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Thomas Grunwald Gehirn und Gedudel Warum die Fußball-Europameisterschaft das Leben verlängert, der Musikantenstadl aber nicht
SpringerWienNewYork
PD Dr. Dr. Thomas Grunwald Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. © 2008 Springer-Verlag/Wien • Printed in Austria Springer-Verlag Wien New York ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.at Lektorat: Nadja Schiller (ZHdK) Lay-out und Satz: Springer-Verlag, Wien Druck: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H., 3580 Horn, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12043262 Mit 3 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1863-6411
ISBN
978-3-211-71686-1 Springer-Verlag Wien New York
I n h a l t sv e r z eich n is
Vor dem Anpfiff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abstoß: Von epileptischen Anfällen und Gehirnoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Spielbeobachter: Methoden der kognitiven Neurowissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Steilpass: Neues in der Tiefe des Gehirns. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hilfreiche Flanken: Neuheit, Relevanz und Emotion . . . . . . . .
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Halbzeitpause für Feierabendphilosophen . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mittelfeldstrategen: Warum lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rückpass wohin: Wiedererinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daumendrücken: Geht die Sinfonie bei einem Unentschieden in die Verlängerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeitspiel (C-Dur). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nach dem Abpfiff. Bewusstsein und Gedudel: zwei kulturelle Errungenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang: 10 Tipps zur Lebensverlängerung. . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Vo r d e m A np fiff „Ils ont changé ma chanson“ Ray Charles: Look, what they‘ve done to my song. Am Ende dieses Bandes der TRACE-Reihe werden Ihnen hoffentlich einige mit Mühen erlangte Erkenntnisse der Gehirnforschung einfach erscheinen, die davon handeln, wie das Gehirn Erinnerungen bewahrt und Zukunft erschafft. Es wird dann aber vielleicht schwierig zu akzeptieren sein, dass die Schlussfolgerungen, die aus diesen Erkenntnissen für die Lebensverlängerung zu ziehen sind, ebenfalls einfach sind. Viel einfacher wäre es, sich von schwierig erscheinendem Mystischem in Bann ziehen zu lassen. Doch das Gehirn mag wohl mystisch erscheinen, ist es aber nicht. Allenfalls schwierig. Um manches Folgende wird es Streit geben, nicht zuletzt mit Freunden und Gegnern der Fußball-Europameisterschaft und des Musikantenstadls. Aber Streit gab es um diesen Band bereits, bevor er erschien: Seinem Autor und den Herausgebern der Reihe war klar, dass Wortwahl und Terminologie wichtig sind, wenn man Gehirnforschung und Kulturfragen zusammenbringen möchte. Die korrekte Terminologie hat aber bereits im Titel zu beginnen, und deshalb stritten sich Autor und Herausgeber darum, ob dieses Buch „Gehirn und Genudel“ oder „Gehirn und Gedudel“ zu heißen habe. Dem Argument der Herausgeber, dass „Genudel“ kein richtiges deutsches Wort sei, „Gedudel“ aber schon, hielt der Autor entgegen, dass „Gedudel“ sich zu eingleisig auf die Musik beziehe, während es ihm um die Kultur überhaupt gehe, einschließlich des Sports, ja ganz besonders um den Sport und vor 1
allem den Fußball, bei dem Genudel häufiger zu beobachten sei. So sei etwa das Spiel der österreichischen und deutschen Fußball-Nationalmannschaften anlässlich der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien ein eindeutiges Genudel gewesen, an das sich kaum jemand erinnern könne. Darauf entgegneten die Herausgeber, daran erinnerten sie sich sehr wohl, so dass aus diesem Fußballspiel kaum ein schlagendes Argument für die Gehirnforschung zu gewinnen sei. (Es ist wohl offensichtlich, dass sich diese Auffassung einer sehr subjektiven Erfahrung verdankt!) Der Fairness halber verabschiedet sich der Autor jedoch an diesem Punkt von der Haltung, sich als „der Autor“ zu bezeichnen, um so seinen Argumenten die scheinbar objektive Kraft der dritten Person zu verleihen. Ich also muss zugeben, dass ich mich einer demokratischen Mehrheitsentscheidung gebeugt habe. Dabei habe ich einsehen müssen, dass „Gedudel“ im Duden steht, „Genudel“ aber nicht. Im Folgenden werde ich daher nun versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass es gute Gründe gibt, Ihr Gehirn vor allzu viel Gedudel zu bewahren. (Aber unter uns: Vom Standpunkt der Gehirnforschung aus gesehen war das Spiel der österreichischen und deutschen Fußball-Nationalmannschaften anlässlich der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien schon ein rechtes Genudel!)
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A b st o ß : Vo n ep ilep tischen A n fä llen und G e h i r n o p e r ation en “Don‘t it always seem to go that you don’t know what you’ve got till it’s gone?” Joni Mitchell: Big Yellow Taxi. Für eine vernünftige Gegenwart brauchen Sie eine Vergangenheit und eine Zukunft. In der Vergangenheit sind Sie zu der Person geworden, die Sie heute sind. Vielleicht gibt es das eine oder andere, das Sie an sich verbesserungsfähig finden, ich würde jedoch darauf wetten, dass Sie Ihre Persönlichkeit – und damit Ihre Vergangenheit – nicht verlieren möchten. Auf diese Wette wäre ich sogar bereit, einiges zu setzen, obwohl ich mir sonst bei Wetten, z.B. im Toto, nicht allzu viel zutraue. Dass ich mir dabei so sicher bin, beruht dabei nicht auf einer Weltanschauung oder meinem „Menschenbild“, was immer das auch sein mag, sondern auf einer ganz konkreten beruflichen Erfahrung: Wenn meine Kollegen und ich einem Patienten erklären, dass eine Gehirnoperation zur Behandlung seiner epileptischen Anfälle möglich ist, hören wir häufig die besorgte Frage, ob man nach einer solchen Operation noch die oder der Gleiche sei wie vorher. Und damit ist nicht gemeint, ob ein Risiko für Lähmungen, Sprachstörungen oder andere neurologische Ausfälle besteht, sondern ganz ausdrücklich die Frage, ob sich die Persönlichkeit durch eine solche Gehirnoperation ändern könnte. Das ist glücklicherweise nicht der Fall (und um die anderen Risiken kümmern wir uns sehr sorgfältig). Aber allen Science-Fiction Autoren, die über Gehirn-Transplantationen spekulieren, sollte es doch zu denken geben, dass Menschen eher bereit wären, die Funktionsfähigkeit eines Arms oder eines Beins oder gar ihre
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Sprachfähigkeit zu opfern als ihre Persönlichkeit.1 So wichtig die Vergangenheit auch sein mag, darin – oder auch „nur“ in der Gegenwart – zu leben, macht einen Menschen bestenfalls merkwürdig. Tatsächlich verbringen wir einen großen Teil unserer Gegenwart damit, unsere Zukunft zu schaffen. Damit ist nicht nur die Altersvorsorge gemeint. Auch ob es sich lohnt, Arbeit in eine Prüfungsvorbereitung zu investieren, wohin die nächste Urlaubsreise gehen soll, und ob es sich lohnt, zugunsten des Musikantenstadls auf die Live-Übertragung eines Fußball-Länderspiels zu verzichten, will sorgfältig erwogen sein. Wie wir noch sehen werden, scheint das menschliche Gehirn wie gemacht, mögliche Zukunftsentwürfe zu entwickeln und Strategien für deren Bewältigung zu planen. Dies nicht zu können, kann durch bestimmte Erkrankungen oder Schädigungen des Gehirns bedingt sein. Das gesunde Gehirn kann dagegen in der Regel nur ein einziges Mal mit einer Situation konfrontiert werden, in der es keine Zukunft mehr gibt, nämlich dann, wenn es erlebt, dass der Tod unausweichlich bevorsteht. Allerdings kann es über diese Erfahrung nur berichten, wenn es sich dabei geirrt hat. Doch darüber finden Sie anderenorts Kompetenteres.2 Hier soll es ja gerade um die Lebensverlängerung gehen. Wer die Gegenwart meistern will, muss also mit der Vergangenheit und der Zukunft umgehen können, und für beides ist
Dass ein Mensch seine Sprache opfern würde, um durch eine Operation von seinen Anfällen befreit zu werden, mag Ihnen als eine absurde Übertreibung erscheinen. Ein Patient, dem wir erklären mussten, dass eine Operation deshalb nicht möglich sei, weil sie zu einem Sprachverlust führen würde, sah das anders. Er entgegnete, dass habe er mit seiner Frau besprochen, und sie beide seien der Meinung, das sei so in Ordnung. Bevor Sie über diesen Patienten schmunzeln, sollten Sie wissen, dass es katastrophale Epilepsien mit vielen schweren Anfällen pro Tag gibt, die es einem Patienten durchaus bedenkenswert erscheinen lassen, einen hohen Preis für die Anfallsfreiheit zu bezahlen. Eine Operation mit der absehbaren Folge eines Sprachverlusts würde aber dennoch kein epilepsiechirurgisches Zentrum durchführen. Zu Nahtoderfahrungen vgl. Linke DB (2004) Das Gehirn – Schlüssel zur Unendlichkeit. Herder, Freiburg, Basel, Wien, S. 13 ff
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ein funktionierendes Gedächtnis eine unabdingbare Voraussetzung. Dass man auch für die Zukunft ein Gedächtnis braucht, mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, ist es aber nicht: Auch Zukunftspläne muss man im Gedächtnis behalten können, um sich nach ihnen zu richten. In der Neuropsychologie nennt man dies „prospektives Gedächtnis“. So ist es denn auch nicht allzu überraschend, dass die kognitiven Neurowissenschaften in letzter Zeit zunehmend Hinweise darauf finden, dass die Hirnregionen, die wichtige Gedächtnisfunktionen tragen, auch am Entwurf der Zukunft beteiligt sind. Es ist also nützlich, etwas über das Gedächtnis zu wissen, wenn man verstehen will, wie wir mit unserer Vergangenheit und unserer Zukunft zurechtkommen. Nun gibt es eine lange Tradition der Gedächtnisforschung sowohl in der Psychologie als auch in der Neurologie und Psychiatrie, mit der wir die Zeit bis zum nächsten Musikantenstadl oder auch bis zur FußballEuropameisterschaft zwanglos füllen könnten. Lassen Sie mich stattdessen aber aus meinem Arbeitsgebiet, der Epileptologie, berichten, vor allem weil es hier einen Patienten gibt, dessen Gedächtnisverlust wir viel zu verdanken haben. Er ist mit seinen Initialen H.M. in die Geschichte der Gedächtnisforschung eingegangen, und er verlor sein Gedächtnis durch den Versuch, ihn mittels einer Gehirnoperation von seinen Anfällen zu befreien. Es gibt viele verschiedene Formen epileptischer Anfälle und viele verschiedene Arten von Epilepsien. Glücklicherweise sind die meisten von ihnen inzwischen gut mit Medikamenten zu behandeln, so dass etwa zwei Drittel der Betroffenen anfallsfrei werden und ein völlig normales Leben führen können. Bei etwa einem Drittel der Erkrankten gelingt dies jedoch nicht, so dass man ihre Epilepsien „pharmakoresistent“ nennt. Manche dieser Patienten können wiederum durch eine Gehirnoperation, einen epilepsiechirurgischen Eingriff, geheilt wer5
den. Dies setzt jedoch voraus, dass alle Anfälle an nur einem einzigen Ort im Gehirn entstehen, dass man diesen Ort auch identifizieren und schließlich auch ohne zu großes Risiko entfernen kann. Die häufigste Epilepsieform bei Erwachsenen ist die so genannte „Schläfenlappen-Epilepsie“, bei der die Anfälle eben in jener Gehirnregion entstehen, die Schläfenlappen (oder Temporallappen) genannt wird. Noch genauer gesagt, beginnen die Anfälle bei dieser Art der Epilepsie in einer Region im Inneren des Temporallappens, nämlich dem Hippocampus. Der Hippocampus ist ungefähr so groß wie der kleine Finger eines Kindes und ist leicht gebogen, so dass seine Form die Anatomen früher an ein Seepferdchen (lateinisch: „Hippocampus“) erinnerte (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: MRI-Aufnahmen, die einen Schnitt durch den Hippocampus zeigen (linkes Bild: von vorne gesehen, rechtes Bild: von der Seite). Die Spitzen der Dreiecke liegen im Körper des Hippocampus.
Im Jahre 1953 unterzog sich der damals 23-jährige H.M. einem epilepsiechirurgischen Eingriff, bei dem ihm die Hippocampi beider Gehirnhälften entfernt wurden. Dies führte tatsächlich postoperativ zu einer fast völligen Anfallsfreiheit, allerdings zu einem zum damaligen Zeitpunkt völlig unerwarteten Preis: H.M. erlitt eine bis zum heutigen Tag anhaltende schwere Ge6
dächtnisstörung, die es ihm unmöglich macht, neue Eindrücke und Informationen für länger als allenfalls wenige Minuten in Erinnerung zu behalten. Die Dramatik einer solchen Gedächtnisstörung kann man kaum übertreiben: Stellen Sie sich vor, Sie lernen jemanden kennen, mit dem Sie sich angeregt unterhalten. Dann verlassen Sie kurz das Zimmer, und wenn Sie zurückkommen, weiß Ihr Gesprächspartner nicht nur nicht mehr, worüber Sie gesprochen haben, er glaubt sogar, Sie nie zuvor gesehen zu haben. Für H. M. bedeutet sein Gedächtnisverlust z.B. auch, dass er an jedem Morgen, wenn er ins Badezimmer geht, erwartet, das Gesicht eines 23-jährigen jungen Mannes im Spiegel zu sehen. Können Sie sich vorstellen, was er fühlt, wenn er einen über 70-jährigen Mann erblickt? Und dieser Schock wiederholt sich jeden Morgen, weil H. M. sich ja an den Schock des vorangegangenen Tages nicht erinnern kann. Da sich H.M. aber bis zum heutigen Tage immer wieder neuropsychologischen Tests zur Verfügung gestellt hat, hat ihm die Gedächtnisforschung viel zu verdanken (Corkin, 2002). Ausgehend von den Tests, die die Neuropsychologin Brenda Millner mit H.M. durchführte (Scoville, Millner, 1957), haben inzwischen viele Untersuchungen gezeigt, dass es verschiedene Gedächtnissysteme gibt, von denen einige entscheidend – andere aber gar nicht – von der Funktionsfähigkeit der Hippocampi abhängen. So könnte H.M. beispielsweise lernen, wie man Tango tanzt. Aber wenn er das Tangotanzen jetzt neu gelernt hätte, würde er sich jedoch nicht daran erinnern. Er würde die neu erworbenen motorischen Abläufe zwar beherrschen, aber er wüsste nichts von den Episoden seines Lebens, in denen er die neuen Fertigkeiten erworben hätte. Inzwischen ist es zweifelsfrei bewiesen, dass das Gedächtnis nicht einfach ein großer Speicher für alle Arten von Erinnerungen ist, sondern dass es unterschiedliche Gedächtnissys7
teme gibt, an denen unterschiedliche Gehirnregionen beteiligt sind. So gibt es z.B. motorische Fertigkeiten, die man zwar erlernen und in den dafür zuständigen Gehirnregionen behalten muss, die aber, wenn sie einmal erlernt sind, nur sehr schwer oder gar nicht ins Bewusstsein zu rufen und mit Worten zu beschreiben sind. Dazu gehören etwa motorische Abläufe beim Sport oder beim Spielen eines Instrumentes. Wenn Sie Auto fahren, werden Sie sich vielleicht daran erinnern, wie schwer es Ihnen in der Fahrschule anfangs fiel, an alles zu denken, was beim Linksabbiegen zu beachten ist. Sicher haben Sie sich aber inzwischen schon einmal dabei ertappt, eine Strecke gefahren zu sein, ohne sich bewusst daran erinnern zu können. Auch das Linksabbiegen hat dann anscheinend „automatisch“ funktioniert. Das Bemühen um die bewusste Erinnerung an bestimmte Bewegungsabläufe kann deren Gelingen sogar stören, wie viele Sportler und Musiker bereits schmerzlich erfahren haben. Diese Art von Lernen und Erinnern gelingt auch ohne einen Hippocampus. Anders steht es jedoch mit den Erinnerungen, die Ihr bisher gelebtes Leben und damit einen wesentlichen Teil Ihrer Persönlichkeit ausmachen: Um wichtige Episoden Ihres Lebens – Ihre Autobiographie – im Gedächtnis behalten und daraus abrufen zu können, brauchen Sie zumindest einen funktionierenden Hippocampus. Das Gedächtnissystem, für das diese Hirnregion entscheidend ist, nennt man daher auch „episodisches“ (oder auch „autobiographisches“, „autonoëtisches“) Gedächtnis. Ein Beispiel noch für diese Funktion des Hippocampus: Auf die Frage nach der Hauptstadt von Frankreich fällt Ihnen sicher die Antwort „Paris“ sogleich ein. Aber wissen Sie noch, wann, wo und wie Sie genau gelernt haben, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist? Wohl kaum! Verschiedene Untersuchungen sprechen dafür, dass man (semantisches) „Weltwissen“ – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch 8
ohne einen funktionierenden Hippocampus erlernen kann. Erinnerungen an die Schulzeit gibt es ohne einen Hippocampus jedoch nicht. Da man aber sowohl über sein Wissen als auch über seine Erinnerungen an die Schulzeit berichten kann, fast man das semantische und das episodische Gedächtnis unter dem Oberbegriff des „deklarativen“ Gedächtnisses zusammen, das dadurch gekennzeichnet ist, dass seine Inhalte dem Bewusstsein zugänglich und somit eben berichtsfähig sind. Mit einem Hippocampus können jedoch auch Epileptologen aus Erfahrung klug werden. Und so haben wir von H.M. gelernt, dass man nicht beide Hippocampi entfernen darf – und auch einen nur dann, wenn der andere funktioniert und nach einer Operation das episodische Gedächtnis des Patienten ausreichend tragen kann. Aus diesem Grund hat die moderne prächirurgische Epilepsiediagnostik nicht nur das Ziel herauszufinden, wo man im Gehirn operieren müsste, damit ein Patient anfallsfrei wird. Ebenso wichtig ist es, möglichst genau vorherzusagen, ob man eine solche Operation auch wagen kann, ohne zu große Risiken z.B. für die Gedächtnisfunktionen des Patienten einzugehen. In vielen Fällen ist dies inzwischen mit nicht-invasiven Untersuchungsmethoden möglich. Manchmal ist es zur Vorbereitung eines epilepsiechirurgischen Eingriffes jedoch nötig, in einer vorangehenden Operation Elektroden direkt auf die Gehirnrinde zu setzen oder auch in den Schläfenlappen einzubringen, um den Ursprungsort der Anfälle aufzufinden. In diesen Fällen ist es dann auch möglich, zusätzliche Untersuchungen über die Funktionsfähigkeit und Funktionsweise dieser Gehirnregionen durchzuführen, ohne die Patienten einem zusätzlichen Risiko auszusetzen. Und so haben wir auch gelernt, dass es einen guten Grund für Gehirne gibt, neugierig zu sein.
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S p i e l b e o b achter: Metho d en d er kognit iven N e u r o wi ssen sch aft “From Gagarin’s point of view” Esbjörn Svensson Trio: Live at the Berlin Jazz Festival. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, etwas über die Funktionsweise des Gehirns zu erfahren. Die in der Vergangenheit wichtigste ist uns im vorangehenden Kapitel bereits begegnet, nämlich die genaue Analyse der Fähigkeiten und Funktionsstörungen von Patienten mit umschriebenen Schädigungen einer bestimmten Hirnregion. Derartige klinische Untersuchungen haben zum Beispiel die Hirnregionen entdeckt, die für das Sprachvermögen von entscheidender Bedeutung sind. Sie haben uns auch gezeigt, dass man zumindest einen funktionierenden Hippocampus braucht, um persönliche Erinnerungen speichern und abrufen zu können, und sie sind auch heute noch eine wichtige Wissensquelle der kognitiven Neurowissenschaften. Inzwischen gibt es jedoch auch Forschungsmethoden, die nicht auf Schädigungen des Gehirns angewiesen sind und auch bei gesunden Versuchspersonen gefahrlos angewendet werden können. Unter den bildgebenden Verfahren ist das „funktionelle Magnetresonanz-Imaging“ (fMRI) heute besonders einflussreich. Viele Patientinnen und Patienten kennen die MRI-Bilder von Arztbesuchen, bei denen sie sich für eine Untersuchung des Gehirns oder anderer Körperteile in eine „Röhre“ legen mussten, wo die Bilder aufgenommen wurden. Das MRI kommt dabei – anders als Röntgenaufnahmen – ohne Strahlenbelastung aus und nutzt die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften der Bauteile organischer Gewebe, um daraus hochauflösende Bilder der jeweils untersuchten Körperregion zu erzeugen. Das funktionelle MRI nutzt nun den Umstand, dass die Aktivierung umschriebener Hirnregionen zu einer Steigerung des 10
Stoffwechsels in diesem Gebiet führt, dadurch wieder zu einer lokalen Steigerung des Blutflusses und somit letztlich zu einem räumlich begrenzten Überangebot an sauerstoffreichem Blut. Da sauerstoffreiches Blut aber andere magnetische Eigenschaften hat als sauerstoffärmeres, kann man die aktivierten Gehirnregionen im fMRI sichtbar machen.3 Das fMRI generiert also räumlich hochauflösende Bilder des Gehirns. Weil Blutflussänderungen aber immer etwas Zeit in Anspruch nehmen, lässt die zeitliche Auflösung dieser Untersuchungsmethode zu wünschen übrig. Einsicht in die zeitliche Steuerung von Gehirnprozessen ist für deren Verständnis jedoch nicht minder wichtig. Abhilfe verspricht hier die Aufzeichnung von „ereigniskorrelierten Potentialen“ (EKP), die wiederum auf dem Elektro-Enzephalogramm, dem EEG beruht: Das EEG misst die elektrischen Spannungsschwankungen, die bei der Aktivität des Gehirns entstehen. Da dies mit Elektroden möglich ist, die nicht-invasiv an der Kopfhaut angebracht werden, ist die Aufzeichnung des EEGs ebenfalls eine risikolose Untersuchung, die sowohl bei Patienten als auch bei gesunden Versuchspersonen gefahrlos durchgeführt werden kann. Die EEG-Kurven von Gesunden zeigen zwar z.B., ob die Augen geöffnet oder geschlossen sind und ob die Versuchspersonen wach sind oder schlafen. Sie zeigen aber natürlich nicht, welche Gehirnprozesse gerade ablaufen, oder gar was ein Mensch denkt. Neuropsychologische Untersuchungen bedienen sich deshalb hier eines Tricks, den ich an einem Beispiel verdeutlichen möchte: Wir zeigen den Versuchspersonen zwei verschiedene Reize, nämlich ein Kreuz und einen Kreis auf einem Computer-Moni
Wenn dann berichtet wird, man sehe diese Regionen im fMRI, so ist damit gemeint, dass man die statistisch signifikanten Blutflussunterschiede darstellen kann, und zwar in dem entsprechenden durch das MRI erzeugten Schnittbild, dem Magnetresonanz-Tomogramm.
