings L, Miller ML (1997) Olfactory loss to toxic exposure. In: Seiden AM (ed) Taste and smell disorders, Thieme, New York, pp 88–106 37. Knecht M, Hüttenbrink KB, Hummel T (1999) Störungen des Riechens und Schmeckens. Schweiz Med Wochenschr 129(27–28): 1039–1046 38. Hüttenbrink KB (1997) Riech- und Schmeckstörungen – Bewährtes und Neues zu Diagnostik und Therapie. LaryngoRhino-Otol 76: 506–514 39. Doty RL (1986) Gender and endocrine-related influences upon olfactory sensitivity. In: Meiselman H, Rivlin RS (eds) Clinical measurement of taste and smell, MacMillan, New York, pp 377–413 40. Weinstock RS, Wright HN, Smith DU (1993) Olfactory dysfunction in diabetes mellitus. Physiol Behav 53(1): 7–21 41. Schiffman SS (1983) Taste and smell in disease (second of two parts). N Engl J Med 308 (22): 1337–1343 42. Henkin RI, Smith FR (1971) Hyposmia in acute viral hepatitis. Lancet 1(7704): 823–826 43. Kleinschmidt EG, Kramp B, Schwager A (1976) Functional study on the sense of smell in patients with chronic liver disease. Z Gesamte Inn Med 31 (20): 853–856 44. Frasnelli JA et al. (2002) Olfactory function in chronic renal failure. Am J Rhinol 16 (5): 275–279 45. Temmel AF et al. (2002) Characteristics of olfactory disorders in relation to major causes of olfactory loss. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 128 (6): 635–41 46. Miwa T et al. (2001) Impact of Olfactory Impairment on Quality of Life and Disability. Arch Otorhinolaryngol Head Neck Surg 127: 497–503 47. Schiffman SS (1983) Taste and smell in disease (first of two parts). N Engl J Med 308 (21): 1275–1279 48. Doty RL et al. (1984) University of Pennsylvania Smell Identification Test: a rapid quantitative olfactory function test for the clinic. Laryngoscope 94 (2 Pt 1): 176–178 49. Kobal G et al. (1996) »Sniffin’ sticks«: screening of olfactory performance. Rhinology 34(4): 222–226 50. Kobal G et al. (2000) Multicenter investigation of 1,036 subjects using a standardized method for the assessment of olfactory function combining tests of odor identification, odor discrimination, and olfactory thresholds. Eur Arch Otorhinolaryngol 257: 205–211
107 Literatur
51. Wolfensberger M, Schnieper I (1999) Sniffin’ Sticks: Ein neues Instrument zur Geruchsprüfung im klnischen Alltag. HNO 47: 629–636 52. Hummel T et al. (2000) Standards für die Ableitung chemosensorisch evozierter Potentiale zur klinischen Diagnostik von Riechstörungen. HNO 48: 481–485 53. Kobal G, Hummel T (1998) Olfactory and intranasal trigeminal event-related potentials in anosmic patients. Laryngoscope 108: 1033–1035 54. Güttich H (1961) Gustatorische Riechprüfung mit Riechstoffen und Mischreizschmeckstoffen. Arch Ohren Nasen Kehlk Heilk 178: 327–330 55. Hummel T et al. (1999) Der gustatorische Riechtest in der Technik nach Güttich: Eine Überprüfung der klinischen Brauchbarkeit. Laryngorhinootologie 78(11): 627–631
6
56. Gudziol H., Schubert M, Hummel T (2001) Decreased trigeminal sensitivity in anosmia. ORL J Otorhinolaryngol Relat Spec 63: 72–75 57. Damm M et al.(2003) Olfactory changes at threshold and suprathreshold levels following septoplasty with partial inferior turbinectomy. Ann Otol Rhinol Laryngol 112(1): 91–97 58. Quint C et al. (2002) The quinoxaline derivative caroverine in the treatment of sensorineural smell disorders: a proof-of-concept study. Acta Otolaryngol 122(8): 877–881 59. Hummel T, Heilmann S, Hüttenbrink KB (2002) Lipoic acid in the treatment of smell dysfunction following viral infection of the upper respiratory tract. Laryngoscope 112: 2076–2080
7 Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) Eine interdisziplinäre Herausforderung K. H. Lechner
7.1
Einleitung
7.2
Ätiologie
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
Okklusion – 110 Zeit – 111 Psyche – 111 Disposition – 112
7.3
Pathogenese und Klinik
7.4
Konsequenzen für die Therapie Fazit
– 110 – 110
– 113
– 118
Weiterführende Literatur
– 118
– 118
7
110
Kapitel 7 · Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
7.1
Einleitung
Der 1980 von der American Academy of Orofacial Pain inaugurierte Begriff der »cranio mandibular dysorders« (CMD) beschreibt kein neues Krankheitsbild. Es handelt sich dabei vielmehr um den von Costen bereits 1934 erstmalig beschriebenen Symptomkomplex. Viele Synonyma wie ▬ Arthrosis deformans (1934, Steinhardt), ▬ temporo-mandibula-joint (TMJ)-Dysfunktion (1963, Shore), ▬ Myoarthropathie (1970, Schulte), ▬ Schmerzdysfunktionssyndrom, ▬ atypischer Gesichtsschmerz u.a. nur um die wichtigsten zu nennen,finden sich nach wie vor in der medizinischen und zahnmedizinischen Literatur. Inzwischen hat sich der Begriff kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) jedoch international durchgesetzt.
7.2
Ätiologie
Im Gegensatz zu früher, als die Ursache für eine CMD ausschließlich in Okklusionsstörungen gesehen und von Zahnärzten therapiert wurde, rückt heute die multifaktorielle Pathogenese mehr und mehr in den Vordergrund. Wichtig
Die CMD wird heute als pathologischer Zustand des gesamten Bewegungsapparates betrachtet.
Graber sprach bereits in den 80er-Jahren von sog. Kettentendomyopathien, die den gesamten Organismus betreffen und nicht als ausschließlich auf den Kopf-, Hals- und Schulterbereich begrenzt betrachtet werden können. Aus einer bisher unveröffentlichten, sicherlich nicht repräsentativen Studie der Zahn-, Mundund Kieferklinik Erlangen mit 218 Patienten geht hervor, dass ein Großteil der Patienten mit einer CMD eine Comorbidität aufweisen. So haben immerhin 40% des Klientels Beschwerden im
⊡ Abb. 7.1. Ursachen für eine CMD in Anlehnung an Lauritzen
Bereich des Bewegungsapparates und ca. 11% Erkrankungen im hals-, nasen- ohrenärztlichen Bereich. Bereits hier wird die Notwendigkeit eines interdisziplinären Therapieansatzes deutlich, da es sich bei der CMD um eine Erkrankung mit ätiologisch wichtigen funktionell-anatomischen, zahnärztlichen und psychosomatischen Komponenten verschiedenster Ausprägung handelt. In Anlehnung an Lauritzen spielen vier Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle bei der Entstehung einer CMD (⊡ Abb. 7.1).
7.2.1 Okklusion Aus zahnärztlicher Betrachtungsweise kommen folgende Faktoren als Ursache für eine CMD in Frage: ▬ Dysgnathien (Progenie, Prognathie, tiefer Biss etc.), ▬ Okklusions- und Artikulationsstörungen (Zahnstellungsanomalien, überhöhte Füllungen, Kronen und Brücken etc.), ▬ unversorgte Freiendlücken, ▬ unzulänglich angefertigter Zahnersatz, ▬ fehlerhafte Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer (in den drei Ebenen des Raumes).
111 7.2 · Ätiologie
Wichtig
Die Dysgnathien zählen eindeutig zu den prädisponierenden Faktoren einer CMD.
7
kompression, da sich der Unterkiefer dem Oberkiefer zu stark nähert.
7.2.2 Zeit Okklusions- und Artikulationsstörungen bedingt durch Zahnstellunganomalien, überhöhte Füllungen etc. führen über die Zeit gesehen zu einer Triggerung und damit zu einer Hyperaktivität aller am Kaugeschehen beteiligten Muskeln. Die unversorgten Freiendlücken oder die am Restzahnbestand nicht abgestützten Teilprothesen führen beispielsweise zu einer Kompression der Kiefergelenke. Die vertikale Zugrichtung der Kaumuskulatur, des M. masseters, des M. temporalis superficialis anterior sowie des M. pterygoideus medialis bedingen eine Durchwindung der Unterkieferknochenspange,da die fehlenden Seitenzähne den Abstand im Kiefergelenk nicht mehr sichern können (⊡ Abb. 7.2). Ein zu groß gewählter Interokklusalabstand, d.h. der Abstand zwischen entspannter Unterkieferposition ohne Zahnkontakt und dem maximalen Vielzahnkontakt (maximale Interkuspidation), der physiologischerweise zwischen 1 und 3 mm schwankt, führt ebenfalls zu einer Kiefergelenk-
Die Dauer einer auf den Organismus einwirkenden Störung, wie z.B. eines Okklusionshindernisses, ist ebenso wie der Grad der einwirkenden Noxe von eminenter Bedeutung. Generell gilt: Je länger eine Störung auf den Organismus einwirkt,desto größer ist die Chance, dass der Körper dekompensiert. Individuelle Faktoren, wie physische und psychische Befindlichkeiten, Tageszeit, soziale Sicherheit und Zufriedenheit etc. spielen nicht nur bei der Schmerzwahrnehmung,sondern auch bei der CMD eine zentrale Rolle. So lag der Altersgipfel des Auftretens einer CMD vor ca. 15 bis 20 Jahren jenseits des 4. Lebensjahrzehntes. In den letzten Jahren ist ein deutliches Absinken des Altersgipfels festzustellen, wobei dieser heute um das 30. Lebensjahr liegen dürfte. Laut verschiedenster Studien liegt die Prävalenz der CMD in der Gesamtbevölkerung, zwischen 10 und 15%. Das weibliche Geschlecht ist mit einem Verhältnis von 5:1 gegenüber dem männlichen stark überrepräsentiert. Als Ursache hierfür werden u.a. hormonelle Faktoren,das generell schwächere Bindegewebe des weiblichen Organismus sowie psycho-emotionale Faktoren diskutiert.
7.2.3 Psyche
⊡ Abb. 7.2. Interdependenz Seitenzahnreihe und Kiefergelenk
Die Bedeutung des Kauorgans für uns Menschen, über das eigentliche Kauen und Sprechen hinausgehend, ist nur den Wenigsten bekannt. So sind es gerade die Kau- und die mimische Muskulatur mit ihrer Feinmotorik, die unseren individuellen Gesichtsausdruck, unsere Befindlichkeit, für jedermann nach außen hin deutlich sichtbar prägen. Es handelt sich dabei um das äußerst komplexe Zusammenspiel der verschiedenen dentalen, muskulären, artikulären, exokrinen sowie nervalen Komponenten, das den verschiedensten Modulationen unterliegt. Das stomatognathe System ist also das Repräsentationssystem sowohl unserer physischen als
112
7
Kapitel 7 · Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
auch psychischen Befindlichkeit. Allein aus dieser Tatsache heraus erklärt sich bereits warum gerade das Kauorgan prädestiniert ist, sowohl auf physische als auf psychische Stressoren zu reagieren. Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, Erschöpfung, Lust, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit spiegeln sich im Tonus unserer gesamten Muskulatur und ganz speziell sowohl in der mimischen als auch der Kaumuskulatur wider. Vom ersten Atemzug, den wir in aller Regel durch den Mund tätigen, bis hin zur tagtäglichen Aufnahme der Energieresourcen (Nahrung, Flüssigkeit), die uns das Überleben sichern: all dies erfolgt über das stomatognathe System. Die Nahrung und Flüssigkeiten, die wir aufnehmen, werden durch die oralen Strukturen, wie Zähne, Zunge, Schleimhäute und Geschmackspapillen, genauestens kontrolliert. Dieses System verfügt über eine überaus beachtliche Sensibilität. So wird das Haar in der Suppe ebenso als störend empfunden wie scharfkantige, spitze, zu harte oder zu heiße Nahrungsbestandteile, die daraufhin entfernt werden. Mit dem Auflösungsvermögen eines 200stel Millimeters und der großen Repräsentationsfläche der Zunge und anderer oraler Strukturen im Homunkulus, ist die Wahrnehmung des stomatognathen Systems um ein Vielfaches besser als die der Fingerbeere. Das Kauorgan zählt zu den Intimzonen eines Menschen, mit dem wir unsere ersten libidinösen Erfahrungen machen.Es ist abgesehen von der Körpersprache unser wichtigstes Kommunikationsorgan nach außen, mit dem wir uns mit anderen Menschen austauschen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass Menschen mit längerer Schmerzanamnese, mit psychosomatischen Störungen oder Neurosen eine Hyperaktivität der Kopf-, Hals- und Kaumuskulatur entwickeln und soziale,berufliche und private Probleme etc.zu Dyskinesien, wie Zähne knirschen und pressen, Zungendruck oder Lippenbeißen, führen.
7.2.4 Disposition Als prädisponierende Faktoren für die Entstehung einer CMD wären weiterhin die Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises zu nennen,die auch
das Kauorgan, wenn auch in aller Regel erst spät, beeinträchtigen. Wichtig
Die generalisierten Gelenkerkrankungen bzw. -veränderungen machen auch vor dem Kiefergelenk nicht Halt. Sie führen zu einer Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme und der Kaufunktion.
