Freder van Holk Gold in den Katakomben
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Freder van Holk Gold in den Katakomben
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Neu bearbeitet von Heinz Reck Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt Agentur Transgalaxis Titelbild: Nikolai Lutohin Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Vertrieb : Erich Pabel Verlag KG Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300 A-5081 Anif Abonnements und Einzelbestellungen an PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT, Telefon (0 72 22) 13 - 2 41 NACHDRUCKDIENST : Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024 Printed in Germany August 1980 Scan by Brrazo 04/2006
1. Was macht man schon, wenn man in Lissabon ist? Man schlendert durch den Hafen, sieht sich einige Sehenswürdigkeiten an, auf deren Anblick man auch hätte verzichten können, und schließlich setzt man sich in ein Café oder in eine Hotelhalle und schlägt sich die Zeit tot, weil sie auf andere Weise nicht vergehen will. Bei diesem Programmpunkt waren Jack Gorm und George Macroft angelangt, nachdem sie die vorhergehenden zu allseitiger Zufriedenheit erledigt hatten. Sie saßen in der Halle ihres Hotels, streckten die Beine von sich und betrachteten mehr oder weniger interessiert ihre Umgebung. Sie hatten augenblicklich Freizeit. Die drei Flugzeuge standen draußen auf dem Flugplatz in einem Hangar, den sie gemietet hatten. Zwar wußte niemand um die Ladung der Flugzeuge, und es war kaum anzunehmen, daß sich irgendwelche Interessenten einfinden würden, aber um nichts zu vernachlässigen, hielten stets zwei Mann Wache. Die anderen schliefen oder bummelten bis sie zur Ablösung an der Reihe waren. Seit zwei Tagen waren sie in Lissabon und warteten auf Sun Koh. Hoffentlich dauerte es nicht gar zu lange, bis er kam, sonst saßen sie mit den Millionen
in Gold, Edelsteinen und Perlen, die die Flugzeuge bargen, hier fest. George Macroft stieß seinen Freund unauffällig an. »Augen links.« Gorm drehte den Kopf. »Hm, nicht schlecht. Vater und Tochter.« »Mann«, entrüstete sich Macroft, »nicht schlecht? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Das ist doch ein Bild von einem Mädchen.« Jack Gorm runzelte die Stirn. »Sie setzen sich auch noch an den Nebentisch. Tu mir den Gefallen und dreh dich herum. Das fehlte gerade noch, daß du dich hier in irgendeine Larve verschießt.« Macroft setzte sich herum, aber so, daß er das junge Mädchen nun erst recht sehen konnte. Seine Begeisterung war nicht ohne Berechtigung. Die junge Dame war vielleicht keine ausgesprochene Schönheit, aber sie war zumindest sehr hübsch. »Bestimmt eine Fremde«, sinnierte Macroft. »Ob sie wohl hier im Hotel wohnen?« »Kannst ja mal fragen«, schlug Gorm boshaft vor. »Der Alte sieht ganz so aus, als würde er dir mit seinem Spazierstock Bescheid geben.« »Ich schätze auf Engländer.« Jack Gorm machte eine bezeichnende Bewegung zur Stirn. »Ich schätze auf Übergeschnapptheit – bei dir nämlich. Wir haben wahrhaftig mehr zu tun, als 6
hier herumzuschwärmen. Komm, gehen wir.« »Ich denke nicht daran«, sagte Macroft starrköpfig. »Laß mir doch meinen Spaß. So was Hübsches sieht man nicht alle Tage.« »Wüstling«, murmelte der andere. Vater und Tochter blieben etwa eine halbe Stunde lang am Nebentisch sitzen. Sie unterhielten sich miteinander, aber leider so leise, daß der wißbegierige Macroft nichts auffangen konnte. Der Vater, wenn er es überhaupt war, wandte den beiden Freunden den Rücken zu und hatte sie wohl überhaupt noch nicht bemerkt. Der Tochter aber entging jedenfalls nicht, daß sie fast ununterbrochen angestarrt wurde. Ziemlich unvermutet erhob sich ihr Begleiter, gab der jungen Dame die Hand und verließ die Halle. Bei dieser Gelegenheit hörte man ganz deutlich: »Auf Wiedersehen, Dad.« »Also doch Vater und Tochter«, sagte Macroft. »Ein sehr vernünftiger Herr. Sehr vernünftig, daß er sein Töchterlein ein bißchen allein läßt.« »Man sollte solche unverantwortlichen Väter in die Erziehungsanstalt stecken«, meinte Gorm wenig freundlich. Die junge Dame hielt sich nicht mehr lange auf. Zehn Minuten nach dem Weggang ihres Vaters stand sie ebenfalls auf und schritt hinaus. Im Nu war Macroft auf den Beinen. Jack Gorm wollte ihn zurückhalten, aber dazu hätten zehn Mann gehört. 7
Wer in seinem Leben schon einmal »nachgestiegen« ist, der weiß genau, wie Macroft jetzt zumute war. Es gab nur einen Gedanken und eine Überlegung in ihm: Wie mache ich mich mit ihr bekannt? Tausend Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf, die allesamt so unsinnig und so undurchführbar waren, daß er sie selbst trotz seines offenbar geschwächten Geisteszustandes als unbrauchbar verwarf. Doch da griff ein gütiges Geschick ein. Mochte nun ein Obstkern, ein Stück Schale oder sonst etwas auf dem Pflaster gelegen haben, jedenfalls glitt der eine Fuß des jungen Mädchens plötzlich weg. Sie schrie leise auf und wäre gefallen, wenn nicht Macroft geistesgegenwärtig die Arme vorgestreckt und sie aufgefangen hätte. »Oh!« »Es ist Ihnen hoffentlich nichts geschehen?« »Nein. Ich glaube nur, ich habe mir den Fuß etwas vertreten.« »Oh, das tut mir leid.« »Ah, Sie sind das?« Sie erkannte jetzt erst ihren Helfer und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß er sie noch immer halb umschlungen hielt. Mit sanfter Energie machte sie sich frei, während ihr gleichzeitig die Röte ins Gesicht stieg. »Ich danke Ihnen vielmals, Mister …« 8
»Macroft«, sagte der junge Mann schnell. Er sah allerdings seine Hoffnung, ihren Namen zu erfahren, getäuscht. »Können Sie gehen?« erkundigte er sich. »Ich glaube, ja.« Sie versuchte einen Schritt, knickte aber sofort wieder ein. Mit einem Schmerzensruf gab sie es auf. »Strengen Sie den Fuß nicht unnötig an«, beschwor Macroft. »Ich rufe ein Taxi.« »Ich wäre Ihnen sehr verbunden.« Eine Minute später hielt am Rand des Bürgersteiges ein Wagen an. Das Mädchen, das sich wohl oder übel für die paar Schritte auf ihren Helfer stützen mußte, setzte sich hinein und gab dem Fahrer eine Adresse an. »Sie werden beim Aussteigen Schwierigkeiten haben«, prophezeite Macroft voll Besorgnis und zugleich mit einer zwar unausgesprochenen, aber trotzdem unverkennbaren Bitte. Sie lächelte zum erstenmal, ein bezauberndes Lächeln. Macroft war entzückt. »Ich werde mich auf den Chauffeur stützen. Aber – wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich begleiten würden.« »Ich kann mir nichts Angenehmeres denken«, gestand George freimütig. Der Weg führte über die Stadt hinaus. Der Wagen hielt vor einem villenartigen Gebäude, das ein Stück 9
von der Straße zurück im Park lag. Der Chauffeur erhielt den Fahrpreis und ein Trinkgeld und fuhr davon, während seine beiden Fahrgäste noch draußen auf der Straße standen. »Da Sie nun einmal bis hierher gekommen sind, werden Sie mich wohl hineinbegleiten müssen«, sagte sie. George Macroft bot ihr statt aller Antwort seinen Arm. Am liebsten hätte er sie getragen, aber das war bei der Kürze der Bekanntschaft doch wohl nicht angebracht. Der Fuß schien sich schon erheblich gebessert zu haben, denn sie hielt leidlich Schritt und stützte sich auch nicht übermäßig auf ihren Helfer. So erreichten sie leicht die Haustür. Das Mädchen drückte sie auf. Seite an Seite betraten sie eine Vorhalle, deren gedämpftes Licht nach dem blendenden Sonnenschein, der auf den Straßen lag, fast wie Dunkelheit wirkte. George Macroft konnte nicht viel vor sich sehen. Er hörte hinter sich die Haustür zuschlagen. Gleichzeitig kam ein Geräusch von der Seite. Und dann spürte er einen furchtbaren Schlag auf den Hinterkopf. Vor seinen Augen tanzten einen Augenblick lang glühende Sterne und Streifen, sein Schädel schien sich zum Luftballon entwickeln zu wollen, und schließlich stürzte er in die tiefe Nacht der Bewußtlosigkeit hinab, während sein Körper zusammenbrach. 10
* Wenn man auf den Spuren der Liebe zu wandeln glaubte und sieht nachher ein, daß man nur seine eigene Schwachköpfigkeit zur Schau getragen hat, so ist das eine bittere Erkenntnis. Sie kommt einen besonders hart an, wenn es gleichzeitig im Schädel hohl brummt, wie in einer ausgebeulten Gießkanne und wenn man außerdem vor sich ein stark vergittertes Fenster sieht. Mit diesen Worten ist der Zustand George Macrofts völlig umrissen. Die Morgensonne lag über dem Park. Er riß das Fenster auf und preßte sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe. Die Luft war köstlich, und der grüne Park war eine Augenweide. Jede Gefahr wurde gewissermaßen zur Unwahrscheinlichkeit. Viel mehr als Bäume und Büsche, Rasen, ein Rondell und verschiedene kiesbestreute Wege war freilich nicht zu sehen. Auf die Dauer begann er sich zu langweilen. Macroft wollte sich eben zurückziehen, als er Schritte nahen hörte. Der Ankömmling bog um die Ecke. Sie war es. Sie? Mit gesenktem Kopf ging sie auf das Rondell zu. 11
Sie trug ein anderes Kleid als gestern, ihre ganze Erscheinung wirkte müde und traurig. Ihr Streich schien ihr nicht übermäßig gut bekommen zu sein. Macroft stellte es mit Genugtuung fest, wenn ihm auch das Herz irgendwie weh tat. Und dann stieg der Groll in ihm hoch. Das war das verräterische Weib, das ihn hierhergelockt hatte. Ein Glück, daß er hinter Gittern saß, sonst hätte sie was erleben können. »Hallo«, schrie er unfreundlich hinaus, »wunderbares Wetter heute, nicht wahr?« Sie fuhr herum. Ihr Gesicht war erschreckend bleich und ihre Augen blickten weit und groß. »Sie«, sagte sie tonlos. Macroft hörte es trotzdem. Erstens stand sie nur wenige Meter vom Haus entfernt und zweitens lag sein Zimmer im Hochparterre, so daß er sich einbildete, ihren Blondkopf mit der Hand greifen und schütteln zu können. »Jawohl, ich«, sagte er gehässig. »Muß von dort aus ein schönes Bild sein, wenn Sie mich so hinter Gittern sehen. Freuen Sie sich doch, Sie haben Ihren Zweck erreicht, und ich bin wie ein Idiot in die aufgestellte Falle hineingelaufen.« Sie rang nach Worten. »Ich – ich …« »Ja, Sie!« redete er weiter. »Sie haben mich hierhergelockt. Aber wenn Sie glauben, daß Sie von mir etwas erfahren können, haben Sie sich getäuscht.« Sie warf wie im verletzten Stolz den Kopf zurück 12
und erwiderte mit fester Stimme, während sie näherkam: »Ich wünsche nichts von Ihnen zu erfahren. – Hätte ich geahnt, daß Derartiges Sie hier erwartet, hätte ich Sie niemals gebeten, mich zu begleiten.« Er lachte höhnisch auf. »Natürlich sind Sie vollkommen unschuldig. Das habe ich mir bald gedacht, obgleich ich nicht einsehen kann, warum Sie mich auch jetzt noch zum Narren halten wollen.« »Sie verdächtigen mich zu unrecht – ich …« In ihrer Stimme klang unverkennbar ein Flehen. »Das ist ja geradezu rührend. Ist das Ihr Haus oder nicht?« Sie senkte den Kopf. »Ja.« Sie stand jetzt dicht unter ihm, als sie mit bebenden Lippen sagte: »Ich bin selbst eine Gefangene.« Er lachte auf. »Für wie dumm müssen Sie mich halten? Laufen Sie dort draußen frei herum oder nicht? Sitze ich hinter Gittern, oder bilde ich mir das nur ein?« »Ich – ich bin doch eine Gefangene. Aber ich kann Ihnen das nicht erklären.« »Das glaube ich, daß Ihnen das schwerfallen würde«, sagte er hart. Aber dann traf ihn ein so merkwürdiger Blick aus ihren Augen, daß er erheblich ruhiger zusetzte: »Seien Sie doch vernünftig. Sie können mir nicht Dinge erzählen, deren Unwahrhaf13
tigkeit auf der Hand liegt. Und sagen Sie mir doch wenigstens, was das alles bedeuten soll und warum ich hier festgehalten werde.« »Ich kann es Ihnen nicht sagen«, antwortete sie gequält. »Ich weiß selbst nichts Genaues.« »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich komme mir vor, als sei ich in ein Irrenhaus geraten.« Auf ihrem Gesicht erschien ein grübelnder Ausdruck. Nach einer Weile sagte sie leise: »Ein Irrenhaus? Ich fürchte, es ist noch Schlimmeres.« »Was fürchten Sie?« drängte er. Sie zuckte zusammen und lauschte. »Man kommt.« Mit schnellen Schritten ging sie davon, wich dem Vierschrötigen aus, der ihr entgegenkam, und verschwand um die Ecke. Macroft sah sie in den nächsten Stunden nicht wieder, obwohl er fast dauernd am Fenster lag. Man brachte ihm das Frühstück, aber es gelang ihm nicht, ein Gespräch anzuknüpfen. Gegen Mittag öffnete sich abermals die Tür seiner Zelle. Ein Mann trat ein, den er bisher nicht gesehen hatte. Er war groß und schlank. Seine Kleidung war die eines Gentleman. Sein Gesicht war nicht unangenehm, nur seine Lippen wirkten zu schmal und zu hart, und seine Augen waren kalt und stechend. Er grüßte sehr höflich und stellte sich als Estobal Riquez vor. 14
»Ich hoffe, daß Sie über nichts zu klagen haben«, leitete er das Gespräch verbindlich ein. Macroft hatte wenig Lust, schöne Worte zu wechseln und erwiderte deshalb ziemlich grob: »Setzen Sie sich mal hier herein bei verschlossener Tür und bei vergittertem Fenster, dann wissen Sie genau, worüber zu klagen ist. Ich hoffe, daß Sie der Mann sind, der mir einige Auskünfte geben kann, besonders die, warum ich hier gefangen gehalten werde.« Der Portugiese deutete leichtes Bedauern an. »Oh, das braucht Sie nicht zu beunruhigen. Weiter nichts als eine taktische Notwendigkeit. Sprechen wir nicht mehr davon. Ihre Freunde werden zwar etwas beunruhigt sein, aber das ist der einzige Nachteil, den Sie haben.« Macroft horchte auf. »Meine Freunde? Sie scheinen sich ja über mich ziemlich unterrichtet zu haben.« »Nur aus allgemeiner Wißbegierde«, beruhigte Riquez sofort. »Es ist doch immerhin nicht alltäglich, wenn gleich drei solche wunderbaren Maschinen in Lissabon landen und so sorgfältig unter Bewachung gehalten werden.« Der junge Mann hob die Schultern und markierte Gleichgültigkeit. »Sie sind eben zu wertvoll, um jeden Neugierigen heranzulassen.« »Ist das der einzige Grund?« 15
Macroft verzichtete auf eine Antwort. Das schien den Portugiesen zu beunruhigen. Er begann zu drängen. »Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie mir einige Fragen beantworten. Sie sind hier in ein Spiel hineingeraten, bei dem es, so brutal es klingen mag, auf ein Menschenleben gar nicht so sehr ankommt.« »Sie dürfen sich Ihre Drohungen ruhig sparen«, murmelte Macroft verächtlich. Riquez wurde sehr kühl. »Ich drohe Ihnen nicht, ich will Ihnen nur die Lage andeuten. Sie werden mir zunächst einige Fragen beantworten.« Macroft zuckte mit den Schultern und schwieg. Riquez bemühte sich um etwas mehr Freundlichkeit. »Wozu wollen Sie mir Schwierigkeiten bereiten? Sie werden hier anständig behandelt. Und es ist sinnlos, mich für dumm zu halten. Sheppard verfügt über eine großartige Organisation und greift so leicht nicht daneben. Wenn er Anweisungen gibt, Ihre Flugzeuge sicherzustellen …« »Wer ist Sheppard?« »Keine Ahnung.« Riquez grinste. »Also bitte – was für eine Ladung haben Sie in den Flugzeugen?« »Grassamen.« »Machen Sie keine Witze«, riet Riquez gereizt. »Vielleicht sehen Sie selbst nach.« »Nun gut. Wenn Sheppard die Maschinen haben 16
will, bekommt er sie auch. Das aber nur nebenbei. Für mich handelt es sich darum, was Sie mit Miß Spedding zu tun haben.« »Nichts.« »Ach nein!« »Sie glauben aber auch gar nichts«, sagte Macroft trocken. »Wie wäre es, wenn Sie mich frei ließen?« Der Vierschrötige steckte nach kurzem Anklopfen den Kopf herein. »Telefon, Sir. Sehr dringend.« »Ich komme. Leben Sie einstweilen wohl. Vielleicht erwägen Sie, ob es nicht ratsam ist, Ihren Freunden einen vernünftigen Brief zu schreiben. Ich denke, daß ich später noch einmal Zeit haben werde.« Der Portugiese machte eine tadellose Verbeugung und ging hinaus. George Macroft ärgerte sich. Er wurde aus der Geschichte nicht klug. Seine Haft erschien ihm ebenso sinnlos wie das Gerede des Mannes. Die Stunden schlichen. Endlich, es dunkelte bereits, rührte sich der Schlüssel im Schloß wieder, unsicher und nervös, wie es ihm schien. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Tür endlich aufgerissen wurde. Er sprang mit einem Laut der Überraschung auf. Das Mädchen war es, Miß Spedding, wie sie genannt worden war. Sie winkte ihm und sagte hastig: 17
»Schnell, Sie müssen fort. Sie haben vielleicht nur einige Minuten, beeilen Sie sich.« Er war im Nu bei ihr und griff hart nach ihrem Handgelenk: »Ist das wieder ein Trick oder …« Sie verzog schmerzhaft das Gesicht. »Nein, nein. Der Weg ist frei, aber ich weiß nicht, wie lange.« Er spürte die Angst in ihr und sah sie prüfend an. Kopfschüttelnd meinte er: »Ich verstehe nicht das geringste. Erst locken Sie mich hierher …« »Ich habe Sie nicht hergelockt«, widersprach sie entschieden. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich selbst eine Gefangene bin.« »Dann kommen Sie also mit?« fragte er schnell. Ihre Miene zeigte qualvolle Abwehr. »Nein, ich kann nicht, ich muß hierbleiben.« Er lachte grimmig auf. »Warum?« Ihre Lippen begannen zu zittern. »Mein Vater… Ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären. Sie müssen fort, begreifen Sie doch.« Ihre Stimme wurde erregter, leidenschaftlicher und drängender: »Sie mißtrauen mir? Sie glauben, daß ich von dem Mann wußte, der Sie niederschlug? Das ist nicht wahr, ich schwöre, das ist nicht wahr. Ihre Feinde sind auch meine Feinde.« »Dann kommen Sie doch mit.« »Es geht nicht, ich gefährde das Leben meines Va18
ters. Gehen Sie, rauben Sie mir nicht die einzige Gelegenheit, wiedergutzumachen, was ich unglücklicherweise Ihnen gegenüber verschuldete. Seien Sie doch vernünftig und beeilen Sie sich.« Er faßte sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen. »Gut, ich gehe, weil ich nicht glauben will, daß hinter Ihrer Stirn verbrecherische Gedanken wohnen. Aber ich gehe nur, um an der Spitze der Polizei hierher zurückzukehren.« Sie schrie fast auf. »Das – das dürfen Sie nicht. Bitte, tun Sie es nicht, Sie schaden uns allen. Sie wissen ja nicht, um was es geht.« »Allerdings nicht«, sagte er bitter. »Bis jetzt habe ich mir eingebildet, es zu wissen, aber nun scheint meine Annahme falsch zu sein. Der Inhalt unserer Flugzeuge scheint gar nicht die Rolle zu spielen …« Sie sah ihn unverkennbar erstaunt an. »Ihre Flugzeuge? Davon weiß ich nichts. Sie sind doch bloß zufällig in die Sache hineingeraten. Kommen Sie.« Während er neben ihr herhastete, fragte er weiter: »Schnell, geben Sie mir einen Überblick. Um was dreht es sich?« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Erklärung würde zu lange dauern. Das eigentliche Streitobjekt ist das Mittelmeer.« 19
Er wollte stehenbleiben, aber sie zog ihn mit flehender Gebärde weiter. »Das Mittelmeer?« wiederholte er grenzenlos verblüfft. »Ich höre immer Mittelmeer.« »Sie hören richtig«, erwiderte sie mit einem winzigen Anflug von Heftigkeit. »Und nun gehen Sie diesen Parkweg entlang bis zu der rückwärtigen Pforte. Der Schlüssel wird von innen stecken, sonst müssen Sie über die Mauer klettern. Sie haben keine Zeit zu verlieren.« Sie standen dicht beieinander. Er griff nach ihren Händen. »Leben Sie wohl. Sie sind das merkwürdigste, aber auch das schönste Mädchen, das ich je kennengelernt habe. Ich werde Lissabon nicht verlassen, ohne Sie in Sicherheit zu wissen. Wir sehen uns wieder.« In ihrem Gesicht stand helles Rot, aber ihre Augen blieben gesenkt und ihre Lippen murmelten nur schwach: »Gehen Sie, ich bitte Sie.« Da drückte er ihr noch einmal fest die Hände und eilte davon. Die Pforte war verschlossen, aber es machte ihm keinerlei Schwierigkeiten, über die Mauer zu kommen. Daß er gesehen wurde, war nicht so leicht zu befürchten, da es mittlerweile völlig dunkel geworden war. Schnell schritt er den schmalen Weg hinunter. 20
Jetzt galt es vor allem, die Freunde aufzusuchen und sie über sein Schicksal zu beruhigen. Doch das Schicksal hatte es anders bestimmt. Als er um die Ecke bog, prallte er um ein Haar auf einen Mann, der eben vorsichtig herumlugen wollte. Sein Gesicht war nur undeutlich zu sehen, aber Macroft erkannte es trotzdem im Bruchteil einer Sekunde. Das war der Mann, der mit dem jungen Mädchen zusammen in der Hotelhalle gesessen hatte, das war ihr Vater. Mr. Spedding. Im nächsten Augenblick sprang er ihn an. 2. Das Telefon schrillte. John Wighton hob den Hörer ab und meldete sich. Von der anderen Seite kam eine gedämpfte Stimme: »Hier ist das Hospital zur Mutter Gottes. Bei uns ist ein jüngerer Mann eingeliefert worden. Er nennt sich George Macroft und verlangt dringend seine Freunde zu sprechen.« Wighton schrie förmlich in die Muschel hinein : »Ist er schwer verletzt? Wie geht’s ihm?« Matt und fast aufreizend ruhig kam die Antwort: »Sein Zustand läßt sich noch nicht endgültig beurteilen, doch empfehle ich Ihnen, bald zu kommen. Der 21
Patient sprach von drei Herren …« »Wir kommen sofort.« Einige kurze Worte, dann eilten die Freunde hinaus. Eine Viertelstunde später sprangen sie vor dem Hospital aus dem Wagen und liefen die breiten Steinstufen hinauf. Der Pförtner verwehrte ihnen zu dieser frühen Morgenstunde entschieden den Zutritt und erklärte, von nichts zu wissen. Nach zehn Minuten wußten die Freunde ganz genau, daß sie einem Täuschungsmanöver aufgesessen waren. »Meine Ahnung«, stöhnte Valmy. »Hoffentlich versuchen sie den gleichen Trick nicht auch mit Nexter und Carring.« »Das würde ihnen wohl nichts nützen. Die beiden verlassen ihre Wache nicht, und wenn gleich die Welt untergeht.« »Hast schon recht. Aber nun zurück. Zum Hotel?« »Ich denke. Wird nichts schaden, wenn wir uns die Geschichte besehen. Sollte ein Einbruch stattgefunden haben, so würde ich vorschlagen, die Polizei auf die Leute zu hetzen. Ein Grund ist ja dann vorhanden.« Der Anblick ihrer Zimmer entsprach ganz den Erwartungen, die sie gehegt hatten. Sie waren offenbar in höchster Eile durchsucht worden, und man hatte keine Zeit gehabt, wieder Ordnung zu schaffen. Ob 22
etwas gestohlen worden war, ließ sich nicht feststellen, aber es war auch unwesentlich. In den Zimmern befand sich nichts, worauf die Freunde nicht hätten verzichten können. Sie ließen den Geschäftsführer und einen Polizisten heraufkommen, damit der Tatbestand ordnungsgemäß aufgenommen wurde. Sie selbst fuhren durch den grauenden Morgen zum Polizeipräsidium. Der diensthabende Kommissar empfing sie mit mißvergnügter Miene, aber er hörte geduldig an, was Gorm sachlich und knapp berichtete. Dieser beschränkte sich auf die Entführung Macrofts, auf den vorgetäuschten Anruf und auf den Einbruch im Hotel. Der Beamte rief zunächst das Hotel an und führte ein kurzes Gespräch, dann begann er zu fragen. »Wie sah die Dame aus, mit der Ihr Freund fortging?« Gorm beschrieb sie, so gut er sie in Erinnerung hatte. Der Beamte nickte düster. »Ich habe es mir bald gedacht. Sie heißt Cora Spedding, zwanzig Jahre alt, ledig und seit gestern nachmittag verschwunden.« »Verschwunden? Ich dachte, sie hätte ihn fortgelockt?« Der Kommissar sah ihn scharf an. »Es gibt Leute, die gerade gegenteiliger Meinung waren.« 23
Gorm sprang entrüstet auf. »Soll das etwa heißen …« Der andere winkte unwirsch ab. »Regen Sie sich nicht auf, wir müssen mit allem rechnen. Leider wissen wir zu wenig, um klar zu sehen, aber auch zu viel, um an eine Kinderei zu glauben. Tatsache ist jedenfalls, daß uns vor wenigen Stunden ein Mr. Spedding anrief und uns dringend aufforderte, seine verschwundene Tochter zu suchen. Er gab die gleiche Personenbeschreibung wie Sie und meinte, er habe sie gestern nachmittag wohlbehalten in der Halle Ihres Hotels zurückgelassen. Dieses Gespräch wurde aus irgendeinem Grund plötzlich abgebrochen.« »Und Sie glauben …« »Ich glaube gar nichts. Vorhin rief der englische Konsul an. Ein Mr. Spedding habe sich unter seinen Schutz gestellt und ihn gebeten, Nachforschungen nach seiner verschwundenen Tochter anzustellen. Die Fahndungen müßten außerordentlich diskret und zugleich gewissenhaft betrieben werden, da sowohl die Gefahr bestände, daß sie getötet, als auch, daß sie außer Landes geschafft werde. Hatte gut reden. Die Leute sollten lieber besser auf ihre Töchter aufpassen. Das war aber noch nicht alles. Mr. Spedding hat in den letzten Tagen eine Reihe von Drohbriefen erhalten, die mit der Sache zusammenhingen. Ferner sei er gestern abend überfallen und verschleppt wor24
den. Ort unbekannt. Es sei ihm gelungen, infolge der Unaufmerksamkeit seines Wächters zu entfliehen. Man habe ihn jedoch verfolgt und wieder eingeholt, aber das Dazwischentreten eines Unbekannten, habe es ihm schließlich ermöglicht, sich seiner Verfolger zu entledigen.« »Haben Sie keinen Anhalt oder Verdacht, wer hinter dieser Angelegenheit stecken könnte?« »Verdacht? Nun, ich will Ihnen noch eins sagen. Vor einer Stunde noch war ich draußen im Hafenviertel. Dort lagen mitten auf der Straße zwei Leute mit Schüssen, die aus allernächster Nähe abgegeben worden waren. Ringsum sah es aus, als ob zwei Dutzend Männer gekämpft hätten. Selbstverständlich hatte niemand in der Umgebung etwas gesehen oder gehört, und ich weiß infolgedessen nicht, wer die beiden Leute erledigt hat. Ein gutes Werk hat er auf jeden Fall getan, denn das waren ein paar ganz üble Burschen. Das, was nun bei der Sache wichtig ist, ist der Umstand, daß die beiden zu den ›Schatten‹ gehörten.« »Schatten?« »Ja, die ›Schatten‹ sind eine berüchtigte Verbrecherbande, überhaupt d i e Bande von Lissabon. Und umsonst lagen nicht zwei von ihnen tot auf dem Pflaster. Die ›Schatten‹ sind in Bewegung, das steht zweifelsfrei fest. Und ich garantiere Ihnen, daß es da noch mehr Tote geben wird. Wenn Sie wegen der 25
Spedding-Sache tätig sind und wenn Ihr Freund da dummerweise hineingeraten ist, sieht es böse aus für ihn. Und auch für Sie, denn der Einbruch beweist ja wohl, daß man auch von Ihnen etwas will.« »Ganz meine Meinung«, erwiderte Jack Gorm. »Was mit diesem Spedding ist, verstehe ich nicht ganz, aber daß diese ›Schatten‹ von Lissabon Interesse an uns haben, scheint mir leicht begreiflich. Wir haben nämlich draußen auf dem Flugplatz drei Flugzeuge mit wertvoller Ladung stehen, deren Beraubung sich wohl lohnen würde. Weiß der Himmel, wie man davon erfahren hat.« Der Kommissar machte eine resignierende Handbewegung. »Die ›Schatten‹ haben ihre Leute überall, das ist das Scheußliche an ihnen. Will man zugreifen, wissen sie schon längst Bescheid. Ich kann Ihnen nicht die geringste Chance dafür geben, daß Ihr Besuch hier unbekannt bleibt. Und Ihre Flugzeuge? Nun, ich fürchte, man hat Sie der Sorge bereits enthoben, wie ich die Kerle kenne.« »Wir haben sie gut untergebracht, und zwei unserer Freunde halten Wache. Ganz so leicht wird es ihnen nicht fallen heranzukommen«, beschwichtigte der Amerikaner laut seine eigenen Bedenken. »Aber immerhin wäre es vielleicht kein Fehler, wenn Sie uns wenigstens noch für die kommende Nacht noch einige Leute zur Verfügung stellen würden. Bei Tag 26
läßt sich ja das Gelände leicht übersehen, aber bei Dunkelheit nicht.« »Ich stelle Ihnen ein halbes Dutzend Leute zur Verfügung. Sie werden sich heute abend bei Ihnen auf dem Flugplatz melden. Im übrigen wollen wir sehen, ob sich über den Aufenthalt Ihres Freundes etwas ermitteln läßt.« »Ich danke Ihnen, Herr Kommissar.« Die Freunde verabschiedeten sich und fuhren nun in schnellstem Tempo zum Flugplatz hinaus. Fast wider Erwarten war im Hangar alles in Ordnung. Nexter und Carring hatten allerdings einige Kleinigkeiten zu berichten. »Man wollte uns telefonisch fortlocken«, erzählte Carring, »aber der Trick ist ja schließlich uralt.« »Kein Hinderungsgrund«, warf Valmy etwas kleinlaut ein. »Wir sind jedenfalls hereingefallen.« »Ihr hattet auch nicht die Verantwortung und konntet euch das leisten«, fuhr Carring fort. »Bei uns war es jedenfalls ausgeschlossen, und wir merkten ja auch bald, daß man etwas plante. Sie arbeiteten draußen an der kleinen Tür herum, hörten aber auf, als ich ihnen mitteilte, daß ein Bauchschuß durchs Schlüsselloch hindurch eine höchst unangenehme Sache sei. Darauf erwarteten wir sie von oben her, und es hatte auch ganz den Anschein, als ob sie hinaufkraxelten, aber dann wurde es aus irgendeinem Grunde wieder ruhig. Wahrscheinlich hat man’s auf27
gegeben. Der Hangar ist ja ganz aus Stahl und eine kleine Festung für sich, an der sich die Leutchen schon die Zähne ausbeißen können. Jetzt haben sie überhaupt keine Chance mehr, wo wir zu fünft sind.« »Zu elft, wenn man uns die Polizei heute abend schickt.« Der Tag verging ohne die geringste Aufregung. Sie blieben alle im Hangar, wechselten sich in Schlafen und Wachen ab. Gelegentliches Anfragen bei der Polizeipräfektur ergaben nichts Neues. Es wurde dunkel. John Wighton stand vor der Stahltür, die in die großen elektrischen Schiebetore eingelassen war, und beobachtete sorgfältig die Umgebung. Vom Verwaltungsgebäude her kam ein Trupp Männer direkt auf ihn zu. Uniformknöpfe und Tressen blitzten auf. »Wer da?« rief ihnen Wighton zu, als sie bis auf zehn Meter herangekommen waren. »Polizei«, erwiderte beruhigend eine tiefe Stimme. »Wir kommen von der Präfektur, um hier die Wache zu übernehmen.« »Kommen Sie.« Es war ein halbes Dutzend Polizisten, die den erleuchteten Hangar betraten. Jack Gorm wandte sich an den, der die meisten Tressen auf dem Rock trug. »Es ist Ihnen gesagt worden, um was es sich hier handelt?« 28
»Jawohl. Es war allerdings von fünf Herren die Rede, die wir hier finden sollten.« Gorm deutete nach einem der Flugzeuge. »Einer schläft.« Die Antwort kam fast gemütlich, aber trotzdem noch überraschend genug. »So, dann nehmen Sie mal die Hände recht leise hoch, damit Sie ihn nicht aufwecken.« Erheblich weniger gemütlich wirkten die Pistolen, die auf einmal in den Händen der Polizisten lagen und deren Läufe sich in die Rippen der vier Freunde bohrten. Das kam so unerwartet, daß ihnen nichts weiter übrigblieb, als die Arme hochzuwerfen. Und es dauerte nicht lange, so trat auch Valmy, der in der Kabine geschlafen hatte, in der gleichen Haltung zu ihnen. Der Sergeant – oder was er darstellen sollte – feixte jetzt niederträchtig über das ganze Gesicht. »So meine Herren, jetzt sind wir alle hübsch beisammen. Ich schätze, daß unsere Amtshandlung in einer Viertelstunde erledigt sein wird. Dann lernen Sie auch die richtigen Polizisten kennen. Darf ich Sie bitten, jetzt zunächst zur Leibesvisitation vorzutreten?« Zähneknirschend trat John Wighton als erster vor. *
29