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tor. Das Kreuz zeigen wir häufig, den Kreis nur selten, und wir bitten die Teilnehmer an unserem Experiment, nur dann auf eine Taste zu drücken, wenn der Kreis erscheint. Wenn sie diese Aufgabe ausführen, messen wir das EEG immer nur für kleine Zeitabschnitte von z.B. einer Sekunde Dauer, zeitlich gesteuert vom Erscheinen der Kreuze und Kreise auf dem Bildschirm. Danach mitteln wir alle EEG-Abschnitte, die bei der Präsentation eines Kreises aufgezeichnet wurden und auf den unsere Versuchspersonen richtigerweise mit einem Tastendruck reagiert haben. Ebenso mitteln wir alle EEG-Abschnitte, die bei der Präsentation eines Kreuzes auftraten, nach dem korrekterweise keine Taste gedrückt wurde. Durch diese Mittelungen verschwinden die „zufälligen“ EEG-Schwankungen im Hintergrund, und übrig bleibt die elektrische Hirnaktivität, die bei der richtigen Reaktion auf die seltenen Kreise und bei der unterbleibenden Reaktion auf die häufigen Kreuze im Gehirn erzeugt wurde. Die so gemessenen elektrischen Hirnpotentiale korrelieren also mit bestimmten Ereignissen (daher „ereigniskorrelierte Potentiale“, EKP). Abbildung 2 zeigt ein typisches Resultat einer solchen Untersuchung, gemessen über der Mitte des Kopfes. Eigentlich müsste die neuropsychologische Detektivarbeit jetzt erst beginnen; denn womit korrelieren die von uns gemessenen EKP denn nun eigentlich: Mit dem Erkennen von Kreuzen und Kreisen? Mit dem Aufpassen auf seltene bzw. dem Ignorieren von häufigen Reizen? Oder gar nur damit, dass einmal eine Taste gedrückt wurde und einmal nicht? Für das gezeigte Beispiel ist eine solche Detektivarbeit auch bereits in vielen Untersuchungen geleistet worden, die gezeigt haben, dass es ziemlich egal ist, welche Reize verwendet werden, solange sie sich nur deutlich von einander unterscheiden. Auch ob man auf die selteneren Reize reagieren muss oder nicht, ist nicht prinzipiell ausschlaggebend. Ja selbst, ob man auf sie aufpas-
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Abbildung 2: Ableitung ereigniskorrelierter Potentiale von der Kopfhaut. Die Abbildung zeigt ein so genanntes P300-Potential, die elektrische Spur der Reaktion des Gehirns auf seltene Zielreize (durchgezogene Kurve) im Vergleich zur Antwort auf häufige Distraktoren (gestrichelte Kurve).
sen muss oder nicht, macht zwar quantitative aber keine qualitativen Unterschiede aus. Die Seltenheit eines Ereignisses an sich spielt für das Gehirn anscheinend bereits eine wichtige Rolle. Und dies gilt für menschliche wie für nicht-menschliche Säugetiere. Offenbar gibt es gute Gründe für Gehirne, sich auf die Vertrautheit häufiger Ereignisse zu verlassen und die Seltenheit seltener Ereignisse zu würdigen. Schließlich könnten seltene Ereignisse ja potentiell gefährlich sein, und/oder vielleicht gäbe es ja aus ihnen etwas zu lernen, das sich in Zukunft als nützlich erweisen könnte. Doch ich möchte hier nicht zu früh spekulieren: Die Tatsache, dass der Musikantenstadl relativ häufig im Fernsehen gesendet wird, macht ihn noch nicht zum Gedudel, und die Tatsache, dass ein Sportereignis alle vier Jahre stattfindet, ist noch kein Garant für seine kognitive Qualität. Hier möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass viel akribische Detektivarbeit auch be-
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reits vor der Durchführung eines Experiments geleistet werden muss. Grund dafür ist, dass sowohl fMRI- als auch EKP-Untersuchungen immer Gehirnaktivitäten vergleichen müssen, wenn sie einer besonderen nachspüren wollen. Denn ein lebendes Gehirn kann nicht nichts tun. Eine Versuchsperson dazu aufzufordern, nicht zu denken, wäre genau so erfolgversprechend, wie die Bitte, nicht an ein Feuerwehrauto zu denken. Neuropsychologische Untersuchungen mit fMRI oder EKP wirken daher immer „gekünstelt“. Das müssen sie aber sein, wenn sie einer möglichst genau definierten Gehirnaktivität auf die Schliche kommen wollen. Eine Forschungsmethode, die im Folgenden eine besondere Rolle spielen wird, bleibt noch zu besprechen. Eigentlich kennen Sie sie nun schon, denn es geht um die Aufzeichnung von ereigniskorrelierten Potentialen, diesmal jedoch nicht von solchen, die an der Kopfhaut gemessen werden, sondern von EKP, die Tiefenelektroden direkt im menschlichen Gehirn aufzeichnen können. Das Prinzip ist dasselbe, wie das bereits erklärte der Oberflächen-EKP. Dadurch, dass Tiefenelektroden direkt in bestimmte Gehirnregionen wie den Hippocampus implantiert werden, haben sie jedoch eine hohe zeitliche und eine hohe räumliche Auflösung. Sie bieten sozusagen einen SchlüssellochBlick in eng umschriebene Hirnregionen, wenn ihnen dadurch allerdings auch die Aktivität anderer Regionen verborgen bleibt. EKP-Experimente mit Tiefenelektroden haben die Chance, das Wissen darum, dass der Hippocampus für das Gedächtnis wichtig ist, zu erweitern durch Erkenntnisse darüber, wie er dies tut. So verfolgen diese Experimente auch das Ziel, eine Brücke über die Kluft zu schlagen, die neuropsychologische Erkenntnisse von neurophysiologischen scheinbar trennt. Wagen wir also einen Steilpass, um zu sehen, ob daraus eine Steilvorlage für die Lebensverlängerung werden kann. 14
S t e i l p a ss: N eu es in d er Tiefe des Gehir ns “Start spreading the news” Frank Sinatra: New York, New York. Dieses Kapitel wird nicht gruselig. Eigentlich schade im Hinblick auf die verkaufsfördernde Wirkung des Grusels. Zum Beispiel so: Heldenhafte, nassgeschwitzte Neurochirurgen wagen das Äußerste, um das Leben eines Patienten zu retten, und schieben mit letzter Kraft eine Tiefenelektrode in das Zentrum seines Gehirns. Und das nicht nur unter Einsatz des Lebens des Patienten, sondern ȭ besser noch ȭ ihrer eigenen; denn der geizige Verwaltungsdirektor steht bereits bewaffnet vor der Tür des OPs, um allem ein Ende zu setzen. Oder: Skrupellose und wahnsinnige Hirnforscher machen sich daran, das zarte Gehirn eines unschuldigen, kleinen Mädchens mit Tiefenelektroden zu spicken, stünde da nicht der moralisch integre Verwaltungsdirektor vor der Tür des OPs, um – unbewaffnet – allem ein Ende zu setzen. Das alles ist Unfug und wird hier nicht mehr vorkommen, weshalb dieses Kapitel auch kaum Chancen hat, verfilmt zu werden. Beide Szenen sollen aber nur Anlass geben, mit ein paar Missverständnissen und Vorurteilen aufzuräumen: Die Implantation von Tiefenelektroden ist kein riskantes Experiment, sondern – in erfahrenen Händen – ein risikoarmer Routineeingriff. Das Gehirn wird dabei auch nicht mit Elektroden gespickt. Vielmehr werden nur wenige – oft nur ein oder zwei – Elektroden ganz gezielt in die möglicherweise anfallsauslösenden Gehirnregionen eingebracht. Und schließlich geht es dabei auch nicht um Leben oder Tod, sondern „nur“ darum, einen etwaigen epilepsiechirurgischen Eingriff zu ermöglichen, der die Lebensqualität des Patienten verbessern kann. Sowohl 15
das Einbringen von Elektroden als auch die eigentliche Operation gegen die Epilepsie werden daher auch nur vorgenommen, wenn der sorgfältig aufgeklärte Patient dies ausdrücklich wünscht. Zudem sind solche invasiven Untersuchungen nur in speziellen, also längst nicht allen Fällen nötig. Die prächirurgische Epilepsiediagnostik beginnt daher immer (und endet oft) eher unspektakulär, nämlich mit dem Anfertigen sehr genauer MRI-Bilder des Gehirns, dem Aufzeichnen von Anfällen mit Video-Aufnahmen und dem Oberflächen-EEG sowie mit neuropsychologischen Untersuchungen, die meist nicht viel mehr als Papier und Bleistift benötigen. Bei diesen Tests geht es vor allem auch um das Gedächtnis, und mit ihnen soll unsere Reise in die Tiefe des Gehirns oder, genauer gesagt, in die Tiefe der Schläfenlappen beginnen. Ein Test, der sehr häufig zum Einsatz kommt, prüft die sprachliche Lern- und Merkfähigkeit der Patienten. Dabei wird ihnen eine Liste von 15 Wörtern vorgelesen, von denen danach so viele wie möglich wiederholt werden sollen. Mit den gleichen Wörtern wird dies insgesamt fünfmal durchgeführt, wobei normalerweise immer mehr Wörter gelernt werden. Nach einer Pause von 30 Minuten und einer Ablenkung durch das Vorlesen und Wiederholen von 15 anderen Wörtern, werden die Patienten dann gebeten, erneut alle Wörter der ersten Liste zu nennen, die sie noch behalten haben. Typischerweise schneiden Patienten, deren Anfälle im linken Schläfenlappen beginnen, bei dieser letzten Aufgabe schlechter ab als gesunde Versuchspersonen oder Patienten mit einer rechtsseitigen Schläfenlappen-Epilepsie. Grund hierfür ist, dass die Sprache bei den meisten Menschen von der linken Gehirnhälfte getragen wird, so dass sich der linke Hippocampus bei ihnen auch mehr um sprachliche Lerninhalte kümmert. Der rechte ist dagegen mehr für nicht-verbale, bildhafte Reize zuständig, so dass An16
fälle im rechten Schläfenlappen auch eher das bildhafte Gedächtnis beeinträchtigen können. Durch das Schicksal von H.M. haben wir bereits erfahren, dass der Hippocampus „irgendwie“ für das (episodische) Gedächtnis von besonderer Bedeutung ist. Nun wissen wir auch, dass es unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte des linken und des rechten Hippocampus gibt, die von der Sprachdominanz abhängen, also davon, welche Gehirnhemisphäre überwiegend für die Produktion und das Verständnis von geschriebener und gesprochener Sprache zuständig ist. Bei den meisten Menschen (Rechts- und Linkshändern) ist dies die linke Hemisphäre. Praktisch bedeutet dies zum Beispiel, dass Ihr linker Hippocampus mit großer Wahrscheinlichkeit gerade etwas tut (oder eben nicht), was zum Behalten (oder eben Vergessen) des Absatzes, den Sie gerade lesen, führt. Wenn Sie ihn also etwa gerade vor dem Einschlafen im Bett lesen und ihr linker Hippocampus schon dabei ist „wegzudämmern“, so werden Sie diesen Absatz morgen wohl noch einmal lesen müssen, wenn Sie dann noch wissen wollen, was darin stand. So weit, so gut ȭ oder eben nicht gut, wenn Funktionsstörungen des Hippocampus der sprachdominanten Hemisphäre dazu führen, dass das Behalten sprachlicher Informationen ein permanentes Problem ist und nicht nur ein passageres vor dem Einschlafen. Neurowissenschaftler sind jedoch notorisch neugierig und würden daher gern wissen, was genau der (meist linke) Hippocampus denn tut, damit wir uns an Gehörtes oder Gelesenes später erinnern können. Eine Methode, die hier weiterhelfen kann, ist eben die, ereigniskorrelierte Potentiale (EKP), von Tiefenelektroden abzuleiten, die zur Aufzeichnung von Anfällen in die Schläfenlappen eingebracht wurden. Wir, d. h. eine Arbeitsgruppe an der Kli17
nik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn, haben hierfür unseren Patientinnen und Patienten einzelne Wörter auf einem Bildschirm gezeigt, von denen sich manche zwischendurch wiederholten (Elger et al., 1997). Aufgabe war dabei, auf die linke Taste einer Computer-Maus zu drücken, wenn ein Wort zum ersten Mal erschien, also „neu“ war, und auf die rechte, wenn es sich um eine Wiederholung handelte, das Wort also „alt“ war. Dabei mittelten wir jeweils die elektrische Aktivität im Schläfenlappen, die von richtig erkannten neuen und alten Wörtern ausgelöst wurde.
Abbildung 3: Im menschlichen Schläfenlappen gemessene ereigniskorrelierte Potentiale, die durch „neue“ (durchgezogene Kurve) und „alte“ Wörter (gestrichelte Kurve) evoziert wurden. Die Potentiale auf der linken Seite wurde in einem gesunden Schläfenlappen aufgezeichnet, die auf der rechten Seite in einem „epileptischen“ Schläfenlappen, d. h. in der Nähe eines Anfälle generierenden sklerotischen Hippocampus (HS = Hippocampussklerose).
Neue und alte Wörter lösten in dieser Gehirnregion eine Aktivität vieler Nervenzellen aus, die mit einem elektrischen Potential einherging, das „AMTL-N400“ genannt wird. Dabei 18
ist „AMTL“ die Abkürzung für „anteriorer mesialer Temporallappen“ und bezeichnet die Region, in der diese elektrische Aktivität erzeugt wird. „N400“ bedeutet in der neurophysiologischen Fachsprache, dass es sich um ein negatives Potential handelt, dass nach etwa 400 ms seine größte Amplitude erreicht. Zu unserer großen Freude zeigte sich, dass alte Wörter signifikant kleinere AMTL-N400 Potentiale auslösten als neue. Der Grund unserer Freude ist aber einfach erklärt: Das Experiment hatte geklappt! Von EKP-Messungen an der Schädeloberfläche wusste man bereits, dass N400-Potentiale kleiner werden, wenn Wortwiederholungen erkannt werden, und dass sie so die elektrische Spur eines Erinnerungsprozesses darstellen. Die AMTL-N400 Potentiale machten also das gleiche, sie wurden aber genau in der Region erzeugt, in der die Tiefenelektroden lagen, nämlich der vorderen HippocampusFormation. Auch hier fand sich also die elektrische Spur eines Gedächtnisprozesses. Nun werden Sie das zu Recht nicht allzu überraschend finden, denn wir wussten ja bereits, dass der Hippocampus etwas mit Gedächtnisprozessen zu tun hat. In der Tat bestätigten unsere Ergebnisse bis hier hin nur Bekanntes. Eine überraschende Neuigkeit gab es aber dennoch: Als wir die Amplituden der AMTL-N400 Potentiale mit den Gedächtnisleistungen in dem oben beschriebenen neuropsychologischen Test der sprachlichen Lern- und Merkfähigkeit in Beziehung setzten, fanden wir eine enge Korrelation der Zahl der Wörter, die unsere Patientinnen und Patienten 30 Minuten nach der Lernphase noch behalten konnten, mit der elektrischen Aktivität, die neue, nicht aber alte Wörter in der linken vorderen Hippocampus-Formation auslösten. Sollte etwa Neuheit eine besondere Bedeutung in dieser Hirnregion spielen? Und sollte vielleicht eine hier
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stattfindende Verarbeitung von Neuheit darüber entscheiden, was man im Gedächtnis behält und was nicht?4 Um zu überprüfen, ob der Hippocampus sich tatsächlich besonders um die Neuheit sprachlicher Stimuli kümmert, verglichen wir in einer weiteren Untersuchung die AMTL-N400 Potentiale von Patienten mit einer Vernarbung eines Hippocampus (einer so genannten Hippocampus-Sklerose) mit denen von Patienten, deren Anfälle zwar auch im Schläfenlappen begannen, deren Hippocampus jedoch intakt war (Grunwald et al., 1998). Für die Interpretation dieser Untersuchung muss noch einmal betont werden, dass ein Wort bei seiner Erstpräsentation und einer Wiederholung ja einen identischen Reiz darstellt. Tatsächlich fand sich aber, dass eine Hippocampus-Sklerose nur die elektrischen Antworten auf Erstpräsentationen und nicht auf Wiederholungen beeinträchtigte. Eine Vernarbung störte die Verarbeitung von Wörtern in dieser Hirnregion also nur dann, wenn diese neu waren. Neuheit spielt also wirklich eine entscheidende Rolle für den Hippocampus! Nun kann man einen Hippocampus, der bei einem epilepsiechirurgischen Eingriff entfernt wurde, nach der Operation natürlich auch unter dem Mikroskop untersuchen. Von einer solchen Untersuchung erhofften wir uns den nächsten Baustein für die Brücke zwischen Physiologie und Psychologie. Man kann nämlich die Zahl der Nervenzellen in den verschiedenen Abschnitten des Hippocampus zählen, um so zu bestimmen,
Übrigens haben nicht alle Kollegen unsere Freude geteilt. Viele hätten es lieber gesehen, wenn wir eine Korrelation der Behaltensleistung mit den elektrischen Antworten der Hippocampus-Formation auf alte statt auf neue Wörter gefunden hätten oder auf den Unterschied der Potentialamplituden beider Klassen von Wörtern. Hinter diesem Ärger stecken aber keine rechthaberischen Verbohrtheiten, sondern neuropsychologische Hypothesen, die verteidigt werden wollen und die verständlicherweise erst einmal fragen lassen, ob widersprüchliche Messungen nicht vielleicht falsche Messungen waren.
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wie viele von ihnen nicht der Sklerose zum Opfer gefallen sind. Bei dieser Untersuchung wollten wir u.a. herausfinden, ob ein bestimmtes Areal innerhalb des Hippocampus besonders mit der physiologischen Aktivität zu tun hat, bei der AMTL-N400 Potentiale erzeugt werden (Grunwald et al., 1999). Anatomisch kann der Hippocampus in verschiedene Regionen unterteilt werden, die von 1 bis 4 durchnummeriert und mit dem Kürzel „CA“ versehen werden, das für das lateinische „cornu Ammonis“ steht. Dies wiederum bedeutet „Ammonshorn“, eine weitere Bezeichnung für den Hippocampus, die von der poetischen Assoziationsfähigkeit der Anatomen zeugt. Tatsächlich fanden wir, dass nur ein einziger Sektor innerhalb des Hippocampus offenbar eine besondere Rolle bei der Verarbeitung neuer Wörter spielte; denn die Zahl der Nervenzellen im Sektor CA1 (und in keiner anderen Region des Hippocampus) korrelierte signifikant mit den Amplituden der AMTL-N400 auf neue, nicht aber auf alte Wörter. Für Neurophysiologen ist der Sektor CA1 eine spannende Gegend, denn ein Vorgang an den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, der als heißer Kandidat für die physiologische Grundlage von Gedächtnisprozessen gehandelt wird, findet im Hippocampus speziell im Sektor CA1 statt. (Es gibt ihn auch in anderen Gehirnregionen, im Hippocampus ist er aber am genauesten untersucht.) Dieser Prozess heißt „assoziative LongTerm Potentiation“ (LTP). Nervenzellen stehen nicht in direktem Kontakt, sondern sind von einander durch einen winzigen Spalt, die Synapse, getrennt. Die Nervenzelle vor diesem Spalt muss Botenstoffe ausschütten, um diesen Spalt zu überwinden und ihre Information an die Nervenzelle hinter dem Spalt zu übertragen, die wiederum genau passende Rezeptoren für diese Botenstoffe besitzt. Nervenzellen, die oft miteinander kommunizieren, kön21
nen dies besser. Auch hier macht Übung den Meister. Letztlich sind also die Synapsen daran schuld, dass man um Vokabeln zu lernen, ein Instrument oder einen Fallrückzieher zu beherrschen, den Preis der Wiederholung zahlen muss. In manchen Fällen genügt aber bereits eine kurze „Benutzung“ einer Synapse, um die Kommunikation zwischen den sie bildenden Nervenzellen nachhaltig zu verbessern. Und diese lang anhaltende Steigerung (also Long-Term Potentiation) gelingt speziell dann besonders gut, wenn die kommunizierenden Nervenzellen gleichzeitig erregt sind. Genau diesen Prozess bezeichnet die assoziative LTP, die im Hippocampus-Sektor CA1 eine so wichtige Rolle spielt.5 Wie erwähnt, braucht die Nervenzelle, die hinter dem synaptischen Spalt auf Informationen wartet, spezielle Rezeptoren, an denen die Botenstoffe andocken können. Rezeptoren, die eine assoziative LTP vermitteln, heißen NMDA-Rezeptoren, weil sie experimentell mit N-Methyl-D-Aspartat (NMDA) aktiviert werden können. Man kann NMDA-Rezeptoren aber nicht nur aktivieren, sondern auch blockieren, zum Beispiel mit dem Medikament Ketamin. Dies machten wir uns in einem weiteren Experiment zunutze: Wenn zur prächirurgischen Epilepsiediagnostik nur Tiefenelektroden (und keine anderen größeren Elektroden) implantiert werden müssen, so kann man sie ohne Vollnarkose wieder entfernen, wobei dann Ketamin als Medikament zur Schmerzausschaltung benutzt werden kann. Auf diese Weise konnten wir unseren Wort-Wiedererkennungstest bei einer Reihe von Patienten kurz vor der Entfernung der Tiefenelektroden erneut durchführen, nachdem sie Ketamin in einer analgetischen Dosis erhalten hatten, die ihr Bewusstsein nicht beeinträchtigte. Erneut fanden wir bei dieser Unter
Zweiflern, die annahmen, dass es die LTP vielleicht bei Nagern, nicht aber beim Menschen gibt, haben u. a. Beck et al. (2000) einen Strich durch die Rechnung gemacht.
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suchung, dass die Neuheit von Wörtern eine besondere Rolle spielt: Nur die AMTL-N400 Potentiale auf neue, nicht aber die auf alte Wörter, wurden durch Ketamin signifikant erniedrigt, was gleichzeitig dazu führte, dass die Patienten deutlich weniger Wortwiederholungen erkannten. Ein weiteres Experiment aus dieser Reihe musste noch klären, ob die AMTL-N400 Potentiale, die bei der Verarbeitung neuer Wörter im Schläfenlappen erzeugt werden, tatsächlich etwas mit dem Einspeichern dieser Wörter ins Gedächtnis zu tun haben (Fernández et al., 1999). Hierzu änderten wir unseren WortTest etwas ab: Zuerst wurde eine Reihe von Wörtern auf einem Bildschirm gezeigt, die sich unsere Patienten merken sollten. Dann baten wir sie, in Dreierschritten rückwärts zu zählen, um sie so daran zu hindern, die gesehenen Wörter stumm zu wiederholen und sie so im Arbeitsgedächtnis zu behalten. Dann erst baten wir die Patienten die Wörter der Liste aufzuzählen, an die sie sich noch erinnern konnten. Diese Abfolge von Lernen, Ablenkung und Test wiederholten wir mehrfach, damit wir genügend Potentiale aufzeichnen konnten, die beim Lernen der Wörter in der Hippocampus-Formation erzeugt wurden. Bei der Auswertung unserer Daten verglichen wir schließlich die AMTL-N400 Potentiale, die beim Lernen von den später behaltenen und später vergessenen Wörtern ausgelöst worden waren. Und tatsächlich: Wörter, deren Lernen mit einer hohen AMTL-N400 Amplitude einhergingen, wurden behalten. Riefen Wörter beim Lernen dagegen nur niedrige AMTL-N400 Potentiale in der Hippocampus-Formation hervor, so wurden sie wieder vergessen. Alles in allem erlauben unsere Experimente somit folgende Theorie: Neue (sprachliche) Informationen führen zu einer Aktivierung verschiedener Gehirnregionen ȭ insbesondere aber auch zu einer Aktivierung des Hippocampus. Dies wiederum 23
führt zu einer Steigerung der synaptischen Effizienz – nicht nur aber gerade auch – im Sektor CA1 des Hippocampus. Und dies wiederum ist die physiologische Grundlage der Leistung, die neue Information so im Gedächtnis abzuspeichern, dass sie einem späteren bewussten Abruf möglich ist. Nun haben wir also tatsächlich „Neues in der Tiefe des Gehirns“ gemessen und auch gefunden, dass Neues relevant für das Gedächtnis ist.6 Aber ein wirklicher Grund für Neugier ist das wohl noch nicht. Das Neue könnte uns ja auch kalt lassen. (Wissen Sie zum Beispiel jetzt noch genau, wofür die Abkürzung NMDA steht? Sehen Sie?!) Bevor wir den Ball, den der Steilpass vorgelegt hat, im Tor versenken können bedarf es offensichtlich noch einiger hilfreicher Flanken.
Es muss hier noch angemerkt werden, dass der neue Beitrag unserer hier dargestellten Versuchsreihe im Nachweis der spezifischen Bedeutung von Neuheit für hippocampale Gedächtnisprozesse besteht. Das Neuheit überhaupt eine Bedeutung für das Abspeichern von Gedächtnisinhalten besitzt, war zum Zeitpunkt unserer Versuche bereits vermutet worden: So schlossen Tulving und Kroll, dass es ein System zur Bewertung der Neuheit von Stimuli geben müsse, welches bewirke, dass neue Stimuli besser gespeichert werden können (Tulving, Kroll, 1995).
