Jim Elliot
Gerechtigkeit hat ihren Preis Ronco Band Nr. 365/54
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im...
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Jim Elliot
Gerechtigkeit hat ihren Preis Ronco Band Nr. 365/54
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Pokert mit dem Tod, denn er soll gelyncht werden. Mahon Tabor – Der ehemalige Zahlmeister von Fort Calhoun zeigt sein wahres Gesicht. Whisper – Ein Freund, der dem Outlaw Ronco beisteht. Chuck Connel – Ein Bandit, der sich mit Mahon Tabor zu einem heimtückischen Komplott verbündet. James Webb – Ein Marshal, der auf Prämien scharf ist.
Gerechtigkeit hat ihren Preis 21. April 1882 Ich bin nun schon so lange bei den Rangern, daß mein Dienst bei der Truppe zur Routine wird. Meine Aufträge führen mich oft über die Grenzen des Staates Texas hinaus. In den nächsten Tagen werde ich nach Arizona aufbrechen, wo die Apachen sich wieder einmal im Gebiet der Natanes und auf der Mogollon Mesa versammeln, um mit einer Rebellion darauf hinzuweisen, daß die Verträge mit ihnen von der Regierung der Vereinigten Staaten nicht eingehalten wurden. Wie im Sommer 1866 – im Jahre meines Unglücks, das mich zu einem jahrzehntelangen Dasein als Gesetzloser verdammte – brauchen die Apachen auch diesmal Waffen für ihren Versuch, ihr Recht mit Gewalt zu ertrotzen. Ich hoffe nur, daß Rothäute und die Armee diesmal Vernunft und Mäßigung zeigen, damit es nicht wieder zu einem Massaker wie im Halcon Canyon kommt. Halcon Canyon – diese Wunde ist bis heute nicht in mir vernarbt. Das Kapitel des Tagebuchs, das ich jetzt in Angriff nehme, steht immer noch über dieser Überschrift: Wer war Schuld an dem Massaker im Halcon Canyon? Damals, im Spätsommer 1866, suchte ich die Spuren der wahren Schuldigen in Arizona und war gleichzeitig auf der Flucht vor der Armee, die mich unschuldig zum Tode verurteilt hatte. Ich stand noch am Anfang meines Kampfes um mein Recht. Es schien ein aussichtsloser Kampf zu sein, der schon verloren war, ehe er richtig begann. Aber ich entdeckte damals etwas, auf das sich auch die heutige Generation wieder zu besinnen scheint: Macht und Gewalt ist nicht alles, und manchmal vermag ein einziger Mensch, der sich auf seine Überzeugung und seine Moral beruft, eine ganze Welt aus den Angeln zu heben … *
Ich erreichte Croton Springs im Süden der Gebirgsketten am Gila Bend. Es war ein Nest, in dem viel Bewegung herrschte und die Gesichter so oft wechselten, daß sie sich nicht fest in das Gedächtnis einprägten. Es war eine kleine Stadt, die den Forts im Norden und Osten und den Overland-Routen, die von Kalifornien nach New Mexico und Texas führten, ihren Aufschwung verdankte. Croton Springs war eine jener Wüstenstädte, die leicht gebaut waren, weil das Klima so eine Bauweise begünstigte, und an der man nicht viel Geld verlor, wenn sie eines Tages wieder abgerissen oder verlassen wurde. Und es war eine leichtlebige Stadt und eine wilde Stadt, in der keiner nach seinem Namen gefragt wurde und nicht auffiel, wenn er Fragen stellte. Croton Springs war eine Stadt, in der ein Outlaw wie ich sich einigermaßen sicher fühlen durfte. Es war gegen Abend, als ich von Süden her heranritt und die Stadt hinter den Bahngeleisen der Southern Pacific zwischen kahlen roten Felsen und Sanddünen im Abendrot vor mir sah. Ich war müde und ausgelaugt von der Sonne und dem Salz auf dem Hochplateau der Sierra Madre und wollte ein paar Tage das Gefühl haben, daß es auch noch andere Menschen außer mir gab. Als ich auf meinem Pinto, den mir die Mescaleros auf der mexikanischen Seite der Sierra Madre geschenkt hatten, weil ich ein Freund des Häuptlings Taglio gewesen war, in die Main Street dieser Bretterbudenstadt einritt, erkannte ich, daß sich die Zivilisation in Croton Springs auf die wesentlichen Bedürfnisse beschränkte. Ich sah ein paar Bordelle, ein Dutzend Saloons, zwei Pokerschuppen und ein Gefängnis, in dem Alkoholleichen wieder zum Leben erweckt und Randalierer zur Vernunft gebracht wurden. Ab und zu gab es natürlich in Croton Springs auch eine Schießerei, sagte mir ein Gespannführer aus Yuma, der hier regelmäßig Station machte, aber die würde immer in geregelten Bahnen verlaufen: Der Tote war stets im Unrecht, und der Überlebende hatte aus Notwehr geschossen. Also gab es nie einen Gewaltverbrecher in Croton Springs, der so lange im Gefängnis sitzen mußte, bis ein Distrikt-Richter aus Fort Grant oder Phoenix hier eintraf und ein paar Geschworene ernannte. Es war sehr beruhigend für mich, zu erfahren, daß es hier keinen
Richter und keinen Sheriff gab. Lediglich einen Town-Marshal, der nicht einmal regelmäßig von der Regierung des Territoriums mit Steckbriefen versorgt wurde. Das war so beruhigend für mich, daß ich sogleich einen der Saloons ansteuerte. Ich band also meinen Pinto draußen neben einem Dutzend anderer Pferde am Hitch Rail an und trat durch eine der beiden Pendeltüren des Glorious-Saloons. Es war der größte Saloon am Ort, und deshalb hatte ich ihn mir auch ausgesucht. Je größer die Schar der Gäste, die sich in so einem Schuppen zusammendrängt, um so größer auch die Chance, daß ein Outlaw, dessen Gesicht auf ein paar tausend Steckbriefen abgebildet ist, unerkannt bleibt. Es war ein Schuppen mit den Dimensionen eines Wells-FargoLagerhauses. Die Theke war gewaltig und zog sich wie ein Hufeisen an der Hinterwand und den beiden Seitenwänden entlang. An zwei Stellen, die den Eingängen an der Vorderfront des Saloons genau gegenüberlagen, klaffte eine Lücke im Tresen, durch die man mit Vorhängen getarnte Notausgänge erreichte. Diese Ausgänge wurden nicht nur bei Feuer benutzt, sondern auch von den Saloonmädchen, wenn sie einem Saloongast gegen entsprechendes Entgelt ein paar diskrete Dinge zeigen wollten. Ich hatte erst einmal Mühe, überhaupt etwas zu sehen. Tabakwolken beizten meine Augen. Die großen Leuchter unter der Balkendecke waren noch nicht angezündet. Die Spiegelwände hinter der Theke versprühten ein düsteres Rot, das sie vom Abendhimmel einfingen. In dem Zwielicht konnte ich nur einen Wald dunkler Rücken und Hüte erkennen. Jedenfalls mußten mindestens hundert Tische zwischen den Stützbalken und der Theke im Raum verteilt sein, und keiner von diesen Tischen war leer. Dieses nicht existierende Licht erwärmte mein Herz und lockerte meine Vorsicht. Ich suchte mir einen Platz zwischen den beiden Notausgängen an der langen Theke aus und bestellte beim Barkeeper, der dafür zuständig war, ein großes Glas Bier und einen kleinen Whisky. Ich war mit Geld einigermaßen gut versorgt. Das hatte ich einem toten Waffenschmuggler abgenommen, der von den Mescaleros in