»Verdammt…« »Sachte, mein Freund.« »Sie brechen mir den Arm.« »Steigen Sie nur hübsch auf Ihre Zehenspitzen. So ist es schön. Hübsch leise, sonst tut’s weh. Und nun marsch, hinter die Büsche. Ich lege keinen Wert darauf, eine öffentliche Vorstellung zu geben.« George Macroft hielt die linke Hand auf der Schulter des Mannes. Seine Rechte bog dessen rechten Arm hinter dem Rücken nach oben, so daß der Engländer sich krampfhaft auf die Zehenspitzen reckte. So marschierten sie dicht hintereinander ein Stück vom Weg seitwärts bis hinter eine Gruppe von Büschen, in deren stockdunklen Schatten sie bestimmt niemand vom Weg her bemerken konnte. »Stop«, befahl Macroft, nachdem sie angelangt waren, »nun zeigen Sie erst mal Ihre Taschen. Ah, ein kleiner Selbstlader. Ausgezeichnet. Scheint alles zu sein. Jetzt dürfen Sie Ihren Arm herunternehmen und sich umdrehen, aber ich rate Ihnen, sich anständig zu benehmen, sonst haben Sie eine Kugel im Leib. Verstanden?« »Ich bin nicht irrsinnig«, knurrte der andere. »Schön, es sollte mir auch um Ihrer Tochter willen leid tun, wenn ich Ihnen schaden müßte. Sie hat mir gerade noch hier heraus geholfen und …« »Reden Sie von Cora?« fragte der Engländer mit unverkennbarer Bestürzung. 30
»Ich denke doch. Miß Cora Spedding ist Ihre Tochter, wenn ich nicht irre.« »Sie muß verrückt sein!« Macroft seufzte. »Kam mir leider auch so vor, obgleich ich sie für eine reizende junge Dame hielt. Aber eine leichte Geistesstörung …« »Halten Sie den Schnabel«, unterbrach Spedding grob. »Wenn ich auch in Ihrer Gewalt bin, so haben Sie doch nicht meine Tochter zu beschimpfen.« »Regen Sie sich nicht auf«, bat George kühl. »Für einen Gefangenen schwingen Sie reichlich dicke Töne. Jedenfalls kommt mir das ziemlich verrückt vor, wenn sie einen erst hierher lockt und dann so tut, als ob sie selber gefangen wäre, und mich schließlich wieder befreit. Und nun hören Sie mal hübsch zu …« »Einen Augenblick«, fuhr Spedding mit rauher Stimme dazwischen. »Sie erzählen da in einem Satz so merkwürdige Dinge, daß ich mir am liebsten an den Kopf greifen möchte. Aber ich fürchte, Sie können das falsch verstehen. Irrte ich mich oder sagten Sie wirklich, daß sich Cora in dem Haus dort befindet?« »Tja«, meinte der Amerikaner kritisch, »vor fünf Minuten war sie jedenfalls noch drin. Ich wollte sie mitnehmen, aber davon wollte sie nichts hören.« »Hätte ich das nur eher gewußt. Aber wer soll schon auf diesen verrückten Gedanken kommen.« 31
»Sie sprechen genauso komisch wie Ihr Töchterlein. Sie erzählte mir zum Beispiel, wenn sie mitkomme, dann gefährde sie das Leben ihres Vaters. Und dabei laufen Sie vergnügt in der Weltgeschichte herum.« Spedding räusperte sich. »Das ist wohl eine kühne Behauptung. Aber… Sie sagten, Cora habe Sie in das Haus gelockt und nun wieder befreit? Würden Sie mir das näher erläutern?« Macroft schüttelte den Kopf. »In dieser Geschichte scheint jeder ahnungslos zu sein, der eigentlich alles wissen müßte. Sie sind doch der Mann, der alles eingerührt hat. Aber wenn es Ihnen Spaß macht, will ich Ihnen noch mal erzählen, daß ich Ihrer Tochter folgte, als sie gestern die Hotelhalle verließ.« »Ah, das …« Macroft wartete, aber es kam keine weitere Äußerung. Er fuhr also fort: »Sie glitt scheinbar aus, ich war ihr behilflich und fuhr mit ihr zu diesem Haus. Als wir es betraten, probierte einer die Festigkeit meiner Schädeldecke aus. Ich fand mich hinter Gittern wieder. Außer einem verdrehten Gespräch mit einem gewissen Riquez fiel nichts Bemerkenswertes vor, bis vorhin Cora – Ihre Tochter, meine ich – meine Tür öffnete und mir empfahl, mich schleunigst zu verdrücken.« Aus dem Dunkel kam zunächst ein unbestimmter 32
Laut und schließlich eine etwas überraschende Frage: »Sagen Sie, wer sind Sie eigentlich?« »Ich heiße George Macroft und bin seit zwei Tagen mit fünf Freunden zusammen auf der Durchreise und hoffentlich bald wieder unterwegs.« »Verrückt«, murmelte Spedding. »Ist dieser Riquez, den Sie nannten, Ihr Freund oder Ihr Feind?« »Ich würde mir bessere Freunde aussuchen«, sagte Macroft. »Selbstverständlich ist er mein Feind, denn er ist es doch, der mich gefangen hat.« Speeding atmete auf. »Gut. Und was wollen Sie von mir?« Macroft lachte grimmig auf. »Allerhand, mein Lieber. Sie sind doch derjenige, der das Spiel in der Hand hat. Jetzt schießen Sie mal gefälligst los. Warum hat mich Cora – ihre Tochter, meine ich – hierher gelockt? Warum traut sie sich nicht, das Haus zu verlassen? Welche Rolle spielt dieser Riquez? Was beabsichtigen Sie gegen meine Freunde? Um was geht das Spiel? Fangen Sie nur mal an, ausführlich und wahrheitsgemäß. Ich habe mich lange genug an der Nase herumführen lassen, nun will ich wissen, was los ist.« »Keine Sorge«, erwiderte Spedding. »Sie werden schon alles erfahren. Aber ich glaube, Sie können die Pistole wegstecken und mir eine Zigarette gestatten.« »Rauchen dürfen Sie, aber wegen der Pistole warte ich doch lieber noch.« 33
»Sie können noch nicht wissen, daß wir im gleichen Lager stehen, wenn ich die Sache richtig überschaue. Sie sagen, daß Riquez Ihr Feind ist? Nun, er ist auch meiner.« »Das kann jeder sagen«, meinte Macroft wegwerfend. Ein Streichholz brannte für wenige Sekunden. Spedding zog mit tiefen Zügen, dann nahm er das Gespräch wieder auf. »Es kann nicht anders sein. Ich begreife allerdings nicht, was Sie in dem Spiel wollen, aber das wird sich schon noch aufklären.« »Ganz meine Ansicht, soweit Sie in Frage kommen. Ich begreife nicht, was Sie und Ihre Tochter mit der Sache zu tun haben, aber sicher werden Sie es mir noch verraten. Bis jetzt habe ich angenommen, daß Sie der Mann sind, dem der Inhalt unserer Flugzeuge in die Augen gestochen hat.« »Davon weiß ich nichts. Der Kampf geht um die Mittelmeer-Pläne.« Macroft beugte sich vor. »Ihre Tochter sagte schon Ähnliches. Ich habe das für einen schlechten Witz gehalten.« »Das ist Tatsache. Ihre Flugzeuge haben mit den Ereignissen nicht das geringste zu tun, soviel ich weiß.« »Da hätten Sie mal Riquez hören sollen.« »Völlig unverständlich«, flüsterte Spedding. »Ich 34
glaube, es ist das Beste, wenn ich Ihnen den Fall von mir aus schildere.« »Bitte.« Der schwache Schein der glimmenden Zigarette, der bei einem gelegentlich stärkeren Zug auf das hartkantige Gesicht des Engländers fiel, zeigte die tiefen Falten in dessen Stirn und verriet etwas von dem grübelnden Ausdruck der kühlen, festen Augen dieses Mannes. »Ich bin Ingenieur«, begann er. »In den letzten Jahren habe ich mich ausschließlich mit einem der größten technischen Probleme Europas beschäftigt, nämlich mit der teilweisen Trockenlegung des Mittelmeeres durch Schließung der Meeresenge von Gibraltar.« Macroft räusperte sich anzüglich, und Spedding fuhr deshalb etwas betonter fort: »Ich bin kein Utopist, kein Träumer oder phantastischer Schwärmer, sondern ein sehr nüchterner Techniker. Mich hat auch wesentlich die technische Seite der Angelegenheit interessiert, also die Aufgabe, die Gibraltar-Enge durch einen Staudamm vom Atlantischen Ozean zu trennen und die entstehende Gefällekraft auszuwerten. Ich bin mir freilich bewußt, daß das nur ein Teil des ganzen Problems ist, dessen Hauptbedeutung und Hauptschwierigkeiten auf politischem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet liegen. Lassen Sie mich die Sache so kurz wie möglich andeuten. Sie wissen, daß 35
wir in Europa an Raummangel leiden. Die Bevölkerungsdichte ist in fast allen Ländern zu groß, es fehlt an Boden, an Land. Man erwägt nun schon seit langem, wie man dem überfüllten Europa zusätzlich Boden verschaffen kann. Einige Völker entlasten sich durch Urbarmachung ihrer Ödländereien, aber darüber hinaus sind weitgehende Pläne entstanden. Man hat erwogen, die Nordsee teilweise trockenzulegen, die Sahara künstlich zu bewässern und schließlich und vor allem, den Spiegel des Mittelmeeres abzusenken.« »Hm«, sagte Macroft, »in welchem Ausmaß und was verspricht man sich davon?« »Bereits durch eine Senkung um zwanzig Meter würden einige hunderttausend Quadratkilometer Neuland gewonnen werden«, erklärte Spedding. »Ich habe leider keine Karte, um Ihnen das zu zeigen. Die Küsten der Mittelmeerländer verlaufen im allgemeinen ziemlich flach. Um nur einige Beispiele zu geben: Spanien würde einen Küstenstreifen von hundert und mehr Kilometer Breite gewinnen, Elba würde seinen Inselcharakter verlieren, und das Adriatische Meer würde fast zur Hälfte Land werden.« »Allerhand. Und diese Senkung wollen Sie durch einen Damm bei Gibraltar erreichen?« »Ja, wozu möglicherweise noch eine zweite Sperre bei den Dardanellen kommt. Der Gibraltardamm ist natürlich ein Milliardenobjekt, aber technisch durch36
aus ausführbar. Die Breite beträgt dort rund dreißig Kilometer, die Meerestiefe bis über zweihundert Meter. Nichts, vor dem man bei unseren Hilfsmitteln erschrecken könnte.« »Ja, aber – das Mittelmeer müßte doch gerade zuerst soweit ausgepumpt werden, bis Sie die zwanzig Meter herunter haben. Und wie steht es dann mit den Flüssen, die es doch ständig wieder auffüllen?« »Ein grundlegender Irrtum«, widersprach Spedding. »Der Zufluß vom Land her ist geringer, als man im allgemeinen annimmt, geringer jedenfalls als die Verdunstung. Das Wasser der Flüsse würde den Spiegel um keinen Zentimeter heben. Im Gegenteil. Wenn wir nur einige Jahre lang verhindern, daß der Atlantische Ozean sein Wasser durch die Meerenge von Gibraltar schickt, wird bereits soviel Wasser verdunstet sein, daß der Spiegel im gewünschten Maße tiefer liegt. Wir müssen dann die Dammtore öffnen, um das Mittelmeer nicht völlig austrocknen zu lassen. Es werden stündlich riesige Wassermengen bei Gibraltar passieren müssen, selbstverständlich über unsere Turbinen hinweg. Die elektrische Energie, die wir bei dieser Gelegenheit zu gewinnen hoffen, soll ganz Europa mit Strom versorgen.« »Ein gigantischer Plan.« Spedding seufzte. »Ja, und was die technische Seite betrifft, ist der fix und fertig bis in alle Einzelheiten. Von mir aus 37
könnte es morgen losgehen. Aber leider können sich die Interessenten nicht einigen. Sie können sich denken, daß der Plan ebenso viele Gegner wie Freunde hat.« »Das ist zu erwarten.« »Seit Monaten wird ein unterirdischer Kampf geführt, von Kabinett zu Kabinett, von Person zu Person, von Staat zu Staat und von Interessengruppe zu Interessengruppe. Neuerdings ist nun eine mächtige Gruppe auf den Gedanken verfallen, die Sache einfach damit zu erledigen, daß man die technischen Pläne vernichtet, beziehungsweise den Konstrukteur, also mich, unschädlich macht. Und hier in Lissabon hat man mich erwischt.« Macroft steckte die Pistole ein. »Sie wollen damit sagen, daß die Ereignisse des letzten Tages auf dieses Bestreben Ihrer Feinde zurückzuführen sind, daß also der ganze Zauber nicht mir galt oder meinen Freunden, sondern Ihnen?« »Ich habe nie daran gezweifelt. Ich sagte Ihnen ja schon, daß es mir völlig rätselhaft ist, wie Sie überhaupt in das Spiel hereinkommen. Sehen Sie, seitdem ich nach Lissabon kam, ging es los. Man bombardierte mich mit Drohbriefen, auf die ich selbstverständlich nicht reagierte.« »Warum benachrichtigen Sie nicht die Polizei?« »Völlig zwecklos. Ich weiß ganz genau, welche Gruppe es ist, die auf diese Weise vorgeht. Ich könn38
te Ihnen Namen und Adressen ihrer bedeutendsten Leute sagen. Riquez ist nur ein untergeordnetes Organ. Aber, mein Lieber, was nützt mir das? Die Leute sind so mächtig, daß kein Polizeipräfekt es wagen würde, ihnen etwas zu tun. Ganz abgesehen davon sind sie natürlich auch so vorsichtig, sich nicht unmittelbar bloßzustellen. Die Leute, die in Erscheinung treten, sind Handlanger, die für ihre Arbeit bezahlt werden. Hier in Lissabon ist es eine Verbrecherbande, die man als die ›Schatten‹ bezeichnet.« »Sie beachteten also die Briefe nicht?« »Nein, denn sie zu beachten, hieße meine eigenen Pläne aufgeben. Mich persönlich kann man auch nicht so leicht erschrecken. Gestern abend fing man mich ab. Ich erwischte das falsche Auto und war schneller betäubt, als ich dachte. Man schleppte mich in irgendeine Spelunke innerhalb des Hafenviertels. Das sah ich freilich erst, als ich wieder herauskam.« »Erstaunlich, daß Sie überhaupt wieder freigekommen sind.« »Nun, es wäre nicht möglich gewesen, wenn der Wächter seine Aufgabe nicht gar so leicht genommen hätte. Als ich aus meiner Betäubung erwachte, sah ich mir in aller Ruhe meine Umgebung an. Der Mann, der mich bewachen sollte, hielt mich wahrscheinlich noch für recht ungefährlich, denn er spazierte sorglos um mich herum. Es war eine Kleinigkeit, ihn bei der Krawatte zu kriegen, und unschäd39
lich zu machen. Und dann bin ich auf und davon.« »Man hat sich also Coras – ich meine, Ihrer Tochter – bemächtigt, um auf Sie einen Druck auszuüben?« »Ja. Man drohte mir schon in den Briefen damit, daß man sie entführen wollte, und als ich den Wärter fesselte, drohte er mir ebenfalls, daß es um Coras Leben gehen würde.« »Jetzt wird mir die Geschichte klarer. Vermutlich hat man Ihrer Tochter ebenfalls angekündigt, daß es Ihnen an den Kragen gehen wird, wenn sie das Haus verläßt. So wenigstens glaube ich mir das erklären zu können, was sie mir sagte.« »So wird es sein. Cora wird die Redensarten, die man ihr vorsetzte, sehr ernst genommen haben, und wird es kaum wagen, sich von der Stelle zu rühren. Ich bewundere nur die Frechheit dieser Leute. Ausgerechnet in diesem Haus wird sie gefangen gehalten.« »Ja, eben. Mir ist noch immer unerklärlich, daß Ihre Tochter mich geradezu hierher führte.« »Kinderspiel«, meinte Spedding. »Wir haben nämlich am Vormittag diese Villa besichtigt, da wir sie für einige Wochen mieten wollten. Und ich hatte mit Cora verabredet, daß wir uns am Nachmittag hier draußen treffen wollten. Sie ist in der Annahme, daß ich bereits anwesend sei, einfach hier hereinspaziert.« 40
Macroft atmete hörbar auf. Das war ihm immer noch das größte Rätsel gewesen. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann fuhr der Engländer fort: »Ich habe mich an unser Konsulat gewandt und dort um entsprechende Hilfe nachgesucht, um Cora wiederzufinden. Dann bin ich losgezogen, um sie zu suchen. Und es ist noch gar nicht lange her, da fiel mir ein, daß sie vielleicht hier draußen sein könnte. Deswegen ging ich hierher und lief Ihnen so geradewegs in die Arme.« »Etwas Besseres hätten Sie auch nicht tun können. Nun weiß ich wenigstens, was los ist. Es hat ganz den Anschein, daß man sich nur deshalb mit mir befaßt, weil ich zufällig Ihre Tochter begleitete. Unverständlich ist mir allerdings, welches Interesse Riquez für meine Kameraden hat.« »Darüber kann ich Ihnen auch keine Auskunft geben. Es ist natürlich denkbar, daß man sich völlig unabhängig von meinem Fall auch noch des Inhalts Ihrer Flugzeuge bemächtigen will.« »Vielleicht. Wie steht es, wollen wir nicht versuchen, Ihre Tochter aus dem Haus herauszuholen?« »Das war mein Vorhaben. Ich wagte nicht, sie um Ihre Hilfe zu bitten, doch angenommen wird sie gern.« »Brechen wir auf«, schlug Macroft vor. Sie gelangten über die Mauer wieder in den Park hinein und schlichen sich vorsichtig an das Haus her41
an. Es lag in tiefster Ruhe. Im ersten Stock war ein einzelnes Zimmer erleuchtet, sonst wies nichts auf die Anwesenheit von Menschen hin. »Wie ausgestorben«, murmelte Spedding. »Je weniger, desto besser.« Ganz so menschenleer war allerdings die Villa nicht. Sie hatten sich kaum durch die Hintertür in den unteren Flur geschlichen, als ihnen ein Mann in die Arme lief, der Macroft einmal das Essen gebracht hatte. Er hob sofort die Arme, als er die Pistole auf sich gerichtet sah. »Nicht schießen«, bat er ängstlich, »ich habe mit der Sache nichts zu tun.« »Leiser«, sagte Macroft. »Wer sind Sie? Was haben Sie hier im Haus zu suchen?« »Ich bin der Diener, der telefonisch für den Haushalt für Mister Spedding angefordert wurde. Als ich hierher kam, fand ich allerdings andere Leute vor.« Macroft sah seinen Begleiter fragend an. Der nickte. »Es stimmt, ich habe in einem Büro jemanden telefonisch angefordert. Es kann schon der Mann sein.« »Schön«, – Macroft wandte sich wieder an den Diener – »wir wollen Ihnen glauben. Wo ist Miß Spedding?« »Oben in ihrem Zimmer.« »Wer ist noch im Haus?« 42
»Ein gewisser Lacro, der Mann, der gestern abend mit bei Ihnen war.« »Aha, der Vierschrötige. Wo steckt er?« »Im Zimmer neben dem Treppenaufgang.« »Voran!« Man sah dem Diener an, daß ihm nicht besonders wohl zumute war, aber er schritt ohne Widerstreben voraus. Als der Gang zur Treppe umbog, wies er nach vorn auf eine Tür. Geräuschlos schlichen die beiden Männer heran und rissen sie auf. Der Vierschrötige war viel zu verblüfft, um nach der Waffe zu greifen. Er hob die Arme und ließ sich dann fesseln, ohne seine Sprache wiederzufinden. Nun ging es unter Führung des Dieners schleunigst in das erste Stockwerk hinauf. Cora Spedding weinte vor Freude, als sie ihren Vater plötzlich vor sich sah, beherrschte sich aber bald. Jeden Augenblick konnten neue Komplicen Riquez’ in der Villa eintreffen. Grund genug, um alle Gefühlsäußerungen zurückzustellen und sich vor allen Dingen erst einmal in Sicherheit zu bringen. Zehn Minuten nach der Überwältigung des Vierschrötigen verließen die drei Personen das Haus. * Das Licht im Hangar war nicht übermäßig hell, brannte aber stark genug, um die fünf Freunde die 43
mißliche Lage klar erkennen zu lassen. Jeder von ihnen starrte in einen besonderen Pistolenlauf, und es sah ganz so aus, als ob die falschen Polizisten bei der geringsten Bewegung, die ihnen nicht paßte, schießen würden. Der Anführer des Trupps streckte gerade die Hand aus, um Wighton abzutasten, als die schmale Stahltür aufgerissen wurde und eine klangvolle Stimme rief: »Hallo, alles wohlbehalten eingetroffen? Nanu …« Die falschen Polizisten fuhren herum. In dem grauen Rahmen der Tür stand vor dem schwarzen Hintergrund der Nacht ein hochgewachsener schlanker Jüngling, dessen Körper an biegsamen Stahl erinnerte. Sein Gesicht, dessen Haut wie helle Bronze leuchtete, war edel geschnitten und trug den Ausdruck eines hochkultivierten Adels. Über seiner hohen Stirn spielten in der leichten Nachtluft gewellte Haare von einem eigentümlich lichten Blond. Am eindrucksvollsten waren die Augen. Es waren die Augen eines Herrschers von Natur aus, groß und leuchtend und sieghaft. Und jetzt wandelte sich der Ausdruck dieser Augen von freudiger Heiterkeit zu drohendem Ernst. Die Verbrecher warfen sich herum, brachten ihre Pistolen in der neuen Richtung in Anschlag und riefen wie aus einem Mund: »Hände hoch!« Die Freunde hoben die Köpfe. »Sun Koh?« 44
Sie warfen sich schnell wieder zu Boden, gegen die Füße der falschen Polizisten. »Hände hoch!« Die Verbrecher dachten nicht daran, diesem Befehl Sun Kohs Folge zu leisten. Man konnte es ihnen nicht gut verdenken, wenn sie es nicht taten, denn vor ihnen stand ja nur ein einziger Mann mit einer Pistole. Mehr als einen Schuß hatte er nicht, dann war er erledigt – meinten sie. Sie sahen sehr bald ein, daß ihre Berechnung nicht stimmte. Sun Koh hatte den Hangar völlig ahnungslos betreten. Er war als erster aus dem landenden Flugzeug herausgesprungen und hatte sich sofort an die Flughafenwache gewandt, die in heller Bestürzung über die unangemeldete nächtliche Landung über den Platz gerannt kam. »Es müssen sechs Männer mit drei Flugzeugen sein, wo kann ich sie finden?« Einer der Männer wies über den Platz. »Dort drüben im Hangar, ganz rechts. Aber wie kommen Sie…« »Fragen Sie die beiden, die hinter mir kommen.« Sun Koh eilte davon. Und dann hatte er die Tür aufgerissen und seine Freunde plötzlich in einer Situation gefunden, von der er sich nichts hätte träumen lassen. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erkennen, daß 45
diese Polizisten als Feinde auftraten. Bewunderungswürdig aber war, wie schnell Sun Koh daraufhin handelte. Die Polizisten schwenkten noch ihre Waffen herum, als Sun Koh schon die Pistole herausriß. Und als er sah, daß die Leute seinem Befehl nicht Folge leisteten, daß ihre Finger sich krümmten, da flammten aus seiner Waffe die Feuerstrahlen. Fünf peitschenartige Schläge, die so unmittelbar aufeinander folgten, daß man sie kaum unterscheiden konnte, knallten durch die Halle. Fünf stimmig gellten die Flüche, fünf Mann ließen die Pistolen aus den zerschossenen Händen fallen. Der sechste, der Anführer, war in der glücklichen Lage, gerade unbewaffnet zu sein. Er ersparte sich dadurch die Verletzung. »Hier gibt’s wohl Salutschüsse?« erkundigte sich Hal Mervin, der hinter Sun Koh neugierig den Kopf vorstreckte. »Keine schlechte Bezeichnung«, sagte Sun Koh und ließ den Jungen vorbei. »Sieh dir die Geschichte nur an.« Hal kam gerade zurecht, um beim Fesseln mitzuhelfen. »Na«, meinte er bedenklich, »da wollen wir uns nur schleunigst verkrümeln, sonst macht man uns hier den Prozeß. Wenn ich nicht irre, gibt es auf Widerstand gegen die Staatsgewalt einige Jahre.« 46
»Keine Sorge«, beruhigte ihn John Wighton, »das sind keine echten Polizisten. Die Kerle haben sich nur so angezogen.« »Hier ist doch kein Maskenball. Warum denn der Aufzug?« »Ja«, erkundigte sich Sun Koh, »was soll denn das alles bedeuten? Hat es hier Schwierigkeiten gegeben? Und vor allem: wo ist Macroft?« Jack Gorm, an den er die Frage richtete, hob mit kleinlauter Miene die Schulter. »Seit gestern verschwunden. Wir wissen noch nicht, wohin.« Hal, der nur den Namen des Vermißten aufgeschnappt hatte, rief: »Wo ist denn eigentlich Mister Macroft?« »Hier!« meldete sich Macroft von der Tür aus. Jubelrufe begrüßten ihn. Die Kameraden wurden aber schnell wieder ruhig, als sie hinter ihm einen unbekannten Herrn und eine junge Dame eintreten sahen – Spedding und Tochter. Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich im Kreis gruppiert hatte und zu berichten begann. Als erster erzählte George Macroft, was ihm widerfahren war, dann kam Mister Spedding an die Reihe, schließlich Jack Gorm. Die Freunde waren sehr erstaunt, als sie erfuhren, daß im Mittelpunkt aller Ereignisse nicht der Schatz der Mayas, sondern völlig unbekannte Dokumente 47
gestanden hatten. Spät in der Nacht traf der telefonisch beorderte Polizeiwagen ein und holte die Verbrecher ab, die man mittlerweile fein säuberlich in eine Ecke des Hangars geschichtet hatte. Es blieb für immer ungeklärt, wieso die ›Schatten‹ hatten erfahren können, daß der Kriminalinspektor eine Wachtruppe für den Hangar zugesagt hatte. Die echten Polizisten hatten die Präfektur verlassen, aber sie waren nicht sehr weit gekommen. Noch innerhalb der Stadt waren sie durch ein Auto aufgehalten worden, und dann hatte eine Gasbombe dafür gesorgt, daß sie für einige Zeit das Bewußtsein verloren. Sie kamen am anderen Morgen in einer alten Baracke wieder zu sich und trafen ziemlich kleinlaut auf ihrer Dienststelle ein. Die dunkle Ahnung des Inspektors hatte sich bestätigt. Innerhalb der Präfektur selbst mußten Verbindungsleute sitzen, die über alles orientiert waren, was vorging. Die Villa, die Spedding gemietet hatte, wurde leer gefunden. Der Vierschrötige war verschwunden, ebenso Riquez. Sie ließen sich in der nächsten Zeit nicht wieder sehen, mindestens so lange nicht, wie Sun Koh und seine Kameraden sich in Lissabon aufhielten. Das waren allerdings nur zwei Tage. Mister Spedding machte seinen Entschluß, den er Macroft gegenüber geäußert hatte, wahr. Er setzte in kürzester Frist, nämlich bereits am anderen Tag, sei48
ne Tochter auf die Bahn und schickte sie in ihre Heimat zurück, nach England. George Macroft wäre nicht verliebt gewesen, wenn er nicht eine Gelegenheit gefunden hätte, mit Cora Spedding vor ihrer Abreise noch einige Worte unter vier Augen zu sprechen. Es war nicht viel, was die beiden jungen Menschen miteinander redeten, es war vielleicht für den Außenstehenden sogar bedeutungslos, aber für die beiden war in den wenigen Worten, im Händedruck und in einem langen Blick die ganze Welt beschlossen. Das Mädchen wußte, daß es auf diesen Mann warten müsse, und wenn es ein Jahrzehnt dauern sollte. Und Macroft wußte mit der gleichen Eindeutigkeit, daß er eines Tages in eine kleine Stadt des Norfolker Bezirks fahren würde, um den Kreis seiner Liebe zu schließen. Hal hatte natürlich innerhalb von drei Minuten erfaßt, wie es zwischen den beiden stand. Als der Zug zum Bahnhof hinausrollte und George Macroft mit merkwürdiger Miene hinterherstarrte, kam er gewissermaßen auf Zehenspitzen von hinten heran und gab ihm einen sanften Stoß. »Mister Macroft, der Zug ist seit fünf Minuten nicht mehr zu sehen. Aber ich habe etwas für Sie. Was geben Sie?« Macroft sah ihn eine Weile geistesabwesend an, dann murmelte er nicht übermäßig freundlich. »Keine Bedürfnisse, mein Sohn.« 49
Hal sah ihn verschmitzt von unten an. »Na schön, dann behalte ich eben das Taschentuch für mich.« Macroft riß die Augen auf. »Was für ein Taschentuch?« Hal wedelte mit einem weißen Tuch durch die Luft. »Eins von Miß Spedding selbstverständlich.« »Her damit!« Mit einer blitzschnellen Bewegung riß es Macroft an sich, warf einen Blick auf das Monogramm. »Wo hast du es her?« Hal grinste. »Geklaut. Aber sie hat es bestimmt nicht gemerkt. Ich weiß doch genau, wie das ist. Erst denken Sie an gar nichts und hinterher ärgern Sie sich, daß Sie noch nicht einmal irgendein bißchen was haben, was Sie sich heimlich nachts unters Kopfkissen legen können. Das ist nun einmal so bei verliebten Leuten.« Macroft fühlte die Röte in seinem Gesicht aufsteigen und holte aus. Aber Hal schnitt ihm eine Grimasse und rannte davon. Vierundzwanzig Stunden später verließen sie alle mit ihren Flugzeugen die Stadt Lissabon. Es wurde Zeit, daß man endlich an die Aufgabe ging, um deretwillen man auch nach Europa gekommen war: nämlich die Schätze an Gold, Diamanten und Perlen, die in den Flugzeugen lagen, in den Staatsbanken der 50
Großstaaten unterzubringen oder sie in die landesüblichen Währungen umzutauschen. 3. Bernard Lepont, Direktor der Bank von Frankreich, verneigte sich tiefer als sonst, als sein Besucher eintrat. Der hochgewachsene, schlanke Fremde mit dem kraftvollen, hellen Gesicht beeindruckte ihn außerordentlich, da er ungefähr so aussah, wie es sich Bernard Lepont von sich selbst genug gewünscht hatte. »Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Ihnen dienlich zu sein«, versicherte er verbindlich, nachdem sie Platz genommen hatten. »Darf ich Sie bitten, Ihre Wünsche zu äußern?« Sun Koh stellte eine schlichte Stahlkassette in der doppelten Größe einer Zigarrenkiste auf den Schreibtisch. »Ich möchte zunächst diese Kassette bei Ihnen zur Aufbewahrung geben. Man hat mir versichert, daß die Gewölbe der Bank von Frankreich zu den sichersten der Welt gehören.« Lepont reckte seinem Besucher die Handfläche hin. Mit dieser feierlichen Geste betonte er: »Es sind die sichersten der Welt, mein Herr. Es gibt nicht den Schimmer einer Möglichkeit, durch die Ihr Depot gefährdet werden könnte.« »Ausgezeichnet.« Sun Koh schlug den Deckel der 51
Kassette zurück. »Der Inhalt des Kastens ist ziemlich wertvoll. Er besteht aus Edelsteinen, wie Sie sehen.« Lepont atmete tief auf, als er die blitzenden Steine betrachtete. Selbst für ihn war diese Ansammlung größter Steine etwas Neues und Eigenartiges. »Bewunderungswürdig«, murmelte er. »Diese Steine stellen ein gewaltiges Vermögen dar, wenn sie…« Höflicherweise brach er ab. »Sie sind echt«, sagte Sun Koh ruhig. »Diese Kassette also bitte ich Sie aufzubewahren. Sie weisen mir dafür wohl einen besonderen Safe an, der durch zwei verschiedene Schlüssel zu schließen ist. Der eine Schlüssel soll bei Ihnen bleiben, den anderen bitte ich mir auszuhändigen. Ich werde ihn meinem Beauftragten übergeben, der jederzeit das Recht hat, den Inhalt des Safes in Anspruch zu nehmen.« »Wie Sie wünschen«, stimmte Lepont zu. »Im allgemeinen ist es freilich üblich, daß unsere Kunden ein Verzeichnis aller Werte mit den zugehörigen Taxen anfertigen lassen, damit bei etwaigen Verlusten …« »Ich verzichte darauf«, sagte Sun Koh. »Sie würden Ihren Sicherheitseinrichtungen auch ein schlechtes Zeugnis ausstellen.« »Alte Gewohnheit«, erklärte Lepont. »Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir uns zu den Safes begeben.« »Noch einen Augenblick«, bat Sun Koh. »Ich 52
möchte nicht nur diesen Kasten hinterlegen, sondern außerdem ein Konto bei Ihnen eröffnen.« »Ausgezeichnet«, freute sich der Bankdirektor. »Die Deckung für dieses Konto wird Ihnen etwas ungewöhnlich erscheinen«, fuhr Sun Koh fort. »Ich beabsichtige nämlich, der Bank von Frankreich eine gewisse Menge Barrengold zu verkaufen.« Lepont stutzte. In einer Zeit, in der Gold fast ausschließlich im Besitz der Staaten zu finden war, berührte es seltsam, wenn ein Privatmann Barrengold anbot. Aber um so besser. »Selbstverständlich«, sagte er schnell. »Gold ist stets willkommen, auch bei unserer Bank. Wir müßten selbstverständlich zunächst eine Feinheitsprüfung vornehmen und würden den Gegenwert dann auf Ihr Konto gutschreiben. Um welche Menge handelt es sich, wenn ich mir die Frage erlauben darf?« »Zwei Tonnen.« Lepont beugte sich ruckhaft vor. »Vierzig Zentner?« »Ganz recht«, bestätigte Sun Koh. Der Bankdirektor schluckte einige Male. »Vierzig Zentner Barrengold?« murmelte er dann und überlegte fieberhaft, ob nicht in der letzten Zeit ein größerer Raub gemeldet worden sei. »Zwei Tonnen. Verzeihen Sie meine Verwirrung, aber ich habe nicht geglaubt, daß sich so viel Gold in Privatbesitz befinden könnte.« 53
Sun Koh begriff die Neugier seines Gegenübers sehr wohl, aber er befriedigte sie nicht gerade. »Nehmen Sie an, daß ich einen Schatz gefunden habe. Die Bank ist also bereit, das Gold anzukaufen?« »Mit größtem Vergnügen«, versicherte Lepont. »Wie ich mir schon zu bemerken erlaubte, würden wir das Gold sofort prüfen und Ihnen den Gegenwert zur Verfügung stellen.« »Das Gold befindet sich augenblicklich in einem privaten Hangar auf dem Flugplatz von Le Bourget. Es wäre mir angenehm, wenn Sie einen Transportwagen mit einigen Leuten schicken könnten. Ich brauche Sie wohl nicht erst zu bitten, alles so unauffällig wie möglich zu regeln.« »Überlassen Sie das alles mir. Um welche Zeit soll der Transportwagen eintreffen?« »Mir kommt es nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt an.« Lepont überlegte einen Moment. »Würde Ihnen morgen früh acht Uhr angenehm sein?« »Gewiß. Ich werde meine Leute entsprechend verständigen. Ihre Leute weisen sich wohl entsprechend aus?« »Selbstverständlich.« »Dann weisen Sie mir bitte jetzt einen Safe an.« Lepont erhob sich. 54