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Hi l f r e i c h e F lank en : N e u h e i t , Relevan z un d E motion “Oh, how the ghost of you clings these foolish things remind me of you” Sarah Vaughn: These foolish things. Wie ein Angriff beim Fußball so stößt auch eine wissenschaftliche Hypothese zunächst nicht auf Zustimmung, sondern auf Abwehr. Die erste Abwehrreihe, der sich unsere Hypothese von der Bedeutung des Hippocampus für die Verarbeitung von Neuheit gegenüber sieht, formiert sich in der Regel in Form des Arguments: „Diese Neuheit ist ein alter Hut! Schließlich waren alle Wörter den Patienten in euren Experimenten ja längst bekannt, sonst hätten sie sie ja gar nicht verstanden!“ Neu im Sinne von unbekannt waren die verwendeten Wörter ja tatsächlich nicht. Dennoch waren sie neu, wenn sie in der Situation des Experiments zum ersten Mal auf dem Bildschirm gezeigt wurden. Eine solche „situative“ Neuheit mag zunächst wenig aufregend erscheinen. Tatsächlich begegnet uns aber etwas völlig Unbekanntes im alltäglichen Leben eher selten. Das Auftauchen von etwas Bekanntem in einer neuen Situation kann jedoch durchaus Neuheitswert besitzen, etwa wenn Sie einen alten Bekannten am Urlaubsort oder einen Stier auf dem Zeltplatz antreffen. In Form der „assoziativen Neuheit“ kann dies auch beim Lernen von Wortlisten relevant werden. Versuchen Sie zum Beispiel einmal, sich die folgenden fünf Wörter einzuprägen: Gehirn - Gedächtnis - Emotion - Bewusstsein - Bratwurst Ich weiß nicht, ob der Begriff der „Bratwurst“ neuer für Sie ist als der der „Emotion“ oder des „Bewusstseins“. Ich bin mir aber sicher, dass es Ihnen in 20 Minuten leichter fallen würde, 25
sich an die Bratwurst zu erinnern, da dieses Wort möglicherweise nicht so ganz zu den anderen passt, in diesem Zusammenhang also situative bzw. kontextuelle Neuheit besaß. Die zweite Abwehrreihe ist dagegen schon etwas schwieriger zu umspielen. Sie hält uns den Einwand entgegen: “Wie soll denn ein so kleines Teil wie der Hippocampus Neuheit erkennen? Und dann auch noch Sprache?!” Hinter dieser Kritik steckt zunächst die Besorgnis, wir würden alle Erfahrungen und Erinnerung im Hippocampus lokalisiert vermuten, so dass alles Gehörte und Gesehene hier mit allen Inhalten des Gedächtnisses verglichen und als neu oder alt „erkannt“ würde. Als Speicher allen Wissens taugt der Hippocampus tatsächlich wenig, denn dafür ist er wirklich zu klein. Gedächtnisinhalte sind sicher in den über die Großhirnrinde, den Cortex, verteilten Neuronennetzen zu suchen, mit denen der Hippocampus aber in Verbindung steht. Eine Vielzahl von bildgebenden, elektrophysiologischen und klinischen Studien hat inzwischen gezeigt, dass der Hippocampus ȭ in Kooperation mit dem Cortex ȭ an der initialen Bildung von Gedächtnisinhalten (Enkodierung), ihrer Verfestigung (Konsolidierung) und auch an ihrem späteren Abruf beteiligt ist. Tatsächlich wurden auch verschiede Hirnregionen identifiziert, die an der Detektion und Verarbeitung von Neuheit beteiligt sind, wobei den Frontallappen (aber eben auch dem Hippocampus) eine besondere Bedeutung zukommt.7 Von den Frontallappen ist seit langem bekannt, dass sie das Arbeitsgedächtnis (früher auch Kurzzeit-Gedächtnis genannt) wesentlich tragen. Wenn Sie sich etwas kurz merken müssen, danach aber wieder vergessen können ȭ etwa eine Telefonnummer, die Sie nach dem Aufsuchen im Telefonbuch nur so lange behalten müssen, bis Sie sie gewählt haben, ȭ so ist dies eine Aufgabe für Ihr Arbeitsgedächtnis. Für deren Gelingen wurden
Für eine Übersicht siehe Knight, Nakada, 1998; Ranganath, Rainer, 2003.
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bislang meist die Frontallappen gelobt. Neuere Untersuchungen der Gruppe um Charan Ranganath haben aber gezeigt, dass der Hippocampus ebenfalls wesentlich daran beteiligt ist, Neues ins Arbeitsgedächtnis aufzunehmen, darin kurzzeitig zu bewahren und ggf. auch ins Langzeitgedächtnis zu überführen (Ranganath et al., 2005a, 2005b; Hannula, Ranganath, 2008). Der Hippocampus kann Neuheit also durchaus verarbeiten. Wie steht es aber mit der Sprache? Schließlich ist der Hippocampus in der Tat eine „alte“ Hirnregion, die auch Tieren nützliche Dienste leistet, die sicher nicht über Sprache verfügen. Neuere Befunde deuten darauf hin, dass diese Hirnregion des Menschen für die Sprache ȭ und insbesondere den Spracherwerb ȭ von größerer Bedeutung zu sein scheint, als man bisher vermutete. So fanden Weber et al. (2006), dass die Funktionsfähigkeit des (linken) Hippocampus mit darüber entscheidet, in welcher Hälfte des Großhirns sich die Sprache im Verlauf ihres Erwerbs durch das kindliche Gehirn ansiedelt. Warum das so ist und welche Aktivitäten des mesialen Temporallappens sich hinter diesem Zusammenhang verbergen, ist derzeit noch eine offene Frage. Sicher ist dagegen, dass der Hippocampus mit vielen corticalen Regionen in enger Verbindung steht, auch mit denen, die für die Sprachproduktion und das Sprachverständnis von entscheidender Bedeutung sind. Was sich übrigens auch daran zeigt, dass Anfälle, die ihren Ursprung im linken Hippocampus haben, häufig zu einer mehrere Minuten anhaltenden Störung der Sprache führen. Der Hippocampus ist sicher nicht auf Sprache spezialisiert. Er bekommt es mit den unterschiedlichsten, potentiell gedächtnisrelevanten Reizen zu tun, die in den verschiedensten Regionen des Cortex verarbeitet werden, darunter aber auch mit sprachlichen. Die bisherigen Abwehrversuche haben den Steilpass also noch nicht abwehren können: Der Hippocampus wird bei neuen 27
(speziell auch sprachlichen) Informationen aktiv, und seine Aktivität entscheidet mit darüber, ob wir das neu Erfahrene so unserem Gedächtnis hinzufügen können, dass wir später bewusst darauf zugreifen können. Es bleibt aber noch ein Libero zu überwinden, der im modernen Fußballspiel zwar nicht mehr so häufig zu finden ist, der aber, wenn er gut ist, eine harte Nuss für jeden Stürmer darstellt. Unserem Steilpass droht nun nämlich die Blutgrätsche: „Soll denn Neuheit alles sein? Viel Neues ist doch vergessenswerter Schrott!“ Das Argument sitzt! Tatsächlich bekäme das menschliche Gehirn Probleme, wenn es sich an alles erinnern müsste, was situativ oder assoziativ neu ist. Nicht, dass dies nicht möglich wäre. Es gibt Fallbeschreibungen von Menschen, denen es gerade nicht möglich ist, Neues zu vergessen, was jedoch ihrer Abstraktionsfähigkeit und Kreativität dramatisch in die Quere kommt (vgl. z.B. Luria, 1968). Normalerweise erscheint uns aber nicht alles Neue gleich auch behaltenswert, weshalb neue Produkte extra beworben werden müssen. Bei dieser Werbung ist das schreierische „NEU!!!“ zwar der häufige Versuch eines Verkaufsarguments, aber nicht jedes Waschmittel prägt sich „neu“ in das Gedächtnis ein, nur weil es jetzt „neu“ in Form von Megapearls daher kommt. Und nicht jeder Film ist ein unvergesslich „neues“ Erlebnis, nur weil er jetzt „neu“ in der dritten Director’s Cut-Version auf DVD erhältlich ist. Das Neue muss für uns offensichtlich in irgendeiner Weise von Bedeutung sein. So kann etwa eine Aufgabenstellung von uns verlangen, auf Neues zu achten (wie in den oben beschriebenen Experimenten), oder das Neue ist per se für uns in irgendeiner Weise wichtig. Wenn es das überhaupt nicht ist, kann es durchaus passieren, dass wir das Neue noch nicht einmal sehen, wenn es uns offen vor Augen liegt. Von dieser Tatsache profitieren ganze Berufszweige, und Vertretern mancher dieser Branchen geben wir unser Geld dafür sogar freiwillig. (Versierte Zauberkünstler könnten viel28
leicht auch ganz anders! Wir sollten ihnen dankbar dafür sein, dass sie es nicht tun.) In der neuropsychologischen Forschung wird dieses Phänomen unter den Schlagwörtern „inattentional blindness“ und „change blindness“ behandelt (z.B. Triesch et al., 2003; Simons, Rensink, 2005; Kim, Blake, 2005). Erfindungsreiche Experimente haben nachweisen können, dass man manchmal noch nicht einmal wahrnimmt, dass eine Person, mit der man eben noch sprach, durch eine ganz andere ersetzt worden ist, während ihr Anblick z.B. durch einen vorbeigetragenen Gegenstand kurz verborgen wurde. Man kann sich daher auch gut vorstellen, wie viele Fehler in Filmen uns durch den Wechsel der Szenen verborgen bleiben.8 Ich selbst würde mit Sicherheit auf viele dieser Tricks, Fehler und Experimente zur „change blindness“ reinfallen, da mir Filmfehler grundsätzlich nicht auffallen. Bis heute weiß ich nicht, ob tatsächlich ein Schauspieler in der Stumm- oder Tonbild-Version von „Ben Hur“ eine Armbanduhr trägt, oder ob dies eine „urban legend“ ist. Ich habe schon lange genug gebraucht, um das Bügeleisen auf dem Kommandostand des Raumschiffs Orion zu erkennen, eben weil es nicht zu dem passte, was ich von der Szene erwartete. Literarisch kann man diese Form der Blindheit für Neues gar soweit treiben, dass ein ganzes Raumschiff über einem Kricket-Feld unbemerkt bleibt, weil es nicht in den kognitiven Kram der Beobachter passt und somit ein „Problem anderer Leute“ darstellt, wie es Douglas Adams im dritten Band seines Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy (deutsch: Per Anhalter durch die Galaxis) erklärt.9 Ich bin mir nicht sicher, ob „change blindness“ hier nicht ein besserer Er
Wenn Sie dies alles kaum glauben können und über eine halbwegs passable Internet-Verbindung verfügen, schauen Sie sich einmal die Beispiele auf der Website von Daniel J. Simons an: http://viscog.beckman.uiuc.edu/djs_lab/demos.html. Douglas Adams (1982) Life, the universe and everything. Pan Books, London. Dies ist wissenschaftlich zwar nicht zitierfähig, muss aber gelesen werden.
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klärungsansatz gewesen wäre. Da aber alles andere in Douglas Adams’ fünfbändiger Trilogie wahr ist, sollte die neuropsychologische Forschung der Theorie des „Problems anderer Leute“ in Zukunft mehr Beachtung schenken. Es bleibt festzuhalten, dass Neuheit, den Hippocampus zwar aktiviert und dass diese Aktivierung eine notwendige Voraussetzung für die Erzeugung bewusst zugänglicher Gedächtnisinhalte ist, aber keine hinreichende. In irgendeiner Form muss das Neue, dem wir begegnen auch relevant für uns sein. Bei manchen unserer humanoiden Vorfahren, die noch keine Sprache hatten, fielen, wie bei vielen nicht-menschlichen Lebewesen, das visuell Neue und das Relevante wohl in eins; denn was sich bewegt, kann vielleicht gegessen werden oder will uns möglicherweise essen ȭ beides gute Gründe, das Gesehene im Gedächtnis zu bewahren. Es kann aber sehr individuelle Gründe geben, etwas für relevant zu erachten. Dies macht eine wissenschaftliche Erforschung einer „Relevanz-Detektion“ auch so schwierig. Hilfreiche Flanken gibt es jedoch auch hier. So wurden die Versuchsteilnehmer einer pfiffigen bildgebenden Untersuchung mit dem fMRI gebeten, eine erfundene, künstliche Grammatik zu lernen, nach der bestimmte Buchstabenfolgen erlaubt, andere aber verboten waren (Strange et al., 1999). Dabei sahen die Probanden neue und wiederholte Buchstabenkombinationen und sollten jeweils entscheiden, ob diese richtig oder falsch waren. Das Lernen war hier vor allem an Beispielen möglich, die richtige Buchstabenkombinationen verdeutlichten. Neue richtige Beispiele waren somit exemplarisch neu und relevant, weil sie die Lösung der Aufgabe ermöglichten. Eine andere, für die Lösung der Aufgabe irrelevante Form von Neuheit wurde dadurch eingefügt, dass die Buchstaben manchmal eine andere Form oder Farbe aufwiesen. Es zeigte sich bei dieser Unter30
suchung, dass der vordere Teil des (linken) Hippocampus auf beide Formen der Neuheit reagierte. Der hintere Teil beider Hippocampi reagierte dagegen besonders auf die Wiederholung von richtigen Beispielen, nicht aber auf wiederholte Formen und Farben. Dies bedeutet aber, dass Neuheit einerseits, andererseits aber auch für „richtiges“ Verhalten Relevantes sehr wohl eine Rolle für den Hippocampus spielen! Unsere eigenen Befunde deuten in eine ähnlich Richtung, wenn sie auch aus einer etwas weiter vorne im mesialen Schläfenlappen gelegenen Gegend (also auch aus der Hippocampusregion, wenn auch nicht direkt aus dem Hippocampus) stammen: Hier haben wir mit Tiefenelektroden ereigniskorrelierte Potentiale gemessen, während unsere Patientinnen und Patienten Fotos von weiblichen und männlichen Gesichtern ansahen, die entweder direkt in die Kamera blickten (also Blickkontakt mit dem Betrachter hatten) oder ein wenig zur Seite schauten (Grunwald et al., 2007). Dabei fanden wir, dass der Blickkontakt durchaus eine Rolle spielt und zu einer größeren Aktivierung in dieser Region führt als ein Gesicht, das uns nicht in die Augen sieht, allerdings nur dann, wenn dieses Gesicht einem Menschen anderen Geschlechts gehört. Salopp ausgedrückt: Wenn eine Frau einem Mann in die Augen sieht, feuert es ganz schön in den mesialen Schläfenlappen von beiden. Offenbar ist es für diese Hirnregion aber von geringerer Bedeutung, wenn eine Frau mit einer Frau oder ein Mann mit einem Mann Blickkontakt aufnimmt.10 Diese Befunde zeigen dabei nicht, dass der mesiale Schläfenlappen den Blickkontakt „erkennt“. Die Erken-
(Zugegeben: Wir haben es bei dieser Untersuchung versäumt, unsere Patientinnen und Patienten nach ihrer sexuellen Präferenz zu fragen. Ich weiß aber auch nicht, ob uns die zuständige Ethik-Kommission diese Frage gestattet hätte. Nebenbei ist über die Prävalenz der Epilepsien bei homosexuellen Männern und Frauen wenig bekannt. Raten Sie einmal, ob das eher daran liegt, dass Homosexualität vor Epilepsie schützt, oder daran, dass Neurologen manchmal versäumen, Fragen zu stellen.)
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nung von Gesichtern und der Blickrichtung findet nach allen vorliegenden Daten in anderen (neocorticalen temporalen und occipitalen) Arealen statt. Der mesiale Temporallappen scheint sich dagegen mehr um die Relevanz des Gesehenen zu kümmern. Und beim Blickkontakt spielt das Geschlecht offenbar eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese Erkenntnis wird Sie sicher nicht völlig unvorbereitet treffen. Erfolgversprechende Sturmläufe und Abwehrversuche erfordern natürlich Kalkül. Vor allem, wenn es um etwas geht, werden sie aber kaum unbeteiligt und gefühllos inszeniert werden können. Auch Beobachter, die mit der einen oder anderen Partei fiebern, wird das Spielgeschehen nicht kalt lassen. So muss unsere Steilflanke zuletzt auch mit einer Abwehrreihe rechnen, die ihr das Gefühl entgegenhält: „Neue und relevante Reize mögen ja gut und schön sein. Aber müssen sie uns letztlich nicht berühren, um eine bleibende Spur im Gedächtnis zu hinterlassen?“ Tatsächlich spielen Emotionen eine wichtige Rolle für das Gedächtnis: Es fällt in der Regel leicht, sich an das zu erinnern, was bei einer früheren Begegnung Begeisterung oder Furcht ausgelöst hat. Vor allem Furcht; denn evolutionär gesehen ist es leicht verständlich, wie Hirnmechanismen, die angsterregenden Ereignissen einen bevorzugten Platz im Gedächtnis zuweisen, zu einem Erfolgsmodell werden konnten: Menschliche und nicht-menschliche Lebewesen, die potentiellen Bedrohungen geschickt oder schnell ausweichen können, haben eine größere Chance, ein reproduktionsfähiges Alter zu erreichen. Dies allein ist bereits ein guter Grund, warum es sich lohnt, ein Gedächtnis zu haben. Wer sich daran erinnert, was einmal gefährlich oder gar schädlich war, muss diese Erfahrung nicht ein zweites Mal machen, wenn er der potentiellen Bedrohung wieder begegnet. Furcht als Motivator für Lernverhalten war daher auch ein so 32
mächtiges Erklärungsmodell, dass es (neuro)psychologischen Theorien lange Zeit schwer fiel, überhaupt einen guten Grund für die Existenz positiver Gefühle zu finden. Ich glaube nicht, dass jemand so weit ging, positive Gefühle als „emotionalen Käsekuchen“ zu bezeichnen.11 Ins Zentrum der neurowissenschaftlichen Forschung rückten positive Gefühle aber wohl erst mit der Entdeckung des „Belohnungssystem des Gehirns“, das noch wichtig für uns werden wird. Die Hirnregion, die negative Gefühle so wichtig für das Gedächtnis werden lässt, liegt ebenfalls im mesialen Schläfenlappen und zwar unmittelbar vor dem Hippocampus. Die Nervenzellen, aus denen sie besteht, bilden eine mandelförmige Struktur, die daher auch „Mandelkern“, bzw. „Amygdala“ genannt wird. Die Amygdala steht mit vielen Regionen der Großhirnrinde in Verbindung, ebenso wie mit tiefer gelegenen Zentren des Gehirns, die vegetative Funktionen des Körpers steuern. In der Epileptologie ist die Bedeutung der Amygdala für negative Gefühle von großer praktischer Wichtigkeit, da Anfälle die hier ablaufen z.B. mit Angst und Panik einhergehen und so auch vegetative Symptome wie Herzrasen, Schweißausbruch und Gänsehaut verursachen können. Aber auch in der normalen Verarbeitung eingehender Informationen nimmt die Amygdala einen bevorzugten Platz ein. Visuelle Informationen müssen einerseits über die Sehbahn von den Augen zu den Sehzentren der Occipitallappen, also dem hintersten Teil des Gehirns geleitet werden. Die hier stattfindende Verarbeitung der Seheindrücke ermöglicht letztlich erst deren Erkennung und bewusste Verarbeitung. Andererseits gibt es neben dieser „high road“ der Sehbahn aber auch eine „low road“, über die die Amygdala lange vor dem Sehzentrum von dem Ge-
Auf Steven Pinkers Charakterisierung der Musik als „auditory cheesecake“ kommen wir noch zu sprechen.
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sehenen informiert wird. Dieses Zentrum „sieht“ zwar nur sehr unscharf, kann aber dennoch unmittelbar Reaktionen triggern, noch bevor das Gesehene wirklich (bewusst) erkannt wird. So können z.B. Fluchtreaktionen auf Dinge, bei denen es sich möglicherweise um eine Schlange handeln könnte, zuverlässig und schnell ausgelöst werden, ohne wertvolle Zeit verstreichen zu lassen, die wir bräuchten, um uns darüber klar zu werden, dass das Ding tatsächlich eine Schlange ist. Für diese erfolgreiche Überlebensstrategie müssen wir in Kauf nehmen, dass das ungenaue Auflösungsvermögen der Amygdala manchmal auch zu Fluchtreaktionen führt, die eigentlich gar nicht nötig gewesen wären, weil das Ding eben doch keine Schlange war, sondern ein Schlauch oder ein Zweig. Die Amygdala ist darüber hinaus nicht nur am Zustandekommen der Gefühle ihres jeweiligen Besitzers beteiligt, sondern auch daran, dass er oder sie auch die Gefühle erkennen kann, die sich in den Gesichtern anderer Menschen abzeichnen. Diese Tatsache machen wir uns in der klinischen Arbeit ganz praktisch zunutze, wenn wir überlegen, ob einer der beiden Mandelkerne im linken und rechten Schläfenlappen für medikamentös nicht zu unterdrückende Anfälle mitverantwortlich ist und epilepsiechirurgisch entfernt werden sollte – und entfernt werden darf. Für ein intaktes Gefühlsleben ist eine Amygdala völlig ausreichend, vorausgesetzt, es ist die gesunde und die richtige – weil erkrankte – Amygdala wurde entfernt. Unsere von Hennric Jokeit am Schweizerischen EpilepsieZentrum in Zürich geleitete Arbeitsgruppe hat zeigen können, dass man wichtige Informationen über die Funktionsfähigkeit beider Mandelkerne mit dem fMRI erhalten kann (Schacher et al., 2006). Hierzu werden den Patienten in der “Röhre” Filmausschnitte gezeigt, in denen die in Großaufnahmen gefilmten Gesichter von Schauspielerinnen und Schauspielern Angst ausdrücken. Die dadurch ausgelöste Aktivität der Mandelkerne 34
der Patienten wird dabei verglichen mit der Reaktion dieser Hirnregionen auf ruhige Landschaftsaufnahmen. Es zeigt sich dann typischerweise, dass angsterfüllte Gesichter eine deutlich größere Reaktion in der jeweils gesunden Amygdala auslösen. Nebenbei ist es auch aus der Perspektive der Evolution wieder sehr sinnvoll, dass menschliche Gehirne für die Angst ihrer Mitmenschen so empfänglich sind: Auf diese Weise lässt sich manches für das Überleben Wichtige lernen, ohne dass man leidvolle Erfahrungen selbst machen muss. Emotionales Lernen ist für Menschen aber auch noch anders möglich als durch eigene leidvolle Erfahrungen oder das Beobachten von Missgeschicken anderer: Wer der Sprache mächtig ist, kann auch warnen und gewarnt werden. Eltern warten zumindest nicht darauf, dass ihre Kinder durch eigene Erfahrung herausfinden, dass es keine gute Idee ist, die Hand auf eine heiße Herdplatte zu legen. Eltern belassen es in der Regel auch nicht bei der Hoffnung, ihre Kinder würden schon nicht durch praktische Erfahrung herauszufinden versuchen, ob Autos von selbst anhalten, wenn man ihre Wege kreuzt. Andererseits wissen Eltern aber auch meist, dass Kinder nicht immer durch die logische Überzeugungskraft eines Arguments zu beeindrucken sind. Deshalb setzen sie auch auf die Wirkung von Emotionen ȭ und sei es nur auf die der Sprechmelodie oder Lautstärke ihrer Erklärungen; denn auch diese können als emotionale Marker die Gedächtnisrelevanz von Verhaltensratschlägen befördern. Dass dieser Trick gelingen kann, ist im Wesentlichen ebenfalls der Funktionsweise der Amygdala zu verdanken.12
Wer allerdings glaubt, das menschliche Verhaltensrepertoire sei nur eigenen Lernerfahrungen oder rationeller Überzeugungsarbeit zu verdanken, muss sich auch fragen lassen, warum Kinder in Chicago mehr Angst vor Schlangen haben als vor Autos oder Schusswaffen, obwohl die letzten beiden Gegenstände eine deutlich größere Wahrscheinlichkeit besitzen, im täglichen Leben oder in elterlichen Erklärungen vorzukommen (Vgl. Pinker, 1999, 386 ff.)