der Sierra Madre getötet worden war, weil er den Indianern nagelneue Spencer-Karabiner ohne Abzugsstollenfeder geliefert hatte. Der Schmuggler starb an einer Indianerlanze mit vor Schreck und Entrüstung geweiteten Augen, weil er seinen Tod nicht begreifen wollte. Er hatte ihn natürlich verdient, weil er zu der Organisation gehörte, die mich unschuldig an den Galgen bringen wollte. Doch von den fehlenden Abzugsstollenfedern hatte der Schmuggler tatsächlich nichts gewußt. Ich hatte sie heimlich aus den Gewehren entfernt, die den Apachen gegen Nuggets verkauft worden waren. Ich spürte eine sanfte Behaglichkeit nach dem ersten Schluck Bier, die sich zu einer Sorglosigkeit steigerte, als ich den Whisky in meine von Salzstaub brennende Kehle goß. Ich hatte genügend Geld, um zwei Jahre lang sorgenfrei und angenehm in Croton Springs leben zu können. Als ich mir überlegte, was ich mir alles leisten konnte, ohne allzusehr aufzufallen, ging ein Mädchen mit einem sehr kurzen Röckchen durch den Saloon und zündete mit einer an einem Stock befestigten Kerze die Lichter in den Kronleuchtern an. Da der Stock auch sehr kurz war, mußte sie jedesmal auf einen Stuhl steigen, um die Dochte in den Leuchtern mit ihrer brennenden Kerze zu erreichen. Jedesmal gab es dann ein andächtiges Oh und Ah, und bei mir ein Riß in meiner Gedankenkette. Das Mädchen hatte nicht nur sehr hübsche Beine, sondern auch einen sehr weiten Rock. Ich bewunderte das langsam aufflammende Licht und die Aussicht auf dieses hübsche Kind, die bei zunehmender Beleuchtung immer besser wurde. Ich drehte mich mit dem Rücken zur Theke und überlegte, was die Zivilisation doch Gutes für einen Mann wie mich zu bieten hatte, als mein Blick ein wenig zur Seite schweifte und auf einen Tisch fiel, der ungefähr fünfzehn Yards von mir entfernt war. Ich spürte einen elektrischen Schlag, der meine behagliche Sorglosigkeit zerschmetterte wie ein Hammer ein kostbares Glasgefäß. Ich blinzelte und rieb mir die Augen, aber das Gesicht veränderte sich nicht. Ich sah den Schnurrbart, das längliche, gutaussehende Profil, als der Mann dem Mädchen einen forschenden Blick zuwarf – den Blick eines Mannes, der es gewohnt ist, Männern zu befehlen und Frauen zu erobern. Der Mann war in Zivil, aber sein
Gesicht war unverwechselbar. Im Glorius-Saloon von Croton Springs in Arizona saß ein Mann, der eigentlich ein paar hundert Meilen weiter östlich in einem Yankee-Fort als Offizier Dienst tun mußte: Mahon Tabor, Verwaltungsoffizier und Zahlmeister von Fort Calhoun. Zuerst dachte ich voll eisigen Schreckens, Mahon Tabor sei vom Fortkommandanten in Zivil nach Arizona geschickt worden, um den steckbrieflich gesuchten Armeescout Ronco im Territorium aufzustöbern und zur Aburteilung nach Texas zurückzubringen. Doch die vier Männer, mit denen er am Tisch saß und eine Flasche Whisky teilte, waren bestimmt keine mit Zivilkleidern getarnte Soldaten eines Häscherkommandos. Diese vier Männer sahen so aus, als wären sie ein paarmal mit knapper Not dem Galgen entronnen. Wie geriet ein Offizier in eine so schlechte Gesellschaft, ging es mir durch den Kopf. Hatte er sich bei Galgenvögeln angebiedert, weil er mich in diesen Kreisen vermutete? Ich nahm mein Bierglas von der Theke und schluckte das lauwarme Zeug auf einen Zug hinunter. Dann wurde mir bewußt, daß der Armeezahlmeister Mahon Tabor, der immer im Fort durch seine Eleganz und seine Spielleidenschaft aufgefallen war, nur Augen für die Saloonmädchen und nicht die männlichen Gäste hatte. Er suchte also hier keinen flüchtigen Outlaw, sondern ein flüchtiges Abenteuer. Mahon Tabor benahm sich auch nicht wie ein Offizier, sondern wie ein Zivilist, für den keine disziplinarischen oder moralischen Beschränkungen galten. Die Männer, mit denen er an seinem Tisch anstieß, waren eine Beleidigung für jedes Offizierskorps. Ich stellte mein Glas so hart auf die Theke zurück, daß es einen Sprung erhielt. Die Tage vor und nach dem Massaker im Juni dieses Jahres fielen mir wieder ein. Als der Indianeraufstand am Rio Doro tobte, hatte Mahon Tabor trotz der Urlaubssperre das Fort Calhoun verlassen. Nur er und Major Fly hatten Gelegenheit gehabt, sich heimlich mit den aufständischen Apachen zu treffen. Jicarilla und ich hatten uns den Kopf darüber zerbrochen, von wem die gefangenen Apachen aus dem Arrestbau des Forts befreit worden waren und wer einen der Wächter erschossen hatte, ohne daß dieser hatte Alarm schlagen können. Wir hatten beide gewußt, daß es
einen Verräter im Fort gab, der mit den Apachen gemeinsame Sache machte. Und dieser Verräter mußte ein Offizier sein, weil er sich ungehindert bewegen konnte, ohne einem Vorgesetzten Rechenschaft darüber ablegen zu müssen. Nachdem ich alle logischen Möglichkeiten durchdacht hatte, kamen nur noch zwei Männer als Verräter in Betracht: Major Fly und der Zahlmeister Mahon Tabor. Mahon Tabor war am Tage des Massakers im Halcon Canyon nicht in Fort Calhoun gewesen. Ich hatte Spuren in der Nähe des Canyons gefunden, die von einem Pferd stammten, wie es der Zahlmeister geritten hatte. Die Hufeisen hatten mir das verraten. Ich hatte mir daraus die unglaubliche Theorie ableiten müssen, daß ich nicht der einzige überlebende Zeuge weißer Hautfarbe dieses Massakers war, sondern noch ein anderer tatenlos zugeschaut haben mußte – ein Mann in der Uniform eines Offiziers! Ich stieß mich von der Theke ab, wühlte mich rücksichtslos durch das Gedränge, baute mich an Mahon Tabors Tisch auf und fauchte ihm wie von Sinnen ins Gesicht: »Sie haben am Halcon Canyon zugesehen, wie die Apachen die Frauen und Kinder abschlachteten! Sie haben gewußt, daß dort der Überfall stattfinden würde! Und Sie wollten sich überzeugen, daß keiner dieses Massaker überlebte! Sie sind ein noch größerer Halunke als Judas Ischariot!« Nun herrschte im Saloon ein solcher Lärm, daß niemand die Worte, die ich in höchster Erregung heraussprudelte, verstand, der nicht mit Mahon Tabor am Tisch saß. Falls meine Stimme doch weiter trug, konnte sich keiner, der nicht mit dem Hergang der Katastrophe vertraut war, auf meine Worte einen Vers bilden oder einen Sinn darin entdecken. Sogar die vier Kerle, die sich mit Tabor die Flasche Whisky teilten, glotzten mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. »Ich verlange«, fuhr ich mit bebender Stimme fort, »daß Sie sofort mit mir zu einem Sheriff oder US-Marshal reiten und sich verhören lassen! Auf der Stelle!« Ich war so aufgeregt, daß ich mir gar nicht überlegte, was dieses Ansinnen für verheerende Folgen haben würde. Nicht nur für Mahon Tabor, sondern für mich. Aber um diesem unsinnigen Verlangen
auch noch Nachdruck zu verleihen, langte ich nach dem Griff meines Colts. Ich wollte nur gegen den Griff pochen wie auf meine Rechte, die mir ja längst bekannt waren. Mahon Tabors Gesicht war kreideweiß geworden. Er sah gar nicht mehr wie ein Schürzenjäger aus, sondern wie ein Mann, den das schlechte Gewissen demaskiert hat. Ich wußte, ich hatte mit meinen wilden Vermutungen ins Schwarze getroffen. Doch als ich mit den Fingern an den Griff meines Colts tippte, packte er sein Whiskyglas und schüttete mir das braune Zeug, das es enthielt, in die Augen. Es brannte wie Säure, weil meine Wimpern noch mit dem Alkalistaub der Wüste eingepudert waren. Ich sah einen Moment nur feurige Ringe und Kreise. Und für die Männer, die diesen Vorgang an Mahon Tabors Tisch beobachteten, mußte das so aussehen, als verteidige sich ein Unschuldiger gegen den Angriff eines Randalierers, der diesen mit der Waffe bedroht. »Du Mistkerl!« fauchte ich. »Du abgefeimter Schurke!« Dieser Offizier und Zahlmeister von Fort Calhoun war an dem Verrat im Halcon Canyon beteiligt. Ich spürte es und sah es, als ich mein Sehvermögen wiedererlangte. Mahon Tabon stellte sich nicht meiner leidenschaftlichen Anklage, sondern floh durch einen der verhängten Notausgänge auf die Hintergasse. Ich lief ihm nach, sprang über ein paar Stühle und warf mich durch den Vorhang des Notausgangs. Ich taumelte durch einen düsteren Korridor und hörte ein grelles, spöttisches Lachen. Ein Saloonmädchen geriet mir in die Quere, das mit einem Mann in einer dunklen Ecke schäkerte. Ich drängte die Lady zur Seite, so daß sie mir den Ausgang auf die Gasse freigab, und sprang hinaus in das düstere, verglimmende Abendrot. Mahon Tabor hastete an einem Bretterzaun entlang. Noch vier oder fünf Sätze, und er würde in eine andere Gasse einbiegen und aus meinem Blickfeld verschwinden. Ich brauchte ihn als Kronzeugen. Er konnte mich rehabilitieren. Ich brauchte ihn so dringend wie ein Ertrinkender die Atemluft! Ich war wie von Sinnen und riß den Colt aus dem Holster, als hätte mir ein toter Kronzeuge nicht noch mehr Unglück und Leid gebracht. Zum Glück packten mich ein paar rauhe, eisenharte Fäuste, bevor