Selten, aber doch hin und wieder, ist meist ein ab dem 2. Lebensjahrzehnt spontan auftretender sog. offener Biss Primärmanifestation einer beginnenden Polyarthritis. Fibromyalgien sowie generalisierte Bindegewebs- und Muskelschwäche können das stomatognathe System in nicht unerheblichem Maße in seiner Funktion beeinträchtigen.Skelettale Veränderungen (kongenital oder erworben) am Becken, an der Wirbelsäule oder am Schädel haben nicht unerhebliche Auswirkungen auf das Kauorgan. In diesen Fällen ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Internist, Orthopäde und Zahnarzt unbedingt notwendig. Wir finden auch berufsbedingte Faktoren, die der Entstehung einer CMD Vorschub leisten.So hält der Geiger mit nach vorne seitlich unten geneigtem Kopf und hochgezogener Schulter sein Instrument. Dies führt auf der betreffenden Seite zu einer Hypertonizität der Schulterheber- und Nackenmuskulatur mit entsprechenden, noch zu diskutierenden Auswirkungen auf das stomatognathe System, das Gleichgewichts- sowie das Hörorgan. Des Weiteren muss ein Blasinstrumentenspieler in aller Regel den Unterkiefer nach anterior verlagern um den Ansatz am Mundstück seines Instrumentes zu bewerkstelligen. Dies kann bei intensiver Ausübung zu einer Überbelastung der Strukturen im Kiefergelenk/Ohrbereich führen. Der professionelle Sänger oder die Sängerin überlastet unbewusst die gesamten Strukturen des stomatognathen Systems, indem er/sie den Mund extrem weit öffnen muss. Nicht wenige Berufsmusiker leiden unter ganz erheblichen Problemen gerade im Kopf-, Hals- und Kaumuskelbereich. Körperlich schwer arbeitende Menschen, wie z.B. Möbelpacker, die täglich mehrere Tonnen an Gewicht bewegen, leiden, ebenso wie viele Kraft-
113 7.3 · Pathogenese und Klinik
sportler, unter Störungen im Kauorgan. Es ist unmöglich, selbst einen einfachen Wasserkasten anzuheben ohne entsprechend die gesamte skelettale Muskulatur sowie die Kopf-, Hals- und auch die Kaumuskulatur anzuspannen. Dies führt über die Zeit gesehen zu einer Hypertrophie der Kaumuskulatur, zu Zahnhartsubstanzverlusten sowie zu Störungen der Kiefergelenkfunktion.
Pathogenese und Klinik
7.3
Das stomatognathe System wird auf entsprechende Noxen als einheitliches System mit seinen Bestandteilen ( s. Übersicht) oder partikulär reagieren. Bestandteile des stomatognathen Systems
Mandibula Maxilla Alveolarfortsätze von Ober- und Unterkiefer harter und weicher Gaumen Zähne Parodontien Gingiva propria Mucosa vestibularis Schleimhäute Zunge Kiefergelenke Kaumuskulatur Nerven Gefäß- und Lymphsystem periorale Muskulatur Hals- und Nackenmuskulatur
In aller Regel sind es übermäßig getätigte oder falsch gerichtete Kräfte, die Gelenke oder bindegewebige bzw.muskuläre Strukturen in ihrer Funktion beeinträchtigen und letztlich auch zerstören. Die knöchernen Strukturen des Kauorgans, die Maxilla und die Mandibula mit den entsprechenden Alveolarfortsätzen reagieren wie jede andere knöcherne Struktur auf physiolgische Belastungen (Zugbelastung) im Sinne einer funktionellen Anpassung mit Knochenapposition und Verstärkung der Kortikalisstruktur. Unphysiologische Druckbelastungen oder übermäßige Krafteinwirkungen,
7
wie sie z.B. beim Bruxismus oder bei funktionellen Störungen auftreten können, überfordern den Kieferknochen in seiner Adaptionsfähigkeit. Die Alveolarfortsätze werden generalisiert – oder isoliert auf einige Zähne – mit einem Knochenabbau reagieren. Die Zähne werden locker, wandern und fallen letztlich aus. Die übermäßig getätigten Kaukräfte führen zu entsprechenden Sensationen im Bereich des harten und/oder weichen Gaumens. Sehr häufig werden von Patienten Druck- und Spannungsgefühle im Oberkiefer und Pharynxbereich, Ventilationsstörungen des Mittelohres sowie Globusgefühle angegeben. Die Zähne leiden unter einem übermäßigen Zahnhartsubstanzverlust, reagieren mitunter mit einer Rissbildung in der mikrokristallinen Struktur des Zahnschmelzes oder verändern – ohne erkennbaren Grund – ihre ursprüngliche Position im Zahnbogengefüge.Der Zahnhalteapparat wird zerstört, wobei es gerade die horizontalen oder vektoriellen, nicht jedoch die vertikalen, Kräfte sind, die zur Zerstörung des Parodontiums führen. Eine Rötung oder Schwellung der Schleimhäute geht oftmals mit funktionellen Störungen einher, die sehr häufig als allergische Reaktion missinterpretiert werden. Von vielen Patienten wird ein Kribbeln und/oder Brennen der Schleimhäute, der Gingiva propria und Mucosa vestibularis oder der äußeren Gesichtshaut angegeben. Ursache hierfür ist oftmals eine funktionelle Überbelastung. Die Beweglichkeit der Zunge ist sehr häufig beeinträchtigt. Das dreidimensionale Muskelgitter der Zunge ist verspannt, was beim Patienten zu nicht unerheblichen Problemen führen kann. Sehr häufig erkennt der Sachkundige auf den ersten Blick die Impressionen der Zähne im Zungenrandbereich. Die Patienten pressen die Zunge (meist korreliert mit einem Bruxismus) gegen die Zahnreihen und spannen dabei die gesamte Mundboden-,supra- und infrahyoidale Muskulatur sowie die Stimmbandmuskulatur an. Schluckbeschwerden, Globus- oder Fremdkörpergefühle oder das Phänomen des »Versiegens der Stimme« korrelieren sehr häufig mit Zungenrandimpressionen, sofern keine anderen organischen Ursachen gefunden werden können. Jeder Hals-, Nasen-Ohrenarzt sollte sich aus diesem Grund die Zunge sehr genau anschauen
114
Kapitel 7 · Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
und sich über die entsprechenden funktionellen Zusammenhänge vertraut machen. Dadurch können oft weitreichende und aufwändige diagnostische Verfahren vermieden werden. Wichtig
Die Kiefergelenke reagieren auf schädigende Einflüsse wie jedes andere Gelenk im Organismus mit Schmerzen und/oder einer Funktionsbeeinträchtigung. Ein Gelenkknacken ist immer ein Zeichen einer Funktionsstörung, ein Reibegeräusch bereits Hinweis eines manifesten Schadens.
7
Die im stomatognathen System wirkenden Kräfte sind fulminant. Ein Großteil dieser Kräfte wird über die Zähne, den Zahnhalteapparat und die Alveolarfortsätze auf den Schädel abgeleitet. Die Kiefergelenkregion und seine anatomischen Strukturen tragen ebenfalls dazu bei, diese Kräfte auf den Schädel zu verteilen. Der M. pterygoideus lateralis, der das Zusammenspiel zwischen Gelenkpfanne, Diskus und Gelenkkopf steuert und wesentlich die Bewegungen des Gelenkkopfes beim Abbeißen,Kauen,der Mundöffnung,der Vorschub- und Seitwärtsbewegung bewerkstelligen muss, wird, wie z.B. beim exzentrischen Bruxismus,massiv überansprucht.Der Discus articularis wird,entsprechend der Zugrichtung des M. pterygoideus lateralis, nach medial vorne gezogen und dort gehalten. Die Elastizität des dorsalen Ligamentes des Diskus reicht nicht aus, um ihn beim Zurückführen des Unterkiefers, z.B. aus der maximalen Mundöffnung, in seine Ausgangsposition (habituelle Unterkieferposition) zurückzuführen. Eine habituelle Luxation mit oder ohne Reposition ist die Folge. Es ist primär immer das Ungleichgewicht zwischen der Aktivität des M. pterygoideus lateralis und der Elastizität des dorsalen Ligamentes, das zu einer Verlagerung des Diskus und einem Gelenkgeräusch mit Funktionsstörungen führt. Dies muss immer, sowohl bei der Diagnosestellung als auch bei der Therapie, berücksichtigt werden. Die Kaumuskulatur, d.h. der M. masseter, der M. temporalis superficialis, der M. pterygoideus medialis und lateralis (nur um die wichtigsten zu
nennen; tatsächlich ist jedoch die gesamte Kopf-, Hals- und Kaumuskulatur beim Kauen, Schlucken und Sprechen mitbeteiligt) reagieren auf entsprechende Störungen mit einer Aktivitätserhöhung und einer Hypertrophie (Bodybuilding-Effekt). Bei entsprechenden Noxen treten Verspannungen und Verhärtungen in den Muskelfaserfibrillen (Myogelosen) auf.Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen resultieren aus dem »Angespanntsein« der Muskulatur, da diese nicht mehr in der Lage, ist ihre ursprüngliche Länge wieder einzunehmen,verkürzt bleibt und unelastisch wird.Eine forcierte Mundöffnung, z.B. bei zahnärztlichen sowie hals-, nasen- ohrenärztlichen Untersuchungen und Eingriffen, zerren an den Muskelfaserfibrillen und dehnen diese gewaltsam, so dass anschließend entsprechende Beschwerden auftreten. Die skelettale Muskulatur hat u.a. die unangenehme Eigenschaft nicht unmittelbar dort mit Schmerzen zu reagieren, wo Verhärtungen, Verspannungen und Myogelosen auftreten, sondern kann einen sog. Triggerpunkt oder Projektionsschmerz induzieren (⊡ Abb. 7.3). Es gibt inzwischen entsprechendes Kartenmaterial für den gesamten Körper, in dem die Muskeln angegeben werden, die einen Projektionsschmerz in ein bestimmtes Körpergebiet, wie z.B. das Ohr, induzieren können. Diese Karten basieren auf den jahrelangen Beobachtungen und Forschungen von Frau J. Travell, einer amerikanischen Neurophysiologin. So ist bei einem Ohrschmerz unbekannter Genese auch nach Triggerpunkten in der entsprechenden Muskulatur zu forschen. Der N. trigeminus, in seltenen Fällen auch der N. facialis, können, bei entsprechender Hyperaktivität der Muskulatur des stomatognathen Systems, irritiert werden. Durch das Muskelfaserbündel laufen sowohl die zu- und abführenden Blutgefäße als auch die sensorischen, sensiblen und motorischen Nerven sowie die Lymphbahnen.Ein hyperaktiver Muskel,der angespannt und verkürzt ist, stranguliert sich selbst, da der Blutfluss durch die Anspannung gestört wird. Der Muskel leidet unter einem Sauerstoffdefizit und übersäuert.Gleichzeitig werden die entsprechenden Nervenendigungen irritiert, wobei nicht der Nerv selbst die Ursache darstellt, sondern die Hyperaktivität der Muskulatur dafür verantwortlich ist.
115 7.3 · Pathogenese und Klinik
7
⊡ Abb. 7.3. Projektionsschmerzen verschiedener Muskeln in den Kopfbereich. (Nach Paul St. John)
Im Bereich der Schleimhäute geben viele Patienten ein Kribbeln, ein Brennen sowie das Gefühl des Ameisenlaufens bis hin zum totalen Sensibilitätsausfall an. Langwierige und aufwändige Untersuchungen könnten oftmals vermieden werden, wenn Ärzte und Zahnärzte über die funktionellen Zusammenhänge von Funktionsstörungen besser informiert wären. Manche Patienten berichten auch über Schwellungen im Kopf-, Hals- und Gesichtsbereich gleich nach dem Aufstehen.Diese Beschwerden sind für den Arzt oft nicht nachvollziehbar. Bedingt durch die Selbststrangulation des Muskels kommt es zu einem Lymphstau, der nach dem Aufstehen – entsprechend der Schwerkraft – nach kaudal abfließt und nach einer gewissen Zeit nicht mehr nachweisbar ist. Die gesamte funktionelle Einheit Kauorgan, zu der auch die periorale, supra- und infrahyoidale sowie die Schulter- und Nackenmuskulatur zählen, können auf entsprechende Überbelastung mit Anspannung, Schmerzen und einer Funktionsbeeinträchtigung reagieren. Wir haben es bei der kraniomandibulären Dysfunktion mit mehreren komplexen Symptomen zu tun, deren Ursache oft unklar und für viele von uns
nicht nachvollziehbar und diagnostizierbar ist (⊡ Abb. 7.4). Alleine von der Tatsache ausgehend, dass nach Angaben der WHO der Spannungskopfschmerz für ca. 15% der Arbeitsausfälle verantwortlich ist, wird deutlich, dass ein interdisziplinärer Ansatz sowohl bei der Diagnostik als auch bei der Therapie solcher Funktionsstörungen notwendig ist. Bedauerlicherweise haben wir Mediziner und Zahnmediziner in unserer Ausbildung wenig oder gar nichts über funktionelle Zusammenhänge verschiedenster Krankheitsbilder gelernt. Meistens konzentrieren wir uns heute auf den Ort des Schmerzes oder der Funktionsstörung und lassen, sehr oft zum Leidwesen unserer Patienten,funktionelle Betrachtungen gänzlich außen vor. Welchem Arzt oder Zahnarzt sind die Zusammenhänge zwischen der Beckenstellung und der Position des Keilbeins bewusst? Fehlstellungen des Beckens, des zentralen Stützorgans unseres Körpers, haben aszendente und deszendente Auswirkungen auf die Gesamtstatik unseres Körpers. Die Kippung, Aufrichtung und Torquierung des Beckens führt zur kompensatorischen Anspannung und Hyperaktivität der Ober- und Unterschenkelmusku-
116
Kapitel 7 · Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
⊡ Abb. 7.4. Symptome einer CMD
7
⊡ Abb. 7.5. Muskuläre Kompensationen einer Beckenfehlstellung
117 7.3 · Pathogenese und Klinik
latur sowie zu kompensatorischen Verspannungen im Bereich der Wirbelsäule (paravertebrale Muskulatur) und der Kopf-,Hals-,Schulter- und Nackenmuskulatur (⊡ Abb. 7.5). Dieses Zusammenspiel folgt nicht ausschließlich kompensatorisch über Muskelketten, sondern auch über Körperfaszien und dem Duraschlauch der Medulla oblongata bis hin zu den Hirnhäuten. Die Interdependenzen sind derart komplex, dass sie sich nicht in drei Sätzen abhandeln lassen. Interessierten Leserinnen und Lesern möchte ich das »Lehrbuch der cranioSacralen Therapie« von Upledger u.Vredevoogd [14] ans Herz legen. Wichtig
Dem Keilbein (Os sphenoidale) kommt bei der Ausbildung einer CMD (mit den verschiedensten Manifestationen im Schädel-, Gesichts- und Ohrbereich) eine zentrale Bedeutung zu.