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Es wird Sie nun aber nicht mehr überraschen, dass die Amygdala auch mit dem Hippocampus eng zusammenarbeitet. Durch diese Kooperation können negative Erfahrungen schnell und zuverlässig zu Gedächtnisinhalten werden – manchmal zuverlässiger als uns lieb sein kann, wie die leidvollen Erfahrungen von Gewalt- oder Entführungsopfern deutlich machen. Traumatische Erinnerungen sind, wenn überhaupt, nur schwer aus dem Gedächtnis zu löschen. Selbst zum Zeitpunkt des Traumas nur zufällig mitabgespeicherte Belanglosigkeiten können so später die ursprüngliche Furcht mit all ihren vegetativen Begleitsymptomen wieder auslösen, auch wenn man sich ihres Zusammenhangs mit dem erlebten Trauma gar nicht bewusst ist.13 Auch ohne psychiatrisch erkranken zu müssen, kann man die Macht solcher Gedächtnisprozesse an sich selbst feststellen. Wählen Sie zum Beispiel ein x-beliebiges Datum aus den vergangenen Jahren, das für Sie keine besondere persönliche Bedeutung hat (also keinen Geburtstag, Traumurlaub oder Auffahrunfall) und versuchen Sie einmal sich daran zu erinnern, was Sie an diesem Tag zu einem bestimmten Zeitpunkt getan haben. Höchstwahrscheinlich wird Ihnen das schwer fallen und – noch wahrscheinlicher – gar nicht gelingen. Versuchen Sie nun aber einmal sich daran zu erinnern, wo Sie waren und was Sie taten, als Sie davon erfuhren (oder besser: im Fernsehen sahen), dass Flugzeuge in das New Yorker World Trade Center einschlugen und dessen beide Türme dann zusammenstürzten. Sehr wahrscheinlich werden Sie sich die alltäglichen Begleitumstände, in denen Sie sich damals befanden, noch recht gut vor Augen führen können. Solche Inhalte des Gedächtnisses werden
Es mag durchaus spekuliert werden, ob dieser Aspekt des durch die Interaktion von Amygdala und Hippocampus vermittelten emotionalen Gedächtnisses ein mögliches Korrelat des Unbewussten der Psychoanalyse darstellen könnte. Das Unterbewusste gibt es dagegen nicht nur nicht bei Freud. Es sei denn, die Wissenschaft fände im Gedächtnis noch ganz untergeahnte Entergramme.
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„Blitzlicht-Erinnerungen“ (im englischen Fachterminus „flashbulb-memories“) genannt. Die Neuheit, Relevanz und emotionale Bedeutung eines dramatischen Ereignisses werfen dabei ein solches Schlaglicht auf die gegenwärtige Situation, dass die alltäglichen Begleitumstände gleichsam mit erhellt werden und so ebenfalls einen prominenten Platz im Gedächtnis finden. Der Steilpass in Form des Arguments, dass Neuheit eine wichtige, erinnerungsrelevante Rolle für das menschliche Gehirn spielt, ist also noch nicht abgefangen. Eine Steilvorlage für die Lebensverlängerung ist aber bisher noch nicht daraus geworden, und Gedudel kam bisher noch nicht einmal vor! Wir haben aber schon einige Arbeit geleistet, die uns später noch zugute kommen wird, so dass wir uns nun eine Halbzeitpause leisten dürfen. Eine solche Halbzeitpause ist zudem ein vorweg genommenes Beispiel für das Argument, das den Ball des Steilpasses aufnehmen und ins Tor versenken soll. Haben Sie zum Beispiel einmal die Übertragung eines spannenden Fußballspiels im Fernsehen verfolgt und können sich noch an das Programm in der Halbzeitpause erinnern? Nun gut, vielleicht können Sie das deshalb nicht, weil Sie diese 15 Minuten für etwas Sinnvolleres genutzt haben, als das Halbzeitprogramm zu verfolgen. Normalerweise beginnt dieses Programm mit einer kurzen Zusammenfassung des bisherigen Spielgeschehens. Es folgen dann meist Expertengespräche, die oft ebenso spannend sind, wie die Frage, ob Herrn Netzers Krawatte dieses Mal zum Anzug passt, bevor die Pause mit einem kurzen Ausblick auf das endet, was von der zweiten Halbzeit zu erwarten sein könnte. Diesem Programmablauf soll auch unsere Halbzeitpause folgen. Philosophisch spezialisierten Lesern oder gar Profis auf diesem Gebiet möchte ich aber bereits jetzt empfehlen, sich stattdessen nun vielleicht ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und sich erst zur zweiten Halbzeit wieder zuzuschalten. 37
H a l b z e i t p ause für F eieraben d philosophen In den vorangegangenen Abschnitten haben wir gesehen, dass das menschliche Gedächtnis aus verschiedenen Systemen besteht, wobei Inhalte des so genannten deklarativen Gedächtnisses bewusst zugänglich und berichtsfähig sind. Wir haben dann einige Methoden der kognitiven Neurowissenschaften kennen gelernt, insbesondere das bildgebende Verfahren der funktionellen Kernspintomographie und die elektrophysiologische Methode der Ableitung ereigniskorrelierter Potentiale von der Kopfhaut und direkt aus dem Gehirn. Von Untersuchungen, die diese Methoden einsetzten, haben wir erfahren, dass das deklarative Gedächtnis besonders von der Funktion des Hippocampus, einer im Inneren des Schläfenlappens (also im mesialen Temporallappen) liegenden Struktur abhängt. Diese reagiert besonders auf die Neuheit, Relevanz und (in Zusammenarbeit mit der davor liegenden Amygdala) auf die emotionale Wertigkeit eines Reizes und vermittelt so dessen Verankerung im deklarativen Gedächtnis. Soweit die kurze Zusammenfassung des bisherigen Spielverlaufs. Während sich die Philosophen unter Ihnen nun zum Kühlschrank begeben haben, … … möchte ich den Weiterlesenden berichten, dass manche Neurowissenschaftler dazu neigen, ihre Befunde auch neurophilosophisch zu interpretieren. Dagegen wäre ja im Prinzip nichts einzuwenden, wenn sie auf die philosophische Argumentation die gleiche Sorgfalt verwendeten wie auf ihre Experimente. Da der Klinik- und/oder Laborbetrieb dazu oft aber wenig Zeit lässt, neigen manche unter uns dazu, nach Feierabend gewichtig zu werden. Insgeheim gehöre auch ich zu diesen Feierabendphilosophen. Dennoch möchte ich die Halbzeitpause nicht dazu nutzen, Sie zu beschwafeln. Ich würde Ihnen 38
jedoch gerne mitteilen, welches philosophische Fass ich nicht aufmachen möchte: Wenn ich darauf beharre, dass Neuheit für den Hippocampus wichtig ist, so meine ich nicht damit, dass im Hippocampus ein kleiner Homunculus sitzt, der sich die Welt da draußen ansieht und sie dem Urteil „Kenne ich“ oder „Kenne ich nicht“ unterzieht.14 Auf diesen Aspekt der im vorangegangenen Kapitel zitierten Abwehr „Wie soll denn ein so kleines Teil wie der Hippocampus Neuheit erkennen?“ bin ich dort nicht eingegangen. Erkenntnisfähigkeit spreche ich dem Hippocampus aber auch nicht zu, zumal mir Philosophen dann wohl zu Recht einen Kategorienfehler vorwerfen könnten.15 Ein neurophysiologisches (nicht philosophisches) Modell, das der in der Kritik vermuteten Einfachheit hippocampaler Funktionen Rechnung trüge, wäre zum Beispiel eines, das von den vielfältigen Verbindungen des Hippocampus zur verschiedensten Regionen der Großhirnrinde ausgeht: Über diese lässt sich sicher ermitteln, ob gerade viele oder wenige Nervenzellen des Cortex aktiv sind. Da die Verarbeitung neuer Reize mehr Neurone beansprucht als die altbekannter, könnte bereits eine bloße quantitative Überwachung der Cortex-Aktivität Neues von Altem unterscheiden. Insofern „bedeutet“ Neuheit durchaus etwas für den Hippocampus, indem sie etwas in ihm bewirkt, was wiederum Konsequenzen für das Gedächtnis hat. Hierzu bedarf es aber keines hippocampalen Aha-Erlebnisses. Ja, es bedarf noch nicht einmal eines Aha-Erlebnisses des jeweiligen Hippocampus-Besitzers, wenn Letzteres auch nicht schaden kann. Dass Neuheit also etwas für den Hippocampus „bedeutet“, heißt nicht, dass er wissen muss, was Neuheit ist oder heißt. Daher möchte ich mir auch erlauben, hier nicht
Zur Kritik eines solchen cartesianischen Theaters vgl. z.B. Dennett, 1993. Ich glaube auch nicht, dass das Rückenmark den Hammer der Neurologin erkennt, mit dem diese das Zucken des Beins auslöst, wenn sie den Patellarsehnen-Reflex auslöst.
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weiter darüber nachzusinnen, was denn Bedeutung eigentlich ist, oder wie sie im Gehirn vermittelt wird.16 (Es wäre nett, wenn Sie den Philosophen und anderen an der Halbzeitpause Desinteressierten nun sagen würden, dass sie vom Kühlschrank zurückkommen können, da die zweite Halbzeit in Kürze beginnt.) In dieser werden nun hoffentlich auch Tore fallen. Es soll nämlich zur Sprache kommen, wozu das Gedächtnis eigentlich taugt und warum wir uns überhaupt um das Lernen bemühen. Es soll nun endlich geklärt werden, was denn eigentlich Gedudel ist, und es soll verraten werden, wie das Leben verlängert werden kann.
Neurosemantik ist ein kniffeliges Gebiet. Wenn ich etwas darüber wissen will, lese ich nach in Kurthen, 1992.
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M i t t e l f e l d strategen: Waru m lernen? “Time keeps on slippin … into the future” Steve Miller Band: Fly like an eagle. Wer einmal das Endspiel einer Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft im Fernsehen verfolgt und sich die Mühe gemacht hat, die im Anschluss mit den Spielern geführten Interviews zu verfolgen, erinnert sich vielleicht mit Grausen an Fragen der Art: „Wie fühlt man sich, wenn man das Endspiel gewonnen hat?“ Der jeweils Gefragte ist in einer bedauernswerten Situation, denn es gibt nichts Neues – also Mitteilenswertes, das er darauf antworten könnte. Neues, also Mitteilenswertes, wäre wahrscheinlich entweder gelogen (z.B.: „Ist mir eigentlich egal“) oder wahr aber inakzeptabel (z.B.: „Müde“).17 Solche Fragen sind im Fernsehen und in Büchern gefährlich, denn sie legen es den Rezipienten nahe, abzuschalten bzw. nicht mehr weiter zu lesen. Halten Sie bitte trotzdem durch, wenn ich nun frage: „Wozu taugt das Gedächtnis eigentlich?“ Denn obwohl die Antwort offensichtlich scheint, sind die experimentell arbeitenden Neurowissenschaften erst kürzlich darauf gestoßen. Der Nutzen des Gedächtnisses erscheint uns so offensichtlich, weil wir es so selbstverständlich gebrauchen, dass es uns absurd vorkommt, nach seinem Nutzen zu fragen. Dies ändert sich jedoch, wenn man Grund zu haben glaubt – oder Grund hat, an
Wer glaubt, dass die Eloquenz derartiger Fragen nicht mehr zu steigern ist, sollte sich ab und zu einmal das Frühstücksfernsehen ansehen. Dort hört man auch Fragen der Art: „Was ist eigentlich das Besondere daran, Weltmeister zu werden?“ Diese Art Frage ist genauso gut wie die der Sorte: „Was ist eigentlich das Besondere daran, Hab und Gut in den Fluten des Hochwassers verloren zu haben?“ Auch auf derartige Fragen lässt sich nichts Vernünftiges antworten. Die Frage selbst teilt allenfalls mit, dass der Fragende in der Frühstücksfernsehschule gelernt hat, dass Emotionen etwas Besonderes sind, was es in der Reportage herauszukitzeln gilt. („Hey, als die Two Towers eingestürzt sind, war ich verdutzt. Das war aber mal was Besonderes!“)
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der Zuverlässigkeit des eigenen Gedächtnisses zu zweifeln. Die Scharen von Yuppies, die die physiologische Erfahrung, dass es mit zunehmendem Alter manchmal schwerer fällt, sich an einen Namen zu erinnern, aus den Fitness-Studios in Seminare zur Steigerung der Hirnleistung treibt, haben zwar seltener ein Problem mit dem Gedächtnis als mit der Angst, an einer Demenz zu erkranken. Es wäre aber sicher spannend zu erfahren, was H.M. über die Funktion des Gedächtnisses denkt. Bei diesem Patienten, von dem ich zu Beginn berichtete, führte die Entfernung beider Hippocampi vor mehr als 50 Jahren dazu, dass er seither keine neuen Erinnerungen mehr bilden kann. Er weiß also, was es heißt, ohne Gedächtnis zu leben, erinnert sich aber noch gut daran, über eines verfügt zu haben. Einigen wir uns hier zunächst einmal auf die wenig überraschende Feststellung, dass das Gedächtnis wichtig ist. ȭ Aber wichtig wozu? Sicher sind die Gedächtnissysteme des Gehirns kein bloßes „Spaßmodul“.18 Natürlich kann das Spielen mit Gedächtnisfunktionen Spaß machen, was Spiele wie das in der Regel von Kindern gewonnene Memory bis hin zum Fernsehquiz für Erwachsene belegen. Möglicherweise dienen Gedächtnisspiele aber auch dem Training potentiell überlebenswichtiger kognitiver Funktionen, so wie das spielerische Rangeln menschlicher und nicht-menschlicher Lebewesen dem Training potentiell überlebenswichtiger körperlicher Funktionen dient. Den Spaß an der Erinnerung kennen Sie vielleicht auch aus Situationen, in denen Sie mit Freunden „Oldies“ oder andere Musikstücke hörten, die Sie an Episoden Ihres früheren Lebens erinnerten. Bemerkungen wie „Weißt du noch, wie wir darauf gefetzt haben?“ bis zu „Das ist doch unser Lied!“ zeugen von der Fähigkeit, Zeitreisen in die Erinnerung zu unternehmen. Diese
Würde Steven Pinker dies „mnemonic cheesecake“ nennen? Auf den Käsekuchen kommen wir aber später noch zu sprechen.
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Form des Gedächtnisses wird „episodisch“ oder auch „autobiographisch“ genannt. Sie ist Teil des vorher beschriebenen deklarativen Gedächtnisses und beruht daher ebenfalls auf der Funktionsfähigkeit des Hippocampus. Die Diskussion der Frage, ob die Fähigkeit zu derartigen geistigen Zeitreisen in die Vergangenheit eine typisch menschliche Eigenschaft ist, die uns qualitativ von anderen Tieren unterscheidet ist noch nicht entschieden. Es gibt jedenfalls Daten, die darauf hinweisen, dass auch nicht-humane Primaten, Delphine, Vögel und Nagetiere über ein episodisches Gedächtnis verfügen (Dere et al., 2006). Dennoch steht außer Zweifel (der Erfolg gibt uns Recht), dass Menschen aus ihren Gedächtnisinhalten mehr machen können. Das heißt, sie wissen und behalten entweder mehr als andere Spezies und/oder sie können das Gewusste und Erinnerte besser nutzen, um neue Situationen schadlos – oder gar erfolgreich – zu überstehen. Um es einmal geschraubt auszudrücken: Die Erinnerung beweist sich in der Gegenwart, indem sie die Zukunft antizipiert. Damit meine ich, dass Erinnerungen für uns dann nützlich sind, wenn sie uns jetzt helfen. Sie helfen uns aber besonders dann, wenn sie uns in die Lage versetzen, mögliche zukünftige Entwicklungen einer Situation vorauszuahnen und so die beste Handlungsstrategie zu wählen. Darin sind wir Menschen sicher besser als andere Spezies. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass dieser Unterschied kein qualitativer, sondern ein quantitativer ist, also einer, den wir der Evolution zu verdanken haben und nicht einer herausgehobenen Sonderstellung unserer Spezies.19 Um eine Handlungsstrategie verfolgen zu können, sollte man zunächst einmal in der Lage sein, sein Handlungsziel in Er-
Argumente dafür, dass wir zumindest an der Spitze der Zeitreisenden-Rangliste stehen, finden sich z.B. in Suddendorf, Corballis, 2007.
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innerung zu behalten. Was sich hier so selbstverständlich anhört, will in Wirklichkeit aber erst einmal gelernt sein. Im Berufsleben ist es jedenfalls hilfreich, noch zu wissen, woran man eigentlich arbeiten wollte, nachdem man zwischendurch aus ganz anderen Gründen zum Chef zitiert wurde. Aufgaben und Ziele nicht zu vergessen, gehört zu den Funktionen des so genannten „prospektiven Gedächtnisses“, das u.a. auf die Funktionsfähigkeit frontaler Hirnstrukturen angewiesen ist.20 Zumindest solange diese Gehirnregionen ihre volle Leistungsfähigkeit noch nicht erlangt haben, brauchen Kinder noch häufiger die mahnende Stimme der Mutter, die sie daran erinnert, dass sie ja „eigentlich“ das Kinderzimmer aufräumen wollten, obwohl ihnen dabei gerade ein wichtiges Spielzeug in die Hände gefallen ist. Vertreter früherer Entwicklungsstufen der Menschheit sollen laut Julian Jaynes (1976) gar ganze Pyramiden gebraucht haben, um sich von einer inneren Stimme an ihre Handlungsziele erinnern zu lassen. Auch moderne Menschen sind spätestens dann auf externe Gedächtnishilfen angewiesen, wenn frontale Hirnregionen mit zunehmendem Alter nicht mehr ganz so sportlich sind. Zum Funktionieren des prospektiven Gedächtnisses trägt der Hippocampus aber ebenfalls sein Teil bei (Umeda et al., 2006). Dies ist bereits ein erster Hinweis darauf, dass das hippocampale Gedächtnissystem eben nicht nur zu Zeitreisen in die Vergangenheit taugt. Auch Zeitreisen in die Zukunft sind viel häufiger eine Alltagsbeschäftigung als ein Thema für ScienceFiction Autoren. Wenn Sie zum Beispiel bereits wissen, wohin Sie Ihre nächste Urlaubsreise führen wird, stellen Sie sich für einen Moment doch einmal vor, wie es an Ihrem Urlaubsort sein wird und was Sie dort tun werden. Werden Sie dort am Strand liegen? Und wenn ja, lieber in der Sonne oder im Schatten? Gibt
Eine gute Übersicht über dieses Forschungsgebiet geben McDaniel et al., 2007.
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es dort überhaupt Schatten? Oder werden Sie vielleicht zum Wandern oder Skifahren in die Berge reisen? Wenn ja, können Sie sich das Gelände dort vorstellen? Und sind Sie für das zu erwartende Wetter bereits passend ausgerüstet? Mentale Zeitreisen unternehmen wir meist aber nicht aus Vorfreude auf den Urlaub, sondern zur Lösung vorhersehbarer Probleme: Mit welchen Reaktionen hat man bei einem Vortrag zu rechnen? Wie wird der Chef auf eine Gehaltsforderung reagieren? Was, wenn auf dem Weg zum Flughafen schon wieder so ein Stau ist? … Zur Bewältigung von Zeitreisen in die Zukunft nutzen wir natürlich Erfahrungen, Wissen und persönliche Erinnerungen, die wir in den antizipierten Kontext setzen. Es ist daher eigentlich nicht überraschend, dass die Gedächtnissysteme des Gehirns auch bei der Vorstellung zukünftiger Ereignisse aktiv sind. In neurowissenschaftlichen Experimenten ist dies jedoch erst seit relativ kurzer Zeit ein prominentes Thema geworden. So fanden Hassabis et al. (2007), dass Patienten, die an einer schweren Gedächtnisstörung aufgrund einer Schädigung beider Hippocampi litten, sich zukünftige oder erfundene Ereignisse, wie das Treffen mit einem Freund oder eine Szene an einem tropischen Strand, viel schlechter vorstellen konnten als gesunde Versuchspersonen. Auch bildgebende Untersuchungen mit dem fMRI haben gezeigt, dass Gehirnregionen, die für das Gedächtnis von großer Bedeutung sind und zu denen auch Bestandteile des hippocampalen Gedächtnissystems gehören (genauer gesagt, der linke und der rechte Gyrus parahippocampalis), bei der Erinnerung an vergangene und bei der Vorstellung künftiger Ereignisse in gleichem Maße aktiv werden (Szpunar et al., 2007). Interessanterweise sind diese Hirnregionen zum Teil dieselben, die aktiv werden, wenn wir scheinbar „gar nichts“ tun, also z.B. während einer Pause zwischen zwei bei einem Experiment zu lösenden Aufgaben (Raichle et al., 2001; Buckner, Carroll, 2007). Nun glauben die 45
Wissenschaftler, die diese Experimente durchführten, nicht, dass ihre Versuchspersonen tatsächlich nichts taten, wenn sie nichts tun sollten. Überhaupt kann man sich schlecht vorstellen, dass ein lebendes Gehirn einmal wirklich nichts tun kann; denn selbst im traumlosen Schlaf hat es noch einige Arbeiten zu erledigen, wenn auch die elektrischen Spuren dieser Arbeiten im EEG recht unspezifisch sind. Die Aktivität der in wachen Ruhephasen aktiven Hirnregionen wird von den Autoren vielmehr als eine Art Standart-Betriebsart („default mode“) des Gehirns verstanden, der immer dann aktiv wird, wenn dem Gehirnbesitzer keine spezifischen Arbeiten abverlangt werden: „Rather than passively ‘waiting’ to be activated by sensations, it is proposed that the human brain is continuously busy generating predictions that approximate the relevant future.“ (Bar, 2007, S. 280). Wir scheinen also ziemlich rastlose Zeitreisende zu sein, und unsere Zeitmaschine, das Gedächtnis, dient der Reise in beide Richtungen. Wie die Evolutionsgeschichte des menschlichen Gehirns zeigt, bedurfte es einigen Aufwands, uns diese Fähigkeit der Zeitreisen zu ermöglichen. Es ist daher auch kaum überraschend, dass sich die zugehörige Betriebsform des Gehirns als evolutionäres Erfolgsmodell bewährte, weil sie Überlebensvorteile bietet. Dennett (1995, S. 374 ff) bringt dies auf den Punkt, wenn er Lebewesen beschreibt, die Herausforderungen in ihrer Umwelt ausschließlich mit Reaktionen begegnen, die sie nur nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ auswählen können. Ein falscher Versuch – etwa in Gegenwart eines Säbelzahntigers – kann durchaus das Leben kosten. Größere Überlebenschancen haben sicher Lebewesen, die verschiedene mögliche Reaktionen hypothetisch durchspielen können, bevor sie eine auswählen. So lohnt es sich, den Säbelzahntiger nur auf einer Zeitreise zu streicheln, um dann doch eine andere Zukunft zu erschaffen. Um es mit Karl Popper auszudrücken: Eine solche Zeitreise 46
„permits our hypotheses to die in our stead“.21 Wenn man dann noch über ein gut funktionierendes episodisches Gedächtnis verfügt und sich bei der nächsten Begegnung mit einem Säbelzahntiger an die erfolgreiche Handlungsweise vom letzten Mal erinnert, erlaubt eine erneute Zeitreise (jetzt in die Vergangenheit) eine noch schnellere richtige Reaktion. Dies lässt sich bei vielen Säbelzahntiger-Begegnungen sogar so gut trainieren, dass schließlich gar keine Zeitreisen mehr nötig sind, weil die richtige Reaktion quasi automatisch zur Verfügung steht.22 Der biologische Zweck des Gedächtnisses ist also letztlich nicht das vergnügliche Blättern in einem mentalen Fotoalbum, sondern die erfolgreiche Bewältigung der Zukunft. Zeitreisen, die nur in die Vergangenheit führen, sind eine Einbahnstraße. So können an einer schweren Demenz erkrankte Patienten nicht nur keine neuen Erinnerungen mehr bilden, ihre noch vorhandenen frühen Erinnerungen sind auch nicht mehr zukunftsweisend: Die Einbahnstraße ist zu einer Sackgasse geworden, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Für ein gesundes Gehirn bietet die Zukunft dagegen viele gute Gründe, Erinnerungen zu schaffen und zu lernen ȭ sogar so viele gute Gründe, dass man annehmen könnte, das Gehirn werde dies schon automatisch besorgen. Bei manchen Inhalten und Fähigkeiten ist dies auch tatsächlich der Fall: Bei intakten neurobiologischen Voraussetzungen und adäquatem Umweltangebot, kann ein menschliches Gehirn zum Beispiel gar nicht anders, als Sprache zu erwerben – auch ohne die Hilfe didak-
Zitiert nach Dennett, 1995, S. 375. Sollten Säbelzahntiger in Ihrer Umgebung seltener vorkommen, nehmen Sie etwas, das Sie häufiger auf Straßen antreffen, die Sie zu Fuß überqueren möchten.
