Susan Grant
Gefangen in den
Katakomben
Irrlicht Band 032
Unentschlossen blieb Charlet stehen und starrte in das...
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Susan Grant
Gefangen in den
Katakomben
Irrlicht Band 032
Unentschlossen blieb Charlet stehen und starrte in das brackige Wasser hinab. Plötzlich sah sie scharfe Zähne aufblitzen. Mit ersticktem Aufschrei warf sie sich herum und flüchtete, so schnell es der schlammige Boden erlaubte. Doch durch ihre heftige Bewegung erlosch die Flamme der Kerze! Von Grauen geschüttelt, erwartete sie jeden Augenblick den Angriff…
»Das ist ja grauenvoll!« Amanda Dexter starrte ihren Besucher entsetzt an. »Wie konnte das nur passieren, Andrew?« Andrew Cunningham zuckte bedauernd die Schultern. »Das Autounglück konnte nie ganz geklärt werden«, sagte er mit leiser Stimme, die dem schrecklichen Ereignis angemessen schien. »Man nimmt an, daß Lady Cunningham mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr und bei regennasser Fahrbahn die Kontrolle über den Wagen verlor. Mein Cousin Alain saß neben ihr, als das Auto in den Fluß stürzte. Erst Stunden später fand man sie. Jede Hilfe kam zu spät.« »Es muß für meinen Ex-Mann ein schwerer Schlag gewesen sein!« »Von dem sich mein Onkel nie erholt hat«, bestätigte Andrew. »Als Onkel Randolf erfuhr, daß er seinen einzigen Sohn und seine Frau verloren hat, erlitt er einen schweren Herzinfarkt. Seit acht Wochen liegt er in der Klinik, und die Ärzte haben wenig Hoffnung, ihn noch retten zu können.« Andrew Cunningham blickte die erste Frau Lord Cunninghams bedeutsam an. »Jede Stunde rechnet man mit seinem Ableben. Aus diesem Grund hat mich mein Onkel zu Ihnen nach Los Angeles geschickt. Er hat jetzt nur noch Ihre gemeinsame Tochter Charlet und will sie zu seiner Erbin einsetzen.« »Charlet muß jeden Augenblick aus dem Tenniscenter zurückkommen«, erklärte Amanda. »Charlet, kommst du bitte?« wandte sie sich kurz darauf an ein junges Mädchen im Tennisdreß. »Dein Cousin Andrew ist aus England zu Besuch gekommen.« Charlet riß die Augen auf. »Andy ist hier? Das gibt es doch gar nicht!« Der junge Mann war bei ihrem Eintreten höflich aufgestanden. »Wie schön, dich wiederzusehen, Charlet«, begrüßte er Charlet. »Erinnerst du dich noch an mich?«
»Natürlich, Andy!« Charlet schüttelte ihm die Hand und lächelte unverbindlich. Es waren keine besonders schönen Erinnerungen, die sie mit ihrem Cousin verknüpften, denn der vier Jahre ältere Andrew hatte das kleine, fünfjährige Mädchen früher auf Schritt und Tritt geärgert. »Aber erkannt hätte ich dich sicher nicht, nach all den Jahren. Ich hätte nie gedacht, daß aus dem mageren Jungen ein so gutaussehender Mann werden könnte. Welcher gute Wind hat dich hergeweht?« »Ein guter Wind war es leider nicht.« »Charlet, dein Vater ist sterbenskrank«, warf Frau Dexter ein. »Er hat den dringenden Wunsch, dich vor seinem Tod noch einmal zu sehen«, ergänzte Andrew. »Lord Cunningham hat mich zu euch geschickt, um dich mit nach England zu nehmen.«
*
Nachdem Charlet sich umgekleidet hatte, erzählte Andrew ihr ausführlich, was passiert war. Während er sprach, hing Charlets Blick an seinem asketisch schmalen Gesicht mit der kühn hervorspringenden, leichtgebogenen Nase, den tiefliegenden grauen Augen und den schmalen Lippen. Andrew war nur mittelgroß und so schlank, daß man ihn schon als mager bezeichnen konnte. Später gesellte sich auch Amandas zweiter Mann, Frank Dexter, zu ihnen, den Charlet herzlich liebte. Aufmerksam las Charlet den Brief, den ihr Vater Andrew mitgegeben hatte und in dem er dringend um ihren Besuch bat.
»Nach all den Jahren will er mich plötzlich sehen?« meinte sie kopfschüttelnd. »Er hat sich doch nie um mich gekümmert.« »Wofür ich ihm sehr dankbar war«, bekannte Amanda ernst. »Du solltest nicht hin und her gerissen werden, sondern in Frieden aufwachsen.« »Er ist ja praktisch ein Fremder für mich«, sagte Charlet und blickte Frank Dexter liebevoll an. »Einen besseren Dad als Franky hätte ich mir nicht wünschen können.« »Dein Vater hat jetzt niemanden außer dir!« mahnte Amanda. »Es wäre herzlos, die Bitte eines Todkranken abzuschlagen.« Charlet sah das ein. »Wann fliegen wir?« wandte sie sich fragend an Andrew. »Ich habe bereits für morgen abend zwei Flüge nach London gebucht.«
*
Als eine Stunde später Steven Farell erschien, um mit Charlet auszufahren, war sie bereits beim Packen. Charlet kniete gerade auf einem vollgepackten Koffer in dem fruchtlosen Bemühen, ihn zu schließen. »Hey, Steven«, grüßte sie matt und schlug unschuldsvoll die großen blauen Augen zu ihm auf. »Hat Mam dir erzählt, was passiert ist?« »Sie hat mir gesagt, daß du nach England fliegen willst, gleich morgen«, stellte er düster fest. »Diese überstürzte Reise gefällt mir nicht, Charlet.« »Bildest du dir ein, mir würde sie gefallen?« Charlet schob sich eine rotbraune Locke aus dem erhitzten Gesicht.
»Charlet!« Er nahm ihre Hände und zog sie auf die safrangelbe Couch, die wie ein sonnengelber Fleck in dem Zimmer lag. »Du darfst dir nicht einreden, daß du einem Mann gegenüber Verpflichtungen hast, der sich zeit seines Lebens nicht um dich gekümmert hat und zufällig dein Vater ist.« »Man soll nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, Steven!« Sie durchwühlte zärtlich seinen dunkelblonden dichten Haarschopf. »Außerdem würde ich ihn gern noch einmal sehen, verstehst du das?« »Und wer gibt mir jetzt moralische Unterstützung, wenn ich in der nächsten Woche mein letztes Examen ablege?« beklagte sich Steven. »Alter Egoist!« Charlet lächelte und küßte ihn zärtlich auf die Wange. »Im Geist bin ich bei dir und drücke dir die Daumen. Du wirst es schon schaffen, Steven! Sobald du mit allem fertig bist, kommst du nach Lleyn, versprichst du mir das?« Steven drückte sie fest an sich und küßte sie lange. Sein zärtlicher Kuß sagte mehr als Worte. Sie spürte, daß ihre Liebe stark genug war, auch eine räumliche Trennung zu überdauern.
*
Es blieb kaum noch Zeit für großen Abschiedsschmerz. Durch das kleine Fenster des Jets sah Charlet die sonnenbeschienene Küste Kaliforniens entschwinden. Andrew hatte ihr den Fensterplatz überlassen. Er nippte an seinem Whisky. Nachdenklich ruhte sein Blick auf ihrem klargeschnittenen Profil, an der Flut rotbrauner kurzer Locken, die ihren hübschen Kopf zur Geltung brachten.
»Warum siehst du mich so an?« fragte Charlet, irritiert durch seine scharf musternden Blicke. »Ich frage mich, ob du dich jemals in England heimisch fühlen kannst«, sagte er. »Es muß dir nach diesem gewaltigen Kontinent winzig vorkommen. Zudem liegt Snowton Hall sehr einsam. Wirst du nicht Kalifornien vermissen und all deine Freunde dort?« »Mit Sicherheit werde ich meinen Freund Steven vermissen«, gestand Charlet seufzend. »Aber Steven hat versprochen, mich bald zu besuchen.« »Was verbindet dich mit diesem Steven?« wollte er wissen. »Wir werden in Kürze heiraten.« Andrew reagierte betroffen auf diese Eröffnung. »Willst du denn sagen, ich habe nicht die geringsten Chancen bei dir?« »Hast du dir etwa Hoffnungen gemacht?« fragte sie in scherzhaftem Ton, denn sie glaubte nicht, daß Andrew seine Bemerkung ernst gemeint hatte. »Der Mensch hofft, solange er lebt«, entgegnete er zweideutig. »Lebst du noch auf Snowton Hall?« wechselte sie rasch zu einem unverfänglichen Thema über. »Dein Vater war so gnädig, mir die Verwaltung des Gutes zu übertragen. In mir siehst du den Herrn von einigen tausend Schafen vor dir.« »Lebt dein Vater noch?« Andrew zuckte die Achseln. »Nachdem er unser gesamtes Vermögen durchgebracht hat, ist er auf und davon. Ich weine ihm keine Träne nach und hoffe sehr, ihn niemals wiederzusehen.« Andrew hat nicht viel Glück mit seinen Eltern gehabt, mußte Charlet denken. Seine Mutter hatte ihn verlassen, als er noch
ein Baby gewesen war. Sie war mit einem Wanderprediger durchgebrannt. Der Skandal hatte damals ganz Snowton Hall erschüttert, und Andrew war zu einem wilden Jungen aufgewachsen, den niemand bändigen konnte. Sie konnte sich nicht genug wundern, daß aus dem oft bösartigen Jungen ein so kühler, sachlicher Mann geworden war. Wenn man den elegant gekleideten kühlen Gentleman jetzt betrachtete, war es kaum vorstellbar, daß er früher einmal wie ein Kastenteufel im Schloß herumgegeistert war und sich einen Spaß daraus gemacht hatte, sie zu erschrecken. Noch heute verzieh sie ihm nicht, daß er ihrer Lieblingspuppe, der blonden Maybell, die Locken abgeschnitten und den Stoffbauch aufgeschlitzt hatte. Noch heute konnte sie sich gut an den Schmerz erinnern, den sie als kleines Mädchen gefühlt hatte, als sie ihre so gräßlich verstümmelte Puppe fand. Gewaltsam versuchte Charlet, diese dunklen Schatten abzuschütteln. Schwerelos glitten sie durch die Nacht. Durch das kleine Fenster sah sie abertausende von Sternen, als flögen sie durch Fluten von Licht. Charlet schloß die Augen. Sie dachte an Mum, Dad und Steven. Sie vermißte sie jetzt schon und fieberte doch dem Abenteuer England entgegen. Es würde schön sein, die Stätten ihrer Kindheit wiederzusehen und ihren Vater, vor dem sie sich immer ein wenig gefürchtet hatte. Wahrscheinlich hätte er sich gar nicht mehr an sie erinnert, wenn er nicht seinen einzigen Sohn verloren hätte. Sie hätte ihren Halbbruder Alain gern einmal kennengelernt. Jetzt war es zu spät dafür. Alain lebte nicht mehr. Aber sie nahm sich vor, Blumen auf sein Grab zu legen. Das war das einzige, was sie noch für ihn tun konnte.
Unter all diesen Gedanken sank Charlet in Schlaf und erwachte erst, als das Flugzeug zur Landung in London ansetzte. Es war angenehm, mit einem so umsichtigen Mann wie Andrew zu reisen. Er kümmerte sich um alles, kannte sich überall aus. Während sie auf den Anschlußzug nach Liverpool warteten, frühstückten sie im Flughafenrestaurant. »Ich hatte ganz vergessen, wie kalt es in England um diese Jahreszeit ist«, schauderte Charlet, die trotz ihres warmen pinkfarbenen Pullis fror. »In Los Angeles kann man jetzt noch im Meer baden.« »Für Oktober ist das Wetter ganz normal«, erklärte Andrew gleichgültig. »Wir hatten einen schönen Sommer. Wenn die See nicht zu stürmisch war, bin ich täglich im Meer geschwommen. Du wirst Snowton Hall nicht wiedererkennen, Charlet! Das Schloß ist noch vor kurzem renoviert worden. In jedem Raum gibt es jetzt Ölheizung. Du wirst also nicht zu frieren brauchen.« »Das hört sich gut an.« Charlet schloß die klammen Finger um das heiße Teeglas. »Hat sich sonst noch Gravierendes verändert? Ist Butler Albert noch da?« »Albert ist bereits über siebzig, aber immer noch rüstig«, erzählte Andrew. »Die neue Hausdame, Mrs. Peakers, wirst du noch nicht kennen. Sie ist erst seit sieben Jahren bei uns und äußerst tüchtig und gewissenhaft. Ich schätze, sie wird deine Räume bereits vorbereitet haben. Dein Vater hat angeordnet, daß die früheren Räume deiner Mutter für dich renoviert werden.« Sie plauderten noch eine Weile, bis Andrew zum Aufbruch drängte. Eine kleine Maschine brachte sie nach Liverpool, wo Andrews Wagen auf sie wartete. Bevor sie sich auf die weite
Autofahrt begaben, aßen sie in einem gemütlichen Restaurant eine Kleinigkeit zu Mittag. »Fahren wir heute noch zur Klinik, um meinen Vater zu besuchen?« fragte Charlet, die sich schon recht wohl zu fühlen begann. »Das werden wir kaum schaffen!« Andrew warf einen Blick auf das Fenster, an deren Scheibe unaufhaltsam der Regen hinabrann. »Bei diesem trüben Wetter müssen wir damit rechnen, daß es früh dunkel wird. Es wird in der Klinik nicht gern gesehen, wenn man die Kranken noch am späten Abend besucht.« »Steht es wirklich so schlimm um ihn?« Andrew nahm in zärtlicher Geste ihre Hände und drückte sie sanft. »Wir müssen täglich mit dem Schlimmsten rechnen, Charlet! Die Ärzte haben Lord Randolf aufgegeben. Ich glaube, der einzige Gedanke, der ihn noch am Leben hält, ist das erhoffte Wiedersehen mit dir.« »Eine traurige Heimkehr!« Charlet wagte nicht, ihm ihre Hände zu entziehen, obwohl die Berührung ihr unangenehm war. »Charlet!« Ein fanatisches Licht glomm in seinen Augen auf, als er sie anstarrte. »Auch für mich hat das Wiedersehen mit dir große Bedeutung. Ich habe dich immer geliebt, schon als wir Kinder waren. Als ich dich jetzt wiedersah, wußte ich sofort, daß du die einzige Frau für mich bist. Ich liebe dich, Charlet, ich liebe dich wahnsinnig!« »Du kennst mich doch gar nicht!« Betroffen entzog sie ihm ihre Hände. »Und erinnere mich bitte nicht an früher, Andrew! Du hast mich nie geliebt. Du hast mich nicht einmal gemocht und alles versucht, mich zu ärgern und zu ängstigen.« »Damit wollte ich doch nur deine Aufmerksamkeit erringen. Ich hatte ja niemanden, der mich liebte. Du wolltest nie mit
mir spielen. Ich habe deine Puppen gehaßt, wenn ich sah, wie liebevoll du sie an dich drücktest.« »Ich hoffe, wir werden jetzt gute Freunde werden.« Andrew lächelte bitter. »Willst du mich wieder mit einem Almosen abspeisen? Ich brauche mehr als deine Freundschaft, ich brauche deine Liebe! Charlet, du bist jetzt in England und solltest alle Brücken hinter dir abbrechen. Ich wünsche mir so sehr, daß du meine Frau wirst. Auch für deinen Vater wäre es eine große Beruhigung zu wissen, daß Snowton Hall in guten Händen ist. Du bist doch noch viel zu jung, um das Gut und das Schloß allein zu bewirtschaften.« »Ich bin nicht allein, das weißt du!« sagte Charlet offen. »Ich kann dich niemals heiraten, Andrew, das mußt du einsehen. Ich liebe Steven und will nur ihn zum Mann.« Andrews Gesicht verschloß sich. Er rief die Serviererin und zahlte. Danach half er Charlet höflich in den warmen, gefütterten Ledermantel. Sie würde ihn brauchen, denn draußen wehte ein kalter Wind, der ihnen Regenschauer ins Gesicht peitschte. Andrew fuhr zügig in seinem silbernen Sportwagen los. Charlets Blicke hingen am Fenster. Die grüne, hügelige Landschaft ertrank im Regen. Die Flüsse, die sie überqueren mußten, führten Hochwasser. England zeigte sich ihr von seiner unfreundlichsten Seite. Die Dämmerung kam schon sehr früh. Bald umfing sie tiefste Dunkelheit, durch die sich die grellen Lichter der Schweinwerfer fraßen. Erst jetzt spürte Charlet die Erschöpfung nach der langen Reise. Sie schloß die Augen und dämmerte zwischen Halbschlaf und Wachen dahin. Stunden mochten vergangen sein, als Charlet durch Andrews rauhe Stimme aufgeweckt wurde. »Wir sind am Ziel, Charlet! Steig bitte aus!«
Noch völlig betäubt vom Schlummer öffnete sie die Wagentür, raffte die Handtasche an sich und landete mit beiden Füßen in einer Pfütze. Sie schauderte in dem kalten Wind. Regen peitschte ihr Gesicht, als Andrew fest ihre Hand nahm und sie mit sich zog. Nicht ein einziges Licht schimmerte durch die Dunkelheit. Auf Snowton Hall mußten längst alle schlafen gegangen sein. Vage glaubte Charlet statt der gewohnten grauen Mauern bizarre Ruinen zu erkennen, was sicher nur eine optische Täuschung war. Wirkten nicht bei Nacht selbst vertraute Gegenstände fremd? Andrew stieß eine Tür auf, die gräßlich in den Angeln kreischte. Er führte sie in eine dunkle Halle, durch die der Wind pfiff, und ließ ihr keine Zeit, sich umzusehen. »Wir müssen durch den Dienstbotengang«, murmelte er. »Alle anderen Türen sind verschlossen.« Mit dem Fuß stieß er eine Tür auf, die krachend gegen die Wand flog. Ein eisiger Luftzug streifte Charlet wie eine kalte Hand, als es die Treppenstufen hinunterging. Von der gewölbten Decke kam grünliches Licht aus einer an einem Draht baumelnden Glühbirne. Vor einer dunklen Tür hielt Andrew inne, stellte ihren Koffer ab und machte sich an einer Schalttafel neben der Tür zu schaffen. Mit surrendem Geräusch öffnete sich wie durch Zauberhand die Tür. Grelles Licht flammte auf. »Geh nur hinein!« sagte Andrew. Charlet trat über die Schwelle. Sie befand sich in einem behaglich eingerichteten Wohnraum, der angenehm temperiert war. Ein rasselndes Geräusch ließ sie herumfahren. Entsetzt sah sie, wie sich die Ritterrüstung in der Ecke bewegte, als würde ein Mensch darin stecken. Sie schrie gellend auf, als der
Ritter drohend seinen Säbel schwang, und verstummte erst, als sie Andrew lachen hörte. »Du brauchst dich vor meinem Ritter nicht zu fürchten«, lachte er. »Er will dich nur auf seine Art begrüßen. Technische Spielereien sind mein Hobby. Ist mir mit dem Ritter nicht ein Meisterwerk gelungen?« Noch immer lachend wandte er sich um und trat auf den Kellerflur. Gleich darauf fiel die Tür hinter ihm dröhnend ins Schloß. Sie war allein. »Andrew, wohin gehst du?« rief sie in leichter Unruhe. Keine Antwort. Auch der eiserne Ritter stand jetzt still und bedrohlich in seiner Ecke. Ringsum herrschte tödliche Stille. Wohin mochte Andrew gegangen sein? »Andrew!« schrie sie auf. »Antworte doch!« Konnte er sie nicht rufen hören? Sie stürzte auf die Tür zu, wollte sie öffnen, als sie in jäher Panik feststellte, daß die Tür keine Klinke hatte. Sie ließ sich nicht von innen öffnen. Andrew hat mich eingesperrt, durchzuckte es sie.
*
»Andrew!« schrie sie auf. Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Tür und konnte doch nur dumpfe, erstickte Geräusche verursachen. Die Tür war aus Eisen. »Andrew, hörst du mich nicht?« schrie sie wie von Sinnen. »So antworte doch!« Plötzlich begann der Ritter wieder mit dem Säbel zu rasseln. Das Visier seines Helms klappte auf und nieder. Es sah aus, als würde er sie auslachen.
Mit aller Gewalt zwang sie sich zur Ruhe. Ihr fiel ein, daß Andrew schon als Junge eine Vorliebe für makabre Späße gehabt hatte. Sicher stand er jetzt auf der anderen Seite der Tür und amüsierte sich über ihre Panik. Wenn er erst merkte, daß sie sich beruhigt hatte, würde er grinsend zur Tür hereinkommen. Um sich abzulenken, begann Charlet den Raum, in dem sie sich befand, näher in Augenschein zu nehmen. Sie stand auf einem dicken Teppich in verblichenen Farben. An der linken Wandseite stand der kuriose Ritter neben einem Mahagonischrank. An der Längswand mußten sich wohl die Fenster befinden. Rote Samtvorhänge verdeckten sie. Mitten im Raum gruppierten sich drei Sessel um ein rundes Tischchen mit geschwungenen Beinen. Eine Art Bauernbett stand in der rechten Ecke. Neben dem Fußende befand sich eine weitere Tür. Hoffnungsvoll öffnete Charlet die Tür und blickte in ein altmodisches Bad. Über dem gußeisernen Waschbecken hing ein halbblinder Spiegel, aus dem ihr ein blasses, abgespanntes Gesicht entgegenblickte. Die mächtige Wanne stand auf gespreizten Füßen, die sich wie Krallen in den ungepflasterten Boden gruben. Als Charlet auf dem Boden der Wanne eine fette schwarze Spinne entdeckte, floh sie schaudernd in den Wohnraum zurück und schloß fest die Tür. Verärgert mußte sie feststellen, daß Andrew sich noch immer nicht blicken ließ. Übertrieb er den Scherz nicht ein bißchen? Warum spielte sie ihm nicht ebenfalls einen Streich und entfloh durchs Fenster? Entschlossen riß Charlet den roten Vorhang beiseite und entdeckte ein kleines Fenster, dessen Glas mit Draht durchzogen war. Es saß so fest, daß sie alle Mühe hatte, es zu öffnen. Enttäuscht stellte sie fest, daß sie nur gegen eine dunkle Wand blickte. Der Raum hier mußte fast vollständig
unter der Erde liegen, denn das Fenster führte nur auf einen schmalen, hohen Lichtschacht, der oben von Eisenstäben abgeschlossen wurde. An Flucht durch das Fenster war nicht zu denken. Es kam nur Kälte und Nässe herein, und sie schloß fröstelnd das Fenster. Entmutigt ließ sie sich in einen Sessel sinken, als plötzlich ein gräßliches, geisterhaftes Kichern aufklang, das von allen Seiten zu kommen schien, Ihre Blicke irrten durch den Raum, und sie entdeckte in den Ecken unter der Decke kleine Lautsprecher. »Andrew, bist du das?« rief sie verstört. Das Kichern verstummte. Eine Stimme klang auf, die sie unschwer als Andrews Stimme erkannte: »Jetzt sitzt du wie die Maus in der Falle, süße Charlet!« rief er mit höhnischem Lachen. »Andrew, wo steckst du?« schrie sie auf. »Öffne sofort die Tür und laß mich heraus. Ich finde deinen Scherz, mich einzusperren, kein bißchen komisch.« »Du irrst dich, Charlet! Ich habe dich nicht zum Spaß im Keller eingesperrt«, rief er lachend. »Du hast dir das selbst zuzuschreiben. Wenn du eingewilligt hättest, meine Frau zu werden, hätte ich dich morgen zu deinem Vater gebracht. Jetzt muß ein Double bei deinem Vater deine Rolle spielen. Lord Cunningham wird überglücklich sein, wenn er erfährt, daß seine Tochter Charlet mich zum Mann gewählt hat.« »Du bist ja verrückt«, entfuhr es ihr. »Mein Vater wird den Betrug sofort merken.« »Wie sollte er? Er hat dich ja fünfzehn Jahre lang nicht gesehen. Niemand wird es merken, wenn eine andere an deine Stelle tritt. Du hast mir ja sogar vertrauensvoll deine Papiere überlassen. Man braucht das Paßfoto nur gegen ein anderes einzutauschen.«
»Andrew, das ist Betrug!« rief sie erschrocken. »Das kannst du nicht machen. Laß mich bitte hinaus. Du hast ja jetzt deinen Spaß gehabt.« »Du bleibst im Keller, bis ich meine Pläne verwirklicht habe«, antwortete die gnadenlose Stimme ihres Cousins. Seine Stimme steigerte sich zu einem wütenden Kreischen, als er fortfuhr: »Mir, nur mir steht das Vermögen nach Alains Tod zu. Onkel Randolf hatte kein Recht, mich zu deinen Gunsten zu enterben.« »Andrew, du kannst mich doch nicht gegen meinen Willen hier einsperren«, rief sie verzweifelt. »Mach dich nicht unglücklich! Wenn man entdecken wird, was du getan hast, wirst du ins Gefängnis wandern.« »In der Klosterruine von Saint George wird dich niemals jemand finden«, höhnte er. »Der Ort ist verflucht. Niemand wagt sich hierher. Ich habe viel Geld, Zeit, und mein ganzes technisches Genie aufgeboten, dir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. In wenigen Minuten wirst du dein Dinner bekommen. Getränke findest du im Kühlschrank neben dem Mahagonischrank. Du hast noch eine Stunde Zeit. Danach muß ich das Licht ausschalten. Falls du in der Nacht Licht brauchen solltest, findest du Kerzen und Streichhölzer im Nachtschrank. Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe!« Es rauschte und knackte in dem Lautsprecher, dann verstummte die Stimme. Es wurde still, totenstill! Charlet barg das Gesicht in den Händen. Das alles kann nicht wahr sein, ich träume nur, dachte sie verstört. Ich werde gleich erwachen und über meinen gräßlichen Alptraum lachen. Andrew kann doch nicht im Ernst daran denken, mich hier einzusperren? So unmenschlich kann er doch nicht handeln. Ich habe ihm nichts getan! Ein klappendes Geräusch ließ sie hochfahren. Sie bemerkte, daß sich in der eisernen Tür eine Klappe geöffnet hatte, auf der
jetzt ein Tablett erschien. Auf dem silbernen Tablett standen neben einem Stück Käse Brot und Butter. Sie blickte durch die schmale Öffnung, konnte aber niemanden entdecken. Resigniert nahm sie das Tablett von der Klappe, die sich sogleich automatisch schloß. Wenn sie die Hand nicht rasch zurückgezogen hätte, wäre sie mit Sicherheit eingeklemmt worden. Sie kicherte hysterisch, verstummte aber gleich, als ihr einfiel, daß Andrew sie wahrscheinlich belauschte. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Doch der Appetit war ihr vergangen. Sie hatte das Gefühl, einen dicken Kloß im Hals zu haben und keinen Bissen hinunterbringen zu können. Ist es wirklich möglich, daß Andrew seine Drohung, mich hier einzusperren, bis mein Vater gestorben ist, ernst gemeint hat? Sie konnte es nicht glauben. Sie warf dem eisernen Ritter einen drohenden Blick zu und begab sich zur anderen Seite des Mahagonischrankes, wo sich tatsächlich ein Kühlschrank befand. Sie öffnete die Tür und stellte betroffen fest, daß der Kühlschrank bis obenhin mit Flaschen gefüllt war. Charlet fand im Schrank ein Glas, das sogar sauber aussah, füllte es mit Rotwein und trank im Stehen durstig daraus. Ein leichter Schwindel ergriff sie. Aber irgendwie fühlte sie sich besser. Ihr früherer Optimismus kehrte zurück. Nur ruhig Blut, befahl sie sich. Wenn Andrew erst merkt, daß er mich nicht unter Druck setzen kann, wird er sein böses Spiel aufgeben. Trotzdem erschrak sie bis ins Mark, als plötzlich das Licht verlöschte. Es wurde stockdunkel um sie. Nervös tastete sie nach dem Nachtschränkchen, stellte das Weinglas ab und versuchte, die Lade des Schränkchens zu öffnen. Sie klemmte und ließ sich nur schwer öffnen. Sie mußte mit aller Kraft an
dem Knopf der Lade zerren. Durch diese Erschütterung stürzte das Glas um, und der Wein floß über ihre Hände. Charlet schluchzte zornig auf, Tränen schossen ihr in die Augen, und einige Minuten lang überließ sie sich ganz ihrer Verzweiflung. Allein der Gedanke, daß Andrew sie weinen hören und bittere Genugtuung dabei empfinden konnte, ließ ihr das Weinen im Hals ersticken. Sie fürchtete, in dieser tiefen Finsternis ringsum verrückt zu werden und riß sich zusammen, trocknete die Hände am Bettuch und tastete in der Nachtschränkchenlade nach den versprochenen Kerzen. Tatsächlich fand sie gleich darauf das Kästchen mit Streichhölzern und die kühlen glatten Kerzenstangen. Mildes Kerzenlicht glühte auf. Getröstet stellte sie die Kerze auf den Porzellanständer und begann, sich auszuziehen. Sie hatte nicht den Mut, in das unfreundliche Badezimmer zu gehen, wo die gräßliche Spinne auf der Lauer lag. Sie hatte nicht einmal den Mut, zu ihrem Koffer zu gehen und ihr Nachthemd herauszuholen. Der eiserne Ritter glitzerte bösartig aus der Ecke, bereit, jeden Moment mit dem Säbel zu rasseln, um sie zu erschrecken. Das wollte sie lieber nicht riskieren. Hastig kleidete sie sich aus und schlüpfte in ihrer Unterwäsche unter die Bettdecke. Noch wagte sie es nicht, die Kerze auszublasen. Sie fürchtete sich vor dieser totalen Dunkelheit, in der sie sich wie lebendig begraben vorkam. Noch immer fühlte sie sich insgeheim belauscht und beobachtet, als wären die Wände durchsichtig. In angstvoller Spannung wartete sie darauf, daß Andrew sie mit einer neuen technischen Spielerei erschrecken würde. Ihr Herz schlug so heftig, daß sie einen tauben Schmerz in der Brust verspürte. Hände und Füße waren ihr eiskalt, doch der Kopf heiß. Es war ein unerträglicher Zustand.