ich abdrücken konnte. Ich erhielt einen furchtbaren Hieb ins Genick und einen Tritt gegen die Rippen. Während ich nach vorn taumelte und in den roten Staub der Gasse flog, sah ich noch eine grinsende Fratze unter dem Schlapphut und zwei angewinkelte, stoßbereite Beine, die zu den beiden anderen Galgenvögeln gehörten, die links und rechts neben Mahon Tabor am Tisch gesessen hatten. Dann sah und fühlte ich nichts mehr. * Als ich wieder in die Gegenwart zurückkehrte und die Augen aufschlug, sah ich Gitterstäbe. Eine Zelle als Erholungsaufenthalt war das Schlimmste, was einem steckbrieflich gesuchten Menschen zustoßen kann. Denn für ihn war es nur das Wartezimmer des Todes. Für mich war eine Zelle der Anfang vom Ende. Ich schloß die Augen wieder, um nachzudenken, wie ich hierhergelangt sein könnte. Natürlich. Mahon Tabor mußte mich angezeigt und als entsprungenen Todeskandidaten entlarvt haben. Ich war fünftausend Dollar wert, und das war ein Vermögen für jeden Sheriff in den Vereinigten Staaten. Ich war wahrscheinlich der erste Gewaltverbrecher in Croton Springs, der sich länger als vierundzwanzig Stunden im Gefängnis hielt, weil ich bares Geld bedeutete. Lebend oder – tot! Das elektrisierte mich so sehr, daß ich rasch die Augen aufschlug. Ich lag auf einer Pritsche und bot mich jedem als Zielscheibe dar. Mahon Tabor mußte ein sehr großes Interesse daran haben, fünftausend Dollar für einen toten Ronco zu kassieren, der ihn durch eine Aussage nicht mehr belasten konnte! Ich wunderte mich, daß ich noch nicht tot war. Aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. Es mußte mitten in der Nacht sein, denn die Fensterluke unter der Decke war eine leere, schwarzschraffierte Fläche. Licht sickerte über meine Schultern und beleuchtete meine staubüberkrusteten Stiefelkappen. Ich hatte meine Stiefel noch an! Das war ein kleiner Trost in meinem Elend. Ich hatte die fünftausend Dollar, die ich dem
toten Waffenschmuggler auf der Sierra Madre abgenommen hatte, in dem Futter meiner Stiefelschäfte versteckt. Ich bemerkte natürlich auch die langen Schatten der Gitterstäbe, an denen sich das Licht brach. Und ich hörte ein lautes, regelmäßiges Schnarchen, das aus der Richtung kommen mußte, wo die Lampe brannte. Ich bewegte den Kopf zur Seite. Da stand noch eine Pritsche, etwa eine gute Armlänge von mir entfernt. Und darauf lag eine Gestalt, die Knie an die Brust gezogen. Ich hätte ihn für ein Lumpenbündel gehalten, wenn mein Pritschennachbar nicht zwei Augen gehabt hätte, die mich ängstlich anstarrten. »Ich – ich – ich – hei-heiße Whisper! Und – du?« Ich gab zunächst keine Antwort. Er kannte meinen Namen nicht. Er wußte offenbar nicht, daß ich ein Todeskandidat war. Er betrachtete mich ängstlich und neugierig zugleich. Anscheinend war er es gewohnt, daß niemand seine Fragen beantwortete. Er hatte so stockend und stotternd gesprochen, als habe er auch schon das Sprechen verlernt, weil keiner mit ihm reden wollte. Ich gab seinen Blick zurück. Und dann tat ich etwas, was ich als Scout vor ein paar Monaten bestimmt nicht getan hätte. Ich lächelte meinen Pritschennachbarn freundlich zu. Ich war jung, durchtrainiert, im Vollbesitz meiner Kräfte und Sinne. Dieses Lumpenbündel neben mir, das sich Whisper nannte, hatte struppiges, unglaublich schmutziges graugelbes Haar, das sein ganzes Gesicht einrahmte und bis zu den Mundwinkeln wucherte. Seine Ohren waren groß und rot, von blauen Adern durchsetzt. Die Nase in dem fahlen, zerknitterten Gesicht hing wie eine rote Laterne unter den wässrigen, blutunterlaufenen Augen, die mein Lächeln nicht erwiderten. Er blickte mich immer noch an wie ein Hund, der gewagt hatte zu winseln, weil er einer Kreatur begegnete, die anscheinend so herrenlos war wie er selbst. Erst jetzt schien er zu merken, daß ich ihn nicht auslachte, sondern lächelte. Offenbar war er ein Trunkenbold, der hier in der Zelle ausgenüchtert werden sollte. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht frei gewesen war von der Verachtung, die junge vitale Männer für alte Menschen übrig haben, wenn diesen offenbar ihre
Kräfte im Leben erfolglos verbraucht haben. Aber die wenigen Monate, die ich als Outlaw verbracht hatte, hatten meinen Blick für das Wesentliche geschärft. Mein Nachbar war alt und elend, aber in seinen Augen sah ich den Funken einer Seele, die immer wieder an das Gute glaubt, obwohl ihr stets nur das Böse widerfahren war. Das Gute in einem Menschen, dachte ich, hat selten Erfolg. Ich drehte mich so sacht auf die Seite, daß das Schnarchen hinter mir nicht abriß. »Ich heiße Robert«, flüsterte ich. Ich belog ihn, aber das war notwendig, wenn ich jemals wieder diese Zelle als freier Mann verlassen wollte. »Bob – eh?« »Ja.« »B-bob – und wie noch?« Diesen Satz brachte er schon ohne Stottern zu Ende. »Bob Homeless.« Er schob die Hände aus den zerlumpten Jackenärmeln heraus und zupfte an den Strähnen seines Bartes. »Bob Heimatlos«, flüsterte er, »eigenartiger Name. Paßt er zu dir?« »Wie angegossen.« Er stotterte nicht mehr, nur ab und zu stieß seine Zunge an, als wäre sie an der Spitze gelähmt: »Tust mir leid, Bob. Du bist zu jung für so was. Auch zu gesund. Hattest du Krach mit deinen Eltern?« »Ich habe keine Eltern.« »Das ist was ganz Schlimmes. Ein Tier braucht Eltern, ein junger Mensch noch mehr. Ein Waisenkind ohne Nestwärme ist nur halb so kräftig, wie es aussieht. Was hast du denn angestellt?« »Eigentlich nichts«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Passiert Waisenkindern immer, daß sie in einen Schlamassel geraten, ohne zu wissen, wie. Ich hatte Eltern, aber die haben mich schlecht erzogen. Ist fast so schlimm, als hätte man gar keine Eltern. Vielleicht ist eine Waise manchmal sogar besser dran als ein Kind mit schlechten Eltern.« Whisper rieb sich seine Nase und bewegte dabei den Kopf auf und ab. Er war offenbar noch betrunken oder in einem Stadium abklingender Trunkenheit. Betrunkene beißen sich oft an einem
Thema fest und versinken darin wie in einem Morast. Ich war nicht geneigt, mich darin zu verlieren. Ich mußte wissen, wie ich in diese Zelle gelangt war. »Jemand hat mir von hinten die Faust ins Genick geschlagen«, sagte ich leise. »Ich war nicht bei mir. Wie komme ich hierher?« Whisper zupfte wieder an seinem grauen Bart. »Ich war im TrailSaloon. Das is 'ne Pinte, wo es keine Mädchen gibt. Dafür bin ich zu alt.« »Wie kam ich hierher?« »Der Saloonbesitzer, der vom ›Glorious‹, hat dich angezeigt, weil du randaliert hast.« »Das war alles?« »Du wolltest mit deinem Colt auf einen Mann schießen. Deswegen bist du hier. Ein paar Männer haben dich hergebracht. Sie sagten zum Marshal, du seist ein gemeingefährliches Tier, das er nicht eher rauslassen soll, bis sie wieder aus der Stadt sind.« »Wer sagte das?« »Ein Mann, der nach was Besserem aussieht. Ein Großer mit getrimmtem Schnurrbart und 'ner Visage, die Mädchen beeindruckt.« Mahon Tabor, ging es mir durch den Kopf, hat mich hier einsperren lassen, ohne dem Marshal zu verraten, wer ich bin! Wahrscheinlich sollte ich hier in der Zelle schmoren, während er das nächstgelegene Fort benachrichtigte, damit ein Trupp bewaffneter Soldaten mich in Croton Springs abholen sollte! »Du gefällst mir nicht, Bob.« »Was?« Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. »Du siehst wirklich aus, als brauchtest du mal was Ordentliches zum Essen und ein paar Tage Schlaf.« »Da könntest du recht haben, Whisper.« »Dieser Mann mit dem getrimmten Schnurrbart und dem Schlafzimmerblick hat dem Marshal noch etwas zugesteckt und mit ihm geflüstert. Ich glaube, der hat nichts Gutes mit dir vor. Vielleicht schießt er dich in den Rücken, wenn du hier wieder herauskommst. Ein Junge ohne Eltern kann leicht verschwinden. So, als wäre er nie geboren.« »Möglich«, erwiderte ich zerstreut.