Dieser unpaarige Knochen ist beim Aufbau der Orbita,der seitlichen Schädelkalotte,der Schädelbasis sowie des Nasen- und Rachenraumes beteiligt. Er korrespondiert mit nahezu sämtlichen Knochen des Schädels (⊡ Abb. 7.6). Bedenken wir, dass der M. temporalis superficialis im Bereich der seitlichen Schädelkalotte am
⊡ Abb. 7.6. Das Os sphenoidale (*) ist beim Aufbau der Orbita, der seitlichen Schädelkalotte, der Schädelbasis sowie des
7
Os sphenoidale inseriert und eine vertikale Zugrichtung aufweist. Der M. pterygoideus medialis, der mit dem M. masseter eine Muskelschlinge um den Unterkieferkörper bildet und am Processus pterygoideus des Keilbeins inseriert, weist einen vertikalen Faserverlauf auf. Der M. pterygoideus lateralis, der vom Diskus und dem Gelenkkopf des Kiefergelenkes zum Processus pterygoideus verläuft, übt eine medioanteriore Zugrichtung auf das Keilbein aus. Ist nur einer der genannten Muskeln hyperaktiv, so kommt es, bedingt durch Zugrichtung und Aufgabe des Muskels, zu einer minimalen Positionsveränderung des Keilbeins in Bezug zu den benachbarten Schädelknochen.Entsprechende Sensationen wie ▬ ein Druckgefühl hinter dem Auge, ▬ ein feuchtes oder zu trockenes Auge, ▬ wechselnder Visus unbekannter Genese, ▬ ein Kribbeln und Brennen der Mund-, Nasenoder Rachenschleimhäute, ▬ Schwindelattacken, ▬ Kopfschmerzen, ▬ Funktionsstörungen des Gehörorgans bis hin zum Tinnitus können daraus resultieren. Der Geiger,um das anfängliche Beispiel wieder aufzugreifen, spannt beim Halten seines Instrumentes
Nasen- und Rachenraumes beteiligt. Es korrespondiert mit nahezu sämtlichen Knochen des Schädels
118
7
Kapitel 7 · Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
sowohl die gesamte Schulterhebermuskulatur als auch die gesamte seitliche Halsmuskulatur an. Der M. sternocleidomastoideus, die Mm. scaleni sowie der M.trapezius inserieren am Felsenbein (Os temporale). Bekannterweise ist die Gelenkpfanne des Kiefergelenks ein Teil des Os temporale. Es beherbergt außerdem das statoakustische Organ. Bedingt durch den Faserverlauf der betreffenden Muskulatur kommt es zu einer Zugspannung auf das Felsenbein: es erfährt eine minimale Rotation, dessen Drehachse der Gehörgang darstellt. Da das Felsenbein ebenso wie das Keilbein am Aufbau der Schädelbasis beteiligt ist, treten auch intrakranielle Zugspannungen über die Dura und die Falx cerebri auf. Die Mikrorotation des Felsenbeins beim Geigenspieler wird über die Zeit auch zu Problemen im Gehör- und Gleichgewichtsorgan sowie im Kiefergelenk führen. Der Blasinstrumentenspieler muss, um seinem Instrument einen Ton entlocken zu können, den Unterkiefer nach vorne bewegen. Um diese Position zu halten, muss er permanent sowohl den linken und rechten M. pterygoideus lateralis, die gesamte Mundbodenmuskulatur als auch die supra- und infrahyoidale Muskulatur anspannen. Der M. temporalis superficialis anterior, der M. digastricus sowie der M. mylohyoideus als antagonistische Muskeln werden gedehnt und die Nackenmuskulatur, die den Zug des M. pterygoideus lateralis und der supra- und infrahyoidalen Muskulatur kompensieren muss, wird mit einer Hyperaktivität und einer Verspannung reagieren. Unter Berücksichtigung des jeweiligen Faserverlaufes der betreffenden Muskulatur werden das Os occipitale, das Os temporale sowie das Os parietale und das Os sphenoidale jeweils einer Zugspannung ausgesetzt, die sich auch in einer Verspannung der Hirnhäute fortsetzt. Entsprechende funktionelle Probleme sind damit vorprogrammiert. Unabhängig davon erfahren die Strukturen im Kiefergelenk eine fortwährend andauernde Grenzbelastung, der sie auf Dauer natürlich nicht gewachsen sein werden.
7.4
Konsequenzen für die Therapie
Erst wenn wir die in diesem Beitrag dargestellten funktionellen Zusammenhänge begreifen und verstehen lernen, können wir auch unsere Patienten erfolgreich therapieren. Es ist sehr hilf- und lehrreich,sich von seiner eigenen starren und isolierten Betrachtungsweise eines Krankheitsbildes zu lösen und dieses im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fachdisziplinen, sowie Osteopathen und Krankengymnasten zu beleuchten. Es schult unsere Wahrnehmung, unser Verständnis und auch unsere Sensibilität.Wir lernen wieder unsere Hände, unser Gespür, unsere Intuition als diagnostisches Hilfsmittel einzusetzen und uns nicht ausschließlich auf klinische Parameter (Röntgenbilder etc.) zu verlassen. Denn unsere Kenntnisse über die verschiedenen physiologischen Zusammenhänge, gerade auf diesem Gebiet sind erschreckend gering.Erst wenn wir wieder lernen, den Menschen als Ganzes, als Einheit von Körper, Seele und Geist zu begreifen, werden wir meiner Auffassung nach aus der Sackgasse der heutigen Apparatemedizin herausfinden. Die Menschen, unsere Patienten, sehnen sich nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und nach einem würdigen Umgang durch den Arzt. Um es mit Paracelsus auszudrücken: Der Patient ist der Arzt, der Arzt lediglich sein Gehilfe.
Fazit Bei der kraniomandibulären Dysfunktion handelt es sich um eine multifaktorielle Erkrankung des stomatognathen Systems. Neben Ursachen, die den zahnärztlichen Bereich betreffen, sollten bei Diagnostik und Therapie zunehmend psychische Faktoren sowie Probleme der allgemeinen Körperstatik berücksichtigt werden.
119 Weiterführende Literatur
Weiterführende Literatur 1. Ahlers MO, Jakstat HA (2001) Klinische Funktionsanalyse. Denta-Conzept, Hamburg 2. Broich I (1988) Das Mundorgan. Haug, Heidelberg 3. Brune K, Beyer A, Schäfer M (2001) Schmerz, Pathophysiologie, Pharmakologie, Therapie. Spinger, Berlin Heidelberg New York Tokio 4. Fricton JR, Dubner R (1995) Orofacial pain and temporomandibular disorders. Raven, New York 5. Gerber A, Steinhardt G (1990) Dental occlusion and the temporomandibular joint. Quintessenz, Berlin 6. Göbel G (2001) Ohrgeräusche. Urban & Vogel, München 7. Graber G et al. (1980) Weichteilrheumatismus und Myoarthropathien des Kiefer- und Gesichtsbereiches. Schw Monatsz Zahnheilkd 90 (7)
7
8. Hupfauf L et al. (1989) Funktionsstörungen des Kauorgans. Urban & Schwarzenberg, München 9. Morgan DH et al. (1986) Das Kiefergelenk und seine Erkrankungen. Quintessenz, Berlin 10. Schulte W (1983) Die exzentrische Okklusion. Quintessenz, Berlin 11. Sergel HG (1996) Psychologie, Psychosomatik in der Zahnheilkunde. Urban & Schwarzenberg, München 12. Siebert GK (1996) Atlas der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik. Hanser, München 13. Travell JG, Simons DG (1998) Handbuch der Muskel-Triggerpunkte. Gustav Fischer, Lübeck 14. Upledger JE, Vredevoogd JD (1994) Lehrbuch der cranioSacralen Therapie. Haug, Heidelberg
8 Die vasomotorische Rhinopathie Aktueller Stand der Therapie M.W. Winter
8.1
Einleitung und Begriffsdefinition
8.2
Epidemiologie
8.3
Pathophysiologie
8.4
Diagnostik
8.5
Therapie
– 122
– 123 – 123
– 125 – 126
8.5.1 Medikamentöse Therapie – 127 Kortikosteroide – 127 Leukotrien-Rezeptorantagonisten – 127 Anticholinergika – 127 Capsaicin – 127 Botulinumtoxin – 128 Antihistaminika – 128 Sympathomimetika – 128 8.5.2 Chirurgische Therapie – 129 Eingriffe an den Nerven – 129 Eingriffe an den Nasenmuscheln – 130 Fazit – 131
Literatur
– 132
122
Kapitel 8 · Die vasomotorische Rhinopathie
8.1
Einleitung und Begriffsdefinition
Der Begriff der »vasomotorischen Rhinopathie« findet sich in der Literatur heute nur noch selten.Es gibt zahlreiche Versuche, den Begriff der Rhinitis neu zu definieren und eine einheitliche Klassifizie-
I
8
Allergische Rhinitis
II Nicht-allergische Rhinitis
rung zu erreichen. Beispielhaft sei hier nur die Einteilung der Joint Task Force der American Academy of Allergy, Asthma and Immunology von 1998 genannt [8], bei der die »vasomotorische Rhinopathie« unter der perennialen nicht-allergischen Rhinitis subsummiert ist.
A. Saisonal B. Perennial C. Episodisch D. Berufsbedingt (kann auch nicht-allergisch bedingt sein) A. Infektbedingt
1. Akut 2. Chronisch
B. NARES (nicht-allergische Rhinitis mit Eosinophilie-Syndrom) C. Perenniale nicht-allergische Rhinitis (vasomotorische Rhinitis) D. Andere Rhinitissyndrome 1. Ziliendyskinesie-Syndrom 2. Atrophische Rhinitis 3. Hormonell-induziert A. Hypothyreose B. Schwangerschaft C. Menstruation 4. Körperliche Belastung (Sport) 5. Medikamentös-induziert A. Rhinitis medicamentosa B. Orale Kontrazeptiva C. Antihypertensiva D. Aspirin E. Nichtsteroidale Antipholgistika 6. Reflexinduziert A. Gustatorische Rhinitis B. Reizstoff-induziert C. Körperhaltungsreflexe D. Nasaler Zyklus E. Emotionale Faktoren 7. Berufsbedingt (kann auch allergisch bedingt sein)
Weiterhin fällt auf, dass nunmehr einige Rhinitisformen als selbständige Erkrankungen aufgelistet werden, die man früher unter der »vasomotorischen Rhinopathie« zusammenfasste, wie z.B. die
reflexinduzierten Formen nach Einwirkung chemischer Reize. So sehr der Versuch einer Vereinheitlichung auch notwendig und sinnvoll erscheint, so wenig wird jedoch in der Literatur von einer allge-
123 8.3 · Pathophysiologie
mein gültigen Klassifizierung Gebrauch gemacht. Es existiert daher weiterhin die Gefahr der fehlenden Vergleichbarkeit von wissenschaftlichen Daten, da die Tendenz besteht, »Äpfel mit Birnen« zu vergleichen. Als kleinster gemeinsamer Nenner hat sich jedoch für die vasomotorische Rhinopathie die »nicht-allergische und nicht-infektiöse perenniale Rhinopathie« herauskristallisiert. Ein weiterer Versuch der Auflösung der begrifflichen Vielfalt stellt die Hervorhebung der »nasalen Hyperreaktivität« dar.Mit dieser Begrifflichkeit,der sich auch die Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) angeschlossen hat [2], versucht man dem Dilemma der Frage Rhinitis oder Rhinopathie auszuweichen und subsummiert sämtliche Reaktionen der nasalen Schleimhaut auf einen Reiz als »nasale Hyperreaktivität«. Für die Praxis hilfreich gezeigt hat sich jedoch weiterhin die etwas ältere Klassifizierung von Ring. Anhand des Nasensekretes erfolgt die Einteilung in eine »allergische«, eine »nicht-allergische« und eine »infektiöse« Rhinitis. Bei der nicht-allergischen Form wird zwischen einer Rhinitis ohne und einer Rhinitis mit Eosinophilie,auch NARES (Nicht Allergische Rhinitis mit Eosinophilie) genannt, unterschieden (⊡ Abb. 8.1; [32]).
8.2
8
aus,dass die Prävalenz auch bei den nasalen Hyperreaktivitätsformen etwa 15% beträgt[10].
Pathophysiologie
8.3
Typischerweise wird die vasomotorische Rhinopathie durch unspezifische Reize wie Staub, Rauch, chemische Reizstoffe, scharfe Gewürze, Temperaturveränderungen, Austrocknung der Schleimhäute (z.B. durch Klimaanlage) aber auch durch Körperlageveränderungen, hormonelle und emotionale Einflüsse ausgelöst.
Unspezifische Reize, die als Auslöser einer vasomotorischen Rhinopathie gelten
Staub- und Rauchpartikel; Chemische Irritantien (Lösungsmittel, Alko
hol, Waschpulver, Küchendämpfe, Gerüche, Halogene, Formalin, Äther, Gewürze u.a.); Temperaturwechsel (besonders Kälte); Luftzug; Körperlageveränderung; Austrocknung der Schleimhäute; hormonelle Einflüsse (Rhinitis im 3. Trimenon); Stress, Ermüdung, emotionale Faktoren.
Epidemiologie
Zur Prävalenz der allergischen Rhinitis gibt es einige epidemiologische Untersuchungen. Für die westliche Bevölkerung liegt die Prävalenzrate dabei zwischen 10–20% [32]. Zu den nicht-allergischen Rhinitisformen lässt sich deutlich weniger Zahlenmaterial finden. Allgemein geht man aber davon ⊡ Abb. 8.1. Einteilung der Rhinitis (Nach Ring [32])
Man geht dabei von einer »nasalen Hyperreaktivität« aus, die bei einer unspezifischen Reizung zu den Symptomen der wässrigen Rhinorrhoe, der behinderten Nasenatmung durch Obstruktion, zu Juck- und Niesreiz und gelegentlich zu Kopfschmerzen führt. Anders ausgedrückt: »Die Nase reagiert über«.