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tisch geschulten Fachpersonals.23 Dass das Lernen in vielen Situationen aber alles andere als automatisch und oft auch wenig erfolgreich verläuft, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es hier gerade eines besonders gut geschulten Fachpersonals bedarf. Der Ruf nach guten Lehrerinnen und Lehrern ist schließlich nicht erst nach der PISA-Studie laut geworden. Eigentlich sollte es uns aber doch wundern, dass das menschliche Gehirn einerseits wie zum Lernen geschaffen scheint, dass es sich dem Lernen andererseits aber manchmal geradezu widersetzt. Während die Didaktik sich mit derartigen Lernwiderständen schon lange herumschlagen musste, beginnen sie in den kognitiven Neurowissenschaften erst allmählich eine Rolle zu spielen, und es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis beide Gebiete sich mit dem Gedanken einer gegenseitigen Befruchtung anfreunden können.24 Ein didaktisches Dilemma hat sich aber bereits in der ersten Halbzeit des gegenwärtigen Matches abgezeichnet: Ein besonders guter Trick, etwas dauerhaft im Gehirn abzuspeichern, ist es, dieses Etwas möglichst neu sein zu lassen. Besser noch, wenn es auch relevant ist und Emotionen hervorruft. Andererseits verlangt der Erwerb mancher Wissensinhalte auch Wiederholungen, wie jeder, der einmal Vokabeln pauken musste, nur allzu gut weiß. Am besten – und damit „gehirngerecht“ – wäre es dann doch wohl, etwas Neues möglichst oft zu wiederholen. Das aber ist unmöglich, denn das Neue ist bereits
Allerdings ist es durchaus möglich, dass die biologische und kulturelle Evolution dafür gesorgt hat, dass Eltern per se über die notwendigen didaktischen Fähigkeiten verfügen (vgl. z.B. Donald, 1991, S. 176 f.). Dazu würde auch die Beobachtung passen, dass die an Kleinkinder gerichtete „Babysprache“ Erwachsener („infantdirected speech“) vieler Sprachgemeinschaften große Gemeinsamkeiten aufweisen (Fernald et al., 1989). Vgl. etwa die in der Zeit (Jahrgang 11, 2003, Nr. 38 - 40) von den Protagonisten Gerhard Friedrich, Jochen Paulus, Henning Scheich, Manfred Spitzer und Elsbeth Stern geführte Diskussion zur „Neurodidaktik“.
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bei der ersten Wiederholung eben nicht mehr neu. ȭ Ein unlösbares Problem? Die Didaktik begegnet diesem Dilemma mit einem weiteren Trick, nämlich der Wiederholung in neuen Kontexten. Nicht wenige Schüler (und andere Pädagogik-Kritiker) werden sich schon empört haben, wenn sie diesen Trick zu durchschauen glaubten, mit dem man da wohl versuchte, ihnen alte Karamellen in neuen Verpackungen unterzujubeln. Dennoch hat sich dieser Trick oft genug bewährt, denn das Entdecken von etwas Altem in neuer Hülle schafft zumindest neue Assoziationen, was wiederum ein gefundenes Fressen für die Funktionen des Hippocampus ist. Doch damit nicht genug: Was der Schule recht ist, ist den Kulturen billig! Der gleiche Trick bewährt sich auch in der Transmission von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses, die schließlich in individuellen Gehirnen instantiiert werden müssen, um über Generationen tradiert werden zu können. Große Worte für einen einfachen Sachverhalt: Wenn man ein Ereignis bedeutsam und unvergesslich gestalten möchte, so sollte man es wiederholen. Und zwar so, dass jede Wiederholung neu, relevant und emotional berührend ist. Wer wissen möchte, wie die major players der Kulturen den Widerspruch der Wiederholung von etwas Neuem auflösen, braucht sich nur zum Beispiel die Wahl von Päpsten anzusehen. Ginge es nur um die zeitgerechte Bestellung eines Nachfolgers, so wäre dies mit einem durchaus weniger aufwändigen Verwaltungsakt zu erledigen. Die wirkungsvolle Inszenierung des jeweiligen Events verleiht aber dem Amt und der Institution Bedeutung, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass sie die Abspeicherung des Ereignisses im Gedächtnis der (vor Ort oder am Fernsehen) Miterlebenden sicherstellt. Bereits der Aufwand der Inszenierung verweist auf ihre Relevanz, die enge Verknüpfung mit dem Tod des Vorgängers verbürgt die emotionale Wertigkeit, 49
und schließlich gibt es einen neuen (manchmal sogar überraschenden) Protagonisten. Wenn dies alles nur für gläubige Katholiken von Bedeutung wäre, könnte ein Slogan wie „Wir sind Papst“ kaum auf eine derartige Resonanz stoßen.25 Für genuin Interessierte, die mögliche Kandidaten für die Papstnachfolge kennen und vielleicht sogar einen von ihnen favorisieren, bietet die Inszenierung aber noch eine bessere Möglichkeit der emotionalen Beteiligung. Fiebern die Beobachter mit, so wird ihre Spannung noch dadurch gesteigert, dass die Bekanntgabe des Siegers der Papstwahl nicht einfach so erfolgt, sondern erst zeitlich verzögert nach einer rituellen Vorankündigung durch aufsteigenden weißen Rauch. Werden die Wahlzettel dagegen nicht nur zusammen mit Stroh, sondern auch noch mit Pech verbrannt so signalisiert der aufsteigende schwarze Rauch: Das Spiel geht in die Verlängerung. Und die Spannung steigt noch mehr. Bei der Papstwahl gibt es weder ein Elfmeter-Schießen noch ein Tie-Break. Darüber hinaus gibt es aber viele Gemeinsamkeiten mit periodisch wiederkehrenden Sportveranstaltungen, von denen das Nonplusultra an ritueller Inszenierung und Gedächtnisrelevanz natürlich die Olympischen Spiele darstellen. Auch bei ihnen wird ein gut bekanntes Ritual mit großem Aufwand periodisch zelebriert. Die Protagonisten sind aber jeweils (meist) neue, mit denen sich aus persönlicher Anhängerschaft, sportlicher Überzeugung oder zufälliger Nationenzugehörigkeit trefflich mitfiebern lässt. Quantitativ scheint das letztere Motiv von besonderer Bedeutung zu sein. Jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich, dass die Fernseh-Berichterstattung über Synchronschwimmen oder den Kleinkaliber-Dreistellungskampf außerhalb der Olympischen Spiele vergleichbare Einschaltquoten erzielen kann. Wenn auch Nicht-Synchron-
Mehr zu diesem Thema finden Sie in einem anderen Band der TRACE-Reihe: Mühlmann H (2007) Jesus überlistet Darwin. Springer, Wien, New York
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schwimmer und Nicht-Kleinkaliberschützen sich kaum noch an die Medaillengewinner von 2004 in Athen erinnern dürften, so halten es doch selbst unsportliche Mitrater nicht für eine Zumutung, wenn in einem Quiz nach dem Austragungsort der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2000 gefragt wird.26 Solche Ereignisse besitzen eben unbestreitbare Gedächtnisrelevanz ȭ auch für Couch Potatoes. Es bleibt festzuhalten: Gleich ob (neuro-)didaktisch konzipiert oder aus Erfahrung erfolgreich, auch Wiederholungen können so inszeniert werden, dass sie es dem Gedächtnis schwer machen, sie sich nicht anzueignen. Wir sahen überdies zuvor, dass sich manche Ereignisse nahezu unauslöschlich in das Gedächtnis einprägen, auch wenn sie nur ein einziges Mal geschehen. Und das Erlernen mancher Fähigkeit, wie der des Sprechens und Verstehens, lässt sich kaum vermeiden. Insgesamt erscheint das menschliche Gehirn aus diesem Blickwinkel tatsächlich wie eine evolutionär konzipierte Lern„maschine“. Umso unangenehmer stellt sich dann aber die Frage, warum wir uns manchmal zum Lernen regelrecht überwinden müssen. Es erscheint doch absurd, dass ein „zum Lernen gemachtes“ biologisches Organ manchmal geradezu eine Abneigung gegen das Lernen zu entwickeln scheint. Diesen Widerspruch haben Sie vielleicht auch schon einmal bei Kindern beobachtet: Gerade jüngere Kinder müssen manchmal ein Spiel unterbrechen, um zu fragen, wie das Spiel geht, welche Kniffe sie verwenden können und welche Regeln sie befolgen müssen. Sie müssen also lernen, um weiterspielen zu können. Das ursprüngliche Interesse, mit denen Kinder diese Fragen stellen, erlahmt dann jedoch oft schnell. Schließlich wollen die Kinder ja auch spielen und nicht lernen. Der Zielkonflikt entsteht dadurch, dass das Gehirn eben nicht nur zum Lernen taugt. Lernen mag zwar
Na gut: Sidney.
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ein guter Trick zur Bewältigung der Zukunft sein, aber Lernen kostet auch, und zwar sowohl Zeit als auch Energie, die man (manchmal zumindest) eigentlich gar nicht aufwenden möchte. Und dieses Problem wird umso größer, je länger die antizipierte Phase des Lernens dauert und je weiter das dadurch vielleicht zu erreichende Ziel in der Zukunft liegt. Glücklicherweise hat uns die Evolution auch hier einen Trick beschert, der es uns erleichtert, durchzuhalten und Zeit und Energie in den Erwerb von Gedächtnisinhalten zu investieren: die Belohnung. Belohnt zu werden ist natürlich etwas Schönes, dessen Genuss uns (hätten Sie das gedacht?) durch die Tätigkeit des Gehirns ermöglicht wird. Dazu arbeiten verschiedene Gebiete des Hirnstamms, der beiden Frontallappen aber auch der mesialen Temporallappen (wozu auch der Hippocampus gehört), so eng zusammen, dass man sie gemeinsam das „Belohnungssystem des Gehirns“ nennt.27 Der wichtigste Botenstoff, der in diesem System zur Informationsübertragung, zur Aktivierung und somit letztlich zum wohligen Gefühl der Belohnung führt, ist das Dopamin. Was uns angenehm erregt, von der sexuellen Betätigung über andere leibliche Genüsse, den Erfolg im Wettkampf, die Zuwendung uns nahe stehender Menschen bis hin zum Lob für unsere Bemühungen von Trainern oder Lehrern, führt so letztlich über die Dopamin-Ausschüttung zu „lohnenden“ Gefühlen.28 Der Trick, den uns die Evolution beschert hat, besteht nun darin, dass wir zwar auch für äußere Reize,
Für speziell Interessierte: Dazu gehören u. a. das ventrale Tegmentum, der Nucleus accumbens, Teile des limbischen Systems, incl. Amygdala, Hippocampus und Septum, der anteriore Gyrus cinguli, der ventrale Nucleus caudatus und das Putamen. Die wichtigste „Datenautobahn“ des Belohnungssystems ist das mediale Vorderhirnbündel, in dem dopaminerge Neurone eine herausragende Rolle spielen. Da liegt die Vermutung nahe, dass das Wort Dopamin etwas mit dem englischen „dope“ zu tun haben könnte, das wir auch aus dem Anglizismus „gedopt“ kennen. Ernüchternderweise kommt Dopamin aber von der Abkürzung DOPA, für „Dioxyphenylalanin“, während „dope“ wie das niederländische „doop“ ursprünglich einfach „Soße“ bedeutete.
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die ein Belohnungsgefühl vermitteln, sehr empfänglich sind, ihrer aber gar nicht immer bedürfen, um einen Dopamin-Kick zu erhalten. Schon die mit der Erwartung einer zukünftigen Belohnung verbundenen Gefühle sind der Aktivität des Belohnungssystems zu verdanken. Richtig aktiv wird dieses System aber dann, wenn sich eine Zukunftserwartung erfüllt. Auf diese Weise werden wir sozusagen „süchtig“ danach, eben das zu tun, was sich als beste Überlebensstrategie herausgestellt hat, nämlich Hypothesen über die Zukunft zu generieren, die im schlimmsten Falle an unserer Stelle sterben können (s.o.). Offenbar sind wir sogar so darauf geeicht, uns einen Reim auf die Gegenwart zu machen, um daraus Strategien für die Zukunft zu entwickeln (also mentale Zeitreisen in die Zukunft unternehmen zu können), dass wir dieses Verhalten noch nicht einmal sein lassen können, wenn es unsinnig ist. Um dies in Vorträgen zu verdeutlichen, führe ich mit den Zuhörern gerne die Kurzfassung eines Experiments von Wolford et al. (2000) durch. Dabei kündige ich an, dass ich nun rote und gelbe Kreise projizieren werde, von denen die roten häufig (in 75 % der Fälle) und die gelben selten (zu 25 %) erscheinen werden. Nach einem „Probedurchlauf“ mit acht Items folgen dann zwei „Tests“, bei denen ich jeweils drei rote und einen gelben Kreis zeige. (Um den Erfolg dieser Vorführung wahrscheinlicher zu machen, zeige ich den gelben Kreis jeweils an erster bzw. zweiter Stelle.) Dann bitte ich alle Anwesenden zu tippen, welche Farbe der nächste Kreis wohl haben wird. Dieser ist dann (natürlich) immer rot, aber fast alle Zuhörer tippen immer auf gelb. Es ist mir dann ein – glücklicherweise von den meisten Zuhörern geteiltes – Vergnügen mitzuteilen, dass es andere Populationen gibt, die bei diesem Test deutlich besser abschneiden, und dass es sich bei diesen „Versuchspersonen“ oft um Ratten und Goldfische handelt. Tatsächlich verfolgen nicht-menschliche Tiere eine andere Strategie als Menschen: 53
Wenn der häufige Reiz (hier: rot) in 75 % aller Fälle auftritt, ist es erfolgversprechend, immer auf rot zu setzen, weil man damit in 75 % der Fälle gewinnt. Für die meisten strategisch denkenden Menschen ist Statistik jedoch eine sehr kontraintuitive Angelegenheit: Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, dass das, was schon lange nicht mehr gezeigt wurde, jetzt eigentlich bald wieder fällig wäre, und auch jahrelanges Lotto- oder Roulette-Spielen überzeugt nur wenige vom Gegenteil.29 Wenn uns somit mentale Zeitreisen in die Zukunft, die das Erreichen angenehmer und das Vermeiden unangenehmer Entwicklungen wahrscheinlicher machen, geradezu ein körperliches Anliegen sind, so sollte es doch auch Mechanismen geben, die uns den Aufwand des Lernens etwas versüßen können. Und genau das scheint nach neueren Befunden auch tatsächlich der Fall zu sein: Die Erwartung einer zukünftigen Belohnung aktiviert beim Lernen sowohl zentrale Bestandteile des Belohnungssystems (das ventrale Tegmentum und den Nucleus accumbens) als auch den Hippocampus, und je besser ihr dies gelingt, umso besser wird das zu Lernende behalten (Adcock et al., 2006). Es kommt aber noch besser: Nicht nur tatsächlich (unerwartet) neue Stimuli, sondern bereits die Ankündigung neuer Reize aktiviert sowohl das ventrale Tegmentum als auch zugleich den Hippocampus, und die Erwartung von Neuheit führt auch dazu, dass neue Stimuli später besser dem bewussten Abruf aus dem Gedächtnis zugänglich sind (Wittmann et al., 2007). Es scheinen sich also allmählich die Anzeichen zu mehren, dass es die im dritten Kapitel noch fehlenden (ehrenhaften) Gründe für Neugier doch geben könnte.
Nach den Ergebnissen von Wolford et al. ist übrigens die Gehirnhemisphäre, die die Sprachfunktionen trägt (bei den meisten Menschen die linke), für dieses Verhalten verantwortlich: Patienten mit einer Schädigung der rechten Hemisphäre verhalten sich so wie die meisten von uns; Patienten mit einer Schädigung der linken Hemisphäre tippen „richtig“.
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Fassen wir den augenblicklichen Stand des Spiels zusammen: Die Fähigkeit, mentale Zeitreisen sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft zu unternehmen, ist ein Trick des menschlichen Gehirns, der zu unserem evolutionären Erfolg wesentlich beigetragen hat. Dass uns dieser Trick so gut gelingt, haben wir auch einem dem bewussten Zugriff zugänglichen (deklarativen) Gedächtnis zu verdanken, das wiederum einen funktionierenden Hippocampus voraussetzt. Trotz aller biologischen Voraussetzungen verlangt der Erwerb mancher Gedächtnisinhalte auch Mühen, die uns durchaus unlieb erscheinen können. Die enge Verknüpfung der für das deklarative Gedächtnis wichtigen Strukturen mit dem Belohnungssystem des Gehirns versüßt es uns aber, die erforderlichen Mühen zu investieren. Das Abspeichern von Erinnerungen fällt uns auf jeden Fall leichter, wenn die zu behaltenden Ereignisse neu und relevant sind und uns emotional berühren. Was wiederum so offensichtlich ist, dass auch die Pädagogik, die katholische Kirche und Sportfunktionäre längst darauf gekommen sind, wie man Wiederholungen Gewicht verleihen kann.30 Bevor wir aber klären können, wie dies zur Lebensverlängerung beitragen kann und was das alles mit dem Musikantenstadl zu tun hat, müssen wir uns im nächsten Spielabschnitt noch kurz mit dem Wiedererinnern befassen.
Die kognitiven Neurowissenschaften beginnen aber zumindest zu erklären, wie und warum das funktioniert.
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R ü c k p a ss wo h in : Wied ererin n er n “The way you wear your hat, the way you sip your tea the memory of all that. No, no, …” Ella Fitzgerald: They can’t take that away from me Die schönsten Gedächtnisinhalte nützen wenig, wenn man nicht darauf zugreifen kann. Andererseits ist es manchmal nicht ganz einfach herauszufinden, woran es denn gelegen haben könnte, wenn wir uns nicht an etwas erinnern. Lag es daran, dass wir uns den gesuchten Inhalt überhaupt nicht gemerkt haben oder will er uns nur im Moment nicht einfallen? Diese Frage ist am einfachsten bei einem Phänomen zu klären, das wir alle kennen und das uns doch stets aufs Neue ärgert, nämlich der peinlichen Situation, dass uns z.B. ein Name auf der Zunge liegt, wir aber partout nicht darauf kommen. Später, meist zu einem völlig unpassenden Zeitpunkt, wenn wir mit etwas ganz anderem beschäftigt sind und uns der Name überhaupt nichts mehr nützt, fällt er uns dann doch noch ein. In diesem Fall war der Name ganz offensichtlich noch Bestandteil des Gedächtnisses, nur der Zugriff darauf wollte für eine gewisse Zeit nicht gelingen. Was ist aber, wenn wir jemanden treffen, der vorgibt (oder zu Recht behauptet), ein alter Bekannter von uns zu sein, wir uns aber überhaupt nicht an ihn erinnern? Gibt es dann in unserem Gedächtnis keinen „Eintrag“ über diese Person oder haben wir nur keinen Zugriff darauf? Schief gehen kann also einerseits das ursprüngliche Abspeichern im Gedächtnis, das auch als „Enkodieren“ bezeichnet wird. Andererseits kann aber auch der Zugriff auf „eigentlich“ richtig Enkodiertes misslingen. Und damit nicht genug: Neuropsychologen nehmen es ganz genau, wenn sie die am Gedächtnis beteiligten Prozesse untersuchen. So unterscheiden sie auch verschiedene Arten des Zugriffs auf Gedächtnisin56
halte. Der „freie Abruf“ ist dabei der schwierigste, wie jeder weiß, der einmal eine mündliche Prüfung hinter sich gebracht hat. Einfacher ist da schon das „Wiedererkennen“ (Rekognition), bei dem die richtige Erinnerung aus mehreren angebotenen Möglichkeiten ausgewählt werden muss.31 Selbst bei mehr oder weniger gelungenen Erinnerungsversuchen unterscheiden Neuropsychologen noch einmal zwischen zwei Formen: Beim eigentlichen, kompletten Wiedererinnern (englisch: „recollection“) kann man nicht nur auf den gewünschten Inhalt zugreifen, sondern weiß auch noch, wie man an dieses Wissen oder diese Erfahrung gelangt ist. Das heißt, man erinnert sich auch noch an die Episode seines Lebens, in der der jeweilige Gedächtniseintrag entstanden ist. Sie ist somit ein Teil der eigenen Biographie, über den man frei verfügen kann. Zu einer solchen Erinnerung kann zum Beispiel gehören, dass man die Quelle der Information angeben kann, an die man sich gerade erinnert.32 Im Unterschied dazu gibt es andere Situationen, in denen man ein unbestimmtes Gefühl der Vertrautheit (englisch: „familiarity“) mit etwas oder jemandem empfindet. Man spürt also „irgendwie“, dass man irgendwo im Gedächtnis mehr Informationen haben müsste, ohne diese jedoch konkretisieren zu können. In neuropsychologischen Experimenten zur Gesichtererkennung wird dies manchmal mit dem Schlagwort des „Bäcker im Bus“-Phänomens paraphrasiert.33 Wahrscheinlich haben Sie dieses Phänomen selbst schon einmal erfahren: Man sieht ein Gesicht in der Menge und weiß, dass man diese
Im Unterschied zu Quizsendungen entfällt bei neuropsychologischen Experimenten allerdings die Möglichkeit, das Publikum zu befragen oder einen Telefon-Joker zu wählen. Probleme mit dem „Quellengedächtnis“ kann jeder bekommen. Peinlich werden diese, wenn sie zu Plagiatsvorwürfen führen (vgl.: Jokeit H, Grunwald T: Unschuldige Diebe. Weltwoche 13, 2004) oder man jemandem etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat (vgl. Schacter, 2001, S. 465 ff). Im Original handelt es sich eigentlich um einen Metzger (Yovel, Paller, 2004). Ken Paller wird mir aber sicher um der Alliteration willen verzeihen.
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Person kennt. Man kommt aber weder auf ihren Namen noch darauf, wo und wann man sie schon einmal getroffen hat. Die Schwierigkeit, aus einem solchen Vertrautheitsgefühl ein richtiges Wiedererinnern zu machen, wird noch größer, wenn man es gewohnt ist, die betreffende Person normalerweise in einer anderen Umgebung und einer anderen Kleidung zu sehen: Ein Bäcker wird in seiner Bäckerei sicher anders aussehen als im Bus. Angehörige von Berufsgruppen, die – wie ich – normalerweise bekittelt durch den Arbeitstag laufen, werden diesen Umstand außerhalb der Arbeit vielleicht manchmal zu schätzen wissen. Auch sie sind jedoch nicht gegen die Peinlichkeit gefeit, jemanden begrüßen zu wollen, dessen Name ihnen gerade nicht einfällt.34 Diese (und mehr) Teilprozesse des menschlichen Gedächtnisses wurden in unzähligen psychologischen Untersuchungen identifiziert, und sie werden seither immer genauer untersucht. Experimente, die bildgebende und elektrophysiologische Methoden nutzen, suchen zudem meist auch nach dem Ort des Geschehens im Gehirn. Dabei ist die Identifikation von Hirnstrukturen, die an bestimmten Gedächtnisprozessen beteiligt sind, nicht einfach nur etwas Nebensächliches, das allenfalls auch noch nett zu wissen wäre. Das bereits vorhandene Wissen um die Neurophysiologie und zusätzlichen Funktionen einer Hirnregion, die als (auch) an Gedächtnisprozessen beteiligt identifiziert wird, kann einerseits dazu beitragen, den
In Werbesendungen des Vorabendprogramms begegnen wir manchmal Menschen, die offenbar derartige Gedächtnisprobleme haben („Hallo, Herr ... ähh ...“). Dann fragt eine Stimme aus dem Off suggerierend: „Gedächtnisprobleme?“, um gleich eine scheinbar mögliche Erklärung für die Gedächtnisstörung in Form einer weiteren Frage nachzuschieben: „Sauerstoffmangel im Gehirn?“ Als Neurologe möchte man dann gern die Lösung des Problems gleich anbieten: „Dann holen Sie doch einfach mal wieder Luft!“ Aber so ernst ist in diesem Werbespot der Verweis auf den Sauerstoffmangel auch wieder nicht gemeint, denn nicht Atmen wird dort empfohlen, sondern die Einnahme eines nicht verschreibungspflichtigen pflanzlichen Medikaments.