Noch immer umgab sie eine trügerische Stille. Hin und wieder summte der Kühlschrank. Mit nervösem Flakkern brannte die Kerze nieder. Waren da nicht Schritte vor der Tür? Sie fuhr hoch, lauschte mit angespannten Sinnen, wie ein Tier, das den Schritt des Jägers zu hören glaubt. Nein, keine Schritte. Bis auf das rhythmische Klopfen der Regentropfen blieb alles still. Sie mußte sich die Schritte nur eingebildet haben. Wie spät mochte es sein? Sie blickte auf die Zeiger ihrer Armbanduhr. Doch sie bewegten sich nicht. Die Uhr war stehengeblieben. Sie mußte wohl vergessen haben, sie aufzuziehen. Aber ganz sicher war es weit nach Mitternacht. Lähmende Müdigkeit hüllte sie ein wie schwerer Nebel. Sie blies die Kerze aus und ließ sich zurücksinken. Charlet hatte keine Kraft mehr, an den kommenden Tag zu denken. Ganz plötzlich fiel sie in Schlaf wie in einen bodenlosen Abgrund. Sie hatte die Bettdecke fest um sich gezogen, als könnte sie damit sämtliche bösen Geister ringsum abhalten, sich ihr zu nähern. Doch noch in ihren Träumen hörte sie Andrews bösartiges Kichern. In einem gräßlichen Alptraum erlebte sie, wie man sie lebendig begrub. Vergebens hämmerte sie mit den Fingerknöcheln gegen ihr hölzernes Gefängnis. Doch niemand hörte sie. Aber sie konnte Andrew sehen, wie er Blumen auf ihren Sarg warf und dabei lachte. Schweißgebadet erwachte sie, noch benommen von diesem gräßlichen Traum. Graues Morgenlicht sickerte durch den Lichtschacht. Im ersten Moment wußte sie nicht, wo sie sich befand. Leider dauerte der Moment nur kurz. Mit grausamer Deutlichkeit erkannte sie, wie ausweglos ihre Lage war. Sie
war vollständig auf Andrews Gnade und Barmherzigkeit angewiesen. Niedergeschlagen ging sie ins Bad. Zum Glück war die Spinne verschwunden. Charlet sehnte sich nach einem heißen Bad, um wenigstens einigermaßen frisch zu werden. Doch sie drehte vergebens am Heißwasserhahn. Es schoß nur eisigkaltes Wasser heraus. Nun, kaltes Wasser war immer noch besser als gar kein Wasser. Vor Kälte zitternd duschte sie sich ab, wickelte sich in ihren Bademantel und floh ins warme Zimmer zurück. Nachdem sie einen bequemen Hausanzug übergezogen hatte, öffnete sie die Kellerfenster und atmete tief die frische Luft ein. Sie hörte das Donnern der Brandung. Wenn sie sich weit in den Lichtschacht hineinneigte, konnte sie ein quadratisches Stückchen grauen Himmels sehen. Es regnete nicht mehr. Doch noch immer war die Luft schwer von Feuchtigkeit. Charlet spürte einen leichten Salzgeschmack auf den Lippen. Sie fragte sich, ob sich wohl jemals ein Mensch in diese Einöde verirren würde. Außer dem Kreischen der Möwen und dem Donnern der Brandung war nichts zu hören. Andrew hatte den Ort für seine verbrecherischen Aktivitäten gut ausgesucht. Ein dumpfes Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Sie bemerkte, daß die Türklappe hinuntergelassen worden war, und entdeckte ein Tablett mit Schnittchen und einer Thermoskanne. Diesmal schnellte die Klappe nicht hoch, als sie das Tablett herunternahm. Sie stellte das Tablett darauf und bemerkte atemlos, daß sich eine breite, behaarte Hand danach ausstreckte. Das ist nicht Andrews Hand, durchzuckte es sie. Er mußte einen Helfershelfer haben. »Ich will Andrew sprechen!« sagte sie mit lauter Stimme. Doch sie erhielt keine Antwort. Die Klappe flog wieder zu. Sie
konnte noch das Geräusch von schweren Schritten vernehmen. Dann wurde es wieder still.
*
»Hast du noch eine Frage, Charlet Cunningham?« Andrew warf der jungen Dame an seiner Seite einen flüchtigen Blick zu. »Im Moment nicht!« Cindy Frazer fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die modisch kurze rote Haarpracht. Sie wandte sich lächelnd dem Fahrer des Wagens zu und fragte kokett: »Wie findest du meine neue Haarfarbe, Andy?« »Sie ist genau richtig. Du siehst Charlet sehr ähnlich, wenn dich auch niemand mit ihr verwechseln könnte. Aber die Gefahr besteht ja nicht. Charlet war fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter nach Amerika zog. Wie heißt ihre Mutter?« »Amanda Dexter«, entgegnete Cindy gelangweilt. »Mach dir keine Sorgen, Andy! Ich kenne meinen Text. Als Schauspielerin bekommt man ein geschultes Gedächtnis.« »Diese Rolle wird dir bedeutend mehr einbringen als nur einige lächerliche Pfund«, versprach Andrew. »Vielleicht sollte ich noch etwas Rouge auflegen? Ist Charlet eigentlich hübscher als ich?« »Stell nicht so törichte Fragen!« Andrew preßte die Lippen aufeinander. Ein düsteres Licht glomm in seinen Augen auf. Jeder Gedanke an Charlet traf ihn wie ein schmerzhafter Pfeil. Schon als Junge hatte er eine Art Haßliebe für Charlet gefühlt. Schon damals hatte er nicht begreifen können, daß Charlet ihn immer wieder abwies. Dann das Wiedersehen nach all den Jahren! Er hatte sofort gewußt, daß seine Gefühle für sie sich nicht geändert hatten.
Seine Leidenschaft für sie war erneut aufgeflammt, wie ein verzehrendes Feuer. Cindy und all die anderen Mädchen, die er kannte, bedeuteten ihm nichts. Er wollte nur Charlet. Doch Charlet hatte sich ihm erneut verweigert. Sie liebte ja diesen Steven Farell. Aber Farell würde sie nicht bekommen. Kein anderer Mann würde Charlet bekommen. Sie war jetzt bei ihm, in seiner Gewalt. In den Ruinen von Saint George würde sie niemand finden. »Was wirst du mit deiner Cousine anfangen, wenn alles über die Bühne gegangen ist?« erkundigte sich Cindy in leichter Sorge. »Befürchtest du nicht, daß sie reden wird?« »Zerbrich dir nicht meinen Kopf«, fuhr er sie an. »Charlet wird keine Gelegenheit mehr bekommen zu reden.« »Du willst ihr doch wohl nichts antun?« erschrak Cindy. »Bei einem Mord mache ich nicht mit. Ich will nicht gehenkt werden. Andrew, du mußt mir fest versprechen, sie am Leben zu lassen.« Solange Charlet lebt, wird mich auch meine unselige Leidenschaft zu ihr quälen, schoß es ihm durch den Kopf. Sie tot zu wissen, würde eine Befreiung für mich sein. Er stellte sich vor, wie es sein würde, Charlet in den Armen zu halten, die kalten Lippen zu küssen und ihren Körper an sich zu pressen, der weich und nachgiebig sein würde. Wenn Charlet tot war, würde sie sich nicht mehr gegen ihn wehren. Dann endlich würde sie ihm ganz gehören. »Sobald wir das Erbe kassiert haben, verlassen wir England«, sagte Andrew tonlos. »Charlet wird dann keine Gelegenheit mehr haben, uns anzuklagen. Wir werden nach Florida fliegen und herrlich und in Freuden leben.« »Das wird wunderbar werden!« Cindy lehnte den Kopf gegen seine Schulter. »Ich bin dieses erbärmliche Leben gründlich leid. Arm zu sein, ist eine Strafe. Ich habe es satt,
von Theater zu Theater zu pilgern und um die Engagements zu betteln.« »In Florida herrscht ewiger Frühling«, sagte Andrew. Er sprach wie ein Automat, während sich vor seinem geistigen Auge ein Film abspulte. Er sah, wie in dem dunklen kalten Wasser der Themse eine Frauenleiche trieb. Niemand würde Andrew Cunningham verdächtigen, etwas mit dem Tod der hübschen Schauspielerin Cindy zu tun zu haben. Er hatte Sorge getragen, daß niemand ihn zusammen mit Cindy sah. Der perfekte Mord, dachte Andrew, und ein hysterisches Lachen drängte sich in seine Kehle. Es amüsierte ihn, daß die törichte Cindy so ahnungslos neben ihm saß und von Florida träumte. Sie würde Florida niemals zu sehen bekommen. »Ich habe Herzklopfen wie bei einer Premiere«, gestand Cindy, als sie auf den Parkplatz der Klinik fuhren. »Das macht nichts!« Andrew parkte geschickt in eine enge Parklücke ein. »Laß ruhig deinen Gefühlen freien Lauf. Es ist ganz verständlich, daß Charlet erregt sein wird, wenn sie nach so vielen Jahren ihren Vater wiedersieht. Ich hoffe, Lord Cunningham fühlt sich wohl genug, uns zu empfangen. Ich habe mit ihm telefoniert und erfahren, daß er voller Ungeduld deinen Besuch erwartet.« Cindy stieg aus. Ihr Gesicht zeigte gesammelten Ernst. Sie verwandelte sich jetzt in ein Mädchen, das seinen todkranken Vater besuchte, mit dem es fünfzehn Jahre lang keinen Kontakt hatte. Zum flotten Jeansanzug trug Cindy Westernstiefel. Den Duffelcoat hängte sie sich lässig um die Schultern. Nach einem prüfenden Blick auf sie nickte Andrew zufrieden. Cindy konnte durchaus für eine Amerikanerin gehalten werden. Niemand würde Verdacht schöpfen. Widerwillig mußte er Cindy bewundern. Es war einfach meisterhaft, wie sie auf der Schwelle des Privatzimmers zögernd stehenblieb.
»Onkel Randolf, hier bringe ich dir Charlet!« sagte Andrew mit gedämpfter Stimme, ergriff Cindys Hand und trat mit ihr neben das Krankenbett. Das Gesicht Lord Cunninghams war so weiß wie die getünchten Wände. Die Nase ragte spitz aus dem hager gewordenen Gesicht hervor. Eine Weile blickte er Cindy stumm an, dann lächelte er mit schmalen Lippen. »Charlet, ich freue mich, dich wiederzusehen! Als ich dich zuletzt sah, warst du noch ein kleines Mädchen. Genauso hatte ich dich in Erinnerung. Man vergißt oft, wie rasch Kinder erwachsen werden.« »Wie geht es dir, Dad?« Cindy neigte den Kopf und berührte seine Wange mit den Lippen. »Ich bin so froh, daß Andrew mich geholt hat. Ich habe mir immer gewünscht, einmal nach Snowton Hall zurückkehren zu können.« Lord Cunningham schwieg. Er griff nach Cindys Hand und umklammerte sie wie einen Rettungsanker. »Wie geht es… deiner Familie?« fragte er, mühsam mit Tränen kämpfend. »Sie sind okay! Mum läßt dich grüßen. Sie hofft, daß es dir bald bessergehen wird. Wir alle hoffen das. Sicher wirst du bald nach Snowton Hall zurückkehren können.« »Ich werde mir große Mühe geben«, versprach der kranke Lord. Ein wenig Farbe war in seine Wangen gestiegen. Er unterhielt sich jetzt fast lebhaft mit den beiden. »Ich werde dich täglich besuchen«, versprach Cindy und warf einen liebevollen Blick auf Andrew. »Andy wird mich gern herfahren. Ich verstehe mich gut mit Andy. Er hat sich so nett um mich gekümmert.« »Nimm dich nur vor Andy in acht!« Lord Randolf mahnte scherzend mit erhobenem Zeigefinger. »Er ist ein Spieler und Tunichtgut. Aber trotzdem freut es mich, daß ihr euch gut versteht. Wir Cunninghams müssen zusammenhalten.«
»Sprich nicht soviel, du mußt dich noch schonen, Onkel Randolf«, sagte Andrew freundlich. »Ich bringe Charlet jetzt erst mal nach Snowton Hall, sie braucht nach der langen Reise Erholung.« »Lieb von euch, daß ihr gleich zu mir gekommen seid.« »Das ist doch selbstverständlich«, sagte Cindy rasch. »Ich konnte es kaum erwarten, dich wiederzusehen.«
*
Als sie wieder im Auto saßen, mußte sich Cindy erst mal eine Zigarette anzünden. Ihre Hände zitterten vor Erregung, und immer wieder verlosch die Flamme ihres Feuerzeugs, bis Andrew es ihr ungeduldig aus der Hand nahm und ihr Feuer gab. »Charlet raucht nicht«, bemerkte er mißbilligend. »Ich bin nicht Charlet!« Sie warf ihm einen zornfunkelnden Blick zu. »Es war so schrecklich, dieser alte, kranke Mann und seine Freude!« stieß sie hervor. »Richtig schäbig bin ich mir vorgekommen, als ich ihm das Theater der verlorenen, wiedergefundenen Tochter vorgespielt habe. Er hat mir so entsetzlich leid getan.« »Hör auf damit!« fuhr er sie an. »Sentimentalitäten können wir uns nicht leisten. Ich finde, du hast deine Sache gut gemacht. Für Lord Cunningham spielt es doch gar keine Rolle, ob er nun die echte Charlet vor sich hat oder nicht. Hast du nicht sein Gesicht gesehen? Es ist vom Tode gezeichnet. Aber wenn er jetzt stirbt, dann wenigstens in dem glücklichen Bewußtsein, seine Tochter wiedergesehen zu haben.« »Welch eine Logik!« Cindy lachte bitter auf. »Manchmal könnte man sich vor dir fürchten, Andrew! Du verfolgst
gnadenlos deine Ziele. Wieso bist du dir eigentlich so sicher, daß der Lord bald stirbt? Was wird aus unseren Plänen, wenn er sich wieder erholen sollte?« Andrew grinste zynisch. »Seine Ärzte haben mir versichert, daß seine Tage gezählt sind.« »Auch Ärzte können sich irren.« Cindy warf die brennende Zigarettenkippe in eine Pfütze, wo sie verlöschte. »Laß uns fahren. Vielleicht wird es mich aufmuntern, in einem Schloß verwöhnt zu werden.« »An nichts kann man sich schneller gewöhnen als an Luxus«, meinte Andrew mit künstlichem Lächeln. Auch er hatte es eilig, nach Snowton Hall zu fahren. Sobald er Cindy eingeführt hatte, wollte er zur Klosterruine fahren und nach Charlet sehen. Er mußte sich vergewissern, daß dort noch alles in Ordnung war. Mrs. Peakers empfing die vermeintliche Tochter des Hauses mit vollendeter Höflichkeit. In dem Glauben, daß alle Amerikaner sich von Cola und Hotdogs ernährten, ließ sie zum Lunch Cola servieren, die Cindy mit Todesverachtung trank. Cindy gierte nach einer Zigarette, beherrschte sich aber, bis sie auf ihrem Zimmer war. Die altmodischen schweren Möbel in dem Zimmer wären das Entzücken jedes Antiquitätenhändlers gewesen. Cindy erschienen sie so bedrückend wie eine falsche Theaterdekoration. Nervös ging sie in den beiden Zimmern auf und ab und fragte sich, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Endlich entschloß sich Cindy, zu Bett zu gehen und Andrews Rückkehr abzuwarten. Zum ersten Mal in ihrem Leben lag sie in einem echten Himmelbett mit seidenen Kissen. Das Bett mit seinen verschnörkelten vergoldeten Holzsäulen wirkte imposant, und von den seidenen himmelblauen Laken ging ein zarter Duft von Lavendel aus.
Es war Cindy unerklärlich, warum sie sich trotzdem hier nicht wohl fühlte, sondern fremd und unbehaglich wie ein Dienstbote, der sich verbotenerweise in das Zimmer seiner Herrin geschlichen hat. Nimm dich zusammen, herrschte sie sich selbst an. Es wird ja nicht lange dauern. In ein oder zwei Wochen ist der Alptraum vorbei und dann… Cindy verschränkte die Hände hinter dem Kopf und träumte mit offenen Augen von Florida, von weiten weißen Stränden und einem Meer, blauer als der Himmel im Süden. Lächelnd schlief sie ein und sah sich im Traum mit Andy zu den Klängen einer Steelband tanzen. Nie mehr arm sein, dachte Cindy, und des Lebens süße Fülle bis zur Neige auskosten können…! Als der Ritter plötzlich mit dem Säbel zu rasseln begann, wurde es Charlet klar, daß Andrew zurück sein mußte. Sie zwang sich, den ferngesteuerten Blechhaufen völlig zu ignorieren, und gab sich den Anschein, interessiert und völlig gefesselt in dem Buch zu lesen, das sie im Schrank entdeckt hatte. In dem Buch wurde die Geschichte des Klosters behandelt. Anscheinend hatten sich die frommen Padres in früheren wilden Jahren nicht gescheut, fremde Handelsschiffe mit Laternen an ihre Küste zu locken, um sie später zu berauben. Heutzutage benutzte man wohl subtilere Mittel, sich fremdes Vermögen anzueignen. Endlich gab der Ritter sein fruchtloses Bemühen auf, sie mit rasselndem Säbel zu erschrecken. Doch noch immer hatte Charlet das unheimliche Gefühl, daß Andrew in der Nähe war und sie belauschte. Obwohl ihre Nerven vibrierten, zwang sie sich, sitzen zu bleiben und weiterzulesen. Solange Andrew sich nicht zeigte, brauchte sie nicht zu hoffen, daß er sie freilassen würde. Sie mußte ihn in Sicherheit wiegen und den Anschein
erwecken, daß sie sich in ihr Schicksal ergeben hatte. Nur so konnte sie hoffen, daß er sie in Ruhe ließ. Um lesen zu können, hatte Charlet eine Kerze angezündet, denn auch tagsüber wurde es in der unterirdischen Katakombe nicht richtig hell. Wie lang ein Tag sein konnte, wußte sie erst, als sie hier eingesperrt war und keine andere Gesellschaft als sich selbst hatte. Plötzlich glaubte sie, das Geräusch eines Wagenmotors zu hören. Sie lauschte mit angespannten Sinnen, bis das Motorengeräusch schwächer wurde und sich schließlich ganz verlor. Es war Andrew, sagte sie sich. Er ist anscheinend wieder abgefahren, ohne auch nur ein Wort mit mir zu sprechen. Wenn er glaubt, er könnte mich mit diesem Psychoterror kleinkriegen, hat er sich getäuscht, dachte Charlet. War es nun ein gutes oder schlechtes Zeichen, daß er nicht mit ihr gesprochen hatte? Ihre Blicke irrten durch den Raum. Die Vorstellung, daß sie vielleicht noch Tage oder sogar Wochen hier eingesperrt sein würde, versetzte sie in Panik. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als würden die Wände auf sie zukommen, um sie zu erdrücken. Sie hatte das gräßliche Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, stürzte ans Fenster, riß es auf und rang nach Atem. Minutenlang zwang sie sich, tief und ruhig durchzuatmen, bis sich ihre Nerven beruhigten. Hände und Nacken waren mit kaltem Schweiß bedeckt, und noch immer schlug ihr Herz so heftig wie nach einem schnellen Lauf. Ich darf mich nicht selbst verrückt machen, dachte sie. Sonst ist es aus mit mir. Vielleicht rechnet dieser verbrecherische Cousin sogar damit, daß ich den Verstand verliere! Wie lange kann ein Mensch Einzelhaft ertragen?
Fröstelnd schloß sie das Fenster wieder, ging ins Bad und ließ sich kaltes Wasser über die Hände laufen. Sie verwünschte Andrew, der sie in diese Lage gebracht hatte. »Ich könnte ihn umbringen«, sagte sie laut und erschrak richtig vor dem Haß in ihrer Stimme. Noch niemals vorher hatte sie einen Menschen so verabscheut wie diesen Andrew. Der Zorn auf Andrew half ihr, die Panik zu überwinden. Um sich abzulenken, begann sie, ihr Zimmer genauestens zu untersuchen. Sie schritt über den Teppich und glaubte unter ihren Füßen eine unebene Stelle zu spüren. Sie mußte erst den Tisch und die Sessel beiseite rücken, um an dieser Stelle den Teppich umschlagen zu können. Erregung stieg in ihr auf, als sie den eisernen Ring entdeckte, der in die hölzernen Dielen eingelassen war. Eine Falltür! durchzuckte es sie. Mit Sicherheit führte sie zu einem der Fluchtwege, die die Mönche früher benutzt hatten, wenn Feinde das Kloster überfielen. Ohne lange nachzudenken, zerrte Charlet an dem eisernen Ring. Triumphierend merkte sie, wie sich die Falltür einen Spaltbreit öffnete. Sie mußte all ihre Kraft aufwenden, um die schwere Holztür zu heben. Dann war der Ausgang frei. Vorsichtig neigte sie sich über das so entstandene Loch. Kalte modrige Luft streifte sie und ließ sie schaudern. Vage konnte sie massive Stufen erkennen, die sich in tiefster Finsternis verloren. »Ich werde Licht brauchen«, murmelte sie, denn sie war sogleich entschlossen, den Gang zu untersuchen. Sie durfte sich die Chance, ihrem Gefängnis entfliehen zu können, nicht entgehen lassen. Charlet zündete eine Kerze an, steckte vorsichtshalber Streichhölzer ein und eine weitere Ersatzkerze, falls sie die eine Kerze verlieren sollte. Dann stieg sie vorsichtig die feuchten, glitschigen Stufen hinab, Schritt für Schritt.