124
8
Kapitel 8 · Die vasomotorische Rhinopathie
Was sind die Ursachen dieser nasalen Überempfindlichkeit? Man geht von einem Ungleichgewicht zwischen den beiden Partnern des vegetativen Nervensystems, Parasympathikus und Sympathikus,aus.Wodurch dieses Gleichgewicht gestört wird, ist bislang unbekannt. Möglicherweise kommt es zu dieser vegetativen Dysregulation nach einem Nasentrauma [38] als Folge einer Veränderung der adrenergen und cholinergen Rezeptorpopulationen [17]. Auch eine hypothalamische Fehlsteuerung [37] oder ein Acetylcholinesterasemangel [12] werden als Ursachen diskutiert.Für die Theorie der vegetativen Dysregulation spricht auch die Beobachtung, dass Patienten mit einer vasomotorischen Rhinopathie gehäuft an anderen Krankheiten des vegetativen Nervensystems leiden, wie z.B. an einer gastroösophagealen Refluxerkrankung bzw.an Magen-DarmUlzera [19]. Ob es sich bei dem gestörten Gleichgewicht nun um ein Übergewicht des Parasympathikus handelt, wie es bislang stets angenommen wurde,oder ob vielmehr der Sympathikus nur zu gering ausgebildet ist, kann bislang noch nicht abschließend beurteilt werden.Allerdings konnten Untersuchungen am vegetativen Nervensystem von Patienten mit vasomotorischer Rhinopathie zeigen, dass der Sympathikotonus zu schwach entwickelt ist [13, 19, 21]. Auch die klinische Erfahrung zeigt, dass sich durch eine Stärkung des Sympathikotonus, durch Saunabesuche, Kneipp-Kuren oder auch durch sportliche Betätigung, eine Besserung der Symptomatik erreichen lässt.So konnte gezeigt werden, dass die Nasenschleimhaut im Vergleich zum Myokard eine 4-fach stärkere Sensitivität gegenüber zirkulierendem Adrenalin aufweist [22]. Demgegenüber kommt es bei körperlicher Ruhe (z.B. im Liegen) und Einatmung von CO2-haltiger Luft zu einer Zunahme der nasalen Obstruktion durch Füllung der Kapazitätsgefäße in der Nasenschleimhaut [24,30].Auch ein Druck auf Thoraxwand und Axilla, wie er beim Liegen auftreten kann, führt zu einer Verstärkung der nasalen Obstruktion [29]. Als weitere Ursache wird eine Überempfindlichkeit nasaler Nozizeptoren diskutiert, die nach einer Reizung Neuropetide freisetzen. Zu diesen Neuropeptiden gehören z.B. ▬ die Substanz P, ▬ das vasoaktive intestinale Peptid (VIP), ▬ das calcitonin gene related peptide (CGRP),
die fast alle zu einer ▬ Vasodilatation, ▬ Ödembildung, ▬ Hypersekretion und ▬ Mastzelldegranulation führen und somit die gleichen Symptome auslösen, die auch bei der vasomotorischen Rhinopathie auftreten [45]. Die Nozizeptoren sind Bestandteil autonomer Reflexbogen des N. trigeminus (C-Fasern) und an der physiologischen Homöostase der Schleimhaut beteiligt. Die nasale Schleimhaut mitsamt der Drüsen und Gefäße wird also hauptsächlich durch drei Nervenbahnen reguliert, die ▬ cholinerge, ▬ adrenerge und ▬ peptiderge Innervation (⊡ Abb. 8.2). Der N. ethmoidalis anterior, ein sensibler Endast des N.trigeminus bzw.des N.ophthalmicus scheint, ebenso wie das Ganglion pterygopalatinum, an der parasympathischen Versorgung der Nase teilzunehmen [26]. Aufgrund der großen Anzahl an Drüsen im vorderen Nasenabschnitt hat der N.ethmoidalis anterior eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung [41]. Das Ganglion pterygopalatinum erhält vom N. intermedius, dem Begleitnerv des N. facialis, über den N. petrosus major parasympathische Signale, die im Ganglion umgeschaltet werden und dann die Drüsen in der Schleimhaut versorgen. Hierdurch kommt es bei einer Reizung zur Schleimproduktion. Bei den Gefäßen bewirkt der parasympathische Einfluss eine Dilatation. Dieser Effekt, der über cholinerge Rezeptoren vermittelt wird, ist allerdings durch Atropin oder andere anticholinerge Substanzen nicht beeinflussbar [20]. Der sympathische Einfluss gelangt via Grenzstrang und Ganglion cervicale superius über das Nervengeflecht entlang der Carotis interna als N. petrosus profundus – ohne Umschaltung im Ganglion pterygopalatinum – direkt an die Gefäße. Er führt zu einer Vasokonstriktion. Der Einfluss auf die Drüsen ist noch unklar. Vereinfachend lässt sich jedoch festhalten, dass der sympathische Einfluss v.a. die Gefäße betrifft, der parasympathische Einfluss eher die Drüsen [21, 26].
125 8.4 · Diagnostik
8
⊡ Abb. 8.2. Schema der Innervation der Nasenschleimhaut (Mod. nach Nomura [26])
Darüber hinaus gibt es in der Nase eine weitere, sog. peptiderge Innervation. Überträgerstoffe sog. lokaler autonomer trigeminaler Reflexe sind u.a.VIP, CGRP und Substanz P. Diese Neuropeptide wirken fast alle vasodilatatorisch und sekretorisch ( s. oben), beeinflussen aber auch den Effekt der anderen Überträgerstoffe Acetylcholin und Noradrenalin. Auf einen unspezifischen Reiz hin kommt es bei einem gestörten Gleichgewicht zwischen Parasympathikus und Sympathikus zu einer Ausschüttung von Acetylcholin mit Vasodilatation und Drüsensekretion, was letztendlich zu Rhinorrhoe, nasaler Obstruktion und Niesreiz führt.Parallel dazu führt die Neuropeptidausschüttung zu denselben Folgeerscheinungen (⊡ Abb. 8.3). Wie lässt sich therapeutisch in diesen Regelkreis eingreifen? Natürlich sollte man zuallererst darauf achten, unspezifische Reize zu meiden. Hemmend lässt sich auf den Parasympathikus über Ipratropiumbromid und Botulinumtoxin, welches die Freisetzung von Acetylcholin reduziert, einwirken. Auch chirurgisch kann man das parasympathische System beeinflussen, v.a. über eine Blockade des N. vidianus und des Ganglion pterygopalatinum. Capsaicin, der Scharfstoff von Pfeffer, beeinflusst die Neuropeptidausschüttung. Sympathomimetika bewirken eine Vasokonstriktion. Auch roborierende Maßnahmen führen über eine Stärkung des Sympathikus zu einer Verbesserung
der Nasenatmung. Kortison hemmt sowohl die Vasodilatation als auch die Drüsensekretion. Auch Antihistaminika scheinen einen entsprechenden Effekt zu haben. Im Rahmen einer chirurgischen Nasenmuschelbehandlung kann man durch Wegnahme von Gewebe das Erfolgsorgan, die nasale Schleimhaut der Nasenmuschel, reduzieren und somit die Symptome lindern.Auf die einzelnen therapeutischen Möglichkeiten wird später noch genauer eingegangen.
8.4
Diagnostik Wichtig
Die Diagnose der vasomotorischen Rhinopathie ist eine Ausschlussdiagnose, die nur nach Erhebung einer gründlichen Anamnese und einer sorgfältigen Untersuchung (endoskopische Rhinoskopie, evtl. CT zum Ausschluss einer Sinusitis) gestellt werden darf.
Insbesondere ist eine negative Allergieanamnese (d.h. keine saisonale Beschwerdeschilderung) und eine negative Hauttestung (Pricktest) mit normalem Serum-IgE und RAST erforderlich. Da trotz negativem Prick-Test und normalem Serum-IgE eine Allergie vorliegen kann, wird vielfach auch für die Diagnose einer nicht-allergischen Rhinopathie
126
Kapitel 8 · Die vasomotorische Rhinopathie
8
⊡ Abb. 8.3. Pathophysiologie der vasomotorischen Rhinopathie und therapeutische Möglichkeiten
eine negative nasale Provokation gefordert. Hilfreich für die Diagnose ist auch das Fehlen einer Augensymptomatik. Zur Klärung der Frage, ob eine allergische Rhinitis vorliegt, kann das Nasensekret herangezogen werden. Dabei konnte eine japanische Arbeitsgruppe [11] zeigen, dass im Nasensekret allergischer Patienten sowohl mehr Albumin als auch ein 26 kD großes,nicht näher bezeichnetes Protein nachweisbar ist. Dieser Nachweis ließ sich bei nicht allergischen Patienten hingegen nicht erbringen. Ob es sich um eine Rhinitis mit Eosinophilie (NARES) handelt, kann durch den zytologischen Nachweis eosinophiler Granulozyten im Nasensekret geklärt werden. Unter der NARES, die gut mit Antihistaminika behandelbar ist, leiden vor allem Patienten im mittleren Alter, die neben der üblichen Symptomatik auch über Geruchsstörungen berichten.Die Ursache der NARES ist bislang unbekannt, möglicherweise handelt es sich um eine Vorstufe der Aspirin-Intoleranz.
Wann spricht man von einer vasomotorischen Rhinopathie? Mygind [25] hat eine Definition versucht: Er fordert, dass mindestens zwei Symptome für die meiste Zeit des Jahres (genauere Angaben werden hierzu nicht gemacht) und mehr als eine Stunde täglich andauern müssen. Auch eine allgemeine Testung des vegetativen Nervensystems ist mittlerweile möglich. So konnte bei Patienten mit vasomotorischer Rhinopathie durch eine Vielzahl neurologischer Tests (z.B. Schweißtests, Valsalva-Teste u.a.) eine allgemeine Imbalance des vegetativen Nervensystems nachgewiesen werden [13, 19].
8.5
Therapie
Die vasomotorische Rhinopathie lässt sich sowohl medikamentös als auch chirurgisch behandeln. Im Folgenden werden die einzelnen Optionen aufgezeigt. Es bleibt jedoch dem einzelnen Arzt vor-
127 8.5 · Therapie
behalten, die teilweise sehr unterschiedlich ausgeprägten Symptome des Patienten zu werten und ihn einer adäquaten Therapie zuzuführen.
8.5.1 Medikamentöse Therapie Kortikosteroide Der Effekt von Kortison ist vielfältig und wurde bereits in mehreren Studien nachgewiesen. Kortikoide entfalten ihre Wirkung über spezifische Rezeptoren. Der Wirkungseintritt ist verzögert, Kortikoide sind somit keine Bedarfsmedikamente. Sie hemmen die Entzündungsmediatoren (z.B. Prostaglandine und Leukotriene) und reduzieren die Ansammlung von Zellen, die an einer Entzündung beteiligt sind [36]. Weiterhin wird die Sensitivität der Nozizeptoren und Cholinrezeptoren gehemmt [23]. Der gefäßverengende Effekt wird gefördert, nasale Obstruktion, Niesreiz und Rhinorrhoe nehmen ab. Somit wäre Kortison für die vasomotorische Rhinopathie eigentlich das ideale Medikament, die systemischen und lokalen Nebenwirkungen schränken die Anwendbarkeit jedoch ein. Eine orale Anwendung von Kortikosteroiden über längere Zeit ist aufgrund der systemischen Nebenwirkungen obsolet.Wenn überhaupt,ist nur eine kurzzeitige Therapie (Prednison 20–30 mg/Tag für 3–5 Tage), z.B. im Rahmen einer Entwöhnung bei Privinismus, gerechtfertigt. Die Domäne der Kortikosteroide ist hingegen die lokale Anwendung,wenngleich auch hier bei einigen Präparaten die Nebenwirkungen nicht zu vernachlässigen sind (z.B. Septumperforationen, trockene Schleimhäute, Brennen in der Nase). Bei manchen Kortikoiden treten trotz lokaler Anwendung auch systemische Nebenwirkungen auf.Allerdings zeigen die Kortikosteroide der neueren Generation wie Beclomethason (Beconase), Mometason (Nasonex) und Fluticason (Flutide) fast keine systemischen Nebenwirkungen mehr, weshalb sie auch in der Langzeittherapie und eingeschränkt auch in der Schwangerschaft einsetzbar sind.
8
gruppe noch nicht für die chronische Rhinosinusitis zugelassen ist. Leukotriene als Mastzellprodukt fördern die Gefäßpermeabilität und ödematöse Schwellungen mit wässriger Rhinorrhoe. Sie begünstigen die Schleimproduktion von Drüsen, stimulieren sensorische Nerven und erzeugen dadurch Niesreiz. Es liegt daher nahe, LeukotrienRezeptorantagonisten bei der vasomotorischen Rhinopathie einzusetzen. In einer schottischen Studie [44] konnte allerdings nicht nachgewiesen werden, dass die alleinige Anwendung von Singulair bei der vasomot.Rhinitis wirksam ist .Lediglich in Kombination mit einem lokalen Kortikoid kam es zu einer Verbesserung der Kopfschmerzen, der nasalen Obstruktion und der Rhinorrhoe. Bei der allergischen Rhinitis mit pulmonaler Beteiligung scheint Singulair sehr gut wirksam zu sein. Seit neuestem ist Montelukast auch für die Therapie der saisonalen allergischen Rhinitis zugelassen.
Anticholinergika Das klassische anticholinergische Medikament zur Therapie der vasomotorischen Rhinopathie ist Ipratropiumbromid (Atrovent), welches als Atrovent nasal in Europa, nicht aber in Deutschland zur Verfügung steht [5]. Dieses ursprünglich in der Asthmatherapie wegen seines broncholytischen Effekts eingesetzte Anticholinergikum muss jedoch mehrmals am Tag in die Nase eingesprüht werden. In Amerika werden zwei Nasensprays mit unterschiedlichen Dosierungen angeboten: 0,03% für die vasomotorische Rhinopathie und 0,06% für den normalen virusbedingten Schnupfen [8]. In Deutschland muss man das für die Asthmatherapie zugelassene Medikament mit einem speziellen Nasenadapter anwenden. In Europa ist das Medikament als Atrovent nasal z.B. in Norwegen erhältlich. Atrovent ist wegen sehr geringer systemischer Absorption zur Langzeittherapie geeignet. Als lokale Nebenwirkungen treten eine Austrocknung bzw.ein Brennen der Schleimhäute sowie gelegentlich Nasenbluten auf. Atrovent wirkt v.a. auf die nasale Sekretion, nicht auf Obstruktion und Niesreiz [14].
Leukotrien-Rezeptorantagonisten Eine weitere interessante Stoffgruppe stellen die Leukotrien-Rezeptorantagonisten dar, wobei diese aus der Asthmatherapie kommende Medikament-
Capsaicin Ein weiterer Stoff, um den es in letzter Zeit allerdings wieder etwas ruhiger geworden ist, ist
128
8
Kapitel 8 · Die vasomotorische Rhinopathie
Capsaicin,der Scharfstoff des Gewürzpaprikas und Cayennepfeffers. Letztendlich nutzt man bei diesem Medikament die allgemein bekannte Tatsache aus, dass man durch den Genuss scharfer Speisen ein Nasenlaufen provozieren kann. Bei mehrmaliger Anwendung kommt es dann zu einer Abnahme der Beschwerden (v.a. der Rhinorrhoe und des Niesreizes) im Sinne einer Desensibilisierung [46]. Dabei konnte gezeigt werden, dass Capsaicin die Neuropeptidfreisetzung fördert und die Neubildung von z.B. Substanz P hemmt [6]. Weiterhin konnte im Tierversuch eine Degeneration der trigeminalen C-Fasern nachgewiesen werden. Das Medikament gibt es noch nicht in fertiger Lösung. Es ist aber rezeptierbar und muss von der Apotheke jeweils neu angemischt werden. Man behandelt in der Regel in 7 Sitzungen über drei Wochen mit Nasensprays steigender Konzentrationen [31]. Der Effekt der Symptomverbesserung hält etwa sechs Wochen bis sechs Monate an, danach muss die »Desensibilisierung« erneut vorgenommen werden. Aufgrund der relativ unangenehmen Art der Einnahme und des etwas aufwändigen Verfahrens mittels Sprays unterschiedlicher Konzentration, ist die Compliance des Patienten, unserer Erfahrung nach, sehr gering. Capsaicin kann somit nicht als Medikament der ersten Wahl angesehen werden.