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jeweiligen Prozess selbst besser zu verstehen. Unmittelbar deutlich wird der Nutzen solcher Lokalisationsversuche aber besonders, wenn es darum geht, die neurologische Ursache von Gedächtnisstörungen besser zu verstehen. So haben Untersuchungen der Hippocampusfunktion wie die oben zitierten dazu beigetragen, die Gedächtnisstörungen von Patienten mit einer Temporallappen-Epilepsie besser zu verstehen. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Atrophie des Hippocampus auch bei degenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz eine wichtige Rolle spielt. Die Angst, dass wir alle im Alter „mehr oder weniger“ dement werden, weil unsere Hippocampi durch massiven Zelluntergang unweigerlich schrumpfen, beruht wahrscheinlich auf Befunden aus einer Zeit, als man noch weniger über die Alzheimer-Demenz wusste und nicht sauber zwischen gesunden älteren Menschen und Patienten mit einer – vielleicht auch beginnenden – Demenz unterscheiden konnte. Tatsächlich kommt es im Alter zu Veränderungen im Hippocampus, ein Zelluntergang spielt dabei jedoch kaum eine Rolle (vgl. Albert, Moss, 1996). Über die Bedeutung des Hippocampus für das Enkodieren von Gedächtnisinhalten habe ich in den vorangegangenen Kapiteln ja bereits einiges berichtet. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass er auch am späteren Zugriff auf Inhalte des Gedächtnisses beteiligt ist. Dabei ist er nicht für das unbestimmte Vertrautheitsgefühl zuständig, das die Begegnung mit dem nicht gleich wiedererkannten „Bäcker im Bus“ auslösen kann (Eichenbau et al., 2007). Vielmehr trägt der Hippocampus sein Teil zum bewussten Wiedererinnern von Ereignissen bei, die sowohl in der jüngeren als auch in der weiter zurückliegenden Vergangenheit stattgefunden haben können (Rosenbaum et al., 2001). Seine besondere Leistung scheint darin zu bestehen, dass er Assoziationen zwischen einem einzelnen Gedächtnisinhalt und dem jeweiligen Kontext knüpft, in dem 59
dieser uns begegnet ist (Diana et al., 2007). Aber natürlich schafft der Hippocampus es nicht alleine, komplette Erinnerungen wiedererstehen zu lassen. Dazu braucht es der Mitwirkung einer ganzen Reihe von Hirnregionen – vor allem aber der der Frontallappen (und vielleicht auch ganz besonders der des rechten Frontallappens; vgl. Habib et al., 2003). Dass sich dieser vordere Teil des Großhirns sehr um einen gewünschten Abruf von Gedächtnisinhalten bemüht, sieht man auch auf fMRI-Bildern von Versuchspersonen, denen gerade ein Wort auf der Zunge liegt (Maril et al., 2005). In den Frontallappen finden sich aber auch morphologische Spuren, die das Alter hinterlässt, so dass Gründe für Gedächtnisprobleme in späteren Lebensabschnitten vielleicht auch in dieser Region zu suchen sind. Da wir hier ja auf der Suche nach Methoden der Lebensverlängerung sind, müssen wir uns mit dem Alter noch etwas beschäftigen. Die gute Nachricht ist, dass nicht alle Gedächtnisfunktionen im höheren Alter schlechter werden müssen. Das sprachliche Wissen ist zum Beispiel wohl kaum betroffen. Überhaupt gibt es eine ganze Reihe von Tests, bei denen ältere Versuchspersonen nicht schlechter abschneiden als jüngere, so etwa bei Untersuchungen des Rekognitions-Gedächtnisses, also der Wiedererkennungsleistungen. Eine lesenswerte Einführung hierzu findet sich etwa bei Schacter (2001, 457 ff.), der Befunde zusammenträgt, die darauf hinweisen, dass bei älteren Menschen insbesondere die Gedächtnisfunktionen nachlassen, die vor allem von den Frontallappen getragen werden. In dieser Hirnregion lässt sich auch tatsächlich eine altersabhängige Atrophie nachweisen, die wiederum dazu führt, dass vor allem der freie Abruf von prinzipiell dem Bewusstsein zugänglichen Gedächtnisinhalten, das Quellengedächtnis und auch das prospektive Gedächtnis betroffen sind. Schacter berichtet aber auch, das durch einen „Trick“ beim Einspeichern von 60
Gedächtnisinhalten sowie kleine Hinweisreize beim Gedächtnisabruf, die Defizite ältere Versuchspersonen praktisch zum Verschwinden gebracht werden können. Der Trick beim Einspeichern ist die so genannte „elaborierte“ oder „tiefe“ Enkodierung. Dabei handelt es sich um eine ȭ eigentlich recht einfache ȭ Methode, die wir auch bei elektrophysiologischen Untersuchungen mit Hilfe ereigniskorrelierter Potentiale häufiger einsetzen. Bei solchen Untersuchungen werden die Versuchspersonen manchmal gebeten, sich Wörter einzuprägen. Man kann nun verschiedene Methoden austesten, mit denen man als Versuchsleiter versuchen könnte, die geforderte Behaltensleistung zu unterstützen. Eine davon könnte theoretisch darin bestehen, dass man die Teilnehmer des Tests mit Nachdruck auffordert: „Bitte merken Sie sich die folgenden Wörter!“ Um die Ergebnisse einer ganzen Reihe von Untersuchungen gleich vorwegzunehmen: Das nützt überhaupt nichts! Man kann sich eine solche Aufforderung also getrost sparen.35 Eine bessere Methode ist es dagegen, den Versuchspersonen Fragen zu den Wörtern zu stellen, an die sie sich später erinnern sollen. Dahinter steckt der Gedanke, dass die nun notwendige Auseinandersetzung mit den Wörtern dazu führt, dass diese besser ins Gedächtnis enkodiert werden. Die Auseinandersetzung mit den Wörtern kann aber – je nach Frage – entweder „oberflächlich“ oder „tief“ sein, wobei die „tiefe“ Verarbeitung auch „elaboriert“ genannt wird. Eine nur oberflächliche Verarbeitung kann zum Beispiel durch Fragen nach der Wortform ausgelöst werden, also etwa „Hat das Wort mehr als zwei Silben oder nicht?“ oder „Besteht es nur aus Großbuchstaben oder
Das gleiche gilt im Übrigen auch für die im Alltag oft gehörte Aufforderung „Vergiss bitte nicht …“, dies und jenes zu tun. Wenn man versprechen könnte, etwas nicht zu vergessen, gäbe es kein Vergessen. Diese Aufforderung ist daher genauso sinnvoll wie das „Fall’ nicht!“, mit dem man im Reinland so gerne einen sich gerade ereignenden Sturz kommentiert. (Als Rheinländer darf ich das schreiben.)
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nicht?“ etc. Tiefer oder elaborierter wird die geforderte Verarbeitung, wenn sich die Versuchspersonen inhaltlich mit der Wortbedeutung auseinandersetzen müssen: „Handelt es sich um ein Lebewesen?“, „Passt der Gegenstand in einen Schuhkarton?“ Dass die Fragen selbst meist wenig spannend oder „elaboriert“ daherkommen, liegt daran, dass sie im Rahmen eines Experiments schnell und zuverlässig beantwortbar sein müssen. Selbst derartig simple Fragen verlangen aber bereits, dass die Gefragten, die Wörter zu ihrem Wissen in Beziehung setzen müssen, um eine Antwort geben zu können. Wörter, die so in einen Bezugsrahmen gesetzt werden, die also assoziativ vernetzt werden (wenn auch in sehr beschränktem Maße), werden bereits deutlich besser enkodiert und behalten als nur oberflächlich oder gar nicht weiter verarbeitete. Da lässt sich erahnen, was man mit einem realen Ereignis oder einer realen Information anstellen könnte, um die Behaltenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Vielleicht liegt hier aber auch gerade die Crux mit voranschreitendem Alter. In einer Übersicht über Untersuchungen mit ereigniskorrelierten Potentialen zum episodischen (also auch deklarativen) Gedächtnis zeigen Friedman et al. (2007), dass elektrophysiologische Korrelate des Zugriffs auf Gedächtnisinhalte sich bei jüngeren und älteren Menschen kaum unterscheiden. Die Korrelate des Enkodierens, also des Abspeicherns von Gedächtnisinhalten verweisen aber auf Defizite älterer Menschen speziell in diesem Bereich und deuten darauf hin, dass es hierbei an einer spontanen Elaboration bei der semantischen Verarbeitung mangeln könnte. Salopp ausgedrückt könnte man vermuten, dass ältere Menschen neue Eindrücke eher kurz abhaken als „tief“ zu verarbeiten, was dann wiederum dazu führt, dass sie keinen bleibenden Eindruck im Gedächtnis hinterlassen. Umgekehrt gibt es wiederum einige Daten, die dafür sprechen, dass implizite, also dem bewussten Zugriff und dem sprachlichen Bericht nicht zu62
gängliche Gedächtnisleistungen weniger von Altersprozessen betroffen sind. Auch das semantische Gedächtnis, das erworbene Wissen und die Fähigkeit, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, um Probleme zu lösen, scheint nicht nachzulassen (vgl. wiederum die Einführung von Schacter, 2001, S. 471 ff.). Natürlich bleibt hier noch viel Forschungsarbeit zu tun. Es drängt sich jedoch bereits jetzt sachte die Vermutung auf, dass „die Evolution“ vielleicht gar nicht so schlampig gearbeitet hat. Vielleicht erscheint uns unser kognitives Altern nur als evolutionäre Hudelei, so als ob uns die Evolution aus Nachlässigkeit ein Gehirn beschert habe, das eine Zeit lang ganz gut funktioniert, dann aber einer derartigen Materialermüdung erliegt, dass es nicht mehr durch einen kognitiven TÜV käme. Vielleicht sind unsere Gedächtnisleistungen ja sogar gerade ganz gut auf die Anforderungen in den jeweiligen Lebensphasen zugeschnitten, von der Notwendigkeit eines schnellen Erwerbs vielfältiger motorischer Fähigkeiten und der Sprache über die Herausforderungen der Aufgabe, einen Platz in der Welt für sich zu finden, bis hin zu einer möglichst reibungsfreien Bewältigung des alltäglichen Lebens im mittleren und höheren Lebensalter. Wenn dem so wäre, wäre es auch nicht überraschend, dass das Gehirn einerseits Lebensphasen, in denen es gilt, möglichst viele Ereignisse und Informationen schnell und sicher abzuspeichern, und andererseits Zeiten, in denen häufig wiederkehrende Anforderungen am besten „automatisch“ erledigt werden sollten, mit jeweils einer etwas anderen Betriebsform besser gerecht wird. So wäre es auch verständlich, dass das Gehirn im höheren Alter neuen Ereignissen erst einmal mit der – meist ja auch berechtigten – Skepsis begegnet, dass sie so neu schon nicht sein werden. Sie dann trotzdem ins Gedächtnis zu enkodieren, bedürfte dann in der Tat einer gehörigen Portion Elaboration, um das etwas neue Ereignis in möglichst viele Assoziationen einbinden und einem späteren bewussten Abruf zugänglich machen zu können. 63
Unserem Steilpass aus der ersten Halbzeit zufolge müssten Ereignisse, die wirklich neu, relevant und emotional berührend sind, dann aber auch im höheren Alter bevorzugt Eingang ins Gedächtnis finden; mit anderen Worten: Blitzlicht-Erinnerungen müssten auch dann noch funktionieren. Dieser Vermutung stellt sich nun aber eine erneute, mächtige Abwehrreihe in Form einer Untersuchung von Cohen et al. (1994) entgegen: Hier wurde die Genauigkeit von Blitzlicht-Erinnerungen bei jüngeren und älteren Erwachsenen geprüft und zwar 14 Tage und 11 Monate nachdem diese vom Rücktritt der Britischen Premierministerin Margaret Thatcher erfahren hatten. Ältere Erwachsene schnitten hierbei deutlich schlechter ab als jüngere, und nur 42 % von ihnen (im Vergleich zu 90 % bei den Jüngeren) hatten überhaupt Erinnerungen, die als „flashbulb memories“ klassifiziert werden konnten. Ist der Steilpass nun unwiderruflich gestoppt? Glücklicherweise gab es weitere Studien zu diesem Thema. Davidson und Glisky (2002) untersuchten Blitzlicht-Erinnerungen älterer Menschen am Beispiel der Nachricht von Prinzessin Dianas Tod, und Davidson et al. (2006) gingen der gleichen Frage am Beispiel der 9/11-Katastrophe nach. In beiden Untersuchungen fanden sich keinerlei Hinweise auf Gedächtnisdefizite bei den älteren Versuchteilnehmern. Blitzlicht-Erinnerungen funktionieren also doch auch im höheren Alter. Wie sollen aber nun die Befunde der zuerst zitierten Studie von Cohen et al. interpretiert werden? Auf die Gefahr hin, despektierlich zu wirken: Könnten sie nicht vielleicht sogar Beleg für die „Weisheit des Alters“ sein? Die älteren Versuchsteilnehmer hatten sicher schon mehr Rücktritte von Premierministern erlebt und waren sich einer herausragenden Bedeutung dieses Ereignisses vielleicht gar nicht so sicher.36
Nebenbei: Sind Sie sich sicher, dass dieses Ereignis eine bewegende Katastrophe war?
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Daumendrücken: Geht die Sinfonie bei einem Unentschieden in die Verlängerung? “I remember the time I knew what happiness was” Barbra Streisand: Memory. Erinnerungen können Gefühle hervorrufen. Dass dies sogar pathologische Ausmaße annehmen kann, zeigen die leidvollen Erfahrungen der Patientinnen und Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Die meisten Erinnerungen bringen uns aber emotional nicht so leicht aus der Fassung, was vom Standpunkt eines geordneten Berufs- und Familienlebens ja auch angeraten erscheint. Andererseits wäre es aber durchaus verlockend, Gefühle auf Wunsch und nach Bedarf in sich auslösen zu können, etwa indem man sich einfach an sie erinnert. Insbesondere schöne Gefühle wären ein lohnendes Ziel der Bemühung: zum Beispiel das Kribbeln, das bei frisch Verliebten angeblich durch Schmetterlinge im Bauch verursacht werden soll, das Triumphgefühl nach einer bestandenen Prüfung oder einem gewonnen Wettkampf, das „Heureka“ des Wissenschaftlers, der endlich einen lange gesuchten Zusammenhang verstanden hat, kurz alles, was über die Aktivierung des Belohnungssystems zu einem kräftigen „Dopaminstoß“ führt. Aber auch eigentlich negative Gefühle scheinen durchaus manchmal erwünscht zu sein, sonst wäre es kaum zu verstehen, dass der steigende Verbrauch von Papier-Taschentüchern bei Filmen wie „West Side Story“ oder „Doktor Schiwago“ als Anhalt für deren gute Qualität gelten kann. Sogar der gewünschte Grusel ȭ bis hin zum Schrecken ȭ verbürgt den lukrativen Erfolg einer ganzen Gattung von Büchern und Filmen. Andererseits ist der lukrative Erfolg von Büchern und Filmen, die auf Emotionen abzielen, auch schon ein Hinweis darauf, 65
dass es gar nicht so einfach ist, Emotionen auf Wunsch durch Erinnerungen wieder mit der ursprünglichen Intensität zu erzeugen. Allenfalls können wir auf diese Weise Stimmungen hervorrufen. Versuchen Sie zum Beispiel einmal, sich an eine Episode ihres Lebens zu erinnern, in der Sie heftigen Schmerz empfunden haben. Wahrscheinlich wird es Ihnen gelingen, ein solches Ereignis in Ihrer Autobiographie zu identifizieren, und wahrscheinlich werden Sie sich auch noch einige Details dieser Szene vor Augen führen können. Sie werden sicher noch sehr gut wissen, wie es für Sie war, den Schmerz zu empfinden. Aber Sie werden den Schmerz eben nicht empfinden. Ebenso scheint es mit dem oben erwähnten Gefühl des Triumphs und der in Bann schlagenden frischen Liebe zu stehen.37 Das Belohnungssystem lässt sich zwar durch Erinnerungen anstupsen, für einen vollen Dopaminschub bedarf es aber wahrscheinlich eines kräftigeren Reizes. Möglicherweise spielt auch das Risiko hier eine bedeutende Rolle. Der Spruch „no risk, no fun“ ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Jedenfalls ist das Triumphgefühl nach einem gewonnenen Wettbewerb sicher größer, wenn man ihn auch hätte verlieren können. Fußballfans zittern auch mehr mit ihrer Mannschaft, wenn es wirklich um etwas geht, als wenn ein Freundschaftsspiel zur Vorbereitung der erst noch anstehenden Meisterschaft stattfindet. Und die Erleichterung nach einer überstandenen Krise ist umso größer, je größer die Bedrohung vorher war. Dies gilt auch für frisch Verliebte: Wer einem anderen Menschen seine Liebe zum ersten Mal gesteht, gibt sich eine Blöße, die sehr verwundbar macht. Schließlich könnte die oder der Angebetete ja auch mit Zurückweisung reagieren, und das ist ein ernsthaftes Risiko: Partnerschaftskrisen sind nach wie vor ein häufiger Grund für Suizidversuche.
Paartherapeuten und Scheidungsrichter hätten wahrscheinlich deutlich weniger Kundschaft, wenn es so einfach wäre durch die bloße Erinnerung an die „Werbewochen“, das Liebesgefühl jung zu halten.
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Welche Risiken ein Mensch einzugehen bereit ist, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, zu denen sicher auch gute Gründe gehören. Wer einen nahe stehenden Menschen aus einer Gefahr retten will, wägt kaum vorher ab, ob es sich lohnt, ein Risiko einzugehen. Wenn es ein wirklich großes Ziel ist, zum Mars zu fliegen, steigt man auch in eine Rakete. Und wenn die Liebe groß genug ist, gesteht man sie auch. Derartige Entscheidungen werden uns im Alltag aber nicht allzu häufig abverlangt. Situationen, in denen wir Risiken eingehen, um dem Belohnungssystem die Gelegenheit zu einem Kick zu geben, finden sich viel häufiger in Freizeitbeschäftigungen, etwa bei spielerischen oder sportlichen Wettkämpfen. Die Risiken eines Halma- oder Minigolfspiels sind natürlich geringer als die eines Schwergewichts-Boxkampfs. Aber manche Menschen gehen ja auch lieber spazieren, während andere Extrem-Sportarten bevorzugen. Bungee-Jumping muss ja nicht jedermanns Sache sein. Reduktionistisch ausgedrückt: Wessen Amygdala schnell Furcht signalisiert, um vor möglichen Gefahren zu warnen, wird nur kleine Risiken eingehen wollen und bei deren Überwindung bereits eine intensive Rückmeldung von seinem Belohnungssystem erfahren. Wer jedoch eine Amygdala besitzt, die so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen ist, braucht wahrscheinlich größere Risiken, um sein Belohnungssystem adäquat stimulieren zu können. Polemisch ausgedrückt: Es braucht Helden und Buchhalter. Helden erobern uns neue Territorien, die ordentlich zu verwalten, sie jedoch wenig geeignet wären. Sowohl Buchhalter als auch Helden können jedoch einen „wohligen Grusel“ schätzen, also einen scheinbaren Widerspruch, der sich dadurch auflöst, dass es möglich ist, „etwas“ Furcht zu empfinden, ohne einer wirklichen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Eben dies lässt sich im Lesesessel, Theater- oder Kinoparkett erfahren, wenn es den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern tatsächlich gelingt, Furcht in uns zu erzeugen. Was 67
für die Furcht gilt, gilt auch für andere Gefühle, die wir auf diese Weise als Rezipienten auskosten können. Allerdings nur, wenn die Kunst „klappt“. Rezensionen von Romanen, Konzerten, Filmen, Oper- und Theateraufführungen legen jedenfalls nahe, dass ein Kunstereignis dann gewürdigt wird, wenn es bewegend war. Was uns kalt lässt, fällt dagegen durch. Dass es beim Schreiben von Romanen und Drehbüchern tatsächlich um Emotionen geht, kann man jedem Kurs oder Sachbuch über kreatives Schreiben entnehmen. Auch in der Schauspielkunst spielen Gefühle eine herausragende Rolle, da sie hier glaubhaft, also auch körperlich, dargestellt werden müssen, um sie vermitteln zu können. Schließlich müssen wir als Zuschauer, den auf der Bühne agierenden Personen ihre Gefühle ja abnehmen, um sie teilen zu können. Schauspielerinnen und Schauspieler lernen daher in ihrer Ausbildung, Gefühle darzustellen. Aber müssen Emotionen dazu auf der Bühne auch tatsächlich gefühlt werden? Zumindest eine Methode, nämlich die des von Konstantin Stanislawski inspirierten und von Lee Strasberg entwickelten „Method Acting“ postuliert aber genau dies: „Ein Schauspieler, der nicht im Stande ist, das emotionale Empfinden wiederzubeleben, der innerlich nichts fühlt und nur unter enormem Kraftaufwand zu erröten vermag, muss schließlich die Nasenlöcher erweitern, die Zähne aufeinander pressen und die Stimme anspannen, um uns etwas vorzugaukeln, das gar nicht vorhanden ist.“ (Strasberg, 2000, S. 214) Zumindest mit dieser Methode scheint es also möglich zu sein, mithilfe von Erinnerungen, Emotionen hervorzurufen, und „the method“ scheint noch nicht einmal die einzige zu sein, mit der
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dies guten Schauspielerinnen und Schauspielern gelingt.38 Es bleibt aber festzuhalten, dass den meisten von uns dies zumindest schwer fallen dürfte: Wir mögen uns gut an Zeiten erinnern, in denen wir eine bestimmte Emotion bewusst gefühlt haben („remember the time when happiness was“), aber diese Emotionen – auf Wunsch ȭ wieder entstehen zu lassen, will uns nicht so einfach gelingen. Wenn es einerseits ein so großes Bedürfnis nach Emotionen gibt, uns andererseits aber der freie Abruf von Emotionen aus dem Gedächtnis (der „emotional recall“) so schwer fällt, muss es einen Ersatz dafür geben. Und genau das ist der Hauptzweck der Künste: die Erzeugung von Emotionen auf Wunsch. Das heißt nicht, dass die Künste lediglich ein affektives Geplänkel zu unserer Belustigung veranstalten.39 Vielmehr erfüllen sie aus neuropsychologischer Sicht eine wichtige Aufgabe: In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Forschungsberichten und Büchern erschienen, die an der Bedeutung der Emotionen für das zielgerichtete Handeln und die Entscheidungsfindungen keinen Zweifel lassen (z.B. Damasio, 1994; LeDoux 1996; 2002). Damit wir Emotionen aber für uns nutzbar machen können, dürfen wir uns von ihnen nicht überwältigen lassen, sondern müssen lernen mit ihnen umzugehen. Aber wer würde schon den Umgang z.B. mit Trauer und Furcht dadurch lernen wollen, dass er sich wirklichen Gründen für diese Gefühle aussetzt? Die Kunst ermöglicht uns derartige Übungen mit geringem Risiko, wenn auch nicht ganz ohne Risiko. Der investierte
Möglicherweise hat die Schauspielkunst mit positiven Gefühlen ähnliche Schwierigkeiten wie die Neuropsychologie (vgl. Kapitel 4). Hannelore Hoger und Dietmar Mues, die uns freundlicherweise bei einem Projekt am Schweizerischen EpilepsieZentrum unterstützten, erklärten uns jedenfalls, dass es schwieriger sein kann, auf der Bühne in glaubhaftes Gelächter auszubrechen, als ergreifend zu weinen. Wenn die Musik evolutionär gesehen ein auditiver Käsekuchen wäre, dann wären die Künste eine kognitive Konditorei. Auch nicht schlecht! Aber auf den Käsekuchen kommen wir noch.
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Zeitaufwand kann sich schließlich auch als vergeudet herausstellen, wenn die Aufführung langweilig war. Andererseits können uns Gefühle auch im Theater oder Kino überwältigen, was zumindest peinlich werden kann. Ein gewisses Risiko ist aber auch wieder hilfreich; denn schließlich soll uns das Belohungssystem für die Mühen des Lesens, Hörens oder Schauens ja auch entschädigen. Das tut es selbst dann, wenn uns ein Happy End versagt bleibt, nachdem wir mit den Protagonisten gebangt und geweint haben, wir selbst aber auch diese Krise durch- und überstanden haben. Auch wenn die Künste tatsächlich neuropsychologisch nützlich sind und so auch ihren Platz in der kognitiven Evolution des Menschen haben, so müssen sie doch letztlich (durch Aktivierung des Belohnungssystems) auch Spaß machen. Sonst landen sie im Nachtprogramm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.40 Die Kunstform, für die die Bedeutung der Emotionen wahrscheinlich am wenigsten bestritten wird, ist die Musik, da sie doch „die Sprache der Gefühle“ sein soll. Wahrscheinlich hat jeder schon einmal erlebt, dass Musik Gefühle auslösen kann, auch wenn man sich für unmusikalisch hält. Auf ein paar Tricks, mit denen Musik das schafft, kommt man ja ganz intuitiv. Am einfachsten zu erklären scheint zunächst die oben bereits erwähnte Szene, in der ein Musikstück Erinnerungen weckt („Das ist ja unser Lied“). Ganz so einfach ist die Erklärung dann aber doch nicht, denn das Lied scheint die mit der Episode verknüpften Emotionen zumindest etwas einfacher, besser oder intensiver triggern zu können als deren bloße Erwähnung im Gespräch. Intuitiv erscheint auch, dass Moll-Tonarten eher mit traurigen Gefühlen verbunden zu sein scheinen als Dur-Tonarten, und dass sich ein überwältigendes
Nicht dass Kunst und Künstler nicht auch noch ganz andere Ziele verfolgen könnten! Vielleicht sind manche dieser Ziele sogar ein Grund dafür, dass manche Beiträge im Nachtprogramm landen, die einen ganz anderen Sendeplatz verdient hätten.