Hinter mir ging das Schnarchen in ein Schnaufen über. Und dann brüllte eine rauhe Stimme durch die Stäbe: »Ruhe da drinnen! Ihr schrubbt gleich den Abortkübel, wenn ihr nicht sofort ruhig seid!« * Inzwischen – wie ich später erfuhr – hatte sich Mahon Tabor in einem Schuppen ein Zimmer gemietet, von dem aus er das Gefängnis im Auge behalten konnte. Dieser Schuppen stand dem GloriusSaloon schräg gegenüber und nannte sich »McLeans BoardingHouse«. Auch in dieser Pension brauchte man nicht auf angenehmen Zeitvertreib zu verzichten, wenn man über das nötige Kleingeld verfügte. Davon hatte auch Mahon Tabor genug. Er hatte sich aus dem Glorious-Saloon eine Flasche Bourbon und eine Rothaarige mitgenommen. Sie lag jetzt zwischen den zerwühlten Kissen und wollte nach getaner Arbeit die Augen schließen, als er ihr die Decke vom Hintern zog. »Rosie oder wie du auch immer heißt«, sagte er kühl und bestimmt, »ich erwarte noch Gäste.« Sie rollte sich aus dem Bett, streifte den Rock über den Popo und zog die Schnüre ihres Mieders zusammen. »Wenn du mich mal wieder brauchst, Süßer, weißt du, wo du mich finden kannst.« »In Ordnung.« Er wartete am Fenster, bis es an seiner Zimmertür klopfte. »Herein!« sagte er kühl, ohne sich umzudrehen. Sie traten einzeln durch die Tür, sich mißtrauisch umblickend, die rechte Hand am Revolvergriff. Die vier waren eine Bande von Halsabschneidern, die sich für Geld an jeden verkauften, ohne viel zu fragen. Sie nannten sich Chuck Connel, Cyrus Gains, Hank Stiller und Andy Young. Keiner dieser Namen war echt. Ihr Anführer Chuck – er war so groß, daß er den Hut abnehmen mußte, als er durch den Türrahmen kam – wurde nördlich des Canadian River in fast allen Staaten und Territorien steckbrieflich gesucht. Für die Köpfe dieser Bande würde er mehr Dollar kassieren als für den ExScout, der dort drüben in einer Zelle saß. Mindestens fünfzehntausend Dollar, überlegte Mahon Tabor, während er sich
langsam umdrehte und sein Gesicht mit einer höflichen, unverbindlichen Maske überzog. »Chuck, Sie können sich auf den Stuhl setzen, der beim Waschständer steht. Cyrus, Hank und Andy, ihr setzt euch auf das Bett. Es ist schon gebraucht.« Cyrus, Hank und Andy warfen sich einen kurzen Blick zu und schoben grinsend die Lippen auseinander. Mit ihren staubgepuderten unrasierten Gesichtern fielen sie in der Menge der durchreisenden Gespannführer, Goldgräber und Satteltramps, die in Croton-Springs ein paar Tage hängenblieben, viel weniger auf als der blonde ExScout mit seinen markanten blauen Augen und den klaren Zügen, aus denen Intelligenz und Charakter sprachen. Mahon Tabor spürte ein kurzes Zucken des Bedauerns unter seiner linken Hemdenbrust. Dieser Junge würde bald hängen, und das war eigentlich schade, weil er viel Geld hätte verdienen können, wenn er nicht seinen Indianertick und zu viel Idealismus gehabt hätte. Chuck Connel holte sich den Stuhl vom Waschständer und setzte sich rittlings darauf. Das Holz knackte unter ihm, als würde es jeden Moment unter dem Gewicht dieses Kolosses bersten. »Wir haben uns hier getroffen, um über den Zug zu sprechen, der morgen aus Kalifornien hier eintreffen wird«, sagte Major Tabor, während er den Korken aus der Whiskyflasche zog und vier bereitstehende Gläser gleichmäßig auffüllte. »Er wird am Bahnhof von Croton Springs eine Nacht auf dem Abstellgeleise stehenbleiben, um einen Zug, der in entgegengesetzter Richtung fährt und aus Lordsburgh kommt, hier passieren zu lassen.« Mahon Tabor verteilte die Gläser und setzte sich dann auf die Tischkante. »Wir haben genau vier Stunden Zeit, um den Zug auszuräumen.« »Den ganzen Zug?« erkundigte sich Chuck Connel nüchtern und beobachtete Mahon Tabor wie eine Schlange ein zu großes Kaninchen. »Das haut nicht hin für den Preis, den wir vereinbart haben. Dafür verlangen wir mindestens das Dreifache.« »Es kommt mir nur auf den letzten Waggon an«, fuhr Mahon Tabor fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Das ist ein Güterwagen, der für Fort Bowie bestimmt ist.«
»Was ist in dem Wagen?« »Waffen und Munitionskisten.« »Schade«, maulte Andy, der Jüngste der Bande, auf dem Bett, »ein paar Kisten Gold oder Greenbacks wären mir lieber.« »Die wären auch viel schärfer bewacht als die Ladung Waffen«, sagte der Ex-Zahlmeister kalt. »Es handelt sich hier um einen ganz gewöhnlichen Diebstahl, der ohne viel Risiko für euch über die Bühne gehen kann. Ich habe sogar Gespann und Wagen bereitgestellt, mit dem ihr das Zeug nach Norden abtransportieren sollt, die Route für euch ausgesucht und ein paar Stellen auf der Landkarte markiert, wo ihr ausruhen und kampieren könnt.« »Nichts dem Zufall überlassen, wie?« sagte Chuck Connel, das Kinn auf die Handrücken gestützt. »Alles geplant wie ein Generalstabsoffizier, wie?« Mahon Tabor haßte es, wenn jemand auf seine Vergangenheit anspielte; auch wenn das eher ein Kompliment sein sollte. »Die Armee schont keine Menschenleben, wenn sie etwas plant«, gab er scharf zurück. »Ich habe es so organisiert, daß ihr das Geld, das ihr bei mir verdient, auch ausgeben könnt.« »Bin mir da nicht so sicher«, sagte Chuck Connel und runzelte die Augenbrauen. »Dieser Mann, dem wir hinter dem Glorious-Saloon einen Schlag ins Genick verpaßten, scheint dich gut zu kennen, Freund. Er wußte deinen Namen und hatte offenbar keine sehr hohe Meinung von dir. Ich meine, es scheint dir einen großen Schrecken eingejagt zu haben, daß dieser Mann plötzlich in Croton Springs auftauchte. Hat er was gegen dich? Ich meine, was Persönliches, das dir schaden könnte, ehe unser Geschäft abgewickelt ist? Danach kann es mir ja egal sein.« Der Banditenführer lächelte mit dem Mund, aber seine Augen blieben so kalt wie der Stahl seiner beiden Colts, die in den Hüftholstern steckten. Mahon Tabor nippte an seinem Whiskyglas und blickte dabei aus dem Fenster. Der Gefängnisbau lag dunkel und häßlich schräg unter ihm. Für ein Dutzend entschlossener Männer, die ein paar Gläser über den Durst tranken, war das Marshal-Office nichts weiter als eine bessere Holzkiste. Mahon Tabor sah plötzlich Möglichkeiten, die er
in seinem ersten Schrecken nicht bedacht hatte. Mahon Tabors Blick wanderte zu dem Banditen zurück, der sich immer noch auf die Stuhllehne stützte und ihn lauernd von unter her betrachtete. »Er hat nichts gegen mich, dieser blauäugige Kerl«, sagte er mit eigentümlichem Lächeln. »Es ist umgekehrt richtig. Ich habe was gegen ihn.« »Was?« »Eine Sache, die ihn an den Galgen bringt.« »Das ist nicht viel, was uns nutzen könnte, Freund. Ein Toter bringt nur Kosten und Scherereien.« »Steht nicht auch auf deinen Kopf eine Belohnung, Chuck?« erwiderte Mahon Tabor mit einem höflichen Lächeln um die Mundwinkel. »Dafür müßtest du mich erst nach Montana hinaufschaffen, ehe du die Prämie kassieren könntest. Bis dahin ist dein Kopf verfault, wenn du mich hier töten würdest und mir dann den Hals durchschneidest. Oder du müßtest mich dazu zwingen, dich lebend hinauf nach Montana zu begleiten. Dafür bist du nicht stark genug, Freund.« Der Bandit hatte ein gefährliches Glitzern in den Augen, eine tödliche Warnung an seinen Geschäftspartner, seine Scherze nicht zu übertreiben. »Der Kopf unseres Mannes braucht nur bis nach Texas zu reisen«, sagte Mahon Tabor, zu seiner Gelassenheit zurückkehrend. »Aber er könnte uns hier in Croton Springs einen viel besseren Dienst leisten als an einem Galgen in Texas.« Andy räusperte sich auf dem Bett. »Er sieht mir nicht aus wie ein schwerer Junge. Eher wie ein Sonntagsschüler, der vielleicht einen silbernen Löffel geklaut hat und ihn brennend gern wieder dem Eigentümer zurückgeben will.« Mahon Tabor blickte den jungen Banditen an. Wie recht der Bursche doch hat, dachte er, und wie unrecht. Dieser Ronco war so unschuldig wie ein Osterlamm und gleichzeitig so gefährlich und zäh wie ein Berglöwe. Das hatte er in den letzten Wochen zur Genüge bewiesen. Er war allen Nachstellungen und Kopfgeldjägern, die ihn seit zwei Monaten verfolgten, entwischt. Und er hatte sogar noch