»Andrew, wäre es nicht besser, diesem Steven zu schreiben, anstatt ihn anzurufen?« fragte Cindy furchtsam. »Wie soll ich Charlets Stimme so täuschend imitieren, daß er den Schwindel nicht merkt?« »Still!« herrschte er sie an. »Willst du, daß einer der Dienstboten dich reden hört?« Er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern, als er fortfuhr: »Ich werde mit Steven reden. Du brauchst weiter nichts zu sagen, als daß es dir leid tut. In deiner Situation ist es ganz verständlich, daß du keine Lust zu einer längeren Konversation haben wirst. Ein Brief würde viel zu lange dauern, außerdem ist auch eine Schrift unverwechselbar. Steven Farell würde sofort merken, daß es sich bei dem Brief nicht um Charlets Handschrift handelt. Wenn du flüsterst, kann er den Unterschied gar nicht merken. Geflüsterte Stimmen klingen ähnlich. Solltest du nicht weiter wissen, fängst du einfach an zu weinen. Hast du mich verstanden?« Cindy nickte beklommen. Ihr war gar nicht wohl zumute. Sie bemerkte fanatische Entschlossenheit in Andrews Augen und fürchtete sich richtig vor ihm. Er schien nicht die geringsten Skrupel zu haben, sein Vorhaben auszuführen. Andrew schlug das Notizbuch auf, das er Charlet entwendet hatte. In diesem Büchlein, das in rotes Saffianleder gebunden war, hatte sie alle wichtigen Telefonnummern notiert. Jetzt, am Abend, würde Steven Farell sicher zu Hause sein. Nachdem er die endlose Zahlenreihe gewählt hatte, hob er den Hörer ans Ohr und wartete. Es rauschte und knackte in der Leitung. Das Freizeichen war nur schwach und fern zu hören. Dann plötzlich hörte er, wie Farell sich meldete. »Hier spricht Andrew Cunningham, Charlets Cousin!« rief er. »Steven, wir haben uns ja bei meinem Besuch in Los Angeles flüchtig kennengelernt.«
»Warum rufen Sie an?« fragte Steven erschrocken. »Ist etwas mit Charlet?« »Charlet geht es gut.« Andrew lachte. »Sie hat nur nicht den Mut, selbst mit Ihnen zu sprechen. Charlet ist glücklich, wieder in Snowton Hall zu sein. Sie hat sich entschlossen, für immer hierzubleiben und meine Frau zu werden.« »Das ist doch nicht möglich! Andrew, Sie scherzen! Ich kann nicht glauben, daß Charlet mich so schnell vergessen haben kann.« »Steven, vergessen Sie nicht, daß Charlet und ich schon als Kinder ein Herz und eine Seele waren. Es ist auch der Wunsch ihres Vaters, daß wir heiraten und Snowton Hall zusammen bewirtschaften.« »Ich will mit Charlet selbst sprechen«, verlangte Steven zornig. »Ich verbinde!« Andrew reichte Cindy den Hörer. »Steven, es tut mir leid, aber ich liebe Andrew«, flüsterte Cindy. »Was hast du gesagt? Ich kann dich nicht verstehen.« »Leb wohl für immer, Steven«, flüsterte Cindy und begann zu weinen, Steven hörte nur noch, wie es im Äther rauschte und knackte. Die Verbindung war unterbrochen. Fassungslos legte er den Hörer auf die Gabel zurück. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Es war für ihn unvorstellbar, daß Charlet ihm von heute auf morgen den Laufpaß geben konnte. Charlet gehörte nicht zu den Mädchen, die wie Schmetterlinge von einer Blüte zur anderen flatterten. Für ihre Treue hätte er beide Hände ins Feuer gelegt. Konnten wenige Tage einen Menschen derart verändern? Hatte das Wiedersehen mit ihrem Cousin diesen plötzlichen Umschwung ihrer Gefühle bewirkt? Wie feige von ihr, Andrew ihn anrufen zu lassen. Das paßte gar nicht zu Charlets Wesen. Es hatte nie in ihrer Art gelegen, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wenn ihr etwas nicht
gepaßt hatte, hatte sie ihm immer unverblümt die Meinung gesagt. Aufgebracht ging Steven in seine kleine Küche, fand noch einen Rest Whisky und goß ihn in ein Glas, das er mit Eiswürfeln füllte. Er verstand die Welt nicht mehr. Alles hatte so hervorragend geklappt, er hatte sein Examen mit Auszeichnung bestanden und bereits den Flug nach London gebucht. Anscheinend hätte er sich das Geld für den Flug sparen können, denn Charlet legte keinen Wert mehr auf seinen Besuch, so sehr sie ihn auch beim Abschied darum gebeten hatte. Ruhelos griff er zum Telefon und rief Amanda Dexter an, die er schon als seine zukünftige Schwiegermutter betrachtet hatte. Amanda reagierte sehr betroffen, als Steven sie von Andrews Anruf in Kenntnis setzte. »Charlet will Andrew heiraten, ihren Cousin?« rief sie im Ton höchsten Erstaunens. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Charlet ihn so plötzlich ins Herz geschlossen haben sollte. Früher konnte sie ihn überhaupt nicht leiden. Andrew ist ja einige Jährchen älter als Charlet und hat sie als kleines Mädchen immer bis aufs Blut gepeinigt. Einmal hat er sogar ihre Lieblingspuppe dermaßen verstümmelt, daß Charlet untröstlich war. So etwas vergißt man nicht.« »Arischeinend doch. Mrs. Dexter, was raten Sie mir? Soll ich trotz allem nach Englands reisen? Vielleicht gelingt es mir, Charlet noch umzustimmen. Auf jeden Fall will ich, daß sie mir Auge in Auge sagt, daß alles zwischen uns zu Ende sein muß. Irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre ihr Cousin bei all dem die treibende Kraft. Vielleicht hat er Charlet gezwungen, mit mir Schluß zu machen.« »Schon möglich!« entgegnete Amanda, doch die Skepsis in ihrem Ton war nicht zu überhören.
Charlet hatte immer ihren eigenen Willen gehabt. Amanda konnte sich kaum vorstellen, daß sie sich zu etwas zwingen ließ, was sie nicht wollte. »Sie meinen also auch, daß ich fliegen sollte?« suchte er Amandas Unterstützung. »Steven, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich es tun«, entgegnete sie fest. »Versuchen Sie, Charlet allein zu sprechen und herauszubekommen, was sie zu diesem plötzlichen Sinneswandel bewogen hat. Möglicherweise will sie nur meinem Ex-Ehemann einen Gefallen tun. Ich könnte mir gut vorstellen, daß Randolf eine Ehe zwischen Charlet und Andrew toleriert. Er legt ja großen Wert darauf, daß Snowton Hall in den Händen der Cunninghams bleibt. Diese englischen Adeligen sind sehr traditionsbewußt.« Die Unterhaltung mit Amanda Dexter hatte Steven Mut gemacht. Er war jetzt fest entschlossen, die Flugkarte nicht zurückzugeben und seine Koffer nicht wieder auszupacken. Auch er hatte einen gehörigen Dickkopf und war nicht gewillt, Charlet so leichten Herzens aufzugeben. Außerdem hatte ihre Stimme so gar nicht nach der alten, fröhlichen Charlet geklungen. Sie hatte sogar geweint, ein Zeichen, daß sie alles andere als glücklich war. Er mußte Charlet wiedersehen. Auge in Auge sollte sie ihm gestehen, daß sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Wenn sie sich einbildete, ihn mit diesem läppischen Telefonanruf abspeisen zu können, hatte sie sich geirrt. Er wollte es aus Charlets eigenem Mund hören, daß sie ihn nicht mehr liebte.
*
Wenn Steven doch bei mir wäre, dachte Charlet in diesem Moment, als sie sich Schritt für Schritt die steinerne Treppe hinuntertastete. Die Kerzenflamme flackerte heftig, als Charlet in einen Gang gelangte, der von feuchten, moosbewachsenen Wänden begrenzt wurde. Charlet hatte sich noch nie für feige gehalten. Aber ihr grauste trotzdem vor diesem unterirdischen Gang, in dem Grabesstille herrschte. Der Boden fühlte sich unter ihren Füßen weich und schlammig an. Jeder Schritt von ihr verursachte ein schmatzendes Geräusch, als wäre der Boden unter ihr lebendig. Der unangenehme Modergeruch legte sich schwer auf ihre Lungen. Verstört fragte sie sich, ob dieser dunkle Gang wirklich in die Freiheit führen konnte oder sie nur noch tiefer ins Verderben zog. Trotz dieser Bedenken ging sie weiter. Sie hatte keine andere Wahl und war gewillt, jede Chance wahrzunehmen, die ihr zur Flucht verhelfen konnte, mochte sie auch noch so gering sein. Plötzlich spürte sie unter ihren Füßen einen harten Untergrund, als wäre sie auf eine Eisenplatte getreten. Im gleichen Augenblick flammte auf der Wand vor ihr ein grelles Licht auf, und sie sah ein menschliches Gerippe, das sie mit glühenden Augen anstarrte und mit den Knochen schauerlich klapperte, als wollte es sich auf sie stürzen. Ein gellender Schrei löste sich von ihren Lippen. Sie fuhr so hastig herum, daß die Kerze verlöschte. Blind wie ein Maulwurf taumelte sie weiter und erwartete jeden Augenblick, daß eine knöcherne Hand ihren Nacken packen würde. Von der Falltür kam ein vager Lichtschimmer her. Schon hatte sie die steinerne Treppe erreicht und hetzte nach oben, ließ knallend die Tür fallen und rollte den Teppich darüber.
Der Schreck saß ihr noch in allen Gliedern. Ihr Herzschlag raste. Im Moment war sie keines klaren Gedankens fähig. Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht hysterisch aufzuschreien. Noch immer hatte sie diesen gräßlichen Knochenmenschen vor Augen, und die Erinnerung ließ sie vor Entsetzen schaudern. Nervös zuckte sie zusammen, als die Türklappe fiel. Noch immer mit weichen Knien ging sie auf die Tür zu und nahm das Tablett mit ihrem Dinner in Empfang. Wie üblich bestand das karge Mahl aus einem Sandwich mit Tee, aber immerhin noch schmackhafter als die Kost, die man sonst einem Gefangenen servierte. Nachdem sie gegessen hatte, kehrte bei Charlet die klare Vernunft zurück. Als aufgeklärter Mensch wußte sie, daß es weder Geister gab noch lebende Knochengerippe. Sie hatte sich wieder einmal von Andrews makabren technischen Spielereien erschrecken lassen. In dem Augenblick, als ihr Fuß die eiserne Platte betrat, mußte er einen Kontakt ausgelöst haben, der dem Knochenmenschen trügerisches Leben schenkte. Jetzt ärgerte sie sich, daß sie in Panik geraten und kreischend geflüchtet war. Ich muß es noch mal versuchen, sagte sie sich. Doch die Aussicht, sich noch mal in den finsteren, unterirdischen Gang zu begeben, wo tausend Schrecken auf sie warten mochten, ließ sie schaudern. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte sie und holte sich ein Glas Rotwein aus dem Kühlschrank. Zu neuen abenteuerlichen Unternehmungen hatte sie keine Kraft mehr. Es würde besser sein, am kommenden Morgen den Gang zu untersuchen, wenn sie frisch und ausgeruht war.
*
Als Cindy und Andrew Lord Cunningham am nächsten Tag besuchen wollten, kam er ihnen, auf einen Pfleger gestützt, auf dem Flur entgegen. »Es scheint dir besserzugehen, Onkel Randolf!« sagte Andrew in vorgetäuschter Freude. »Überanstrenge dich nur nicht!« Cindy nahm vorsorglich seinen anderen Arm. »Ich finde, du siehst viel besser aus als gestern.« »Ich fühle mich auch besser.« Cunningham neigte den Kopf in Erwartung eines Kusses von ihr. »Jetzt, wo du hier bist, habe ich wieder neuen Lebensmut bekommen.« Verlegen richtete er den Kopf wieder auf, denn Cindy hatte nicht begriffen, was er von ihr erwartete. Irgendwie hatte er mehr Herzlichkeit von ihrer Seite erwartet, sah aber auch ein, daß das Zeit brauchte. Nach all den Jahren war er ja ein Fremder für sie. Er konnte froh sein, daß sie überhaupt gekommen war und es nicht abgelehnt hatte, ihn zu sehen. Zusammen begaben sie sich ins Krankenzimmer. Der kurze Ausflug hatte den Lord sichtlich erschöpft. Doch er weigerte sich eigensinnig, von dem Pfleger zu Bett gebracht zu werden. Er wollte mit seinen Besuchern am Tisch sitzen und schickte den Pfleger fort. »Ist auf dem Gut alles in Ordnung?« erkundigte er sich bei seinem Neffen. »Es gibt keine Komplikationen.« Andrew warf einen lächelnden Blick auf Cindy. »Charlet interessiert sich sehr für das Gut. Ich mußte ihr versprechen, sie in die Lehre zu nehmen.« »Ich möchte alles lernen, was es tu lernen gibt!« versicherte Cindy brav.
»Im Herrenhaus gibt es ja wenig für mich zu tun. Mrs. Peakers wäre sehr ungehalten, wenn ich mich in ihre Haushaltsführung einmischen sollte. Auf dem Gut zu arbeiten, würde mir auch viel mehr Spaß machen.« Lord Cunningham strich sich nachdenklich über die hohe Stirn. Nach der Krankheit war er hohlwangig geworden und sichtlich gealtert. Doch in seinem Blick lag bereits wieder ein Anflug von Energie. Auch seine Stimme hatte an Festigkeit gewonnen. Cindys Bemerkung über sein Aussehen war nicht geschmeichelt gewesen. Er sah tatsächlich besser aus. »Charlet, könntest du dich mit dem Gedanken vertraut machen, für immer hierzubleiben?« fragte er stockend. »Falls du Heimweh nach Amerika haben solltest, könnte ich dir das nicht übelnehmen.« »Ich bin eine Cunningham und gehöre hierher«, sagte Cindy fest. »Ich freue mich, daß du so denkst.« »Ich muß dir noch etwas sagen, Dad! Andrew und ich haben beschlossen, zu heiraten. Ich hoffe, es ist dir recht?« »Alles, was dich an Snowton Hall bindet, soll mir recht sein. Andrew, würdest du bitte einen Moment hinausgehen? Ich möchte allein mit Charlet sprechen.« Andrew hob befremdet die Brauen, gehorchte aber und verließ den Raum. »Hast du dir deinen Entschluß, Andrew zu heiraten, auch reiflich überlegt?« Lord Randolf blickte sie fest an. »Leider habe ich festgestellt, daß Andrew das leichte Blut meines Halbbruders Simon geerbt hat. Simon ist mit seinem Erbe rasch fertig geworden, er war ein Spieler, Trinker und Frauenheld. Auch Andrew zeigt eine verhängnisvolle Leidenschaft für Wetten. Das solltest du wissen, damit du am Ende nicht eine unangenehme Überraschung erfährst. Andrew wird eine feste Hand brauchen. Darüber mußt du dir klar sein.«
»Die Liebe einer Frau hat schon manchen Mann verändert«, sagte Cindy mit gekünsteltem Lächeln. »Mach dir keine Sorgen, Dad! Ich weiß schon, wie ich mit ihm umgehen muß.« Während sich die beiden unterhielten, hatte Andrew die Gelegenheit ergriffen, mit dem Herzspezialisten Dr. Baker über seinen Onkel zu sprechen. »Bei dieser Art Krankheit ist es schwer festzustellen, ob es sich um ein letztes Aufflackern oder tatsächliche Besserung handelt«, belehrte ihn Dr. Baker. »Wir können weiter nichts tun als abwarten und hoffen. Doch sollte die Besserung des Patienten weiterhin fortschreiten, kann er in Kürze nach Hause entlassen werden. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, daß sich Patienten in ihrer gewohnten Umgebung viel schneller erholen.« Andrew bedankte sich herzlich für die Auskunft. Doch sobald er mit Cindy im Auto saß, machte er seinem Unmut Luft. »Auf die Ärzte ist kein Verlaß mehr«, zeterte er. »Erst neulich hätte Dr. Baker keinen Pfifferling für das Leben meines Onkels gegeben. Jetzt spricht er bereits von Besserung. Er will meinen Onkel sogar in Kürze entlassen, damit er sich zu Hause schneller erholt. Was sagst du dazu?« Cindy blickte ihn erschrocken an. »Was fangen wir an, wenn dein Onkel tatsächlich wieder gesund wird?« Andrew seufzte. »Es würde uns in eine schwierige Situation bringen. Wir müßten dann irgendwie erreichen, daß er dir sein Erbe auch noch zu seinen Lebzeiten überschreibt. Du könntest ruhig ein wenig herzlicher zu ihm sein«, kritisierte er. »Gebe ich mir nicht große Mühe?« »Das tust du nicht! Himmel noch mal, einer jungen hübschen Frau sollte es doch nicht schwerfallen, einen kranken Mann einzuwickeln. Hat er eigentlich mit dir über sein Testament gesprochen, als ihr allein wart?«
»Er hat hauptsächlich über dich gesprochen. Viel scheint er nicht von dir zu halten«, sagte sie boshaft. »Bist du wirklich so versessen auf das Wetten?« »Zeig mir einen Engländer, der nicht leidenschaftlich gern Wetten abschließt. Es bleibt nicht aus, daß man hin und wieder eine Pechsträhne erwischt. Es ist auch schon vorgekommen, daß ich beim Pferderennen tausend Pfund gewonnen habe.« Andrew startete den Wagen. »Für uns ist jetzt die Heirat vorrangig. Mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand meines Onkels werden wir in aller Stille heiraten. Jeder wird dafür Verständnis haben.« »Werden nicht Charlets Eltern darauf bestehen, an der Hochzeit teilzunehmen?« »Sie dürfen gar nichts davon erfahren.« Andrew furchte die Stirn und hupte verärgert, als eine ältere Frau unvermittelt auf die Straße trat und sie in aller Gemütsruhe überquerte. »Wird es dein Onkel nicht seltsam finden, wenn Charlets Mutter nicht zu ihrer Hochzeit erscheint?« »Du mußt Lord Cunningham eben klarmachen, daß Charlets Mutter keinen Wert darauf legt, noch einmal mit ihrem geschiedenen Mann zusammenzutreffen.« »Wenn das alles nur gutgeht!« »Es wird gutgehen, wenn wir vorsichtig sind.« Er verwünschte Cindy in diesem Moment. Konnte sie ihre törichten Einwände nicht für sich behalten? Noch stand ja nicht fest, daß der Lord tatsächlich am Leben blieb. Sollte es tatsächlich der Fall sein, müßte man dem Schicksal eben ein bißchen ins Handwerk pfuschen. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Andrew war fest entschlossen, seine Pläne durchzuführen. Er hätte jetzt auch gar nicht mehr zurückgekonnt, selbst wenn er gewollt hätte. Sollte der Lord wider Erwarten am Leben bleiben, mußte man nachhelfen. Niemand würde beim
plötzlichen Ableben seines Onkels Argwohn schöpfen, nicht einmal seine Ärzte, die es ja fast als Wunder betrachteten, daß er noch lebte. Alles wird gutgehen, sagte er sich. Wir müssen nur die Nerven behalten. Um Charlet brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Sie ist auf Saint-George gut aufgehoben. Wie lange würde sie es wohl in ihrem Gefängnis aushalten, ehe sie in Hysterie verfiel? »Warum sagst du nichts, Andrew?« Sein langes Schweigen schien Cindy nervös zu machen. »Du machst dir auch Sorgen, gib es ruhig zu.« »Ich wünschte, du würdest endlich den Mund halten«, fuhr er sie an. »Und mach nicht so ein Weltuntergangsgesicht. Man sollte dir ansehen, wie sehr du dich darüber freust, daß es deinem Vater bessergeht.« »Ich will es versuchen«, versprach sie kleinlaut. Sie wünschte sich, dieser Alptraum hätte endlich ein Ende. Es war eine große, psychische Belastung für sie, in ständiger Angst vor Entdeckung leben zu müssen. Manchmal bereute sie es sogar, sich darauf eingelassen zu haben. Nur die Hoffnung, eines Tages in Florida die Früchte ihres bösen Tuns ernten zu können, hielt sie aufrecht. Sie träumte mit offenen Augen von Florida, und jetzt fiel ihr das Lächeln nicht mehr schwer. Ein Leben von Glanz und Luxus entstand wie eine Fata Morgana vor ihren Augen. Und sie wünschte sich heiß, schon im Flugzeug zu sitzen und England im Dunst und Nebel versinken zu sehen. Cindy würde dem Land keine Träne nachweinen. Steven Farell fröstelte in der kühlen, feuchten Londoner Luft. Er hatte nicht darüber nachgedacht, daß man in England um diese Jahreszeit bereits Winterkleidung brauchte. Vom Flughafen aus ließ er sich von einem Taxi in die City bringen. Er buchte ein Hotelzimmer und suchte dann einen
Herrenausstatter auf, wo er sich einen pelzgefütterten Dufflecoat kaufte, warme Pullover und strapazierfähige Schuhe. In einem Schreibwarengeschäft holte er sich eine Landkarte, die er am Abend in seinem Hotelzimmer studierte. Obwohl ihm das Land im Vergleich zu Amerika winzig vorkam, würde er doch einige Zeit brauchen, die Halbinsel Lleyn zu erreichen. Er beschloß, am nächsten Tag nach Liverpool zu fliegen und dort ein preiswertes Auto zu kaufen, mit dem er die Reise fortsetzen konnte. Steven schlief sehr unruhig in dem fremden Zimmer. Unablässig mußte er an Charlet denken. Sicher würde sie aus allen Wolken fallen, wenn er so plötzlich aufkreuzte, und alles andere als erfreut sein. Wahrscheinlich hätte jeder andere an seiner Stelle einen Schlußstrich unter die Affäre gezogen und jedes Gefühl für die treulose Person aus seinem Herzen gerissen. Doch es lag nicht in Stevens Art, die Flinte so rasch ins Korn zu werfen. Charlets knappe Eröffnung, sie hätte sich in Andrew verliebt, befriedigte ihn nicht. Er wollte nicht so leichten Herzens auf sein Lebensglück verzichten. Es konnte ja auch möglich sein, daß Charlet in einer momentanen Verwirrung gehandelt hatte. Er würde ihr den Kopf schon wieder zurechtsetzen und ihr klarmachen, daß ihr Platz an seiner Seite war. Der Flug um sechs Uhr am nächsten Morgen fiel wegen Nebels aus. Also unternahm er einen Spaziergang und betrachtete den sagenumwobenen Tower mit der Towerbridge. Steven fand London nicht übel, wenn ihm hier auch alles ein wenig eng und verbaut vorkam. Er war froh, sich warme Sachen gekauft zu haben. Am Nachmittag erreichte er dann Liverpool. Auch hier nahm er sich sogleich ein Hotelzimmer. Es war zu spät, sich jetzt
noch um einen fahrbaren Untersatz zu bemühen. Außerdem hätte er sich in der Dunkelheit doch nur verfahren. Liverpool gefiel ihm überhaupt nicht. Doch das Essen in dem Hotel war überraschend gut und widersprach jenen Horrorgeschichten, die über die schlechte englische Küche verbreitet würden. Nach einem herzhaften Frühstück machte er sich am nächsten Morgen auf den Weg. Der Hotelwirt hatte ihm eine Autohandlung empfohlen, die für seriöse Preise bekannt war. Steven fand hier auch bald einen häßlichen grauen Wagen mit solidem Innenleben. Bis zum Mittag waren alle Formalitäten erledigt. Seine Dollars wurden gern genommen, und der gewandte Autoverkäufer versah ihn sogar noch mit einer Straßenkarte, auf der die Route nach Lleyn genauestens aufgezeichnet war. Unternehmungslustig verstaute Steven sein Gepäck im Kofferraum und fuhr los. Er hoffte, Snowton Hall noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Was er unternehmen wollte, wußte er noch nicht. Er würde darüber nachdenken, wenn er an Ort und Stelle war. Jetzt war nur wichtig, sein Ziel zu erreichen. Während er über die kurvenreichen Straßen fuhr, sehnte er sich nach den glatten, problemlosen kalifornischen Autostraßen. Er brauchte für die Strecke viel länger als erwartet. Es dämmerte bereits, als Steven das Städtchen Snowton erreichte. Auch hier suchte er sich zunächst ein Hotelzimmer und speiste zu Abend. Es waren nur wenige Gäste in dem Schankraum, die ihn mit neugierigem Erstaunen betrachteten. Um diese Jahreszeit kamen selten Fremde her. Aber möglicherweise gehörte dieser Mann zu den neuen, naturbewußten Frischlufttypen, die Sturm und Regen nicht scheuten, sondern sogar genossen.
Die Fahrt war anstrengend gewesen. Steven beschloß, frühzeitig schlafen zu gehen. Nach einem kräftigen, doppelten Whisky hatte er auch bald die richtige Bettschwere. Traumlos schlief er bis zum frühen Morgen und erwachte vom Regengeplätscher. Ein junges, noch verschlafenes Mädchen servierte ihm ein herzhaftes Frühstück und starken Tee. Gleich nach dem Frühstück machte sich Steven auf den Weg nach Snowton Hall. Um als überzeugter Naturliebhaber zu gelten, hatte er sich seine Kamera um den Hals gehängt. Je weiter er auf die schmale Halbinsel vordrang, um so häufiger wurden die Wälder, die wie grüne Oasen die karge Landschaft bevölkerten. Am heftigen Wind war die Nähe der See zu spüren. Doch immerhin hatte es zu regnen aufgehört. Schon von weitem konnte Steven die grauen Mauern von Snowton Hall sehen, die immer wieder seinen Blicken entschwanden, wenn die schlecht gepflasterte Straße jäh in ein Tal hinabstürzte, um sich dann wieder in vielen kurvenreichen Windungen nach oben zu schrauben. Hin und wieder konnte er das Meer sehen. Möwen schossen darüber hin. Der herbe Reiz dieser Landschaft fesselte ihn. Hier gab es noch echte Natur, ohne Klimaanlagen, Plastikbäumchen und fade, künstlich gezüchtete Blumen. Wenn es hier Nacht wurde, konnte man als einziges Licht den Mond sehen und keine Leuchtreklamen, die wie Raketen in den wehrlosen Himmel schossen. Steven ließ sich Zeit mit seiner Fahrt. Wer wie er nicht erwarten konnte, mit offenen Armen empfangen zu werden, brauchte sich nicht zu beeilen, sein Ziel zu erreichen. Als er auf zweihundert Meter an Snowton Hall herangekommen war, parkte er den Wagen in einem Kiefernwäldchen und ging zu Fuß weiter. Der heftige Wind riß ihm fast die Haare vom Kopf. Jeder Schritt war mühsam, und die feuchte Luft schmeckte nach
Salz. Es dämmerte bereits, als Steven die hohe Mauer erreichte, die das vordere Gelände von Snowton Hall eingrenzte. Er wanderte ein Stück die Mauer entlang bis zu einer kleinen unverschlossenen Pforte. Nach kurzem Zögern trat er ein und bemerkte, daß er sich neben den Pferdeställen und den Garagen befand. Er entdeckte einen jungen Mann, der eine dunkelblaue Limousine auf Hochglanz polierte. »Hallo!« grüßte er freundlich. »Können Sie mir sagen, wie dieser alte Kasten da heißt?« »Das ist Snowton Hall, Sir!« entgegnete der junge Mann zuvorkommend. »Sie sind wohl nicht von hier?« »Nein, aber ich bin auf der Suche nach interessanten alten Häusern. Ob es wohl erlaubt ist, das Castle zu fotografieren? Es ist doch noch bewohnt?« »Die Cunninghams wohnen hier, aber nur im vorderen Trakt«, berichtete der junge Mann redselig. »Die Seitenflügel stehen seit Jahren leer. Die Familie ist ja inzwischen klein geworden. Aber man erzählt sich, daß Lady Charlet bald heiraten wird. Vielleicht wird es dann endlich wieder lebendig auf Snowton Hall. Aber es ist besser, Sie gehen jetzt, Sir! Jeden Moment können Lady Charlet und Sir Andrew erscheinen. Sie wollen noch in die Stadt fahren, um Lord Cunningham abzuholen. Er wird nämlich heute aus dem Hospital entlassen.« »Ich komme dann ein anderes Mal wieder«, versprach Steven. »Das Licht ist sowieso zu schlecht zum Fotografieren.« »Da kommen sie bereits.« Der junge Mann stellte seine Putzsachen beiseite und öffnete einladend die Wagentür, während sich Steven hinter einem Taxusstrauch an der Mauer versteckte. Er wollte es nicht riskieren, von Andrew Cunningham entdeckt zu werden.