»Wenn ich Sie bitten dürfte, sich noch einen Augenblick zu gedulden. Ich werde sofort meinen Kollegen Mieuxvaux verständigen.« Er telefonierte. Monsieur Mieuxvaux, der stellvertretende Direktor, erschien und wurde vorgestellt, dann begaben sich die drei Herren über einige Treppen zum Wachraum, einen hohlen Eisenbetonwürfel mit einer Wandstärke von zwei Metern. In seinem Innern standen einige Pritschen, ein Tisch und Schemel. An der Wand, die der Eingangstür gegenüber lag, sah man große Stellscheiben mit Buchstaben, Ziffern und Zeigern, wie man sie an modernen Geldschränken findet. Die beiden Direktoren traten vor die Stellscheiben, drehten die Scheiben und schlossen an verschiedenen Stellen mit eigenartig geformten Schlüsseln, einer jedoch unabhängig vom andern. Nach einer ganzen Weile erkundigte sich Lepont: »Fertig?« Mieuxvaux nickte, worauf Lepont einen kleinen Hebel betätigte. Unverzüglich glitt ein Stück seitwärts ein rechteckiges Stück Mauer von zwei Meter Höhe und einem Meter Breite heraus und gab ein enges Gelaß frei. Der Fahrstuhl. Sie betraten ihn und fuhren mit ihm in die Tiefe. Dabei gab Lepont die notwendigsten Erklärungen. »Es dürfte Ihnen bekannt sein, Mister Sun Koh, daß bei dem Bau dieser Gewölbe alles getan wurde, 55
um die der Bank anvertrauten Schätze vor einem Zugriff durch Verbrecher zu schützen. Man darf wohl behaupten, daß eine vollkommene Sicherung gelungen ist. Unsere Tresoranlagen befinden sich dreißig Meter tief unter dem Erdboden im gewachsenen Felsen. Dieser Fahrstuhl bildet den einzigen Zugang, und Sie sahen ja bereits, wie er gesichert ist. Wir fahren augenblicklich in einem Schacht, der unter großen Schwierigkeiten aus Eisenbeton hergestellt werden mußte. Sie müssen wissen, daß sich zwischen der Bank und den Tresoranlagen ein kleiner See befindet, ein unterirdisches, stehendes Wasser, durch das dieser Schacht führt. O lala, welche Schwierigkeiten gab es, als hier gebaut wurde. Das Wasser drang überall ein, so daß man es schließlich künstlich zum Gefrieren bringen mußte, um überhaupt vorwärtszukommen. Jetzt natürlich ist es ein geradezu unübertrefflicher Wächter unseres Gewölbes. Es macht ein unterirdisches Eindringen unmöglich oder würde es doch sofort anzeigen. Die Herren Verbrecher haben es wahrhaftig nicht leicht.« Er lachte über seine wohl witzig sein sollende Bemerkung, und Mieuxvaux stimmte höflich ein. Sun Koh wunderte sich dabei insgeheim, wie verzerrt das Lachen dieses Mannes war. Mieuxvaux machte keinen schlechten Eindruck, solange er ernst blieb, aber als er jetzt lachte, hatte Sun Koh deutlich das Empfinden, daß etwas an ihm falsch und verkrampft war. 56
Sie traten aus dem Fahrstuhl heraus in eine Halle von mächtigen Ausmaßen. Einrichtungsgegenstände wies sie nirgends auf, wohl aber standen ein Dutzend gutbewaffneter Männer wachsam in der Nähe des Fahrstuhls. Lepont nickte dem meldenden Sergeanten zu und erklärte zu Sun Koh gewandt: »Das sind unsere Wächter, ausgesuchte Mannschaften, die alle sechs Stunden abgelöst werden.« Er wandte sich zusammen mit seinem Kollegen einer Nische zu, in der sich ganz ähnliche Stellscheiben, Ziffern und Zeiger befanden wie oben. Wieder waren sie eifrig tätig. Jetzt glitt aus der Wand ein mächtiger Betonblock von erstaunlichen Ausmaßen. Er war fast sechs Meter hoch, drei Meter breit und wenigstens zwei Meter tief. Er fuhr auf breiten Schienen, die in den Boden eingelassen waren. An den Seiten bemerkte man die runden Spiegel von armstarken Verschlußzapfen. Durch die nun entstandene Öffnung traten die drei Herren in den eigentlichen Tresorraum, der freilich wieder vielfach unterteilt war. Er bestand aus einer Menge von Einzelräumen, die den verschiedensten Zweck dienten und durch Stahlgitter oder Betonwände voneinander getrennt waren. Endlich standen sie in dem Raum, in dem die Privatsafes untergebracht worden waren. An der einen Wandfläche befanden sich über- und nebeneinander 57
Türen verschiedenster Größe, zum Teil mit Kombinationsschlössern versehen. Lepont öffnete eine dieser Türen. »Ich dachte an diesen Safe, Monsieur Sun Koh!« Sun Koh bezeugte sein Einverständnis. Die Kassette, die er bis jetzt unter dem Arm getragen hatte, verschwand im Safe. Lepont betätigte die beiden Schlösser und überreichte den einen Schlüssel. Dann kehrten sie auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren, zur Oberwelt zurück. * Am nächsten Morgen kurz vor acht Uhr. Jan Valmy trat an den abbremsenden Zweitonner heran, von dem ein Dutzend Leute absprangen. Vom Platz neben dem Wagenführer kletterte etwas steifbeinig ein elegant gekleideter Herr, der nicht ganz in den Rahmen passen wollte. Er winkte Valmy beiseite. »Sie gehören zu diesem Hangar, nicht wahr?« »Gewiß«, bestätigte Valmy. »Mieuxvaux«, stellte sich der Bankdirektor vor, »von der Bank von Frankreich. Ich hielt es für richtig, den Transport selbst zu überwachen. Ist Monsieur Sun Koh nicht anwesend?« »Er wird bald kommen. Ihre Ausweise, bitte.« Mieuxvaux packte ein ganzes Bündel Papiere aus, die von Valmy sorgfältig geprüft wurden. 58
»Geht in Ordnung«, sagte er endlich. »Warum haben Sie keine Bewaffneten bei sich?« »Es wurde ausdrücklich gewünscht, daß der Transport unauffällig vor sich gehen sollte. Die Leute sind natürlich alle bewaffnet. Aber es besteht wohl keine Gefahr, da niemand von diesem Transport Kenntnis besitzt.« »Das dürfte stimmen. Sie können beginnen.« Mieuxvaux gab seinen Leuten einige schnelle Anweisungen, worauf diese mit der Verladung begannen. Die Barren, von denen jeder sorgfältig eingehüllt war, lagen schon bereit und brauchten nur über die kurze Strecke zum Wagen getragen werden. Es waren insgesamt achtzig Stück. Da zehn Mann tätig waren, ging die Arbeit lebhaft voran. Nach einigen Minuten hielt ein Personenwagen. Sun Koh stieg aus. »Ich wollte mich nur überzeugen, daß die Vereinbarungen eingehalten werden«, sagte er, während er Valmy und Mieuxvaux begrüßte. »Ich freue mich, Monsieur Mieuxvaux, daß Sie sich zu so früher Stunde persönlich bemüht haben.« Sie wechselten noch einige Worte, dann fuhr Sun Koh wieder weg. Eine halbe Stunde später befand sich das Gold auf dem Lastwagen. Der Lkw fuhr mit seiner gesamten Besatzung ab, und Valmy kehrte in den Hangar zurück. 59
Eine Viertelstunde darauf wurde er vom Platzwächter herausgerufen. »Hallo, Monsieur Valmy, da steht ein Lastkraftwagen mit verschiedenen Leuten, die zu Ihnen wollen. Vielleicht können Sie sich der Sache annehmen.« Es war ein fremder Wagen, der draußen hielt. Einige Männer in dunklen Lederuniformen standen um ihn herum. Einer von ihnen ging auf Valmy zu. »Monsieur«, sagte er knapp, »wir sind beauftragt worden, einen Transport zur Bank von Frankreich auszuführen. Hier ist mein Ausweis.« Valmy schüttelte den Kopf, nahm jedoch den Ausweis und prüfte ihn. Der Ausweis war echt. »Unbegreiflich«, murmelte er, »der Transport ist doch bereits ausgeführt worden!« »Bereits ausgeführt worden?« wiederholte der andere ungläubig. »Aber das ist unmöglich!« »Dann muß der Auftrag zweimal erteilt worden sein. Wer hat Sie beauftragt?« »Direktor Lepont persönlich.« »Na also, und Direktor Mieuxvaux hat damit vermutlich nicht gerechnet. Er war jedenfalls um acht Uhr selbst hier und hat den Transport geleitet. Warum treffen Sie überhaupt jetzt erst ein? Sind Sie nicht für acht Uhr bestellt worden?« Der Mann nickte. »Doch, wir hatten aber ein Unglück. Es gab einen 60
Zusammenstoß, durch den unser Wagen beschädigt wurde, so daß wir noch einmal umkehren mußten.« Valmy zuckte die Schultern. »Tja, nun kommen Sie zu spät. Wie ich Ihnen schon sagte, hat Direktor Mieuxvaux den Transport selbst geleitet und dürfte ihn jetzt bereits in der Bank untergebracht haben.« Der andere starrte unschlüssig auf seinen Ausweis. »Hm, da müssen wir wohl umkehren. Hoffentlich ist alles in Ordnung. Als wir den Zusammenstoß bekamen, hatte ich gleich das Gefühl, daß er absichtlich herbeigeführt worden sei.« Valmy lachte. »Aber ich sagte Ihnen doch, daß Direktor Mieuxvaux persönlich zur Stelle war.« Der Mann war anscheinend nicht ganz überzeugt, aber er erwiderte nichts mehr, sondern fuhr mit Wagen und Begleitung wieder ab. Valmy fühlte sich immerhin beunruhigt. Wenig später stand er am Telefon. Direktor Lepont antwortete ziemlich erstaunt. »Das Gold? Aber nein, die Leute müssen doch jetzt bei Ihnen sein. Sie sind doch …« »Ach was«, unterbrach Valmy ärgerlich. »Die Leute, die Sie bestellten, sind freilich eben erst hier gewesen, aber das Gold wurde schon um acht Uhr unter Leitung Ihres Kollegen Mieuxvaux abgeholt.« »Was sagen Sie da?« schrie Lepont zurück. 61
»Um acht Uhr traf Ihr Kollege Mieuxvaux mit einem Transportauto und zehn Leuten hier ein und übernahm die Barren!« »Mon dieu«, stöhnte Lepont, »das ist – das ist unfaßbar! Aber gedulden Sie sich bitte einen Augenblick, ich werde sofort nachfragen.« Eine Minute verging, dann wurde seine Stimme wieder hörbar. »Hören Sie noch? Oh, es ist unbegreiflich! Das Gold ist nicht eingetroffen, und es ist auch niemand für einen Transport unterwegs.« »Und Mieuxvaux?« »Er ist bis jetzt nicht in der Bank erschienen. Ich stehe vor einem Rätsel. Was sollen wir nun tun?« »Abwarten. Ich werde schleunigst meinen Chef verständigen. Stellen Sie inzwischen fest, ob Ihr Kollege tatsächlich verschwunden ist.« »Soll ich die Polizei…« »Noch nicht. Schluß.« Valmy wischte sich erst einmal über die Stirn, bevor er weitertelefonierte. Bei Gott, es sah ganz so aus, als sei das Gold von einem großen Gauner beiseite gebracht worden. * Zwei Stunden später saßen vier Männer in ernster Beratung beieinander – Sun Koh, Valmy, Lepont und 62
Inspektor Medonc von der Sûreté. »Es besteht also kein Zweifel«, vergewisserte sich Medonc, »daß Mieuxvaux selbst das Gold geraubt hat. Er wußte wohl durch Sie von dem beabsichtigten Transport?« »Ja«, gab Lepont zurück. »Es war meine Pflicht, ihm davon Mitteilung zu machen. Ich konnte doch nicht ahnen, daß er sich derart vergehen würde!« »Natürlich nicht«, beruhigte der Inspektor. »Niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen. Seit wann ist Mieuxvaux bei der Bank angestellt?« »Seit acht Jahren.« »Was wissen Sie über sein Privatleben?« Lepont hob die Schultern. »Er ist Junggeselle und bewohnt zusammen mit einem Diener und einem Chauffeur eine kleine Villa. Ich habe nie gehört, daß er besonderen Neigungen oder Leidenschaften anhängt. Ich kannte ihn nicht anders als einen nüchternen, pflichttreuen Beamten.« »Hm, man kann sich natürlich leicht täuschen. Wir müssen abwarten, was unsere Ermittlungen ergeben. Es steht wohl einwandfrei fest, daß er erst aus Ihrem Mund von dem Gold erfahren hat?« »Ich nehme es an.« Sun Koh mischte sich ein. »Es ist unmöglich, daß er vorher etwas erfuhr. Wir sind gestern erst hier angekommen, und bis dahin ist der Inhalt dieser Pakete niemandem außer einigen 63
absolut zuverlässigen Leuten bekannt gewesen.« So ganz zeigte sich Medonc nicht überzeugt, er sagte aber: »Na gut, dann dürfen wir annehmen, daß Mieuxvaux in der kurzen Zeit von gestern nachmittag bis heute früh den Raubzug vorbereiten mußte. Das scheint lang, ist aber praktisch eine recht geringe Zeit. Wenn man nicht annehmen will, daß er bereits vorher mit einer ganzen Bande in Verbindung stand, mußte er von gestern auf heute seine sämtlichen Helfer auftreiben. Es waren doch insgesamt elf Mann, wenn ich Sie recht verstanden habe?« Valmy nickte. »Ein Mann mit dem Fahrer, dazu Mieuxvaux.« Medonc grunzte zufrieden. »Das wird eine breite Spur hinterlassen. Erstens ist es nicht ganz so einfach für einen Uneingeweihten, elf Komplicen für einen derartigen Streich aufzutreiben, und zweitens können elf Leute nicht so einfach verschwinden. Früher oder später müssen wir auf einen von ihnen stoßen.« Das Telefon klingelte. Lepont hob ab und reichte den Hörer an den Inspektor weiter. »Für Sie, Monsieur.« Medonc teilte nach beendigtem Gespräch mit: »Der Wagen ist gefunden worden. Die Nummer, die Sie mir nannten, Monsieur Valmy, stimmte doch.« »Wo fand man den Wagen?« »In der Rue Bagnolet. Der Eigentümer des Wa64
gens ist ein Unternehmer, der solche Wagen zu vermieten pflegt. Man hat ihn bereits befragt. Er teilte mit, daß er den Wagen an Mieuxvaux für einen Tag vermietete. Mehr weiß er nicht.« »Mieuxvaux ist sehr offen vorgegangen.« Der Inspektor wiegte bedächtig den Kopf. »Allerdings, aber ich weiß nicht, ob man sich darüber freuen soll. Es ist möglich, daß er unklug und überstürzt handelte, es kann aber auch darauf hinweisen, daß er sich vollkommen sicher fühlt. Immerhin ist es wichtig, daß der Wagen bereits drei Stunden nach dem Raub gefunden werden konnte. Das Gold muß in dieser Zeit irgendwo untergebracht worden sein.« »Man kann es im Flugzeug außer Landes geschafft haben!« Das Telefon klingelte wieder, und abermals gab Lepont den Hörer weiter, diesmal jedoch an Sun Koh. Der Wächter vom Flughafen rief an. »Ah, Monsieur Sun Koh«, rief er erregt, »es ist ausgezeichnet, daß ich Sie erreiche. Ich habe einen der Leute, die bei dem Transport mitgeholfen haben.« »Bitte?« fragte Sun Koh überrascht. »Einen der Männer, die um acht Uhr die Ladung übernahmen?« »Jawohl«, wurde vom anderen Ende der Leitung bestätigt. »Ich bemerkte ihn zufällig, wie er am Zaun vorüberging. Da ich ihn sofort erkannte, hielt ich ihn 65
fest. Er ist sehr entrüstet und beteuert, nichts Schlechtes getan zu haben, aber ich lasse ihn nicht aus den Augen. Er ist bereit, sich der Polizei zu stellen.« Sun Koh verständigte den Inspektor. Dieser befahl dem Wächter, mit seinem ›Häftling‹ schleunigst den nächsten Polizeibeamten aufzusuchen und ihn unter sicherer Bewachung heranzubringen. »Das verstehe ich nicht«, murmelte er, als er den Hörer auflegte. »In dieser Angelegenheit scheint sich niemand zu verstecken.« »Wahrscheinlich hat man das Gold um so sicherer versteckt«, warf Valmy hin. »Sie glauben nicht, daß es in einem Flugzeug fortgeschickt wurde?« Medonc schüttelte den Kopf. »Ich würde in diesem Fall bereits Meldung haben. Man kann nicht einen derartigen Transport auf ein Flugzeug überladen, ohne daß es allgemein bekannt wird. Ich habe auf die erste Meldung hin Alarm gegeben und halte es für ausgeschlossen, daß das Gold auf diesem Weg die Stadt oder das Land verlassen konnte.« »Ein Privatflugzeug?« »Unsere Privatflugzeuge sind im allgemeinen noch auf die Rollfelder der Flugplätze angewiesen. Ganz ausgeschlossen ist es natürlich nicht, daß eine private Maschine in der Nähe der Stadt startete. Aber wie gesagt, ich persönlich glaube nicht, daß das Gold 66
überhaupt aus der Stadt herausgekommen ist. Es dürfte sich noch innerhalb von Paris befinden. Wir werden bei genauer Nachrechnung feststellen, daß die Verbrecher an außerordentlicher Zeitknappheit litten. Sie können nicht weit gefahren sein, sondern müssen das Gold innerhalb der Stadt abgeladen haben.« »Man sollte annehmen, daß auch das nicht unbemerkt bleiben konnte«, sagte Sun Koh. »Allerdings«, räumte Medonc ein. »Am hellen Tag dürfte ein Auto mit zwölf Mann unter allen Umständen von jemandem bemerkt worden sein.« »Und wenn es in einen Schuppen einfuhr?« »Auch dann. Wir müßten eben nur die Hilfe der Öffentlichkeit in Anspruch nehmen.« »Das möchte ich nach Möglichkeit vermeiden.« Sie unterhielten sich noch über weitere Einzelheiten der Angelegenheit, dann traf der Wächter mit dem Mann ein, den er gestellt hatte. Dieser Fremde, eine stämmige, einfach gekleidete Erscheinung, die keinen schlechten Eindruck machte, trat bei aller Bescheidenheit mit dem Selbstbewußtsein des unbescholtenen Bürgers auf. Er erklärte unmittelbar nach seinem Eintritt: »So, da scheinen wir ja am Ziel zu sein. Nun würde ich aber wirklich Wert darauf legen, wenn man mir erzählen würde, was eigentlich los ist. Ich bin diesem Mann freiwillig gefolgt, weil ich ohnehin nichts zu tun hatte, aber nun 67
habe ich’s satt. Sie müssen mir schon sagen, was Sie wollen.« »Sie werden es rechtzeitig erfahren«, knurrte Medonc und riß damit das Gespräch an sich. »Wer sind Sie?« Der andere musterte ihn. »Wer sind Sie?« Medonc zog ein Gesicht wie ein Mann, den ein Fremder nach seinem Kosenamen fragt. »Inspektor Medonc von der Sûreté.« Der Fremde verbeugte sich. »Ah, verzeihen Sie. Aber Sie machen mich neugierig, was die Polizei von mir will. Ich heiße Gaston Larousse.« »Ihr Beruf?« »Mechaniker, augenblicklich jedoch arbeitslos. Ich habe als Sergeant gedient, bin unverheiratet, ohne Vorstrafen, falls Sie das interessieren sollte.« »Haben Sie Papiere bei sich?« »Gewiß.« Medonc prüfte sie und gab sie zurück. »Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein. Sie gehören zu der Bande, die heute morgen den Raub am Flugplatz ausgeführt hat?« Larousse zog ein dummes Gesicht. »Einen Raub? Wieso? Ich verstehe nicht ganz. Von welcher Bande sprechen Sie?« »Tun Sie nicht so einfältig«, sagte der Inspektor. »Sie sind einwandfrei erkannt worden und haben 68
selbst gestanden, daß Sie beteiligt waren.« »Woran?« »Woran?« fauchte Medonc. »Sie haben die Goldbarren, die sich im Hangar befanden, mitgeraubt.« Der andere schüttelte den Kopf. »Sie haben einen Nerv, Inspektor. Wollen Sie mir nicht ein bißchen mehr erzählen?« Medonc pflanzte sich breitbeinig auf. »Antworten Sie nicht so frech, sonst…« »Sonst?« Larousse fuhr gemütlich fort: »Ich will Ihnen mal etwas sagen, Inspektor. Ich bin ein unbescholtener Mann. Trotzdem sagen Sie mir ins Gesicht, daß ich zu einer Bande gehöre und Goldbarren geraubt habe. Ich wollte mal sehen, was Sie sagen würden, wenn ich das gleiche von Ihnen behaupten würde. Sie glauben wohl, daß Sie es dürfen, weil Sie Beamter sind? Nein, so einfach ist die Sache nicht.« Medonc riß sich zusammen. »Sparen Sie sich Ihre Vorträge«, brummte er. »Sie bestreiten also, daß Sie heute morgen am Flugplatz waren?« »Das bestreite ich durchaus nicht«, erwiderte Larousse. Medonc schien überrascht. »Ah, und dann leugnen Sie, zu der…« Jetzt warf Sun Koh ein: »Vielleicht lassen Sie den Mann mal nach seinem Geschmack erzählen, Herr Inspektor. Es scheint mir ein Mißverständnis vorzuliegen.« 69
Medonc bedachte das einige Sekunden, dann nickte er. »Also gut, erzählen Sie, was Sie heute morgen zwischen halb acht und halb neun getan haben.« »In der Zeit habe ich zum erstenmal seit Monaten gearbeitet. Und es hat sich nicht schlecht gelohnt. Hundert Franc habe ich in einer Stunde verdient.« »Berichten Sie Einzelheiten.« »Gern. Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich schon mehrere Monate arbeitslos. Gestern abend sprach mich ein feiner Herr an und fragte mich, ob ich mir nicht hundert Franc verdienen wolle. Es wäre eine notwendige Verladearbeit zu leisten, und einer seiner Leute sei plötzlich krank geworden. Für ihn sollte ich einspringen. Natürlich griff ich mit beiden Händen zu.« »Kam es Ihnen nicht verdächtig vor, daß Sie von der Straße weg beauftragt wurden?« »Ich hielt mich gerade am Hospital auf, und dort gibt es fast nur Arbeitslose. Wer einen Gelegenheitsarbeiter sucht, holt ihn sich von dort.« »Aber das Angebot von hundert Franc hätte Sie doch mißtrauisch machen sollen?« Larousse lachte kurz auf. »Wenn Sie mal ein paar Monate arbeitslos sind, dann werden Sie sogar nicht mißtrauisch, wenn Ihnen jemand tausend Franc anbietet. Und wenn Sie sich was dabei denken, lassen Sie es sich bestimmt 70
nicht merken, sondern danken Ihrem Schöpfer für jeden Centime, der in die Tasche fällt. So ist das, verstanden?« »Vielleicht«, knurrte der Inspektor mißvergnügt. »Jedenfalls haben Sie sich dadurch der Beihilfe zu einem Verbrechen schuldig gemacht.« Larousse stemmte die Fäuste in die Seiten. »Wieso denn? Ich habe eine Verladearbeit übernommen und ausgeführt, die am hellen Tag und auf offener Straße vor sich ging. Diese beiden Herren dort sind anwesend gewesen, und ich hatte allen Grund, sie für die Besitzer zu halten.« »Na schön«, lenkte Medonc ab, »nun erzählen Sie weiter. Sie wurden an eine bestimmte Stelle bestellt?« »An das Bistro ›Goldene Ente‹ in Bourget. Fünfzehn Minuten vor acht Uhr und keine Minute später sollte ich dort stehen. Nun, Sie können sich denken, daß ich die Verabredung eingehalten habe. Der Lastwagen kam auf die Minute an, und ich stieg mit den vier Leuten, die in meiner Nähe gewartet hatten, auf, als der unbekannte Herr das Zeichen dazu gab. Dann fuhren wir zum Flugplatz und erledigten unsere Arbeit. Der Wagen nahm uns mit zurück. Am gleichen Bistro mußten wir absteigen, bekamen jeder hundert Franc in die Hand gedrückt und durften unserer Wege ziehen. Das Auto fuhr dann weiter.« »Wohin?« 71
»Das weiß ich nicht.« »Sie sagten, daß auch die anderen entlohnt wurden?« »Wir waren zehn Mann insgesamt.« »Wer blieb auf dem Wagen?« »Der Fahrer und der Auftraggeber.« »Sie hatten den Eindruck, daß auch die anderen nur für diese eine Arbeit angeworben worden waren?« »Gewiß. Ich dachte es mir schon, als noch ein paar mit mir aufstiegen. Das kam mir etwas komisch vor, aber besondere Gedanken habe ich mir darüber nicht gemacht. Die hundert Franc waren mir wichtiger. Nachträglich habe ich mich dann mit einigen von ihnen unterhalten und fand meine Vermutung bestätigt. Sie waren auch am Abend vorher beauftragt worden.« Der Inspektor seufzte. »Das habe ich nicht in Erwägung gezogen. Ihre Aussagen genügen mir einstweilen. Geben Sie dem Sergeanten Ihre Personalien, dann können Sie gehen.« Der Sergeant nahm Larousse beim Arm, worauf dieser schulterzuckend den Raum verließ. Der Polizist und der Wächter schlossen sich an. »Wenig erfreulich«, meinte Medonc, als die Tür zuklappte. »Ich glaube, der Mann sagte die Wahrheit. Die Spur wird dadurch bedeutend schwächer. Zwei Männer mit einem Lastwagen fallen kaum auf.« 72
»Andererseits«, warf Valmy hin, »wird es für die beiden kein leichtes Stück gewesen sein, die achtzig Barren abzuladen. Ich finde es erstaunlich, daß sie es in so kurzer Zeit überhaupt fertiggebracht haben.« »Vielleicht standen ihnen neue Helfer zur Verfügung.« »Vielleicht.« »Welche Schritte denken Sie zu unternehmen, Inspektor?« erkundigte sich Sun Koh. »Ich werde vor allem die Abbildung Mieuxvaux vervielfältigen und an jeden Polizisten geben lassen. Ich hoffe, daß die üblichen Recherchen genügend Hinweise bringen, würde jedoch auf alle Fälle empfehlen, einen öffentlichen Aufruf zu erlassen und eine Belohnung auszusetzen. Das Publikum vermag oft wertvolle Hinweise zu geben.« Sun Koh nickte. »Ich bin damit einverstanden, doch darf weder mein Name noch der meiner Leute genannt werden.« 4. Später saß Sun Koh mit Valmy, Nimba und Hal Mervin zusammen. Zwischen ihnen lag eine Karte von Paris. »Die Goldbarren können nicht weit gekommen sein«, stellte Valmy noch einmal entschieden fest. »Ich habe die Zeiten genau überrechnet. Danach 73
stand den Räubern noch nicht einmal eine volle Stunde zur Verfügung, um die Barren fortzuschaffen, abzuladen und den Wagen an die Stelle zu fahren, an der er gefunden wurde. Zum Abladen haben sie sicher eine halbe Stunde gebraucht, also ist ihnen nur eine halbe Stunde für die Fahrten geblieben, sagen wir eine Viertelstunde für eine Fahrt. Ich glaube nicht, daß sie gerast sind, so daß wir also das Versteck der Barren in einem Umkreis von wenigen Kilometern suchen könnten. Durch das Zentrum der Stadt sind sie bestimmt nicht gefahren, es kommen also in der Hauptsache die Vororte in Frage. Dort müßten wir suchen. Auf die Polizei würde ich mich nicht verlassen.« »Ich auch nicht«, sagte Carring. »Auf jeden Fall möchte ich darum bitten, mich der Angelegenheit widmen zu dürfen.« »Ich auch«, meinte Valmy schnell. »Sie brauche ich«, erwiderte Sun Koh, »ebenso Nimba. Die beiden anderen können ja versuchen, eine Spur zu finden. Viel verspreche ich mir allerdings nicht. Wir wollen annehmen, daß die Vermutung richtig ist, wonach sich die Goldbarren in den genannten Vororten befinden müssen. Welche Anhaltspunkte besitzen wir sonst, sie zu entdecken?« »Zunächst Mieuxvaux und den Fahrer«, sagte Valmy . »Die beiden müssen leben und sich infolgedessen sehen lassen.« 74
»Das ist ein Trugschluß«, entgegnete Sun Koh. »Sie können sich Lebensmittelvorräte und alles andere besorgt haben, so daß sie die Straße nicht zu betreten brauchen. Außerdem können sie sich bei einigem Geschick genügend unkenntlich machen. Wir haben ja beide nur flüchtig gesehen und würden wohl kaum stutzen, wenn sie an uns vorübergehen würden.« »Der Lastwagen?« »Ja, hier müßte angesetzt werden. Man muß versuchen, unter hundert und mehr Lastwagen, die zur gleichen Zeit unterwegs waren, den einen herauszuspüren und seine Fahrt zu verfolgen. Ein noch besserer Anhalts- oder Ausgangspunkt wird durch die Tatsache gegeben, daß der Wagen zu einer bestimmten Zeit entladen wurde. Versetzen wir uns in die Lage der Räuber. Es wird ihre wichtigste Sorge gewesen sein, den Wagen so zu entladen, daß es nicht auffiel. Sie mußten mit einem öffentlichen Aufruf rechnen, der auf die achtzig schweren Pakete Bezug nahm. Sie mußten sich also sagen, daß ein einziger Zeuge nachträglich stutzen und seine Beobachtungen anzeigen könnte. Ich glaube daher, daß sie die Goldbarren unter allen Umständen abluden, die eine Beobachtung durch Fremde gänzlich ausschlossen.« »In einem Haus?« fragte Hal. »Seit wann fahren Lastwagen in die Häuser hinein?« »Ein Tordurchgang wäre denkbar«, fuhr Sun Koh 75
fort, »ferner ein Schuppen. Man müßte also auf Häuser mit Durchfahrten und Schuppen oder Stallungen, Garagen und Scheunen besonders achten. Es wird nicht wenig davon geben, aber ohne Zähigkeit wird sich der Erfolg nicht zwingen lassen.« »Eine Verladung auf ein Flugzeug halten Sie für ausgeschlossen?« »Ja. Ich kann mir jedoch denken, daß die Barren in den nächsten Tagen und nach und nach mit Hilfe von Flugzeugen fortgeschafft werden. Es bereitet den Räubern sicher keine Schwierigkeiten, ein Dutzend Barren in ein Auto zu laden und damit die Stadt verlassen.« »Dann haben wir das Nachsehen.« »Wenn die Spur nicht inzwischen gefunden wird.« »Wir werden sie finden«, versicherte Carring. »Ich begreife nur nicht, daß dieser Mieuxvaux so plötzlich zum Verbrecher geworden ist. Ein Mann, der zwanzig Jahre lang fremdes Geld einwandfrei verwaltete, sollte nicht über Nacht derartig stürzen.« »Die Tugend hat keine Dienstjahre«, erwiderte Sun Koh. »Mancher ist zwanzig Jahre lang aus Gewohnheit, Stumpfheit und Mangel an Gelegenheit ehrlich, um eben dann erst sein wahres Wesen zu enthüllen. Ich vermute, daß Mieuxvaux den Entschluß zu einer derartigen Tat schon lange mit sich herumgetragen hat und daß wir ihm nun die günstige Gelegenheit boten. Vielleicht wird der Inspektor 76
auch mancherlei aus seinem Vorleben ermitteln können, was ihn in einem anderen Licht zeigt.« »Er muß sicher schon vor längerer Zeit Vorbereitungen getroffen haben«, meinte Valmy. »In seiner Wohnung befindet er sich nicht. Er konnte sich nicht gestern abend ein Zimmer mieten und es ab heute mitsamt den Barren beziehen. Jedenfalls sitzt er in einem Versteck, das nicht erst gestern geschaffen wurde.« »Das denke ich auch«, sagte Sun Koh. »Das wird die Suche nach ihm nicht gerade erleichtern. Doch nun vorwärts, die Zeit verrinnt.« Bill Carring und Hal Mervin brachen gemeinsam auf. »Wir werden uns zunächst um den Lastwagen kümmern«, schlug Carring vor. »Vielleicht finden wir an ihm einen Hinweis, der uns weiterführt.« Der Lastwagen, der von Mieuxvaux benutzt worden war, stand im Hof des Fuhrunternehmers. Der Besitzer erklärte sich sofort bereit, den Wagen den beiden zu zeigen. »Er steht noch genauso da, wie wir ihn hereingefahren haben«, versicherte er. »Die Polizei verlangte es, aber bis jetzt hat sich noch niemand sehen lassen. Das ist eine Ungehörigkeit, über die ich mich noch zu beschweren gedenke. Ich brauche den Wagen. Jeden Tag, den er hier nutzlos herumsteht, kostet mich ein Vermögen. Ich hätte ihn heute bereits 77
zweimal vermieten können. Außerdem muß er notwendig repariert werden. Oh, Sie glauben nicht, welche Einbuße dieser Fall für mich bringt.« »Ist der Wagen nicht in Ordnung?« fragte Carring. »Sehen Sie selbst.« Der Besitzer deutete auf den Wagen. »Diese Banditen haben ihn gewaltsam zur Ruine gemacht.« Diese Behauptung erwies sich freilich als stark übertrieben. Carring stellte fest, daß man zwei Bodenbretter des Wagens losgebrochen hatte. Dadurch war an der linken Seite der Ladefläche eine geräumige Öffnung entstanden, ein Schaden, der mit Hilfe einiger Nägel schnell wieder behoben werden konnte. »Haben Sie den Tachometer nachgeprüft?« fragte Carring. »Es wäre mir wichtig, wieviel Kilometer gefahren wurden.« Der Wagenbesitzer machte eine bedeutungsvolle Geste. »Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Die Leute sind vierundsechzig Kilometer mit meinem Wagen gefahren.« Die beiden wollten ihren Ohren nicht trauen. »Bitte?« »Vierundsechzig Kilometer«, wiederholte der Besitzer. »Das kann ich beschwören, denn ich habe selbst den Tachometer nachgesehen, als der Wagen geholt wurde. Der Fahrer erkundigte sich noch spitz, 78
ob es mir etwas ausmache, wenn ein paar Kilometer mehr oder weniger gefahren werden würden, was ich selbstverständlich verneinte.« »Vierundsechzig Kilometer«, murmelte Carring. »Das ist überraschend. Wurde der Wagen heute morgen bei Ihnen abgeholt?« Der Mann schüttelte lebhaft den Kopf. »Aber nein. Ich sagte dem Polizisten schon, daß es gestern sehr spät abends war. Ich wollte mich gerade zurückziehen, als dieser Kunde kam, der nur Sorge und Ärger über mich gebracht hat.« Sie sahen sich den Wagen gründlich an, als wollten sie tatsächlich den berühmten Stoffetzen finden, dann verließen sie den Hof. »Das ist eine schöne Pleite«, meinte Hal, als sie allein waren. »Wir wollen hier suchen, und nun ist der Wagen vierundsechzig Kilometer gefahren.« »Ausgeschlossen«, entgegnete Carring bestimmt. »Das ist ein Bluff.« Hal sah ihn erstaunt an. »Na hören Sie mal, Sie denken doch nicht etwa, daß sie den Tachometer mit dem Finger durchgedreht haben?« »Das natürlich nicht. Der Wagen hat die angezeigte Strecke zurückgelegt, aber nicht mit den Goldbarren.« »Ah, es dämmert.« »Ja, deshalb fragte ich, wann der Wagen geholt 79
wurde. Die Leute haben vorher eine längere Fahrt unternommen, vielleicht gar nur zu dem Zweck, um die Polizei zu täuschen. Sie dachten wohl nicht, daß man ihnen die Zeiten so genau nachrechnen würde. Jedenfalls ist es ausgeschlossen, daß der vollbeladene Lastwagen in einer knappen Stunde, zum Teil noch im Stadtgebiet, über sechzig Kilometer zurücklegen konnte. Das gibt es nicht, daher brauchen wir uns von der Tachometerzahl gar nicht ablenken zu lassen.« »Ganz meine Meinung«, stimmte Hal zu. »Und was sagen Sie zu dem Loch im Wagen?« Carring hob die Schultern. »Ich bin mir noch nicht so recht klar, was das bedeuten könnte.« Hal warf sich in die Brust. »Aber ich. Sehen Sie, das ist eben der Unterschied zwischen einem Gelegenheitsdetektiv und einem begnadeten Meisterspürhund. Die Andeutung einer Andeutung genügt, und schon sitzen die Verbrecher im Gefängnis.« »Und du in der Kaltwasserheilanstalt«, brummte Carring herzlos. »Also rede vernünftig.« Hal schlug den Rat nicht aus. »Also ich schätze, daß die Leute die Bretter nicht nur zum Zeitvertreib abgehoben haben. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wollten sie eine falsche Spur legen, oder sie hatten es nötig, die Bretter zu lösen. Die Irreführung scheidet aus, schon deshalb, 80