Botulinumtoxin Weitere interessante Substanzen im Rahmen der Therapie der vasomotorischen Rhinopathie sind die Botulinumtoxine A und D.Insgesamt gibt es von diesem Nervengift 7 Untergruppen, wobei Typ A v.a.neuromuskulär wirkt und Typ D im autonomen Nervensystem die stärkste Wirkung entfaltet. Dies konnte an der Gl. submandibularis von Hunden bereits nachgewiesen werden [39]. Allerdings sind die bisher veröffentlichten Versuche an der Nase beim Tier oder Mensch immer nur mit Subtyp A durchgeführt worden. Neben zwei Tierversuchen, die bereits die Effektivität des Verfahrens der nasalen Applikation aufzeigen konnten [33, 40], gibt es bislang in der Literatur nur eine Veröffentlichung aus Korea [15], in der je 4 Einheiten Botox A mit einer Nadel in die mittlere und untere Nasenmuschel des Menschen injiziert wurden. Unter dieser Therapie kam es allerdings lediglich zu einer Ver-
besserung der Rhinorrhoe, und der Effekt hielt nur vier Wochen an [15]. Man muss man sicherlich weitere Untersuchungen mit Botulinumtoxin Typ D abwarten. Möglicherweise kommt es hierbei zu einem länger anhaltenden Effekt als mit Botulinumtoxin A.Auch ist die direkte Applikation ins Ganglion pterygopalatinum zu überlegen: als Injektion oder in Form eines Tupfers, der direkt vor das Foramen pterygopalatinum gelegt wird.
Antihistaminika Antihistaminika spielen bei der Therapie der vasomotorischen Rhinopathie nur eine untergeordnete Rolle. Es ist diesbezüglich wenig Literatur vorhanden und es konnte nur eine Studie gefunden werden, in der die Wirksamkeit eines bereits relativ alten Antihistaminikums (Astemizol,Hismanal) in Kombination mit Beconase nachgewiesen werden konnte. Diese Medikamentenkombination führte zu einer Verbesserung des Niesreizes und der Obstruktion [43]. Für Antihistaminika der neueren Generation gibt es im Zusammenhang mit der vasomotorischen Rhinopathie noch keine Studien. Dies gilt auch für die Anwendung topischer Antihistaminika.
Sympathomimetika Die lokalen Sympathomimetika (v.a. die a2-Rezeptoragonisten wie Oxymetazolin oder Naphazolin) bilden eine weitere Medikamentengruppe, die bei der Behandlung der nasalen Obstruktion weit verbreitet ist [1].Auch der Einsatz von a1-Agonisten ist möglich, sie wirken jedoch nicht so selektiv auf nasale Rezeptoren und besitzen deshalb größere systemische Nebenwirkungen. Wichtig
Sympathomimetika sind nicht zur Dauertherapie geeignet, da bei längerer Einnahme ein Gewöhnungseffekt (Privinismus, Rhinitis medicamentosa) entsteht.
Dieser Gewöhnungseffekt wird zum einen durch eine Abnahme der Rezeptorempfindlichkeit erklärt, zum anderen über eine Hypoxie der Schleimhaut, welche dann erneut zu einer Vasodilatation führt [4].
129 8.5 · Therapie
Weiterhin werden reversible Schleimhautschädigungen und mögliche systemische Nebenwirkungen beschrieben.Allerdings ist der Effekt einer Verbesserung der Nasenatmung stark ausgeprägt und hält z.B.bei Oxymetazolin bis zu sechs Stunden an [3]. Die Anwendung von oralen Sympathomimetika (z.B. Phenylpropanolamin) zur Behandlung der vasomotorischen Rhinitis ist in den angloamerikanischen Ländern durchaus üblich [27]. Hierzulande ist eine Dauermedikation aufgrund der systemischen Nebenwirkungen (Harnverhalt, Glaukom, Hypertension, Schlaflosigkeit, Tachykardie, Hirnblutung u.a.) jedoch wenig verbreitet.
8.5.2 Chirurgische Therapie Die chirurgische Therapie kann man einteilen in eine ▬ gezielte dauerhafte oder temporäre Nervenausschaltung und eine ▬ Reduktion der Nasenmuscheln.
8
Eingriffe an den Nerven Im Wesentlichen werden bei diesen Verfahren der N. ethmoidals anterior, das Ganglion pterygopalatinum und der N.vidianus angegangen (⊡ Abb. 8.4). Bereits seit langem bekannt (und im angelsächsischem Raum auch noch relativ oft durchgeführt) ist die Resektion des N. vidianus über einen transantralen Zugang. Allerdings verursacht die Vidianus-Resektion auch eine Zerstörung der sympathischen und sensiblen Fasern und somit eine noch weitergehendere Senkung des Sympathikotonus. Da der Parasympathikus aber gleichzeitig ausgeschaltet ist, kommt dies zunächst weniger zur Geltung [16]. Die Patienten berichten über eine deutliche Verbesserung der wässrigen Rhinorrhoe und der Obstruktion.Auch wird eine Besserung des Niesreizes angegeben. Nach einer Vidianus-Resektion wurden in der nasalen Schleimhaut weniger intakte und degranulierte Mastzellen nachgewiesen. Dies legt den Schluss nahe, dass der parasympathische Einfluss eine wichtige Rolle bei der Mastzellregulation und damit auch bei der Histaminfreisetzung spielt [34,
⊡ Abb. 8.4. Angriffsorte bei einer nervalen Therapie der vasomotorischen Rhinopathie
130
8
Kapitel 8 · Die vasomotorische Rhinopathie
35]. Allerdings werden als Nebenwirkungen nach einer Vidianus-Resektion über trockene Augen bis hin zu einer Keratitis berichtet [18]. Auch ist der Effekt nicht dauerhaft und eine Wiederholung des Eingriffes oft nach etwa sechs Monaten notwendig. Ein Verfahren aus der Schmerztherapie findet auch bei der vasomotorischen Rhinopathie Anwendung, nämlich die Blockade des Ganglion pterygopalatinum mittels 0,125%igem Bupivacain, welches in einem getränkten Spitztupfer für fünf Minuten an das Foramen pterygopalatinum gelegt wird. Dieser Eingriff sollte über fünf Wochen einmal wöchentlich durchgeführt werden.Eine Gruppe aus Indien [28] konnte mit dieser Methode eine Symptomfreiheit von bis zu 20 Monaten erreichen. Ähnlich erfolgreich – mit einer Symptomfreiheit von 76,9% bis zu 15 Monaten – wird über eine Ausschaltung des (ebenfalls parasympathische Fasern führenden) N. ethmoidalis anterior mittels Glycerol über einen transorbitalen Zugang berichtet [47].Vor Ausschaltung des Nerven mittels reinem Glycerol wird dabei mittels 2%igem Lidocain ein Nervenblock durchgeführt und somit die Lage des N. ethmoidalis anterior lokalisiert. Mit einer Effektivität von 87% scheint auch die transnasale Elektrokoagulation des N. ethmoidalis anterior hilfreich zu sein [7].
Eingriffe an den Nasenmuscheln Eine weitere, bis heute noch nicht endgültig entschiedene Frage, ist die Wahl des richtigen Verfahrens zur Behandlung der hypertrophen Nasenmuschelschleimhaut. Tasman [42] hat in einem kürzlich veröffentlichten Artikel die einzelnen Methoden aufgeführt und die jeweiligen Vor- und Nachteile aufgezeigt. Die schleimhautschonendste Methode, mit der sich aber oft nicht genügend Platz schaffen lässt, ist sicherlich die submuköse Muschelreduktion. Dabei wird nach einer Schleimhautinzision im vorderen Muschelkopf der knöcherne Anteil der Nasenmuschel entfernt. Ein ähnliches Verfahren,allerdings ohne Resektion, ist die bloße Quetschung des Os turbinale, wodurch man eine Verschmälerung des Nasenmuschelkörpers erreicht. Eine Lateroposition der Nasenmuschel ist v.a. bei weit ins Nasenlumen vorspringendem Mu-
schelkopf indiziert.Auch dieses Verfahren zeichnet sich durch maximale Schleimhautschonung aus. Immer noch relativ schleimhautschonend (aber schon etwas stärker invasiv) ist die Turbinoplastik – entweder nur im anterioren Bereich oder über die gesamte Muschellänge hinweg. Hierbei wird, nach Schleimhautinzision im vorderen Muschelkopfbereich, die mediale Schleimhaut als Lappen vom Os turbinale abpräpariert und anschließend, entweder nur im vorderen Muschelanteil oder über die gesamte Länge des Knochens, mit anhängender lateraler Schleimhaut reseziert. Der mediale Schleimhautlappen wird wieder nach lateral über den Knochenrand geklappt. Der Vorteil dieses Verfahrens ist die Vermeidung einer freiliegenden Knochenkante und somit eine schnellere Wundheilung mit geringerer Nachblutungsgefahr. Relativ wenig schleimhautschonend ist die klassische Conchotomie. Sie führt zwar zu einer deutlichen Volumenreduktion, birgt aber – bei zu ausgeprägter Durchführung – auch die Gefahr der zu weiten Nase mit der Folge einer atrophen Rhinitis. Die Nasenmuschel wird mittels Schere subtotal abgeschnitten, d.h. ein Muschelanteil bestehend aus lateraler Schleimhaut, Knochen und medialer Schleimhaut entfernt. Die Knochenkante liegt dabei frei.Hierdurch verlängert sich die Wundheilung und das Risiko einer Nachblutung ist erhöht. Als weitere, nicht schneidende Techniken der Nasenmuschelbehandlung sind zu nennen: ▬ die mono- oder bipolare Koagulation (entweder submukös oder transmukös), ▬ die Verwendung eines transmukös über eine Inzision eingeführten Shavers zur Reduktion von Schwellgewebe ohne Reduktion des Knochens und ▬ die mittlerweile weit verbreitete Anwendung des Lasers, v.a. des CO2-Lasers, des DiodenLasers oder des Neodym-Yag-Lasers mit Tiefenwirkung. Ein weiteres Verfahren ist die Koagulation mittels Argon-Plasma, welches jedoch aufgrund einer nur geringen Tiefenwirkung keine weite Verbreitung gefunden hat. Sicher gibt es noch andere Verfahren, die hier nicht aufgeführt wurden.Allen gemein ist letztendlich die mehr oder weniger schleimhautschonende
131 8.5 · Therapie
Reduktion von Gewebe.Ein Vergleich der jeweiligen Verfahren gestaltet sich aufgrund sehr unterschiedlicher Beurteilungsmethoden als sehr schwierig. Tasman [42] fordert daher, die anteriore Turbinoplastik als Goldstandard anzusehen und alle weiteren Verfahren auf ihre Wirksamkeit prospektiv im Vergleich zu untersuchen. Eine Forderung, der man sich, nach Durchsicht der Literatur, uneingeschränkt anschließen kann. Durch die Reduktion von Gewebe,welches auch Drüsen, Gefäße und Rezeptoren beinhaltet, kommt es bei der Behandlung der vasomotorischen Rhinopathie zu einer deutlichen Symptomverbesserung.Sowohl Obstruktion als auch Rhinorrhoe und Niesreiz bessern sich. Allerdings kann bei zu starker Volumenreduktion der Nasenmuscheln auch der gegenteilige Effekt der »blockierten Nasenatmung« trotz weiter Nasenlumina auftreten. Wahrscheinlich kommt dies – neben der bekannten Änderung des Strömungsverhaltens der einströmenden Atemluft – auch durch das Fehlen der trigeminalen Kälterezeptoren, die bei der Conchotomie mit dem Muschelgewebe entfernt werden, zustande. Der Patient kann somit den Temperaturabfall der inspiratorischen Atemluft nicht mehr wahrnehmen. Er registriert dies, trotz eines physikalisch normalen Widerstands in der Nase, subjektiv als Nasenatmungsbehinderung [9]. Diese Nebenwirkung ist vom rhinochirurgisch tätigen HNO-Operateur gefürchtet,insbesondere wenn die Patienten über Jahre hinweg betreut werden. Nicht selten stellt sich nach einer anfänglichen deutlichen Nasenatmungsverbesserung durch die Conchotomie später eine erneute Behinderung der Nasenatmung ein, obwohl die Nasenlumina weit sind. Dieser Effekt der »zu weiten Nase« ist später nur noch schwer behebbar,weshalb es die Überzeugung des Autors ist, möglichst wenig an der Schleimhaut der Nasenmuscheln zu manipulieren. Vielmehr sollte bei einer Nasenatmungsbehinderung an die Bedeutung der äußeren und inneren Nasenklappe und deren operative Therapie durch Knorpelimplantate (sog. spreader- und batten grafts) zur Verbesserung der Nasenatmung gedacht werden.