Trotz der Dämmerung konnte er die beiden jungen Leute genau sehen, die ohne Eile näherkamen. Sein Herz schlug heftig. Er sah, wie Charlets rotbraune Locken im Wind wehten. In dem fußlangen dunklen Wollmantel wirkte ihre Gestalt sehr schlank, und irgendwie kam sie ihm kleiner vor, als er sie in Erinnerung hatte. Die beiden waren jetzt so nah herangekommen, daß er ihre Gesichter deutlich sehen konnte. Haßerfüllt betrachtete er Andrews arrogante Züge. Kann Charlet diesen Mann wirklich so lieben, daß sie mich darüber vergißt? durchzuckte es ihn, als sein Blick auf Charlet fiel. Im ersten Moment erkannte er Charlet nicht wieder. Sie kam ihm verändert vor, wie eine Fremde, die nur eine vage Ähnlichkeit mit seiner Charlet hatte. Die Scheinwerfer des Wagens flammten auf, und er konnte ihr Gesicht jetzt ganz deutlich sehen, und es traf ihn wie ein Schlag. Dieses junge Mädchen war nicht Charlet. Der Chauffeur mußte sich getäuscht haben. In quälender Erregung wartete Steven, bis der Wagen mit dem Paar abgefahren war. Erst dann verließ er sein Versteck und trat auf den Chauffeur zu, der sich seine ölverschmierten Hände mit einem benzingetränkten Lappen reinigte. »Sie sind ja immer noch da«, sagte er ungehalten. »Was wollen Sie denn noch, Sir? Haben Sie nicht selbst gesagt, es wäre zu dunkel zum Fotografieren?« »Ich wollte ja bereits gehen«, entschuldigte sich Steven. »Aber dann sah ich die junge Dame, die eben in den Wagen stieg. Sie kam mir bekannt vor. Ich glaube, ich habe sie vor kurzem in London auf einem Ball getroffen. Heißt sie nicht Maybell?« »Unmöglich, Sir! Sie müssen sich getäuscht haben. Es war Lady Charlet, die Sie gesehen haben, und Sie können sie gar nicht in London getroffen haben. Die Tochter Lord
Cunninghams ist erst vor kurzem aus Amerika zurückgekommen.« »Können Sie es beschwören, daß die junge Dame eben tatsächlich Charlet und nicht Maybell heißt?« fragte Steven erregt. »Ich werde doch Lady Charlet kennen«, lachte der Chauffeur. »Ich sehe sie ja tagtäglich. Sie ist viel netter als ihr Cousin, dieser Mr. Andrew. Es wird erzählt, daß die beiden in Kürze heiraten werden. Lord Cunningham hat bereits seinen Segen zu der Verbindung gegeben, obwohl er früher mit seinem Neffen gar nicht so gut zurechtkam. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich muß zum Dinner.« Er grinste breit. »Eine Maybell gibt es bei uns nicht. Wenn Ihre Freundin aus London Ihnen erzählt hat, daß sie auf Snowton Hall wohnt, hat sie Ihnen einen gewaltigen Bären aufgebunden.«
*
Steven war jetzt vollkommen verwirrt. Durch Sturm und sprühenden Regen kämpfte er sich zum Wagen zurück, sank erlöst hinters Steuer und zündete sich eine Zigarette an. Die Scheiben beschlugen, doch im Moment kümmerte ihn das nicht. Er grübelte unablässig über das Gehörte nach, konnte sich aber noch keinen Reim darauf machen. Sicher war nur, daß die junge Frau, die er eben mit Andrew hatte fortfahren sehen, nicht Charlet gewesen war. Eine Täuschung war nicht möglich. Er kannte Charlet lange genug. Jeder Zug ihres Gesichtes war ihm vertraut. Er hätte ihre Züge mit geschlossenen Augen zeichnen können.
Doch wenn dieses Mädchen nicht Charlet war, wer war sie dann, und warum gab sie sich für Charlet aus? Steven wußte beim besten Willen nicht, was er von all dem halten sollte. Hier stimmte doch etwas nicht. Aber es konnte ja sein, daß die junge Dame von eben den gleichen Vornamen hatte. Jedoch hatte der Chauffeur nicht steif und fest behauptet, es würde sich um die Tochter Lord Cunninghams handeln, die erst kürzlich aus Amerika gekommen war? Steven war tief beunruhigt. Charlet mußte etwas zugestoßen sein, sonst hätte er sie doch hier vorgefunden! Konnte es möglich sein, daß es nicht Charlet selbst gewesen war, die ihn angerufen hatte, sondern dieses fremde Mädchen, das sich für Charlet ausgab? Dann wäre es gar nicht Charlet gewesen, die ihm von heute auf morgen den Laufpaß gegeben hatte. Tausend Fragen brannten ihm auf der Seele. Doch nur Charlet selbst würde sie ihm zufriedenstellend beantworten können. Die große Frage war nur, wo konnte er Charlet finden? War ihr unterwegs ein Unglück zugestoßen und hatte Andrew eine andere an ihre Stelle gesetzt, um ihren Vater nicht zu sehr zu enttäuschen? Soviel liebevolle Rücksicht traute er Andrew nicht zu. Wahrscheinlicher war, daß er Charlet hatte verschwinden lassen und eine Frau ihre Rolle spielen ließ, die ihm sklavisch ergeben war. Natürlich sind das alles Hypothesen, sagte sich Steven. Wichtig ist jetzt nur, Charlet zu finden. Sollte er einfach nach Snowton Hall gehen und verlangen, Charlet zu sprechen? Doch er glaubte sicher zu sein, daß Andrew ihn nicht einmal vorlassen würde. Es würde besser sein, insgeheim nach Charlet zu forschen. Wenn Andrew wußte, daß er hier war, würde er Verdacht schöpfen und vielleicht etwas Unüberlegtes unternehmen, was Charlet schaden konnte, falls sie noch am Leben war.
»Es hat keinen Sinn, hier noch länger herumzusitzen und zu grübeln«, sprach Steven laut mit sich selbst. Er weigerte sich, an Charlets Tod zu glauben. Er wollte es einfach nicht wahrhaben, daß Charlet ihm für immer verloren sein sollte. Steven Farell war fest entschlossen, alles zu unternehmen, um Charlets Schicksal aufzuklären. Und wenn dieser aalglatte Cousin seiner Charlet auch nur ein Härchen gekrümmt hatte, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden. Steven fuhr zu dem kleinen Hotel zurück und verbrachte eine unruhige Nacht. Unablässig grübelte er darüber nach, was er unternehmen konnte, um die Wahrheit herauszufinden. Auf keinen Fall könnte er es riskieren, Andrew gegenüberzutreten und von ihm erkannt zu werden. Falls Andrew wirklich etwas mit Charlets Verschwinden zu tun hatte, wäre er dann gewarnt. Es würde besser sein, Zurückhaltung zu üben und mit aller Vorsicht Nachforschungen anzustellen. Auf jeden Fall würde er nichts unversucht lassen, um Charlet zu finden. Am nächsten Morgen kam ihm der Zufall zu Hilfe. Er saß gerade im Schankraum und verzehrte sein Frühstück, als ein Mann in Arbeitskleidung eintrat. »Scheußliches Wetter draußen«, sagte der Arbeiter murrend. »Gib mir mal einen Whisky, John!« »So früh schon unterwegs, Bill?« Der Wirt füllte ein Glas mit Whisky und reichte es ihm. »Ich muß nach Snowton Hall. Sie haben da wohl Probleme mit der Heizung. Das junge gnädige Fräulein hat sich beschwert, daß es in ihren Räumen nicht richtig warm wird. Ich wette, es fehlt nur Wasser auf der Heizung, aber von solchen Dingen haben die Herrschaften ja keinen blassen Schimmer.« Er schob sich die Schirmmütze ins Genick und goß den Whisky entschlossen hinunter. »Das wärmt die alten
Knochen ordentlich auf«, meinte er grinsend. »Na, dann will ich mal los! Bis später, John!« Steven zog sich eilig seinen Dufflecoat über und folgte dem Arbeiter zu dem Lieferwagen. »Können Sie mich nicht mitnehmen?« bat er. »Ich möchte auch nach Snowton Hall!« »Klar, nur immer herein mit Ihnen«, meinte Bill leutselig. »Bin froh, wenn ich auf der Fahrt Gesellschaft habe. Sind Sie mit den Cunninghams bekannt, Sir? Ist ein bißchen früh, um dort einen Besuch zu machen.« »Es soll ja auch mehr ein inoffizieller Besuch werden.« Steven hatte sich spontan entschlossen, diesen Bill in gewissen Grenzen ins Vertrauen zu ziehen. »Kennen Sie die junge Lady Cunningham, Bill?« »Nicht persönlich! Hab’ nur gehört, daß sie wieder hier bei ihrem Vater sein soll. Nachdem Lord Cunningham Sohn und Frau mit einem Schlag verloren hat, soll er sich wieder auf seine Tochter besonnen haben. Man munkelt sogar, daß es bald eine Hochzeit zwischen dem jungen Lord Andrew und Lady Charlet geben soll.« »Das ist gerade mein Problem«, gestand Steven. »Charlet und ich, wir waren die besten Freunde. Ich bin nämlich Amerikaner, wissen Sie?« »Man merkt es am Akzent. Sie sprechen anders als die Leute hier, Mister!« »Nennen Sie mich doch Steven!« bat er. »Werden Sie mir helfen, Bill?« »Wenn ich kann?« entgegnete Bill vorsichtig. »Was haben Sie denn vor? Bei krummen Touren mache ich nicht mit, das sage ich Ihnen gleich. Schließlich will ich nicht meinen Job riskieren.« »Waren Sie nie verliebt, Bill?« fragte Steven mit tragischem Tonfall.
»Charlet hat mich angerufen, um mir zu sagen, daß alles zwischen ihr und mir zu Ende sein muß, weil sie diesen Andrew heiraten will. Können Sie sich vorstellen, Bill, was das für ein Schlag für mich war? Ich bin extra hergekommen, um Charlet noch einmal zu sehen, allein, verstehen Sie? Von den Cunninghams braucht niemand zu wissen, daß ich hier bin. Ich will Charlet ja nicht in Schwierigkeiten bringen. Nur sehen muß ich sie noch einmal. Können Sie mich nicht einfach mit ins Schloß nehmen und mich als Ihren Gehilfen ausgeben?« Bill warf ihm einen spöttischen Seitenblick zu. »Wie ein Monteur sehen Sie auch gerade aus, Steven! Nein, das ist einfach unmöglich.« Steven griff in seine Brieftasche und reichte dem Mann eine Hundertdollarnote. »Lassen Sie sich etwas einfallen, Bill.« »Ist der Schein echt?« fragte Bill skeptisch. »Sehe ich aus wie jemand, der mit Falschgeld handelt?« »Die junge Dame scheint Ihnen ja am Herzen zu liegen, wenn Sie so mit den Dollars um sich schmeißen.« Bill grinste breit. »Also gut! Im Wagen müßte noch ein Monteuranzug liegen und eine Schirmmütze. Ziehen Sie das Zeugs an, dann könnte es gehen.« Er fuhr in eine Waldschneise und half Steven bei seiner Verwandlung. Er ließ Steven sogar seinen Werkzeugkoffer tragen, als sie durch den Dienstboteneingang ins Schloß gingen.
*
Butler Albert nahm die Arbeiter in Empfang. Er warf nur einen gleichgültigen Blick auf Bills Gehilfen und ersuchte die beiden, ihm zu folgen. Nachdem sie mehrere Treppen
überwunden hatten, gelangten sie in den Wohntrakt der Familie. Der Flur hier hatte grausamtenen Teppichboden, über den man schöne, antike Brücken gebreitet hatte. Die weißverputzten Wände wurden durch kostbare Gemälde belebt. Butler Albert blieb vor einer der breiten Kassettentüren stehen. »Die Herrschaften sind jetzt beim Frühstück«, sagte er in jenem näselnden Ton, der bei Dienern für vornehm galt. »Beeilt euch also mit den Heizungen. Nur hier oben werden sie nicht richtig heiß. Unten gibt es keine Probleme.« Der Raum, den sie als erstes betraten, war unschwer als Zimmer einer Dame zu erkennen. Zierliche Möbel aus Rosenholz vermittelten behaglichen Luxus. Auf dem Intarsientischchen mit den hübschen Sesseln, die mit rosagrauem Damast bezogen waren, lagen aufgeschlagene Modezeitschriften. Zwei lebensgroße Porzellankatzen flankierten den Marmorkamin, über dem das Porträt eines Mädchens mit brünetten Locken hing. Das muß Charlet als kleines Mädchen gewesen sein, dachte Steven. Sein Herz schlug heftig. Jeden Moment erwartete er, Charlet durch die Tür kommen und sich mit einem Freudenschrei in seine Arme werfen zu sehen. Bill zeigte ihm, wie man die Heizungskörper entlüftete und begab sich dann in ein anderes Zimmer, um dort die gleiche Prozedur vorzunehmen. Sobald Steven allein war, trat er in das angrenzende Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch entdeckte er eine Schultertasche, die der Tasche ähnlich war, die Charlet meistens benutzt hatte. Hastig öffnete er sie und entdeckte zunächst lauter unwichtige Kleinigkeiten, die junge Damen gern mit sich führen, wie Lippenstift, Puderdose, ein Feuerzeug und eine angebrochene Packung englischer Zigaretten.
Seit wann raucht Charlet? dachte er befremdet, als er die Brieftasche aus rotem Saffianleder entdeckte. Es war tatsächlich Charlets Brieftasche. Er selbst hatte sie ihr geschenkt. Er nahm den Reisepaß heraus und betrachtete ihn genau. Als sein Blick auf das Foto fiel, stutzte er. Das Mädchen auf dem Foto war nicht Charlet. Ein fremdes Gesicht schaute ihm entgegen. Selbst wenn man in Betracht zog, daß Paßfotos oftmals scheußlich werden und der Besitzerin bestimmt nicht schmeicheln, war dies hier doch unverkennbar kein Abbild von seiner Charlet, wenn auch die Daten mit ihren Daten übereinstimmten. Das Geräusch von Schritten ließ ihn zusammenfahren. Hastig steckte er alles in die Tasche zurück, lief auf die Heizung zu und machte sich daran zu schaffen. Zischend entwich gerade die Luft, als eine junge Dame ins Zimmer trat. Es war dasselbe Mädchen, das er tags zuvor mit Andrew gesehen hatte. Steven grüßte freundlich. »Bald werden Sie es wieder warm haben, Miß Charlet!« erklärte er beflissen. »Muß ja für Sie hier eine gewaltige Umstellung sein. Ist es nicht in Kalifornien bedeutend wärmer als hier?« »Wie? Ja, das ist es wohl«, antwortete die junge Dame, die sich für Charlet ausgab. Sie zündete sich eine Zigarette an und meinte entschuldigend: »In Gegenwart meines Vaters darf ich nicht rauchen. Er verträgt den Rauch nicht.« »Wie erfreulich, daß es Lord Cunningham besserzugehen scheint«, sagte Steven. »Sicher ist das der Gegenwart seiner Tochter zu verdanken. Nach all den Schicksalsschlägen hat ihm Ihre Rückkehr wohl wieder Auftrieb gegeben.« »Wir können nur hoffen, daß die Besserung seines Gesundheitszustandes von Dauer ist«, sagte die junge Dame seufzend. »Bei Herzkranken weiß man ja nie…« Mit der brennenden Zigarette trat sie auf den Balkon, und Steven verließ das Zimmer.
*
Nachdem alle Heizungen entlüftet und Wasser aufgefüllt worden war, konnten sich Steven und Bill auf den Rückweg machen. »Nun, wie ist es gelaufen, Steven?« Bill starrte ihm neugierig ins Gesicht. »Haben Sie Charlet sprechen können?« Steven nickte und machte ein trauriges Gesicht. »Sie will nichts mehr von mir wissen. Das Geld für den Flug hätte ich mir sparen können. Ich habe nie gewußt, wie wankelmütig Frauen sein können. Aus den Augen, aus dem Sinn! Dabei habe ich fest damit gerechnet, mit Charlet meinen Lebensabend zu verbringen. Aber vielleicht gelingt es mir doch noch, sie mit der Zeit umzustimmen.« »Gibst du nie auf?« Bill schien sichtlich beeindruckt. »Also, wenn mein Mädchen mir den Laufpaß geben würde, würde ich mich sofort nach einem anderen umsehen. Andere Mütter haben auch schöne Töchter.« Bill grinste breit. »Aber irgendwie kann ich dich verstehen, Steven! Nicht alle Mädchen haben soviel an den Füßen wie diese Charlet Cunningham. Sie ist ja jetzt die einzige Erbin des Lords, und man kann nicht behaupten, daß Lord Cunningham zu den Ärmsten zählt. Ist ja verständlich, daß du dir eine so gute Partie nicht entgehen lassen willst.« »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen!« Steven lächelte grimmig. Ohne es zu ahnen, hatte Bill das Motiv gefunden, das der Grund für Charlets Verschwinden war. Es ging um das Erbe der Cunninghams. Andrew war hinter dem Geld her. Bestimmt hatte Charlet sich geweigert, ihn zu heiraten. Deswegen hatte er sie verschwinden lassen und eine
andere an ihre Stelle gesetzt, bei der er sicher sein konnte, daß sie sich nicht gegen eine Heirat mit ihm sträuben würde. Was mag er mit Charlet angestellt haben, fragte er sich krank vor Sorge. Hat er sie umgebracht? Das glaube ich nicht. Einen Mord würde Andrew nicht riskieren. Es war eher anzunehmen, daß er Charlet irgendwo versteckt hielt, wo sie ihm nicht in seine Pläne pfuschen konnte. Ich werde es herausbekommen, schwor sich Steven. Ich werde diesen Andrew so lange beschatten, bis er mich eines Tages selbst zu Charlets Versteck führt.
*
Charlet hatte einen langen zärtlichen Brief an Steven geschrieben. Obwohl sie nicht darauf hoffen konnte, daß dieser Brief Steven jemals erreichen würde, hatte es ihr doch gutgetan, schriftliche Zwiesprache mit ihm zu halten. Das Schreiben hatte ihr Steven so nahe gerückt, als wäre er nicht tausende Meilen von ihr entfernt. Es hatte ihr geholfen, einige Stunden der Einsamkeit zu überbrücken. Sie faltete den Briefbogen zusammen und ließ ihn auf dem Tisch liegen. Angestrengt überlegte sie, wie lange sie schon hier war. Sie wußte es nicht. Irgendwie hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie eine menschliche Stimme vernommen hatte. Daß Andrew hin und wieder kam, konnte sie nur vermuten. Ruhelos ging Charlet in dem Raum hin und her. Ihr Tätigkeitsdrang verlangte nach Bewegung. Um nicht alle körperlichen Kräfte zu verlieren, stellte sie sich Stunde um Stunde vor das geöffnete Kellerfenster und machte gymnastische Übungen. Ihre geistigen Kräfte hielt sie mit
Lesen und Schreiben wach. Doch die Angst, den Verstand zu verlieren, verfolgte sie unablässig. Ihr Blick glitt zum Fenster, das wie ein blasses Rechteck in den Wänden hing. Noch war es nicht völlig dunkel. Noch konnte sie die grellen Schreie der Möwen hören, die auf Nahrungssuche waren. Doch schon bald würde die Nacht kommen. Ihr graute vor diesen langen, dunklen, einsamen Nächten, in denen sie das Gefühl hatte, in dem Raum zu ersticken. Wie ein Alp legte sich die Finsternis auf ihre Brust, und das Gefühl, lebendig begraben zu sein, versetzte sie in Panik. Ich muß hier raus, durchzuckte es sie. Es muß doch einen Ausweg geben! Ich kann einfach nicht länger in diesem Loch hier bleiben. Ich ertrage es nicht. Der Gedanke an den unterirdischen Gang ließ sie nicht los. Allein der Gedanke, noch einmal hinabzusteigen, ließ sie schaudern. Sie fürchtete sich vor diesen Katakomben. Welche Schrecken mochten dort auf sie warten? Aber war der Gang nicht die einzige Chance, doch noch einen Fluchtweg zu entdecken? Was konnte ihr da unten schon passieren? Höchstens, daß sie von herabfallenden Steinmassen begraben werden würde. Doch dann hatte die Qual hier wenigstens ein Ende. Ich muß es noch einmal versuchen, sagte sie sich. Heute noch! Ungeduldig wartete sie, bis ihr Dinner kam. Sie zwang sich, die Sandwiches zu essen. Auf den Wein verzichtete sie. Sie mußte einen klaren Kopf behalten. Als sie fertig war, blieb sie noch eine Weile sitzen. Sie zwang sich, ganz ruhig zu bleiben, denn sie mußte ja damit rechnen, beobachtet zu werden. Charlet lauschte mit angespannten Sinnen. Die Minuten schlichen dahin. Als alles still blieb, wagte sie es endlich aufzustehen und sich die warme, gefütterte Jacke
überzuziehen. Sie zog die Westernstiefel an und füllte die Taschen der Jacken mit Kerzen und Streichhölzern. Sie wünschte sich, eine Taschenlampe zu haben, doch auf diesen Komfort mußte sie leider verzichten. Rasch rollte sie den Teppich auf. Die Falltür lag vor ihr wie das verheißungsvolle Tor zur Freiheit. Ohne lange zu überlegen, schritt sie vorsichtig die feuchten, glitschigen Stufen hinab. Wenn sie noch länger nachgedacht hätte, würde sie mit Sicherheit Abstand von diesem gefährlichen Abenteuer genommen haben. Sie mußte sich zwingen, ganz langsam zu gehen, sonst wäre die Kerzenflamme wieder erloschen. Sie war sowieso nur eine mangelhafte Beleuchtung für diesen übelriechenden Tunnel. Wie viele Menschen mochten hier bereits elend zugrunde gegangen sein? Charlet verbot sich, daran zu denken. Sie zuckte nicht einmal zusammen, wenn lange Spinnengewebe ihr Gesicht streiften, wenn an der feuchten, moosbewachsenen Wand eine Echse hochhuschte und sie mit kleinen, funkelnden Augen anstarrte. Als sie die Eisenplatte erreichte, hielt sie inne. Sie hielt die Kerze hoch und konnte undeutlich in der Nische den Knochenmann entdecken, der sie neulich so erschreckt hatte. Vorsichtig ging sie um die Eisenplatte herum, die Blicke auf den Knochenmann gerichtet. Er rührte sich nicht. Ihre Vermutung war also richtig gewesen. Sobald ein Fuß die eiserne Bodenplatte berührte, wurde ein Kontakt ausgelöst, der den Knochenmenschen in Aktion versetzte. In solchen Sachen scheint Andrew wirklich ein Genie zu sein, dachte Charlet mit Galgenhumor. Die Kerze flackerte unruhig. Heißes Wachs tropfte auf ihre Finger, doch sie achtete nicht darauf. Den Blick auf den feuchten Boden gerichtet, bewegte sie sich im Zeitlupentempo
vorwärts, als sich plötzlich links von ihr jäh die Wand zu einem finsteren Loch öffnete. Im matten Schein der Kerze entdeckte sie an den Seiten der Mauer Überreste von Gittern. Neugierig trat sie näher an das Gitter heran, das aus festen Eisenstäben bestand. Zu ihrem Erstaunen entdeckte sie anstelle der Klinke einen Knopf, der nicht so aussah, als wäre er bereits im vorigen Jahrhundert angebracht worden, sondern neueren Datums sein mochte. Sie drückte auf den Knopf und fuhr erschrocken zurück, als jäh geisterhaftes Licht aufflammte. In dem grellen Licht wurde ein Sarg sichtbar. Charlet hörte ein knarrendes Geräusch. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen sah sie, wie sich der Sargdeckel langsam hob und sich eine bleiche Knochenhand durch den Spalt zwängte. Ein unartikulierter Laut entrang sich ihrer Kehle. Fliehen, du mußt fliehen, sagte sie sich von Grauen geschüttelt. Doch statt dessen drückte sie verzweifelt auf den Knopf. Und wie durch ein Wunder erlosch sogleich das Licht. Mit dumpfem Laut fiel der Sargdeckel zu. Charlet stieß zitternd den Atem aus. Panik erfaßte sie, als sie feststellen mußte, daß tiefste Dunkelheit sie umgab. Durch eine unbedachte Bewegung mußte sie ihre Kerze gelöscht haben. Mit bebenden Händen tastete sie nach den Streichhölzern. Das erste Holz zerbrach. Erst nach dem dritten Versuch gelang es ihr, die Kerze zu entzünden. Tröstliches Licht erhellte den dunklen Tunnel. Sekundenlang spielte sie mit dem Gedanken zurückzukehren. Hatte sie ihre Nerven nicht genug strapaziert? Würde sie nach alldem jetzt nicht dringend Ruhe brauchen? Zu ihrer eigenen Überraschung und fast gegen ihren Willen ging sie trotzdem weiter. In Abständen entdeckte sie weitere Grüfte, in denen die ehemaligen Klosterbrüder beerdigt worden waren.