weil die Polizei die gute Absicht gar nicht begreifen wird. Außerdem, womit ich zum zweiten komme, wurde das Loch in der Ladefläche benutzt. Haben Sie die Kerben und die abgeschabten und abgesplitterten Kanten bemerkt?« »Gewiß«, sagte Carring. »Aber fahre fort.« »Dann ist Ihnen wahrscheinlich auch aufgefallen, daß man die Öffnung so gebrochen hat, daß sie durch das Gestänge, die Deckbleche und die Welle nicht versperrt wurde. Was man hindurchfallen ließ, mußte unweigerlich glatt auf den Boden fallen. Der Schluß aus den beiden Feststellungen ist klar. Die Verbrecher haben die Barren nicht auf gewöhnliche Weise entladen, sondern sie durch das Loch geworfen.« Carring klopfte ihm auf die Schulter. »Ausgezeichnet. Du beobachtest gut und denkst gut. Genau die gleichen Schlußfolgerungen zog ich, als ich auf dem Wagen stand.« Hal kniff die Augen zusammen. »Wieso? Ich habe Ihnen doch jetzt erst alles erzählt? Sie waren doch noch beim Nachdenken?« »Stimmt«, bejahte Carring stillvergnügt, »aber ich war schon ein Stück weiter. Ich wollte nur hören, ob du meiner Meinung bist.« »So werden einem die Ruhmestaten vermiest. Wenn ich Ihnen nächstens den Räuber bringe, behaupten Sie glatt, Sie hätten seinen Namen schon lange gewußt.« 81
»Habe ich auch.« Carring grinste. »Mieuxvaux.« »Auch wieder richtig. Also schön, knobeln wir weiter.« »Ich zweifle nicht daran, daß die Goldbarren durch die Öffnung hindurch entladen wurden«, nahm Carring das sachliche Gespräch wieder auf. »Wir müßten vielleicht diesen Larousse befragen, ob er die Öffnung schon bemerkt hat, beziehungsweise wie die Barren gestapelt wurden. Wichtig ist nun die Frage, warum die Räuber diese ungewöhnliche Methode anwandten. Unter normalen Umständen konnten sie an Zeit nichts gewinnen. Gewiß, es geht schneller, wenn man die Barren, die neben der Öffnung liegen, einfach hinunterstürzt. Aber dann liegen sie unter dem Wagen und müssen umständlich vorgeräumt werden. Und die Barren, die sich nicht in unmittelbarer Nähe der Öffnung befinden, muß man auch erst tragen.« »Vielleicht wurde ein Teil über die Rückwand, ein Teil aber durch das Loch geworfen, um sie schneller herunter zu bekommen.« »Daran dachte ich auch, aber ich glaube nicht recht daran. Die Barren, die nach hinten abgeworfen wurden, konnte man zur Not einfach liegen lassen. Die anderen jedoch versperrten den Weg, verkeilten das Hinterrad und mußten also erst weggezogen werden. Das hätte mehr Zeit gekostet, als wenn man die Barren mit nach hinten abgeladen hätte.« 82
»Vielleicht benutzte man eine Rutsche?« Carring schüttelte den Kopf. »Auf die geringe Höhe bekäme eine Rutsche zu wenig Neigung. Nein, ich denke, das Loch wird nicht um des Zeitgewinns geschaffen worden sein, sondern aus andern, sehr gewichtigen Gründen. Wir müssen nach solchen Gründen suchen, aus denen heraus die Abladung der Goldbarren durch die Öffnung hindurch bedeutende Vorteile bot.« Sie grübelten beide eine Weile, dann meinte Hal lebhaft: »Ich hab’s. Der Wagen fuhr über ein Loch, eine Grube. In sie ließ man die Barren durch die Öffnung fallen. Dann deckte man sie einfach zu, der Wagen konnte abfahren, und die Barren waren zugleich verschwunden.« Carring überlegte noch. »Hm, das klingt sehr einleuchtend. Aber warum fuhr der Wagen nicht einfach so, daß die Barren von der Rückwand aus in die Grube geworfen werden konnten?« »Vielleicht lag sie zu ungünstig, so daß der Wagen nur von der Seite heran konnte. Stellen Sie sich vor, daß sich die Grube zum Beispiel in einer engen Durchfahrt befand.« »Durchaus denkbar«, stimmte Carring zu. »Ich halte deine Annahme für richtig. Die Barren wurden in eine Grube geworfen. Wir müssen also auf unserer Suche nach einer solchen Ausschau halten.« 83
Hal seufzte. »Da werden wir also in der nächsten Zeit sämtliche Aschengruben von Paris kennenlernen.« »Kaum zu befürchten.« »Das beruhigt mich außerordentlich.« * Bill Carring und Hal Mervin wanderten unermüdlich durch die Straßen. Sie horchten überall herum, ließen keinen Kanaldeckel außer acht, suchten jede Durchfahrt und jeden Hof ab und verstanden es, mit List und Tücke in jeden Schuppen einzudringen und dort Nachschau zu halten. Darüber vergingen fast zwei Wochen. Man konnte wirklich nicht behaupten, daß sie noch begeistert waren. Im Gegenteil, sie liefen recht verdrossen durch die Straßen. Von Tag zu Tag schwand die Hoffnung immer mehr. Es war so gut wie sicher, daß die Barren aus der Stadt herausgeschafft wurden. Wahrscheinlich geschah es mit Hilfe eines Privatwagens, der die Barren in kleinen Ladungen aufs Land brachte, wo sie von dem Flugzeug übernommen wurden. Wenn die Räuber fleißig arbeiteten, mußten sie schon sämtliche Barren in Sicherheit gebracht haben. Das ermutigte nicht gerade. Aber sie hatten sich vorgenommen, die Spur zu finden, deshalb wollten 84
sie durchhalten, bis sie die vorgesehenen Bezirke vollständig abgesucht hatten. Inspektor Medonc war nicht abgeneigt gewesen, eine Sperre über das ganze Stadtgebiet zu verhängen und alle ausfahrenden Wagen gründlich untersuchen zu lassen. Man hatte ihm jedoch rechtzeitig von oben her bedeutet, daß man um der Arbeit der Kriminalpolizei willen nicht den gesamten Verkehr von Paris lahmlegen könne. »Man könnte aus der Haut fahren«, schimpfte Hal Mervin an diesem Nachmittag. »Wir laufen hier wie verdrehte Hühner herum, und die Verbrecher lachen sich eins ins Fäustchen.« Carring nickte nur. Diese und ähnliche Überlegungen hatten sie schon zehnmal und öfter durchgekaut. Sie bogen in eine Nebenstraße ein, wie man sie in jeder Gegend häufig fand. Sie war kaum zweihundert Meter lang und verband zwei Straßen, die auch schon abseits des Verkehrs lagen. Die Häuser standen weit zurück in parkähnlichen Gärten, die durch eiserne Zäune von der Straße abgetrennt wurden. Am Rand des Fußweges standen Linden. »Es hat zwar wenig Zweck«, stellte Carring fest, »noch nicht einmal Einfahrten scheint es hier zu geben, aber wir wollen sie mitnehmen.« In der zweiten Hälfte der zur Zeit gänzlich unbelebten Straße bemerkten sie einen alten, weißhaari85
gen Mann. Er saß dicht am Zaun hinter einer grünen Hecke, die jedoch an einigen Stellen den Blick auf die Straße und von der Straße auf den Sitzplatz freigab. Carring grüßte freundlich und bemerkte scherzend: »Da läßt sich’s friedlich träumen, nicht wahr?« Der alte Herr lächelte. »Was bleibt einem Mann in meinem Alter noch anders übrig? Als ich mich in Ihrem Alter befand, mein Herr, dachte ich auch nicht daran, mich den ganzen langen Tag still hinzusetzen und die spärlichen Ereignisse dieser Straße zu sammeln. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie in dieser Straße eine Wohnung suchen?« Carring blickte etwas verdutzt und stieß unwillkürlich heraus: »Nein. Warum?« »Oh, verzeihen Sie. Ich vermutete es nur, weil ich Ihre Augen suchend herumgehen sah. Ich dachte, ich könnte Ihnen behilflich sein.« »Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit«, sagte Carring. »Sie sind ein guter Beobachter. Wir suchen aber nicht eine Wohnung, sondern einen Wagen, einen Lastwagen, der vor zwölf Tagen durch eine dieser Straßen gefahren ist.« Der Greis nickte bedächtig. »Ah, ich verstehe. Die Herren sind Detektive. Freilich, da kann ich Ihnen kaum dienen. Der einzige Lastwagen, der in der jüngsten Zeit diese Straße befuhr, gehörte wohl zum städtischen Schleusendienst. 86
Das ist allerdings genau zwölf Tage her, als er dort vorn stand. Ich hatte mich gerade hierhergesetzt. Sie müssen wissen, daß ich jeden Morgen punkt neun Uhr diesen Platz einnehme, wenn es das Wetter einigermaßen erlaubt.« »Tag und Zeit würden ausgezeichnet stimmen«, sagte Carring nachdenklich. »Sie sind davon überzeugt, daß der Wagen der Stadt gehörte?« »Zweifellos. Sie bauten ja ein Zelt – Sie kennen wohl diese üblichen Zelte – auf, nachdem sie den Schleusendeckel abgehoben hatten. Allerdings, es gab da manche Dinge, die den Eindruck des Ungewohnten auf mich machten. Mich wunderte vor allem, daß ein so gut angezogener Herr eine solche Arbeit verrichtete. Aber wahrscheinlich war es ein höherer Angestellter, der eine schnelle Stichprobe vornehmen wollte. Seltsam fand ich auch, daß sie das Zelt neben der Öffnung aufschlugen und über diese mit dem Wagen fuhren.« »Sehr merkwürdig«, sagte Carring. »War es ein geschlossener Wagen?« »Ganz recht, ein Wagen mit einer Plane, Sie kennen sicher diesen Typ.« »Womit haben sich denn die Leute beschäftigt?« »Nun mit dieser Auskunft kann ich Ihnen leider nicht dienen«, bedauerte der Greis. »Ich habe mich selbst gewundert, was die Leute wohl vorhaben konnten. Sie stiegen aber nur in den Wagen hinein 87
und ließen sich fast eine halbe Stunde nicht sehen. Und als sie herauskamen, rafften sie das Zelt zusammen und luden es auf. Der Lastwagen fuhr ein Stück, dann legten sie den Schleusendeckel auf. Und dann fuhren sie weiter.« »Auf die Nummer des Wagens haben Sie wohl nicht geachtet?« »Nein.« Der andere lächelte. »Ich hätte sie mir auch kaum merken können. Mein Gedächtnis für Zahlen ist stets schwach gewesen. Aber es befand sich ein großes, eingesetztes Stück in der Plane, wenn Ihnen damit gedient ist.« Bill Carring atmete tief auf. Sie hatten die Spur gefunden. »Der Hinweis ist mir außerordentlich wertvoll. Doch erlauben Sie mir die Frage: Lesen Sie keine Zeitungen?« Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Meine Augen vertragen das Lesen nicht recht, und außerdem ist man’s in meinem Alter überdrüssig, alle Schlechtigkeit der Welt in täglich neuer Form weiterzuverfolgen.« Carring knüpfte daran noch einige allgemeine Bemerkungen, dann verabschiedete er sich einstweilen. Es drängte ihn, Hal zu folgen, der schon weggelaufen war und augenblicklich auf dem Kanaldeckel kniete. 88
»Gehen Sie weiter«, sagte er, als Carring herankam. »Es ist nicht nötig, daß wir die ganze Straße durch unser Verhalten rebellisch machen. Ich komme gleich nach, habe schon was gefunden.« Carring begriff. Wenn Mieuxvaux oder einer seiner Leute die Straße beobachteten, konnten sie gewarnt werden. Hal allein fiel nicht so auf. Dann kam er schon mit schnellen Schritten hinterher. »Was ist das?« fragte er und hielt Carring die Klinge seines Taschenmessers unter die Nase. Carring prüfte sorgfältig das gelbliche Etwas, das auf der Klinge lag. »Das könnte Gold sein!« Hal nickte. »Wetten, daß es Gold ist? Das habe ich schon von der scharfen Kante der eisernen Fassung weggekratzt. Ich denke mir, daß die Leute die Barren dort hinuntergeworfen haben und daß dabei einer gegen den Rand schlug.« »Sehr wahrscheinlich. Ich glaube, wir haben es geschafft. Der Wagen war bestimmt der gleiche, in dem unser Gold weggeschafft wurde.« »Sie haben also die Barren in die Schleuse geworfen? Aber was sollte das für einen Sinn haben? Ich glaube nicht, daß man sie in der Nacht dort wieder herausholt. Eher wäre es möglich, daß sich einer der Anwohner einen Anschluß an die Entwässerungskanäle geschaffen hat.« 89
»Das dachte ich auch«, sagte Carring. »Dort unten liegen ja sicher wie in jeder Großstadt Rohre von einem Durchmesser, der es erlaubt, sie zu passieren. Und wenn durch diese Straße zufällig ein Hauptflutrohr läuft, ist dort unten mehr Platz, als die Räuber brauchten. Aber das werden wir ja sehen. Ich denke, wir steigen ein, sobald es dunkel geworden ist.« »Klar. Aber wäre es nicht zweckmäßig, wenn wir den alten Herrn noch ein bißchen über die Bewohner der Straße aushorchen würden, besonders über die, die in der Nähe unseres Kanaldeckels wohnen?« Carring fand den Vorschlag gut. Sie kehrten um. Der Greis gab ihnen willig Auskünfte. Übermäßig befriedigend waren sie freilich nicht. Nur ein einziger der Anlieger, der nach der Lage des Kanaldeckels in Frage kam, besaß einen Wagen, mit dem er hätte die Barren aus der Stadt schaffen können. Dieser Anlieger wurde aber von dem Greis als alter, untadeliger Professor geschildert, der seit zwei Jahren in der Straße wohnte. Gegenüber lebten zwei ältere Damen, die anderen Häuser waren von Familien besetzt. Zum Schluß hatte Carring das Gefühl, daß überhaupt niemand dieser Bewohner mit dem Goldraub in Verbindung stehen könne. Immerhin notierte er sich jedoch die Namen, um durch Medonc Nachforschungen anstellen zu lassen. »Viel Zweck hatten unsere Fragen nicht«, meinte er später zu Hal. »Aber wir müssen den richtigen 90
Mann finden, wenn wir einmal unten sind. Und ich denke mir, daß wir gar nicht lange zu suchen brauchen. Die Räuber haben nicht eine beliebige Stelle ausgewählt, sondern die, die ihnen am günstigsten lag.« »Ich tippe auf den Professor«, sagte Hal. »Wegen des Autos?« »Zum Teil, aber hauptsächlich noch wegen einer anderen Sache. Was glauben Sie wohl, warum die beiden Räuber ein Zelt aufstellten?« »Ganz klar. Erstens wurden sie dadurch offiziell und zweitens deckten sie die durchfallenden Barren gegen Sicht.« »Ganz recht. Aber sie stellten nur ein Zelt auf die eine Seite. Die andere Seite blieb frei. Von dort hatten sie also nichts zu befürchten. Auf jener Seite liegt aber die Villa des Professors.« »Gut gedacht«, lobte Carring. »Wir werden sehen, ob deine Schlüsse stimmen. Heute nacht gehen wir unter die Erde.« * Die beiden waren nicht gerade freudig überrascht, als ihnen Sun Koh entschieden das Abenteuer zu zweit verwehrte. »Es wäre fahrlässig, wenn Ihr auf diese Weise vorgehen wolltet«, erklärte er bestimmt. »Wenn eure 91
Spur richtig ist, müßt ihr in dem Augenblick, in dem ihr von unten her eindringt, die Verbrecher verscheuchen. Ich zweifle, daß ihr sie stellen könnt. Es bleiben ihnen allzu viele Fluchtwege. Wenn man schon von unten her eindringt, muß man gleichzeitig oben alles abriegeln. Deshalb ist es besser, wir verständigen Medonc.« »Wir wollen aber nur das Gold sicherstellen«, warf Hal ein. »Wenn es noch vorhanden ist. Wir müssen schon damit rechnen, daß der größte Teil abtransportiert wurde. Wir brauchen also auch die Räuber, um von ihnen zu erfahren, wo sie das Gold hinschafften.« Dagegen war nichts einzuwenden. Die beiden mußten sich fügen. Sun Koh sprach mit Medonc und schilderte ihm den Stand der Angelegenheit. »Wunderbar«, freute sich der Beamte. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. Wir müssen nun vor allem feststellen, ob irgendwo in der Nähe des Kanaldeckels ein Durchbruch geschaffen wurde. Ich werde mich mit dem Schleusenamt in Verbindung setzen und selbst nachsehen.« »Lassen Sie sich aber nicht zu mehr verleiten, bevor Sie nicht das betreffende Haus abgeriegelt haben.« Nach drei Stunden rief er an. »Gefunden«, teilte er voller Genugtuung mit. »Es 92
handelt sich um das Haus des Professors. Hinter dem Titel ist aber ein großes Fragezeichen zu setzen. Ich habe mich schon bei verschiedenen berufenen Stellen erkundigt, und diesen ist ein Professor Lenoir unbekannt. Vermutlich reist der Mann unter falschem Namen.« »Haben Sie noch Barren gefunden?« »In der Schleuse nicht, wohl aber alle Anzeichen dafür, daß die Barren tatsächlich dort hinuntergestürzt wurden. Alles weitere werden wir heute nacht erfahren. Ich lasse eine Razzia vornehmen. Das Haus wird umstellt, wir dringen gleichzeitig von oben und von unten ein. Haben Sie Lust, teilzunehmen?« »Selbstverständlich. Ich werde mit meinen Leuten kommen.« »Gut. Sie treffen mich um 23 Uhr an der Einmündung der Straße. Um diese Zeit ist schon alles besetzt.« Kurz vor elf Uhr nachts stoppte der Wagen Sun Kohs an der genannten Stelle ab. Medonc war bereits anwesend. »Alles in Ordnung«, berichtete er. »Wollen Sie mit hinunterkommen?« »Nein«, sagte Sun Koh. »Ich kann mir denken, daß wir Ihnen und Ihren Leuten nur im Weg stehen.« »Gut, dann gebe ich Ihnen hier Sergeant Mouliere bei. Er mag Sie führen, damit Sie keine Schwierigkeiten bekommen. Warten Sie bitte noch fünf Minuten, dann rücken wir vor.« 93
Sie warteten. »Ein schönes Abenteuer«, seufzte Hal Mervin. »Ich hatte mich wahrhaftig darauf gefreut. Ein paar Wochen lang haben wir uns die Beine weggelaufen, und nun nehmen uns andere den Spaß weg.« »Trag’s mit Würde«, tröstete Carring. »Es ist nun einmal so besser.« »Wer weiß?« Sie folgten der eindringenden Polizei. Medonc war ganz sichergegangen und hatte an die fünfzig Leute aufgeboten, so daß kein Meter Gelände unbeobachtet blieb. Und im Haus selbst wimmelte es später geradezu von Beamten. Hinterher bekam dieses Riesenaufgebot einen Stich ins Lächerliche. Das Haus war nämlich leer. Die Tür mußte aufgebrochen werden. Im ganzen Haus befand sich kein Mensch. Medonc, der mit ein paar Leuten von unten her eingedrungen war, hatte mehr Glück. Er fand in einem kleinen Kellerraum einen halbverhungerten und fast verdursteten Mann in Fesseln. Mieuxvaux. Er blieb der einzige Fund der Razzia. Vor allem fand sich nichts mehr von den Goldbarren vor. Der Inspektor ließ Mieuxvaux nach oben tragen und durch den Arzt behandeln. »Der Mann ist vollkommen erschöpft«, stellte dieser fest. »Er gehört in klinische Behandlung. Es ist 94
jedoch anzunehmen, daß er ohne Schädigungen davonkommt.« »Ist er vernehmungsfähig?« »Er ist zu Bewußtsein gekommen und kann sprechen. Besser ist natürlich, man läßt ihn noch in Ruhe. Aber viel schaden wird es auch nicht, wenn Sie ein paar Fragen stellen. Er wird von allein einschlafen, wenn es ihm zuviel wird.« Medonc, Sun Koh und ein Schreiber setzten sich neben das Lager Mieuxvaux’, der sie mit fiebrigen Augen anstarrte. »Ich hoffe, daß Sie uns einige Fragen beantworten«, begann Medonc. »Wenn wir nicht gekommen wären, würden Sie morgen oder übermorgen gestorben sein. Sie können uns also nun ruhig ein bißchen helfen, nicht wahr?« »Ja«, flüsterte der Bankdirektor. »Ich will alles erzählen.« »Ausgezeichnet«, lobte Medonc. »Zuvor möchte ich Sie aber darauf aufmerksam machen, daß wir so ziemlich alles über Sie wissen. Sie hatten sehr hohe Schulden, zum Teil Spielschulden, nicht wahr?« »Ich will mich nicht reinwaschen«, stieß Mieuxvaux rauh heraus. »Ich war leichtsinnig. Dann lernte ich Lenoir kennen und kam unter seinen Einfluß. Ich wollte einen großen Schlag machen und dann mit ihm zusammen verschwinden. Seit einem halben Jahr wartete ich darauf. Dann kam das Gold. Es war 95
alles vorbereitet und alles so leicht.« »Sie brachten das Gold hierher?« »In die Schleuse.« »Und wo ist es jetzt?« »Sie haben es fortgeschafft.« »Wohin?« Das Gesicht des Erschöpften verzerrte sich. »Ich weiß es nicht.« »War es Lenoir, der Sie eingesperrt hat?« »Ja.« »Ah, Sie haben sich mit ihm gestritten?« Mieuxvaux machte den Versuch, den Kopf zu schütteln. »Nein, er hatte wohl schon vorher die Absicht gehabt, sich meiner zu entledigen, nachdem ich für ihn gearbeitet hatte. Er erklärte mir, daß mein Bild überall angeschlagen sei und daß er keine Lust habe, sich um meinetwillen in Gefahr zu bringen. Sie fesselten mich und brachten mich dort hinunter. In den ersten Tagen kümmerten sie sich um mich, aber dann vergaßen sie mich einfach. Ich wäre umgekommen …« »Ganz recht«, brummte Medonc mitleidslos. »Da sind Sie also einem noch größeren Halunken ins Garn gegangen. Wer ist denn dieser Lenoir?« »Ein Verbrecher. Er verriet nichts über sich, aber ich hörte einmal, wie ihn einer seiner Leute Sheppard nannte.« Medonc beugte sich erregt vor. »Sheppard?« 96
»Ja.« Der Inspektor atmete tief. »Ah, sollte es dieser berüchtigte Halunke sein? Doch gut – wieviel Leute hatte er bei sich?« »Zwei.« »Und wo halten Sie sich jetzt auf?« »Ich weiß es nicht«, stöhnte Mieuxvaux. »Sie sind mit dem Gold fort. Er muß einen Schlupfwinkel haben, in dem er noch mehr Leute hat. Ich hörte sie davon sprechen.« »Besinnen Sie sich«, bat der Inspektor, der wohl .merkte, daß er nicht mehr viel Fragen stellen konnte. »Es ist ungemein wichtig, wenn Sie uns einen Hinweis geben können, nicht nur für Sie, sondern auch für uns.« »Das Versteck muß unter der Erde liegen«, antwortete der Erschöpfte mühsam. »Sie sprachen von Höhlen.« »Mehr!« drängte Medonc. »Nischen in Felswänden müssen dort sein. Einmal sprachen sie auch von einem Taufbecken.« »Das klingt allerdings mehr nach Kirche.« »Keine Kirche«, flüsterte Mieuxvaux. »Auch rote Kreise an den Decken und viele Knochen erwähnten sie einmal.« »Können Sie wenigstens ungefähr sagen, in welche Richtung sie sich gewandt haben?« »Mittelmeer«, hauchte Mieuxvaux matt. »Ich 97
dachte, auf einer der Inseln.« »Auf welcher?« Mieuxvaux antwortete nicht mehr. Die Erschöpfung hatte ihn überwältigt. Medonc gab Anweisung, ihn ins Gefängnishospital zu bringen. »Ein paar Jahre wird ihn der Streich kosten«, bemerkte er später zu Sun Koh. »Aber ich würde ihn gern laufen lassen, wenn ich diesen Sheppard fangen könnte.« »Welche Bewandtnis hat es mit ihm?« »Er ist ein ganz großer Gauner. Mit kleinen Sachen gibt er sich nicht ab. Er schlägt gründlich zu und verschwindet dann für zwei oder drei Jahre, bis er irgendwo wieder seinen Streich gelandet hat. Diesmal hat es sich gründlich gelohnt.« »Er hat seine Beute noch nicht in Sicherheit«, antwortete Sun Koh. »Ich werde mit meinen Leuten versuchen, ihn zu finden.« Medonc hob die Brauen. »Da müßten Sie aber viel Glück haben.« »Die Hinweise Mieuxvaux’ sind schon etwas wert. Wir müssen zunächst nach einer Insel im Mittelmeer suchen, auf der es Höhlen gibt.« »Mieuxvaux hat selbst nur Vermutungen ausgesprochen«, warnte Medonc. »Offengestanden zweifle ich sogar, ob er seine Aussage bei vollem Bewußtsein gemacht hat.« »Ich glaube doch«, widersprach Sun Koh. »Auf 98
jeden Fall können wir das Gold nicht einfach aufgeben, sondern müssen uns an die wenigen Hinweise halten, so fragwürdig sie auch scheinen.« »Freilich, freilich«, stimmte der Inspektor zu. »Wenn es mein Gold wäre, würde ich es auch nicht aufgeben. Und wenn Sie wirklich Sheppard fassen, dann vergessen Sie bitte nicht, daß ich das dringende Bedürfnis habe, ihm einige Fragen zu stellen.« »Ich werde daran denken«, versprach Sun Koh. 5. Auf der Anhöhe erhob sich ein Kegel von fast zwanzig Metern Höhe. Er war in drei deutlich zurückspringende Stockwerke gegliedert und oben abgestumpft. Man hatte ihn aus behauenen Steinquadern aufgeführt, doch mußte das vor sehr langer Zeit geschehen sein, denn die Steine zeigten die Spuren hohen Alters. Dicht vor dem Kegel blieb der Führer stehen. Zugleich verhielten Sun Koh, Hal Mervin und Nimba den Schritt. Der dunkelhäutige, schwarzhaarige Sardinier wies mit bedeutsamer Gebärde auf den steinernen Kegel. »Das ist ein Nuraghi. Sie stehen vor einem der merkwürdigsten und interessantesten Baudenkmäler. Man findet solche Nuraghis zu Tausenden auf unserer herrlichen Insel Sardinien. Sie sind stumme Zeu99
gen einer verschollenen Kultur, die in der Periode der jüngeren Steinzeit hier auf Sardinien blüht. Damals war unsere Insel dicht bevölkert, ein reiches Land mit starken Menschen. Später landeten freilich die Phönizier an unseren Gestaden und vernichteten jene Kolonien, die Sie heute noch als Küstenstädte kennen. Die Steinzeitbewohner wurden zurückgedrängt. Sie lebten im Innern des Landes ihr eigenes Leben weiter, bis sie sich mit den immer zahlreicher werdenden Kolonisten allmählich vermischten und in ihnen aufgingen. Bitte, beachten Sie den dreistufigen Aufbau der Nuraghi, ferner den sorgfältigen Behau der Steine. Es erscheint geradezu rätselhaft, wie jene Menschen mit ihren primitiven Geräten aus Stein und Bronze diese Steine so genau und gleichmäßig gerundet bearbeiten konnten. Beachten Sie auch, wie überraschend schmal die Fugen zwischen den Steinen sind.« »Das ist doch Quatsch«, murmelte Hal. »Mit einem Bronzebeil kann man doch die Steine nicht so behauen. Bronze ist doch viel zu weich. Und mit einem Steinbeil geht es erst recht nicht.« Sun Koh nickte. »Es würde mich allerdings auch sehr wundern, wenn jene Leute nur mit Stein- und Bronzebeilen gearbeitet hätten.« Er wandte sich an den Führer. »Weshalb nehmen Sie an, daß die Steine durch Stein- oder Bronzebeile behauen wurden?« 100
Der malerisch Gekleidete blickte Sun Koh überrascht an. »Die Bauten stammen aus der jüngeren Steinzeit. Damals gab es nichts anderes.« »Hat man entsprechende Werkzeuge gefunden?« Der Führer verzog sein Gesicht wie in tiefer Betrübnis. »Leider nicht, leider nicht. So mancher Gelehrte hat sich darum bemüht, aber man fand nur schwarze Tonscherben und kleine Figuren aus Bronze, nichts von Werkzeugen.« »Und darum datiert man diese Bauten in die jüngere Steinzeit?« Der Sardinier mimte den Geheimnisvollen. »Als die Phönizier ins Land kamen, fanden sie diese Nuraghis bereits vor, und schon damals waren sie alt. Die Gelehrten können so etwas genau bestimmen. Zehntausend Jahre und mehr sollen vergangen sein, seitdem sie gebaut wurden.« Sun Koh lächelte. »Das heißt den Begriff der jüngeren Steinzeit recht weit fassen. Doch sehen wir weiter.« Der Führer verneigte sich. »Wenn ich bitten darf, mir zu folgen?« Sie durchschritten einen Eingang, der von einem mächtigen Monolithen überwuchert wurde. Dicht hinter der Türöffnung bauchte sich eine Nische aus. »Das war der Platz des Wächters«, erklärte der 101
Sardinier. »Er überwachte den Eingang. Und hier ist der Innenraum. Sie bemerkten hier die eigentümliche Bauweise dieser Nuraghis. Die Steine wurden so übereinander gelegt, daß der obere Stein ein Stückchen über den unteren vorragte. Das geschah in jeder Sicht, so daß sich die Schlußsteine schließlich oben vereinigten. Eine sehr eigentümliche Bauweise, die man sonst nirgends mehr findet. Von hier aus sehen Sie, wie die Steine gewissermaßen eine Treppe bilden.« »Sehr merkwürdig«, sagte Sun Koh. »Verflixt komisch«, drückte sich Hal etwas schärfer aus. »Man könnte denken, wir befänden uns in Yukatan.« »Das wollte ich auch schon sagen«, brummte Nimba. »Die Tempelbauten, die wir dort gesehen haben, sind ganz genauso gewölbt.« »Waren die Wände früher verputzt?« erkundigte sich Sun Koh und wies auf die Reste eines Lehmbewurfs. »Gewiß«, bejahte der Führer. »Leider ist der Putz im Lauf der Zeit abgefallen. Sie sehen, daß der Nuraghi durch eine Wand in zwei Hälften geteilt wird, so daß getrennte Kammern entstehen. Die Wand setzt sich bis zur Spitzte fort. Dort ist die Treppe. Wenn es die Herren wagen wollen?« Sie kletterten die halsbrecherische steile Steinstiege, die sich an der Mittelwand hinaufzog, aufwärts. 102
Es lohnte sich allerdings nicht recht, denn weiter oben fanden sie nur noch die stark verjüngten Kammern der oberen Geschosse. »Vielleicht darf ich Ihnen nun einen Brunnen zeigen«, sagte der Sardinier, als sie wieder draußen standen. »Es sind nur wenige Meter. In dieser Richtung, bitte. Die Brunnen wurden gewöhnlich in geringer Entfernung von den Nuraghis angelegt. Sie besitzen verschiedene Tiefe, sind aber alle kunstvoll ausgemauert.« In der Tat, mehr konnte man von einem steinzeitlichen Brunnenbauer wirklich nicht verlangen. Die drei sahen vor sich einen Meter breiten, kreisrunden Schacht, dessen Wände aus sorgfältig behauenen, vollkommen gleichmäßig gerundeten und engf ugig gesetzten Werksteinen bestanden, die weiter in die Tiefe reichten, als man sehen konnte. »Reinste Wundermänner, diese Steinzeitmänner«, knurrte Hal. »In der Schule hat man uns erzählt, daß sie in Höhlen und Zelten lebten. Ich denke, man hat uns beschwindelt, oder der Kerl hier lügt. Das ist doch prima Steinmetzarbeit!« Hal konnte sich aussprechen, weil der Führer weit genug abstand. Dieser ahnte jedenfalls nichts von den Zweifeln der Fremden, als Sun Koh fragte: »Wie erklären Sie sich, daß man solche Bauten nur auf Sardinien findet, nicht aber auf dem Festland?« Mit Sicherheit und Überzeugung erläuterte der 103
Führer: »Oh, das ist sehr einfach. Sehen Sie, einst gab es rings um Sardinien kein Meer, es war noch keine Insel. Das ganze Mittelmeer war vor mehr als zehntausend Jahren noch Land. Damals lebten hier schon Menschen. Eines Tages versanken dann die großen Gebiete, die jetzt Mittelmeer sind. Das Land brach ein, Afrika trennte sich von Europa. Sie müssen wissen, daß damals noch alles eins war. Die Bewohner dieser Insel wurden von denen des Festlandes geschieden und entwickelten eine eigene Kultur, als deren Ausdruck Sie diese Nuraghis sehen.« Sun Koh lächelte flüchtig. »Stellt diese Erklärung Ihre persönliche Überzeugung dar?« Der Mann wehrte mit beiden Händen ab. »Durchaus nicht, durchaus nicht. Es sind bedeutende Gelehrte, die das festgestellt haben. Doch wenn ich Ihnen nun noch eine Grabstätte zeigen darf?« Sie folgten ihm zu einem unregelmäßigen Gebilde aus großen Steinplatten, von denen die größte zehn Meter lang und zwei Meter breit war. Der Aufbau war so eigentümlich, daß er nicht durch Zufall oder Willkür geschaffen sein konnte. »Das ist eine Grabstätte«, erklärte der Sardinier mit dem Stolz des Wissenden. »An anderen Stellen der Insel findet man auch Gräber, die in die Felsen eingehauen sind. Dies hier ist eine besonders eigentümliche Form, die allerdings in den westlichen Kü104
stengebieten von Frankreich und England wiederkehren soll.« »Ganz recht«, sagte Sun Koh. »Sie erinnert lebhaft an die Dolmen.« »Ah, das war der Ausdruck, den ich suchte«, begeisterte sich der Führer. »Ein berühmter Gelehrter, der unter meiner Führung diese Steine besichtigte, verglich sie ebenfalls mit den Dolmen. Er schien sich beträchtliche Sorgen darüber zu machen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Nach der Besichtigung der Grabstätte kehrten sie zurück. »Was sagen Sie dazu?« bohrte Hal, als der Führer genügend Abstand hielt. Sun Kohs Antwort lautete etwas überraschend. »Wenn es ein paar tausend solcher Nuraghis auf Sardinien gibt, stehen wir vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe.« Hal war verblüfft. »Das hatte ich ganz vergessen.« »Ja«, meinte Sun Koh, »wir sind ja keine Vergnügungsreisenden, sondern wollen Sheppard oder Lenoir finden, der uns die Goldbarren in Paris geraubt hat. Nach der Aussage seines betrogenen Gehilfen Mieuxvaux soll er sich in unterirdischen Räumen auf einer Mittelmeerinsel verstecken. Wir haben mit Sardinien als der größten begonnen. Höhlen scheint es hier nicht weiter zu geben, aber wenn sich die 105