gewagt, ihm zu drohen. »Dieser Mann wird uns helfen, die Waffen und die Munitionskisten aus dem Zug zu klauen, Andy«, sagte Mahon Tabor mit einem kühlen Lächeln. »Ich glaube, er ist gerade im richtigen Moment in Croton Springs aufgetaucht.« * Ich ahnte nichts von dem, was da keine fünfzig Yards von mir entfernt in einem billigen Hotelzimmer besprochen wurde. Ich war vor Erschöpfung eingeschlafen, und als mein knurrender Magen und die schnarrende Stimme des Marshals mich weckten, brannte die Sonne schon wieder durch die vergitterte Fensterluke. Der Marshal hieß James Webb. Er stand vor der Gittertür der Gemeinschaftszelle, stemmte die Hände in die dicken Hüften und brüllte: »Ihr Faulpelze, ihr verdammten Herumtreiber, wollt ihr vielleicht bis zum Mittag pennen, he?« »Ich – ich ha-hatte nicht die Absicht, Marshal«, stotterte mein Pritschennachbar. Es war schrecklich, ihm zuhören zu müssen, wie er sich fast die Zunge beim Stottern abbrach. Ich hatte erwartet, daß sich Marshal Webb zuerst einmal meiner Person annähme. Er hatte mich noch nicht bei Bewußtsein erlebt und weder meinen Namen noch meine frühere Adresse zur Kenntnis genommen. Bisher hatte er nur meinen Waffengurt und meine Waffen, aber kein Protokoll von meiner Festnahme. Und ich überlegte bereits, wie ich allen Fragen ausweichen konnte, ohne daß dieser Marshal Verdacht schöpfte und in der Gegend herumtelegrafierte. Doch merkwürdigerweise schien sich der Marshal überhaupt nicht für meinen Fall zu interessieren. Der arme Whisper hatte nicht länger gepennt als ich, und da ich der Jüngere war, hätte Marshal Webb mich eigentlich zuerst anbrüllen müssen. Doch er blickte über meine Koje weg, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. »Whisper«, schnarrte er, »wenn du so langsam denkst, wie du sprichst, wirst du nie begreifen, weshalb du immer wieder mit dem Gesetz aneckst. Du wirst das nie kapieren.«
»Ja-jawohl, Marshal.« »Sir, heißt das, Whisper.« »Ja-jawohl, Sir.« »Häftlinge haben aufzustehen und mich anzusehen, wenn ich mit ihnen rede, Whisper.« »Ja-jawohl, Sir.« »Und sie haben sich klar und verständlich auszudrücken, Whisper, wenn ich sie etwas frage.« »Ja-jawohl, Sir Webb.« »Weshalb habe ich dich wieder einmal eingelocht, Whisper?« »I-ich ha-habe z-zu v-viel g-getrunken, Sir Webb.« »Ich verstehe kein Wort, Whisper. Ich frage dich noch einmal. Weshalb habe ich dich eingelocht?« »I-i-ich h-h-habe z-z …« Es war ein schrecklicher Zungensalat, an dem Whisper schier zu ersticken drohte. Ich stemmte mich auf den Ellenbogen in meinem verbeulten Strohsack hoch und übernahm ungebeten das Wort. »Sie haben ihn hier nur eingelocht, Sir Marshal Webb«, sagte ich wütend, »weil Sie diesen armen Mann ärgern wollen! Aus keinem anderen Grund!« Whisper schreckte auf seiner Koje zusammen, weil er offenbar befürchtete, jetzt würde der Marshal erst recht seine Wut an ihn auslassen. Seine Vermutung war nicht abwegig. Der Marshal reckte sich auf seinen Stiefelspitzen, deutete mit dem Finger auf den Alten und brüllte: »Ich habe es vorhin nicht verstanden, Whisper! Weshalb habe ich dich hier eingelocht? Bist du so dumm, daß andere für dich antworten müssen?« Der Alte krümmte sich wie ein Wurm. Seine Lippen bewegten sich krampfhaft, aber er kriegte keinen Ton mehr heraus. Ich hörte nur schmatzende, gurgelnde Laute und sah, wie der Marshal ihn lauernd beobachtete und sich dann ein Grinsen auf seinem feisten Gesicht ausbreitete. »Ich komme jetzt zu dir in die Zelle«, sagte der Marshal. »Ich erinnere dich an die Statuten der Stadt Croton Springs, die ich dir schon dutzendmal vorgelesen habe! Jeder Häftling, der dem Marshal die Antwort verweigert, wird zu einer Ordnungsstrafe verdonnert. Da
du diese Ordnungsstrafen kennst, brauche ich sie dir nicht mehr lange zu erklären! Als erstes putzt du mir die Schuhe, dann leerst du den Abortkübel aus. Anschließend stellst du die Wasserkanne auf den Petroleumkocher und bereitest das Rasierwasser für mich zu! Und wehe, es ist zu kalt oder zu heiß wie beim letztenmal! Wenn du das erledigt hast, nimmst du den Reisigbesen und fegst die Zelle und das Büro aus. Dann klopfst du die Strohsäcke im Hof aus und suchst die Pritschen ab, ob sich da wieder ein paar Wanzen eingenistet haben. Und wenn du das alles erledigt hast, frage ich dich noch einmal, warum ich dich eingelocht habe. Kriege ich wieder keine einwandfreie Antwort, habe ich eine ganze Liste von Arbeiten, die dann für dich fällig sein werden.« Ich schwang die Beine von der Pritsche. Mein Nacken tat immer noch so weh, als hätte man mich heute nacht aufgehängt und der Strick wäre im letzten Moment gerissen. »Was hat Whisper verbrochen?« fragte ich kühl und massierte dabei meinen Nacken. Der Marshal schloß erst einmal die Zelle wieder von innen ab, zog seinen Colt aus dem Holster und hielt ihn so, daß der Schuß mich treffen mußte, wenn ich ihm zu nahe trat. »Whisper weiß, warum er hier ist. Ich weiß es ebenfalls. Ich denke, das sollte genügen.« Der Marshal stellte seinen schmutzigen Stiefel auf Whispers Koje, und der alte Mann spuckte auf das Leder und begann, mit seinem zerlumpten Jackenärmel die Stiefel des Marshals zu putzen. »Der alte Mann ist einsam, und jedes laute Wort schüchtert ihn so ein, daß er zu stottern beginnt. Aus Kummer über seinen vermeintlichen Sprachfehler betrinkt er sich hin und wieder, und Sie sperren ihn dann in Ihre Zelle, um ihn anbrüllen zu können. Das ist ein netter Zirkus, den Sie mit Ihrem Häftling veranstalten, Marshal. Treiben Sie das mit jedem so? Oder nur mit Menschen, die zu schwach sind, sich gegen Ihre Willkürmaßnahmen zu wehren? Wahrscheinlich wollen Sie den Alten hierbehalten, bis er Ihnen die Vorhänge gewaschen, den Garten umgegraben und die Wohnung frisch gestrichen hat. Ist es so, Marshal? Verhaften Sie Whisper nur, damit er für Sie unbezahlte Arbeiten verrichten darf?«
Der Marshal hob seinen Colt um einen Zoll an, »Mischen Sie sich nicht ein, Mister! Wenn ich Sie später etwas frage, und Sie geben mir genauso unverständliche Antworten wie Whisper, werden Sie auch zu einer Ordnungsstrafe verdonnert.« »So?« erwiderte ich gedehnt. »Was bleibt noch für mich übrig, wenn Whisper Ihre Junggesellenbude gereinigt hat? Soll ich dann Ihre Gewehre putzen oder Ihren Hintern?« »Mister!« knurrte der Marshal, und seine feisten Wangen färbten sich puterrot. »Wenn Sie mich herausfordern wollen, erhalten Sie sofort Ihre Ordnungsstrafe! Sie werden meinen linken Stiefel putzen. Mit der Zunge, nicht mit Ihrem Jackenärmel!« »Na«, sagte ich mit einem tückischen Grinsen, »dann reichen Sie mir mal Ihren Stiefel her!« Ich griff nach seinem Bein. Er reagierte zu spät, weil er mich ja selbst aufgefordert hatte, mich mit seinem Stiefel zu beschäftigen. Als ich ihm den linken Stiefel unter dem Körper wegzog, donnerte sein Colt los. Aber die Kugel traf nicht meinen Kopf, sondern nur den Strohsack, auf dem ich die Nacht verbracht hatte. Dann war ich über ihm, wand ihm die Waffe aus der Hand und setzte sie ihm mit der Mündung mitten auf die Stirn. »Nun sagen Sie mir mal, Marshal, warum Sie Whisper eingelocht haben!« brüllte ich den Marshal an, während der Donner des Schusses im Zellenblock verhallte. »Ich – ich …« gurgelte Marshal Webb mit schreckgeweiteten Augen. Ich hielt den Hammer des Colts mit dem Rand meines Daumennagels. Eine falsche Bewegung des Marshals, und er schoß sich selbst eine Kugel in den Kopf. »Können Sie nicht vernünftig antworten, wenn ich Sie etwas frage?« brüllte ich Marshal Webb an. »Ich verdonnere Sie zu einer Ordnungsstrafe, wenn Sie stottern!« »I-ich …« zischelte der Marshal. Große Schweißperlen bildeten sich um die Stelle, wo ich ihm den Lauf seines Colts gegen die Stirn drückte. »Hoffnungslos«, zischelte ich zurück, »ein hoffnungsloser Fall! Sie werden meine Stiefel küssen, wenn Sie Whisper wegen unberechtigter Festnahme sofort wieder auf freien Fuß gesetzt haben.