Aber vor Toten brauchte man sich nicht zu fürchten. Jetzt machte der Tunnel einen steilen Bogen, als Charlet ein fernes Pochen zu hören glaubte. Sie blieb stehen und lauschte. Es klang, als würde eine ruhelose Seele mit knöchernem Finger gegen ihr hölzernes Gefängnis pochen. Sie mußte vor Nervosität schlucken. Gab es hier vielleicht jemanden, den Andrew hier eingesperrt hatte, und der versuchte, auf seine verzweifelte Lage aufmerksam zu machen? Das ist purer Unsinn, sagte sich Charlet energisch. Sei nicht so ein Hasenfuß! Kein Mensch würde es längere Zeit in diesen Katakomben aushalten. Außer mir gibt es hier niemanden. Ich muß endlich aufhören, mich selbst verrückt zu machen. Je weiter sie ging, um so feuchter schien der Boden zu werden. Bei jedem ihrer Schritte hörte sie ein schmatzendes Geräusch, als wäre der Boden unter ihr lebendig und versuchte, sie festzuhalten. Die Kerzenflamme flackerte stärker, und die klopfenden Geräusche schienen näher zu kommen. Obwohl ihr eiskalt vor Angst war, ging sie weiter. Für jedes Vorkommnis auf der Welt gibt es eine logische Erklärung, redete sie sich ein. Kann dieses nervtötende Klopfen nicht von Wassertropfen verursacht werden? Ich darf nicht aufgeben und muß weitergehen. Irgendwo muß dieser Tunnel enden. Ich kann einfach nicht glauben, daß er als Sackgasse angelegt worden ist. Bestimmt war er früher ein geheimer Fluchtweg für die Mönche, wenn sie sich in Bedrängnis fühlten. Wird der Tunnel nicht bereits heller, oder bilde ich mir das nur ein? Es war kein Zweifel möglich. Von irgendwoher kam ein vager Lichtschimmer. Charlet faßte neuen Mut. Die Hoffnung, einen Ausweg aus ihrem Gefängnis zu finden, belebte sie und gab ihr neue Kraft. Da die Kerze fast herabgebrannt war, mußte sie eine frische anzünden, die heller brannte als die
erste. Sie mußte neuen Sauerstoff bekommen, ein Zeichen, daß es ganz in der Nähe eine Luftzufuhr gab. Der Boden senkte sich. Charlet spürte es bei jedem Schritt. Es ging sanft bergab. Der Weg beschrieb erneut einen Bogen, und ganz plötzlich wichen die Wände zurück, und vor ihr schimmerte der dunkle Spiegel eines unterirdischen Sees. Der See wurde von zerklüfteten Wänden eingeengt, von denen Wasser troff. In so stereotyper Gleichmäßigkeit wie ein Sekundenzeiger tropfte ein Wassertropfen auf die Wasseroberfläche und verursachte so das klopfende Geräusch, das Charlet beunruhigt hatte. Das Licht der Kerze reichte nicht weit genug, um Charlet erkennen zu lassen, was sich am anderen Ufer des Sees befand. Sollte sie versuchen, schwimmend das andere Ufer zu erreichen? Doch sie schauderte vor dem dunklen, brackigen Wasser zurück. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken, als sie sich vorstellte, daß sie in diesen Schlamm hinabtauchen sollte. Welche düsteren Geheimnisse mochte dieser unterirdische Seeweg bergen? Hielt er auf seinem Grund nicht sogar Ertrunkene gefangen, die ihre bleichen Arme nach ihr ausstrecken würden, um sie an der Flucht zu hindern? Zögernd ging Charlet einige Schritte weiter. Die kalte Nässe drang durch ihre Stiefel. Sie war noch nie in Kleidern geschwommen. Würde es nicht besser sein, die dicke Jacke abzulegen? Wenn sie sich voll Wasser sog, würde sie sie mit Sicherheit in die Tiefe ziehen. Und konnte sie denn wirklich darauf hoffen, daß der vage Lichtschimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Sees auf einen Pfad in die Freiheit hinwies? Unentschlossen blieb sie stehen und starrte in das brackige Wasser hinab. Plötzlich bemerkte sie nur zwei Meter von sich entfernt, wie sich ein Wirbel im Wasser bildete, und dann tauchte der spitze, häßliche Kopf einer Wasserratte auf. Charlet
sah scharfe Zähne aufblitzen. Mit ersticktem Aufschrei warf sie sich herum und flüchtete, so schnell es der schlammige Boden erlaubte. Durch ihre heftige Bewegung erlosch die Flamme der Kerze. Kopflos rannte sie im Dunkeln weiter und schrie gellend auf, als sie schmerzhaft mit der Stirn gegen etwas prallte. Sie war mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt. Mit klammen, zitternden Händen versuchte sie, die Kerze wieder anzuzünden. Von Grauen geschüttelt, erwartete sie jeden Augenblick den Angriff der gräßlichen Ratte. Hatte man nicht schon öfter gehört, daß Ratten sich nicht scheuten, Menschen anzufallen, wenn sie hungrig waren? Als es ihr endlich gelungen war, die Kerze in Brand zu setzen, warf sie einen scheuen Blick zurück, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Die Kerzenflamme mit der hohlen Hand schützend, hastete sie den Gang zurück. Ihr Herz raste. Heftige Seitenstiche quälten sie. In ihrer panischen Angst, verfolgt zu werden, achtete sie nicht auf die Eisenplatte und schrak zusammen, als die Nische aufleuchtete und der Knochenmensch höhnisch mit seinem Gerippe zu klappern begann. Charlet empfand es fast als eine Erlösung, als sie endlich die Treppe erreichte, die in ihr Gefängnis zurückführte. Mit letzter Kraft schloß sie die Falltür und rollte den Teppich darüber. Noch immer wurde sie von Entsetzen verfolgt. Eiseskälte durchströmte sie und ließ sie so sehr zittern, daß ihre Zähne klappernd gegeneinander schlugen. Es ist zuviel, ich ertrage es einfach nicht mehr, schrie es in ihr. Warum hilft mir denn niemand? Wie kann Andrew mir das antun? Mit wankenden Knien ging sie zum Kühlschrank, holte die Whiskyflasche heraus und goß sich eine Handbreit Whisky ins Glas, das sie in winzigen Schlucken trank.
Ganz allmählich ließ das Zittern ihrer Glieder nach. Trügerische Wärme durchströmte sie. Ihre Nerven beruhigten sich ein wenig, doch ihre innere Verzweiflung blieb. Wie lange würde sie es noch ertragen können, hier eingesperrt zu sein, ohne den Verstand zu verlieren?
*
Lord Cunningham saß in Gedanken versunken neben dem Kaminfeuer. Er liebte es, dem Spiel der Flammen zuzuschauen und die Wärme zu genießen. Seit seiner Erkrankung fröstelte er leicht. Er hätte gern die belebende Wärme eines Kognaks genossen, doch die Ärzte hatten ihm Alkohol jeder Art strikt verboten. »Hast du dich schon ein wenig eingelebt, Charlet?« Er wandte den Kopf und blickte zu dem jungen Mädchen hin, das in Gedanken versunken am Tisch saß und eine Patience legte. »Es ist sehr schön hier!« Cindy lächelte gezwungen und ließ ihren Blick durch den Raum wandern, der im Tudorstil eingerichtet war. Zwischen all diesen schweren antiken Möbeln fühlte Cindy sich wie in einem Museum. Sie zog eine moderne Einrichtung vor und wünschte sich weit weg. Vielleicht mußte man dafür geboren sein, Gefallen daran zu finden, in einem so gräßlichen großen Kasten zu wohnen, in dem man sich verirren konnte. »Du bist so still, Charlet«, sagte der Lord bekümmert. »Sag es ruhig, wenn du Heimweh nach Amerika hast. Ich könnte es verstehen. Warum lädst du nicht deine Mutter ein, für einige Wochen herzukommen? Sicher würde dir das helfen, dich hier einzugewöhnen.«
Cindy verbarg mit Mühe ihr Erschrecken. Daß Charlets Mutter hierherkam, fehlte noch. Damit wäre ihr ganzer Plan zum Scheitern verurteilt. »Ich glaube nicht, daß meine Mutter hierherkommen möchte«, sagte sie rasch. »Warum denn nicht?« »Sicher würde mein Vater es nicht gern sehen, mein Stiefvater, meine ich.« Nervös schob Cindy die Karten zusammen. Sie ärgerte sich, daß Andrew sie andauernd mit diesem fremden Mann allein ließ. Es machte sie schrecklich nervös, sich jedes Wort, das sie mit ihm sprach, überlegen zu müssen. Oftmals kam sie sich so hilflos vor wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat und vergebens nach den richtigen Worten ringen muß. Wann würde dieser Alptraum ein Ende haben? »Nach all den Jahren sollte kein Haß mehr zwischen unseren Familien sein«, sagte Lord Randolf. »Deine Mutter und ich hätten niemals heiraten dürfen. Wir waren zu verschieden.« Lord Cunningham lächelte in der Erinnerung. »Amanda war hübsch und bezaubernd. Ich sah sie auf der Bühne als Julia und verliebte mich Hals über Kopf in sie. Als sie einwilligte, meine Frau zu werden, war ich glücklich. Doch Amanda konnte sich hier niemals eingewöhnen. Sie sehnte sich nach dem Trubel der Großstadt. Ich glaube, sie träumte sogar von einer Karriere als Filmschauspielerin.« Er zuckte resigniert die Achseln. »Ich konnte Amanda nicht halten. Wir sind in aller Freundschaft auseinander gegangen. Doch obwohl meine zweite Ehe sehr glücklich war, habe ich Amanda nie vergessen können.« »Meine Mutter ist eine richtige Amerikanerin geworden«, sagte Cindy. Sie verwünschte die Schwatzhaftigkeit des Lords. Sie war an seinen sentimentalen Erinnerungen nicht interessiert. Noch niemals vorher hatte sie einem Menschen
den Tod gewünscht. Doch jetzt wünschte sie sich heiß, der Lord möge endlich das Zeitliche segnen. Mit jedem Tag, den er länger lebte, wuchsen ihre Probleme. »Amanda sollte dabeisein, wenn ihre einzige Tochter heiratet«, beharrte der Lord. »Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn ihr Mann sie begleiten würde.« »Du bist doch noch viel zu krank, um Gäste zu empfangen«, begehrte Cindy auf. »Die Arzte haben gesagt, jede Aufregung wäre Gift für dich. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, in aller Stille zu heiraten, ohne Gäste. Wenn es dir wieder bessergehen sollte, können wir das Fest ja immer noch nachholen.« »Ärzte!« stieß der Lord verächtlich hervor. »Wenn es nach ihnen ginge, wäre ich längst tot und begraben. Ich spüre, wie täglich meine Kräfte zurückkehren. Paß nur auf, Charlet, in wenigen Wochen werde ich meine Krankheit überwunden haben.« »Dann bin ich ja vergebens hergekommen«, murmelte Cindy. »Das darfst du nicht sagen! Dein Kommen hat mir sehr geholfen, wieder neuen Lebensmut zu finden. Der Gedanke, allein zu sein und keinen Menschen mehr zu haben, war so furchtbar für mich, daß ich jede Freude am Leben verloren hatte. Deine Gegenwart gibt mir die Kraft weiterzuleben. Jetzt möchte ich noch miterleben, wie meine Enkel auf Snowton Hall heranwachsen.« Enkel? dachte Cindy, nahe daran, hysterisch aufzulachen. Weder sie noch Andrew dachten daran, sich mit Kindern zu belasten. Auf Enkel würde Lord Cunningham vergebens hoffen, ganz abgesehen davon, daß nur die echte Charlet ihm Enkel schenken konnte. Doch an diese Charlet wollte Cindy jetzt nicht denken. Sie wollte sich nicht auch noch damit belasten.
*
Cindy hatte Schritte gehört und hob hoffnungsvoll den Kopf. Sie empfand Andrews Eintreten wie eine Erlösung. Jede Minute, die sie allein mit Lord Cunningham verbringen mußte, bedeutete für ihre Nerven die reinste Zerreißprobe. »Wie warm und gemütlich habt ihr es hier!« Andrew rieb sich zufrieden die Hände. »Es ist kalt geworden. Spendierst du uns einen Kognak, Onkel Randolf?« »Bedien dich nur, du weißt ja, wo er steht.« Andrew trat an die eingebaute Bar. »Für dich auch einen Kognak, Onkel Randolf?« »Leider muß ich passen. Die Ärzte haben mir den Alkohol strikt verboten.« »Ein kleiner Schluck kann dir doch nicht schaden!« Andrew brachte ihm einen Schwenker und meinte augenzwinkernd: »Wie ich gehört habe, ist Kognak fürs Herz besonders wohltuend. Zum Wohl, Onkel Randolf!« Lord Cunningham nippte nur an dem Glas und stellte es dann auf dem Kaminsims ab. »Wie ist es denn gelaufen, Andrew?« erkundigte er sich leutselig. »Hast du alle Formalitäten erledigt?« »In einer Woche ist es soweit, dann bin ich kein freier Mann mehr«, scherzte Andrew. »Ich möchte dir etwas zeigen, Onkel Randolf! Charlet, du darfst nicht hersehen!« Er trat nahe an den Kranken heran, nahm ein Kästchen aus seiner Jackentasche und zeigte ihm die beiden goldenen Eheringe. »Sehr geschmackvoll«, lobte der Lord. »Andrew, du hast sicher vor, nach der Heirat ins Herrenhaus zu ziehen. Ich werde veranlassen, daß die Räume neben Charlets Zimmern
für dich in Ordnung gebracht werden. Habt ihr vor, eine Hochzeitsreise zu unternehmen?« »Solange du nicht wieder gesund bist, lassen wir dich doch nicht allein«, widersprach Andrew entrüstet. »Außerdem werden wir für Flitterwochen kaum Zeit haben.« »Wie rücksichtsvoll du bist! Ich erkenne dich gar nicht wieder.« Lord Randolf schmunzelte. »Aber hat nicht die Liebe einer Frau schon so manchen Saulus in einen Paulus verwandelt?« »Wenn man sich entschlossen hat, eine Familie zu gründen, muß man auch solide werden«, behauptete Andrew tugendhaft. »Glaub mir, ich bin mir der Verantwortung vollauf bewußt, die ich als zukünftiger Herr von Snowton Hall haben werde.« »Dann kann ich ja hoffen, daß du auch nach meinem Tod Snowton Hall würdig vertreten wirst. Aber du wirst verstehen, daß Charlet meine Erbin ist, so habe ich es testamentarisch festhalten lassen. Es ist kein Mißtrauen gegen dich, Andrew. Aber Charlet ist nun mal meine leibliche Tochter, und sollte eure Ehe nicht funktionieren, ist sie wenigstens abgesichert.« »Das ist völlig in Ordnung so!« Andrew lächelte gezwungen. »Allerdings befremdet es mich ein wenig, daß Charlet erst nach deinem Tod deine Erbin sein soll. Wir haben gehofft, du würdest uns nach unserer Heirat alles überschreiben. In deinem Zustand solltest du nicht mehr mit den Sorgen um das Gut belastet werden, und uns wäre es auch lieber, wenn wir bei der Bewirtschaftung freie Hand hätten und nicht wegen jeder Kleinigkeit dein Einverständnis einholen müßten.« Lord Cunningham griff nach seinem Kognakglas und ließ den Kognak kreisen. »Dein Wunsch ist verständlich, Andrew, aber solange ich lebe, werde ich der Herr von Snowton Hall sein. Es wäre ja auch ganz und gar ungewöhnlich, euch noch zu meinen Lebzeiten alles zu überschreiben. Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, daß ihr über ein Einkommen verfügt,
das euch einen gehobenen Lebensstandard sichert. Ganz sicher werde ich mich nicht als Herr aufspielen. Wir werden alle Entscheidungen gemeinsam treffen, wie es in einer richtigen Familie üblich ist.« »Mit anderen Worten heißt das doch, daß wir zeit deines Lebens von deiner Gnade abhängig sein werden«, begehrte Andrew heftig auf. »Es würde auch heißen, daß du Charlet mit falschen Versprechungen hergelockt hast. Sie hat Amerika nur verlassen, weil sie fest damit gerechnet hat, Snowton Hall zu erben.« »Andrew hat recht«, warf Cindy unbedacht ein. »Ich hätte Los Angeles niemals so Hals über Kopf verlassen, wenn ich geahnt hätte, daß du nicht sterbenskrank bist.« Lord Randolf starrte sie aus geweiteten Augen an. »Du bist also nicht meinetwegen gekommen«, stammelte er. »Sondern nur, um mich zu beerben.« »So hat Charlet es doch nicht gemeint«, versuchte Andrew die Situation zu retten. »Selbstverständlich ist sie nur deinetwegen gekommen. Niemand von uns wünscht dir den Tod, nur um dich zu beerben. Wir möchten nur klare Verhältnisse schaffen. Wenn du auch weiterhin der Herr von Snowton Hall bleiben willst, ist nichts dagegen einzuwenden. Wir werden uns schon arrangieren und eine Basis finden, auf der wir in Frieden zusammenleben können.« »Das hoffe ich!« Cunningham legte die Hand über die Augen. »Bitte, läute nach Albert. Er soll mich auf mein Zimmer bringen. Ich fühle mich gar nicht gut und muß meine Medikamente einnehmen.« »Soll ich dich nicht begleiten, Dad?« fragte Cindy zuvorkommend. »Nein, Charlet! Bleib nur und leiste Andrew Gesellschaft. Es ist ja noch früh am Abend. Gute Nacht! Wir reden morgen weiter.«
Albert erschien sogleich und geleitete seinen Herrn auf sein Zimmer. Gehorsam schluckte der Kranke seine Medikamente. Er spürte förmlich, daß sein Herz wie ein unruhiger Vogel in seiner Brust flatterte. Die Szene im Salon hatte ihn über alle Maßen erregt. Er war froh, als er endlich in seinem Bett lag, den Rücken durch Kissen gestützt. Nur in dieser Lage konnte er Ruhe finden. Sobald er flach lag, überkam ihn das beklemmende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. »Haben Sie noch einen Wunsch, Mylord?« fragte Albert devot. »Nein, Albert, vielen Dank! Du kannst gehen.« »Soll ich das Licht löschen?« »Ich bitte darum, Albert. Laß nur die Nachttischlampe brennen. Ich möchte noch ein wenig lesen.« Lord Cunningham griff nach seiner Zeitung. Er wartete, bis der Butler sein Zimmer verlassen hatte. Die Zeitung entglitt seinen kraftlosen Händen und glitt auf den Boden. Er kümmerte sich nicht darum. In seiner jetzigen Gemütsverfassung wäre es ihm doch nicht möglich gewesen, sich auf das geschriebene Wort zu konzentrieren. Das ist also meine Tochter, dachte er tief enttäuscht. Wie gut paßt sie doch zu meinem Neffen. Beide gieren nur nach meinem Vermögen. Aber tue ich Charlet nicht unrecht? Konnte ich, nach all den Jahren, noch liebevolle Zuneigung von ihr erwarten? Charlet ist ohne mich aufgewachsen. Ich bin ihr gleichgültig, wie irgendein Fremder, der zufällig denselben Namen trägt. Sie ist Amanda überhaupt nicht ähnlich, mußte er denken. Amanda war niemals habgierig. Sie wollte nichts als ihre Freiheit, und ich habe sie ihr nicht verwehrt. Um Amandas willen habe ich auf meine Tochter verzichtet. Gehört ein Kind nicht zu seiner Mutter? Amanda hat mich gebeten, mich nicht in ihr neues Leben einzumischen. Macht Charlet mir das heute
zum Vorwurf? Nimmt sie es mir übel, daß ich mich nie um sie gekümmert habe? Ich müßte einmal ganz offen mit Charlet reden, ohne Andrew. Es gefällt mir nicht, daß sein Einfluß auf sie so stark ist. Wozu überhaupt diese überstürzte Heirat? Sie sind doch beide noch so jung. Sie könnten doch warten, bis ich wieder bei Kräften bin. Erwarten sie wirklich, daß ich ihnen noch zu Lebzeiten alles überlasse? Wahrscheinlich könnte ich ihnen keinen größeren Gefallen tun als zu sterben, dachte er bitter. Aber noch lebe ich, und solange ich lebe, werde ich das Heft nicht aus der Hand geben. Ich bin noch immer der Herr von Snowton Hall und lasse mir von niemandem dieses Recht streitig machen. Allmählich begann das Medikament seine Wirkung zu zeigen. Die nervöse Anspannung in ihm ließ nach. Was habe ich denn erwartet, nach all den Jahren, sprach er sich selbst Trost zu. Charlet muß erst wieder lernen, in mir den Vater zu sehen. Wir sind uns fremd geworden. Die Zeit, die wir ohne einander verbracht haben, steht wie ein Abgrund zwischen uns. Wir müssen uns beide bemühen, diesen Abgrund zu überbrücken. Ich werde mir große Mühe geben müssen, Charlets Vertrauen zu gewinnen und ihre Liebe. Ich habe ja niemanden mehr außer ihr. Lord Cunningham schloß erschöpft die Augen. Er war jetzt sehr müde. Mit letzter Kraft tastete er nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Licht erlosch. Tröstliche Dunkelheit hüllte ihn ein. Gleich darauf war er eingeschlafen. Im selben Augenblick verließ Andrew Snowton Hall. Um zum Gutshaus zu kommen, mußte er den Park durchqueren. Am Horizont wetterleuchtete es. Ein wilder Sturm warf sich ihm entgegen und riß an seinen Haaren. Das Brausen der
Brandung klang drohend. Andrew zog den Kopf zwischen die Schultern und beeilte sich, das Gutshaus zu erreichen. Diese dumme Gans hätte fast alles verdorben, dachte er wütend. Kein Wunder, daß Cindy kein Engagement bekam. Sie war eine miserable Schauspielerin, unfähig, Gefühle vorzutäuschen. Ob Onkel Randolf Verdacht geschöpft hat? Auf jeden Fall war er von Charlets Verhalten enttäuscht. Das hatte man ihm deutlich angemerkt. Es gab weder Zäune noch Mauern um den englischen Park. Verspielte Holzbrücken führten über kleine, künstlich angelegte Bäche. Die mächtigen Bäume mochten an die hundert Jahre alt sein. Auf Snowton Hall pfuschte niemand der Natur ins Handwerk. Hier wuchs alles nach Belieben. Nur zweimal im Jahr kam ein Gärtnertrupp, um Ordnung zu schaffen und dafür zu sorgen, daß das Unterholz nicht zu dicht, das Wildkraut nicht zu üppig wuchs. Andrew mußte nur noch einen Weg überqueren, um auf den Gutshof zu gelangen. Im Gutshaus brannte kein Licht mehr. Auf dem Lande ging man frühzeitig zu Bett und stand praktisch mit den Hühnern auf. Andrew verabscheute das langgestreckte weißgetünchte Gutshaus. Er haßte das glanzlose Leben, zu dem man ihn zwang. Und sein Onkel saß auf dem Geld wie ein Geizhals auf seinem Sparstrumpf. Wozu war denn Geld von Nutzen, wenn nicht, um sich das Leben angenehm zu gestalten? Der Geiz wird Onkel Randolf noch ins Grab bringen, dachte Andrew gehässig. Wenn er uns alles überschrieben hätte, wäre das seine Überlebenschance gewesen. Mit seiner Weigerung hat er sein eigenes Todesurteil gesprochen. Andrew war so mit seinen düsteren Gedanken beschäftigt, daß er die Schritte in seinem Rücken überhörte. Der Überfall kam so plötzlich, daß ihm der Aufschrei im Hals steckenblieb.
Er stöhnte vor Schmerz auf, als jemand seine Arme packte und gewaltsam auf den Rücken drehte. »Rück endlich das Geld heraus, das du meinem Chef schuldest«, raunte eine heisere Stimme. »Loslassen!« Andrew keuchte. »Bist du wahnsinnig, mich so einfach zu überfallen? Ich brauche nur um Hilfe zu rufen, dann wird es dir übel ergehen.« »An deiner Stelle würde ich lieber den Mund halten.« Der Angreifer lachte bösartig. »Sonst riskierst du, in deinem ganzen Leben kein Wörtchen mehr herausbringen zu können. Bezahl deine Schulden, dann hast du nichts mehr zu befürchten.« Andrew wußte genau, wer ihn da wie ein Schraubstock hielt. Es war einer von Sams Leuten aus dem Wettbüro. Gegen diesen bulligen Mann hatte er keine Chance. »In einer Woche bekommt Sam Bellow sein Geld«, versprach Andrew und stöhnte vor Schmerz, als Bob seinen Griff verstärkte. »Momentan bin ich nicht flüssig. Sam muß mir noch eine Woche Aufschub geben. Sag ihm, daß ich die Erbin von Snowton Hall heiraten werde. Er braucht also nicht zu befürchten, daß er sein Geld nicht bekommt.« »Okay, ich werde es Sam ausrichten!« Bob wirbelte ihn herum und versetzte ihm einen gezielten Faustschlag ins Gesicht, der ihn zu Boden taumeln ließ. »Das soll ein kleiner Vorgeschmack davon sein, was dich erwartet, wenn du in einer Woche nicht zahlen solltest!« rief Bob höhnisch. »Eine Woche und keinen Tag länger, Cunningham! Wir sehen uns dann!« Nachdem sein Peiniger verschwunden war, rappelte sich Andrew stöhnend auf. Natürlich hatte keiner von den Hausgenossen den Vorfall bemerkt. Es war auch zweifelhaft, ob einer dieser Feiglinge ihm zu Hilfe gekommen wäre. Andrew bedauerte jetzt, daß er es versäumt hatte, Sam um Aufschub zu bitten. Sein Gesicht schmerzte von dem Schlag,
und er schmeckte Blut an seiner Lippe. Dieser brutale Kerl hatte ihm die Lippe aufgeschlagen. Dafür würde er eines Tages büßen. Während er ins Haus ging, faßte er rachsüchtig den Plan, sich später einige Schlägertypen zu kaufen, die Bob kunstgerecht zusammenschlagen würden. Es wird höchste Zeit für mich, etwas zu unternehmen, sagte er sich. Das Wasser steht mir bis zum Hals. Sobald ich die Heiratsurkunde in der Tasche habe, werde ich Onkelchen den Schlaftrunk verabreichen, der ihn in die ewigen Jagdgründe entführt. Schlechtgelaunt ging er in die Küche, holte sich einen Eiswürfel aus dem Kühlschrank und kühlte damit seine schmerzende Lippe. Dieses erbärmliche Leben und die ewige Geldnot mußten endlich ein Ende haben. Er war jetzt fester denn je entschlossen, rücksichtslos seine Pläne durchzuführen. Stevens Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Seit Tagen lag er schon auf der Lauer und beobachtete Snowton Hall. Dabei war es gar nicht so einfach für ihn, sich verborgen zu halten, da die entlaubten Büsche wenig Schutz vor Blicken boten. Inzwischen hatte er festgestellt, daß Andrew Cunningham im Gutshaus wohnte. Ihn hier zu beobachten, war bedeutend einfacher, denn auf dem Gut gab es Scheunen und Ställe, die hervorragende Verstecke boten. An diesem Abend dämmerte es bereits, als Steven von der Scheune aus sah, wie Andrew auf sein Auto zutrat und zwei gefüllte Plastiktüten im Kofferraum verstaute. Dann ging er noch einmal ins Gutsgebäude zurück, kam aber gleich darauf wieder. Er hatte sich nur eine Lederjacke übergezogen. In wachsender Spannung sah Steven zu, wie Andrew gleich darauf losfuhr. Doch zu seinem Befremden nahm er nicht die
gewohnte Straße in Stadtrichtung, sondern fuhr entgegengesetzt einen Feldweg entlang, der stellenweise an den Dünen entlangführte. Steven wunderte sich. Wohin mochte Andrew fahren? Hinter dem Gut gab es nichts als Wiese, Wälder und das Meer. Steven hatte bereits die Umgebung untersucht und festgestellt, daß dort kein einziges Haus mehr stand außer einigen verfallenen Katen, in denen früher Landarbeiter gewohnt haben mußten. Leider konnte Steven es nicht wagen, ihm mit dem Wagen zu folgen. Andrew hätte ihn sofort im Rückspiegel gesehen und Verdacht geschöpft. Er nahm an, daß Cunningham zu einer Jagdhütte gefahren war. Sicher waren in den Plastiktüten Lebensmittel gewesen. Ob Andrew Charlet in seiner Jagdhütte verborgen hielt? Er würde seine Neugierde wohl bis morgen bezähmen müssen. Er konnte es nicht riskieren, von Andrew bei seiner Suche entdeckt zu werden. Am Morgen wollte er in aller Herrgottsfrühe aufbrechen. Da der Boden der Wege vom stetigen Regen aufgeweicht war, brauchte er ja nur den Reifenspuren zu folgen, die Andrews Wagen hinterlassen haben mußte. Vorsichtig verließ Steven jetzt das Gebäude durch den rückwärtigen Ausgang und gelangte auf Umwegen zu der Stelle zurück, wo er hinter Kiefern und Ilexsträuchern seinen Wagen versteckt hielt. In dem kleinen Hotel, wo er sein Quartier bezogen hatte, bestellte er sich eine kräftige Mahlzeit. Das stundenlange Herumstehen und die kalte Luft hatten ihn hungrig und müde gemacht. Zum saftigen Steak trank er einen Krug Ale. Das Bier sorgte für die richtige Bettschwere. Er ging gleich darauf schlafen, denn er hatte sich vorgenommen, schon beim Morgengrauen aufzubrechen, und stellte den Wecker auf vier Uhr.