Fazit Obwohl versucht wird, durch neuere RhinitisKlassifizierungen den Begriff der vasomotorischen Rhinopathie zu vermeiden, hat es sich für die tägliche Arbeit des Klinikers bewährt – nach Ausschluss einer Infektion und einer Allergie – von einer Überreaktion der Nasenschleimhaut auf unspezifische Reize auszugehen und diese »Schnupfenart« unter dem Begriff der vasomotorischen Rhinopathie zu subsummieren. Als Ursache wird von einem Ungleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus ausgegangen, wobei man mittlerweile eher einen zu schwachen Sympathikus, und nicht wie bisher einen zu starken Parasympathikus, für die Symptomatik verantwortlich macht. Als Therapieoptionen sind neben roborierenden Maßnahmen und Vermeidung von unspezifischen Reizsituationen v.a. medikamentöse und chirurgische Interventionen zu nennen. Das Arzt-Patientenverhältnis spielt bei der Wahl der adäquaten Therapie eine wichtige Rolle. Dabei muss, insbesondere bei der Wahl des richtigen Medikaments, die jeweilige individuelle Symptomkonstellation berücksichtigt werden (⊡ Tabelle 8.1). Klagt der Patient z.B. v.a. über eine Nasenatmungsbehinderung, wird Ipratropiumbromid (Atrovent nasal) keinen Effekt bringen. Es ist ebenso verständlich, wenn auf eine medikamentöse Dauertherapie mit entsprechenden Nebenwirkungen verzichtet wird und sich Patient und Therapeut schon frühzeitig für ein chirurgisches Verfahren entscheiden. Dabei macht es durchaus Sinn, dass man zunächst schleimhautschonende Verfahren ( wie z.B. eine Nervenblockade mittels Lokalanästhetikum im Bereich des N. ethmoidalis anterior und des Ganglion pterygopalatinum) anwendet und erst bei deren Erfolglosigkeit auf invasivere – z.T. destruierende – Verfahren der Nasenmuschelbehandlung zurückgreift.
8
132
Kapitel 8 · Die vasomotorische Rhinopathie
⊡ Tabelle 8.1. Zusammenfassung der therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung der vasomotorischen Rhinopathie nach Symptomgewichtung Therapeutische Option
8
Symptom Rhinorrhoe
Obstruktion
Niesreiz
Spray: Ipratropiumbromid (Atrovent) Capsaicin Sympathomimetika (z.B. Otriven u.a.) Kortikoide nasal (z.B. Nasonex)
+++ ++ +++ ++
– – +++ ++
– + – ++
Injektion: Botox A/D
+++
–
–
(+) (+) ++
(+) – ++
(+) ++ –
++ ++ ++ ++
++ ++ ++ ++
+ + + +
Orale Medikation: Kortikoide oral Antihistaminika Montelukast (Singulair), in Kombination mit einem lokalen Kortikoid Chirurgie: Nasenmuschelbehandlung Vidianus-Resektion Ggl. pterygoideum-Blockade Rhizotomie N. ethmoidalis anterior
Literatur 1. Andersson KE, Bende M (1984) Adrenoreceptors in the control of human nasal mucosal blood flow. Ann Otol Rhinol Laryngol 93:179–182 2. AWMF online-Leitlinien: Die nasale Hyperreaktivität, Leitlinie Nr. 017/058. http://www.uni-duesseldorf.de/ AWMF/ll/nahy-t01.htm 3. Bende M, Loth S (1986) Vascular effects of topical oxymetazoline on human nasal mucosa. J Laryngol Otol 1986;100: 285–88 4. Black MJ, Remsen KA (1980) Rhinitis medicamentosa. Can Med Assoc J 122: 881–884 5. Borum P, Mygind N, Larsen FS (1979) Intranasal ipratropium: a new treatment for prenennial rhinitis. Clin Otolaryngol 4: 407–411 6. Burks TF, Buck SH, Miller MS (1985) Mechanisms of depletion of substance P by capsaicin. Fed Proc 44: 2531–2534 7. Dong Z, Sun SY, Bu GX (1991) Anterior ethmoidal electrocoagulation for treatment of vasomotor rhinitis. Chin J Otorhinolaryngol 26: 358–359 8. Dykewicz MS, Fineman S, Skoner DP et al. (1998) Diagnosis and management of rhinitis: complete guidelines of the Joint Task Force on Practice Parameters in Allergy, Asthma and mmunologogy. Ann Allergy Asthma Immunol 81: 478–518
9. Eccles R (1992) Nasal airway resistance and nasal sensation of airflow. Rhinol Suppl 14: 86–90 10. Heppt W (Hrsg) (1995) Zytologie der Nasenschleimhaut. Springer, Berlin Heidelberg New York 11. Iguchi Y, Yao K, Okamoto (2002) A ccharacteristic protein in nasal discharge differentiating non-allergic chronic rhinosinusitis from allergic rhinitis. Rhinologty 40: 13–17 12. Ishii T, Toriyama M (1972) Acetylcholinesterase activity in the vasomotor and secretory fibers of the nose. Arch Klein Exp Ohr Kehlkopfheilkd 201: 1–10 13. Jaradeh SS, Smith TL, Torrico L, Prieto TE, Loehrl TA, Darling RJ, Toohill RJ (2000) Autonomic nervous system evaluation of patients with vasomotor rhinitis. Laryngoscope 110: 1828–1831 14. Kaiser HB, Findlay SR, Georgitis JW, Grossman J, Ratner PH, Tinkelman DG (1995) Longterm treatment of perennial allergic rhinitis with ipratropium bromide nasal spray 0,06%. J Allergy Clin Immunol 95: 1128–32 15. Kim KS, Kim SS, Yoon JH, Han JW (1998) The effect of botulinumtoxin type A injection for intrinsic rhinitis. J Laryngol Otol 112: 248–251 16. Kimmelman CP, Ali GHA (1986) Vasomotor rhinitis. Otolaryngol Clin North Am 19: 65 17. Kubo N, Kumazawa T, Yamashita T et al. (1989) Functional disturbancde of the sympathetic nerve in experimentallyinduced nasal hypersensitivity. Acta Otolaryngol (Stockh) 463: 5–13 (Suppl)
133 Literatur
18. Lin PY, Cheng CY, Wu CC, Yen MY, Wang SJ, Liao KK, Lee SM (2001) Bilateral neurotrophic keratopathy complicating Vidian neurectomy. Am J Ophthalmol 132: 106–108 19. Loehrl TA, Smith TL, Darling RJ et al. (2002) Autonomic dysfunction, vasomotor rhinitis, and extraeosphageal manifestations of gastroesophageal reflux. Otolaryngol Head Neck Surg 126: 382–387 20. Lung MA, Wang JCC (1989) Autonomic nervous control of nasal vasculature and airflow resistance in the anaesthetized dog. J Physiol 419:121–139 21. Lung MA (1995) The role of the autonomic nerves in the control of nasal circulation. Biol Signals 4: 179–185 22. Malcolmson K (1959) The vasomotor activities of the nasal mucous membrane. J Laryngol Otol 73: 73–98 23. Malm L, Wihl JA, Lamm CJ Lindquist N (1981) Reduction of methacholine-induced nasal secretion by treatment with a new inhaled topical streoid in perennial non-allergic rhinitis. Allergy 36: 209–214 24. McCaffrey T, Kern E (1979) Response of nasal airwa resistance to hypercapnia and hypoxia in man. Ann Otol Rhinol Laryngol 8: 47–252 25. Mygind N (ed) (1979) Perennial rhinitis. In: Nasal allergy, 2nd edn. Blackwell, Oxford, pp 224–232 26. Nomura Y, Matsuura T (1972) Distribution and clinical significance of the autonomic nervous system in the human nasal mucosa. Acta Otolaryngol 73: 493–501 27. Pontel P (1984) Toxicity of the over-the counter stimulants. J Am Med Assoc 252: 1898–1903 28. Prasanna A, Murthy PSN (1997) Vasomotor rhinitis and sphenopalatine ganglion block. J Pain Symptom Manage 13: 332–338 29. Preece M, Eccles R. (1993) The effect of pressure and warmth applied to the axilla on unilateral nasal airway resistance and facial skin temperature. Acta Otolaryngol 113: 777–781 30. Rao S, Potdar A (1970) Nasal airflow with body in various positions. J Appl Physiol 28: 162–171 31. Riechelmann H, Davris S, Bader D (1993) Behandlung der perennialen nichtallergischen Rhinopathie mit Capsaicin. HNO 41: 475–479 32. Ring J (Hrsg) (1992) Angewandte Allergologie, 2. Aufl. MMV Medizinverlag, München 33. Rohrbach S, Olthoff A, Laskawi R, Giefer B, Bötz W (2001) Botulinum toxin type A induces apoptosis in nasal glands of guinea pigs. Ann Otol Rhinol Laryngol110: 1045–1050 34. Rucci L, Borghi Cirri MB, Masini E, Fini Storchi O (1985) Vidian nerve resection in chronic hypertrophic non aller-
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41. 42.
43.
44.
45.
46.
47.
8
gic rhinitis: effects on histamine content, number and rate of degranulation processes of mast cells in nasal mucosa. Rhinology23: 309–314 Rucci L, Masini E, Arbi Riccardi R et al. (1989) Vidian nerve resection, histamine turnover and mucosal mast cell function in patients with chronic hypertrophic non-allergic rhinitis. Agents Actions 28: 224–230 Saavedra-Delgado AMP, Mathews KP, Pan PM, Kay DR, Muilenberg ML (1980) Dose-response studies of the suppression of whole blood histamine and basophil counts by prednisone. J Allergy Clin Immunol 66: 464–71 Seebohm PM (1990) Allergic and nonallergic rhinitis. In: English GM (ed) Otolaryngology. Lippincott, Philadelphia Segal S, Shlamkovitch N, Eviatar E, Berenholz L, Sarfaty S, Kessler A (1999) Vasomotor rhinitis following trauma to the nose. Ann Otol Rhinol Laryngol 108: 208–210 Shaari CM, Sanders I, Wu BL, Biller HF (1993) A new target for botulinum toxin therapy in the head and neck: the autonomic nervous system. Presaented at the American Society of Head and Neck Surgery meeting, Los Angeles, Calif., April 21 Shaari CM, Sanders I, Wu BL, Biller HF (1995) Rhinorrhea is decreased in dogs after nasal application of botulinum toxin. Otolaryngol Head Neck Surg 112: 566–571 Sun SY, Dong Z, Bu GX (1991) Distribution and significance of nasal glands. Chin J Otolaryngol 26: 96–98 Tasman AJ (2002) Die untere Nasenmuschel: Dysregulation und chirurgische Verkleinerung. Laryngo Rhino Otol 81: 822–838 Wihl JA, Petersen BN, Petersen LN, Gundersen G, Bresson K, Mygind N (1985) Effect of the nonsedative H1-receptor antagonist astemizole in perennial allergic and nonallergic rhinitis. J Allergy Clin Immunol 75: 720–727 Wilson AM, White PS, Gardiner, Nassif R, Lipworth BJ (2001) Effects of leukotriene receptor antagonist therapy in patients with chronic rhinosinusitis in a real life rhinology clinic setting. Rhinology 2001 38: 142–146 Wolf G (1988) Neue Aspekte zur Pathogenese und Therapie der hyperreflektorischen Rhinopathie. Laryngol Rhinol Otol 67: 438–445 Wolf G, Anderhuber W, Hauser-Kronberger C, Saria A (1995) Die Behandlung der unspezifischen hyperreflektorischen Rhinopathie (vasomotorische Rhinitis) mit Capsaicin. Laryngo-Rhino-Otol 74: 289–293 Yue WL (1995) Anterior ethmoidal glycerol rhizotomy for vasomotor rhinitis. ENT-Ear, Nose Throat J 74: 764–767
9 Fragensammlung zur Selbstkontrolle Zusammengestellt von E. Gürlek
136
Kapitel 9 · Fragensammlung zur Selbstkontrolle
1. Welche der folgenden Aussagen zur Sialorrhoe treffen zu? a) neurologische Störungen sind die häufigsten Ursachen im Kindesalter b) die Hypersekretion steht bei den neurologischen Störungen im Vordergrund c) die medikamentös induzierte Sialorrhoe wird durch das Herabsetzen der Schluckfrequenz verursacht d) die neuroleptika-induzierte Sialorrhoe ist die häufigste medikamentös bedingte Form 2. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen zur Sialorrhoe auf ihre Richtigkeit: Der gastroösophageale Reflux kann als Ursache einer Sialorrhoe bei Kindern ausgeschlossen werden, weil GERD bei Kindern nicht vorkommt.