Verbrecher etwa in einer der Nuraghis verborgen halten, werden wir lange suchen müssen.« »Dann sieht’s allerdings böse aus. Ich wollte Sie aber fragen, was Sie zu den Erklärungen meinen, die uns der Führer gegeben hat.« »Was er erzählte, war phantastisch. Aber es paßt zur Not. Wir kennen die Bauten Mittelamerikas mit dem gleichen Steingefüge und den gleichen überragenden Wölbungen, wir kennen die Dolmen Westeuropas und eine Fülle anderer Einzelheiten. Für uns liegt die Erklärung auf der Hand, daß die Urbewohner Sardiniens atlantische Kolonisten waren, auf deren Spuren wir überall im Mittelmeer treffen, sei es in Eturien, auf Malta, in Ägypten oder auf Kreta. Für den Gelehrten war diese These unmöglich, denn dann hätte er ja die Existenz dieser sagenhaften Insel Atlantis bejahen müssen, die damals vollkommen verneint und noch heute stark umstritten wird. Diese Erklärung schied für ihn aus, also suchte er nach andern und rutschte dabei ganz naiv aus dem Phantastischen ins Unmögliche. Sicher hat einst eine Landbrücke zwischen Afrika und Europa bestanden, aber sie ist nicht erst vor zehntausend Jahren abgesunken. Und wenn sie es wäre, dann bliebe immer noch die Behauptung reichlich naiv, dieses Völkchen auf Sardinien hätte aus unerfindlichen Gründen sich so abweichend von den anderen Bewohnern entwickelt, so abweichend, daß es die Gewölbe mittelamerikani106
scher Kulturen und die Dolmen Westfrankreichs nachahmt. Und es wäre noch lange nicht geklärt, wieso diese Bewohner mit steinzeitlichen Mitteln derartige Bauten errichten konnten.« Hal nickte lebhaft. »Das dachte ich eben auch. Sie meinen also, daß Auswanderer von Atlantis diese Bauten errichtet haben?« »Es ist die natürlichste Vermutung, auf die man zwangsläufig kommt, wenn man Steinbearbeitung und Gewölbebildung mit denen Mittelamerikas vergleicht. Wenn man einmal die Existenz von Atlantis bejaht, liegt sie jedenfalls sehr nahe. Atlantis war das große Mutterland, von dem zu verschiedenen Zeiten Kolonistenströme nach allen Richtungen auszogen, um die Kultur ihrer Heimat in zeit- und landschaftsbedingten Formen im fremden Land weiterzutragen. Es spielte also eine ähnliche Rolle wie Europa, das ununterbrochen Menschen nach allen Erdteilen ausschickte und sich unter den eigenartigsten Bedingungen ferne Denkmäler setzte. Wenn Europa heute versänke, würde es in einigen tausend Jahren auch nur noch eine Sage sein. Sendboten Europas würden im fremden Land, in dem sie eine Minderheit bildeten, allmählich verschwinden und untergehen. Sie würden aber sicher Bauten und anderes hinterlassen, aus denen nach Jahrtausenden auf ihr Wirken geschlossen werden könnte.« 107
Hal dachte nach. »Müßte man dann nicht alles, was von Atlantis stammte, ziemlich genau zueinander tun? Die ägyptischen Bauten sind doch zum Beispiel ganz anders als diese hier auf Sardinien.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Zunächst wirst du bei genauer Untersuchung vermutlich keinen Unterschied oder wenigstens Gegensatz des innersten Wesens finden. Der Unterschied zwischen einem solchen Steinkegel und einer Pyramide ist sicher geringer, als du annimmst. Doch abgesehen davon mußt du zweierlei berücksichtigen. Erstens wanderten die atlantischen Kolonisten zu verschiedenen Zeiten aus. Wenn man es auf Europa übertragen wollte, müßte man etwa feststellen, daß die germanischen Vandalensiedlungen in Nordafrika doch einen ganz anderen Charakter trugen als die Wolkenkratzerstädte ihrer blutsverwandten Nachfahren, der Jetztzeit in Nordamerika. Zweitens sind die Unterschiede der Landschaft zu beachten. Atlantis war groß und bildete wohl kaum ein einziges, landschaftlich und kulturell geschlossenes Gebiet. Wahrscheinlich gab es sogar erhebliche rassische Unterschiede, denn für uns ist ja Atlantis ebenso die Urheimat der Inka wie der nordischen Germanen. In der Übertragung auf Europa müßte man vielleicht die spanischen Siedlungen in Südamerika mit denen niedersächsischer Bauern im gleichen Land vergleichen.« 108
Sie brachen ihr Gespräch ab, da sie bei dem Wagen angelangt waren, den sie auf der Straße hatten stehen lassen. * In dem Gasthof, in dem sie wohnten, fanden sie ein Telegramm vor, daß Valmy aus Cagliari weitergeleitet hatte. Inspektor Medonc von der Sûreté in Paris drahtete: »Mieuxvaux wieder bei Bewußtsein, vermutet Malta als Aufenthaltsort Lenoirs, erinnert sich weiter an Ort Barra bei Neapel, dort vermutlich Flugzeug Lenoirs, bitte Erfolg melden, Medonc.« Sun Koh atmete auf, als er das Telegramm gelesen hatte. Diese Mitteilung ersparte viel unnützes Suchen. Er reichte seinen beiden Begleitern das Telegramm und sagte: »Das Flugzeug ist wohl startklar. In einer Stunde fliegen wir.« * Der Ort Barra am Fuße des Vesuvs war nicht groß. Sie fanden den einzigen großen Schuppen im Ort, in dem man zur Not ein Flugzeug unterbringen konnte. Es war ein etwas eigentümlicher Hangar, bei dessen Bau die Natur der Menschenhand weitgehend Vorschub geleistet hatte. Das Dach bestand aus einer 109
stark vorragenden Felsplatte, die man durch ein Holzdach verlängert hatte. Dieses ruhte auf einer kühnen, weitgespannten Balkenkonstruktion. Die Seitenwände bestanden ebenso aus Holz wie das zweiflüglige Tor, in das eine kleinere Tür eingelassen war. Eine große Maschine konnte in diesem Schuppen nicht untergebracht werden, aber mit einem Sportzweisitzer kam man wohl hinein und wieder heraus. Sun Koh und seine Begleiter vermuteten zunächst, daß das der gesuchte Hangar sei. Sie bemerkten wohl Fahrspuren in dem ebenen, grasigen Vorgelände, aber das Flugzeug selbst sahen sie nicht. Das Tor war verschlossen. Menschen waren nicht zu sehen. Sie wollten auch nicht zu dicht herangehen, um gewissen Leuten nicht aufzufallen. Wie leicht man bei der angeborenen, lebhaften Anteilnahme der Bevölkerung an allem Fremden auffallen konnte, sollten sie sehr schnell merken. Ein Mann kam auf dem gleichen Weg, von dem aus sie zu dem Schuppen hinüberblickten. Er blieb bei ihnen stehen, ruckte an seiner Kappe und sprudelte heraus: »Ah, die Herren wollen doch nicht etwa zu Signore Caraca? Sicher beabsichtigen Sie, ihn zu besuchen. Aber ich glaube nicht, daß er anwesend sein wird. Er hält sich so selten in Barra auf. Sie müßten auf die Straße zurückgehen und in die erste Seitenstraße einbiegen. Dort, jenes Haus zwischen den Bäumen ist es, das er bewohnt.« 110
»Sehr liebenswürdig«, dankte Sun Koh höflich. »Ich würde allerdings Signore Caraca gern sprechen, da ich hörte, daß der Schuppen für ein Flugzeug zu vermieten sei.« Der Einheimische schien von der Neuigkeit ganz begeistert. »Nicht möglich!« erregte er sich. »Dann trägt sich Signore Caraca wohl mit der Absicht, sein Flugzeug zu verkaufen? Ah, es war eine so hübsche, schnelle Maschine. Sie ist nicht oft geflogen, aber es war doch ein besonderes Gefühl für uns alle, ein Flugzeug im Ort zu wissen. Vielleicht verläßt dann auch Antonio den Ort, denn was wäre er ohne Flugzeug?« »Wer ist Antonio?« »Antonio? Oh, der Mechaniker und zugleich der Pilot. Ein geschickter Mann, aber man sieht ihn nicht gern im Ort und wird froh sein, wenn er geht. Er ist heute unterwegs, sonst würde er beim Schuppen zu finden sein. Aber heute abend wird er wohl zurückkehren.« »Signore Caraca ist heute bestimmt nicht anzutreffen?« »Ganz sicher nicht. Er ist sehr selten hier, befindet sich meist auf Reisen. Doch ich hörte, daß er in diesen Tagen zurückkommen wird.« Sun Koh nickte dem Mann abschiednehmend zu. »Dann müssen wir warten. Ich danke Ihnen.« »Ah, es war mir ein Vergnügen.« 111
Der Einheimische ruckte an seiner Kappe und schlenderte weiter. »Wir werden uns heute nacht im Haus und im Schuppen umsehen«, sagte Sun Koh zu seinen Leuten. »Jetzt läßt sich nichts mehr unternehmen. Wir verlassen einstweilen den Ort, damit wir nicht unnötig auffallen.« »Nach Neapel zurück, Sir?« erkundigte sich Nimba. »Wir haben sehr viel Zeit. Fahre nach Pompeji. Hal soll eine römische Ruinenstadt kennenlernen.« Bis Pompeji war es nur ein Sprung. Der Wagen war auf der glatten Straße gerade erst richtig ins Laufen gekommen, als Nimba schon wieder bremsen mußte. Als die Nacht sank, fuhren sie wieder nach Barra. Nimba erhielt den Auftrag, beim Wagen zu bleiben. Sun Koh und Hal Mervin suchten das Haus des ›Signore Caraca‹ auf. Es lag völlig dunkel zwischen den Bäumen. Nirgends war ein Lichtschimmer zu sehen, nirgends eine Spur von Leben zu merken. Auch das anschließende freie Gelände mit dem weit zurückliegenden Hangar lag still und tot. »Es scheint niemand anwesend zu sein«, bemerkte Sun Koh. »Ich werde trotzdem einen Besuch abstatten. Vielleicht finden sich wichtige Hinweise. Du bleibst hier auf der Straße.« 112
»Wenn der Nachtwächter kommt, pfeife ich.« »Im Gegenteil, du wirst schön ruhig sein und dich verstecken. Verstanden?« »Auch gut.« Sie trennten sich. Hal Mervin drückte sich an den Zaun und wartete. Der Ort war wie ausgestorben. Nur einmal hörte er in der Ferne Schritte. Gelegentlich jaulte irgendwo ein Hund. Dann und wann rauschten die Bäume auf. Ihre Silhouetten hoben sich dunkel gegen den etwas helleren Himmel, an dem die Sterne wie Silberflitter auf einem Samtkissen flimmerten. Eine halbe Stunde verging. Dann kam von der Landstraße das Summen eines Autos. Das Summen wurde bald zum Dröhnen. Der Wagen näherte sich mit großer Geschwindigkeit. Mit grellen Scheinwerfern fauchte er schließlich in die Gasse hinein, in der Hal stand, fuhr an ihm vorüber und stoppte mit kreischenden Bremsen genau vor dem Haus, in dem sich Sun Koh unbefugterweise aufhielt. Das war Pech. Sun Koh konnte noch nicht fertig sein, und nun kam dieser Caraca oder Lenoir oder Sheppard, wie er nun heißen mochte, zurück. Eins, zwei, drei, vier Männer. Wenn sie Sun Koh überraschten, konnte das unangenehm werden. Freilich, das Auto war laut genug vorgefahren, und es stand alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß Sun Koh die Ge113
räusche nicht überhört hatte. Ausgeschlossen war es andererseits auch nicht, wenn er sich in einem rückwärtigen Teil des Hauses befand. Hal lief schon. Man mußte den Herrn warnen oder ihm Spielraum geben. Die vier Männer am Wagen stutzten und verhielten den Schritt, als der Junge auf sie zugerannt kam. »Hallo, was soll denn das?« rief einer halblaut. »Hallo«, rief Hal im Laufen mit unnötiger Stimmstärke, »ist einer der Herren Mister Caraca?« »Ein Engländer?« murmelten die Männer erstaunt und drängten sich heran. Einer packte Hal beim Arm und zog ihn noch ein paar Meter weiter, so daß er vom Licht des Scheinwerfers getroffen wurde. Das kam allerdings auch Hal zugute. Er konnte das Gesicht des Mannes sehen. Viel Freude machte ihm das nicht. Er blickte in sehr helle Augen, die die Farbe eines dünnen Eisblockes hatten und sehr kalt wirkten. Das rote Haar und die sehr weiße Haut, beides Dinge, die ebenso wenig wie die Augen in diese Gegend paßten, standen nicht schlecht dazu, aber trotzdem wirkte das Gesicht nicht angenehm. Um die Lippen lag ein bösartiger Zug, und die Augen verrieten, daß sich ihr Besitzer nicht von menschlichen Gefühlen leiten ließ. »Wer bist du?« Hal hatte in diesem Augenblick schon das Gefühl, unüberlegt gehandelt zu haben. Er fand, daß es bes114
ser für ihn gewesen wäre, wenn er sich still im Hintergrund gehalten hätte. Die Erkenntnis seines Fehlers machte ihn patzig. »Wer sind Sie?« erkundigte er sich statt aller Antwort. »Caraca«, erwiderte der andere kurz und ließ dabei seine prüfenden Augen nicht von dem Gesicht des Jungen. »Hal Mervin.« »Was willst du?« fragte Caraca. »Wie kommt es, daß du dich hier herumtreibst? Du bist doch Engländer, nicht wahr?« Hal sah sich vor die Notwendigkeit gestellt, schnell eine Geschichte zu erfinden. Er schaffte sich einen kleinen Spielraum, indem er heftig forderte: »Jawohl, ich bin Engländer, aber vor allem lassen Sie mich erst einmal los. Sie kneifen mir ja den Arm entzwei!« Caraca ließ los. »Rede.« »Das kam so«, sagte Hal mit größtmöglicher Harmlosigkeit, »als ich heute mittag unserem Funker das Essen brachte, nahm er mich beiseite. ›Hör mal, Stift‹, sagte er zu mir, ›du könntest mir eigentlich einen Gefallen tun‹. Nun müssen Sie wissen, daß ich es auf den Tod nicht leiden kann, wenn mich einer als Stift bezeichnet. Ich tippte mir deshalb auch an die Stirn und erklärte ihm: ›Ausgeschlossen, mein 115
Liebling. Kommt gar nicht in Frage, daß ich Ihnen einen Gefallen tue. Wer noch nicht einmal soviel Anstand im Leib hat, daß er nicht mit Schimpf Worten um sich wirft, ist es nicht wert, daß man ihm einen Gefallen tut.‹ Das habe ich ihm gesagt, und er hat nicht schlecht aus der Wäsche geguckt. Wahrscheinlich hatte er große Lust, mir ein paar reinzuhauen, aber da habe ich ihn bloß angesehen, wissen Sie, so durchbohrend, wie man das in den Filmen immer sieht, und darauf ist er ganz kleinlaut geworden. Meine Großmutter hatte schon recht, wenn sie sagte …« »Schluß. Die Meinungen deiner Großmutter interessieren mich nicht. Du bist Schiffsjunge?« Hal schüttelte lebhaft den Kopf. »Gehilfe des Kochs bin ich und ich kann Ihnen sagen, daß es eine Masse Beschwerden bei uns geben würde, wenn ich nicht wäre. Ich lege Ihnen eine Sauce à la Napoleon hin, daß Ihnen das Wasser aus dem Mund tropft vor lauter Vergnügen, verstehen Sie. Ich …« »Stop«, unterbrach Caraca wieder barsch. »Von welchem Schiff bist du?« »Vom ›Poseidon‹, dem bekannten Vergnügungsdampfer. Wir machen eine Mittelmeerreise. Dreihundert Passagiere an Bord und einer verrückter als der andere.« »Ihr liegt in Neapel?« 116
»Jawohl, wir sind heute nachmittag eingelaufen. Sie kennen doch den Betrieb, der sich da …« »Wie heißt der Funker?« »John Burnett. Er ist sonst ein ganz dufter Junge, aber mit der Höflichkeit ist er nicht zusammen aufgewachsen. Ein feiner Mann wird das nie werden, wenn mich meine Erfahrung nicht täuscht. Und …« Caraca war offensichtlich entschlossen, Hal nicht mehr in Schwung kommen zu lassen. Er unterbrach gleich wieder: »Was sagte also der Funker heute mittag zu dir?« »Du bist ein tüchtiger Kerl, Hal, flink wie ein Wiesel und schlau wie eine Katze. Man kann dir schon was zutrauen. Wenn du nicht das Maul so groß hättest, würdest du eines Tages was werden, aber …« Jetzt zog Caraca die Brauen scharf zusammen. Er wurde ärgerlich. »Verdammt«, brummte er, »bildest du dir wirklich ein, daß mich der Kohl interessiert? Erzähle jetzt gefälligst kurz und bündig, warum du hier bist und halte mich nicht weiter mit deinem Gewäsch auf.« Hal tat beleidigt. »Gewäsch? Nun gut, wenn es Ihnen nicht paßt, brauche ich ja keinen Ton mehr zu sagen. Mir kann’s ja wurscht sein, ob Burnett schwarz wird beim Warten. Ich werde ihm erzählen, daß Sie zu fein waren, um mich anzuhören und …« Hals unermüdliches Geschwätz wäre noch ganz 117
anderen Leuten auf die Nerven gefallen. Was er sagte, war nicht so schlimm, aber anscheinend hatte Caraca das bestimmte Gefühl, daß Hal eine halbe Stunde lang ununterbrochen reden würde, wenn man ihm den Gefallen tat, schweigend zuzuhören. Jedenfalls zeigte Caraca trotz seiner kalten Augen nun doch allerhand Nerven. »Teufel noch mal«, zischte er, »hast du etwa die Absicht, uns hier stundenlang auf der Straße festzuhalten? Ich habe keine Zeit, verstanden? Beeile dich!« Hal nickte. »Burnett sagte genau dasselbe. Er wartet bestimmt schon seit drei Stunden auf Sie. Aber das ist nun mal so: Erst bleiben Sie ewig lange aus, daß ich mir die Beine in den Leib stehe, und dann haben Sie nicht eine Minute Zeit, mich ruhig anzuhören. Wenn Sie mich hätten reden lassen, wüßten Sie schon lange alles.« »Der Funker wartet auf mich?« »Natürlich«, sagte Hal, der nun Weg und Ziel vor sich sah, »das habe ich Ihnen ja schon dauernd gesagt. Er hat ab zehn Uhr abends Landurlaub, aber nur für ein paar Stunden. Von zehn an sitzt er sicher schon bei Giorgone und guckt sich die Augen aus, ob Sie nicht bald kommen.« »Er hat dich hergeschickt?« »Freilich, freilich. Deswegen hat er doch mittags 118
mit mir geredet. Ich habe doch schon den ganzen Nachmittag Landurlaub, und da meinte er, ich solle einmal herausspazieren und Ihnen bestellen, daß er Sie dringend sprechen müßte und Sie im Giorgone erwartet. Aber Sie sollten so schnell wie möglich und sofort kommen, jede Minute sei wichtig.« »Warum hat er nicht telefoniert?« »Das habe ich ihm auch geraten, aber erstens konnte er vom Schiff aus schlecht telefonieren, und zweitens hat er Ihnen wohl auch gewisse Dinge zu erzählen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Unser Funker ist eben ein ganz Heimlicher. Nun, Sie müssen ihn ja kennen. Wissen Sie …« Caraca hatte die Augen zusammengekniffen. Auf seinem Gesicht lag ein bösartiges Lächeln, als er wieder unterbrach: »Ich soll also sofort nach Neapel kommen?« Hal atmete dramatisch auf. »Begriffen. Es hat ein bißchen lange gedauert, aber die längste Wurst ist nicht die schlechteste und hat auch ihr Ende.« »Ich soll sofort kommen, nicht wahr?« »Klar. Steigen Sie nur in Ihren Kasten ein und fahren Sie gleich hinunter. Ob Burnett so lange wartet, bis …« »Halt’s Maul«, brummte Caraca schroff. »Und jetzt erzähle mir mal schnell, wer du wirklich bist und was du hier willst. Ich gebe dir eine halbe Minute Zeit« 119
»Soll ich Ihnen das alles wiederholen?« »Lieber nicht«, entgegnete Caraca, »du könntest dich nur versprechen. Wahrscheinlich bildest du dir ein, daß ich deinen ganzen Schwindel glaube. Es gibt nämlich überhaupt keinen Funker Burnett. Und der Dampfer ›Poseidon‹, den es wahrscheinlich auch nicht gibt, liegt bestimmt nicht im Hafen von Neapel. Wir kommen nämlich gerade von dort.« Hal hatte plötzlich das Empfinden, daß ihm jemand einen Eisblock in den Rücken drückte. Aber diesem Caraca konnte man schon die Gemeinheit zutrauen, auf den schönen Bluff nicht einzugehen. Er versuchte zu retten, was noch zu retten war. »Sie werden doch nicht ohne mich abgefahren sein!« schrie er mit anerkennenswerter Geistesgegenwart. Jetzt grinste Caraca. »Sie sind nicht abgefahren, aber du bist ein ganz ausgekochter Bursche. Das Schiff war gar nicht da, und du bist nie im Leben auf ihm beschäftigt. Dein Erschrecken genügt.« Hal zuckte die Schultern. »Sie würden auch erschrecken, wenn Ihnen jemand erzählte, Ihr Schiff sei ausgelaufen. Aber das ist natürlich Schwindel. Ich kann mir nicht denken, daß der ›Poseidon‹ so plötzlich …« Caraca blickte bedeutsam auf seine Armbanduhr. »Die halbe Minute ist gleich vorbei. Wenn du nicht 120
klipp und klar alles gestehst, was der Auflauf bedeuten soll, wirst du es bereuen. Ich habe da einen Keller, in dem du wochenlang über deinen Quatsch nachdenken kannst.« Hal wehrte mit der Hand ab. »Na, na, reden Sie nicht so dicke Töne. Wir spielen doch hier keinen Kriminalfilm. Burnett weiß ganz genau, wo ich bin. Ich glaube nicht, daß er mich im Stich lassen würde. Den Mann in Paris, diesen Bankdirektor, hat man auch gefunden.« Caracas Oberkörper schoß heftig vor. »Was sagst du da?« »Nichts«, tat Hal erstaunt. »Ich meine bloß, daß man mich schon finden wird.« Caraca klammerte seine Hand um Hals Arm. »Du sagtest etwas über Mieuxvaux, über den Bankdirektor?« Hal merkte sich vor, daß Caraca den Namen erwähnt hatte. Das schien ihm bemerkenswert zu sein. Die Razzia in Paris und die Auffindung von Mieuxvaux war geheimgehalten worden. »Ach«, dehnte er, »das von dem Bankdirektor stammt von Burnett. Er meinte nämlich, Sie seien ein bißchen mißtrauisch und hätten vielleicht keine Zeit. Da sollte ich Ihnen dann sagen, daß der Bankdirektor im Keller gefunden wurde und zwar lebendig. Das klingt sehr komisch, und ich wollte Burnett deshalb aushorchen, aber er hat mich nur rausgeworfen.« 121
Caraca ließ Hal wieder los und trat zurück. Diese Nachricht hatte ihn ernstlich getroffen. Sie beseitigte das Mißtrauen gegen Hal nicht, da es durch Tatsachen gestützt wurde, andererseits war die Mitteilung aber auch so schwerwiegend und bedeutungsvoll, daß sie Berücksichtigung verlangte. Er winkte seinen Begleitern, ging ein paar Meter abseits und flüsterte mit ihnen. Hal horchte inzwischen verkrampft. Der Herr hatte nun wahrhaftig genug Zeit gehabt, um aufmerksam zu werden. Er mußte das Haus verlassen haben. Dabei konnte ihm aber nicht entgehen, in welcher Lage Hal steckte. Es war undenkbar, daß er einfach fortlief, ohne wenigstens ein Zeichen zum Rückzug zu geben. Das Zeichen war bisher ausgeblieben. Sollte Sun Koh noch im Haus sein? Dann war etwas Schlimmes geschehen. Ob so oder so, die Lage hatte sich derartig zugespitzt, daß es Zeit war, zu verschwinden. Da kam Caraca schon zurück. »Deine Geschichte klingt ganz nach Schwindel«, bemerkte er unfreundlich, »aber wir wollen es darauf ankommen lassen. Wir kehren um und fahren nach Neapel zurück. Du fährst selbstverständlich mit uns zusammen.« Hal war alles andere als begeistert, aber er nickte. »Klar. Sie werden mich doch nicht hier in der Nacht stehen lassen. Denken Sie, ich habe Lust, den 122
ganzen Weg zu Fuß zurückzutrippeln?« Caraca machte eine Handbewegung zum Wagen. »Dann hinein mit dir. Und wehe dir, wenn du uns angelogen hast!« »Keine Sorge«, sagte Hal und stieg ein. Die anderen standen noch draußen. Bevor sich der nächste bücken konnte, um ebenfalls einzusteigen, hatte Hal schon die Tür auf der anderen Seite geöffnet und war hinausgerutscht. Dadurch kam er einige Meter weg, bevor die Männer merkten, was er vor hatte. Doch dann wurden sie laut. Einer schrie auf, die anderen klapperten hinterher. Dann setzten sich zwei in Bewegung. Hal lachte in sich hinein. Die Männer konnten sich Blutblasen laufen. Er fegte die Straße hinunter, daß es eine Art hatte. Solange die Kerle nicht schossen, fürchtete er nichts mehr von ihnen. Und sie wagten es nicht, zu schießen. Dieser Caraca wollte wohl sein Ansehen als friedlicher Bürger nicht ohne weiteres aufs Spiel setzen. Ungehindert und unerreicht kam Hal beim Wagen an, neben dem Nimba schon lange unruhig wartete. »Ist Sun Koh zurück?« »Nein, ich denke, du bist mit ihm zusammen? Ich habe mir…« »Du lieber Himmel«, stöhnte Hal, »da ist etwas schiefgegangen. Er ist nicht aus dem Haus gekom123
men, obwohl eine ganze Bande vorgefahren ist. Ich habe sie eine Viertelstunde aufgehalten, aber länger nicht. Es ging einfach nicht mehr. Jetzt müssen wir erst einmal fort, sie sind hinter mir her.« Nimba schüttelte unwillig den Kopf. »Wir müssen auf Sun Koh warten!« »Wir müssen fort«, fauchte Hal. »Sun Koh ist nicht damit gedient, daß die Bande uns hier wegfängt. Wir brauchen Bewegungsfreiheit. Los, rauf mit dir!« Nimba fügte sich. Bevor Hals Verfolger noch seine Spur wiedergefunden hatten, jagte der Wagen aus dem Ort hinaus. 6. Hal hatte sich umsonst angestrengt. Als er so mutig einsprang, war Sun Koh schon lange ein Gefangener. Vor ihm standen zwei Männer. Der eine gab dem Gefangenen einen kurzen Stoß mit der Stiefelspitze und sagte in gutmütigem Ton: »Na, wieder munter? Sie scheinen ja einen harten Schädel zu haben, daß Sie so schnell wieder da sind.« »Gut, daß wir ihn gleich fesselten«, brummte der andere erheblich gehässiger. Sun Koh kippte sich etwas herum, so daß er in die Gesichter hinaufblicken konnte. Die ungewohnte 124
Perspektive verzerrte sie, aber jedenfalls handelte es sich um Durchschnittsgesichter, wie man sie in dieser Gegend oft genug sehen konnte, braun, hager und etwas abenteuerlich, im Grunde genommen jedoch harmlos. Sun Koh überlegte, wie es die beiden gemerkt haben könnten, daß er sich im Haus befand. Ihre nachlässige Kleidung wies darauf hin, daß sie bereits geschlafen hatten. Aber da kam schon die Auskunft. »Ich kann mir denken, daß Sie einen Schreck gekriegt haben. Tja, wenn Sie durch den unsichtbaren Lichtstrahl hindurchlaufen, müssen Sie sich schon auf was gefaßt machen.« Draußen fuhr ein Wagen vor. »Er kommt«, stellte der zweite Wächter fest. »Bleib du hier, ich werde die Tür öffnen.« »Lauf aber nicht hinaus«, mahnte der andere. »Du weißt, daß wir das Haus nicht verlassen sollen. Und Signore Caraca ist sehr genau.« Ein Wächter verschwand, der andere trat ans Fenster und blickte hinaus. Sun Koh machte einen Versuch, seine Fesseln zu sprengen, aber das mißlang ihm. Caraca kam. Sun Koh unterschied außerdem Hals Stimme. Die Worte konnte er allerdings nicht verstehen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bevor Caraca mit seinen drei Begleitern und dem einen Wächter 125
eintrat. Auf seinem Gesicht lag Ärger, zugleich aber auch eine Spur Genugtuung. »Das war also der Sinn der Sache«, murmelte er, während er sich über Sun Koh beugte. »Der Bursche stand Schmiere und wollte uns wieder fortlocken, um den hier zu decken.« Er blickte Sun Koh eine ganze Weile an, dann erhob er sich und befahl seinen Begleitern: »Bindet ihm die Füße los und setzt ihn auf einen Stuhl. Ich habe keine Lust, mich dauernd zu bücken.« Seine nächsten Worte galten den zwei Wächtern. »Ihr beiden verschwindet. Übernehmt draußen die Wache.« Beide Befehle wurden sofort ausgeführt. Caraca zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Also«, begann er mit jener Sachlichkeit, die schon Hal als so gefährlich empfunden hatte, »was soll dieser Einbruch bedeuten? Sie können mir zwar auch etwas vorschwindeln, aber es wird ziemlich zwecklos sein. Sie gehen den kürzeren Weg, wenn Sie mit der Wahrheit herauskommen.« Sun Koh antwortete kühl: »Nehmen Sie an, daß ich mich verlaufen habe.« »Erzählen Sie mir die Wahrheit. Vor allem möchte ich darüber hören, wieso Ihr halbwüchsiger Kumpan Andeutungen über einen gewissen Bankdirektor in Paris gemacht hat.« Sun Koh merkte, daß Hal die Karten ziemlich auf126
gedeckt hatte. Er beschloß nun, offen zu spielen. »Darüber könnte ich Ihnen einiges sagen, aber ich glaube nicht, daß es einen Mann namens Caraca interessieren wird.« Caraca stutzte, begriff aber gleich. »Aha, also sagen wir Lenoir.« »Das genügt. Auch Sheppard wäre nicht schlecht.« Zwischen den Augen Caracas entstand eine Falte. »Sie wissen überraschend viele Namen. Auf diese Vermutung ist wohl Medonc gekommen?« »Möglich.« »Also reden Sie!« »Genügt es Ihnen nicht, daß wir Mieuxvaux aus seinem Gefängnis befreiten, bevor er verhungerte? Er gestand der Polizei, was er zu gestehen hatte und was auf eine Spur seiner Spießgesellen führen konnte.« »Verdammter Bursche«, preßte Caracas zwischen den Zähnen hindurch. »Wieso hat man ihn so schnell finden können? »Die Beobachtungen eines alten Mannes und einige Goldspuren an einem Schleusendeckel verrieten alles. Leider geschah es erst, nachdem das Gold fortgeschafft worden war.« Caraca grinste flüchtig. »Kann ich mir denken. Und welche Rolle spielen Sie? Gehören Sie zur Polizei oder wollen Sie sich die Belohnungen verdienen?« »Ich bin der Eigentümer des Goldes.« 127
Der andere kniff erstaunt die Augen zusammen. »Sieh da! Ich hätte nicht gedacht, daß ein Mann mit so viel Gold in eigener Person auf Verbrecherjagd geht.« Sun Koh überging den offenen Hohn. »Es hat seine Vorteile, zumindest insoweit, als wir die Polizei nicht zu bemühen brauchen, falls Sie Ihren Fehler gutmachen wollen.« »Wie meinen Sie das?« »Sie sollen das geraubte Gold freiwillig zurückgeben.« »Was?« »Sie haben richtig gehört«, sagte Sun Koh, »und ich hoffe, daß Sie vernünftig genug sind, um meinen Vorschlag ernstlich zu erwägen. Geben Sie das Gold zurück, und ich überlasse alle weiteren Nachforschungen nach Ihnen und Ihrer Bande der Polizei. Gehen Sie nicht darauf ein, so werden Sie nicht eher zur Ruhe kommen, bis Sie im Gefängnis sitzen.« »Er spricht im Ernst!« höhnte Caraca und blickte zu seinen drei Kumpanen hinüber, die sich merklich belustigten. »So etwas von unverschämten Bluff ist mir noch nicht vorgekommen. Wir brauchen den Mann nur zu zerquetschen, und er bietet uns großzügig Vergebung an, wenn wir ihm das Gold ausliefern!« Sun Koh blieb auch jetzt gelassen. »Schon mancher hat zu früh gelacht«, sagte er ru128
hig. »Ich habe freilich nicht geglaubt, daß Sie auf meinen Vorschlag eingehen. Menschen, die sich als Verbrecher außerhalb der Gesetze stellen, sind nun einmal beschränkt und in mancher Beziehung urteilsunfähig, sonst würden sie nicht die Glückseligkeit des Lebens in einem Beutel geraubten Geldes erblicken. Aber ich will Sie wenigstens gewarnt haben.« »Verflixt kaltschnäuzig«, murmelte Caraca. »Sie scheinen zu glauben, daß wir Theater spielen. Wir sind keine Angestellten zur Hebung des Fremdenverkehrs und laufen nicht mit wilden Vollbärten und Knüppeln herum, damit die verehrten Reisenden angenehm erschauern können. Wir sind Geschäftsleute, und wenn Sie mit uns unterhandeln wollen, müssen Sie nicht mit dramatischen Effekten kommen, sondern mit Kontoauszügen. Sie sollen Ihr Gold wiederhaben, wenn Sie uns einen anständigen Kurswert dafür bieten.« Sun Koh verzichtete auf Antwort. Von Hemmungen wurde dieser Caraca wohl kaum belästigt, wenn es um sein ›Geschäft‹ ging. Er redete schon weiter. »Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Ein Mann, der zwei Tonnen Gold einzubüßen hat, wird vermutlich noch mehr Vermögen besitzen. Sie begreifen hoffentlich, daß Sie sich in meiner Gewalt befinden. Ihr Leben ist im Augenblick keine Lira 129
wert. Da Sie uns hier entdeckt haben, müssen wir diesen Platz räumen und aufgeben. Sie selbst müßten sterben, schon deshalb, damit Sie uns nicht von neuem aufspüren können, um Ihre Drohungen zu verwirklichen. Ich gebe Ihnen jedoch die Möglichkeit, sich freizukaufen. Gegen eine anständige Summe, die Ihrem Vermögen entspricht, können Sie Ihr Leben retten.« Sun Koh schwieg wieder. Jetzt verstand er den Mann noch nicht ganz, obgleich der Vorschlag durchaus dem entsprach, was er sich über dessen Charakter vorstellte. Aber es lag zuviel Widersinn darin. Caraca mußte sich sagen, daß er im besten Fall einige Millionen erpressen konnte, also einen Betrag, der zu dem Wert des geraubten Goldes in recht bescheidenem Verhältnis stand. Dafür tauschte er aber eine ganze Menge von Gefahren ein, zumindest die, daß Sun Koh eine Gelegenheit zur Flucht fand. Nach einer Pause fuhr Caraca fort: »Sie schweigen? Nun gut, Sie haben noch einige Minuten Zeit. Ich rate Ihnen jedoch, meine Worte nicht für Bluff zu halten. Sie sind in einigen Stunden nicht mehr am Leben, wenn Sie nicht auf meinen Vorschlag eingehen. Ich drohe nicht weiter, ich verzichte auch darauf, Sie zu drängen, aber jammern Sie dann nicht herum, wenn es zu spät ist. Ich denke mir, daß Sie vermutlich das Opfer eines Brandunglücks werden könnten. Wir müssen den Hangar hinter dem 130
Haus abbrennen. Es wäre sehr unangehm für Sie, wenn Sie dann darin stecken würden und sich nicht befreien könnten.« Er erhob sich, gab zwei von den Männern Anweisung, bei dem Gefangenen zu bleiben und verließ mit dem dritten den Raum. Die beiden Wächter legten ihre Pistolen griffbereit auf den Tisch, setzten sich bequem hin und gaben deutlich zu erkennen, daß sie nicht beabsichtigten, Sun Koh eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Dieser blieb wie bisher. Er versuchte nur ganz heimlich, seine Fesseln an den Handgelenken zu lockern. Aber sie waren derartig geschickt angelegt, daß trotz aller Bemühungen kein merkbarer Spielraum entstand. Fast eine Stunde verging, bevor Caraca wieder erschien. »Nun«, erkundigte er sich, »sind Sie gewillt, noch ein paar Millionen ins Geschäft zu stecken, um Ihre Haut zu retten?« »Nein«, erwiderte Sun Koh. Caraca schien sich doch andere Hoffnungen gemacht zu haben. »Sie lehnen ab?« fragte er erstaunt. »Ja.« Flüchtig huschte Ärger über sein Gesicht. »Na gut«, knurrte er, »wenn Sie nicht anders wollen. Mein Anteil ist ja auch groß genug. Bindet ihm 131