Seine innere Uhr schien sich bereits auf den Wecktermin vorbereitet zu haben, denn er erwachte bereits, bevor der Wecker läutete. Hastig kleidete er sich an und trat ans Fenster. Es war noch immer dunkel, aber das war ihm gerade recht. So brauchte er nicht zu befürchten, gesehen zu werden, wenn er am Gut vorbeifuhr. Tatsächlich begegnete ihm keine Menschenseele, als er das Gutsgelände passierte. Der Feldweg führte in vielen Windungen hügelauf und -ab. Das Gelände war zerklüftet. Der heftige Wind kam von beiden Seiten, denn hier befand er sich an der schmälsten Stelle der Halbinsel Lleyn, die sich wie eine Zunge ins Meer hinausstreckte. Jetzt gelangte er zu einem schmaleren Seitenpfad, der direkt zum Wald zu führen schien. Steven befuhr langsam den Pfad, der so holperig und steinig war, daß er tüchtig durchgerüttelt wurde. Der Weg sah nicht so aus, als würde er häufig benutzt werden. Er hielt an und stieg aus, konnte aber keine Reifenspuren neueren Datums entdecken. Obwohl er bezweifelte, daß Andrew diesen Weg genommen hatte, stieg er wieder ein und fuhr weiter. Wenn er schon mal hier war, wollte er wenigstens einen Blick in den Wald werfen. Eine halbe Stunde lang wanderte Steven kreuz und quer durch den Wald, bis er endlich auf eine Jagdhütte stieß. Sämtliche Läden waren verriegelt. Es mußte im Innern stockdunkel und kalt sein, denn aus dem Schornstein stieg kein Rauch auf. Hier war mit Sicherheit keine Menschenseele. Trotzdem klopfte Steven gegen sämtliche Läden und hielt dann lauschend inne. Nichts regte sich. Nur ein wildes Kaninchen hoppelte aufgeschreckt über den Weg. Nachdem er eine Stunde lang kreuz und quer das Gelände durchfahren hatte, wollte er schon entmutigt seine Suche
aufgeben. Es war ja noch nicht einmal sicher, daß Andrew Charlet irgendwo verborgen hielt. Sein ganzer Verdacht gründete sich auf Vermutungen. Sicher war nur, daß eine Fremde Charlets Stelle eingenommen hatte. Was mochte mit Charlet geschehen sein? Steven verzweifelte fast an seinen ohnmächtigen Bemühungen, Charlet zu finden. Er spielte bereits mit dem Gedanken, einfach nach Snowton Hall zu gehen und Andrew mit seiner Gegenwart zu konfrontieren. Doch wenn Andrew tatsächlich Charlet irgendwo eingesperrt hatte, brachte er sie damit in größte Gefahr. Es widerstrebte ihm auch, sich an die englische Polizei zu wenden. Als Ausländer würde er da mit Sicherheit Schwierigkeiten bekommen. Die Polizei einzuschalten konnte er sich immer noch als letzte Möglichkeit offenhalten. Zunächst wollte er noch sein Glück auf eigene Faust weiterversuchen. Er fuhr jetzt zügig am Meer entlang, als er in der Ferne dunkle Mauern entdeckte, die sich wie mahnende Finger gen Himmel reckten. Glücklicherweise regnete es nicht. Wolken jagten über den Himmel, und in das Donnern der Brandung mischte sich der grelle Schrei der Möwen. Seine Neugierde war geweckt. Also gab es doch noch ein Gebäude in dieser gottverlassenen Gegend. Als er näher herankam, mußte er enttäuscht feststellen, daß es sich nur um Ruinen handelte, um die Überreste eines ehemaligen gewaltigen Bauwerkes, die Sturm und Wasser getrotzt hatten. Im ersten Impuls wollte Steven umkehren. Doch wie alle Amerikaner interessierte er sich brennend für Zeugen aus alten Zeiten. Da der Weg nach oben ihm ziemlich steil vorkam, ließ er den Wagen stehen und ging zu Fuß weiter. Er erschrak heftig, als er plötzlich eine verwachsene Gestalt zwischen den Ruinen auftauchen sah. Geistesgegenwärtig duckte er sich hinter einer Mauer und blickte vorsichtig daran
vorbei. Die vierschrötige Gestalt wurde von einem riesigen Buckel niedergedrückt. Die langen, affenartigen Hände trugen einen Eimer. Der Verwachsene humpelte zum Meer, kippte den Eimer mit Abfällen um und sah zu, wie sich kreischend die Möwen darauf stürzten. Wie kann jemand hier leben? durchzuckte es Steven. Träumte er nur, oder war dieses Wesen dort wirklich aus Fleisch und Blut? Steven wagte es nicht, sich zu rühren. Sein Herz klopfte stürmisch. Erregung stieg in ihm auf. Es würde nicht schaden, diese Ruinen näher in Augenschein zu nehmen. Steven begann zu ahnen, wohin Andrew mit seinen Plastiktüten gefahren war. Anscheinend versorgte er den Krüppel mit Lebensmitteln. Es war ja auch vollkommen undenkbar, daß sich der arme Mensch in dieser Einöde selbst das Nötigste zum Leben beschaffen konnte. Mit seinen kurzen Beinen würde er Stunden brauchen, bis er Gut Snowton erreichte. Doch die große Frage war, was trieb diesen Menschen, sich hier am Ende der Welt zu vergraben? Er mußte irgendeine Aufgabe zu erfüllen haben. War er als Ruinenwächter bei Andrew angestellt? Ich werde es herausbekommen, dachte Steven. Ungeduldig wartete er, bis der Krüppel wieder zurückhinkte und in dem Eingang, der von Säulen flankiert wurde, verschwand. Geduckt lief Steven dann im Schutz der bizarren Steinbrocken um das Ruinenplateau herum. Das vage Gefühl, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, trieb ihn vorwärts. Als er nahe genug an die Säulen herangekommen war, entdeckte er zwischen ihnen ein Tor, das noch gut erhalten schien. Nur mühsam widerstand er dem Wunsch, an das Tor zu klopfen und Einlaß zu begehren. Er ahnte, daß jemand, der sich hier verbarg, über Gäste nicht erfreut sein würde.
Also mied er den Eingang und schlich vorsichtig um den noch gut erhaltenen Ruinenteil herum. Sorgfältig vermied er es, das Geröll unter seinen Füßen in Bewegung zu setzen. An den steil heraufragenden Seitenfenstern sah er hohe Fenster ohne Scheiben. In diesem Gemäuer konnte kein Mensch hausen, ohne vom kalten Sturm hinweggerissen zu werden. Hier mochte sich in früheren Zeiten eine Halle befunden haben oder eine Kapelle. Obwohl Steven nicht gerade klein geraten war, lagen die Fenster zu hoch, um ihm einen Einblick zu gestatten. Er tastete sich an der rauhen Mauer weiter und spürte plötzlich überrascht, wie die Steine wärmer wurden. Er gelangte an eine Art Kellerloch, aus dem in feinen Schwaden Dampf aufstieg. Vorsichtig näherte er sich dem Loch, das mit dicken Eisenstäben abgeschlossen wurde. Hier unten mußte der Krüppel hausen. Vorsichtig ging Steven in die Knie und versuchte, in den Keller hineinzuschauen.
*
Charlet erwachte von dem Geräusch herabfallender Steinchen. Ihre Sinne waren so geschärft, daß auch das kleinste unbekannte Geräusch ihre Nerven vibrieren ließ. Alarmiert richtete sie sich im Bett auf. Das Geräusch war vom Lichtschacht hergekommen. Stand dort jemand, oder hatte der Wind die Steine hinabgefegt? Fröstelnd erhob sie sich, hüllte sich in ihren Morgenmantel und öffnete das Fenster. Wie immer klemmte es, und es gab einen gehörigen Krach, als sie es endlich geschafft hatte, es aufzureißen. Vorsichtig spähte sie in den Lichtschacht hinein und unterdrückte mit Mühe einen hysterischen Aufschrei. Sie hatte
ganz deutlich ein Gesicht gesehen, das sich rasch zurückzog. War es ein menschliches Gesicht gewesen oder ein Tier? Sie wußte es nicht und zitterte vor Angst. Alles war so blitzschnell gegangen. Wahrscheinlich war es nur ihr unbekannter Bewacher gewesen, der sich davon überzeugt hatte, daß sie noch nicht versucht hatte, die Gitterstäbe mit ihrer Nagelfeile anzusägen. Charlet schauderte in dem kalten Luftstrom, der ihr Gesicht streifte. »Verschwinde bloß, du Unhold!« zischte sie, wollte wütend das Fenster schließen, als jemand mit unterdrückter Stimme ihren Namen rief: »Charlet!« Sie stand wie vom Schlag getroffen. Das hatte sich ganz nach Stevens Stimme angehört. Aber das konnte nicht wahr sein. Ein Spuk hatte sie genarrt. Steven konnte unmöglich hier sein. In welch gräßlich überreiztem Zustand mußten sich bereits ihre Nerven befinden, wenn sie sich schon einbildete, Stevens Stimme zu hören. Noch immer stand sie am geöffneten Fenster. Doch sie hörte nichts mehr. Bis auf das Brausen des Sturms und das Donnern der Brandung war es totenstill. Da draußen war niemand, schon gar nicht Steven, auch wenn sie ihn mit allen Fasern ihres Herzens herbeisehnte. »Steven!« klang es wie ein Hauch von ihren Lippen. »Charlet!« antwortete Steven. »Charlet, habe ich dich tatsächlich gefunden?« »Du kannst doch gar nicht hier sein. Ich träume das nur«, flüsterte sie seufzend. »Du träumst nicht, Darling! Ich bin wirklich hier. Schau doch hinauf. Kannst du mich sehen?« Vorsichtig lehnte sich Charlet in den Lichtschacht und spähte nach oben, und da war wirklich Stevens Gesicht, unverwechselbar. »Oh, Steven, daß du das bist!« Sie war den Tränen nahe. »Wie hast du mich bloß gefunden, Steven! Ich
habe schon nicht mehr damit gerechnet, daß mich jemand hier entdeckt.« Er lachte erstickt. »Hast du vergessen, welche Preise ich als Pfadfinder eingeheimst habe? Charlet, ich bin so froh, dich gefunden zu haben. Bist du okay?« »Wie du siehst, lebe ich noch«, entgegnete sie trocken. »Andrew hat mich hier eingesperrt, um sich mein Erbe anzueignen.« »Er soll dafür in der Hölle braten. Ich werde dich herausholen.« »Steven, das ist einfacher gesagt als getan. Ich werde bewacht. Andrew hat in diesem Gefängnis lauter technische Fallen eingebaut. Du würdest nicht weit kommen, und ich will nicht, daß dir etwas passiert. Du darfst auf keinen Fall durch die Halle gehen, sonst findest du dich am Ende in einem ähnlichen Loch wie diesem hier wieder.« »Kennst du denn einen anderen Ausweg? Ich kann dich doch nicht hier sitzenlassen wie die Maus in der Falle. Charlet, ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch, Steven«, sagte sie innig. »Hör zu, Steven. Von der Felsenküste her muß es einen unterirdischen Gang geben, der direkt zu der Falltür führt, die in meinem Zimmer ist. Ich habe bereits versucht, durch den Gang zu flüchten. Aber ein unterirdischer See hat mich am Weiterkommen gehindert. Steven, wenn du ein Schlauchboot besorgen könntest, wäre es ein leichtes, durch den Tunnel zu gelangen und mich herauszuholen. Aber laß dich nur nicht von Andrew erwischen. Er ist gefährlich.« »Er wird für alles büßen, was er dir angetan hat«, zischte er. »Charlet, Darling! Ich werde dich herausholen, das verspreche ich dir. Wenn du willst, versuche ich es gleich. Irgendwie wird es mir schon gelingen, zu dir zu gelangen.«
»Versuche doch erst, den unterirdischen Gang zu finden«, bat sie. »Andrew kommt täglich her, meistens am Abend. Er soll vorerst nicht erfahren, daß mir die Flucht mit deiner Hilfe gelungen ist. Rache ist süß! Für die Schrecken, die ich seinetwegen ausgestanden habe, soll Andrew mit gleicher Münze bezahlen. Er darf nicht so einfach davonkommen.« »Es kann bis morgen dauern, bis ich alle Vorbereitungen abgeschlossen habe. Wirst du so lange durchhalten können?« »Es wird mir nicht schwerfallen. Jetzt bin ich ja nicht mehr allein. Steven, ich bin so glücklich, daß du gekommen bist. Sicher mußt du gespürt haben, wie sehr ich dich brauche. Ich vermute, der Eingang zum Tunnel wird an der Seeseite liegen. Du wirst ihn doch finden?« »Ich werde nichts unversucht lassen«, versprach er. »Sollte mein Vorhaben mißlingen, melde ich mich wieder bei dir. Werde ich noch anderes Rüstzeug brauchen als das Schlauchboot?« »Wichtig ist, daß du Licht hast. Vergiß nicht, dir eine Stablampe zu besorgen. Es ist stockdunkel im Gang. Sobald du das Ende des Ganges erreicht hast, wirst du eine Falltür sehen. Klopfe bitte dreimal dagegen. Dann werde ich wissen, daß du es bist. Aber bitte, sei vorsichtig, Liebling. Ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.« »Ich werde schon aufpassen. Oh, Charlet, ich wünschte, ich könnte dich küssen.« »Betrachte dich in Gedanken als geküßt«, scherzte sie. »Wir werden alles nachholen, Steven, das verspreche ich dir. Aber geh jetzt bitte, am Ende entdeckt man dich noch, und dann war unser ganzer schöner Plan vergebens. Ich werde auf dich warten, Steven, wie lange es auch dauert.« Charlet kroch in den Lichtschacht. Wenn sie aufrecht stand, konnte sie gerade mit den Fingerspitzen die Gitterstäbe erreichen. Steven neigte ganz tief den Kopf und berührte ihre
Fingerspitzen mit den Lippen. Bei dieser zarten Berührung durchrann sie ein Gefühl von Wärme. »Viel Glück, Steven«, flüsterte sie und zog sich wieder zurück. Gleich darauf war Steven verschwunden. Seine Schritte gingen im Brausen des Sturmes unter. Charlet schloß das Fenster und mußte an sich halten, um nicht vor Glück aufzuschreien. Steven war da. Er hatte sie gefunden. Und wie sie ihn kannte, würde er nicht eher ruhen, bis er sie aus dem Gefängnis befreit hatte. Auf Steven konnte man sich verlassen. Niemand anderem außer ihm wäre es gelungen, sie zu finden. Charlet fühlte sich wie umgewandelt. Der psychische Druck war von ihr gewichen, und die Hoffnungslosigkeit der vergangenen Tage versank in neuem Optimismus. War sie nicht bereits nahe daran gewesen, im trüben Sumpf der Depressionen zu versinken? Von einem Tag auf den anderen hatte sie teilnahmslos dahingelebt, ohne auch noch den geringsten Gedanken an ihre äußere Erscheinung zu verschwenden. Bestimmt sehe ich grauenvoll aus, dachte sie beunruhigt. Sie ging ins Bad und warf einen erschrockenen Blick in den halbblinden Spiegel. Dieses bleiche, hohlwangige Geschöpf mit den zotteligen Haaren hatte wenig Ähnlichkeit mit der hübschen Charlet von früher. Wie lange mochte es her sein, daß sie sich das Haar gewaschen hatte? Obwohl ihr vor dem kalten Wasser schauderte, stieg sie kurz entschlossen in die Wanne, seifte sich von Kopf bis Fuß ab und wusch ihr Haar. Sie wickelte sich ein Frotteetuch wie einen Turban um den Kopf, rieb sich mit dem Badetuch trocken und cremte die Haut mit einer duftenden Körperlotion ein.
*
Inzwischen war auch ihr Frühstück gekommen, der übliche Tee und ein Sandwich sowie ein Glas Orangensaft. In ihren Bademantel gewickelt, frühstückte sie im Bett und zwang sich, alles aufzuessen, obwohl ihr vor Aufregung das Schlucken schwerfiel. Ihre Gedanken folgten Steven. Sicher war er jetzt auf dem Weg in die nächste Stadt und kümmerte sich um die notwendigen Utensilien. Wenn nur alles gutgeht, dachte sie bang. Sie konnte ja nicht einmal mit Sicherheit behaupten, daß es wirklich einen Ausgang zum Meer hin gab. Sie konnte es nur vermuten und hoffen. Auf keinen Fall durfte sich Steven leichtsinnig in Gefahr begeben. Bestimmt war die Felsenküste steil und gefährlich. Wenn es stürmte, konnte es leicht geschehen, daß der Sturm den wehrlosen Körper hinabriß und in die donnernden Wellen schleuderte. Quälend langsam verrannen die Stunden. Charlet horchte nervös auf jedes Geräusch. Dieses Warten war zermürbend. Immer wieder trat sie ans Fenster und horchte auf das Toben des Sturmes. War er nicht stärker geworden? Plötzlich glaubte sie, ein Wagengeräusch zu hören. Ihre Nerven vibrierten, und ihr Herz schlug rasch und schmerzhaft. War Steven zurückgekommen? Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Es kann nicht Steven sein, fiel ihr ein. Er würde doch nicht so leichtsinnig sein, mit dem Wagen bis zu den Ruinen zu fahren, um hier in aller Leichtfertigkeit zu parken! Bestimmt war Andrew gekommen. Ihr Blick irrte zur Ecke. In geheimer Spannung wartete sie darauf, daß der Ritter mit dem Säbel zu rasseln begann. Nervös fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Auch wenn ihr bekannt war, daß der Ritter nichts weiter war
als ein albernes Spielzeug, erschrak sie doch jedesmal, wenn er unvermittelt aktiv wurde. Ein eigenartiges Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Ein unartikulierter Laut entrang sich ihrer Kehle, als sie sah, wie sich die Eisentür bewegte, sich einen Spalt breit öffnete. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie auf den Türspalt, durch den sich jetzt eine abschreckend häßliche Horrorgestalt schob, die kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen hatte. Mit dumpfem Laut fiel die eiserne Tür hinter der Gestalt ins Schloß. Sie war allein mit diesem Ungeheuer, das sich ihr mit hämischem Grinsen näherte. Unter den langen, affenartigen Armen trug er etwas Weißes. Bringt er bereits mein Totenhemd? dachte sie schaudernd. Mit schlurfenden Schritten kam er näher, den kahlen Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, die einen gewaltigen Buckel trugen. Das Gesicht mit den tiefliegenden farblosen Augen war zu einer widerwärtigen Grimasse verzerrt. Abwehrend streckte sie die Arme nach dem Krüppel aus, der im Zeitlupentempo näherkam. »Nicht…! Gehen Sie weg!« keuchte sie. »Was wollen Sie von mir?« Der Mensch brabbelte etwas, was sie nicht verstand. In panischer Angst sprang sie auf und flüchtete ins Bad, schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie zitterte an allen Gliedern. Jeden Moment erwartete sie, daß der Verwachsene sich gegen die Tür stemmen würde. Trotz seiner Gebrechen schien er stark zu sein, stärker als sie. Was würde sie schon gegen ihn ausrichten können? Charlet glaubte, ihn in ihrem Zimmer rumoren zu hören. Was mochte er dort anstellen? Warum war er gekommen? Hatte Andrew ihn geschickt, um sie umzubringen? Ihre Phantasie gaukelte ihr die schlimmsten Schreckensbilder vor. Sie sah, wie dieser unheimliche Mensch ihr die Hände um
den Hals legte und zudrückte, bis sie keine Luft mehr bekam. Allein die bloße Vorstellung, daß seine Hände sie berühren könnten, ließ sie schaudern. Plötzlich hörte sie nichts mehr. Die Geräusche im Nebenraum waren verstummt. Stille! Fieberhaft dachte sie nach. War der Mann verschwunden? Konnte sie es wagen, wieder ins Zimmer zurückzukehren? Es war kalt und dunkel im Bad. Die feuchte Kälte legte sich beklemmend auf ihre Lungen. Sie mußte hier heraus. Mit zitternden Händen griff sie nach der Klinke und spürte entsetzt, wie sie sich bewegte. Gleichzeitig ertönte ein dumpfes Pochen. Er war noch da, direkt hinter der Tür. Sie schrie gellend auf und stemmte sich mit aller Kraft gegen das Holz… Steven war der Verzweiflung nahe. Man hatte ihn in dem Städtchen Snowton von einem Geschäft zum anderen geschickt. Einen Artikel wie ein Schlauchboot schien niemand zu führen. Sein Wunsch stieß auf Unverständnis und Kopfschütteln. Was wollte er mit einem Schlauchboot anfangen? Es wäre purer Selbstmord, sich damit auf die tobende See hinauszuwagen. Die einzigen Schlauchboote, die angeboten wurden, waren so riesig, daß Steven nichts mit ihnen anfangen konnte. In einem Spielzeugladen fand er schließlich ein gelbes, aufblasbares Gummiboot. Für eine Person konnte es eventuell reichen. Er kaufte Ruder dazu und ein Abschleppseil, fünfzig Meter lang. Mit all diesen Unternehmungen hatte er kostbare Zeit verloren. Es dämmerte bereits, als er Snowton verließ. Während er zu seinem Hotel zurückfuhr, überlegte er, ob es nicht ratsam wäre, bis morgen früh mit dem Befreiungsversuch zu warten.
Wenn er in der Dunkelheit an der Felsküste herumkletterte, riskierte er abzustürzen. Trotz der Stablampe würde es ihm auch kaum möglich sein, einen Eingang in dem Felsen zu finden, der ganz sicher inzwischen verschüttet war oder durch Gestrüpp verdeckt wurde. Es war besser, sich bis morgen zu gedulden. Steven beschloß, so frühzeitig loszufahren, daß er die Ruinen bei Tagesanbruch erreichte. Da ihm jetzt die Strecke bekannt war, würde er weniger Zeit brauchen. Voll banger Sorge dachte er an Charlet. Konnte sie bis morgen durchhalten? Für all das, was er Charlet angetan hatte, würde dieser skrupellose Schuft Andrew bezahlen müssen. Steven schlief kaum in dieser Nacht. Es war noch völlig dunkel, als er am Morgen losfuhr. Doch seine Ungeduld, zu Charlet zu gelangen, ließ sich nicht mehr zügeln. Er versteckte den Wagen in einem Wäldchen und wartete ab, bis ein vager Lichtschimmer den Tagesbeginn ankündigte. Nachdem er das Boot aufgeblasen hatte, band er es sich auf den Rücken und marschierte los. Ein heftiger Wind warf sich ihm entgegen. Doch der Himmel war glasklar, und noch war die See einigermaßen friedlich und leckte mit sprühender Gischt an den Felsklippen. Er entdeckte einen schmalen Pfad, der zwischen wildem Gestrüpp in verschlungenen Windungen an den Klippen entlangführte. Als plötzlich dicht vor ihm mit zornigem Kreischen eine Möwe aufflatterte, hätte er fast den Halt verloren und konnte sich noch im letzten Moment an einem stacheligen Strauch festhalten. Ein Blick in die Tiefe ließ ihn schaudern. Die zurückflutenden Wellen entblößten scharfkantige Felsen. Wenn er hier abstürzte, würde er von den Felsen aufgespießt werden. Er durfte sich keinen falschen Schritt erlauben.
Nur langsam kam Steven vorwärts. Der kalte Wind nahm ihm den Atem und ließ seine Finger gefühllos werden. Immer wieder blieb er stehen und rieb die Hände, um die abgestorbenen Finger zu erwärmen, während sein Blick suchend an der Felswand entlangwanderte. Am Horizont flammte die Sonne auf und warf ihren blutroten Schein über das Wasser. Die Felsküste beschrieb jetzt einen weiten Bogen. Als Steven zurückblickte, mußte er feststellen, daß er bisher nur wenige Meter geschafft hatte. Aber mit der Last auf seinem Rücken konnte er nicht schneller vorwärtskommen. An manchen Stellen war der Pfad nur fußbreit, und er erschrak jedesmal, wenn sich das Geröll unter seinen Füßen löste, wenn die Steine die Felsen hinuntersprangen und aufspritzend im Wasser versanken. Wieviel Zeit inzwischen vergangen war, konnte er nur ahnen. Der Verdacht, längst am Ausgang des Tunnels vorbei zu sein, bedrückte ihn. Er verbot es sich, an Charlet zu denken. Wenn er sich nicht vollständig auf seine Suche konzentrierte, würde sie vergebens auf ihn warten. Zu seinem Erstaunen gelangte Steven endlich auf eine Art Plattform, die wie ein Sprungbrett über die Klippen hinausragte. Hier konnte er einen Moment seine von der Anstrengung schmerzenden Waden ausruhen. Zehn Meter unter ihm schäumte die Gischt gegen die Klippen. Er war bereits tiefer hinabgekommen, als er gemerkt hatte. Als er weitergehen wollte, stellte er in jäher Panik fest, daß der Pfad hier endete. Um weiterzukommen, hätte er schon eine Bergsteigerausrüstung gebraucht. Es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Pfad zurückzugehen. Erschöpft lehnte er sich gegen das Gestrüpp an der Felswand, als er spürte, wie es unter seinem Gewicht nachgab. In jäher
Erregung wandte er sich um, bog die Zweige beiseite, ohne auf die Stacheln zu achten, und entdeckte dahinter ein dunkles Loch. Ein kalter Hauch streifte ihn, als er den Kopf durch die Zweige zwängte. War dies der Eingang zu dem unterirdischen Tunnel, von dem Charlet gesprochen hatte? Mit den Füßen trampelte er das Gestrüpp nieder und ging vorsichtig näher an das Loch im Felsen heran. Der Eingang war so niedrig, daß er sich tief ducken mußte, um hineinzugelangen. Er knipste die Stablampe an und sah, daß er tatsächlich einen unterirdischen Gang entdeckt hatte. Doch der Himmel mochte wissen, ob es sich um den richtigen Gang handelte, der auch zu Charlets Gefängnis führen würde. Trotzdem, versuchen mußte er es. Nachdem Steven etwa fünfzig Meter lang mehr gekrochen als gelaufen war, wurde die Decke höher und der Gang breiter. Der Boden unter seinen Füßen wurde zusehends feuchter, und fern hörte er den stereotypen Klopfrhythmus herabfallender Wassertropfen. Der Lichtkegel der Stablampe enthüllte zerklüftete Felswände, von Moos überwuchert. Immer wenn Steven glaubte, am Ende des Tunnels zu sein, machte dieser eine Biegung, die in eine völlig andere Richtung zu führen schien. Der reinste Irrgarten, dachte Steven beunruhigt. Er empfand es als beklemmend, so tief unter der Erde zu wandern. Mußte er nicht jeden Augenblick mit herabstürzendem Gestein rechnen? Vorsichtig bewegte er sich weiter. Schien das monotone Wassertropfen nicht näher zu kommen? Als sich jäh vor ihm eine Art Grotte öffnete, hielt er überrascht inne. Zu seinen Füßen schimmerte der dunkle Spiegel eines Sees, der sich wie eine riesige Pfütze zwischen den Felswänden ausbreitete. Wasser rann von den Wänden, tropfte im gleichmäßigen Rhythmus auf Steine und verursachte so das gespenstische Klopfen.