9
3. Welche der folgenden Aussagen zur Sialorrhoe sind richtig? a) die Sialometrie stellt die wichtigste diagnostische Methode dar b) die Therapie der Sialorrhoe sollte eine Zusammenarbeit von Zahnarzt, HNO-Arzt, Kieferorthopäden, MKG-Chirurgen und Neurologen beinhalten. c) die konservative Therapie sollte einer chirurgischen immer vorgezogen werden d) vor einer spezifischen Therapie sollte eine Beseitigung von aggravierenden Faktoren erfolgen 4. Bei der konservativen Therapie der Sialorrhoe a) ist die Biofeedback-Therapie mit am erfolgreichsten b) gilt die Strahlentherapie nur bei einer primär schlechten Lebenserwartung als Methode der Wahl c) zeigen sich bei der Scopodermpflaster-Applikation gute Langzeitergebnisse d) bricht eine nicht geringe Anzahl der Patienten die medikamentöse Therapie aufgrund der Nebenwirkungen ab
5. Für die chirurgische Therapie der Sialorrhoe gilt: a) Ligaturen bzw. Stenosierungen des StenonGanges mittels Laser sind die Therapie der Wahl b) das Vorliegen einer Aspiration stellt eine Kontraindikation für das Rerouting der Ausführungsgänge dar c) Patienten mit Gebissvollprothesen sind zur chirurgischen Intervention nicht geeignet d) die transtympanale Neurektomie ist heute ein gängiges Therapiekonzept 6. Überprüfen Sie folgende Aussagen auf ihre Richtigkeit: Die Xerostomie im Alter ist nicht behandlungsbedürftig, weil die Reduktion des Speichels im Alter einen physiologischen Vorgang darstellt. 7. Welche der folgenden Aussagen zur Ursachen einer Xerostomie sind richtig? a) wichtige Ursachen sind zentrale Störungen b) die medikamentös induzierte Xerostomie ist eine seltene Ursache c) bei Vorliegen einer Xerostomie sollte bei der Hypertoniebehandlung Diuretika Vorrang gegeben werden d) die medikamentöse Behandlung des M. Parkinson kann einer Xerostomie entgegenwirken 8. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: Der Typ-1-Diabetiker neigt weniger zur Xerostomie als der Typ-2-Diabetiker, weil beim Typ-1-Diabetiker eine autonome Neuropathie entstehen kann. 9. Überprüfen Sie folgende Aussagen zur Xerostomie bei systemischen Erkrankungen auf ihre Richtigkeit: a) bei Kindern mit Xerostomie sollte an eine zystische Fibrose gedacht werden b) beim sekundären Sjögren-Syndrom kommt es, im Gegensatz zum primären Sjögren-Syndrom, zu keiner Xerostomie c) der Großteil der Patienten, die an einem M. Sjögren erkranken, sind Männer zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr d) bei Patienten mit einer HIV-Infektion tritt die Xerostomie meist gemeinsam mit trockenen Augen auf
137 Fragensammlung zur Selbstkontrolle
10. Überprüfen Sie folgende Aussagen zur Diagnostik bei Xerostomie auf ihre Richtigkeit: Bei der Diagnostik der Xerostomie ist die Sialographie der B-Scan-Sonographie vorzuziehen, weil bei der Sialographie Stenosen der Ausführungsgänge darstellbar sind. 11. Welche der folgenden Aussagen zu therapeutischen Maßnahmen bei Xerostomie treffen zu? a) sie sind meist nur symptomatischer Natur b) sie sollten auch prophylaktische Maßnahmen beinhalten c) die Anwendung spezifischer Mundspüllösungen ist als Mittel der Wahl anzusehen d) sie sollten sich bei Tumorpatienten auf die Gabe von Speichelersatzmittel beschränken 12. Welche der folgenden Aussagen zur Xerostomie treffen zu? a) radioprotektive Substanzen werden häufig bei der Bestrahlung von Kopf-Hals- Tumoren eingesetzt. b) mit dem Transfer der Gl. submandibularis als präventiver Maßname vor einer Bestrahlungstherapie lassen sich gute Ergebnisse erzielen c) bei der Behandlung des M. Sjögren ist die Drüsenexstirpation die Therapie der Wahl d) die mikrovaskuläre Transplatation und Replantation von Speicheldrüsen zeigte in tierexperimentellen Studien gute Ergebnisse 13. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen zum Burning-mouth-Syndrom auf ihre Richtigkeit: Das Burning-mouth-Syndrom ist eine Ausschlussdiagnose, weil hierbei u.a. keine assoziierbaren Schleimhautveränderungen erkennbar sind. 14. Als Ursache(n) für das sekundäre Burning-mouthSyndrom kommen in Frage: a) unerwünschte Arzneimittelwirkungen b) endokrine Erkrankungen c) Autoimmunerkrankungen d) Funktionsstörungen und Erkrankungen der Speicheldrüsen
9
15. Welche der folgenden Aussagen über das Burningmouth-Syndrom trifft zu? a) bei viralen Infektionen als Ursache eines BMS ist insbesondere die Anwendung von lokalanästhetikahaltigen Lösungen indiziert b) der Nachweis von Candida albicans ist pathognomonisch für das Burning-mouth-Syndrom c) das Mundschleimhautbrennen kommt häufig im Zusammenhang mit Hypersalivation vor d) ein gastroösophagealer Reflux kann ein Burning-mouth-Syndrom verursachen 16. Zu den häufigsten Befunden, die sich beim Vorliegen eines Burning-mouth-Syndroms erheben lassen, zählen: a) die tageszeitliche Konstanz der Beschwerden b) die bessere Wirksamkeit von NSAR im Vergleich zu Opiaten c) eine Xerostomie als häufige Begleitsymptomatik d) die Klage über Geschmacksstörungen 17. Eine Schleimhautbiopsie bei Vorliegen eines Burningmouth-Syndroms sollte entnommen werden bei a) entzündlichen Veränderungen der Schleimhaut b) tumorösen Veränderungen der Schleimhaut c) grundsätzlich bei jedem ungeklärten Burningmouth-Syndrom d) mikrobiologischem Nachweis von Candida albicans 18. Zur Therapie des Burning-mouth-Syndroms gehören: a) Nikotinkarenz b) eine Substitutionstheapie bei nachgewiesenem Mangel z.B. von Vitamin-B12, Folsäure, Eisen oder Jod c) die Behandlung eines gesicherten GERD/GERL d) die lokale Therapie mit Capsaicin 19. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen zur Dysphonie auf ihre Richtigkeit: Die Dysphonie zählt zu den somatoformen Störungen, weil der Anteil depressiver Störungen bei Patienten mit funktionellen Dysphonien signifikant erhöht ist.
138
Kapitel 9 · Fragensammlung zur Selbstkontrolle
20. Welche der folgenden Aussagen zu Dysphonien trifft zu? a) Frauen sind häufiger betroffen als Männer b) organische Stimmstörungen führen zu einer höheren Einschränkung der Lebensqualität als funktionelle Stimmstörungen c) Patienten mit funktionellen Dysphonien neigen zur Aggravation d) es ist davon auszugehen, dass beim subjektiven Erleben von Stimmstörungen transkulturelle Unterschiede vorliegen
9
21. Welche der folgenden Aussagen zur Messung der subjektiven Betroffenheit bei Dysphonien sind richtig? a) sie dient der Objektivierung des Organschadens b) sie dient der Objektivierung der Funktionseinbuße c) sie dient der Objektivierung der sozial-kommunikativen Beeinträchtigung d) sie besitzt bei der Diagnostik der Dysphonie keinen Stellenwert 22. Die wichtigsten Indikationen zur Anwendung von Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde sind: a) das gustatorische Schwitzen b) die Xerostomie c) komplexe Dystonien d) faziale Hyperkinesien e) die atrophische Rhinitis 23. Welche der folgenden Aussagen zu Botulinumtoxin treffen zu? a) den stärksten Effekt hat Botulinumtoxin an der aktivsten neuromuskulären Synapse b) an der neuromuskulären Synapse hält die Wirkung länger an, als im autonomen Nervensystem c) die Ansprechbarkeit auf gleiche Dosen unterscheidet sich bei einzelnen Patienten nur geringfügig d) die Wirkung tritt nur an der Injektionsstelle ein 24. Botulinimtoxin wirkt a) an sympathischen Ganglienzellen b) nicht an parasympathischen Ganglienzellen c) an postganglionären cholinergen Neuronen d) durch irreversible Blockade
25. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen zur Anwendung von Botulinumtoxin: Bei der Anwendung von Botulinumtoxin in der HNOHeilkunde werden keine sog. Primärversager beobachtet, weil es bei den Dosen, die im HNO-Bereich appliziert werden, selten zu Antikörperbildung kommt. 26. Die häufigste Nebenwirkung bei der Therapie von fazialen Dyskinesien mit Botulinumtoxin ist a) das Augentränen b) das Auftreten von Doppelbildern c) ein Lagophthalmus d) das Auftreten von Hämatomen e) eine Ptose 27. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: a) Dystonien sind nur unkontrollierte spasmodische Muskelaktivitäten b) Dystonien haben meist eine nicht organische Ursache c) Dystonien müssen von sog. »Tics« unterschieden werden d) generalisierte Dystonien sind häufiger als fokale 28. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: Bei der oromandibulären Dystonie ist die Anwendung von Botulinumtoxin eine gängige Therapieform, weil selten Beschwerden im Sinne einer Dysphagie auftreten. 29. Welche der folgenden Aussagen zur Therapie mit Botulinumtoxin teffen zu? a) bei der Behandlung der zervikalen Dystonie ist eine kurative Therapie mit Botulinumtoxin anzustreben b) Bei der Behandlung der spasmodischen Dsyphonie kommt es am häufigsten zu Dysphagien c) die Behandlung der spasmodischen Dysphonie sollte unter EMG-Kontrolle erfolgen d) bei der beidseitigen Recurrensparese ist das Ziel eine Paramedianstellung der Stimmlippen
139 Fragensammlung zur Selbstkontrolle
9
30. Der vertebragene Schwindel a) zeigt ein Funktionsdefizit der oberen HWS b) geht mit einer Hörstörung einher c) lässt sich durch bestimmte Bewegungen provozieren d) löst meist einen pathologischen Nystagmus aus
37. Die häufigsten Ursachen von Riechstörungen sind: a) postinfektiös b) kongenital c) toxisch/medikamentös d) posttraumatisch e) idiopathisch
31. Welche der folgenden Pathomechanismen können ursächlich für den vertebragenen Schwindel sein? a) isolierte Myogelosen b) eine Innervationsstörung eines Segments c) selten eine Beweglichkeitsstörung eines Gelenks d) sog. reversible Blockierungen
38. Welche der folgenden Aussagen zu Riechstörungen treffen zu? a) die Schwere eines Schädel-Hirn-Traumas korreliert mit der Schwere der Riechstörung b) die häufigste Ursache einer postinfektiösen Riechstörung ist bakteriell bedingt c) eine Riechstörung kommt bei M. Parkinson selten vor d) Riechstörungen kommen nicht selten bei endokrinen und metabolischen Erkrankungen vor
32. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen zum vertebragenen Schwindel auf ihre Richtigkeit: Die meisten Patienten können einen exakten Zeitpunkt für den Beginn der Beschwerden angeben, weil nicht selten ein Trauma der Auslöser der Beschwerden ist. 33. Für den vertebragenen Schwindel ist/sind typisch: a) ein Drehschwindel mit konstanter Richtung b) eine fluktuierende Intensität des Schwindels c) meist zusätzliche neurologische Störungen d) okzipital betonte Cephalgien 34. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen zum vertebragenen Schwindel auf ihre Richtigkeit: Posturale Reflexe dienen dem Bewusstwerden der Kopfbewegung, weil eine Kopfrückneigung zu einer Streckung der oberen Extremitäten führt. 35. Zur klinischen Diagnostik des vertebragenen Schwindels gehören folgende Untersuchungen: a) Zwei-Waagen-Test b) Romberg-Versuch c) Priener-Abduktionstest d) Einbeinstand 36. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: Der vertebragene Schwindel ist eine Domäne der Manualmedizin, weil nach einer Manualtherapie kein Schwindel auftritt.
39. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: Die psychischen Folgen von Riechstörungen sind zu vernachlässigen, weil es selten zu sozialen Schwierigkeiten kommt. 40. Zur Routinediagnostik bei Riechstörungen gehören: a) ein CT/MRT des Schädels b) der Ausschluss von internistischen Erkrankungen c) die Ableitung olfaktorisch evozierter Potentiale d) die endoskopische Untersuchung der Nase 41. Welche der folgenden Aussagen über die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) trifft zu? a) sie ist ein pathologischer Zustand des gesamten Bewegungsapparates b) die häufigsten Komorbiditäten sind Erkrankungen aus dem HNO-Bereich c) Dysgnathien, Okklusions- und Artikulationstörungen haben eine eher untergeordnete Bedeutung d) der Altersgipfel für das Auftreten einer kraniomandibulären Dysfunktion liegt jenseits des 50. Lebensjahres
140
9
Kapitel 9 · Fragensammlung zur Selbstkontrolle
42. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: Das weibliche Geschlecht ist bei der kraniomandibulären Dysfunktion stark überrepräsentiert, weil der weibliche Organismus unter anderem ein schwächeres Bindegewebe aufweist
46. Überprüfen Sie die folgenden Aussagen auf ihre Richtigkeit: Die nach einer Reizung freigesetzten Neuropeptide bewirken eine Hyposekretion der Nasenschleimhaut, weil sie bei der vasomotorischen Rhinopathie vermehrt freigesetzt werden
43. Welche der folgenden Aussagen zur kraniomandibulären Dysfunktion treffen zu? a) generalisierte Gelenkerkrankungen zählen zu den prädisponierenden Faktoren der kraniomandibulären Dysfunktion b) generalisierte Bindegewebs- und Muskelschwäche haben keine Bedeutung bei der Entstehung der kraniomandibulären Dysfunktion c) Sensationen im Bereich des harten Gaumens können ein Hinweis auf das Vorliegen einer kraniomandibulären Dysfunktion sein
47. Die Diagnose »vasomotorische Rhinopathie« wird in erster Linie gestellt anhand: a) eines Computertomogramms b) einer positiven Allergieanamnese c) einer sorgfältigen Anamnese d) einer allgemeinen Testung des vegetativen Nervensystems
44. Welche der folgenden Aussagen zur Genese der kraniomandibulären Dysfunktion treffen zu? a) die CMD kann durch Fehlstellungen des Beckens ausgelöst werden b) eine Hypertrophie der Kopf-, Hals- und Kaumuskeln stellt eine mögliche Ursache einer CMD dar c) Zahnstellungsanomalien können eine CMD verursachen d) Bruxismus kann als Ursache einer CMD ausgeschlossen werden 45. Welche der folgenden Aussagen zur vasomotorischen Rhinopathie treffen zu? a) eine behinderte Nasenatmung gehört nicht zu den Symptomen der vasomotorische Rhinopathie b) ein Nasentrauma mit nachfolgender vegetativen Dysregulation kommt ursächlich in Frage c) der wichtigste Pathomechanismus ist ein Übergewicht des Parasympathikus d) eine Stärkung des Sympathikotonus durch Kneippkuren und Saunabesuche sollte vermieden werden
48. Überprüfen Sie folgende Aussagen zur vasomotorischen Rhinopathie auf ihre Richtigkeit: Bei der medikamentösen Therapie der vasomotorischen Rhinopathie ist die orale Anwendung von Kortikoiden der lokalen Anwendung vorzuziehen, weil lokale Kortikoide eine Atrophie der Nasenschleimhaut bewirken können. 49. Welche der folgenden Aussagen zur chirurgischen Therapie der vasomotorischen Rhinopathie trifft zu? a) die Vidianus-Resektion bringt einen dauerhaften Nutzen für den Patienten b) die klassische Conchotomie ist die schleimhautschonendste Therapie c) die anteriore Turbinoplastik ist als Goldstandard anzusehen d) die chirurgische Therapie bei vasomotorischer Rhinopathie hat keine Auswirkung auf die Rhinorrhoe
141 Fragensammlung zur Selbstkontrolle
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.
a; d richtig beide Aussagen falsch b; d richtig d richtig b richtig beide Aussagen falsch a richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig a richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig a; b richtig b; d richtig beide Aussagen richtig alle richtig d richtig c; d richtig a; b richtig alle richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig d richtig a; b; c richtig a; b; c richtig a richtig a; c richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig
26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49.