auch die Füße und legt ihn auf die Erde. Pietro, du kommst mit. Ich brauche dich.« Kurz darauf lag Sun Koh mit dem Gesicht zur Wand auf dem Fußboden. * Nimba und Hal fuhren ein Stück auf Neapel zu, wendeten dann und fuhren langsam nach Barra zurück. Dadurch erfuhren sie am besten, daß die Verfolger nicht besonders ernsthafte Absichten besessen hatten und schon lange wieder umgekehrt waren. Bei den ersten Häusern des Ortes ließen die beiden den Wagen stehen und gingen zu Fuß weiter. »Wir müssen Sun Koh aus der Klemme helfen«, meinte Hal. »Natürlich müssen wir das«, stimmte Nimba zu. »Mit wieviel Mann haben wir es zu tun?« »Vier habe ich gesehen, es müssen aber mehr sein. Zumindest kommen die dazu, die Sun Koh festgehalten haben.« »Wenn nicht noch Schlimmeres vorliegt.« »Unke nicht.« Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander, dann führte Hal das Gespräch fort. »Wie wollen wir’s anfangen?« Nimba machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn Sun Koh nur gefangen ist, wird die Sache 132
nicht so schlimm. Mit ein paar Mann nehme ich’s schon allein auf. »Na, na«, warnte Hal. »Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, ist ein ganz gefährlicher. Den kannst du nicht erschrecken. Sobald er Lunte riecht, schießt er, wie ich ihn einschätze.« »Dann schießen wir eben auch! Liegt das Haus nicht dort vorn?« Hal zog ihn am Ärmel weiter. »Ja, aber komm schon. Wir können doch nicht gut von der Straße her auftauchen. Es ist besser, wenn wir einen Bogen schlagen und uns von hinten anschleichen.« Nimba sah das ein. So schlugen sie einen Bogen und steuerten dann vom Hangar aus auf das Haus Caracas zu. Es sollte ihnen aber nicht leicht fallen, Beobachtungen zu machen. Die beiden Wächter, die Sun Koh gefangen genommen hatten, gingen ständig um das Haus herum. Da dieses nicht groß war, standen die Hausfronten unter dauernder Bewachung. Es blieb nicht genügend Spielraum, um heranzugehen und den Einstieg zu versuchen. Hal und Nimba bewegten sich mit größter Vorsicht, und es gelang ihnen einstweilen auch, unbemerkt zu bleiben. Das war jedoch nur ein geringer Gewinn, da sie nichts von dem beobachten konnten, was im Haus vorging. Licht brannte in einigen Zimmern, aber nicht unten, sondern im Obergeschoß. 133
Als sie endlich einmal herumgestrichen waren, sahen sie ein, daß sie etwas mehr tun mußten. Flüsternd verständigten sie sich. »Ich werde die beiden Wächter niederschlagen«, befahl Nimba. »Dann dringen wir einfach ein.« »Und laufen blind drauflos und gefährden möglicherweise das Leben Sun Kohs. Nein, das können wir noch nicht wagen. Wir müssen erst sehen, wie die Dinge liegen. Ich werde auf die Bäume klettern, dann kann ich bequem in die oberen Fenster hineinsehen.« »Und wenn ein Ast abbricht oder du sonst auffällst, bist du geliefert.« »Ich werde schon leise sein. Halte unten Wache.« »Na gut.« Hal kletterte auf dem nächsten Baum nach oben. Er bewegte sich tatsächlich so behutsam, daß seine Geräusche sich nicht heraushoben. Allerdings dauerte es auch lange, bevor er wieder herunterkam. »In diesem Zimmer befand sich überhaupt niemand«, knurrte er unmutig. »Die Kerle haben wahrscheinlich nur vergessen, das Licht abzudrehen.« »Hast du alle Fenster übersehen können?« »Das rechte nicht, ich muß dort auf den Baum. Pst, der Wächter!« Sie standen stocksteif. Der eine Wächter war stehengeblieben. Er starrte und horchte angestrengt in ihre Richtung. Es war nicht besonders dunkel, und die Entfernung betrug nur wenige Meter. Nur völlige 134
Bewegungslosigkeit und der Umstand, daß sie sich gegen den dunklen Hintergrund der Büsche und Bäume kaum abhoben, rettete sie. Der Wächter ging weiter. Nimba und Hal wechselten zum nächsten Baum, Hal kletterte hinauf. Wieder verging lange Zeit, bevor er neben Nimba auftauchte. Diesmal war er noch verdrießlicher. »Da steht so ein Laffe drin und striegelt sich seine Haare. Von Sun Koh keine Spur. Wir müssen nun das Fenster auf der anderen Seite nehmen.« Vorsichtig glitten sie zwischen den Büschen hindurch. Die Wächter mußten doch Verdacht geschöpft haben, denn sie starrten dauernd mißtrauisch. Einmal mußten Hal und Nimba fast drei Minuten unbeweglich stehen bleiben, weil sie den Blick eines Wächters auf sich fühlten. Wenn einer dieser Leute Mut genug besessen hätte, um sich in die Büsche hineinzuwagen, wäre das Abenteuer sehr schnell beendet gewesen. Endlich langten sie bei dem Baum an, der ihnen günstig erschien. Der eine Wächter schien aber auch eine besondere Vorliebe für den Baum zu haben, denn er blickte unentwegt in diese Richtung. Da der Stamm ungedeckt lag, konnte es Hal gar nicht wagen, hochzusteigen. Sie übten sich in Geduld. Der andere Wächter wurde gar nicht wieder sicht135
bar, dafür hörte man jedoch auf der abgelegenen Seite des Hauses unbestimmte Geräusche. Sie warteten immer noch. Der Wächter machte ein paar Schritte hin und her, ließ aber den Baum nicht aus den Augen. Nimba neigte sich dicht an Hals Ohr. »Der Kerl weicht nicht«, hauchte er. »Ich werde ein Stück abseits gehen und ihn ablenken.« Hal nickte nur. Langsam löste sich Nimba ab und verschwand. Minuten später kamen aus der Gegend, in der er sich befinden mußte, einzelne Geräusche. Sie entgingen dem Wächter nicht, jedenfalls gab er seinen Platz auf und spürte Nimba nach. Hal zog sich an dem Ast, den er sich schon lange ausgesucht hatte, nach oben. Diesmal wurden seine Bemühungen belohnt. Er sah in dem erleuchteten Zimmer einen Mann sitzen, der eine Pistole vor sich liegen hatte und unverwandt in eine Ecke starrte. Als Hal noch ein Stück höher kletterte, entdeckte er Sun Koh, der gefesselt am Boden lag. Plötzlich brach unten im Garten der Lärm los. Unvermittelt schrie eine Stimme triumphierend auf: »Da ist er. Hände hoch oder es knallt!« Hal fiel vor Schreck fast von dem Ast herunter, auf dem er sich vorgewagt hatte. Er ging schleunigst zurück und klammerte sich an, dann blickte er nach unten. 136
Der Ruf galt nicht ihm, wie er angenommen hatte, sondern Nimba. Dort unten bewegten sich an den verschiedensten Stellen Leute. Zwei Taschenlampen flammten auf, aber die Lage wurde dadurch nicht klarer. Es ließ sich nicht übersehen, wo Nimba stand und welche Aussichten er hatte. Hal glitt ab, um ihm zu Hilfe zu kommen. Er war aber noch lange nicht unten, als gleichzeitig mehrere wilde Rufe ertönten und dann einige Schüsse knallten. Dann wurde es ruhig. »Ich habe ihn erwischt«, erklärte jemand befriedigt. »Dort muß er liegen.« Hal hielt den Atem an. Ein Lichtschein wanderte über die Büsche. »Hier ist er. Donnerwetter, das ist doch ein Neger. Ich habe gedacht, es wäre der Junge von vorhin.« Jetzt erklang eine andere Stimme. »Der Kerl lebt. Wenn ich nicht irre, hat er nur einen Streifschuß abbekommen. Holt Stricke. Es ist besser, wir binden ihn.« Hal atmete auf. »Eine Kugel würde den Fall schneller erledigen«, sagte jemand deutlich. »Noch nicht, er wird erst noch was zu erzählen haben«, wehrte einer ab. »Los, Stricke holen! Wenn der Mann zu Bewußtsein kommt, wird es uns schwerfallen, ihn festzuhalten.« 137
Hal blieb auf seinem Baum sitzen. Er konnte Nimba augenblicklich nicht beispringen, wenn er nicht erst gegen ein paar Männer kämpfen wollte. Diese Kämpfe hätten aber bedeutet, rücksichtslos niederzuschießen. Man hatte ihn selbst nicht bemerkt. Er behielt also seine Bewegungsfreiheit und konnte sich das letzte Mittel aufsparen. Er wartete. Unten zwischen den Büschen wurde Nimba gebunden, wohl gerade zur rechten Zeit, denn als sie ihn ins Haus schleiften, verriet seine Äußerung, daß der Neger bereits wieder zu Bewußtsein gekommen war. Es wurde still im Garten. Hal kletterte wieder nach oben. Sie brachten Nimba in den gleichen Raum, in dem sich Sun Koh bereits befand. Es war ihm nicht viel passiert. Er blutete am Kopf, aber er ging sicher. Seine Arme hatte man freilich sehr hoch gebunden. Vorsichtige Leute, diese Verbrecher. Und jetzt fesselten sie auch gleich wieder die Füße Nimbas. Wahrscheinlich kam ihnen seine Größe doch recht beängstigend vor. Jetzt redete Caraca auf Nimba ein. Er gab es bald auf. Hal reckte den Kopf zum Himmel. Ein Flugzeug? Da kam es herunter, strich tief über den Ort, daß 138
das Dröhnen des Motors in die Häuser schlug. Caraca und seine Leute stutzten und eilten dann bis auf einen aus dem Raum. Wenig später stürzten sie aus dem Haus, über den freien Platz hinweg und zum Hangar hin. Leider dachten die beiden Wächter nicht daran, ihren Posten aufzugeben. Sie blieben zwar stehen und blickten ebenfalls zum Hangar, aber der eine stand so ungünstig, daß Hal nicht wagte, den Baum zu verlassen. Ein Scheinwerfer flammte auf. Das Licht strich über das grasige Rollfeld. Wieder näherte sich das Dröhnen des Flugzeugs, dann setzte es aus, zuckte auf, setzte aus … Der Pilot landete. Das war keine schlechte Leistung, selbst wenn er mit den Verhältnissen vertraut war. Fünf Männer standen eine Weile beim Flugzeug. Später wurde der Scheinwerfer ausgelöscht, so daß nur noch das matte Licht des werdenden Tages über der freien Fläche lag. Es war nicht mehr zu unterscheiden, was dort geschah, aber jedenfalls waren die fünf Mann eifrig tätig. Für Hal selber änderte sich nichts. Er mußte auf dem Baum sitzen bleiben, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, entdeckt zu werden und jede Möglichkeit zur Beobachtung zu verlieren. Eine Stunde verging, dann kam Caraca mit vier 139
Männern zum Haus zurück. Er rief die beiden Wächter heraus. Hal hörte, wie er Anweisung gab: »Ihr könnt jetzt nach Hause gehen und euch schlafen legen. Heute brauche ich euch nicht mehr.« Die Wächter murmelten etwas, verbeugten sich und gingen auf die Straße hinaus. Caraca trat mit seinen Leuten ins Haus. Jetzt hätte Hal den Baum verlassen können, aber er tat es nicht, sondern kletterte höher, weil er annahm, daß sich Caracas nun wieder um seine Gefangenen kümmern würde. Er hatte richtig vermutet. Die Männer erschienen im Zimmer. Caraca sagte etwas zu den beiden am Boden, dann winkte er den anderen. Alle vier Männer hoben Nimba auf und trugen ihn fort. Hal glitt hinunter. Er stand gedeckt in der Nähe der Haustür, als Nimba ins Freie getragen wurde. Man brachte ihn über den Flugplatz zum Hangar hin. Caraca marschierte hinter dem Trupp her. Auf diese günstige Gelegenheit hatte Hal schon lange gewartet. Die Männer waren noch nicht weit fort, als er schon die Tür aufdrückte, ins Haus glitt und nach oben eilte. Die Treppe führte gegenläufig nach oben, so daß er erst einmal die falsche Tür erwischte. Dann aber lief er in das Zimmer, in dem Sun Koh lag. Er stürzte auf die reglose Gestalt zu und rief gedämpft: »Ich bin’s. Sind Sie bei Bewußtsein?« 140
Mit einem Ruck warf sich Sun Koh herum. »Hast du dein Taschenmesser bei dir?« »Ja, ich schneide die Fesseln schon auf.« »Wo hat man Nimba hingebracht?« »Zum Hangar.« »Also macht Caraca seine Drohung war. Schneide die Verbindungsstränge nur an, aber so, daß man nichts sieht. Das Messer gibst du mir dann geschlossen in die rechte Hand.« Hal säbelte schon, machte dabei aber einen Einwurf: »Ich kann Sie doch ganz frei machen?« »Dann ist Nimba noch nicht geholfen. Außerdem werde ich mich in den nächsten drei Minuten noch nicht ordentlich bewegen können. Meine Glieder sind abgeschnürt gewesen. Beeile dich.« »Oben ist alles fertig. Den Rest können Sie durchreißen. Die Fußstricke auch noch?« »Laß, das kann leicht auffallen. Gib das Messer und verschwinde.« »Sie kommen schon.« Die Flucht ins Freie war nicht mehr möglich. Unten klappte die Haustür, im Flur klangen die Stimmen der Männer. Da zwängte sich Hal kurz entschlossen unter das nächste Liegesofa. Caraca und seine Leute dachten gar nicht daran, den Raum zu untersuchen. Sie luden Sun Koh auf. Dann gingen sie hinaus. Hal wartete eine Weile, bis er sie vor dem Haus 141
hörte, dann folgte er behutsam. Die Tür war nicht verschlossen worden, so daß er ungehindert ins Freie kam. Bald kehrten die Begleiter Caracas zurück, gingen um das Haus herum zur Straße und bestiegen den Wagen, der wenig später davonfuhr. Caraca selbst blieb mit dem Piloten zurück. Hal vermutete, daß sich die beiden mit Hilfe des Flugzeugs entfernen würden. Er schlich näher heran. Der aufsteigende Tag gab genügend Licht, um Einzelheiten zu verfolgen. Der Pilot kletterte in seine Maschine. Caraca verschloß die kleine Tür im Tor des Hangar, dann kam er zum Flugzeug und rief einige Worte hoch. Der Kopf des Piloten erschien und nickte bestätigend. Caraca ging um das Flugzeug herum, las eine Hand voll Putzwolle auf und machte sich damit zu schaffen. Hal konnte nicht genau beobachten, was er tat, da das Flugzeug zum Teil die Sicht versperrte. Doch plötzlich sah er die Putzwolle als brennenden Klumpen fortfliegen. Sie fiel zur Erde, und fast unverzüglich schossen dort blaue Flammen auf, die sich schnell gegen den Hangar vorwärtsfraßen. Da begriff Hal. Die Kerle hatten Benzin oder Öl oder beides über den letzten Grasstreifen geschüttet, vielleicht auch die Holzwand des Hangars damit getränkt. Was Ca142
raca da vorhatte, war Brandstiftung. Der Schuppen sollte verbrennen. In dem Schuppen aber lagen Sun Koh und Nimba gefesselt. Wahrscheinlich standen auch einige offene Tonnen mit brennbaren Stoffen in der Nähe. Das war Mord. Unbändige Wut stieg in dem Jungen auf. Schnell riß er seine Pistole heraus, um auf das Flugzeug zu schießen. Acht Schuß des Magazins wurden von Hal hinausgerattert. Caraca stand mit vorgeneigtem Oberkörper und lauschte. Er hatte wohl etwas gehört, wußte aber sicher nicht genau, ob ihn nicht das Dröhnen des Motors getäuscht hatte. Hal wechselte mechanisch den Rahmen aus. Er horchte dabei mit angehaltenem Atem. Ah! Wütend dröhnte der Gesang des Motors zu einem spitzen Ton auf, überschlug sich und brach ab. Da fuhr auch schon der Pilot heraus. »Verdammt, da hat einer den Motor zerschossen!« Caraca, der sonst so kühle, brüllte einen Fluch und lief auf den Piloten zu. Vor dem Hangar stand ein Meer von Flammen. Es brandete bereits an den Holzwänden empor. Die Köpfe der beiden Männer zuckten wild hin und her. Caraca und sein Pilot blickten bald auf die 143
Flammen im Rücken, bald auf das aus dem Tank rinnende Benzin, bald in die Richtung, in der Hal lag. Sie schrien sich etwas zu, was sie wohl selber nicht verstanden. Und plötzlich rannten sie los. Da sprang Hal auf. »Stehen bleiben! Hände hoch!« Die beiden rissen sich herum, wollten weiterlaufen. Hal schoß. Caraca griff fahrig nach der rechten Schulter, schwankte zurück und reckte den linken Arm hoch. Der rechte blieb schlaff hängen. Der Pilot warf beide Arme hoch. Hal ging bis auf fünf Meter heran. »Rührt euch nicht«, warnte er. »Betet, daß die beiden rechtzeitig herauskommen, sonst, bei Gott… Wo ist der Schlüssel zum Hangar?« Er brauchte ihn nicht mehr abzufordern. * Sun Koh und Nimba waren einfach an die Innenwand des Hangars geworfen worden. Weder Caraca noch seine Leute hatten sich wieder um die Fesseln gekümmert, so daß Sun Koh sich freimachen konnte, sobald sie allein gelassen wurden. Die halbdurchschnittenen Armfesseln sprengte er, den Rest schnitt er mit Hals Messer auf. Anschließend befreite er auch Nimba. 144
Dann massierten sie die verschnürten Gelenke, damit das Blut wieder in Bewegung kam und die Muskeln wieder arbeiten konnten. Nach drei Minuten waren sie soweit, daß sie es wagen konnten, aufzutreten. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, aber sie überwanden es. Ihre nächste Sorge galt der Tür. Sie war verschlossen. »Wir müssen sie durchrammen oder aufbrechen«, entschied Sun Koh. »Los, zunächst ein Brecheisen.« Die Suche danach war gar nicht so einfach. Fenster gab es nicht, so daß es im Schuppen sehr finster war. Sie hörten den Motor des Flugzeugs aufdröhnen. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Sun Koh halblaut. Als sie den ersten Brandgeruch spürten, fand Nimba eine schwere Eisenstange. Draußen knallten schon die ersten Schüsse Hals. Die Eisenstange war nicht zugespitzt, so daß sie nicht in die seitlichen Türritzen einzusetzen war. Aber unten hatte die Tür einige Luft. Nimba wuchtete mit einem schrägen Stoß ein Stück felsigen Bodens weg, so daß unmittelbar unter der Tür eine kleine Vertiefung entstand. Da leckten schon einige Flammen herein. »Draußen brennt schon alles«, knurrte der Neger. Er setzte die Stange ein und warf sich auf das lan145
ge Ende. Das ganze Tor ächzte, aber die Tür sprang nicht auf. Sun Koh schob Nimba schleunigst beiseite. »So nicht, Nimba. Du drückst die Tür nur nach oben gegen den Querriegel. Dort hat sie zu wenig Spielraum, so daß das Schloß nicht beansprucht wird. Der Druck muß nach außen gehen.« Während er sprach, setzte er das Ende der Stange in das Loch und drückte die Stange gegen die Tür zu. Die Wucht des Angriffs lag jetzt an der unteren Innenkante und wirkte nach außen. Das Schloß stöhnte, gab aber noch nicht nach. Nimba griff mit zu. Die Hebelgrube am Boden lag so ungünstig, daß der Druck erst voll zur Geltung kam, wenn sie die Stange an die Türfläche heranpressen konnten. »Finger weg!« warnte Sun Koh. Mit einem schußartigen Knall sprang die Tür auf. Nimba taumelte aus der Wucht der Vorwärtsbewegung heraus ins Freie und prallte sofort wieder zurück, als er die Flammen vor sich bemerkte. Aber schon kam auch Sun Koh und riß ihn weiter, über den brennenden Streifen hinweg. »Hierher!« brüllte Hal ihnen zu. Die beiden Männer rannten auf das Flugzeug zu. Im Laufen schlugen sie auf die Beine und rissen weg, was Feuer gefangen hatte. Caraca und der Pilot nützten den Augenblick, in 146
dem Hal den beiden Geretteten eifrig winkte. Sie rannten los. »Stehen bleiben!« schrie Hal ihnen nach und hob wieder seine Waffe. Da kam Sun Koh schon herangefegt. »Nicht schießen, wir brauchen ihn lebendig!« Caraca tauchte im Gebüsch unter. Das nützte ihm aber nicht mehr viel. Der Tag war da, und das Gebüsch war nicht dicht genug, um ihn zu verdecken. Sun Koh erreichte ihn sehr schnell. In letzter Verzweiflung wollte sich Caraca mit der Waffe stellen, aber er kam nicht mehr zum Schießen. Sun Koh schlug ihm die Pistole aus der Hand. Als er den Verbrecher ins Freie schleppte, kam von der anderen Seite bereits Nimba mit dem Piloten. Hal wies besorgt nach oben. »Ich glaube, wir müssen fort, Sir.« Sun Koh nickte. Sie rannten los. Die beiden Gefangenen waren sich der Gefahr wohl auch bewußt, denn sie ließen sich nicht erst drängen. Im Hangar loderte eine einzige Flamme. Unten auf der Straße erschienen Menschen. »Wir müssen die Leute warnen!« rief Sun Koh. »Lauf hinunter, Hal…« Wumm! Der Luftdruck hieb in die Rücken der Laufenden. 147
»Bleib, Hal, das genügt!« Wumm! »Die Benzinfässer fliegen in die Luft!« verständigte Nimba den Jungen. »Ein ganzes Dutzend stand dort drinnen.« Helleres Poltern und Klirren und Brechen folgte, Steinsplitter wirbelten durch die Luft. Hal warf einen Blick zurück. »Die ganze Felsplatte ist heruntergekommen!« Wo der Hangar gestanden hatte, schien die Luft zu brennen. Glühendheiß stieg sie hinter den Fliehenden her. Dort oben gab es nichts mehr zu retten. Sie erreichten den Wagen, der noch so stand, wie Nimba und Hal ihn verlassen hatten. Die beiden Gefangenen, die durch den Lauf und wohl auch durch die Aufregung völlig ausgepumpt waren, wurden hineingestoßen. Sun Koh und Hal setzten sich zu ihnen. Nimba übernahm das Steuer. Sie ließen das weißglühende Flammenmeer, den aufgeschreckten Ort und die verwirrten Einwohner hinter sich und fuhren in mäßigem Tempo in die zauberhaft schöne und friedliche Landschaft Neapels hinein. * Inspektor Medonc von der Sûreté in Paris eilte seinem 148
Besucher mit jugendlicher Lebhaftigkeit entgegen. »Ich freue mich außerordentlich, Sie zu sehen. Sie gaben mir telefonisch Bescheid, daß Ihr Vorhaben geglückt sei.« Sun Koh nickte. »Ich bringe Ihnen Lenoir mit einem seiner Helfer. Wir entdeckten sie in der Nähe von Neapel und konnten uns ihrer bemächtigen. Das war heute morgen. Ich zog es vor, mich nicht erst um bestehende Vorschriften zu kümmern und die beiden mit dem Flugzeug unmittelbar zu Ihnen zu bringen.« Medonc schlug begeistert die Hände zusammen. »Sie sind der größte Mann unseres Jahrhunderts. Es ist Ihnen gelungen, Sheppard zu fassen. Hat er bereits gestanden?« »Freiwillig scheint er nichts sagen zu wollen. Der andere verriet jedoch gern, daß sich das Gold auf der Insel Malta, und zwar in den unterirdischen Anlagen unter dem Dorf Paulo bei La Valetta, befindet. Diese Angabe muß ich erst nachprüfen, beziehungsweise mir das Gold von dort holen. Zunächst möchte ich die beiden Verbrecher bei Ihnen in sicheren Gewahrsam bringen.« »Sie haben die beiden …« »Sie sitzen draußen.« Der Inspektor erschrak. »Mein Gott, sie werden doch nicht die Gelegenheit benutzen, um zu fliehen?« 149
»Sie sind in guter Hut«, sagte Sun Koh. »Aber ich kann sie ja hereinbringen lassen.« »Ja, ja«, drängte Medonc, der darauf brannte, den berüchtigten Sheppard von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Er wirkte nicht besonders beeindruckend, als er nebst seinem Spießgesellen von Nimba und Hal in das Zimmer geführt wurde. Die Spuren der Nacht hafteten noch an ihm. Um die rechte Schulter lag der Verband, den ihm Sun Koh angelegt hatte. Seine Fassung war freilich zurückgekehrt. Kalt und spöttisch musterte er den Inspektor, wie dieser ihn musterte. »Das ist der bedeutendste Augenblick meines Lebens«, sagte Medonc nach einer Weile. »Ah, Sheppard, auf Sie habe ich gewartet.« »Ich kann Ihnen das Kompliment kaum zurückgeben«, erwiderte der Gefangene höhnisch. »Es ist mir kein Vergnügen, den größten Idioten der französischen Kriminalpolizei kennenzulernen. Außerdem bin ich nicht Sheppard.« Medonc grinste nur. »Ich würde an Ihrer Stelle auch schimpfen. Und daß Sie Sheppard sind, werde ich Ihnen beweisen.« Caraca hob die Schultern. »Darauf bin ich neugierig. Ich gebe lediglich zu, daß ich an dem Goldraub beteiligt war.« Medonc schnellte vor. »Und daß Sie Sheppard sind?« 150
Caraca bleckte wütend die Zähne. »Ich bin nicht Sheppard. »Aber Lenoir?« »Auch nicht, Sie Narr. Holen Sie doch diesen Mieuxvaux heran, der wird es Ihnen bestätigen.« Die Männer wechselten betroffene Blicke. »Sie behaupten im Ernst, nicht Lenoir zu sein?« fragte Sun Koh. »Ich bin es nicht«, wiederholte Caraca ruhiger. »Dieser hier kann es Ihnen bezeugen. Wenn Sie danach gefragt hätten, hätte er es wohl schon längst getan.« Sun Koh wandte sich an den Piloten. »Ist das Lenoir?« »Nein.« »Sondern?« »Sein Leutnant. Jim Brough ist sein richtiger Name.« »Wo ist Lenoir?« »Auf Malta.« »Ist Lenoir Sheppard?« »Ja.« Sun Koh wandte sich an Medonc. »Damit hatte ich nicht gerechnet. Es schien mir zu selbstverständlich, daß ich mit Lenoir zu tun hatte. Ich würde Ihnen jedoch auf alle Fälle raten, die Aussagen dieses Mannes durch Mieuxvaux bestätigen zu lassen.« 151
Medonc nickte melancholisch. »Gewiß, ich werde sofort alles veranlassen. Haftbefehle für die beiden, Handschellen und Mieuxvaux vorführen lassen. Mein Gott, es ist doch nicht Sheppard!« Der Inspektor schien ernsthaft verstört, er erledigte aber alles, was nötig war. Zwei Polizisten traten auf und nahmen die beiden nun amtlich unter Bewachung, dann erschien Mieuxvaux, der übertölpelte Gehilfe Lenoirs. Er erschrak, als er Caraca oder Brough erblickte. »Sehen Sie sich diesen Mann genau an«, forderte ihn Medonc auf. »Kennen Sie ihn?« »Ja.« »Wer ist es?« »Ich kenne ihn unter dem Namen Jim«, antwortete Mieuxvaux klanglos. »Er hat den Wagen gefahren, als wir das Gold holten. Er war Sekretär oder ähnliches bei Lenoir.« »Er ist nicht Lenoir?« Mieuxvaux schüttelte den Kopf. »Nein. Lenoir ist viel älter und bucklig.« Der Inspektor reckte den Kopf. »Bucklig? Davon haben Sie mir noch nichts gesagt.« »Sie haben mich nicht danach gefragt«, kam es matt zurück. »Ich würde auf die Beschreibung nicht viel geben«, 152
warf Sun Koh ein, der das Gesicht Caracas beobachtet hatte. »Ein Buckel läßt sich leicht vortäuschen.« Mieuxvaux nahm die Bemerkung auf. »Er ist nicht Lenoir. Ich habe die beiden oft zusammen gesehen. Das linke Ohrläppchen ist bei Lenoir verkrüppelt.« »Das Kennzeichen dürfte allerdings echt sein.« Medonc riß wieder das Gespräch an sich. »Sie können also bezeugen, daß dieser Mann an dem Goldraub beteiligt war?« »Ja«, bestätigte Mieuxvaux. »Und der andere?« »Ich kenne ihn nicht.« »Das genügt einstweilen für die beiden. Abführen!« Die Gefangenen wurden von den Polizisten hinausgebracht. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, bemerkte Medonc: »Sheppard selbst wäre mir lieber gewesen, aber die beiden sind auch kein schlechter Fang. Sie fliegen doch nun vermutlich nach Malta, oder irre ich mich?« »Sie irren sich nicht«, erwiderte Sun Koh trocken. 7. Malta! Auf den Nordländer wirkt die Gegend wie ein Paradies. Das blaue Meer, der seidige Himmel, die blühenden Ginsterbüsche, zwischen den nackten Fels153
blöcken, die ragenden Agaven, die dunklen Orangenund Limonenhaine mit ihren leuchtenden Farbflekken gehen ins Blut, berauschen und erschlaffen zugleich, so daß man die Stunde preist, in der man an diesem romantischen Gestade landete. Nur der tiefere Charakter schmeckt mit dem süßen Wein der Landschaft ganz heimlich die Sehnsucht nach der herberen Strenge des Nordens. Die Leute von Paula werden sich des Zaubers ihrer Heimat weniger bewußt. Sie werken oder verschludern den Tag ebenso nüchtern, wie man das in anderen Gegenden auch tut, und sich vollauf gebunden durch die kleinen Leiden und Freuden zwischen Morgen und Abend. Luigi gehörte zu denen, die sich mehr der Freuden als der Leiden des Alltags annehmen. Für ihn war die Welt noch heiter und genauso sonnig wie der Himmel. Kein Wunder, er war nicht viel älter als zwanzig Jahre, ein hübscher, schlanker Bursche, braun wie gerösteter Kandis und mit schwarzen Locken, für die er beträchtliche Zeit seines Tages aufbrachte. Er half seiner Mutter gelegentlich bei den kleinen Arbeiten, die im Häuschen zu tun waren, im übrigen hielt er sich an die Fremden, die das Geld leichter ausgaben als sonst wer auf Malta. Man konnte ihnen kleine Gefälligkeiten erweisen, die Koffer tragen, Wege zeigen oder Besorgungen verrichten. Das brachte Trinkgelder, stattliche Trinkgelder. 154
Luigi legte den größeren Teil seiner gelegentlichen Einkünfte zurück, um eines Tages seinen großen Traum verwirklichen zu können. Er wollte sich eins dieser schmucken Wägelchen mit den nickenden Pferden davor kaufen und damit die Fremden durch die Insel fahren. Aber bis dahin mochte noch manche Zeit vergehen, und die kleine Marietta mußte schon noch warten, bevor er sie über seine Schwelle führte. Am meisten lohnte es sich, wenn er einmal den alten Spilo vertreten konnte. Dann durfte er die Fremden durch die unterirdischen Gewölbe führen, die unter den Häusern von Paula lagen. Luigi seufzte, während er den Kopf reckte und in den blauen Himmel hineinsah, der wie eine Kuppel aus lichter Seide über ihm stand. Diese Arbeit, die er heute verrichtete, war weniger nach seinem Geschmack und brachte nicht das geringste ein. Er steckte in dem Brunnen, der zum Häuschen der Mutter gehörte. Es wäre schon lange nötig gewesen, ihn einmal nachzusehen. Vor ein paar Jahren hatte sich der Vater schon einmal daran machen wollen, aber er war nicht mehr dazu gekommen. Man hatte sich geholfen, so gut es ging. Aber nun, nachdem die liebe Mammi lange genug gedrängt hatte, war es gar nicht mehr zu vermeiden gewesen. Der Brunnen fiel einfach zusammen, wenn man nicht daran tat. Und die großen Steine mußten eben auch einmal heraufgeholt werden, sonst nützte alles Schöpfen nichts mehr. 155
So hing Luigi denn an einem Doppelseil in dem runden Schacht und prüfte verdrossen Meter für Meter der Wände. Das sah freilich bös aus. Große Stükke waren herausgeplatzt und hinuntergefallen, andere wurden nur noch durch Moos und Flechten dürftig gehalten. Ganz zerfressen waren die Wände. Luigi schauderte, als er an die Arbeit dachte, die ihm noch bevorstand. Wieviel lag da unten und wieviel mußte er hier einsetzen, um den Wänden wieder Halt zu geben. Er fingerte an einem großen Felsstück herum, das anscheinend schon im nächsten Augenblick fallen wollte. Wahrhaftig, er hatte keine Lust, tiefer zu gehen und sich dann von dem fallenden Stück erschlagen zu lassen. Lieber wollte er einen Brocken mehr von unten heraufholen. Da, schon löste sich der Block. Luigi stemmte sich schleunigst zur Seite und ließ ihn an seinen Füßen vorbei hinunterfallen, wo er polternd aufschlug. Mit Genugtuung lobte er seine Vorsicht, der er wahrscheinlich sein Leben zu verdanken hatte. Da war nun eine neue Höhlung entstanden, so geräumig, daß man bald hätte hineinkriechen können. Luigi tastete mit den Händen hinein, um notfalls noch anderes morsches Gestein gleich mit herauszufegen. Plötzlich zog er die Hand erschreckt zurück. Sie hatte etwas Ungewohntes, Seltsames ertastet. Was 156
war das gleich? Ein Tier nicht, nein, wie Papier hatte es sich angefühlt, wie festes, glattes Papier. Aber wie sollte Papier hier in den Felsen kommen? Neugierig geworden, langte Luigi die brennende Kerze aus der Vertiefung heraus, in die er sie über seinem Kopf gestellt hatte, um die Hände frei zu bekommen. Er tauchte mit dem Licht in die frisch gebrochene Öffnung, reckte den Kopf vor. Heiliger Sebastian, war das nicht tatsächlich Papier, dunkles, festes Packpapier, wie es die Fremden gebrauchten, wenn sie etwas einwickelten? Den Abschluß des Loches bildeten feste Gegenstände, die in solches Papier eingehüllt waren. Zwei verschiedene Stücke waren es mindestens. Er sah deutlich, wie das untere Stück nach oben schräg zurücksprang und wie sich dann das obere mit scharfer Kante darauf legte. Das Loch war dort hinten nicht sehr groß, nur ein paar Hände breit. Wer weiß, was dort noch alles lag. Luigi richtete sich erst einmal auf und überlegte. Er stand vor einem Rätsel. Das Häuschen lag schon etwas abseits von Paula und der Brunnen noch mehr. Unmöglich konnte man hier aus Versehen an den Keller eines Nachbarn geraten sein. Und die Katakomben streckten sich in der anderen Richtung, so daß er auch auf sie nicht versehentlich gestoßen sein konnte. Übrigens gab es dort nicht solche Gegenstände in Packpapier, das wußte er genau. Es war ein Rätsel. Er besaß nicht den Ehrgeiz, es 157