Das mußte der unterirdische See sein, den Charlet erwähnt hat, dachte Steven hoffnungsvoll. Ich bin auf dem richtigen Weg. Er ließ das Kinderboot von seiner Schulter gleiten und griff nach den Rudern. Er hoffte, das Boot würde ihn tragen. Vorsichtig stieg er ein. Das Boot sank tief unter seinem Gewicht. Ein wenig Wasser plätscherte hinein. Eilig stieß er sich mit dem Ruder vom Ufer ab und fuhr los. Auch Charlet hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Allein die Vorstellung, daß der Krüppel nach Belieben in ihr Zimmer kommen konnte, ohne daß sie sich dagegen wehren konnte, ließ sie nicht schlafen. Der Schreck über seinen unverhofften Besuch saß ihr noch in allen Gliedern, auch wenn er anscheinend nichts anderes vorgehabt hatte, als ihr Bett frisch zu beziehen und neue Handtücher zu bringen. Normalerweise hätte sie nicht so hysterisch auf den Besuch reagiert. Schließlich konnte der arme Mensch ja nichts für seine abschreckende Häßlichkeit. Ihre Reaktion war nur mit ihrer Gefangenschaft und Einsamkeit zu erklären. Der Vorfall hatte Charlet wieder einmal verdeutlicht, daß sie mit ihrer Nervenkraft am Ende war. Jede Kleinigkeit regte sie auf. Wenn das so weiterging, sah sie sich schon in hysterischen Krämpfen am Boden, mit irrem Blick und Schaum vor dem Mund. Dabei war sie früher nie schreckhaft gewesen. Es hatte ihr nichts ausgemacht, in den dunklen Keller zu gehen, um Lebensmittel, die dort gelagert wurden, heraufzuholen. Sie war immer stolz auf ihren Mut gewesen. Steven wird kommen und mich hier herausholen, dachte sie unablässig. Er muß einfach kommen. Ich ertrage es keinen Tag länger, hier eingesperrt zu sein. Ist es nicht gerade so, als wäre ich bereits gestorben?
Sobald der Morgen graute, wusch sie sich und kleidete sich an. Ängstlich behielt sie die Tür im Auge, als sie den Teppich zurückschlug. Charlet zog ihre wärmsten Sachen an und legte den gefütterten Dufflecoat bereit sowie ihre Schultertasche. Es konnte Stunden dauern, bis man ihre Flucht bemerken würde. Für Andrew mußte es so aussehen, als hätte ihre kopflose Flucht im See geendet. Bestimmt würde er erleichtert sein, wenn er annehmen mußte, daß sie im unterirdischen See ertrunken war und seine teuflischen Pläne nicht länger gefährden konnte. Doch Charlet gedachte dafür zu sorgen, daß er ihr Erbe nicht in Ruhe genießen konnte. Noch niemals vorher hatte sie einem Menschen etwas Schlechtes gewünscht. Aber diesem Andrew Cunningham wünschte sie, daß er einmal die gleichen Ängste und Qualen zu erleiden hätte, die er ihr zugemutet hatte. Plötzlich hörte sie Klopfen, dreimal. Alarmiert sprang sie auf und öffnete die Falltür. »Ich bin es, Steven«, klang es dumpf von unten herauf. »Bist du soweit, Darling?« »Ich komme!« Sie warf sich den Dufflecoat über die Schultern, schnappte sich die Schultertasche und kletterte die Stufen hinab, während Steven ihr leuchtete. Unten fing er sie in seinen Armen auf und drückte sie kurz und heftig an sich. »Bloß weg von hier«, raunte er. »Wir haben noch ein schweres Stück Arbeit vor uns. Bist du okay, Charlet?« »Es geht so. Gib mir deine Hand!« Sie beeilten sich, den unterirdischen See zu erreichen. Steven hatte das Boot ans Ufer gezogen. »Du mußt zuerst einsteigen und hinüberrudern«, befahl er. »Zwei Menschen trägt das Boot nicht. Sobald du
drüben bist, wirfst du mir das Seil zu. Hast du mich verstanden, Charlet?« Sie nickte und stieg in das Boot, das heftig unter ihr schwankte. Nachdem sie das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte, warf sie das Seilende mit aller Kraft über die Wasserfläche. Doch schon nach wenigen Metern sank es ins Wasser. Sie mußte es zurückziehen und es noch einmal versuchen. Auch dieser Versuch schlug fehl. Erst als sie einen Stein in das Seilende geknotet hatte, bekam es mehr Gewicht und ließ sich besser schleudern. Steven konnte es endlich zu packen bekommen. Sobald er bei ihr war, zogen sie gemeinsam das Boot ans Ufer und verwischten die Spuren. Zu Stevens Befremden warf Charlet ihren Dufflecoat ins Wasser und ließ die Handtasche und auch ihre Schuhe folgen. »Wenn Andrew die Sachen findet, muß er glauben, daß ich ertrunken bin«, flüsterte sie. »Beeilen wir uns. Mir ist kalt.« Bevor sie sich der unvermeidbaren Kletterpartie unterzogen, ließ Steven noch die Luft aus dem Boot. So ließ es sich leichter transportieren. Er ging voraus und reichte Charlet die Hand, wenn sie eine besonders schwierige Stelle passieren mußten. Wenn Charlet in die brodelnde Tiefe hinuntersah, schwindelte ihr. Dann biß sie die Zähne zusammen und kletterte weiter. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, durfte sie jetzt nicht kapitulieren. Sie mußte durchhalten, auch wenn ihre Knie vor Erschöpfung zitterten und der Sog der Tiefe sie hinabzureißen drohte. Dann spürte sie festen Boden unter den Füßen. Es kam ihr fast wie ein Wunder vor. Doch noch war keine Zeit, sich von den Strapazen zu erholen. Steven nahm fest ihre Hand und zog sie mit sich. Da sie nur Strümpfe trug, trafen spitze Steine wie Nadelstiche ihre
Fußsohlen. Der eisige Wind drang ihr bis auf die Haut. Sie war fast am Ende ihrer Kräfte, als sie den Wagen erreichten. Sobald Charlet auf dem Beifahrersitz saß, fuhr Steven los. Der Wagen holperte über den unebenen Weg. Am Horizont ballten sich dunkle Wolken zusammen, und der Wind fuhr fauchend durch das Dünengras. Noch konnte Charlet nicht glauben, daß sie gerettet war. Immer wieder blickte sie sich furchtsam um, ob sie auch nicht verfolgt wurde. Sie sah, wie die Wellen der See an Kraft gewannen und stürmisch gegen die Felsklippen schlugen. Am graublauen Himmel hing die Sonne wie eine nutzlose Dekoration. »Soll ich dich gleich nach Snowton Hall bringen?« fragte Steven. »Nein!« Charlets Augen nahmen einen fanatischen Glanz an. »Bring mich irgendwohin, wo mich niemand findet. Ich werde einige Stunden brauchen, um mich zu erholen. Ich bin vollkommen erledigt. Meine Heimkehr nach Snowton Hall habe ich mir anders vorgestellt.« »Du mußt mir alles erzählen, Charlet«, drängte er. »Später«, sagte sie erschöpft. »Wir haben ja Zeit genug.« Zum Glück war niemand im Schankraum, als Steven mit Charlet nach oben in sein Zimmer ging. Bestimmt hätten seine Wirtsleute Anstoß daran genommen, wenn er ein junges Mädchen mit auf sein Zimmer nahm, das weder Schuhe noch Mantel trug. Er sorgte dafür, daß Charlet sogleich zu Bett ging, und ließ ein kräftiges Frühstück kommen, das er an der Tür in Empfang nahm.
*
Nachdem Charlet einige Stunden fest geschlafen hatte, fühlte sie sich kräftig genug, Pläne zu schmieden. Steven erzählte ihr, daß eine Fremde ihre Identität angenommen hätte und auf Snowton Hall lebte. »Andrew hat mich in Los Angeles angerufen und behauptet, du hättest dich in ihn verliebt und wolltest ihn heiraten.« Charlet schüttelte den Kopf. »Andrew zu heiraten, würde mir nicht mal in meinen schlimmsten Träumen einfallen. Als er mir den Vorschlag unterwegs machte, habe ich ihm klipp und klar gesagt, daß nur du für mich als Ehemann in Frage kommen würdest.« Sie erzählte ihm jetzt ausführlich, wie es Andrew gelungen war, sie zu übertölpeln und in die unterirdische Zelle einzusperren. Während sie sprach, hielt sie ganz fest Stevens Hand, als müßte sie sich davon überzeugen, daß er wirklich bei ihr war. »Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte«, sagte sie leise. »Wenn es so etwas wie Telepathie gibt, mußt du gespürt haben, wie oft ich an dich gedacht habe. Ich habe dir sogar geschrieben, aber wer hätte die Briefe wohl befördern sollen?« »Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß du mich so schnell vergessen haben solltest. Auch deine Mutter hat nicht an deine Zuneigung zu Andrew glauben wollen. Sie hat mir geraten, nach Lleyn zu reisen und dir ordentlich den Kopf zurechtzusetzen.« Steven grinste breit. »Es ist ja wohl klar, daß sie auf einen Schwiegersohn wie mich ungern verzichtet.« »Wie nett, daß du so gar nicht eingebildet bist«, scherzte Charlet. »Hast du etwas von meinem Vater gehört? Wie geht es ihm?« »Er soll sich wieder besser fühlen. Ich kann mir vorstellen, daß dein werter Cousin jetzt ganz schön in der Klemme sitzt. Er hat fest damit gerechnet, daß Lord Cunningham sterben würde. Sonst hätte er die Farce mit der falschen Charlet doch
gar nicht veranstaltet. Muß er jetzt nicht in ständiger Angst leben, der Betrug könnte aufgedeckt werden?« »Steven!« Sie blickte ihn erschrocken an. »Ich fürchte, mein Vater ist jetzt in großer Gefahr.« »Nach allem, was Andrew angestellt hat, muß er sich doch sehnlichst seinen Tod wünschen. Es wäre ihm durchaus zuzutrauen, daß er dabei nachhilft, da hast du recht.« »Wir müssen ihn warnen«, sagte sie erregt. »Steven, es muß uns irgendwie gelingen, meinen Vater allein zu sprechen. Wir müssen ihn davon überzeugen, daß er die falsche Charlet bei sich aufgenommen hat. Dad muß uns in Snowton Hall verbergen, ohne daß es jemand merkt. Bitte, melde ein Gespräch nach Los Angeles an. Ich werde alles Mum erzählen. Sie kann dann meinen Vater anrufen und ihm den Sachverhalt erklären. Wir können es einfach nicht wagen, ihn zu überrumpeln. Der Schock könnte ihm schaden.« Lord Cunningham hielt sich gerade in der Bibliothek auf, als seine geschiedene Frau Amanda anrief. Die vermeintliche Charlet und Andrew hielten sich auf dem Gutshof auf. Er erwartete sie zum Dinner und war jetzt damit beschäftigt, die geschäftlichen Dinge zumindest teilweise zu erledigen, die durch seine Erkrankung liegengeblieben waren. Schonend brachte ihm Amanda bei, welche Intrige Andrew angezettelt hatte, um in den Besitz seines Vermögens zu kommen. »Also deswegen wollte Andrew vermeiden, daß du zu Charlets Hochzeit mit ihm kommst«, sagte er fassungslos. »Er wollte mir doch tatsächlich vormachen, dein Mann wäre gegen den Besuch.« »Was für ein Unsinn«, widersprach Amanda energisch. »Wir werden sehr gern nach Snowton Hall kommen. Randolf, es tut mir schrecklich leid für dich, daß du diese Schicksalsschläge
hinnehmen mußtest. Ich hoffe, ich habe dich mit meiner Nachricht nicht zu sehr aufgeregt.« »Manchmal kann Aufregung auch nützlich sein«, entgegnete der Lord grimmig. »Charlet braucht mich jetzt. Das Gefühl, gebraucht zu werden, kann sehr aktivierend wirken. Ich werde mich gleich mit Charlet, mit der echten Charlet, in Verbindung setzen. Ich danke dir für deinen Anruf, Amanda! Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen.« »Das hoffe ich auch, Randolf. Sei bitte vorsichtig. Wenn dieser Andrew erst merkt, daß sein Spiel durchschaut worden ist, könnte er in seiner Panik etwas Unüberlegtes tun.« »Ich werde schon aufpassen. Bis bald, Amanda!« Lord Cunningham läutete nach Albert. Er wußte, daß er dem Diener Vertrauen schenken konnte und erzählte ihm in knappen Worten, was geschehen war. Wenig später fuhr der Butler mit dem Wagen des Lords zu dem angegebenen Hotel. Inzwischen hatte Steven für Charlet Stiefel gekauft, die sie gerade anprobierte, als Albert sie abholte. Charlet begrüßte ihn freudig erregt. »Ich erinnere mich noch gut an Sie, Albert!« sagte sie herzlich. »Ich habe es nie vergessen, daß Sie damals meine Puppe wieder zusammengeflickt haben, die Andrew so mutwillig zerstört hatte.« »Er war ein schlimmer Junge«, bemerkte der Butler mißbilligend. »Und es sieht ganz so aus, als hätten die Jahre nichts daran geändert. Es wird noch ein böses Ende mit ihm nehmen«, prophezeite er düster. Albert fuhr die beiden nach Snowton Hall und brachte sie im Turm unter, wo sich zwei bequeme Gästezimmer befanden, die Mrs. Peakers in aller Heimlichkeit hatte herrichten lassen. Charlet stand am Fenster und blickte in den Park hinab, als ihr Vater eintrat. Sie ging sofort auf ihn zu und blickte ihn lächelnd an. »Du hast dich gar nicht verändert, Daddy!«
»Charlet!« Er streckte die Hände nach ihr aus, die sie herzlich nahm. Eine Weile blickten sie sich schweigend in die Augen, dann sagte der Lord mit vor Rührung schwankender Stimme: »Wie ähnlich siehst du deiner Mutter, Charlet! Selbst wenn Amanda mich nicht angerufen hätte, würde ich nicht daran zweifeln, daß du meine Tochter bist. Am liebsten würde ich Andrew und seine Komplizin auf der Stelle verhaften lassen.« Charlet überzeugte ihn davon, daß es besser war, damit noch ein oder zwei Tage zu warten. »Andrew soll es am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man psychisch terrorisiert wird«, sagte sie entschlossen. »Ich bin gespannt, was er unternehmen wird, wenn er feststellt, daß das Vögelchen ausgeflogen ist. Bestimmt wird er annehmen, ich wäre im unterirdischen See ertrunken. Er wird die Kleidungsstücke sehen, die ich im See zurückgelassen habe. Doch wenn er versucht, das Gefängnis zu verlassen, wird sich die eiserne Tür nicht mehr öffnen lassen. Genau wie ich soll er spüren, wie furchtbar man sich fühlt, wenn man eingesperrt worden ist.« »Er hat Strafe verdient«, stimmte der Lord grimmig zu. »Sobald er in der Falle sitzt, wird die Polizei ihn abholen. Ich werde das Nötige veranlassen.«
*
Eigenartigerweise fühlte sich Lord Cunningham durch die Aufregungen beflügelt. Er fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Das mußte auch Andrew zu seiner Verärgerung feststellen, als sie am Abend zusammen dinierten. Sein Onkel zeigte sich aufgeräumt wie lange nicht mehr. Er genehmigte
sich sogar ein Gläschen Rotwein, das er mit verklärtem Gesichtsausdruck leerte. »Ein gutes Glas Wein gehört zu den kleinen Freuden des Lebens«, erklärte er dazu. »Fühlst du dich dafür auch wirklich gut genug?« fragte Andrew in vorgetäuschter Sorge. »Ich denke, die Ärzte hätten dir Alkohol verboten!« »Ein Gläschen Wein kann mir doch nicht schaden.« Lord Cunningham lächelte. »Im Gegenteil, es ist die reinste Medizin. Gieß mir ruhig noch einmal nach, Andrew! Ich genieße es richtig, so gemütlich mit euch zusammenzusitzen. Wie schön für mich, daß ich die langen kalten Wintertage nicht allein auf Snowton Hall verbringen muß. Charlet, was hältst du davon, wenn ich dir das Schachspiel beibringe? Damit könnten wir uns so manchen Abend vertreiben.« Randolf bemerkte ganz deutlich den spöttischen Blick, den die beiden wechselten. Er glaubte, ihre Gedanken förmlich lesen zu können. Einen Winter wird der alte Narr nicht mehr erleben, sagte Andrews spöttischer Blick. Aber Andrew täuschte sich! Charlets Heimkehr hatte Randolf Cunningham neuen Lebensmut gegeben. Mit ihr hatte er sich auf Anhieb verstanden. In ihr hatte er ein Stückchen seiner ersten großen Liebe wiedergefunden. Charlet war genau, wie Amanda vor zwanzig Jahren gewesen war. Was mochte sie von ihm geerbt haben? Er war gespannt, das herauszufinden. Der Lord ließ eine weitere Flasche Wein bringen und sorgte dafür, daß Andrews Glas immer gefüllt war. Andrew merkte nicht, daß Albert auf Anweisung des Lords den Wein mit Kognak angereichert hatte, der bald seine Wirkung zeigte. Andrews Sprechweise wurde schwerfällig, und auch seine Freundin, die so gar nichts von Charlets natürlichem Charme hatte, schien fast im Sessel einzuschlafen.
Ich hätte nicht so viel trinken dürfen, dachte Andrew, als er um dreiundzwanzig Uhr in sein Zimmer taumelte. Er wußte gar nicht mehr, wie er den Weg durch den Park geschafft hatte. An der frischen Luft war ihm richtig schwindelig geworden. Jetzt hatte er nur noch einen Gedanken. Er mußte endlich seinen Rausch ausschlafen, ließ die Kleider fallen, wo er gerade stand, und fiel aufs Bett. Gleich darauf war er eingeschlafen. Andrew mußte mitten im tiefsten Schlaf sein, als ihn eine wimmernde Stimme weckte. »Andrew, hilf mir, ich ertrinke!« jammerte die Stimme. Schlaftrunken fuhr er im Bett hoch. Er rieb sich die Augen und sah voller Entsetzen eine weißgekleidete Gestalt, von Licht umflossen. Nur mit Mühe hielt er einen entsetzten Aufschrei zurück. Ich träume nur, durchzuckte es ihn. Es kann doch nicht möglich sein, daß Charlet hier ist, in meinem Zimmer! Oder ist es… ihr Geist? Noch immer war sein Kopf so umnebelt, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Gleich darauf erlosch das geisterhafte Licht, und die Gestalt verschwand. Knarrte da nicht eine Tür? Seine Nackenhaare sträubten sich vor Entsetzen. War jemand bei ihm im Zimmer gewesen? Nein, das war unmöglich. Er hatte geträumt. Der Wind mußte an den Fensterläden gerüttelt haben. Es war ja vollkommen unmöglich, daß Charlet in sein Zimmer gelangen konnte, und an Geister glaubte er nicht. Es gelang Andrew nicht mehr, Schlaf zu finden. Von bohrender Unruhe erfüllt, entschloß er sich, zur Klosterruine zu fahren, um sich zu vergewissern, daß Charlet dort noch immer gut aufgehoben war. In Gedanken verwünschte er seinen Onkel, der ihm all diese Probleme aufgehalst hatte. Wäre er programmgemäß gestorben, könnte er längst weit weg
sein. Nur aus purer Bosheit lebte der Todkranke weiter und brachte ihn damit in die größten Schwierigkeiten. Andrew versuchte, wieder einzuschlafen. Es war gar nicht daran zu denken, auf der Stelle loszufahren. In seiner momentanen Trunkenheit wäre er mit Sicherheit im Meer gelandet. Nach einigen Stunden Schlaf würde er sich sicher besser fühlen. Er entschloß sich, zur Ruine zu fahren, sobald er gefrühstückt hatte. Andrew fühlte sich noch immer scheußlich, als er am nächsten Morgen in aller Frühe losfuhr. Kopfschmerzen peinigten ihn, als würde er einen engen, eisernen Ring um seine Stirn tragen. Er hatte nur eine Tasse Kaffee getrunken. Es war ihm unmöglich gewesen, einen Toast hinunterzubringen. Er nahm sich vor, später zu frühstücken, wenn er sich überzeugt hatte, daß in der Klosterruine alles in Ordnung war. Dieser Morgen war auch nicht gerade dazu angetan, seine Lebensgeister zu wecken. Die Landschaft zeigte sich in düstersten Farben. Ein heftiger Sturm peitschte das Wasser der See zu meterhohen Wellen auf, die sich donnernd gegen die Klippen warfen. Andrew zerbiß einen Fluß zwischen den Zähnen. Er konnte sein Fahrzeug kaum in der Spur halten. Vom Sturm gebeutelt, schwankte es wie trunken von einer Seite zur anderen. Er bereute es, nicht den Jeep benutzt zu haben, der diesem Sturm besser gewachsen war. So brauchte er mehr Zeit als sonst, die Ruinen zu erreichen. Er ließ den Wagen unten stehen und ging geduckt den steinigen Pfad hinauf. Eisig fuhr ihm der kalte Wind ins Gesicht. Er war so stark, daß er das Gefühl hatte, sich gegen den Widerstand unsichtbarer Geister weiterkämpfen zu müssen. Endlich hatte er das Tor erreicht. Ein kräftiger Fußtritt, und es flog auf.