Und weil Sie seine Rechte verletzt haben, hat er Anspruch auf Entschädigung! Whisper, nimm dir fünf Dollar aus Marshal Webbs Geldbörse. Die stehen dir nämlich als Entschädigung zu!« »Ich – ich …« stotterte der Alte fassungslos. »Du kannst es mit ruhigem Gewissen nehmen, Whisper. Und dann nimmst du seine Schlüssel und entläßt dich selbst aus dem Gefängnis. Der Marshal ist nämlich so sehr mit den Nerven fertig, daß er weder den richtigen Schlüssel noch das Schlüsselloch findet!« Der Alte schluckte ein paarmal. Doch dann huschte plötzlich ein Leuchten über seine verhärmten Züge. »Dieser geschniegelte Kerl mit dem getrimmten Schnurrbart hat gestern dem Marshal ins Ohr geflüstert, daß du ein ganz gefährlicher Bandit seist, Bob«, sagte der Alte plötzlich, als hätte er endlich den Korken entfernen können, der seine Luftröhre blockierte. »Gefährlich scheinst du zu sein, aber ein Bandit niemals!« Er ließ den rechten Stiefel des Marshals fahren, nahm den Schlüsselbund zum Zellenblock an sich und sperrte die Tür auf. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen«, sagte er dann, »ich will keine Haftentschädigung, Bob. Ich will nur meine Ruhe haben vor diesem Kerl.« Er deutete auf den Marshal, der unter seiner eigenen Waffe auf dem schmutzigen Zellenboden lag. Dann blickte der Alte mich mit seinen wässrigen Augen an und sagte: »Warum gehst du nicht mit, Bob? Ich glaube, die Freiheit scheint dir wichtiger zu sein als mir!« Ich blickte ihn nur kurz an. »Ich halte ihn hier fest, bis du zu Hause bist und deine Ruhe hast, Whisper.« »Ich wohne weit weg von hier. Soll ich nicht doch lieber …« »Ich halte ihn fest, und wenn es bis zum Abend dauern sollte!« sagte ich mit wütender Entschlossenheit. Er blickte mich an, und in seinen wässrigen Augen schwamm mehr Flüssigkeit, als er zwischen den Lidern festhalten konnte. »Danke, Amigo«, sagte er gerührt. »Du bist der netteste Mensch, der mir seit langem begegnet ist.« Ich erwiderte nichts darauf. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Marshal Webb von der Dummheit abzuhalten, sich selbst zu
erschießen. * Inzwischen hatte der Glorious-Saloon wieder geöffnet, und Gespannführer, Bedienstete der Eisenbahn, Prospektoren und Neugierige drängten sich bereits am Vormittag an der hufeisenförmigen Theke. Chuck Connel schob seine breiten Schultern durch die Pendeltür und zog den Kopf so weit in den Kragen seiner Lederjacke, daß der Türsturz nicht an seiner Stirn hängenblieb. Er beachtete keins der Saloon-Mädchen, die tagsüber die Gäste bedienten. Er mied auch den Pokertisch, wo ihm einer der Berufsspieler verstohlen ein Zeichen gab, daß ein Platz frei sei neben einem Goldgräber, dem sie gemeinsam die Taschen leeren könnten. Er ging direkt auf die Theke zu. Das war sehr ungewöhnlich, weil Chuck Connel Karten und Mädchen viel mehr schätzte als Alkohol. Aber er ließ sich diesmal gleich drei Flaschen vom besten Whisky auf den Tresen stellen, warf einen raschen Blick die Theke entlang und bestellte zwei Dutzend Gläser dazu. »Diese Runde bezahle ich, Leute«, sagte er und winkte mit beiden Händen ab, als ihm die Gäste an der Theke zujubelten. Der alte Whisper schob das Glas, das der Barkeeper in Chuck Connels Auftrag für ihn füllte, zur Seite und ließ es unberührt stehen. Er ließ sich von keinem Banditen etwas schenken. Dieser hünenhafte Mann mit den beiden Peacemakers in den Holstern, die an den Griffschalen feine Kerben aufwiesen, war ihm unheimlich. Er hatte ihn am Abend zuvor neben dem Gefängnis warten sehen, als der elegante Gent mit dem getrimmten Schnurrbart zu Marshal James Webb ging und in dessen Büro mit ihm tuschelte. Dieser Chuck Connel hatte seinem Freund die Handkante ins Genick geschlagen und ihn anschließend im Gefängnis abgeliefert wie ein Stück Wild zum Ausweiden. Nein, dieser Bursche war ihm unheimlich, und von solchen Leuten nahm er keine Geschenke an. Whisper lehnte auch das zweite Glas ab, das der Barkeeper nach einer Weile neben das erste stellte. Der Bandit spendierte eine Lage
nach der anderen. Whisper hatte diesen Hünen schon seit Tagen beobachtet. Er war weder ein Trinker noch ein Menschenfreund. Beim Pokern hatte er seinen Gewinn gar nicht rasch genug einstreichen können. Seiner Meinung nach war dieser Hüne auch ein Geizhals. Wenn er Gäste freihielt, verfolgte er damit einen ungutem Zweck. Whisper hatte lange überlegt, ob er Croton Springs sofort verlassen sollte, wie es ihm sein Zellengenosse geraten hatte. Whisper hatte lange geschwankt, während er, hinter einem Planwagen versteckt, das Gefängnis beobachtete. Als sein Freund Bob nicht das Marshal-Office verließ, sondern statt dessen zwei Männer, die mit Chuck Connel am Abend vorher am Tisch gesessen hatten, das Marshal-Office betraten, hatte er sich zum Hierbleiben entschlossen. Bob Homeless hatte sein Leben für ihn aufs Spiel gesetzt. Er war auf den bewaffneten Marshal losgegangen, als dieser ihn demütigen wollte. Und Bob hatte sich nicht befreien können, nachdem er ihn, Whisper, vor den Schikanen des Marshals bewahrt hatte. Die beiden Männer, die offenbar zu der Bande des Hünen gehörten, der jetzt die Gäste an der Theke freihielt, mußten seinen Freund überwältigt haben. Jetzt saß er bestimmt mit Handschellen in seiner Zelle und mußte für seine gute Tat büßen. Der feiste Marshal würde ihn schikanieren bis aufs Blut. Dieser Sternträger war ein Sadist. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Er, Whisper, durfte nicht eher die Stadt verlassen, bis er Bob geholfen hatte. Als sich bei Whisper bereits vier Gläser angesammelt hatten, drehte sich der Hüne an der Theke um und schob seinen verbeulten Filzhut in den Nacken, daß die Kinnschnur sich straffte und in einem Wald schwarzer Bartstoppeln verschwand. »Leute«, sagte er mit einer schnarrenden Stimme, die wie ein Reibeisen klang, »wir werden mal 'ne kurze Gedenkminute einlegen und den nächsten Whisky schweigend hinter die Halsbinde gießen!« Inzwischen waren so drei Dutzend Männer im Saloon versammelt, die prompt das Reden oder Lachen einstellten, weil Chuck Connel den Whisky bezahlt hatte, den sie in andächtiger Stille austrinken
sollten. Whisper, der nur selbstbezahlten Whisky trank, ließ sein Glas auf dem Tresen stehen. Dann fragte ein Gespannführer an der Nordecke der Theke, während sich alle mit dem Handrücken den Mund abwischten: »Danke, Mister. Dürften wir vielleicht erfahren, wessen Andenken der Whisky galt?« »Das könnt ihr, Mann.« Chuck Connel schob die Ellenbogen auf das Thekenblech. »Schon mal was vom Halcon Canyon gehört?« »Vom Halcon Canyon?« Ein Treckführer, der am Pokertisch saß, reckte den Hals und blickte zur Theke hinüber. »Meinen Sie den Canyon zwischen dem Rio Doro und dem Eagle Pass?« Chuck Connel ließ sich Zeit mit der Antwort, bis ihn alle Gäste erwartungsvoll ansahen. »Am Rio Doro – das ist das richtige Wort, Mister!« rief er zum Pokertisch hinüber. »Sie sind auf der richtigen Spur, im südlichen Texas, so zwischen Eagle Pass und Fort Calhoun! Da liegt der Halcon Canyon, Leute!« Der Treckführer am Pokertisch warf seine Karten hin und schob die Hände über seinen Chips zusammen. »Ich habe dort meine Schwester verloren, Mister«, sagte er rauh. »Am 11. Juni dieses Jahres. Das Datum habe ich im Kalender schwarz angestrichen. Das ist kein Tag, an den Sie rühren sollten, Mister. Ein Unglück ist ein schlechter Anlaß für eine Runde Whisky!« »Mag sein«, erwiderte Chuck Connel an der Theke. Er vertrug eigentlich keinen Widerspruch. Doch seltsamerweise nahm er ihn diesmal fast gierig auf. »Mag sein«, wiederholte er etwas lauter, damit ihm auch jeder zuhörte, »denn ich kenne ein paar Leute, die nicht nur ihre Schwester, sondern ihre ganze Familie im Halcon Canyon verloren haben. Nein, Mister, der Tod von zweihundert Frauen und Kindern im Halcon Canyon ist wahrhaftig kein Anlaß zum Feiern. Aber daß der Mann, der an diesem Massaker schuld war, endlich hier im Gefängnis von Croton Springs hinter Schloß und Riegel sitzt, ist ein guter Grund für mich, ein paar Runden Whisky für euch zu bezahlen!«