allein durch Nachdenken zu lösen. Wieder langte er in das Loch hinein. Er versuchte, das Papier aufzureißen. Aber es war fest und seine Lage ungünstig. Er bekam es nicht recht zu fassen. So angelte er denn sein Messer aus der Hosentasche, jenes Messer, das er einmal gefunden hatte und nach dem der Fremde mit dem Spitzbart so lange gesucht hatte. Ratsch, jetzt ging es besser. Mit einem Schnitt öffnete er die Umhüllung. Im matten Goldgelb blitzte es ihm entgegen. Ah, das war Metall. Luigi besaß eine einfache Natur. Seine Phantasie zeugte mancherlei Träume, aber so rege arbeitete sie doch nicht, um ihm gleich die Wahrheit vorzugaukeln. Das Messer lag einmal da. Luigi begann zu schaben und zu kratzen. Dabei erst stutzte er. Messing war ihm genügend bekannt, und er wußte, daß es sich nicht so leicht zerkratzen ließ wie dieses gelbe Zeug. Ganz flüchtig stieg in ihm die Vermutung auf, daß es vielleicht Gold sein könnte. Wie sollte Gold hierher kommen? Wer würde so verrückt sein, hier Gold zu verstecken? Der Mann hätte ja auch das Feld hinter dem Haus aufgraben müssen, um es hierherzubringen. Aber da war es, das konnte man nicht leugnen. Und wenn es nur Messing war, dann mußte es auch jemand hergebracht haben. Aber wie? 158
Luigi schabte fleißig weiter. Sicher war es Messing, aber es würde nichts schaden, wenn er sich einmal erkundigte. Man konnte etwas abschaben und es jemandem zeigen, der etwas davon verstand. War es Messing, so blieb immer noch ein Geheimnis. Und Geheimnisse konnte man zu Geld machen oder wenigstens eine Belohnung dafür bekommen. Oh, Luigi wußte das ganz genau. Die Fremden zahlten oft für Dinge, die niemand anders wissen durfte. Luigi schüttete sorgsam das Häufchen Metall auf einen Fetzen des Packpapiers, drehte diesen oben zusammen und nahm ihn zwischen die Zähne, während er sich hochseilte. Oben verstaute er seinen Schatz in der Hosentasche, nachdem er sich überzeugt hatte, daß es dort kein Loch gab. Hei, wie zeterte die Mammi, als er losschlenderte. Einen Nichtsnutz, einen Tagedieb und was noch alles nannte sie ihn, aber Luigi machte sich nicht viel daraus. Er rief ihr ein paar zärtliche Worte zu, pfiff sich eins und bummelte die Straße hinunter. Er wußte ganz genau, wen er fragen wollte. Da war der Signore Tontorn, an den wollte er sich wenden. Der Herr war so vornehm und doch so freundlich, er würde bestimmt nichts Arges denken. Außerdem verstand er etwas von solchen Sachen, denn Luigi hatte ihn einmal darüber sprechen hören. Das war gewesen, als er ihm den Stirnreifen gezeigt hatte, 159
den er der kleinen Marietta kaufen wollte. Signore Tontorn konnte auch richtig sprechen und man konnte ihm alles erzählen, ohne fürchten zu müssen, daß er nur die Hälfte verstand, wie das bei vielen anderen Fremden der Fall war. Luigi spähte in die Halle des Hotels und dann in den Garten. Enttäuscht stellte er fest, daß der Gesuchte nicht zu sehen war. Er wartete eine Weile und stellte sich dann so, daß er die Halle beobachten konnte. Seine Ausdauer wurde bald belohnt. Der Signore kam die Treppe herunter und setzte sich an einen der freien Tische. Geschickt schlüpfte Luigi an dem Portier vorüber und eilte an Tontorns Tisch. Etwas hastig und etwas verlegen stotterte er seinen Gruß heraus. Tontorn blickte überrascht auf. »Ah, du bist’s Luigi«, sagte er. »Ich habe dich schon ein paar Tage nicht gesehen. Wünschst du etwas von mir?« Luigi besaß zwar sehr viel Vertrauen zu diesem Signore, aber er fühlte sich doch so wenig frei, daß er die Bejahung förmlich herauswürgen mußte. Tontorn, ein angehender Fünfziger mit charaktervollem Graukopf musterte den verlegenen Burschen prüfend. Luigi wußte genau, wie ungern es im Hotel gesehen wurde, wenn sich ein Einheimischer in der Halle breitmachte. Scheu und zaghaft hockte er sich des160
halb auf den Rand des Sessels. »Also?« ermunterte Tontorn freundlich. »Ich – ich habe etwas gefunden, Signore. Ich – ich möchte gern wissen, was es ist.« »Na, dann zeig mal her«, sagte Tontorn. Luigi zog behutsam seine zusammengedrehte Tüte aus der Hosentasche, legte sie nicht ohne Feierlichkeit auf den Tisch und zerrte das Papier auseinander, so daß das gelbliche Häufchen sichtbar wurde. Tontorn, der etwas ganz anderes vermutet hatte, beugte sich überrascht vor und nahm die gelben Spänchen zwischen die Finger. Dann blickte er Luigi an, schüttelte den Kopf, prüfte von neuem und schüttelte abermals den Kopf. »Wo hast du das gefunden?« fragte er schließlich. Luigi wurde rot. »Ich – ich habe es gefunden, ich weiß nicht, wo!« Tontorn nickte. »Aha, du willst es nicht sagen. Hoffentlich machst du dir nicht Ungelegenheiten, Luigi. Der Mann, von dessen Eigentum du das abgekratzt hast, wird dich vermutlich ins Gefängnis werfen lassen, wenn er dich erwischt.« »Ich habe es gefunden«, murmelte Luigi. »Abgeschabt hast du es irgendwo«, erwiderte Tontorn bestimmt. »Mir kannst du nichts anderes erzählen. Ich möchte nur wissen, wer dir Gelegenheit gegeben hat, seine Goldsachen so zu mißbrauchen. Das 161
ist nämlich Gold, mein Freund, hochwertiges Gold, wenn mich meine Erfahrung nicht trügt.« »Gold?« Luigi wurde vor lauter Aufregung blaß und zittrig. In diesem Augenblick tönte kurz vor dem Tisch eine Stimme auf. »Nanu, Tontorn, was hat Luigi verbrochen, daß Sie ihn so scharf herannehmen? Er sieht ja aus, als wollte er in den Boden versinken.« Beide blickten auf. Am Tisch stand Dottore Angelo, der in einem Haus am Hang ganz in der Nähe des Brunnens wohnte. In seinen scharfen Augen lag Neugier, und seine dünnen Lippen lächelten spöttisch. Luigi duckte sich zusammen, Tontorn zeigte flüchtig Unmut. »Ach, nichts«, sagte er kühl. »Luigi zeigte mir nur gerade einen Fund, den er gemacht hat.« »Darf man sehen?« fragte der Dottore und beugte sich über den Tisch. »Nanu«, sagte er gleich darauf, »ist das nicht Gold?« »Ich denke es«, gab Tontorn zurückhaltend zu. »Luigi wird es vermutlich irgendwo gestohlen haben, denn es ist von einem größeren Gegenstand abgekratzt. Er will aber nicht verraten, woher er es hat.« »Kann ich ihm nicht verdenken«, meinte Angelo und blickte scharf auf Luigi. 162
»Nicht gestohlen«, murmelte dieser. »Ich habe es gefunden.« Tontorn machte eine unwillige Bewegung. »Es wäre mir lieber, du würdest offen sein, Luigi, bevor sie dich fassen. Ich kann es nicht leiden, wenn solche Burschen wie du ins Gefängnis wandern und dort verderben, weil euch der Leichtsinn im Blut liegt und das Urteilsvermögen abgeht. Jetzt läßt sich alles noch ins reine bringen.« Angelo lächelte flüchtig. »Bravo, Sie sind ein Menschenfreund, wie er im Buch steht. Leider wird sich Luigi eher totschlagen lassen, bevor er etwas verrät. Ich kenne diesen Burschen. Wie kommt es überhaupt, daß du hier sitzt, Luigi? Hat dir mein Diener nicht gesagt, daß du einen Herrn führen sollst, der seit gestern mein Gast ist?« Luigi schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß nichts.« »Nana, vielleicht hast du es auch bloß nicht mehr nötig, he? Du mußt dich beeilen, wenn du den Herrn begleiten willst. Sicher wartet er schon oben in meinem Haus.« Tontorn runzelte die Stirn. »Sicher wird er noch so lange warten, bis ich diese Sache in Ordnung gebracht habe, also, Luigi, heraus mit der Sprache.« Aber Luigi wünschte nichts sehnlicher, als zu verschwinden. 163
»Ich muß fort – ich bitte tausendmal um Verzeihung«, flüsterte er. »Ich …« »Da sehen Sie«, lachte Angelo. »Er will das Trinkgeld nicht verlieren und ist außerdem froh, daß er keine Fragen zu beantworten braucht. Na, lauf nur, Luigi. Ich komme gleich nach.« Luigi ließ sich’s nicht zweimal sagen. Er huschte hinaus. Als er beim Hause des Dottore ankam, schüttelte der Diener zunächst den Kopf. »Den fremden Signore willst du begleiten? Davon weiß ich nichts!« »Aber Signore Dottore hat mich doch hergeschickt«, beharrte Luigi. »Er will selbst gleich kommen.« Der Diener hob die Brauen. »Ah, das war ein Mißverständnis. Warte hier ein Weilchen.« Luigi wartete in der Vorhalle. Es dauerte nicht lange, da trat der Dottore ein. »Na, Luigi«, sagte er wohlwollend, »glücklich davongekommen? Viel hätte nicht gefehlt, so hätte Signore Tontorn dich einsperren lassen. Man muß vorsichtig sein in solchen Dingen. Wo hast du denn das Gold her? Ah, laß nur, ich sehe schon, daß du mir auch nichts verraten wirst. Hast du vorhin nicht noch in eurem Brunnen gearbeitet?« Luigi schrak zusammen und konnte nur mühsam 164
bejahen. Der Dottore schien es nicht zu bemerken. Freundlich fuhr er fort: »Nun, die Arbeit wird ja nicht so eilig sein. Mein Gast ist leider schon unterwegs, aber ich brauche jemanden, der für mich einen Gang nach La Valetta macht. Ich denke, das wäre auch was für dich. Und was dein Gold anbetrifft, so rate ich dir, darüber den Mund zu halten, sonst kann es dir passieren, daß du recht bald im Gefängnis sitzt, hast du verstanden?« Luigi hatte verstanden. Zum erstenmal empfand er so etwas wie Sympathie für den Dottore, weil dieser nicht so neugierig war. Bereitwillig übernahm er seine Aufträge. Dottore Angelo fand den ganzen Tag für ihn Beschäftigung. Erst gegen Abend schickte er ihn heim, nachdem er ihn noch einmal gewarnt hatte, ja nicht über das Gold zu sprechen. In der Nacht wälzte sich Luigi im unruhigen Schlaf. Seine Phantasien und seine Träume ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. So hörte er denn, wie sich jemand in seine Kammer einschlich. Er wollte sich aufrichten und eine Frage ausstoßen, aber er kam nicht mehr dazu. Am nächsten Vormittag fand ihn seine Mutter tot im Bett. Ein Dolchstoß hatte sein Herz getroffen. * 165
Sun Koh und Hal Mervin besichtigten die Katakomben von Malta, die sich unter den Häusern des Dorfes Paula befanden. Der alte Spilo führte sie. Er gab dabei seine Erklärungen, wie er es seit Jahren tat. Die beiden Besucher erfuhren manches Wissenswerte, aber noch mehr erfuhren sie durch ihre Augen. Die Katakomben stellten ein ganzes Netz von Gängen, Hallen und Kammern dar, das eine Fläche von annähernd zehntausend Quadratmetern bedeckt. Niemand hatte von ihnen gewußt, bis sie im Jahre 1902 durch einen Arbeiter entdeckt wurden, als dieser einen Brunnen ausgrub. Der englische Gouverneur sorgte dafür, daß dieses unterirdische Reich freigelegt und dem Fremdenverkehr zugänglich gemacht wurde. Es sind seltsame Katakomben, die sich da mehrere Meter unter der Erde hinziehen. Manche Räume haben die Größe und Höhe eines kleinen Saals, andere, und zwar die meisten, sind dagegen nur winzige Kammern. Alle Räume haben jedoch unregelmäßige Gestalt und kaum einer gleicht dem andern. Außerdem liegen sie in verschiedener Tiefe, so daß der Besucher dauernd treppauf, treppab gehen muß. Einmal liegen zwei Räume sogar übereinander, und man muß eine steile Steintreppe überwinden, um aus dem einen in den anderen zu gelangen. Im übrigen erfolgte die Verbindung der Räume durch lange Gänge, die mit 166
gewölbten oder waagerechten Decken aus dem natürlichen weißen Kalkstein herausgeschnitten worden sind. Manchmal liegen die Räume freilich auch dicht nebeneinander, nur durch eine Felswand getrennt, die bis auf Fingerdicke zugehauen worden ist – ein beachtliches Zeugnis für die Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit derer, die diese Katakomben schufen. Überhaupt, das sind nicht etwa primitive Löcher unter der Erde. Zunächst handelt es sich nicht um natürliche Höhlen, die künstlich erweitert wurden. Nein, alle diese Räume und Gänge und Kämmerchen wurden aus dem massiven Felsen herausgearbeitet. Das ist schon als rein technische Leistung etwas Bewundernswürdiges. Man bedenke, was es heißt, einen ganzen unterirdischen Palast von zehntausend Quadratmeter Bodenfläche aus dem massiven Felsen herauszumeißeln. Schon die Bewältigung und Beseitigung der Schuttmassen verdient Beachtung, noch mehr aber die Formgebung von innen her. Die Erbauer besaßen sicher nicht Baupläne, statische Berechnungen und alle Hilfsmittel der Jetztzeit. Sie arbeiteten allein nach dem Bild, das in ihrem Kopf saß. Vielleicht erklärt sich dadurch die verwirrende Vielgestaltigkeit der ganzen Anlage, obgleich man eigentlich nicht den Eindruck hat, daß die Lage und Anordnung der einzelnen Teile, selbst die verschiedene Höhe, ein Ergebnis des Nichtanderskönnens war. 167
Da findet man tadellos ausgehauene Gurtbögen, gleichmäßig gerundete Tonnengewölbe und scharfkantige Treppenstufen. Da sind kunstvolle Tore und eigenartige Decken, die sich stufenweise vorragen und sich oben in einer breiten Deckplatte schließen, als seien sie von außen her gebaut und nicht von innen her ausgearbeitet. Die Decken waren einst rot bemalt, bei einigen ist sogar die Bemalung in Form von künstlerisch ausgeführten Kreisen, Scheiben und Schneckenlinien noch tadellos erhalten. Da findet man in den Wänden tiefe Nischen und kleine Fensterchen. In einer Kammer steht sogar ein kreisrunder Wasserbehälter, der fast an ein Taufbecken erinnert. »Fünftausend Jahre vor unserer Zeitrechnung«, sagte der alte Spilo mit seiner gewohnten bedeutungsvollen Geste, »rund siebentausend Jahre vor der Gegenwart wurden diese Katakomben erbaut, wenn es nicht noch länger her ist. Menschen der Steinzeit waren es, die sie schufen. Man fand Steinbeile und Feuersteinmeißel, das waren die Werkzeuge, mit denen man diese unterirdischen Räume schuf.« »Fand man sonst nichts?« erkundigte sich Sun Koh. »Doch«, bestätigte Spilo, »auch einige Figuren und Tongefäße aus jener Zeit, außerdem Bronzespeere und Statuetten. Außerdem fand man Knochen, zahllose Knochen von Menschen und Tieren. Ich 168
werde Ihnen noch eine Kammer zeigen, in der man die Knochen von hundertfünfzig Menschen fand, obwohl sonst höchstens ein Dutzend Menschen gleichzeitig in die Kammer können. Die Gelehrten behaupten ja deshalb auch, daß dieses unterirdische Reich nur zu Bestattungszwecken gedient habe.« »So viel Aufwand für einen Friedhof. Hat man noch andere Gründe für eine solche Annahme?« »Gewiß, Signore«, erwiderte Spilo eifrig. »Vor allem hat man keine Stelle gefunden, an der Luft und Licht in diese unterirdische Welt hätte eindringen können. Wenn aber hier unten dauernd Menschen gelebt hätten, würde man doch Einrichtungen für die Luftzufuhr gefunden haben.« »Es müssen aber dauernd Menschen hier gelebt haben«, sagte Sun Koh. »Diese Räume können doch nur im Laufe von Jahrzehnten ausgehauen worden sein, nicht wahr?« Spilo begriff die Tragweite des Einwandes nicht ganz. Er fügte nur weiter hinzu: »Man hat auch keine Feuerungsanlagen und keine Asche gefunden.« Sun Koh sagte nichts darauf. Es war nicht leicht, eine Antwort auf die Frage zu finden, die sich unwillkürlich aufdrängte. Welchen Zwecken hatte diese unterirdische Anlage, deren Erschaffung unendliche Mühe gekostet haben mußte, gedient? Als Grabstätte? 169
Man hatte zahlreiche Knochen hier gefunden. Das konnte diese Annahme bestätigen. »Ich glaube es nicht«, meinte Hal. »Und ich habe zwei Gründe dafür. Zunächst sind da die Knochen von Tieren. Sollten jene Menschen tatsächlich in einigen Fällen Tiere mit ihren Angehörigen bestattet haben?« »Nicht übel, dieser Einwand«, sagte Sun Koh. »Und dein zweiter Grund?« »Die ganze Anlage, Sir.« »Das ist es«, stimmte Sun Koh nachdenklich zu. »Die Verschiedenheit dieser Räume, die Tore, die Nischen, die Gänge und alle Einzelheiten lassen gar keine innere Beziehung zu einer Bestattungsanlage zu. Doch das nebenbei. Ein Menschengeschlecht, das sich um seiner Toten willen derartige Mühe gab, hätte im Ernst nie seine Toten hier bestattet. Stelle dir die Anlage vor, wie wir sie bisher kennengelernt haben. Es ist ein einziger Eingang vorhanden. Von diesem Eingang aus müssen sich die Erbauer vorwärtsgearbeitet haben. Die entferntesten Räume sind also zuletzt entstanden, nicht wahr?« »Freilich, Sir.« »Man hätte, also die Toten zu jener Zeit in den vorderen Räumen unterbringen müssen. Es wäre wahnwitzig, anzunehmen, daß diese Katakomben in einigen Jahren entstanden sind und dann nach Fertigstellung ihrem Zweck übergeben wurden. Nein, man 170
hat bis zum letzten Augenblick hier gearbeitet, und zwar über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte hinweg. Da liegt ein Monolith, der nicht mehr über die Tür gesetzt wurde. Da sind Öffnungen, die nicht fertig gearbeitet wurden. Da sehen wir kleinere und größere Löcher, die wahrscheinlich der Anfang zu neuen Räumen werden sollten. Es ist ganz offensichtlich, daß die damaligen Menschen an diesem unterirdischen Reich arbeiteten, bis sie aus ihm vertrieben wurden oder in ihm starben. Geradezu undenkbar aber ist es, daß sie ihre Toten in den vorderen Räumen durch Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch bestatteten, in eben diesen Räumen, durch die sie tagtäglich hindurch mußten, durch die sie Steine und Schutt ins Freie schafften. Das ist unmöglich, weil es psychologisch unmöglich ist. Ein Menschengeschlecht, das sich so um seine Toten müht, und sie in solchen Kammern aufbahrt, hält seine Toten heilig und läuft nicht zehnmal am Tag in allem Schmutz an ihnen vorbei, nicht an den Gebeinen und erst recht nicht an den verwesenden Leichen. Ich glaube nicht daran, daß das Grabstätten waren.« »Ich auch nicht, Sir. Weiß man denn, wer sie gebaut hat?« Sun Koh gab die Frage an Spilo weiter, der sich an einer der Nischen stützte und geduldig wartete, daß die Fremden ihm weiter folgen würden. Spilo kam seufzend zurück. 171
»Es waren Steinzeitmenschen, Signore«, erklärte er noch einmal. »Man weiß sonst nicht viel von ihnen. Sie haben sich später vermischt und sind verschwunden.« »Es müssen sehr viele auf dieser kleinen Insel gewohnt haben, nicht wahr?« »Ja«, gab Spilo zu. »Sie gehörten wohl zu einem großen Volk, das vor vielen tausend Jahren dieses ganze Gebiet bevölkerte, das wir heute als Mittelmeer kennen. Einst war Europa und Afrika durch Land verbunden, so daß man nicht wußte, was Europa war und was Afrika. Später ist dann das Land eingebrochen, und wir gehören nun zu Europa, obwohl viele Gelehrte sagen, daß wir eigentlich zu Afrika rechnen müßten. Damals, als hier das Mittelmeer um uns entstand, blieben auf der Insel die Menschen der Steinzeit zurück, der Rest des großen Volkes, das damals unterging.« Sun Koh und Hal Mervin blickten sich an. Sie erinnerten sich beide der Erklärungen jenes Führers in Sardinien, die ganz ähnlich gelautet hatten. »Merkwürdige Übereinstimmung«, murmelte Hal halblaut. »Und merkwürdige Steinzeitmenschen.« Sun Koh nickte lächelnd. »Der Geologe ist großzügig in archäologischen Dingen und der Archäologe großzügig in geologischen. Führen Sie uns weiter.« Spilo streckte sich ächzend und verzog so das Ge172
sicht, daß Sun Koh fragte: »Was haben Sie denn?« Spilo erschrak sehr, weil er sich so hatte gehen lassen. Er murmelte demütig: »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, es soll nicht wieder vorkommen, Signore. Es ist das teuflische Reißen. Mein Bein …« »Aber Mann«, unterbrach Sun Koh kopfschüttelnd, »was laufen Sie dann herum? Sie konnten uns das doch gleich sagen. Haben Sie keinen Stellvertreter, der die Führung übernehmen kann, wenn Sie krank sind?« Spilo seufzte. »Doch, ich hatte einen, aber er wurde vor zwei Tagen ermordet.« Sun Koh nahm den alten Mann kurzerhand unter die Achseln, so daß er kaum mehr aufzutreten brauchte. »So, nun wollen wir erst mal umkehren. Wenn es nicht mehr geht, sagen Sie es, damit ich Sie ausruhen lasse. Ermordet wurde Ihr Stellvertreter?« »Ja, er wurde ermordet«, bestätigte Spilo ernst. »Der arme Luigi. Er war ein so guter Junge, und ich hatte geglaubt, er würde eines Tages mein Nachfolger werden. Nun ist er tot, und die arme kleine Marietta weint sich die Augen nach ihm aus.« »Warum wurde er denn ermordet?« fragte Sun Koh. Spilo schüttelte den Kopf. »Niemand weiß es. Man fand ihn des Morgens tot 173
im Bett. Im Schlaf hat man ihn erstochen. Aber niemand kann sagen, wer es getan hat. Er war bei allen beliebt, der kleine Luigi, niemand haßte ihn, mit niemand stritt er sich. Sogar die Fremden hatten ihn lieb. Signor Tontorn war sogar zweimal bei mir und hat mit mir über ihn gesprochen und so sehr bedauert, daß Luigi sterben mußte.« »Was sagt die Polizei?« »Ah, die Polizei! Sie zuckte die Schultern und schweigt. Man wird nie erfahren, wer Luigi ermordet hat. Pah, die Polizei! Signore Tontorn hält auch nichts von ihr. Ich glaube, er will selbst nach dem Täter forschen. Aber was weiß ein Fremder? Sehen Sie, Signore, wie kann man fragen, ob Luigi Gold besessen hat, einen Haufen Goldspäne, den er sich irgendwo abgeschabt haben muß?« Sun Koh wurde aufmerksam. Er setzte den Alten auf einen Steinvorsprung nieder. »Wer hat Sie denn danach gefragt?« »Signore Tontorn. Ein vornehmer Herr, aber er weiß eben nicht, daß Luigi niemals Gold besessen hat und auch nicht deswegen ermordet werden konnte.« »Dieser Signore Tontorn wohnt hier im Dorf?« »Im Hotel, Herr. Er wohnt jedes Jahr einige Wochen hier.« »Gibt es eigentlich auf dieser Insel noch mehr solcher Katakomben?« 174
»Nein«, gab Spilo entschieden zurück. »Das sind die einzigen. Ah, ich werde es mir nie verzeihen, daß ich Sie nicht ganz herumführte. Aber morgen werde ich gesund sein, und morgen …« »Können wir uns den Rest nicht allein ansehen?« erkundigte sich Hal. Sun Koh stellte die gleiche Frage. Spilo zögerte, aber mehr deshalb, weil er fürchtete, die Fremden könnten sich verlaufen. Ernsthaft hatte er nichts einzuwenden. So ließen ihn die beiden sitzen und kehrten in das Höhlenreich zurück. Sie fanden nichts von dem, was sie suchten. »Ich habe es kaum anders erwartet, nachdem ich hörte, daß diese Räume dem allgemeinen Fremdenverkehr zugänglich seien. Es muß demnach unbedingt noch einen anderen unterirdischen Bezirk geben. Nach der Karte, die ich in Caracas Haus sah, muß er sich hügelabwärts strecken, falls die roten Zeichen auf solche Katakomben hindeuten.« »Stehen in jener Richtung auch Häuser?« »Nur eins, das eines Dottore Angelo, der sich vor Jahren hier seßhaft gemacht hat, wie mir der Portier des Hotels in diesem Dorf erklärte.« »Finden Sie es nicht komisch, daß dieser Tontorn nach Gold fragte, das der Ermordete besessen haben soll?« Sun Koh nickte. »Es kann immerhin der Anfang einer Spur sein. Wir werden jedenfalls Nimba nach La Valetta schik175
ken und das Notwendigste holen lassen, damit wir heute noch in Paula bleiben können.« Tontorn saß in der Taverne, die sich im alten Teil des Hotels befand und mehr den Einheimischen als den Fremden als Aufenthalt diente. Er grübelte in sein Glas hinein und lauschte dabei auf die Gespräche, die mit südländischer Lebhaftigkeit an den Nachbartischen geführt wurden. Insgeheim hoffte er, den Hinweis zu fangen, nach dem er suchte. Er blickte nicht besonders freundlich auf, als Sun Koh und Hal Mervin herantraten und sich Platz erbaten. Dann fesselte ihn die eindrucksvolle Persönlichkeit Sun Kohs jedoch so stark, daß er darüber seine Grübeleien vergaß und von sich aus versuchte, zu einem Gespräch zu kommen. Da Sun Koh die gleichen Absichten besaß, waren sie bald in eine Unterhaltung über alle möglichen Dinge vertieft. Tontorn leitete schließlich von sich aus auf das Thema über, das Sun Koh mit ihm besprechen wollte. »Ja, wunderbar heiter ist diese Landschaft«, ergänzte Tontorn nachdenklich. »Alles spielt sich an der Oberfläche, unter der leuchtenden Sonne ab. Aber glauben Sie mir, es gibt auch Tiefen in diesen leichtlebigen Menschen, so gut es Katakomben unter den Häusern dieses Dorfes gibt. Mitten im harmlosen Leben dieses Völkchens steht plötzlich ein finsteres 176
Ereignis, für das man als Fremder vergeblich die Erklärung und seelische Begründung sucht. Sehen Sie, da lebte hier ein junger Bursche. Luigi riefen sie ihn. Niemals hätte ich etwas Merkwürdiges oder Geheimnisvolles in ihm und um ihn herum vermutet. Trotzdem fand man ihn vorgestern erstochen in seinem Bett auf. Wenn es Sie nicht langweilt, will ich Ihnen gern erzählen, was ich weiß.« »Ich höre gern zu.« »Sehen Sie, dieser Luigi kam vormittags zu mir ins Hotel. Er war aufgeregt und verwirrt. Ich kenne ihn lange genug, um das beurteilen zu können. Etwas fragen wollte er mich. Dann holte er ein zusammengedrehtes Stück Packpapier heraus, zerrte es auseinander und legte ein gelbes Häufchen vor mich auf den Tisch. Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich es prüfte und dabei zu der Überzeugung kam, daß es sich um Gold handelte.« »Gold?« »Ich muß es vielleicht näher beschreiben. Es waren dünne Goldspäne. Sie entstehen, wenn man von einem weichgoldenen Stück mit dem Messer etwas gewaltsam herunterkratzt. Es war ganz feines Zeug, hauchdünn und klein, zum Teil mehr Staub als Folie. Einige Stücke hatten etwas Stärke und waren dreiekkig, für mich ein Beweis, daß sie von einer scharfen Kante abgenommen worden waren. Das alles war untermischt mit grauweißem Staub, der wahrschein177
lich von den hiesigen Felsen herrührt.« »In der Tat, sehr merkwürdig«, sagte Sun Koh, da er den fragenden Blick des Engländers auf sich bemerkte. »Was sagte Luigi über die Herkunft des Goldes?« »Er schwieg sich leider aus. Ich nahm an, er hätte irgendwo einen Diebstahl auf die Weise begangen, daß er einen goldenen Gegenstand abschabte. Ich sagte es ihm ins Gesicht, aber er behauptete, es gefunden zu haben. Die Wahrheit war das nicht. Die hätte ich noch aus ihm herausgeholt, aber leider Gottes wurden wir gestört, so daß Luigi entschlüpfen konnte. In der Nacht darauf wurde er ermordet.« »Fand man das Gold bei ihm?« »Eben nicht«, erwiderte Tontorn behutsam. »Und weder seine Mutter noch sonst wer wußte, etwas darüber. Ich habe auch nichts gemeldet, weil es mir ohnehin zwecklos erscheint, aber ich fürchte, Luigi ist um dieses Goldes willen ermordet worden.« »Dann dürfte es nicht schwer sein, den Mörder zu finden. Man muß nur nachforschen, wer außer Ihnen noch um das Gold wußte.« »Das können Dutzende von Leuten sein. Luigi war nicht verschlossener als irgendeiner, und er kann vielen Mitteilung gemacht haben. Freilich glaube ich nicht recht daran, denn einesteils war er sich sicher des Verbotenen bewußt, und andernteils habe ich nie das Gold erwähnen hören, obwohl die Leute andau178
ernd über Luigis Ermordung schwatzen und Vermutungen anstellen.« Sun Koh nickte. »Leicht möglich, daß außer Ihnen nur noch der Mörder um das Gold wußte.« »Nun, das ist vielleicht zuviel behauptet.« Tontorn wiegte den Kopf hin und her. »Einer hat es bestimmt noch außer mir gesehen, und zwar in meiner Gegenwart, eben jener Mann, der mich in meiner Unterhaltung mit Luigi störte und ihn wegschickte.« »Wer ist das?« »Ein Dottore Angelo, der dort oben am Hügel sein Haus hat.« »Sie kennen ihn sehr gut?« »Nicht mehr als viele andere, die hier wohnen. Ich komme seit Jahren regelmäßig hierher. Er macht einen guten Eindruck, aber als meinen Freund würde ich ihn nicht gerade bezeichnen.« »Er schickte den jungen Burschen weg?« »Gewiß, in sein Haus, um eine Führung zu übernehmen. Aber hören Sie, Sie dürfen den Dottore nicht gleich als verdächtig ansehen. Offengestanden habe ich selbst einen Augenblick lang Ähnliches gedacht wie Sie, aber es wäre ja widersinnig, daß dieser vermögende Mann den armen Kerl beseitigt hat, um diese paar Gramm Gold in seinen Besitz zu bringen.« Sun Koh dachte wesentlich anders darüber, aber er ließ es sich nicht anmerken, sondern stimmte höflich 179
zu: »Allerdings, das wäre widersinnig. Doch sagen Sie, ließ sich nicht ermitteln, was Luigi in der letzten Zeit getrieben hat?« »Ich habe es versucht«, erwiderte Tontorn, »aber es hat zu nichts geführt. Ich sprach deshalb mit seiner Mutter, aber sie erzählte, daß Luigi oft im Brunnen gearbeitet habe und von da aus, nachdem er die Arbeit wie gewöhnlich bald satt hatte, unmittelbar nach dem Hotel gegangen sei.« Sun Koh lächelte. »Als Laie würde ich das Geheimnis im Brunnen suchen.« Tontorn faßte es durchaus als Scherz auf. Er lachte. »Darauf verzichte ich gern. Ich bin eher geneigt, mit diesem Dottore Angelo ein Wörtchen zu reden und ihn auszuhorchen. Vielleicht hat er von dem Gold weitererzählt. Heute abend wird er wohl hierherkommen, da finde ich dann Gelegenheit.« Das Gespräch geriet in andere Bahnen. Sun Koh und Hal verabschiedeten sich später. 8. Noch vor Mitternacht standen sie draußen neben dem alten Brunnen, in dem Luigi seine große Entdeckung gemacht hatte. Ihre Gestalten hoben sich aus der Dunkelheit kaum heraus. In der Hütte, in der die alte Mutter wohnte, regte sich nichts. Vom Hügel her 180
blinkte ein Licht durch die Bäume, im Haus des Dottore wachte man noch. »Das ist der Brunnen, von dem aus der Ermordete zu Tontorn gelaufen ist«, sagte Sun Koh gedämpft zu seinem jungen Begleiter. »Ich werde nachsehen, ob ich in ihm einen Hinweis finde. Halte du oben Wache.« Das Doppelseil hing noch so über der schweren, hölzernen Welle, wie es Luigi verlassen hatte. Am tiefen Ende hing ein schwerer Steinbrocken, der das Körpergewicht fast ausglich, so daß man langsam hinunterschweben und den Lauf der beiden Seile leicht abstoppen konnte. Die Welle knarrte und knirschte allerdings unangenehm laut, so daß sich Sun Koh sehr viel Zeit nehmen mußte, um das Geräusch nicht übermäßig stark werden zu lassen. Ganz langsam glitt er hinunter und leuchtete dabei die Wände ab. Er verfolgte die Spuren von Luigis Tätigkeit. Bald hier, bald dort war ein Brocken aus dem Moosüberzug herausgebrochen und in die Tiefe gestürzt worden. Nach einigen Metern fand er einen hellen Fleck von der Größe eines halben Quadratmeters, der sich scharf von der verwitterten, moos- und flechtenüberzogenen Umgebung abhob, obgleich man ihn anscheinend mit Erde beschmiert hatte. Hier war vor kurzem ein neuer Stein eingefügt worden. 181
Sun Koh ließ sich noch ein Stück tiefer. Er überzeugte sich, daß weiter unten keine Spuren von Luigis Tätigkeit zu finden waren. Er konnte nicht weiter als bis zu dem neuen Stein gekommen sein. Sollte er wirklich diesen Stein eingefügt haben? Sun Koh versuchte den Stein herauszuziehen. Es gelang ihm jedoch nicht. Das war ihm begreiflich, als er nachspürend feststellte, daß sich der Stein nach hinten zu verbreiterte. Nun stemmte er sich gegen die Wand des Brunnens, setzte die Hand gegen den Stein und preßte. Das war der richtige Angriff. Die Fugen rissen auf, der Stein gab eine Kleinigkeit nach. Allerdings auch nicht mehr, entfernt war er noch nicht. Sun Koh zwängte den Körper quer in den Schacht, so daß er beide Füße gegen den Stein setzen konnte. Dann streckte er sich mit voller Kraft. Es war ein Glück für ihn, daß der Stein nicht vollends hinausfuhr, sonst hätte er sich jedenfalls die Schienbeine an der stehenbleibenden Kante aufgeschlagen. So fand er mit den Füßen noch Halt, nachdem der stärkste Druck sich ausgewirkt hatte. Er wechselte seine Lage, griff mit der Hand nach und drückte den Stein vollends durch. Das bereitete nicht viel Mühe. Im Licht der Taschenlampe bemerkte er dabei, daß der Stein auf der anderen Seite durch Eisenklammern befestigt worden war, die ihn bis zuletzt hielten. Später sah er die Klammern dann von 182