e richtig c richtig beide Aussagen falsch b; c richtig a; c: d richtig b; d richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig b; d richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig alle richtig erste Aussage richtig; zweite Aussage falsch a; d; e richtig a; d richtig beide Aussagen falsch b; d richtig a richtig beide Aussagen richtig a; c richtig a; b; c richtig b richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig c; d richtig erste Aussage falsch; zweite Aussage richtig c richtig
9
Sachverzeichnis
144
Sachverzeichnis
A α-Liponsäure 35, 105 Akustikusneurinom 94 allergische Rhinitis 123, 127 Alzheimer, M. 100, 102 Amifostin 18, 25 Amyloidose 13 Anosmie 100 –, kongenitale 101 Anterocollis 59 Anticholinergika 127 Antihistaminika 128 Aquaporin 1 19 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) 123 Argon-Plasma, Koagulation mittels 130 Armdystonie 66 Arndt-Zeichen 26 Artikulationsstörungen 110 Aspirin-Intoleranz 126 asystemischer Schwindel 82 Ausführungsgänge, Rerouting 9 automatische posturale Reflexe 85 AWMF 123
B Bell-Lähmung 61 Blepharospasmus 58, 60 Blickrichtungsnystagmus 88 Boeck, M. 13 Botox 58 Botulinumtoxin 55ff., 128 – A 8, 128 – Antikörperbildung 57 – B 58 – D 128 – Kontraindikationen 58 – Nebenwirkungen 57, 58 – Primärversager 57 – Wirkungsdauer 56 – Wirkungsdynamik 56
– Wirkungseintritt 56 – Wirkungsmechanismus 55, 56 Bromhexin 17 Bruxismus 26, 65 Bulbus olfactorius 102 Burning-mouth-Syndrom 24, 28 – Arndt-Zeichen 26 – Diabetes mellitus 26 – Eisenmangel 26 – Fischbandwurmbefall 26 – Folsäuremangel 26 – GERL 30 – Hypothyreose 26 – Leberzirrhose 27 – Möller-Hunter-Glossitis 26 –, Pharmaka-induziert 27 – Pökelzunge 26 – Säuren- und Laugenverätzungen 25 – Sjögren-Syndrom 27 – Therapie 33–35 – Urämie 27 – Vitamin-B12-Mangel 26
C calcitonin gene related peptide (CGRP) 124, 125 Canalolithiasis 83 Capsaicin 25, 34, 127 Caroverin 105 Castillo-Morales 6 CCG (Kraniokorporographie) 86 –, dynamische 87 Cevimelinhydrochlorid 17 CGRP 124, 125 chronische Rhinosinusitis 127 Clostridium botulinum 55 CMD (kraniomandibuläre Dysfunktion) 84, 110 CN (Zervikalnystagmus) 88 Cochleariskern, ventraler 79 Conchotomie, klassische 130 Costen 110 cranio mandibular dysorders (CMD) 110
D Dekompressionsoperation nach Jannetta 62 Desensibilisierung 128 Drehschwindel 81 Drüsenexstirpation 9 dynamische CCG 87 Dysästhesie, orolinguale 24 Dysfunktion, kraniomandibuläre 84, 110 Dysgnathien 110, 111 Dyskinesie, faziale 57 Dysosmie 100 Dysphagie 65 Dysphonie 40ff. –, emotionale Störungen bei Patienten mit 42 –, gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit 41 –, Körperbeschwerden bei Patienten mit 44 –, stimmbezogene Lebensqualität 45 –, spasmodische 67 Dysport 58 Dysregulation, vegetative 124 Dystonie 59 –, laryngeale 67 –, oromandibuläre 62, 66 –, segmentale 66 –, zervikale 58, 66
E Einbeinstand 86 Eisenmangel 26 endoskopische Nasennebenhöhlenchirurgie 105
145 Sachverzeichnis
F faziale Dyskinesie 57 Fibromyalgie 112 Fibrose, zystische 13 Fischbandwurmbefall 26 Folsäuremangel 26 Frey-Syndrom 69 funktionelle Kopfgelenksstörung 80, 83
G Gaumensegelhyperkinesie 68 Gentherapie 19 GERL (gastroesophageal reflux laryngitis) 30 Gesichtsdystonie 59 geste antagonistique 57 Gießener Beschwerdebogen 44 Glossitis rhombica mediana 28 Glossodynie 24 Glossopyrosis 24 Glycopyrolat 8 Graft-vs.-host-Reaktion 13 gustatorisches System 103
H habituelle Parafunktionen 26 Hallpike, Lagerung nach 83 Halswirbelsäule 83 Hirnstammaudiometrie 82 Hörschwellenaudiogramm 82 Hospital Anxiety and Depression Scale HADS-D 42 Hot-tongue-Syndrom 24 Hyperhidrose, kraniofaziale 71 Hyperlakrimation 71 Hyperosmie 100 Hyperreaktivität, nasale 123 Hypersalivation 70 Hypersekretion, nasale 73
Hypoglossus-facialis-Anastomose 57, 61 Hyposmie 100 Hypothyreose 26, 102
I infektiöse Rhinitis
123
J Jod-Stärke-Test Justinus Kerner
69 55
K Kallmann-Syndrom 102 kalorische Vestibularisuntersuchung 94 Kathetersialometrie 14 Keilbein (Os sphenoidale) 117 Kerner, Justinus 55 Kettendomyopathien 110 Kiefergelenk 83, 114 Kleijn-Probe 83 kongenitale Anosmie 101 Kopfgelenksstörung, funktionelle 80, 83 Kopfschmerz 82 Kortikoide 105 Kortikosteroide 127 Kraniokorporographie (CCG) 86 kraniofaziale Hyperhidrose 71 kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) 84, 110 – Ätiologie 110 – Disposition 112 – Pathogenese u. Klinik 113 – Psyche 111
A–O
L Lambert-Eaton-Rooke-Syndrom 58 Lateroposition der Nasenmuschel 130 Laryngeale Dystonie 67 Lebensqualität 41 –, stimmbezogene 45 Leberzirrhose 27 Leukotrien-Rezeptorantagonisten 127 Lichen planus mucosae 28 Ligaturen des Stenon- und/oder Wharton-Ganges 9 Lingua geographica 28 Lingua gyrata bzw. plicata 28 Lingua villosa nigra 28 Lokale Speichelstimulation 17
M M. Alzheimer 100, 102 M. Boeck 13 M. Parkinson 100, 102 Manualtherapie 95 Meersseman-Test 84, 96 Meige-Syndrom 61 Migräne 72 mikrovaskuläre Transplantation der Speicheldrüsen 19 Minor, Test nach 69 Möller-Hunter-Glossitis 26 Morbus Menière 95 Mundschleimhautbrennen 24 Muschelreduktion, submuköse 130 Myasthenia gravis 58 Myogelosen 80, 114
N N. olfactorius 103 N. trigeminus 103, 114, 124
146
Sachverzeichnis
NARES (Nicht Allergische Rhinitis mit Eosinophilie) 123, 126 nasale – Hyperreaktivität 123 – Hypersekretion 73 – Polyposis 101 – Provokation 126 Nasenmuschel, Lateroposition der 130 Nasennebenhöhlenchirurgie, endoskopische 105 Neurektomie, transtympanale 9 Neuronopathia vestibularis 78 nicht-allergische Rhinitis 123 nicht-allergische und nicht-infektiöse perenniale Rhinopathie 123 NMDA-Antagonisten 105 Nystagmus –, optokinetischer 82 –, pathologischer 78
Phantogeusie 31 Phantosmie 100 Pilocarpin 17, 25 PLISSIT-Modell 49 Pökelzunge 26 Polyarthritis 112 Polyposis, nasale 101 Postmassagesyndrom 81 posttraumatische Riechstörungen 101 Posturographie 86 postvirale Riechstörungen 101 Potentiale, olfaktorisch evozierte 104 Pricktest 125 Priener-Abduktionstest 84, 86 Privinismus 127, 128 Projektionsschmerz 114 Propriorezeptoren 85 Propriosensoren 79 propriozeptiver Zervikalnystagmus (CN) 88 Provokation, nasale 126
O Off-label-use 73 Okklusionsstörungen 110 olfaktorisch evozierte Potentiale 104 optokinetischer Nystagmus 82 oral motorische Therapien 6 orofaziale Regulationstherapie 6 orolinguale Dysästhesie 24 oromandibuläre Dystonie 62, 66 Os sphenoidale 117 Os turbinale, Quetschung des 130
P Parafunktionen, habituelle 26 Parageusie 31 Parkinson, M. 100, 102 Parosmie 100 pathologischer Nystagmus 78 Peptid, vasoaktives intestinales 124
Q Quetschung des Os turbinale 130
R RAST 125 Reaktionen, vestibulospinale 85 Recurrensparese 68 Reflex –, automatischer posturaler 85 –, zerviko-okulärer 81 Reizstoffe, trigeminale 104 Replantation der Speicheldrüsen 19 Rerouting der Ausführungsgänge 9 Retrocollis 59 retronasale Wahrnehmung 104
Rhinitis 122 –, allergische 123, 127 –, infektiöse 123 – mit Eosinophilie 123 –, nicht-allergische 123 – ohne Eosinophilie 123 Rhinitis medicamentosa 128 Rhinopathie –, nicht-allergische und nicht-infektiöse perenniale 123 –, vasomotorische 122 Rhinorrhoe 123 Rhinosinusitis, chronische 127 Riechen 100 Riechschleimhaut 100 Riechstifte 104 Riechstörungen 101 – Diabetes mellitus 102 – Hypothyreose 102 – kongenitale 101, 102 – M. Alzheimer 102 – M. Parkinson 102 –, posttraumatische 101 –, postvirale 101 – Prognose 104 –, sinunasal bedingte 101 –, Therapieansätze 104 –, toxisch bedingte 102 Riechvermögen, Testung 104 Romberg-Versuch 86
S Sarkoidose (M. Boeck) 13 Säure- und Laugenverätzungen 25 Schilling-Test 26 Schreibkrampf 66 Schwankschwindel 82 Schwindel –, asystemischer 82 –, vertebragener 83, 95 –, zervikogener 78, 88 Scopoderm TTS 7 segmentale Dystonie 66 Serum-IgE 125
147 Sachverzeichnis
Sialorrhoe 4 – Bestrahlungstherapie 7 – Botulinumtoxin A-Therapie 8 – Down-Syndrom 5 – Drüsenextirpation 9 –, idiopathische 5 – Ligaturen des Stenon- und/oder Wharton-Ganges 9 –, neurologisch bedingte 5 –, neuroleptika-induzierte 5 – medikamentöse Therapie 7 – oral motorische Therapien 6 – orofaziale Regulationstherapie 6 – Rerouting der Ausführungsgänge 9 – transtymphanale Neurektomie 9 – Wilkie-Operation 9 – Zungenakupunktur 8 sinunasale Riechstörungen 101 Sjögren-Syndrom 12, 27 SNAP 25 56 Sniffin’ Sticks 104 Spannungskopfschmerz 72 spasmodische Dysphonie 67 Spasmus facialis 57, 58, 60 Speicheldrüsen 2 –, mikrovaskuläre Transplantation 19 –, Replantation 19 Speicheldrüsenbiopsien 14 Speicheldrüsenfunktionsmessung 14 Speichelersatzmittel 17 Speichelfistel 70 Speichelflussrate 14 Speichelsekretion 3 Speichelsekretions- bzw. flussrate 14 Speichelstimulation, lokale 17 Spontan- oder Blickrichtungsnystagmus 88 sprouting 56 Stapediusreflexaudiometrie 82 Stenon-Gang, Ligaturen 9 stimmbezogene Lebensqualität 45
Stomatodynie 24 stomatognathes System 113 Stomatopyrosis 24 Störungen, emotionale 42 submuköse Muschelreduktion 130 Substanz P 124, 125 Sympathomimetika 128 Synaptobrevin 2 56 Synkinesien 57, 61 – nach Fazialisdefektheilung 61 – nach Hypoglossus-facialisAnastomose 57, 61 Syntaxin 56 System, gustatorisches 103 –, stomatognathes 113
T Testung des Riechvermögens 104 Therapien, oral motorische 6 Tic 59, 61 Torticollis 59 toxisch bedingte Riechstörungen 102 Transplantation, mikrovaskuläre der Speicheldrüsen 19 transtympanale Neurektomie 9 Tremor palatinus 68 trigeminale Reizstoffe 104 Triggerpunkte 84, 114 Turbinoplastik 130
U University of Pennsylvania Smell Identification-Test 104 Unterberger, Untersuchung nach 86 UPSIT (University of Pennsylvania Smell Identification-Test) 104 Urämie 27
O–Z
V vasoaktives intestinales Peptid (VIP) 124, 125 vasomotorische Rhinopathie 122ff. – Anticholinergika 127 – Antihistaminika 128 – Argonplasma, Koagulation mittels 130 – Aspirinintoleranz 126 – Botulinumtoxin 128 – Capsaicin 127, 128 – Conchotomie, klassische 130 – Desensibilisierung 128 – Kortikosteroide 127 – Lateroposition der Nasenmuschel 130 – Leukotrien-Rezeptorantagonisten 127 – nasale Provokation 126 – Os turbinale, Quetschung des 130 – Pricktest 125 – Privinismus 127, 128 – RAST 125 – Rhinitis medicamentosa 128 – Serum-IgE 125 – submuköse Muschelreduktion 130 – Sympathomimetika 128 – Turbinoplastik 130 – Vidianus-Resektion 129 vegetative Dysregulation 124 vertebragener Schwindel 83, 95 Vestibulariskerne 79 Vestibularisprüfung 88 Vestibularisuntersuchung, kalorische 94 vestibulospinale Reaktionen 85 Videonystagmographie (VNG) 88 Vidianus-Resektion 129 VIP (vasoaktives intestinales Peptid) 124, 125 Vitamin-B12-Mangel 26
148
Sachverzeichnis
VNG (Videonystagmographie) 88 Voice Handicap Index (VHI) 45, 46, 48
– – – – –
W
–
Wahrnehmung, retronasale 104 Wharton-Gang, Ligaturen 9 Wilkie-Operation 9
– – – –
X Xerostomie 10 – Amyloidose 13 – B-Scan-Sonographie
–
– 14, 15
–
Gentherapie 19 Graft-vs.-Host-Reaktion 13 Kathetersialometrie 14 medikamentöse Induktion 11–12, 27 medikamentöse Therapie 17 mikrovaskuläre Transplantation und Replantation der Speicheldrüsen 19 Prävention bei Bestrahlung von Kopf-Hals-Tumoren 18, 19 Sarkoidose (M. Boeck) 13 Sjögren-Syndrom 12 Speicheldrüsenbiopsien 14 Speicheldrüsenfunktionsmessung 14 Speicheldrüsensekretions- bzw. Flussrate 14 zystische Fibrose 13
Z zervikale Dystonie 58, 66 Zervikalnystagmus 83, 91 –, propriozeptiver 88 Zervikalsyndrom 81 zervikogener Schwindel 78, 88 zerviko-okulärer Reflex 81 Zungenakupunktur 8 Zungenbrennen 24 Zwei-Waagen-Test 86 zystische Fibrose 13