Das zündete. Fast alle hier im Saloon hatten von dem Massaker im Halcon Canyon gehört. Nach dem Bürgerkrieg war der Überfall im Halcon Canyon das blutigste Ereignis der letzten fünf Jahre gewesen, weil es wehrlose Opfer getroffen hatte. Ein Raunen lief an den Tischen entlang, und dann setzte ein Sturm von Fragen ein, wer an diesem Massaker schuld gewesen sei. »Ich sagte es eben«, übertönte Connels rauhe Stimme den Tumult im Saloon, »der Mann, der gestern abend hier im Saloon versuchte, seinen Colt zu ziehen. Dieser blonde, blauäugige Kerl, der mit einem Indianerpferd hier auftauchte. Er war Scout in Fort Calhoun und hat den Treck an die Apachen verraten! Die roten Halunken haben diesen Verräter mit Gold aufgewogen und ihm ein Pferd geschenkt! Aber wahrscheinlich hielt er es bei den Rothäuten nicht mehr aus und ritt hierher, um sich auch mal mit einem weißen Mädchen zu amüsieren. Und weil er so lange sein Feuerwasser entbehren mußte. Doch bei den Apachen haben sich seine Manieren nicht gebessert. Ihr habt es ja selbst erlebt, Freunde, daß er sich hier aufführte wie ein Wilder!« Es war eine Weile totenstill. Dann fielen die Chips am Pokertisch auf die Dielen und rollten unter die Bänke an der Westwand des Saloons. Ein Glas fiel um und zerbarst klirrend. Der Treckführer stand vornüber gebeugt am Spieltisch, den Colt in der Hand. Er bewegte den Hammer des Revolvers mit der Daumenkuppe, als könne er den Drang zu töten nicht mehr lange bändigen. »Meine Schwester war schwanger, Mister!« Der Treckführer deutete mit der linken Hand auf seinen Gürtel. »Sie haben ihr den Bauch aufgeschnitten! Laßt mich durch, Leute! Eine Kugel ist zu schade für so einen Halunken! Wir holen ihn aus dem Gefängnis, binden ein Lasso an seine Füße und schleifen ihn nackt durch die Kakteen! Laßt mich durch, oder ich schieße mir den Weg frei!« Die Männer an der Theke wichen etwas zur Seite, um den Treckführer durchzulassen. Aber Chuck Connel schob den rechten Arm vor. In seinem Gesicht lösten jetzt Mißmut den Triumph ab, der in seinen Augen aufleuchtete, als der Treckführer auf seine Rede so gewalttätig reagierte. »Das hat noch Zeit, Mister. Wenn Sie ihn lynchen wollen, wird
der Marshal diesen Schuft mit der Waffe verteidigen müssen. Soll denn noch ein Unschuldiger wegen so eines Halunken sterben? Auch das Lynchen will überlegt sein!« Whisper hatte bisher mit gesenktem Kopf zugehört, seinen Schlapphut tief in der Stirn, damit die Männer in seiner Nähe nicht sehen konnten, daß er mit den Lippen Laute und Worte formte wie ein Taubstummer. Zuerst war er nur erschrocken gewesen, als der Hüne von dem Massaker in Halcon Canyon zu sprechen begann. Vor einem Monat war der Aufstand der Apachen am Rio Doro ein unerschöpflicher Gesprächsstoff in den Saloons von Croton Springs gewesen. Jeder Treck, der aus Texas kam, brachte neue Einzelheiten und Nahrung für neue Gerüchte. Er, Whisper, hatte sich nie an den Gesprächen über dieses Massaker beteiligt, weil ihn keiner beachtet oder ihm zugehört hatte. Aber in Gedanken hatte er sich gründlich damit auseinandergesetzt. Er hatte lange in der Nachbarschaft von Indianern gelebt, als Arizona noch ein menschenleeres Land gewesen war. Indianer neigten nicht dazu, Frauen und Kinder wie Vieh abzuschlachten. Auch die Apachen, die gefährlichsten aller Wüstenstämme, waren zuerst naiv und gläubig gewesen wie Kinder, als sie weißen Pelzhändlern und Trappern begegnet waren. Aber als man sie beim Friedensmahl überfiel, die waffenlosen roten Männer totschlug wie Ratten in einer Scheune, ihr Vertrauen mit abscheulichen Verrat lohnte, hatten sie mit gleichen Mitteln zurückgeschlagen. Doch als der Hüne auf den Gefangenen anspielte, der an dem Massaker schuld sein sollte, empörte sich alles in ihm gegen seine Worte. Dieser riesige Bandit war ein Lügner! Er hatte eine Nacht neben dem Mann geschlafen, der Frauen und Kinder den Apachen ans Messer geliefert haben sollte. Er kannte sich mit Menschen besser aus als ein Prediger oder Schullehrer. Er hatte den Instinkt des Hundes oder einer Katze für das Gute oder Schlechte in einem Menschen. Er hatte sich instinktiv hingezogen gefühlt zu diesem jungen Mann, den dieser Bandit als Verräter anprangerte. Nein, an dessen Rede war kein wahres Wort. Wenn ihm nur endlich seine Zunge gehorchen wollte, würde er ihm das ins Gesicht sagen! Doch sein altes Leiden hatte ihn wieder überwältigt. Als Bob ihn
gegen die Willkür des Marshals verteidigte, hatte er so leicht und fließend reden können wie der Reverend, der alle zwei Wochen im Wells-Fargo-Lagerhaus eine Predigt hielt. Aber Ärger und Zorn schnürten ihm sofort wieder den Hals zu und lähmten seine Sprechwerkzeuge. Dazu gesellte sich noch die Angst, sich vor diesen Männern lächerlich zu machen. Darauf durfte er keine Rücksicht nehmen. Bob war in Gefahr! Sie wollten ihn lynchen. Die Panik trieb ihn von der Theke weg. Er mußte sich vor seinen Freund stellen, und wenn er nur mit Händen und Füßen reden konnte! Er zwängte sich an den Tischen vorbei. Ein paar Männer rückten unwillig zur Seite. Whisper sah ganz grün aus im Gesicht. Vielleicht hatte er den spendierten Whisky zu rasch getrunken und mußte sich übergeben. Keiner wollte sich von dem Alten die Stiefel vollkotzen lassen. Er erreichte den Mittelgang, wo der hünenhafte Bandit an der Theke lehnte, vier leere Whiskyflaschen aufgereiht und neben seinem linken Ellenbogen auf dem Tresenblech. Chuck Connel überragte ihn um zwei Köpfe, aber er hatte seltsamerweise keine Angst vor diesem Mann. Seine moralische Entrüstung ließ keine Angst zu. Whisper stellte sich vor Chuck Connel auf. In seiner zerlumpten Jacke und seinen löchrigen Stiefeln sah er aus wie ein Bettler, der um ein Trinkgeld bitten will. »Ich – ich – ich …« würgte er heraus. Darauf folgten ein paar Explosivlaute. Chuck Connel hatte noch den Arm vorgestreckt, um den erregten Treckführer daran zu hindern, den Saloon zu verlassen und eine Lynchpartie zu organisieren. Dieser zerlumpte Kerl mit dem zerknautschten Schlapphut, der in Croton Springs als Dorftrottel galt, wollte ihm offenbar etwas sagen. Sein Mund bewegte sich heftig zwischen den Bartsträhnen, aber er brachte keinen Ton mehr heraus. Es juckte Chuck Connel im rechten Bein, diesem Alten einen Tritt zu geben. Doch er bemerkte aus den Augenwinkeln, daß die Grimassen, die der Alte schnitt, auf die Saloongäste erheiternd wirkte. Er hatte die Stimmung gegen den blonden Outlaw im Gefängnis anheizen wollen. Aber überkochen sollte sie erst am
Abend, wenn der Zug mit dem Waggon für Fort Bowie auf dem Nebengeleise am Bahnhof stand. Vielleicht war dieser Trunkenbold eine gute Ablenkung, um das Lynchfieber wieder zu dämpfen, das die Männer im Saloon ergriffen hatte. Wer konnte auch voraussehen, daß sich zufällig ein Mann hier in Croton Springs befand, der einen Angehörigen seiner Familie beim Massaker im Halcon Canyon verloren hatte? Das hätte fast ins Auge gehen können. Mahon Tabor und er hatten sich ausgerechnet, daß es ein paar Stunden und ein rundes Dutzend Flaschen Whisky kosten würde, bis die Männer vor einem Lynchmord nicht mehr zurückschreckten. Nein, der Alte war ihm gerade recht. Er würde sein Spiel mit ihm treiben, damit die Gäste im Saloon etwas zu lachen hatten. Und dann würde er den Dampfkessel wieder anschüren, bis er Ronco um die Ohren flog. »Du möchtest sicher noch ein Glas Whisky, oder?« sagte Chuck Connel laut und mit ironischer Herzlichkeit. Der Treckführer hatte sich von dem Alten auch so weit ablenken lassen, daß er an der Theke stehengeblieben war und seinen Colt ganz schlaff in der Hand hielt, als wüßte er nicht mehr, warum er ihn aus dem Holster gezogen hatte. »So einen guten Whisky trinkst du nicht alle Tage, wie? Ich sage dir was, Alter! Wenn du ein Zehn-Liter-Faß in einem Zug austrinken kannst, erhältst du es von mir gratis. So gut bin ich zu dir! Du kannst dich auf meine Kosten zu Tode saufen!« Ein paar Männer fanden das sogar komisch und lachten. Whisper schüttelte sich in dem krampfhaften Bemühen, endlich zwei zusammenhängende Worte herauszubringen. Doch mehr als eine Silbe wurde es nicht. »Lü – Lü – Lü …« »Du willst lieber Likör?« fragte Chuck Connel grinsend. »Einen Whisky für Damen? Wahrscheinlich wird so etwas nicht faßweise geliefert. Aber wenn dir eine Flasche genügt, kannst du sie dir auf meine Kosten beim Barkeeper holen. Aber nur unter der Bedingung, daß du sie sofort austrinkst, ohne einmal abzusetzen!« »Dir – dir – dir …« Whisper rang verzweifelt nach Worten.