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Triumphgefühl eher mit rhythmisch schmetternden Trompeten ausdrücken lässt als mit verhaltenen Bratschen. Natürlich kann das noch nicht das ganze emotionale Geheimnis der Musik sein. Wenn solche Zusammenhänge aber auch musikalisch ungebildeten Laien unmittelbar eingängig erscheinen und alle uns bekannten menschlichen Kulturen über Musik und Tanz verfügen oder verfügten, darf schon gefragt werden, ob es nicht vielleicht doch einen evolutionären Grund für die Musik gibt, ob diese also als Adaptation einen Vorteil für die über Musik verfügenden Lebewesen darstellt. Steven Pinker glaubt das nicht. Vielmehr sei Musik „auditory cheesecake“ (Pinker, 1999, S. 534), von dem wir einige unserer mentalen Fähigkeiten genüsslich kitzeln lassen, auf den wir aber eigentlich auch verzichten könnten.41 Damit meint er natürlich nicht, dass Musik überflüssig sei; das ist Käsekuchen schließlich auch nicht. Pinker argumentiert vielmehr, dass sich Musik quasi nebenher, im Zuge unserer kognitiven Entwicklung ergeben hat, ohne selbst je einen überlebenswichtigen Vorteil für unsere Spezies geboten zu haben. Die Vorliebe für Zucker und Fett hat unsere Vorfahren auf der Suche nach überlebenswichtigen Nahrungsmitteln zweckgerichtet geleitet, und der Erwerb von Sprache hat unserer Spezies zweifelsfrei entscheidende Vorteile in der Konkurrenz mit anderen Lebewesen gesichert. Daraus ergibt sich nach Pinker aber weder ein evolutionärer Grund für das Backen von Käsekuchen noch für die Vorliebe für Musik. Beides mache nur Spaß (wogegen auch Pinker nichts hat). Manche Musiktheoretiker, Neurowissenschaftler und Anthropologen sehen das anders. Eine Theorie hält sich an das von
Haben Sie es bemerkt? Jetzt kommen wir auf den Käsekuchen! Auf das Gedudel kommen wir auch noch.
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Darwin entdeckte Prinzip der sexuellen Selektion, nach der bestimmte Eigenschaften einer Spezies (nicht dem Individuum) Überlebensvorteile verschaffen kann, wenn sie dazu führen, dass besonders vorteilhafte genetische Merkmale eher vererbt werden als weniger zuträgliche. Dazu müssen sich die weiblichen Mitglieder der Spezies zu männlichen Trägern dieser Eigenschaft besonders hingezogen fühlen, wenn diese Eigenschaft ihnen signalisiert, dass der potentielle Paarungspartner besonders fit, schlau, immunabwehrstark oder sonst etwas ist, was den möglichen gemeinsamen Nachkommen Vorteile garantieren kann. Eine solche Eigenschaft kann durchaus auf den ersten Blick unsinnig erscheinen. Das große, farbenprächtige Rad eines Pfaus ist für diesen eigentlich zunächst einmal ja nur hinderlich und kräfteraubend. Wenn er aber so stark und fit ist, dass er sich sogar ein solches „Gimmick“ leisten kann, signalisiert das Rad eine überlegene genetische Potenz, die seiner Spezies zum Vorteil und ihm zum Vergnügen gereichen kann. Das Backen eines Käsekuchens drängt sich nicht unbedingt sofort als vergleichbar mächtige Werbebotschaft in der sexuellen Konkurrenz auf. Musik aber vielleicht doch, denn sie kann signalisieren, dass der Musikmachende nicht nur schlau und kreativ, sondern auch einfühlsam und sorgetragend ist, dass er ein gutes Gedächtnis wie auch Kreativität besitzt und über so viele Ressourcen verfügt, dass er sich solch eine an sich ja nutzlose und zeitraubende Beschäftigung überhaupt leisten kann. (Eine ausführlichere Diskussion dieses Standpunkts finden Sie bei Spitzer, 2002 und Levitin, 2006). Darüber hinaus hat die Musik ȭ im Vergleich zum Käsekuchen ȭ noch einen besonderen Werbevorteil in der Balz, den Daniel Levitin so zusammenfasst: „As a tool for activation of specific thoughts, music is not as good as language. As a tool for arousing feelings and emotions, music is better than language. The combination of the two — as best exemplified in love songs — is the best courtship of all.“ (Levitin, 2006, S. 267). 72
Steven Mithen tritt der Käsekuchen-Theorie mit einer anderen Ansicht entgegen (Mithen 2006). Er glaubt nicht, dass sich Musik irgendwann einmal als zufälliges Beiprodukt der aus evolutionär wichtigeren Gründen entstandenen Sprachfähigkeit des Menschen ergeben hat. Genauso wenig glaubt er, dass musikalische Kommunikation zuerst da war und sozusagen die Grundlage für den Spracherwerb der menschlichen Spezies geschaffen oder zumindest vorbereitet hat. Mithen vertritt vielmehr die These, dass es eine Kommunikationsform gab, die ein gemeinsamer Vorläufer sowohl von Sprache als auch von Musik war und aus der sich beide entwickelt haben. Mithen nennt sie „Hmmmmm“, was er sicher auch onomatopoetisch meint, was aber als Akronym für „holistisch, manipulativ, multi-modal, musikalisch und mimetisch“ steht.42 Reste dieser prototypischen menschlichen Kommunikationsform sieht Mithen u.a. in der Babysprache („infant-directed speech“), mit der sich Erwachsene vieler Sprachgemeinschaften an Kleinkinder wenden. Wie dem auch sei, ob uns die Musik in die evolutionäre Wiege gelegt wurde oder wir einfach so zu Käsekuchen-Junkies geworden sind43, festzuhalten bleibt, das uns Musik emotional mitreißen kann. Sie kann uns, wenn wir uns auf sie einlassen, himmelhoch jauchzen lassen oder zu Tode betrüben. Und dennoch kann sie uns auch ȭ seien wir ehrlich ȭ so langweilen oder auf die Nerven gehen, dass wir den Konzertsaal verlassen oder das Radio ausstellen. Warum eigentlich?
Die Begründung für dieses Akronym sollte man in Mithens Buch (2006) nachlesen. Auch wenn man dem Autor nicht in allen seinen Schlussfolgerungen folgen möchte, wird man die archäologischen und anthropologischen Daten, die sie begründen, faszinierend finden. Wenn Sie mich festnageln wollen, tippe ich auf die erste Option. (Auch die Beantwortung noch offener wissenschaftlicher Fragen kann ein toller Kick für das Belohnungssystem sein.)
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Ob man musikalisch gebildet, mehr oder weniger interessiert oder ganz unmusikalisch ist, das Gehirn kann gar nicht anders, als beim Musikhören so zu arbeiten wie sonst auch, nämlich die eingehenden Informationen mit bereits vorhandenem Wissen und den Erfahrungen in seinen (implizit oder explizit zugänglichen) Gedächtnisspeichern zu vergleichen, um darauf aufbauend Erwartungen darüber zu generieren, wie es wohl weitergehen wird. Auch beim Musikhören produziert das Gehirn also unablässig Vorhersagen über die Zukunft. Wie genau diese ausfallen können, hängt natürlich von der jeweiligen musikalischen Erfahrung ab. Aber auch Nicht-Musiker unternehmen musikalische Zeitreisen in die Zukunft, um so zum Teil recht genaue Erwartungen über Akkorde aufzubauen, die demnächst wohl zu hören sein werden (Koelsch et al., 2000). Musiker wissen, dass auch die Gehirne von musikalisch Ungebildeten nach einem Dominant-Septimakkord, eine Tonika verlangen und überrascht sind, wenn ihnen diese versagt bleibt. Derartige Erwartungen gibt es natürlich auch für Tonfolgen und Melodien. Wenn Sie zum Beispiel jemanden die Tonfolge f-g-a-b-c-b-a-g singen hören, dann werden Sie ohne ein absolutes Gehör wohl nicht die Tonart erkennen, in der da gesungen wurde (F-Dur), Sie werden aber mit Sicherheit darauf warten, dass am Ende noch ein “f” folgt, denn Ihr Gehirn hat längst vorausgesagt, dass die Melodie zum Grundton zurückkehren muss. Ähnliches gilt auch für Rhythmen. Wenn wir bei Ihnen nun mithilfe von EEG-Elektroden ereigniskorrelierte Potentiale ableiten würden, während Sie sich eine Abfolge von Trommelschlägen im Dreivierteltakt wie folgt anhören: 1-2-3|1-2-3|1-2-.|1-2-3|1-2-3 74
dann würden wir mit großer Wahrscheinlichkeit messen können, dass Ihr Gehirn zu dem Zeitpunkt, der im obigen Beispiel durch einen Punkt gekennzeichnet ist und bei dem ein Schlag fehlt, ein so genanntes “P300”-Potential generiert, das hier die elektrische Spur der Entdeckung einer Regelabweichung darstellt. Die hier angeführten Beispiele sind natürlich sehr einfach und werden der Komplexität eines Musikstücks nicht gerecht.44 Selbst diese scheinbar simplen Vorhersagen verknüpft das Gehirn aber mit der Aktivität seines Belohungssystems; schließlich müssen richtige Vorhersagen belohnt werden, auch wenn Sie einfach zu erstellen waren. Viel einfacher geht es dann aber wohl nicht mehr. Wenn etwa ein Lied nur aus Wiederholungen desselben Tons in immer gleicher Lautstärke und Länge bestünde, wäre zwar auch die Vorhersage möglich, dass der nächste Ton wieder derselbe sein wird. Das Gehirn würde hier jedoch wohl bald die Strategie wechseln und die Tonfolge nicht mehr als Lied behandeln, sondern als eine in Zukunft vernachlässigbare Signalsequenz.45 Damit sie interessant bleibt, muss Musik also Erwartungen entstehen lassen, um diese einerseits zu erfüllen und uns eine dopaminerge Belohnung zu gönnen, um andererseits auch immer mal wieder gegen sie verstoßen zu können. Wenn das Risiko der falschen Vorhersage danach wächst, wird die dopaminerge Belohnung beim nächsten Treffer umso größer. In geschulten Händen und begabten Köpfen ist durch ein solches Spiel mit musikalischen Erwartungen aber viel mehr zu erreichen, als die Zuhörer lediglich bei der Stange zu halten. David Huron hat in einem beeindruckenden Buch dargestellt, wie Musik durch den Aufbau von Erwartungen und Spannungen, das Herauskitzeln von Vorhersagen über die unmittelbare musikalische Zukunft und schließlich dadurch, dass
Na gut: der Komplexität der meisten Musikstücke Auch hierfür gibt es spezialisierte Filtersysteme. Vgl. z.B. Grunwald et al., 2003.
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sie diese Vorhersagen erfüllt oder ihnen die Erfüllung verweigert, einen großen Reichtum von Emotionen hervorrufen kann (Huron, 2006). Dass das Belohnungssystem des Menschen durch Musik direkt aktiviert wird,46 haben Menon und Levitin (2005) gezeigt, die ihre Versuchspersonen mit dem fMRI untersuchten, während diese klassische Musik hörten. Gilt dann aber auch für das Musikhören das bereits oben zitierte „No risk, no fun“? Levitin glaubt, dass wir uns beim Musikhören in der Tat einem Risiko aussetzen, wenn wir uns z.B. einem klassischen Komponisten oder auch populären Musikern ausliefern: „We allow them to control our emotions and even our politics — to lift us up, to bring us down, to comfort us, to inspire us. We let them in our living rooms and bedrooms when no one else is around. We let them into our ears, directly, through earbuds and headphones, when we’re not communicating with anybody else in the world. It is unusual to let oneself become so vulnerable with a total stranger.“ (Levitin 2007, S. 243)47 Wie erwähnt, liegt ein weiteres, wenn auch auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz so bedrohliches Risiko darin, dass man sich die Zeit nehmen kann, ein Musikstück aufmerksam anzuhören, nur um dann feststellen zu müssen, dass man überhaupt nichts damit anfangen konnte und seine Zeit gerade vergeudet hat. Um zu erklären, warum man mit manchen Arten von Musik besser zurechtkommt als mit anderen, beruft sich Levitin auf Berlynes Hypothese vom „umgekehrten U“ (Berlyne DE, 1971). Eine Kurve in Form eines umgekehrten Us erhält man danach,
speziell der Nucleus accumbens und das ventrale Tegmentum Wenn man sich ein wenig für Neuropsychologie oder Musik interessiert oder ein Fan von Joni Mitchell ist (vielleicht nicht so sehr, wenn man ein Fan von Jaco Pastorius ist), sollte man dieses Buch lesen. Andererseits –, wenn man ein Fan von Jaco Pastorius ist, sollte man dieses Buch vielleicht erst recht lesen.
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wenn man die Komplexität von Musikstücken gegen den Gefallen daran abträgt, den die Musik in uns erweckt. „Komplexität“ lässt sich hier zwanglos in die Möglichkeit übersetzen, bewusst oder unbewusst Erwartungen und Vorhersagen über den weiteren Fortgang des jeweiligen Musikstücks zu bilden: Was völlig vorhersagbar ist, ist langweilig, und unser Gefallen daran nähert sich der Nulllinie.48 Mit steigender Komplexität wächst die Herausforderung für zutreffende Vorhersagen. Unsere Erwartungen werden manchmal erfüllt, manchmal werden wir aber auch überrascht. Mit der Anforderung wächst auch unser Interesse, und das Gefallen nimmt zu. Was jetzt beim Hören geschieht, beschreibt Levitin am Beispiel des Rhythmus’ wie folgt: „Whether it is the first few hits of the cowbell on ‚Honky Tonk Women‘, or the first few notes of ‚Sheherazade‘, computational systems in the brain synchronize neural oscillators with the pulse of the music, and begin to predict when the next strong beat will occur. As the music unfolds the brain constantly updates its estimates of when new beats will occur, and takes satisfaction in matching a mental beat with a real-inthe-world one, and takes delight when a skillful musician violates that expectation in an interesting way — a sort of musical joke that we’re all in on.“ (Levitin, 2007, S. 191). Irgendwann einmal ist aber ein Punkt erreicht, an dem zu viel von uns verlangt wird, weil die Musik etwa zu fremdartig für uns ist oder sie uns zu wenige melodische, harmonische oder rhythmische Anhaltspunkte für sinnvolle Prognosen gibt. Hier nimmt unser Gefallen an der Musik wieder ab und nähert sich dann, wenn keinerlei sinnvolle Vorhersagen mehr möglich sind wieder dem Nullpunkt. Wo genau der Scheitelpunkt dieser Kurve liegt, ist natürlich individuell sehr verschieden und hängt viel von den unterschiedlichen Hörerfahrungen ab. Darin müssen sich
Wenn Sie z.B. jemandem zuhören müssen, der auf einem x-beliebigen Instrument Tonleitern übt, wird ihr Interesse möglicherweise einmal nachlassen.
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natürlich auch Profis von Laien unterscheiden. Aber es gibt sicher einen Bereich, in dem alles für alle völlig vorhersehbar ist, so dass das Risiko einer Vorhersage gleich Null ist ȭ und es deshalb auch keine dopaminerge Belohnung gibt, wenn das Unvermeidliche eintritt. So etwas gibt es auch beim Sport, wenn auch glücklicherweise selten. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Fußball-Geplänkel aus dem Vorwort. Der Hintergrund ist folgender: Bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien spielten Österreich und Deutschland in einer Vorrundengruppe, zu der auch Algerien und Chile gelost worden waren. Vor dem letzten Spiel dieser Gruppe, in dem Österreich und Deutschland aufeinander trafen, war der Tabellenstand so, dass Deutschland unbedingt gewinnen musste und Österreich nicht hoch verlieren durfte, wenn beide die nächste Runde erreichen wollten. Nach dem 1:0 für Deutschland in der 11. Minute stellten beide Mannschaften das Fußballspielen praktisch ein und schoben nur noch den Ball hin und her, bis der Abpfiff dem grausamen Geschehen ein Ende machte. Dass hier ein Nichtangriffspakt geschlossen worden war, wurde allen Zuschauern schnell klar, und irgendwann stellte sogar der Reporter des Ersten Deutschen Fernsehens seinen Kommentar ein.49 Spätestens ab jetzt war also kein Mitfiebern, keine sinnvolle Möglichkeit einer Prognose mehr möglich. Das ist es, was ein Gedudel ausmacht: Die Notwendigkeit einer Zeitreise in die Zukunft hat sich erübrigt. Es gibt keinen Grund mehr für das Gehirn, Erwartungen zu generieren und keine Möglichkeit, durch eine zutreffende Prognose sein Belohnungssystem zu aktivieren. Was dann folgt, ist der Erinnerung nicht mehr wert.
Nähere Informationen zu diesem Gedudel finden sich bei Wikipedia unter
.
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Eine Sinfonie kann sich das nicht leisten, so dass nun auch die Frage aus der Kapitelüberschrift beantwortet werden kann: Bei einer Sinfonie darf es kein Unentschieden geben. Sie muss am Ende eine Entscheidung herbeigeführt haben, die uns entweder betrübt wie Tschaikowskys Sechste oder jubeln lässt wie Beethovens Neunte. Die Sinfonie kann nicht in die Verlängerung gehen: Wenn sie eine Verlängerung bräuchte, war sie Gedudel.
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Z e i t sp i e l ( C -D ur) “... and the movies that we know may just be passing fancies and in time may go.” Billie Holiday: Our love is here to stay. Wenn uns ein Musikstück in Bann schlägt, kann es sein, dass wir gar nicht merken, wie die Zeit vergeht. Bei einem Fußballspiel kann uns die Zeitwahrnehmung ebenfalls einen Streich spielen, vor allem, wenn das Spiel kurz vor Schluss auf der Kippe steht. Wie sich die Zeit verformt, hängt dann aber davon ab, mit welcher Mannschaft man fiebert: Ist man ein Fan der Mannschaft, die knapp führt und den möglichen Sieg unbedingt über die Zeit retten muss, so scheint sich eben diese Zeit zu ziehen wie Gummi. Unterstützt man hingegen die Mannschaft, die dem so wichtigen Ausgleich hinterher rennt, so scheint die Zeit zwischen den Fingern (oder besser: den Füßen) zu zerrinnen. Zur Zeitwahrnehmung und ihrer Veränderung durch körperliche oder psychische Einflüsse gibt es zahlreiche Studien, die zurzeit überwiegend folgendes kognitive Modell der Zeitwahrnehmung favorisieren: Ein innerer Taktgeber produziert subjektive Zeiteinheiten, die in einem Akkumulator gesammelt werden. Je mehr dieser Takte sich in einer bestimmten Zeitspanne ansammeln, desto länger erscheint diese Zeitspanne in der subjektiven Wahrnehmung. Daher führt eine Beschleunigung des Taktgebers, z.B. durch Fieber (Wearden, Penton-Voak, 1995) oder durch Drogen wie Kokain (Meck, 1996) zu einer subjektiven Verlangsamung der Zeit. Zwischen dem Taktgeber und dem Akkumulator gibt es jedoch noch einen Schalter, dessen Stellung vom Inhalt der Aufmerksamkeit abhängt. Wenn wir von einem Ereignis völlig absorbiert sind, ist der Schalter geöffnet, so dass kaum ein Signal des Taktgebers in den Akkumulator gelangt. Die verstrichene Zeitspanne erscheint daher äußerst kurz. 80
Lenkt uns jedoch nichts ab, so dass unsere Aufmerksamkeit ganz auf die vor sich hintickende Zeit gerichtet ist, so ist der Schalter geschlossen, und jedes einzelne Signal des Taktgebers wird gesammelt, mit der Folge, dass sich die Zeit immer länger zu dehnen scheint (Pouthas, Perbal, 2004). Aber nicht nur äußere Ereignisse können die Zeitwahrnehmung beeinflussen, sondern auch emotionale Erlebnisse (Droit-Volet S, Meck, 2007) und Persönlichkeitsmerkmale (Wittmann, Paulus, 2008). Ein Problem derartiger Studien ist allerdings, dass bei ihnen in der Regel nur kürzere Zeitabschnitte von wenigen Sekunden bis Minuten beurteilt werden müssen, so dass nicht klar ist, inwiefern sie auch für längere Zeitabschnitte wie Stunden oder Tage gelten. Dies sind jedoch Zeiträume, die retrospektiv in unserem Gedächtnis größere Bedeutung haben. Beispiele für hier auftretende scheinbare Zeitparadoxa hat jeder schon einmal erlebt: Ein Tag, den man überwiegend mit Warten verbringt, etwa in Flughäfen, Bahnhöfen, Wartezimmern oder Behörden, scheint nicht enden zu wollen, solange er dauert. Retrospektiv ist dieser Tag jedoch so gut wie nicht mehr existent. Oder: ein kurzer Urlaub, in dem man viel erlebt, vergeht wie im Fluge. Er hinterlässt jedoch Erinnerungen, die ihn im Nachhinein viel länger scheinen lassen, als einen anderen, tatsächlich längeren Urlaub, der jedoch von langweiligen Tagen angefüllt war. Während sich in diesem misslungenen Urlaub die Tage bis zur letztlich sogar herbeigesehnten Heimreise nur so hinzogen, schnurrt diese Zeit in der Erinnerung zu einem unwesentlichen Augenblick unserer Autobiographie zusammen. Das scheinbare Paradoxon erklärt sich dadurch, dass unser aktuelles Zeitempfinden maßgeblich von dem oben beschriebene Aufmerksamkeitsprozess abhängt: Wenn viel Interessantes geschieht, absorbieren uns die Ereignisse und wir schenken der Zeit keine Beachtung. Wenn nichts passiert, ist unsere Auf81
merksamkeit auf den Ablauf der Zeit selbst gerichtet, die sich dadurch scheinbar ausdehnt. Genau umgekehrt erscheint eine Zeitspanne von Stunden oder Tagen in der nachträglichen Beurteilung umso länger, je mehr darin passiert ist.50 Genauer gesagt kann die nachdrückliche Beurteilung jedoch eigentlich gar nicht zum Maßstab haben, was wirklich passierte, sondern nur das, woran man sich erinnert. Wenn zwar viel passierte, was man inzwischen jedoch wieder vergessen hat, wird der fragliche Zeitraum retrospektiv kaum länger erscheinen, als einer, in dem sich nichts ereignete. Das ist also der neuropsychologische Hintergrund von Márquez’ Urteil „Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert.“ (Márquez, 2004). Und damit kommen wir auch zu der eher einfachen als mystischen Schlussfolgerung, die aus den hier berichteten Erkenntnissen der Gehirnforschung zu ziehen ist: An der somatischen Front des Kampfes um die Lebensverlängerung hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Aber das biologische Material, aus dem wir bestehen, hat letztlich nur eine begrenzte Haltbarkeit, und ich würde nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Forschung auch nicht allzu viel darauf wetten, dass sich diese Grenze noch überraschend weit nach hinten schieben lässt. Vielleicht musste die Evolution ja auch notwendige Kompromisse eingehen bei der Konstruktion eines Organismus, der im Vergleich zu anderen immerhin zu einigen überraschenden Leistungen fähig ist. Vielleicht muss man das auch berücksichtigen, wenn man seine Wünsche an eine künftige Biologie und Medizin formuliert. Ein Mammutbaum kann schließlich 3000 Jahre alt werden – aber wären Sie gerne einer? Sinnvoller und erfolgversprechender erscheint dagegen der Versuch einer Verlängerung des gelebten Lebens
Vergleiche hierzu auch Pöppel, 1997.