Selbst in der Halle orgelte der Sturm und trieb ihm feinen Mörtelstaub in die Augen. Er beeilte sich, den Kellergang zu erreichen, und ging zunächst in die Zelle, in der Jerry hauste. Der Raum war mit allerlei Trödel angefüllt. Jerry hatte eine abnorme Leidenschaft für Dinge, die bunt waren und glitzerten. Andrew hatte ihn eines Tages bettelnd an einer Straßenecke vorgefunden, ihn mitgenommen und zu seinem ergebenen Diener gemacht. Jerry war anspruchslos. Er war zufrieden, ein Dach über dem Kopf zu haben und pünktlich sein Essen zu bekommen. Wenn Andrew ihm irgendwelchen Plunder vom Trödelmarkt mitbrachte, freute er sich, wie wenn ein Kind sich über ein neues Spielzeug freut. Es machte ihm nichts aus, hier mutterseelenallein zu hausen. Seine Gebrechen hatten ihn zu einem Außenseiter gestempelt. Kinder hatten kreischend die Flucht ergriffen, sobald sie ihn zu Gesicht bekamen, und die Erwachsenen hatten sich schaudernd abgewandt. Andrew war der einzige Mensch gewesen, der sich jemals um ihn gekümmert hatte, und er dankte es ihm mit sklavischer Ergebenheit. Wie ein Tier, das Gefahr wittert, war er sogleich hellwach, als Andrew in seine Zelle trat. Mühsam richtete er seinen ungestaltenen Körper von dem Matratzenlager auf. »Warum kommen Sie so früh, Sir?« brabbelte er in seinem walisischen Kauderwelsch, an das Andrew sich inzwischen gewöhnt hatte. »Ich will mich nur vergewissern, ob alles in Ordnung ist.« Andrews Blick fiel auf den runden Tisch, auf dem noch ein Tablett mit Essen stand. »Hat meine Cousine ihr Dinner nicht gegessen?« fragte er alarmiert. »Sie hat es nicht angerührt«, bestätigte Jerry. Verlegen schlang er die bunte Decke um seinen mißgestalteten Körper. »Ich glaube, sie ist zu den Katakomben
gegangen. Ich habe lange gewartet. Doch sie kam nicht zurück. Dann wurde ich müde, habe das Tablett wieder weggenommen und bin schlafen gegangen.« Andrew schwieg. Plötzlich sah er wieder die Geistergestalt seines Traumes vor sich. Oder war es kein Traum gewesen? War Charlet bei ihm im Zimmer gewesen? Unmöglich, sagte er sich. Sie kann es nicht geschafft haben, den See zu überwinden und zum Ausgang zu gelangen. Doch seine Unruhe blieb. Er ging rasch zu der Zelle, in die er Charlet eingesperrt hatte, und betätigte den Knopf auf der Schalttafel, der die Tür aufspringen ließ. Mit einem Blick sah er, daß das Zimmer leer und die Falltür geöffnet war. Anscheinend mußte sich Charlet noch immer in den Katakomben befinden. Vielleicht hatte ein plötzlicher Schwächeanfall eine Ohnmacht bei ihr ausgelöst. Er ging noch einmal an die Schalttafel zurück und drückte einige Knöpfe, die dafür sorgen würden, daß der Gang beleuchtet war. Er hatte viel Mühe, Zeit und technisches Geschick darauf verwandt, den Katakomben neues Leben zu geben. Jedes Detail war genau durchdacht. Technik hatte ihn schon immer fasziniert, und er war stolz darauf, es inzwischen zu solcher Meisterschaft gebracht zu haben. Andrew stieg die Stufen hinab. Gleißendes Licht erhellte den tunnelartigen Gang. Natürlich hatte er damit gerechnet, daß Charlet den unterirdischen Gang entdecken und versuchen würde, zu fliehen. Doch er hatte auch gewußt, daß ihr die Flucht nicht gelingen konnte. Sie hätte schon über übermenschliche Kräfte verfügen müssen, um den schwarzen See schwimmend zu überqueren und den Angriff der hungrigen Wasserratten abzuwehren, die hier hausten. Unbeeindruckt passierte Andrew die Grüften, in denen die Gebeine der Klosterbrüder moderten. Nach fünfzehn Minuten erreichte er den See und sah im schwachen Licht Gegenstände
auf dem Wasser treiben. Charlets Jacke trieb mit ausgebreiteten Armen über das Wasser wie eine schwimmende Leiche. Sie ist tot, ertrunken, durchzuckte es ihn. Im Geiste sah er Charlet auf dem Grund des Sees liegen, die weit geöffneten blauen Augen blicklos geöffnet und so grauenvoll stumm wie ihre Puppe, die statt eines Innenlebens nur Sägespäne in ihrem Bauch gehabt hatte. Und trotzdem hatte Charlet die Puppe mehr geliebt als ihn. Sekundenlang schloß Andrew die Augen. Seine Gedanken eilten ihm voraus. In zwei oder drei Tagen würde Charlets lebloser Körper an der Oberfläche treiben. Er würde sie endlich in die Arme nehmen können. Dann wollte er ihr ein wunderschönes weißes Brautgewand anziehen und sie in den Katakomben beerdigen. Hier würde niemand nach ihr suchen. Sie würde für immer ihm gehören. Fröstelnd wandte er sich ab. Es war kalt, so tief unter der Erde. Er beeilte sich zurückzugehen. Charlet konnte er nicht mehr helfen. Niemand konnte ihr mehr helfen. Wenn man jemals nach ihr suchen würde, war er weit fort. In seinem klug durchdachten Plan fehlten jetzt nur noch zwei Opfer. Im Geiste verfaßte er schon eine rührende Grabrede auf seinen lieben Onkel Randolf, der Charlet und ihm sein gesamtes Vermögen vermacht hatte. Im Geiste sah er schon eine Frauenleiche im Wasser der Themse treiben, die für einige Tage lang für Aufregung sorgen würde, bis ein neues, furchtbares Ereignis die Erinnerung verblassen ließ. In einer Weltstadt wie London passierte ja so viel. Andrew beeilte sich, nach oben zu kommen. Es wurde Zeit, alle Spuren sorgfältig zu beseitigen, die Charlet hinterlassen hatte. Sobald er sich wieder im Zimmer befand, schloß er die Falltür und rollte den Teppich darüber. Über der Sessellehne
entdeckte er eines von Charlets Nachtgewändern. Es war aus einem zarten, schimmernden Stoff, der federleicht in seinen Händen lag. In einem jähen Impuls preßte er das Gewand gegen die Lippen. Es machte ihn fast verrückt, den lieblichen Duft nach Maiglöckchen einzuatmen. Er ließ den Stoff fallen, als hätte er sich verbrannt. Fluchtartig wollte er den Raum verlassen. Befremdet stellte er fest, daß die Eisentür zugefallen war. »Idiot!« schimpfte er aufgebracht und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. »Jerry, mach auf!« brüllte er. »Jerry, hörst du mich nicht?« Jerry mußte ihn doch hören! Sein Zimmer lag ganz in der Nähe. Warum kam er trotzdem nicht? Andrew schrie sich fast die Kehle heiser. Sein Lärm hätte Tote aufgeweckt. Doch die Tür blieb verschlossen. Er saß in der Falle. Die Tür konnte nur von außen verschlossen werden. Warum hatte Jerry die Tür geschlossen? Es muß ihm etwas zugestoßen sein, durchzuckte es ihn. Jerry gehorchte doch immer blindlings seinen Befehlen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, auf seine Rufe nicht zu reagieren. Andrew blickte sich mit irren Augen um. Er ertrug es nicht, in diesem Zimmer eingesperrt zu sein, in dem ihn alles an Charlets Gegenwart erinnerte, an Charlet, die jetzt ertrunken auf dem Boden des Sees lag. War Charlets Geist zurückgekommen, um sich an ihm zu rächen? Es gibt keine Geister, sagte sich Andrew, konnte aber nicht verhindern, daß ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Die Wände schienen auf ihn zuzukommen, als wollten sie ihn erdrücken. Kalter Schweiß brach ihm aus, als er an den Alptraum dachte, in dem er Charlet im Totenhemd gesehen hatte. Verzweifelt rang er nach Atem. Ich muß hier raus, sonst ersticke ich noch! schrie es in ihm. Noch einmal versuchte er,
Jerry herbeizurufen. Doch das Heulen des Sturmes war die einzige Antwort. Was mochte das nur zu bedeuten haben? Seine Panik wuchs. Er spürte, daß ihm Gefahr drohte. Vielleicht war man seinem Versteck auf die Spur gekommen? Daß Jerry nicht kam, machte ihm klar, daß etwas passiert sein mußte. Wer mochte Jerry daran hindern, die eiserne Tür zu öffnen? Der unterirdische Gang ist meine einzige Rettung, dachte es in ihm. Er schauderte davor zurück, noch einmal hinabzugehen. Doch ihm blieb keine Wahl. Er durfte nicht hierbleiben. Hier saß er wie eine Maus in der Falle. Er mußte endlich hier heraus und in Erfahrung bringen, was mit Jerry geschehen war. Hastig schlug er den Teppich zurück und öffnete die Falltür. Er beeilte sich, hinabzusteigen, und wäre auf den feuchten glitschigen Stufen fast ausgerutscht, konnte sich aber im letzten Moment noch fangen. Er ahnte, daß er keine Zeit verlieren durfte, und beeilte sich, den See zu erreichen.
*
Cindy war gerade im Bad mit der Morgentoilette beschäftigt, als sie Schritte hörte. Es wird das Zimmermädchen sein, vermutete sie und legte einen Hauch von Rouge auf ihre Wangen. Sie fand sich viel zu blaß. Aber war das ein Wunder nach allem, was sie durchmachen mußte? Sie bereute es bereits, sich auf dieses nervenzermürbende Spiel eingelassen zu haben. Beim besten Willen konnte sie Andrews Optimismus nicht teilen. Hatte er nicht fest mit dem baldigen Tod Lord Cunninghams gerechnet?
Gestern abend hatte der Lord so gar nicht den Eindruck gemacht, als wollte er Gottes schöne Welt verlassen. Er war munterer gewesen denn je. Cindy hörte das vermeintliche Zimmermädchen nebenan im Schlafzimmer rumoren. Als sie zufällig durch die Tür blickte, sah sie, wie sich das Mädchen an ihrer Handtasche zu schaffen machte. Cindy stürzte ins Zimmer und fand eine völlig fremde Person vor. »Was fällt Ihnen ein, in meinen Sachen herumzuschnüffeln, Sie diebische Elster!« fuhr sie das Mädchen an. »Ich hole mir nur mein Eigentum zurück!« Ungerührt nahm Charlet ihre Brieftasche aus der Tasche der Fremden und ihr Notizbuch. »Wer… sind Sie?« stammelte Cindy. »Wie kommen Sie in mein Zimmer?« »Kleiner Irrtum, das ist mein Zimmer«, entgegnete Charlet kalt. »Erkennen Sie mich nicht? Ich bin Charlet, Lord Cunninghams Tochter.« »Das ist doch… nicht möglich! Sie sind doch…« »Vielleicht ist es auch nur mein Geist«, spottete Charlet und machte einen drohenden Schritt auf sie zu. »Packen Sie auf der Stelle Ihren Kram zusammen und verschwinden Sie!« herrschte sie Cindy an. »Ihr falsches Spiel ist aus.« Cindy wich erschrocken an die Wand zurück und preßte den Rücken dagegen. »Wo ist Andrew?« »Machen Sie sich um Andrew keine Sorgen«, höhnte Charlet. »Er wird in Kürze hinter Schloß und Riegel sitzen, genau wie Sie! Sicher wird Andrew sich freuen, im Gefängnis nette Gesellschaft zu wissen. Verschwinden Sie endlich! In meinen Räumen haben Sie nichts zu suchen.« Charlet nahm Cindys Reisetasche, trat damit auf den Balkon und warf sie nach unten. Sie lachte in sich hinein, als sie sah, wie das
Mädchen sich in aller Eile ihren Mantel nahm, die Tasche an sich raffte und aus dem Zimmer stürzte. Doch weit kam Cindy nicht. Bereits auf dem Flur wurde sie von zwei kräftigen Polizistinnen in Empfang genommen. »Andrew!« schrie sie auf und versuchte sich verzweifelt gegen die harten Griffe zu wehren. »Andrew, hilf mir doch!« Charlet eilte ans Flurfenster. Voller Genugtuung sah sie zu, wie man ihr Double in den Polizeiwagen zerrte. Eine Polizistin holte noch ihre Tasche und warf sie auf den Rücksitz. Der Wagen brauste los. Charlet wartete, bis er hinter der Wegbiegung verschwunden war. Lächelnd ging sie ins Eßzimmer, wo ihr Vater bereits mit dem Frühstück auf sie wartete. »Sie ist fort, Dad!« sagte sie und küßte ihm liebevoll die Wange. »Leider hatte sie keine Zeit mehr, sich von dir zu verabschieden.« Lord Cunningham schmunzelte. »Ich werde es überleben! Setz dich, mein Kind, und laß dir den Tee schmecken. Ich hoffe, Steven wird bald zurück sein und uns mitteilen, daß die Aktion an der Klosterruine ebenso erfolgreich verlaufen ist.« »Andrew kann nicht entkommen. Es ist unmöglich«, sagte Charlet fest. »Falls er versuchen sollte, durch den unterirdischen Gang zu entfliehen, wird er von den Polizisten in Empfang genommen. Bald wird er es am eigenen Leibe spüren können, wie es ist, wenn man eingesperrt wird.« »Wir haben Steven viel zu verdanken«, sagte ihr Vater ernst. »Niemand wäre Andrew auf die Schliche gekommen, wenn Steven nicht gewesen wäre.« »Auf Steven ist Verlaß«, bestätigte Charlet. »Er würde mich niemals im Stich lassen.« »Steven ist mir sehr sympathisch.« Lord Cunningham lächelte. »Auf jeden Fall sympathischer als dieser Schuft Andrew. Ihm ging es immer nur um mein Vermögen.
Wahrscheinlich hat er auch bei dem Unfall meiner Frau und Alain seine Hände im Spiel gehabt. Warum hätten sonst die Bremsen versagt? Es war uns allen unerklärlich. Nach allem, was er dir angetan hat, traue ich ihm das Schlimmste zu.« Charlet blickte ihn liebevoll an. »Ich hätte Alain so gern kennengelernt. Bestimmt hätte ich mich gut mit ihm verstanden.« »Ich hatte immer gehofft, du würdest einmal nach Snowton Hall kommen«, sagte er leise. »Jetzt bedaure ich es, daß ich Amanda nie um deinen Besuch gebeten habe. Sie hätte mir die Bitte bestimmt nicht abgeschlagen.« Charlet zuckte zusammen, als die Standuhr mit vollem Glockenklang die zehnte Stunde schlug. »So spät schon? Müßte Steven nicht längst zurück sein?« »Sicher wird er gleich kommen.« Lord Cunningham nahm tröstend ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, Charlet! Steven ist ja nicht allein. Es wird schon alles gutgehen.« »Das hoffe ich!« Charlet stieß einen tiefen Seufzer aus. Ganz beruhigt würde sie erst sein, wenn Steven wieder bei ihr war. Sie hätte ihn gern begleitet, doch das hatte er strikt abgelehnt. Seiner Ansicht nach hatte sie genug Aufregungen mitgemacht und brauchte jetzt erst mal Erholung von dem Psychostreß. Er wollte sie nicht dabeihaben, wenn man Andrew verhaftete.
*
Im gleichen Augenblick hatte Andrew den unterirdischen See erreicht. Er band sich Lederjacke und Schuhe auf den Rücken. Schaudernd neigte er sich über den dunklen Wasserspiegel. Er bildete sich ein, in der Tiefe etwas Helles schimmern zu sehen. Sekundenlang schloß er die Augen. Er spürte förmlich, wie
Charlet die kalten starren Hände nach ihm ausstreckte, um ihn in die Tiefe zu reißen. Als das Wasser plötzlich auf plätscherte, bemerkte er, wie eine Wasserratte dicht vor ihm auftauchte. In jähem Impuls packte er einen der herumliegenden Steine und warf damit auf das häßliche Tier, das blitzschnell verschwand. Reiß dich zusammen, befahl er sich. Mach endlich, daß du aus diesem verfluchten Gang hier herauskommst. Jede Minute ist kostbar. Er überwand seinen Schauder und warf sich in die eisigen Fluten. Das Wasser war so kalt, daß ihm der Atem stockte und er das entsetzliche Gefühl hatte, seine Glieder würden vor Kälte erstarren. Seine Kleidung sog sich voll Wasser. Die Last auf seinem Rücken schien schwerer zu werden. Die wenigen Minuten, die er brauchte, den See zu durchschwimmen, kamen ihm endlos vor. Das Ufer, das so nah war, schien immer wieder tückisch zurückzuweichen. Als er auf Händen und Füßen den schlammigen Ufergrund hochkroch, rutschte er aus und fiel wieder ins Wasser. Er keuchte in ohnmächtigem Zorn. Dann versuchte er es noch einmal. Naß und schmutzig gelang es ihm endlich, festen Boden zu erreichen. Er hätte vor Zorn heulen können, als er feststellen mußte, daß Lederjacke und Schuhe ebenfalls von dem übelriechenden Wasser durchtränkt waren. Vor Kälte zitternd, schlüpfte er in die nassen Schuhe. Die Jacke ließ er liegen. Sie würde ihn doch mehr behindern als schützen. Jetzt hatte er es ja gleich geschafft. Der Gang wurde bereits eine Spur heller. Er hörte das Donnern der Brandung bereits ganz nah. Ein wütender Sturm warf sich ihm entgegen, als er sich durch das Gestrüpp auf die Plattform gezwängt hatte. Unter ihm tobte die See. Es würde besser sein, nicht hinunterzusehen.
Schwindelfrei war er noch nie gewesen. Der kalte Sturm drang ihm bis auf die Haut. Er schlotterte richtig vor Kälte, die durch die nasse Kleidung noch unangenehmer wurde. Er tastete sich an der Felswand entlang und vermied es, dabei nach unten zu schauen. Der Pfad hier war schmal und schlüpfrig. Obwohl er vor Ungeduld brannte, endlich die Ruine zu erreichen, um seine nasse Kleidung auszuziehen, mußte er vorsichtig sein, denn jeder falsche Schritt bedeutete Gefahr. Schritt für Schritt kämpfte er sich weiter. Als die Felsklippen einen Bogen beschrieben, packte ihn der Sturm von vorn. Er zog den Kopf zwischen die Schultern. Nur noch wenige Meter, und du hast es geschafft, sprach er sich selbst Mut zu, als plötzlich dicht vor ihm mit zornigem Kreischen eine Möwe aufflatterte. Erschrocken fuhr er zurück und verlor den Halt. Verzweifelt ruderte er mit den Armen. Doch vergebens. Seine Hände griffen ins Leere. Er stieß einen gepeinigten Schrei aus, als er stürzte. »Oh, mein Gott!« flüsterte Steven entsetzt. Von seinem Versteck aus hatte er alles beobachtet. »Wir müssen ihn retten!« schrie er dem Polizeisergeanten zu, der neben ihm war. Der Polizist blickte schaudernd in die Tiefe, wo die Wellen den reinsten Höllentanz vollführten. »Da kommt jede Hilfe zu spät«, sagte er fröstelnd. »Bei diesem Sturm ist es unmöglich, nach ihm zu suchen. Wir müssen warten, bis der Sturm abgeflaut ist. Ich darf meine Männer nicht unnötig in Gefahr bringen.« Per Polizeifunk wurde die Rettungswacht alarmiert. Es wurde nichts unversucht gelassen, dem Verunglückten zu helfen. Andrew Cunningham blieb für immer verschwunden. Die See gab ihr Opfer nicht wieder her.
*
Ungeduldig ging Charlet auf dem Krankenhausflur auf und ab. Ihre rotbraunen Locken harmonierten im Ton zu dem Pelzkragen des warmen Winterkostüms. Die gefütterten grauen Wildlederstiefel entsprachen der diesjährigen Mode. Endlich sah sie die schmale, hohe Gestalt ihres Vaters am Ende des Flurs auftauchen. Sie eilte ihm entgegen und nahm seinen Arm. »Alles okay, Daddy?« fragte sie voller Spannung. »Was hat der Arzt gesagt?« »Er war sehr zufrieden mit mir«, schmunzelte der Lord. »Ich habe es geschafft, Charlet! Ich bin über den Berg, wie man so schön sagt. Dr. Baker ist der Ansicht, mit meinem Herzen könnte ich hundert Jahre alt werden.« »Du bist ja auch noch viel zu jung zum Sterben.« Charlet strahlte ihn glücklich an. »Ich würde es auch sehr rücksichtslos von dir finden, mich gleich, nachdem ich dich wiedergefunden habe, wieder zu verlassen. Außerdem wirst du noch dringend gebraucht. Steven und ich sind noch viel zu unerfahren, Snowton Hall allein weiterzuführen. Ohne dich würden wir das nie schaffen.« »Wir werden es gemeinsam schaffen«, sagte Lord Cunningham zuversichtlich. »Charlet, ich bin so froh, daß du dich entschlossen hast, hierzubleiben, zusammen mit Steven. Ich kann nur hoffen, daß ihr Los Angeles und die Sonne Kaliforniens niemals vermissen werdet.« »Unsere Zukunft ist hier, Dad, das weiß auch Steven«, erklärte Charlet fest. »Ich bin eine Cunningham und gehöre nach Snowton Hall. Steven hat sich bereit erklärt, bei unserer
Hochzeit den Namen Cunningham anzunehmen.« Charlet lachte. »Er hat behauptet, er würde mir sogar bis ans Ende der Welt folgen, falls ich das von ihm verlangen würde.« Auf dem Parkplatz wartete der brandneue rote Wagen, den Lord Cunningham seiner Tochter geschenkt hatte. »Denk an den Linksverkehr!« ermahnte er Charlet, als er auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Ich werde schon aufpassen!« Stolz setzte sich Charlet hinters Steuer. Der schnittige Sportwagen war mit ihrem früheren bescheidenen Gebrauchtwagen nicht zu vergleichen. »Was ist eigentlich aus dem Verwachsenen geworden, der mich bewacht hat?« erkundigte sich Charlet. »Man hat ihn in eine Nervenheilanstalt eingewiesen.« Ein Ausdruck von Kälte trat in die Augen ihres Vaters. »Der arme Mann war ja weiter nichts als ein willenloses Geschöpf in den Händen Andrews, genau wie diese Schauspielerin Cindy Frazer. Ich möchte nicht wissen, mit welchen Versprechungen er dieses junge Mädchen dazu gebracht hat, deine Rolle zu übernehmen. Andrews ganzer Plan beruhte ja auf meinem plötzlichen Tod. Mit Sicherheit hat er vorgehabt, sich ins Ausland abzusetzen.« »Ich hoffe, in einer Woche meinen Paß mit dem richtigen Foto zurückzubekommen«, sagte Charlet. »Es war eine ganz schöne Lauferei für mich. Auch in England ist der Amtsschimmel nur schwer in Trab zu bringen.« »Es wird höchste Zeit, daß sich unser Leben wieder normalisiert. Aufregungen haben wir genug gehabt. Wir können von Glück sagen, daß du alles so gut überstanden hast.« Charlet schwieg. Sie litt noch immer unter Alpträumen. »Amanda und ihr Gatte haben fest versprochen, zu eurer Hochzeit im Januar zu kommen«, erzählte ihr Cunningham. »Es soll ein großes Fest mit über zweihundert Gästen werden.
Bei dieser Gelegenheit könnt ihr in die Gesellschaft eingeführt werden und neue Kontakte knüpfen. Sicher werdet ihr euch bald einen netten Bekanntenkreis aufgebaut haben.« Am Nachmittag wurde der Lord von Sam Bellows persönlich aufgesucht, der ihm einige hohe Schuldscheine vorlegte, die auf Andrew Cunninghams Namen lauteten. »Leider kann ich Ihren Neffen nicht mehr belangen!« murrte Sam. »Er hat sich ja durch seinen Tod jeder Verantwortung entzogen. Wie ich gehört habe, ist seine Leiche bis heute nicht gefunden worden. Doch es steht ja wohl fest, daß er nicht mehr lebt, oder?« Lord Cunningham bestätigte das. »Wir haben mehrere Zeugen dafür.« Kopfschüttelnd blätterte er die Schuldscheine durch, die sich auf eine beträchtliche Geldsumme beliefen. Dann blickte er Bellows scharf an. »Finden Sie es richtig, junge Menschen zu so hohen Wetten zu verführen?« Sam hob befremdet die buschigen Brauen. »Das ist mein Job. Es wird ja niemand gezwungen zu wetten. Ihr Neffe hat mich immer wieder mit der Bezahlung seiner Schulden vertröstet. Er hoffte wohl auf eine größere Summe durch eine lukrative Heirat. Sind Sie nicht sein nächster Verwandter, Sir?« »Ich glaube nicht, daß ich nach dem Gesetz für die Schulden meines Neffen aufkommen muß«, sagte Lord Cunningham streng. »Allerdings paßt es mir nicht, daß ein Cunningham Schulden hat. Sie werden Ihr Geld bekommen.« Lord Cunningham war froh, diese unangenehme Sache bereinigt zu haben. Auf den Namen Cunningham durfte kein Schatten fallen. Andrews verbrecherische Aktivitäten hatten schon Kreise genug gezogen. Tagelang hatten Leute von der Presse Snowton Hall regelrecht belagert, um genaue Informationen über die schrecklichen Ereignisse aus erster Hand zu erhalten.
Lord Cunningham hatte bereitwillig ausgesagt. Er hatte ja nichts zu verbergen. Mit der Zeit würden sich die Gemüter schon beruhigen, hoffte er. Eines Tages würde Gras über die Sache gewachsen und Andrew vergessen sein. Lord Cunningham trat ans Fenster und sah, wie Steven zu Charlet in ihr Auto stieg. »Wir fahren zur Ruine!« bestimmte Steven. »Wir müssen endlich deine restlichen Sachen von dort abholen.« »Kannst du nicht allein fahren?« fragte Charlet fröstelnd. »Nein, Charlet!« Er blickte sie fest an. »Es ist wichtig für dich zu sehen, daß dir von dort keine Gefahr mehr droht. Willst du dein Leben lang unter Alpträumen leiden? Erst wenn du es geschafft hast, dich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen, wirst du auch innerlich wieder ruhiger werden.« Die dunklen Steine der Ruinen von Saint George rückten näher. Charlet umklammerte fest Stevens Hand, als sie zu Fuß die Anhöhe hinaufstiegen. Der Ort bot ein Bild der Verwüstung. Die Tür lag zersplittert am Boden, und die Fensterläden der Halle klapperten im Wind. In der Halle war all der Plunder aufgetürmt, den Jerry in seinem Zimmer gehortet hatte. Steven knipste die Stablampe an, als sie in die Katakomben hinabstiegen. Strom gab es keinen mehr. Andrews geniale Anlage war systematisch zerstört worden, damit sie niemand mehr für unlautere Zwecke benutzen konnte. Charlet atmete auf, als sie feststellte, daß die eiserne Tür zu ihrem ehemaligen Gefängnis aus den Angeln gehoben worden war. Trotzdem zögerte sie noch, den Raum zu betreten, in dem sie so viele qualvolle Stunden der Einsamkeit verbracht hatte. »Komm nur!« Steven lächelte ihr aufmunternd zu und nahm ihren Arm. »Man hat die Falltür zugemauert. Niemand kann
mehr in die Katakomben gelangen und den Frieden der Toten stören.« »Ich habe auch nicht das geringste Verlangen, noch einmal dort hinunter zu gehen«, sagte Charlet schaudernd. Unfähig, auch nur eine Hand zu rühren, sah sie zu, wie Steven ihre Habseligkeiten zusammenpackte und in einer Reisetasche verstaute. »Der Ritter hat auch seinen Geist aufgegeben.« Charlet wies auf die umgestürzte Ritterrüstung, die jetzt nicht mehr war als ein Haufen Blech. »Die Bücher müssen wir unbedingt mitnehmen, Steven. Sie sind sehr interessant, weil sie Auskunft geben über die Geschichte des früheren Klosters.« Steven nickte und legte die Bücher in die Reisetasche. »Alles andere kommt auf den Müll«, bestimmte er und blickte sich um. »Ich glaube, wir haben jetzt alles. Laß uns gehen. Dies ist nicht gerade in Ort, der zu längerem Aufenthalt einlädt.« Charlet blickte sich um. »Es war trotzdem gut, daß ich jetzt hier war, zusammen mit dir. Ich glaube, ich werde jetzt nicht mehr in meinen Träumen von dem Gedanken verfolgt werden, hier eingesperrt zu sein. Es gibt keine Tür mehr, die diesen Raum verschließen könnte.« Während Steven die Sachen im Wagen verstaute, wanderte Charlet durch die Ruinen, in denen kaum noch ein Stein auf dem anderen lag. Stellenweise wurden die alten Steine vom Unkraut überwuchert, ein lebendiger Beweis dafür, daß das Leben weiterging. Wie unter einem geheimen Zwang neigte sie sich über die Felsenküste. Sie sah, wie die Gischt der Wellen gierig an den Felsen leckte, und plötzlich glaubte sie, aus der Tiefe ein Stöhnen zu vernehmen. Es war ihr, als streckten sich bleiche Hände nach ihr aus, um sie herabzuziehen. Andrew, dachte sie schaudernd. Er ist tot, aber sein Gesicht ist noch lebendig und ruft nach mir. Erzählt man sich nicht,
daß Menschen, die eines gewaltsamen Todes sterben, auch im Grab keine Ruhe finden? Wird mich der Gedanke an Andrew und seine zerstörerische Macht ein Leben lang verfolgen? Sie schrak zusammen, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Im ersten Moment glaubte sie, es wäre Andrew, doch dann sah sie Steven, der sie behutsam an sich zog. »Denk nicht mehr daran, Charlet!« Er küßte sie zärtlich auf die Wange. »Wir haben keine Zeit, Hirngespinsten nachzuhängen. Wir haben genug mit unserer Zukunft zu tun.« »Das haben wir!« Charlet nahm seinen Arm. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte sie. Steven war bei ihr. Sie war nicht länger allein. Sie würden gemeinsam ihre Zukunft planen, ein Leben ohne Alpträume und Angst. Mit der Zeit würde die Erinnerung an Andrew verblassen, und in den Ruinen von Saint George würden wilde Blumen blühen. Vielleicht würden sie eines Tages mit ihren Kindern hierherkommen und die Blumen zu Sträußen winden, um sie ins Meer zu werfen und damit all jener zu gedenken, die auf dem Grund der See ihre ewige Ruhe gefunden hatten.
ENDE