der anderen Seite. Luigi hätte sich erheblich gewundert, wenn er das Loch gesehen hätte. Als er darin herumgeschabt hatte, besaß es noch konische Gestalt mit der weiten Seite zum Brunnen. Jetzt war es umgekehrt. Das Loch erweiterte sich konisch nach der anderen Seite. Jetzt konnte bequem ein Mann hindurchkriechen, und zwar um so mehr, als der Hintergrund nicht mehr durch eingewickelte Goldbarren versperrt wurde. Sun Koh kannte die ursprüngliche Beschaffenheit dieser Öffnung nicht, aber er sah, daß man mit Meißeln gearbeitet hatte. Die Öffnung mußte also früher enger gewesen sein. Er zog sich in das Loch hinein. Die Scheinwerferlampe zeigte ihm jenseits einen kellerartigen Raum von geringer Höhe, von dem aus man durch eine rechteckige Türöffnung weiter gelangen konnte. Das Loch selbst befand sich etwas mehr als einen Meter über dem Boden. Kurz darauf stand Sun Koh in dem Raum. Dicht an der Wand lagen noch Steinbrocken und Eisenklammern. Überreste der Maurertätigkeit, die man hier kürzlich entfaltet haben mußte. Wo steckten die Goldbarren? Die Türöffnung führte in einen ähnlichen Raum, dann über einige Stufen in einen Gang, über neue Stufen in Hallen und Kämmerchen mit Nischen, ge183
stuften Decken, roten Malereien und gelegentlichen Knochenhaufen. Das waren Katakomben, die völlig denen glichen, die Sun Koh am Tag besichtigt hatte. Und doch waren es nicht die gleichen. Offensichtlich zogen sich diese vom Brunnen zum Haus des Dottore Angelo hin. Es waren Katakomben, die die Öffentlichkeit bisher nicht kannte. Sun Koh durchwanderte sie in Richtung auf das Haus des Dottore. Plötzlich stutzte er. In einem frisch ausgehauenen Loch dicht über dem Boden lag ein röhrenförmiger, dunkler Zylinder von Spannenlänge. An ihm war ein dünner, umsponnener Draht befestigt. Eine angenehme Entdeckung. Zweifellos stellte dieser Zylinder eine Sprengbombe dar, die elektrisch gezündet werden sollte. Es fragte sich nur wann, Sun Koh hatte einen Moment lang das peinliche Empfinden, daß gerade jetzt die Hand eines Mannes auf dem Taster liegen müßte, durch den der Kontakt bestätigt wurde. Er ging weiter. Bald entdeckte er die zweite, die dritte und die vierte Sprengbombe. Der Mann, der die Katakomben kannte, hatte wohl die Absicht, sie gelegentlich zu vernichten, für alle Zeiten unzugänglich zu machen. Aber welchen Sinn sollte das haben? 184
Ziemlich zufällig entdeckte Sun Koh eine Tür, als er einen Seitengang ableuchtete. Da folgte er ihm natürlich. Die Tür bestand aus ziemlich starkem Eisen. Verschlossen war sie jedoch nicht. Hinter ihr lag eine unregelmäßige Kammer. In dieser Kammer fand Sun Koh die Goldbarren. Sorgfältig geschichtet lagen sie in der Mitte des Raumes auf dem Boden. Die Kammer hatte ihre Eigenheiten. Sie besaß keine Wände aus Kalkstein, sondern aus Beton, vielleicht sogar aus Eisenbeton. Vermutlich hatte man Betonschichten von beträchtlicher Stärke vor die natürlichen Wände gesetzt. Auch die Decke bestand aus Beton. Eigentümlich wirkte ein starkes eisernes Rohr, das in der Mitte durch die Decke hinausragte. Sun Koh stellte an Hand seines Planes und seiner sonstigen Beobachtungen fest, daß sich die Kammer mindestens fünfzig Meter seitlich vom Haus des Dottore befinden mußte. Dieser Angelo, falls er wirklich der gesuchte Mann war, sicherte sich wohl für jeden Fall. Wenn wirklich etwas schiefging, konnte er zur Not sein Haus und die Katakomben zerstören, ohne daß der Goldschatz ernstlich gefährdet wurde. Aber das blieb alles zunächst nur Vermutung. Sun Koh suchte den Haupteingang wieder auf und 185
schritt weiter vorwärts. Er stieß bald gegen eine Tür, die freilich nur aus Holz bestand. Auch sie war unverschlossen. Der nächste Raum stellte schon mehr einen Keller als eine unterirdische Höhle dar. Verschiedenes Handwerkszeug und Gerümpel aller Art lag herum. Wieder eine unverschlossene Holztür. Sie öffnete sich nur schwerfällig. Kein Wunder, da sie auf der Innenseite mit gefüllten Flaschenregalen besetzt war. Eine Tür, die man eigentlich nicht sehen sollte. Und der Raum stellte wohl den Weinkeller dar. Sun Koh hielt inne. Über sich hörte er Schritte, deren Richtung sich nicht beurteilen ließ. Wenn er weiter vorwärts drang, mußte er mit einer Entdeckung rechnen. Dies wollte er aber vermeiden. Er kehrte um. »Es genügt für heute«, sagte er später zu Hal Mervin. »Ich habe das Gold gefunden. Dottore Angelo ist unser Mann, den wir suchen. Es empfiehlt sich aber nicht für uns, ihn von unten her zu stellen. Komm!« Sie fanden das nächtliche Hotel in merklicher Unruhe und Aufregung. Die Gäste selbst schliefen wohl meistens, aber das Personal sowie verschiedene Einheimische waren auf den Beinen, trugen verstörte Gesichter zur Schau und rannten miteinander. Der Geschäftsführer lief wie ein Verzweifelter in der Halle auf und nieder. Das wollte freilich nicht viel besagen, denn er gehörte zu den Männern, deren Tempe186
rament jede Kleinigkeit tonnenschwer empfindet, aber in Verbindung mit dem Verhalten der anderen empfing man doch den Eindruck, daß etwas Besonderes geschehen sein müsse. Sun Koh hielt den Geschäftsführer an. »Was ist geschehen?« Der Mann warf die Arme förmlich in die Luft und begann zu reden. »Oh, Signore, etwas Gräßliches, etwas Furchtbares. Die Folgen sind nicht auszudenken. Wer wird noch hier wohnen wollen? Wer wird sich noch nach hier wagen? Ah, ich bin trostlos, verzweifelt, vernichtet. Und ausgerechnet Signore Tontorn, einer unserer besten Gäste!« »Was ist denn mit ihm?« »Ermordet!« flüsterte der Geschäftsführer. Sun Koh empfand die Mitteilung wie einen Schlag. »Ermordet?« Der andere schluchzte auf. »Ja, ja, Signore. Ein Verbrecher hat ihn getötet, mit dem Dolch niedergestochen. Ah, dieser feige Mörder, von hinten ist er gekommen. Er ruiniert das Hotel und ganz Paula. Bedenken Sie, zwei Morde in einer Woche! Oh, das ist zuviel, das …« »Geben Sie mir Einzelheiten über den Mord«, unterbrach Sun Koh. »Wo und wann wurde er ermordet?« 187
Der Geschäftsführer bemühte sich, sachlich zu sein. »Man weiß es nicht, wann es war. Am Abend habe ich selbst Signore Tontorn noch gesehen. Er saß bei Dottore Angelo und unterhielt sich mit ihm.« »Stritten sich die beiden Herren?« »Ich bitte Sie – nein, natürlich nicht. Sie waren sehr freundlich und herzlich miteinander. Sie schüttelten sich wiederholt die Hand, als sie sich trennten. Später unternahm Signore Tontorn wohl seinen gewohnten Spaziergang an der Küste entlang, wie er das stets getan hat. Dabei wurde er ermordet. Man fand ihn zwischen den Ginsterbüschen am Strand.« »Wer fand ihn?« »Ein Fischer, Stampigli heißt er, wenn ich mich nicht irre. Er rannte zur Polizei und dann holte man mich, weil man sah, daß es ein Fremder war.« »Wann?« »Der Fischer fand ihn vor mehr als einer Stunde.« »Wurde der Tote beraubt?« »Ja, Signore, es ist ein Raubmord. Man hat die Brieftasche und Wertsachen gestohlen. Sicher ist es ein Mann aus La Valetta gewesen, der auf den Signore wartete.« »Liegt die Leiche noch am Strand?« »Sie wird noch dort liegen. Aber gehen Sie nicht hin, Signore, es ist gräßlich, ihn anzublicken.« Sun Koh und Hal Mervin begaben sich auf ihre Zimmer. 188
»Glauben Sie an den Raubmörder, Sir?« fragte Hal. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nein, nach dem, was ich heute nacht festgestellt habe, nicht. Tontorn hat einen unverzeihlichen Fehler begangen. Er verdächtigte insgeheim den Dottore, stellte ihn und ließ wohl seinen Verdacht durchblikken. Zumindest hat er zu erkennen gegeben, daß er weiter nach dem Mörder Luigis und nach der Herkunft des Goldes fahnden wolle. Angelo erkannte in ihm den Gegner und handelte entsprechend.« »Aber sie sollen doch sehr freundschaftlich miteinander gesprochen haben?« »Warum nicht? Sicher hat es Angelo verstanden, den Verdacht Tontorns zu zerstreuen, so daß dieser sich gewissermaßen in Schuld fühlte. Und Angelo, in dem wir ja Sheppard vermuten, ist sicher nicht so plump, um sich vor aller Öffentlichkeit feindlich gegen den Mann zu zeigen, den er ermorden will. Im Gegenteil, er wird besonders freundlich gewesen sein. Ich halte Angelo jedenfalls für den Mörder.« »Ich auch«, meinte Hal wichtig. »Wollen Sie ihn nicht gleich anzeigen?« »Als Mörder?« »Ja.« »Da müßten wir ihm seine Schuld besser beweisen können, als wir tatsächlich imstande sind.« »Aber wenn wir die Sache mit dem Gold …« 189
»Das ist es ja eben«, unterbrach Sun Koh. »Bestimmt würden wir uns auf lange Zeit des Goldes berauben, wenn wir die Polizei darauf aufmerksam machten. Nein, wir müssen versuchen, das Gold wegzuschaffen, bevor eine Behörde davon erfährt. Die Vorwürfe und Mißbilligungen, die bei Bekanntwerden erfolgen, können wir dann mit Vergnügen tragen.« »Räumen wir bei Nacht alles aus«, schlug Hal vor. »Das wird nicht genügen. Angelo würde sehr bald aufmerksam werden. Zunächst werden wir nach La Valetta fahren, um einige Verstärkung heranzuholen.« Hal zog eine überraschte Miene. »Ach – diesen Dottore halten wir doch allein in Schach?« »Eben nicht«, antwortete Sun Koh entschieden. »Es müssen verschiedene Männer in seinem Haus wohnen, die nur seine Helfer sein können. Aber darüber hinaus brauchen wir Leute für den Transport, vor allem auch die beiden Flugzeuge. Wir werden versuchen, das Gold gleich auf die Flugzeuge zu lagern, und dann alles auf einmal fortzuschaffen. Die Engländer würden uns bös ins Gehege kommen, wenn wir wiederholt in der Nähe der Festung mit einem Flugzeug landen würden. Du weißt ja, was sie uns schon für Schwierigkeiten gemacht haben. Einmal können wir hier landen, das zweitemal gäbe es jedoch Großalarm.« 190
* Zwei Tage später. Es war bereits dunkel geworden, wenn auch noch nicht Nacht. In Paula wie in La Valetta brannten noch viele Lichter. Dottore Angelo saß in seinem Arbeitszimmer, das im ersten Stock seines Hauses lag. Von ihm aus konnte man wie von einer Warte das Dorf und das dahinterliegende innere Stück der Hafenbucht übersehen, vorausgesetzt, daß die Vorhänge nicht wie augenblicklich zugezogen waren. Dottore Angelo klopfte ungeduldig auf die Platte des Schreibtisches, hinter dem er saß. Seine scharfen Augen ruhten voll Unmut auf dem Mann, der zwischen Tür und Schreibtisch stand. »Ich kann solche Leute nicht brauchen, die sich unfähig zeigen«, sagte er hart. »Sie hatten den Auftrag, festzustellen, wo sich Jim Brough, der Pilot und das Flugzeug befinden. Nun kommen Sie zurück und wissen so gut wie nichts. Die Maschine ist am Hangar mit verbrannt. Was soll das bedeuten? Und wo sind die beiden geblieben?« Der Mann murmelte etwas von Zeitmangel. »Wenn sich Ihre Ermittlungen nicht schnell genug durchführen ließen, so hätten Sie mich nur zu verständigen brauchen, Spalato. Die beiden müssen ge191
funden werden. An Verrat glaube ich nicht. Sie kehren sofort nach Barra zurück und versuchen, eine brauchbare Spur zu finden. Mehr brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.« Spalato verbeugte sich. »Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.« »Möglichst noch mehr«, sagte Angelo. »Gehen Sie« Der andere verbeugte sich und ging hinaus. Angelos Diener kam ins Zimmer. »Verzeihung, Signore.« »Was gibt’s?« »Ein Fremder ist unten und wünscht Sie zu sprechen.« Dottore Angelo zog flüchtig die Augenbrauen hoch. »Ein Fremder? Und um diese Stunde? Wie heißt er?« »Er wünscht seinen Namen Ihnen selbst zu sagen.« Angelo erhob sich. »Was soll das bedeuten?« »Nach Polizei sieht er nicht aus.« »Allein?« »Ja.« »Dreh das Licht ab.« Es wurde dunkel im Raum. Angelo trat ans Fenster, zog die Vorhänge ein Stück zurück und blickte hinaus. 192
Draußen lag alles still im ersten Schein des aufgehenden Mondes. Angelo ließ die Vorhänge fallen und wandte sich zurück. »Licht. Schick ihn her. Was machen die anderen?« »Sie sitzen im Spielzimmer.« Der Dottore lachte kurz. »Ah, sie vertreiben sich die Langeweile? Es wird Zeit, daß ich sie fortschicke. Stör sie nicht, sieh aber draußen nach, ob der Fremde wirklich allein ist.« Der Diener ging. Inzwischen wäre um ein Haar der ganze Plan Sun Kohs verdorben worden. Sun Koh ging in der kleinen Vorhalle auf und ab, nachdem der Diener versprochen hatte, ihn zu melden. Schon nach einer kleinen Weile hörte er jemand eintreten. Er wandte sich zur inneren Tür um. Es war Spalato, der durch die Halle gehen wollte. Das Erkennen und Zusammenzucken beruhte auf Gegenseitigkeit. Sun Koh wußte, daß dies einer der Männer war, die ihn in Barra gefangengehalten hatten. Und Spalato wußte gleichzeitig, daß er den Gefangenen von Barra vor sich hatte. So verwirrt war er, daß er steif stehen blieb. Inzwischen dachte Sun Koh lebhaft und handelte schnell. Dieser Mann bedeutete höchste Gefahr. Ein einziger Schrei, und das Unternehmen wurde schwie193
rig, wenn nicht unmöglich. Er schnellte sich mit drei Sprüngen vorwärts, streckte seinen Körper im letzten Sprung und schoß mit der Faust vor. Spalato wehrte in letzter Sekunde unbeholfen ab, aber er vermochte den Schlag nicht mehr zu stoppen. Er konnte ihn mildern, indem er etwas zur Seite wich, aber er wurde hart genug getroffen, um zu Boden zu stürzen und die klare Besinnung zu verlieren. Einen Schrei wollte er herauswürgen, aber schon preßte Sun Koh seine Hand auf den sich verzerrenden Mund. Dann folgte ein zweiter, besonnener Schlag, der Spalato in schwarze Nacht versinken ließ. Sun Koh horchte. Niemand schien aufmerksam geworden zu sein. Aber der Diener konnte jeden Augenblick zurückkehren. Der Betäubte mußte fort. Wohin? Da stand ein Ledersofa. Darunter gab es genügend Platz. Oben klangen Schritte. Sun Koh schob den Mann unter das Sofa, schnell, sicher und auch etwas rücksichtslos. Die Stiefel guckten vor. Mit einem Griff waren die Knie eingeknickt, die verräterischen Stiefelspitzen verschwunden. Den Hut schnell hinterher. Noch etwas? Alles in Ordnung. 194
Wenn der Betäubte nur nicht allzu früh aufwachte. »Signore Angelo läßt bitten.« Gleichmütig folgte Sun Koh dem voranschreitenden Diener. Auf der Treppe bemerkte er, daß sein linkes Hosenbein bestäubt war. Unauffällig klopfte er die hellen Flecken herunter. Dottore Angelo erhob sich, wie es die Höflichkeit gebot. »Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen? Mit wem habe ich die Ehre?« Sun Koh merkte, daß der Diener die Tür noch nicht geschlossen hatte. »John Burker«, sagte er. Die Tür klappte zu. Angelo zuckte mit der rechten Braue. Der Name gefiel ihm nicht oder sagte ihm wenigstens nicht zu. Er wartete, bis sich Sun Koh gesetzt hatte, dann ließ er sich ebenfalls nieder. Sie saßen nicht am Schreibtisch, sondern an dem runden Tisch, der seitlich stand. Der Schirm der Stehlampe gab rötliches Licht auf die beiden Gesichter. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, erinnerte Angelo seinen Gast, als dieser schweigsam blieb. »Verzeihen Sie«, sagte Sun Koh jetzt. »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Gegenstand zu zeigen, der Ihnen wichtig erscheinen wird. Zunächst möchte ich aber bemerken, daß ich Ihnen einen falschen Namen nannte.« 195
Angelo lächelte flüchtig. »Ich dachte es mir.« Sun Koh zog einen Zettel aus der Brusttasche. Angelo beugte sich neugierig vor. »Mein wahrer Name ist Sun Koh.« Angelo ruckte auf, aber schon traf ihn die Faust gegen die Schläfe. Der Schlag war nicht hart, aber er genügte, um Angelo einige Minuten bewußtlos zu machen. Als er wieder zu sich kam, war er mit den Schnüren der Gardine an den Sessel gefesselt. Im Mund steckte ein Tuch als Knebel. Sun Koh blickte auf die Uhr. »Noch zwei Minuten Zeit. Ich sehe, Sie haben den Schlag bereits überwunden, Dottore Angelo. Sie wissen wohl nun, daß ich der Mann bin, dem Sie in Paris das Gold rauben ließen? Ein sehr geschickter Streich, aber Sie werden verstehen, daß ich das Gold nicht aufgeben konnte. Nein, beruhigen Sie sich, ich habe es bereits in Ihren Katakomben gefunden. Die Pariser Polizei wird sich sicher freuen, Sie kennenzulernen. Man sucht schon lange nach einem gewissen Sheppard. Es wird schwer sein für Sie, zu leugnen, denn Ihr Leutnant Jim Brough hat bereits gestanden.« Das waren Schläge für Angelo. Seine Augen blitzten immer heftiger voller Wut auf. Im gleichen Augenblick sprach von der Tür her Spalato: »Hände hoch! Eine Bewegung und ich schieße!« 196
Sun Koh blickte in die Mündung einer Pistole. Niederträchtig grinsend trat Spalato ein. »Das hätten Sie sich wohl nicht träumen lassen. Verdammt, mich einfach niederzuschlagen. Treten Sie beiseite. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung schieße ich.« Er ging um Sun Koh in achtungsvollem Bogen herum, angelte sich ein Messer aus der Tasche und schnitt Angelo los, wobei er aber Sun Koh nicht aus den Augen ließ. Dottore Angelo schäumte vor Haß und Wut, nachdem er sich den Knebel herausgerissen hatte. »Ah, so ist das, so ist das?« keuchte er. »Mich wollten Sie überlisten, Signore Sun Koh? Ah, Sie werden zu Ihrem Gold auch noch das Leben einbüßen. Ich verstehe zwar nicht, wie Sie überhaupt noch leben können, aber diesmal – treten Sie an die Tür, Spalato. Solange der Mann nicht gefesselt ist, nehmen Sie die Pistole nicht aus seiner Richtung. Ich will erst einmal sehen, ob er Waffen bei sich trägt.« Er leerte Sun Kohs Taschen aus. Das fing er sehr geschickt an, denn er stellte sich nicht ein einziges Mal in die Schußrichtung. »Ah, da ist schon eine Pistole«, schwatzte er dabei seine wilde Erregung hinaus. »Und das? Das ist nichts, aber hier …« Sun Koh hielt musterhaft still. Hinter Spalato öffnete sich die Tür um eine Klei197
nigkeit. Ein Gesicht erschien. Hal. Spalato hörte nichts. Und Angelo sah nichts, da er eifrig mit der Untersuchung beschäftigt war. Jetzt warf Hal die Tür zurück und sprang auf Spalato zu. Dieser zuckte herum, aber schon packte Hal sein Handgelenk mit der rechten Hand, riß mit der linken den Ellenbogen zurück und schleuderte den Arm zu einem Hamerlock herum. Der Schuß löste sich aus der Pistole. Die Kugel fuhr irgendwo in die Wand. Sun Koh hob im Moment, als Hal zupackte, das linke Bein scharf an. Angelo, der halb vorgebeugt stand, bekam das Knie in den Leib und stürzte zurück. Sun Koh war frei. Aber Lärm hatte es doch gegeben. »Nun haben wir doch die anderen alarmiert«, rief Sun Koh hastig, griff seine Pistole auf und band den Dottore wieder schnell zusammen. »Halte den Mann einen Augenblick. So, das genügt.« »Von dem Diener haben wir nichts zu befürchten.« »Die vier im unteren Zimmer, die wir spielen sahen?« »Ich glaube, sie kommen schon.« »Hier sind noch Schnüre. Binde den Mann einstweilen.« Sun Koh gab Spalato einen kleinen Schlag, daß er 198
sich umlegte, dann begann Hal, ihn zu fesseln. Männer kamen heraufgestürmt. Sun Koh riß die Tür auf. Er hoffte auf gewisse psychologische Zwangsläufigkeiten. Er hoffte nicht schlecht. Drei Mann jagten durch die offene Tür ohne Böses zu ahnen. Mit Feinden rechneten sie jedenfalls nicht, so sicher fühlten sie sich im Haus des Dottore. Wahrscheinlich nahmen sie an, es sei ein Unglück geschehen. Jedenfalls waren sie bestürzt, als Sun Koh ihnen die Pistole zeigte und sie aufforderte, die Hände zu heben. Der vierte Mann stutzte kurz vor der Schwelle. Er konnte sich jedoch nicht mehr zurückziehen, da er bereits von dem mehr in der Mitte des Zimmers stehenden Hal aufs Korn genommen wurde. Wohl oder übel hob auch er die Hände und trat näher. Hal durchsuchte die vier nach Waffen und lief dann los, um Gardinenschnüre zusammenzuholen. Inzwischen hörte sich Sun Koh die Flüche und Drohungen der Männer an. Er verzichtete auf jede Erwiderung. Daß es nicht erlaubt war, friedliche Bürger in ihren Häusern zu überfallen, wußte er selbst. Aber das waren eben keine friedlichen Bürger, sondern gewiegte Verbrecher und rücksichtslose Mörder, die die kleinen Rücksichten des Gesetzes nicht in Anspruch nehmen durften, um sich der Verantwortung für ihre Schandtaten zu 199
entziehen. Aber es wäre sinnlos gewesen, sie zu dieser Einsicht bringen zu wollen. Also ließ er sie schimpfen und achtete nur darauf, daß sie die Arme oben behielten. Nach einer Weile kam Hal zurück. »Der Diener liegt noch unten, er kann sich aber nicht frei machen.« Dann band er die Männer zusammen. Als er damit fertig war, wurden alle hinausgeführt, ebenso Angelo und Spalato. Hal übernahm rückwärtsgehend die Spitze, Sun Koh überwachte von hinten die Schar. Der Eingang zum Keller war leicht zu finden, ebenso ein Kellerraum, in dem man die Gefangenen einsperren konnte. Die Tür bestand zwar nur aus Holz, aber die Gefangenen sollten ja auch nicht so lange ohne Aufsicht bleiben, daß sie Gelegenheit finden konnten, sich zu befreien. »Du übernimmst die Wache«, bestimmte Sun Koh. »Ich werde inzwischen Ausschau nach den Flugzeugen halten.« »Wie lange noch?« »Sie müssen bereits über uns stehen. In drei Minuten ist die Zeit herum.« Hal blieb allein zurück. Die sieben Männer – den Diener hatten sie beim Hinuntergehen mitgenommen – tuschelten in der Ekke, die der Tür gegenüberlag. Hal hielt sie im Licht seiner Scheinwerferlampe und überwachte ihre Hände, aber er ließ sie schwatzen. 200
Da löste sich Angelo ab. Er trat einen Schritt vor, fixierte Hal unfreundlich und stieß heraus: »Wie lange soll denn das Theater noch dauern?« »Das wird vom Richter abhängen«, erwiderte Hal ruhig. Angelo trat noch einen Schritt vor, und die anderen rückten unauffällig nach. »Unsinn, der Richter wird sich mehr mit euch als mit uns beschäftigen.« »Leicht möglich«, sagte Hal gleichmütig. »Aber geben Sie inzwischen acht, daß Sie nicht noch einen Fußbreit weiter vorgehen. Der Boden wird dort sehr gefährlich. Es läuft sich schlecht, wenn man eine Kugel im Fuß hat.« Dottore Angelo begriff, daß sein Plan fehlgeschlagen war. Mit einem Fluch zog er sich zusammen mit den anderen in die Ecke zurück. Die Minuten vergingen. Endlich hörte man Schritte. Sun Koh erschien. Ihm folgten Nimba, Gorm, Carring und Valmy. »Alles in Ordnung?« erkundigte er sich. »Gewiß, Sir. Sind die Flugzeuge gut heruntergekommen?« »Ausgezeichnet. Wir stehen auf dem Feld. Wir können beginnen.« *
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Sun Koh zeigte beim ersten Gang den Weg zu jener zementierten Kammer, dann löste er die Wache bei den Flugzeugen ab und blieb selbst oben. Die nächtliche Landung der Flugzeuge war nicht ohne Lärm abgegangen. Einwohner sammelten sich und mußten zurückgescheucht werden. Und da nahte auch schon die Polizei. »Was geht hier vor?« fragte Felino, der Dorfpolizist, nachdem er höflich gegrüßt hatte. »Wir sind mit dem Flugzeug gelandet«, sagte Sun Koh vage. Felino riß den Mund auf. »Ah, wahrhaftig. Aber …« Sun Koh drückte ihm einen Geldschein in die Hand. »Es wird nicht lange dauern. Bitte, sorgen Sie dafür, daß die Leute nicht so dicht herandrängen. Ich nehme an, daß es Ihrem Einfluß gelingen wird, sie in genügend Abstand zu halten.« Felino begriff, daß die Aufrechterhaltung der Ordnung seine vordringlichste Aufgabe war. Er machte sich mit Feuereifer an die Arbeit. Eine halbe Stunde später kam der schwammige Bürgermeister herangehastet, und sagte: »Ah, Signore, Sie gehören doch zu den Flugzeugen?« »Gewiß«, bestätigte Sun Koh. »Sie sind hier gelandet?« »Allerdings.« »Wissen Sie nicht, daß das verboten ist?« 202
»Ich bin bedauerlicherweise hier fremd«, unterbrach Sun Koh höflich. »Es lag uns fern, die nächtliche Ruhe zu stören.« »Stören?« schnappte der andere. »Ganz Malta ist in Aufruhr. Alles sucht nach Ihnen. Aus dem tiefsten Schlaf hat man mich geweckt, um mir mitzuteilen, daß Flugzeuge über der Insel gesichtet worden seien und daß jeder Bürgermeister die Pflicht habe, sofort Meldung zu machen, wenn in seinem Bereich ein Flugzeug …« »Ja, ja, wir werden bald wieder aufsteigen«, sagte Sun Koh beruhigend. Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. »Das dürfen Sie nicht. Ich muß sofort Meldung machen.« Sun Koh nickte. »Nun gut, wir hindern Sie nicht daran. Doch wenn Sie noch einige Augenblicke Zeit haben, will ich Ihnen etwas zeigen, das Ihnen einige hundert Pfund Belohnung einbringen kann.« Der andere reckte den Kopf. »Einige hundert Pfund Belohnung?« »Gewiß.« »Zeigen Sie.« »Sie müssen mir ins Haus des Dottore Angelo folgen.« Kurz vor dem Haus trafen sie auf Nimba, der eben mit einigen Barren angestampft kam. 203
»Was macht denn der?« Der Bürgermeister wies auf ihn. »Er schafft wichtiges Material heraus«, erklärte Sun Koh. »Sie werden das bald verstehen. Sie wissen, daß sich in Ihrem Amtsbereich kürzlich zwei Morde ereigneten.« »Gott sei’s geklagt.« »Die Mörder wurden noch nicht gefunden, nicht wahr? Nun gut, ich werde sie Ihnen gleich zeigen. Der Mörder oder der Auftraggeber des Mörders ist ein Mann, der unter den verschiedensten Namen von der Polizei gesucht wird. Sein wahrer Name ist wohl Sheppard. Der Mann, der ihn gefangennimmt, hat Anspruch auf alle ausgesetzten Belohnungen, die insgesamt eine beträchtliche Summe erreichen. Sie sollen ihn verhaften und sich damit den Anspruch auf die Belohnung erwerben. Sheppard ist Ihnen als Dottore Angelo bekannt.« Der Bürgermeister blieb in der Halle des Hauses stehen. Sun Koh bat ihn, sein Urteil zurückzustellen, bis die Führung beendet war. Der Bürgermeister fiel nun aus einer Überraschung in die andere. Es beeindruckte ihn ungeheuer stark, als sich vor ihm die Katakomben öffneten, deren Existenz Angelo so sorgfältig verschwiegen hatte. Sun Koh erzählte ihm dann alles, was er über 204
Sheppard wußte. Er vermied allerdings, das Gold zu erwähnen. Es gelang ihm, den Bürgermeister zu überzeugen. Als sie nach Beendigung des Rundganges in den Keller blickten, in dem sich die Gefangenen befanden, zeigte jener keine Bereitschaft mehr, dem Dottore Angelo behilflich zu sein. Als sie wieder in der Halle des Hauses standen, sagte Sun Koh: »Es wird nötig sein, dieses Haus noch gründlich zu durchsuchen. Ich halte es aber für angebracht, damit noch zu warten. Augenblicklich befinden sich Menschen unten. Ich habe zwar die Zuleitungen zu den meisten Sprengbomben durchschnitten, aber sicher nicht von allen. Es würde vielleicht unangenehme Folgen haben, wenn wir hier oben versehentlich einen Kontakt berühren. Das Beweismaterial gegen den Dottore, das sicher hier zu finden sein wird, kann später auch noch gesucht werden.« »Ich bin durchaus Ihrer Meinung«, versicherte der Bürgermeister, der sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. »Doch nun will ich mich beeilen. Wir sind lange unten gewesen.« Sun Koh verriet ihm nicht, daß es länger als eine Stunde gedauert hatte, sondern erwiderte: »Melden Sie nach La Valetta. Vergessen Sie jedoch nicht die Hauptsache, nämlich die Verbrecher im Keller. Sie müssen jedenfalls ein entsprechendes Aufgebot anfordern.« »Das werde ich bestimmt tun.« 205
Sie schritten nebeneinander ins Freie. »Ich würde es auch für ratsam halten, wenn dieser Polizist nunmehr die Wache bei den Gefangenen übernähme. Man könnte Ihnen Nachlässigkeit vorwerfen, wenn Sie so wichtige Leute weiterhin uns Privatpersonen anvertrauen.« Der Bürgermeister sah das ein. Er kehrte sogar noch einmal mit Felino zusammen zurück, um ihn an seinen Posten zu bringen. Dann ging er hinaus. Dabei fiel ihm zum zweitenmal auf, daß dauernd Lasten hinausgetragen wurden. Er fragte Sun Koh danach. Doch dieser konnte ihn mit ausweichenden Antworten befriedigen. Sun Koh schickte Hal fort, nachdem er ihm etwas zugeflüstert hatte. Bevor der Bürgermeister noch fertig war, kam der Junge wieder zurück und raunte Sun Koh zu: »Höchstens noch zehn Minuten.« Sun Koh war vorsichtig. Während er mit dem Bürgermeister nach oben ging, verwickelte er ihn in eine Unterhaltung, die noch einige Minuten in Anspruch nahm. Endlich kam der verantwortliche Leiter der Gemeinde Paula dazu, sein Haus wieder aufzusuchen und seine Meldung nach La Valetta zu geben. In sein Telefongespräch hinein hörte er die Motoren der Flugzeuge aufdröhnen. Als er rennend das freie Feld erreichte, rollte gerade die letzte Maschine an. Er hätte sie gern aufgehalten, zog es aber doch 206
vor, sich niederzuducken, um nicht gestreift zu werden. * Und wieder Paris. Vor dem Hofeingang der Bank von Frankreich hielt ein gewöhnlicher Lastkraftwagen. Vom Führersitz sprang Sun Koh, ging die Straße hinunter zum Hauptportal und trat in die Bank ein. Direktor Lepont begrüßte ihn sehr freundlich. Er wurde jedoch blaß, als ihm Sun Koh erklärte: »Ich habe die Barren unten in einem Wagen, der vor der Bank steht. Bitte, veranlassen Sie sofort alles, damit sie übernommen werden.« »Sie haben – in einem gewöhnlichen Wagen – ohne Bedeckung…« »Ohne Bedeckung nicht gerade«, entgegnete Sun Koh lächelnd. »Aber ich hielt es für richtig, das Gold gleich selbst herzubringen. Nicht immer kann man gewisse Zwischenfälle günstig ausgleichen.« »Ist es Ihnen gelungen, die Räuber dingfest zu machen?« Sun Koh gab ihm einen kurzen Abriß der Ereignisse, dann beeilte sich Lepont, seine Anordnungen zu treffen. Zwei Stunden später lagen die Goldbarren wohlverwahrt im Gewölbe der Bank von Frankreich. 207
Am nächsten Tag suchte Sun Koh den Inspektor Medonc von der Sûreté auf. »Sheppard ist verhaftet«, teilte ihm Medonc mit. »Er hielt sich als gewisser Dottore Angelo in der Nähe von La Valetta auf. Die dortige Polizei hat genügend Unterlagen für seine Identität gefunden. Höchste Zeit, daß man den Burschen gefaßt hat. Aber eigentlich ist es schade, daß Sie es nicht waren. Ich hatte gehofft, Sie würden ihn mir bringen. Alle Achtung vor der Polizei in La Valetta. Sie war schneller als Sie.« »Fast zu schnell«, meinte Sun Koh und dachte an seine Bemühungen, den eifrigen Bürgermeister von Paula über die Zeit hinwegzubringen. ENDE
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Als SUN KOH Taschenbuch Band 33 erscheint:
Mordpalaver von Freder van Holk Die einen versuchen es mit Gewehrfeuer, die andern mit heimtückischem Gas, die dritten mit ganz ausgefallenen Mitteln. Alle aber wollen sie nur eines: Sun Koh aus der Welt schaffen. Der zukünftige Herrscher von Atlantis steht dicht vor dem Ziel, sein Land Gestalt annehmen zu lassen. Bei den Vorbereitungen dazu scheinen sich alle Gegner auf einmal gegen ihn verschworen zu haben. Die Entführer springen mit Hal Mervin nicht gerade sanft um, als es gilt, Sun Kohs Pläne zu erfahren. Und zu allem Überfluß wird Hal ein zweitesmal entführt. Als die mächtigen Gegner merken, daß Sun Koh nicht daran denkt, auf ihre Forderungen einzugehen, bringen sie seine Mitarbeiter um – einen nach dem andern. Irgendwann, das wissen sie, wird der Herrscher von Atlantis ihnen jeden Wunsch erfüllen … Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vierwöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.