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durch eine Verlängerung des erinnerten. Für H.M. jedenfalls, den Patienten, der durch Entfernung seiner beiden Hippocampi einen Gedächtnisverlust erlitt, haben die vergangenen 50 Jahre nicht existiert. Eine Verlängerung seines Lebens um diese 50 Jahre würde er sicher freudig begrüßen. Ein spekulatives Abwägen, ob ihm dies vielleicht sogar lieber wäre als eine Verlängerung seines Lebens ohne Gedächtnis um weitere 50 Jahre halte ich dagegen für zynisch und nicht geboten. Festzuhalten bleibt aber, dass eine Verlängerung des erinnerten Lebens möglich erscheint. Es fragt sich nur wie! Im Nachhinein können wir nicht mehr viel ausrichten, denn Erinnerungen, die nicht gebildet wurden, lassen sich auch nicht mehr Abrufen, da hilft auch kein Nachtrauern. Überlegen wir lieber nach einem bereinigenden „Futsch ist futsch“, was man prospektiv tun kann, um jetzt mit dem Projekt der Lebensverlängerung zu beginnen. Mnemotechnische Methoden, wie sie Rhetoriker und Gedächtniskünstler benutzen, um Inhalte von Reden oder riesige Listen sonst kaum zu behaltender Einzelfakten im Gedächtnis zu behalten, sind bewundernswert, und zweifelsfrei gibt es eine ganze Reihe von Zwecken, für die man sich wünschen würde, solche Techniken zu beherrschen.51 Ich befürchte nur, dass sich ein individuelles Lebensereignis gegen die Umwandlung in eine zu memorierende Listennotiz sträuben könnte. Eine – bei weitem nicht alle Probleme lösende, jedoch zumindest auch hilfreiche – Strategie wäre es dagegen, sich zu überlegen, welche Ereignisse eine größere Wahrscheinlichkeit haben, im Gedächtnis haften zu bleiben, und welche Ereignisse weniger geeignet sind, bleibende Spuren zu hinterlassen. Vielleicht gelänge es dann ja sogar, erste etwas häufiger zu suchen und letztere etwas öfter zu meiden.
Das kann man ja auch, denn mit entsprechender Anleitung sind sie zu erlernen. Wenn Sie also geeignete Zwecke, die entsprechende Motivation und Zeit haben, sollten Sie nicht zögern…
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Es wird Sie nicht völlig überraschen, wenn ich die Fußball-Europameisterschaft (EM) als ein Beispiel für die Art von Episoden ins Feld führe, die, wenn Sie sich darauf einlassen, eine respektable Chance haben, zu einem Bestandteil Ihrer Erinnerungen zu werden und so zumindest einen Teil Ihres Lebens während der entsprechenden Zeit dauerhaft für Sie zu retten. Wie bei den in Kapitel 5 angesprochenen Papstwahlen und Olympischen Spielen handelt es sich auch bei der EM um ein periodisch mit großem Aufwand zelebriertes Ritual mit zyklisch (überwiegend) neuen Protagonisten, denen man die Daumen drücken kann. Über die aktuellen Chancen der beteiligten Mannschaften lässt sich trefflich streiten, so dass auch die Erwartungen und Zukunftsszenarien in den Gehirnen der Fans und Zeitzeugen nicht ganz ohne Risiko gebildet werden können, was aber auch wieder gute Voraussetzungen für deren emotionale Beteiligung und – im Erfolgsfall – eine gebührende Aktivierung des Belohnungssystems verbürgt. Neuheit und Emotionen wären also vorhanden, um eine angemessene Beteiligung des hippocampalen Gedächtnissystems zu vermitteln. Der Relevanz des Ereignisses käme es sicher zugute, wenn Sie sich entweder für Fußball interessieren und/oder sich entschließen könnten, einer der konkurrierenden Mannschaften die Daumen zu drücken. Aber selbst wenn Ihnen das schwer fiele, könnten Sie sich immer noch von der Stimmung und Begeisterung anderer (schlimmstenfalls auch der Trauer der Ausgeschiedenen) anstecken lassen. Als Bonus bietet schließlich auch noch das Drumherum gute Anlässe für gedächtnisrelevante Notizen.52 Wie Sie der Titel dieses Buches möglicherweise bereits vermuten ließ, halte ich den Musikantenstadl dagegen nicht für ein besonders gutes Beispiel eines gedächtnisrelevanten Er
Nicht nur, aber besonders natürlich vor Ort. Nebenbei ist Zürich auch dann ein gedächtnisgängiges Reiseziel, wenn sich gerade keine Fan-Meile am Zürichsee befindet.
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eignisses. Überwiegend werden Sie dort natürlich Musik hören, die jedoch auf dem im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Diagramm ziemlich in der Nähe des Ursprungs eingetragen werden müsste. Die Komplexität der dort vorgetragenen Volksmusik ist schließlich in der Regel ganz bewusst so gering gehalten, dass selbst – und gerade – Zuhörer mit wenig musikalischer Vorbildung kaum Mühe haben werden, Erwartungen hinsichtlich des Fortgangs der jeweils gehörten Lieder zu generieren. Das „Risiko“ der Musik des Musikantenstadls ist also gering, mithin aber auch die Möglichkeit, eine „Dopamindusche“ aus dem Belohnungssystem des Gehirns zu erwarten. Was für die Musik gilt, gilt auch für die übrige Inszenierung: Dessen Programm und auch die vorhersehbaren humoristischen Wortbeiträge setzen – bewusst – ebenso wenig auf Risiken und bieten somit keine Überraschungen. Nicht nur die Musik des Musikantenstadls bietet somit wenig Herausforderungen für ein Zukunftsentwürfe generierendes Gehirn, und Neuheit und Relevanz dieser Veranstaltung geben dem hippocampalen Gedächtnissystem wenig Anlass, dauerhafte Gedächtniseinträge zu enkodieren. Es bleibt die Frage nach der emotionalen Relevanz des Musikantenstadls. Über eine Aktivierung des Belohnungssystems des Gehirns kann er diese schwerlich gewinnen, denn selbst die noch möglichen Erwartungen und Zukunftsprognosen der Zuschauer werden mit so großer Sicherheit bedient, dass eine risikoabhängige Dopaminausschüttung allenfalls gering ausfallen kann. Das wird von den Produzenten dieser Veranstaltung aber wohl auch bewusst und billigend in Kauf genommen. Der Verzicht auf kognitive Risiken suggeriert andererseits ja ein gewisses Maß an Sicherheit: Im Musikantenstadl ist nicht mit unliebsamen Überraschungen und Aufregungen zu rechnen. Eine solche Strategie spricht nicht zuletzt emotionale Bedürfnisse älterer Zuschauer an, denen andere Aspekte des alltäglichen 85
Lebens – zu Recht – durchaus unsicher und bedrohlich erscheinen mögen. Damit nutzt der Musikantenstadl aber Aspekte des Gedudels, die sich als evolutionär so nützlich erwiesen haben, dass es sie noch heute gibt. Mithen (2006) fast überzeugend die Argumente dafür zusammen, dass bereits (weibliche) Vorfahren des Homo sapiens prälinguistische melodische Kommunikationsformen benutzt haben müssen, um Kleinkinder zu beschwichtigen, ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und sie in den Schlaf zu wiegen; melodische Ausdrucksweisen, wie sie sich auch heute noch in der an Kleinkinder gerichteten Babysprache (infant-directed-speech) wieder finden lassen und die möglicherweise Ursprung der Wiegenlieder waren. Solche melodischen Kommunikationsformen sind nicht zukunftsgerichtet. Sie verweisen auf emotionale Geborgenheit und Sicherheit jetzt und hier. Für den erwachsenen Rezipienten sind sie dadurch aber Gedudel, so berechtigt, sinnvoll und gut sie auch sein mögen.53 Die zitierten Untersuchungen zum Gedächtnis älterer Menschen haben gezeigt, dass sich diese mit größerer Sicherheit auf ihr Gefühl der Vertrautheit („familiarity“) als auf das bewusste Wiedererinnern („recollection“) verlassen können. Wir haben aber auch gesehen, dass sie Letzteres deutlich verbessern können, wenn sie neue Ereignisse im Moment des Geschehens „elaboriert“ oder „tief“ enkodieren, dass heißt, sich inhaltlich mit ihnen auseinandersetzen und es so in Bezug setzen zu anderen Inhalten ihres Wissens und ihrer Erfahrung. Dies zu tun, legt das Gedudel aber gerade nicht nahe, da es ja an Vertrautheitsgefühle appelliert und sich gegen eine zukunftsgerichtete kognitive Verarbeitung sperrt.
Das schließt nicht aus, dass aus dem Wiegenlied auch Kunstformen entstehen können, die alles andere als Gedudel sind!
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Unser Match soll nun nicht in den Aufruf münden, den Musikantenstadl tunlichst zu meiden und auf jeden Fall die nächste Fußball-EM zu verfolgen. Es sollte aber das Ergebnis haben, dass es sich lohnt gedächtnisrelevanten Ereignissen einen gebührenden Platz im Leben einzuräumen. Nur die Alltagsroutine zu bewältigen kann das erinnerte Leben schrumpfen lassen. Und die zur Erholung in Gedudel investierte Zeit kann sich letztlich als geraubte Zeit erweisen. Ob Sie Ihre Zeit nun eher in den Musikantenstadl oder die Fußball-EM investieren, muss ich Ihnen überlassen, da Relevanz immer auch von persönlichen Interessen abhängt. Wenn Sie sich aber gegen die Fußball-EM entscheiden, wird die TRACE-Reihe noch um den einen oder anderen Band erweitert werden müssen, der sich dann mit der Handball-EM oder der Fußball-Weltmeisterschaft befassen wird.
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Nach dem Abpfiff. Bewusstsein und Gedudel: zwei kulturelle Errungenschaften “So what?” Miles Davis: Kind of Blue Nach der Fernsehübertragung eines Fußballspiels treten wieder die Experten und Fußballphilosophen zusammen, die man bereits in der Halbzeitpause fürchten gelernt hat. Dies gibt den Fußballkennern vor dem Bildschirm dort und den philosophisch gebildeten Lesern hier die Gelegenheit, erneut den Weg zum Kühlschrank anzutreten. Währenddessen erlaube ich mir noch ein wenig Feierabendphilosophie für die noch Unverdrossenen. Schließlich gilt es noch, einen Widerspruch aufzuklären, den das nun abgepfiffene Match offen gelassen hat: Den biologischen Zweck des Gedächtnisses habe ich als den beschrieben, zukunftsgerichtete Problemlösungsstrategien zu ermöglichen – egal, ob diese bewusst oder unbewusst zum Einsatz kommen. Die empfohlene Methode der Lebensverlängerung benutzt Gedächtnisinhalte jedoch zum bewussten Rückblick auf das gelebte Leben – egal, ob dies nun Nutzen für die Zukunft bringt oder nicht. Ist das deklarative Gedächtnis, so verwendet, dann nicht doch nur ein vergnügliches Gimmick, ein „iMemory“ für Alte, ein kognitiver Käsekuchen? Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die Bedeutung des Bewusstseins für unsere alltäglichen Leistungen deutlich überschätzt wird. Dass man komplexe Handlungen wie das Fahren einer vertrauten Strecke manchmal zustande bringt, ohne sich danach daran zu erinnern, und dass Spitzensportler und Konzertvirtuosen ihre besten Leistungen oft erreichen, wenn sie ihr Handeln nicht bewusst steuern, verweist bereits darauf, was 88
man ohne bewusste Kontrolle zu leisten in der Lage sein kann. Dazu passt auch die Videoaufnahme eines Anfalls, den ich im Unterricht gerne zeige. Dabei ereignet sich bei einem jungen Mädchen eine Absence, während sie gerade Wasser aus einem Glas trinkt. Sie verschluckt sich, hustet und führt dabei höflich die Hand vor den Mund. Nun ist dieser Anfall aber ein generalisierter, der also das ganze Gehirn betrifft und zur Bewusstlosigkeit führt. Bei den Studenten heimse ich meist einen Lacher ein, wenn ich kommentiere, dass Schweizer Kinder offenbar so gut erzogen sind, das sie selbst dann noch höflich sein können, wenn sie bewusstlos sind. Tatsächlich ist diese Bemerkung aber ganz ernst gemeint: Offensichtlich war die Geste, beim Husten die Hand vor den Mund zu führen, bei dieser Patientin so gut eingeübt, dass sie auch dann noch funktionierte, wenn die für das Bewusstsein zuständigen Regionen des Gehirns durch den Anfall kurzfristig ausgeschaltet waren. Aber nicht nur höfliche Gesten können so gut eingeübt werden, dass sie automatisch abrufbar sind. Für manche Expertenentscheidungen (ganz besonders auch in der Medizin) erscheint es geradezu charakteristisch, dass sie „aus dem Bauch heraus“ getroffen werden, weshalb Expertenwissen ja auch so notorisch schwierig in regelgeleiteten Computer-Expertensystemen abzubilden ist. Wenn das Bewusstsein – zumindest nach entsprechendem Training und/oder ausreichender Erfahrung – für manche komplexe Handlungen also offenbar nicht (mehr?) notwendig ist, so wird verständlich, dass manche Neurophilosophen mit gutem Grund die Ansicht vertreten, dass es „das Bewusstsein“ eigentlich gar nicht gibt, oder wenn, dann als Reim, den wir uns auf das machen, was längst schon passiert ist. Das gleiche gilt für den „freien Willen“, der unsere Handlungen steuert – oder eben
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nicht.54 Neuropsychologisch lässt sich jedenfalls nicht leugnen, dass wir im Laufe unseres Lebens zu Experten des Alltags werden, beruflich wie privat. Vieles, was uns abverlangt wird, beherrschen wir mit der Zeit so gut, dass es des bewussten Abwägens der als Nächstes erforderlichen Handlungen gar nicht mehr bedarf. So ist es auch verständlich – und neurobiologisch sinnvoll – dass die Bedeutung des expliziten (deklarativen, also berichtsfähigen) Gedächtnisses gegenüber der des impliziten (also nicht unmittelbar bewusst zugänglichen) Gedächtnisses mit zunehmendem Alter in den Hintergrund tritt. Ob das, was wir so leisten, noch zu uns gehört oder nicht, hängt, um mit Dennett (1993) zu sprechen, davon ab, wie klein wir uns machen wollen. Wenn alles, was wir zumindest prinzipiell automatisch können, also körperlichen (und damit letztlich Gehirn-) Funktionen zuschreiben müssen, nicht mehr zu dem gerechnet werden darf, was „uns“ ausmacht, so bleibt nicht mehr viel übrig, über das man sich neuropsychologische Gedanken machen kann.55 Neuropsychologisch oder -physiologisch lässt sich das philosophische Problem des Bewusstseins jedenfalls nicht lösen. Praktisch stellt es sich uns aber auch nicht, da die Existenz des Bewusstseins sozial verbürgt ist und wir gar nicht anders können, als mit uns und anderen als bewussten Wesen umzugehen. In dieser sozialen Verankerung bekommt die bewusste Lebenserinnerung jedoch eine neue neurobiologische Bedeutung: Wenn das gelebte und erinnerte Leben deklarativ,
Ich muss betonen, dass ich philosophische Argumente für die eine oder andere Position hier weder zitiere noch bewerte. Wer daran interessiert ist, muss sich schon die Mühe machen, Texte zu lesen, die vor dem Feierabend geschrieben wurden. Anmerken möchte ich aber schon, dass der praktische Standpunkt, dass man selbst schon lange kein Bewusstsein und keinen freien Willen mehr habe, bei Angehörigen anderer Berufsgruppen als der eines Philosophen oder Schriftstellers eher zu einer nach ICD-10 oder DSM-IV zu klassifizierenden Diagnose als zu Zitaten in Publikationen führt. Würde der Mensch dann zu einer Chimäre aus einem Engel und einem Zombie? Von Engeln könnte ich jedenfalls nicht sprechen und müsste über sie schweigen.
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also berichtsfähig ist, kann es nachfolgenden Generationen mühselige Lernarbeit ersparen. So gesehen ist das Geschichtenerzählen eine evolutionäre Adaptation und der Appell, erinnerungsrelevante Ereignisse zu suchen und (elaboriert) zu genießen, nicht nur ein Aufruf zum privaten Vergnügen, sondern zur kulturellen Transmission.56 Wenn wir nun am Ende schon beim Geschichtenerzählen gelandet sind, möchte ich eine noch anfügen: Während meines Medizinstudiums habe ich mein Pflegepraktikum in der Gerontopsychiatrie absolviert. Einer unserer Patienten war in seinem früheren Leben Cellist in einem berühmten Sinfonie-Orchester gewesen und lag nun aufgrund einer degenerativen Hirnerkrankung dement und bewegungsunfähig in seinem Bett. Als ich eines Morgens meinen Dienst antrat, hatte ihn vorher eine Krankenschwester gewaschen und gebettet. Bei ihrer Arbeit hatte sie im Radio auf dem Nachttisch einen Sender mit Pop-Musik eingestellt, die noch lief, als ich in das Zimmer kam. Ich hatte den Eindruck, dass unser Patient diese Musik nicht sonderlich schätzte. Also suchte ich einen Sender, der gerade klassische Musik brachte. Damals war ich überzeugt (oder zumindest biegt es sich meine – damals nicht elaborierte – Erinnerung nun so zurecht), dass der Mann dankbar lächelte. Das mag durchaus eine Fehleinschätzung sein. Ich bin aber überzeugt, dass die passende Musik in Krisenzeiten hilfreich sein kann. Besser noch wäre es natürlich, wenn die melodische Zuwendung nicht aus dem Radio, sondern von einem Menschen käme. Das Gedudel der infant-directed-speech haben wir alle erfahren. Und es gibt auch im späteren Leben Zeiten für Gedudel. Das
Ganz persönlich möchte ich anfügen, dass es anregend ist, über ein explizites Gedächtnis zu verfügen und sich an seinem Leben erfreuen zu können. Ich kann nicht beweißen, ob Bewusstsein kognitiver Käsekuchen ist oder nicht. Mir macht meines aber Spaß, ob ich eins habe oder nicht.
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sind in der Regel nicht zukunftsorientierte Zeiten, Zeiten der Erschöpfung oder der Krise. Die ultimative nicht zukunftsorientierte Zeit ist natürlich das eigene Sterben. Wenn ich soweit bin, werde ich mir jedenfalls liebendes Gedudel wünschen. Und wenn das dann Musik des Musikantenstadls sein sollte, so soll mir bloß niemand mit dem Einwand kommen, dass sei keine Kunst!
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Anhang: 10 Tipps zur Lebensverlängerung 1. Schwelgen Sie nicht in „1000 places to see before you die“, sondern suchen Sie sich einen Ort aus und fahren Sie hin. Überlegen Sie sich aber auch, warum Sie gerade dorthin wollen und handeln Sie entsprechend. Wenn es zum Beispiel die Uffizien in Florenz sind, die Sie sehen wollen, fahren Sie nicht einfach hin, um dann festzustellen, dass die endlosen Schlangen davor zu lang sind, und um dann ein paar nette Tage in Cafes und Restaurants zu verbringen. Stellen Sie sich an, bis Sie drin sind! Und wenn Sie drin sind, denken Sie daran, warum Sie rein wollten und wie Sie das geschafft haben. Wenn es dagegen die Cafes und Restaurants waren, die Sie nach Florenz gezogen haben, passen Sie auf, dass Sie nicht in die endlosen Schlangen vor den Uffizien geraten. 2. Wenn Sie einmal die Möglichkeit haben, ein Konzert von Tuck & Patty zu hören, tun Sie es. Der Gesang von Patti Cathcart wird Sie bewegen, und Tuck Andress ist sowieso einer der besten lebenden Gitarristen. Am Ende des Konzerts werden Sie entweder begeistert „Time after Time“ mitsingen oder zumindest Schwierigkeiten haben, dies nicht zu tun, obwohl es Ihnen peinlich ist. Natürlich kann auch eine Oper emotional sehr bewegend sein. Aber wann haben Sie das letzte Mal begeistert in einer Oper mitgesungen? ȭ Wenn man andererseits die Erinnerungsrelevanz von Peinlichkeiten bedenkt … Gehen Sie vielleicht doch besser zum Mitsingen in die Oper. 3. Mitsingen kann man natürlich auch im Musikantenstadl. Aber, unter uns, lohnt sich das? Nutzen Sie diese Veranstaltung lieber kreativ: Vielleicht wird durch einen glücklichen Zufall demnächst einmal eine Sendung des Musikantenstadls zu exakt dem Zeitpunkt angeboten, zu dem auf einem anderen Kanal die Übertragung eines wichtigen Spiels der Fußball93
Europameisterschaft läuft. Laden Sie dann einige befreundete Fußball-Interessierte zu sich nach Hause ein und bestehen Sie darauf, gemeinsam den Musikantenstadl anzusehen. Das wird bestimmt ein unvergesslicher Abend. 4. Nun mal im Ernst: Routine bietet keine erinnerungsrelevante Neuheit. Ärgern Sie sich aber nicht darüber. Worin Sie Routine haben, darin sind Sie gut! Auf der Jagd nach Neuheit, gerade das zu lassen, worin man gut ist, kann eigentlich nicht der ultimative Ratschlag zur Verbesserung der Lebensqualität sein. Wenn Sie allerdings besonders gut darin sind, vom Sofa aus den Musikantenstadl zu verfolgen, sollten Sie diesem Tipp misstrauen. 5. In Fußnote 9 wurde festgehalten, dass man Douglas Adams lesen muss. Das stimmt. Tun Sie es. Entweder werden Sie ihn lieben, und der Hitch Hiker’s Guide wird zu einem Bestandteil Ihres deklarativen Gedächtnisses werden. Oder Sie werden einen Tipp nicht mehr vergessen zu hassen, der Sie in einen solchen Unfug gejagt hat. 6. Die Älteren unter uns sollten sich daran erinnern, dass das „elaborierte“ (oder „tiefe“) Enkodieren dem Gedächtnis kräftig auf die Sprünge helfen kann. Sich einen Reim auf das machen zu wollen, was geschieht, ist daher lebensverlängernder als alles für „normal“ zu halten. Eine kritische Distanz kann daher manchmal nützlich sein. Auch ein Tagebuch könnte das elaborierte Enkodieren unterstützen, spätestens dann, wenn Ihr Nachbar es findet. 7. Körperliche Aktivität verbessert kognitive Hirnfunktionen und kann vor der Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen schützen.57 Dennoch sollten Sie nicht zwangsläufig ein
Vgl. Kramer, Erickson, 2007.
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planen, an der nächsten Fußball-Europameisterschaft aktiv teilzunehmen. Ein kleiner Lauf während der nächsten Übertragung des Musikantenstadls könnte Ihnen jedoch gut tun und Sie vor größerem Schaden bewahren. 8. „Spät sterben“ ist sicher ein guter Tipp zur Lebensverlängerung. Hinweise darauf, was Sie dazu alles vermeiden müssen, finden Sie in vielen einschlägigen Fachzeitschriften wie der Apotheken-Rundschau oder der Bäckerblume (Nikotin, Alkohol, gesättigte Fettsäuren, Zucker, Musikantenstadl etc.). Vom Standpunkt eines erinnernswerten Lebens führt die ausschließliche Konzentration auf Vermeidungsverhalten jedoch auch vielleicht dazu, dass … Was wollte ich jetzt eigentlich sagen? 9. Wenn es Sie jetzt überrascht, dass ich die Fußball-Europameisterschaft empfehle, gehen Sie zurück auf Los. Ziehen Sie nicht 2000 Euro ein. 10. Vergessen Sie diese Liste, machen Sie sich eine eigene und halten Sie sich daran.
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Ü b e r d e n A u tor Thomas Grunwald (geb. 1956) ist Neurologe, leitet die Abteilung für Klinische Neurophysiologie am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum in Zürich und unterrichtet an der medizinischen Fakultät der Universität Bonn, wo er vor seinem Wechsel nach Zürich als Oberarzt an der Klinik für Epileptologie arbeitete. Vor seiner medizinischen Ausbildung arbeitete er auf dem Gebiet neurologisch bedingter Sprach- und Sprechstörungen, nachdem er ein Studium der Phonetik, Germanistik und Anglistik absolviert hatte. Davor wiederum errang er bereits mit der E-Jugend des VfL Oberbieber die Fußballmeisterschaft des Kreises Neuwied, Deutschland. Das Spielen der Blockflöte hat er dagegen nie erlernt.
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Z u r R e i h e “T R A C E Transmission in R h e t o r i c s, A rts and C u ltural Evolut ion” Kultur ist kein bleibender Wert. Kulturen sind dynamische Systeme. Sie greifen laufend in die Organisation unseres Lebens ein. Kulturelle Dynamik ist ein Transmissionsprozess. Die Buchreihe konzentriert sich u.a. auf die Frage nach der Gedächtnistauglichkeit der kulturellen Übertragungseinheiten. Zu den Übertragungseinheiten gehören: kulturelle Regeln, Gesetze, kulturelle Rezeptionsgewohnheiten, Bildtechniken, Architekturen, Theaternarrative, Melodien, Designobjekte, Zukunftsszenarien. Bereits erschienen: Heiner Mühlmann: Jesus überlistet Darwin Fabian Steinhauer: Gerechtigkeit als Zufall. Zur rhetorischen Evolution des Rechts Stephan Trüby: Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden Heiner Mühlmann: Countdown. 3 Kunstgenerationen
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