»Bier willst du, Alter?« Chuck Connel schüttelte übertrieben heftig den Kopf. »Dir kann man es wohl nicht so leicht recht machen, wenn es dich nichts kostet, wie? Gestern warst du noch froh, als du für ein paar Cents billigen Indianersprit kaufen konntest. Und jetzt willst du gleich alles auf einmal – Whisky, Likör und Bier!« Whisper wand sich wie ein getretener Wurm. »Dir zeige ich es!« hatte er sagen wollen, aber seine im Ansatz steckengebliebene Drohung hatte ihm nur Spott und Gelächter eingetragen. Er hatte in seinem ganzen Leben nur Spott und Verachtung geerntet, weil er stets versucht hatte, erst zu reden und dann zu handeln. Warum sollte er es nicht einmal in umgekehrter Reihenfolge versuchen? Der Gedanke überwältigte ihn. Er trieb ihn an wie eine Feder ein Uhrwerk. Er ging bis zur Theke, nahm eine der leeren Whiskyflaschen und schwang sie drohend über dem Kopf. Der Hüne lachte nur, weil es bisher noch kein Mann gewagt hatte, ihn von vorn anzugreifen. Wer es versucht hatte, hatte es mit seinem Leben bezahlen müssen. Er lachte dröhnend, und biß sich fast die Zunge dabei ab, weil Whisper ihm die Flasche gegen das Kinn schlug. Bis zur Schläfe des Riesen reichte er nicht hinauf. Es gab einen kurzen, berstenden Laut. Doch nicht Chuck Connels Unterkiefer hatte nachgegeben, sondern das Glas der Flasche. Splitter regneten auf das Thekenblech, aus einer Schnittwunde am Kinn lief das Blut wie ein roter Schweißfaden Chuck Connel in das offene Hemd. Der Hüne stand wie erstarrt. Dann tastete er mit den Fingern am Kiefer entlang, ob er dort einen Bruch oder eine Lücke fand. Er starrte auf das Blut an seinen Fingerspitzen, als sähe er eine Fata Morgana. Erst dann begriff er, was ihm geschehen war. Er hatte einem Trottel ein Glas Whisky spendiert, und der hatte ihm zum Dank dafür mit einer Flasche ins Gesicht geschlagen. Das war ihm noch nie passiert und würde sich auch nie mehr ereignen. »Du verdammter Hund!« fauchte er. »Dir hat anscheinend der Whisky den Verstand aufgefressen! Dafür kriegst du jetzt statt einer Flasche Likör eine Kugel aus Blei!«
Der Hüne griff nach dem rechten Holster. Doch er bekam die Waffe nicht aus dem Leder, weil der Treckführer ihn daran hinderte. »Mister«, sagte er, »dieser Mann wollte weder einen Whisky noch ein Bier. Er wollte etwas zu Ihnen sagen. Sie haben sich über ihn lustig gemacht. Er trägt keine Waffe. Wenn Sie ihn erschießen, ist es Mord. Es könnte leicht passieren, daß Sie dafür auch gelyncht würden.« »Mich und lynchen?« zischte der Hüne. »Sie sind wohl verrückt geworden! Lassen Sie sofort meine Hand los!« »Sie können sich mit ihm prügeln, wenn Ihnen das Spaß bereitet«, erwiderte der Treckführer abfällig. »Aber zuerst lassen Sie ihn reden!« Whisper hatte ebenfalls wie erstarrt dagestanden. Er hatte noch nie in seinem Leben so einen Koloß mit bloßen Händen angegriffen. Dieser Bandit mußte die Stärke eines Zugochsen haben. Wenn der Bandit mit einer Flasche zurückschlug, würde man ihn als Leiche aus dem Saloon tragen. Doch daß zum zweitenmal an diesem Tag ein Mann aus Croton Springs versuchte, ihm zu helfen oder ihn zu verstehen, befreite ihn aus seiner Lähmung. Das wirkte wie ein krampflinderndes Mittel und löste ein Gefühl des Glücks in ihm aus. Er öffnete den Mund, und die Worte strömten nur so aus ihm heraus. Er sprach nur etwas zu hastig, weil er nicht wußte, wie lange ihm dieser Hüne noch Zeit zum Sprechen ließ. »Ich kenne den jungen Mann mit den blonden Haaren«, sprudelte er heraus. »Er hat mit mir in der Zelle geschlafen. Er ist nie in Texas gewesen, Mister. Er ist von zu Hause weggelaufen und stammt aus Kalifornien. Er hat mir seine Lebensgeschichte erzählt. Er ist in einem Waisenhaus in San Francisco aufgewachsen und hat hier in Arizona zum erstenmal in seinem Leben einen Indianer gesehen! Er will Gold graben, und ihr wollt ihn lynchen? Pfui, sage ich nur! Nur weil er keine Eltern hat, die für ihn eintreten können, kann jeder hergelaufene Strolch behaupten, er hätte im Halcon Canyon Frauen und Kinder an die Apachen verraten. Vielleicht sind Sie selbst der Verräter gewesen! Eins kann ich euch sagen, Leute. Ich habe noch nie einen so freundlichen und selbstlosen Mann gesehen wie dieses
Waisenkind, das im Jail von Croton Springs sitzt!« Whisper hätte sein Lügenmärchen noch weitergesponnen, wenn ihm nicht der Atem ausgegangen wäre. Viele Gäste im Saloon, die den alten Whisper seit Jahren kannten, waren so verblüfft über seine Zungenfertigkeit, daß sie andächtig nickten, als hätte er das Sakrament von der Kanzel verkündet. Sie hatten nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was der Alte gesagt hatte. Aber daß er plötzlich reden konnte wie ein Buch und nicht einmal mit der Zunge dabei anstieß, war ein so überzeugendes Wunder, daß alles, was er sagte, auch wahr sein mußte. Chuck Connel spürte den jähen Stimmungsumschwung. Der Dorftrottel von Croton Springs hatte plötzlich die Sympathien der Männer im Saloon auf seiner Seite. Vor ein paar Minuten noch hätten die nur mit den Schultern gezuckt, wenn er den Schlag ins Gesicht mit einer Kugel gerächt hätte. Der Treckführer stand mit gezogenem Colt immer noch neben dem Hünen an der Theke und betrachtete Chuck Connel mit einem mißtrauischen Blick. »Was dieser Mann da sagt«, sprach er die Meinung der Mehrheit aus, »klingt mir nicht danach, als habe sein Verstand unter Whisky gelitten. Das hat Hand und Fuß, Mister. Ich wäre sofort bereit, den Verräter vom Halcon Canyon zu lynchen, wenn die Behörde es versäumt, ihn aufzuhängen. Aber ich brauche auch Gewißheit, daß es der Richtige ist. Und bisher habe ich nur Ihr Wort dafür.« Der Treckführer wandte sich dem alten Whisper zu: »Gehen Sie jetzt lieber nach Hause«, sagte er freundlich. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie unbehelligt gehen können. Das bin ich Ihnen schuldig. Sie haben mich im letzten Moment vor einer unverzeihlichen Dummheit bewahrt!« Whisper blickte den Treckführer ungläubig an. Doch das Gesicht des Mannes war keine spöttische Fratze, sondern er lächelte freundlich. Whisper hatte im stillen bereits mit seinem Leben abgeschlossen. Jetzt durfte er sogar noch heil und gesund den Saloon verlassen. Es war ein Tag voller unbegreiflicher Wunder. Und seine Zungenfertigkeit hielt an. »Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Whisper und lüftete den Hut. Dann ging er langsam hinaus auf die
Main Street, während der Treckführer den Hünen an der Theke mit seinem Colt in Schach hielt. * Ich saß keine fünfzig Yards vom Glorious-Saloon entfernt und ahnte nichts von dem selbstmörderischen Vorgehen des alten Whisper. Ich hatte den alten Mann verteidigt, weil ich mich immer auf die Seite der Schwächeren stelle. Ich verspürte keine übertriebene Sympathie für den alten Mann. Ich hatte nur getan, was mein Gewissen mir befahl, und wußte nicht, daß ich mir damit einen Schutzengel in Gestalt eines alten Trunkenbolds erworben hatte. Erst viel später sollte ich erfahren, was für einen wertvollen Verbündeten ich mit Whisper gewonnen hatte. An diesem Morgen bereute ich sogar ein wenig, daß ich dem Alten geholfen hatte, statt zuerst an mich zu denken. Der Aufenthalt im Gefängnis von Croton Springs schadete eigentlich nur dem Stolz und dem Sprechvermögen des Alten. Offenbar wurde er regelmäßig eingelocht, wenn der Marshal Hausputz veranstalten wollte. Gegen den alten Whisper lag weder ein Steckbrief vor noch eine Anzeige. Er wäre auf jeden Fall im Laufe des Tages freigelassen worden. Aber ich war zum Tode verurteilt, ein Verdammter, ein zum Abschuß Freigegebener. Jeder, der meinen Skalp bei der Regierung ablieferte, durfte dafür fünftausend Dollar kassieren. Ich hatte den Schlüsselbund zu meiner Zelle in der Hand gehabt und den Colt des Marshals. Statt selbst zu flüchten, hatte ich dem alten Whisper zu einer unnötigen Flucht verholfen. Dann, als ich mich gerade aus dem Gefängnis entlassen wollte, waren zwei von den Galgenvögeln im Marshal-Office erschienen, die gestern Abend im Saloon an Mahon Tabors Tisch gesessen hatten. Sie hatten die Lage rasch erkannt und dem Marshal geholfen, mich wieder auf die richtige Seite der Gitterwand zu bringen. »Das hat Ihnen nichts eingebracht«, sagte der Marshal, als die beiden Galgenvögel sich wieder entfernt hatten. »Diese Dummheit hat Ihnen nichts eingebracht!« Doch hat es mir etwas eingebracht, überlegte ich, wütend auf mich
selbst. Eine Beschleunigung auf dem Weg zum Tod! Und zudem noch ein Stück Brot statt eines reichhaltigen Frühstücks. Ich war ein verdammter Esel, ein von allen Geistern verlassener Hornochse! Doch warum hatte dieser feiste Marshal, der mich durch die Stäbe beobachtete wie ein Krokodil mit seinen scharfen, wimpernlosen Lidfalten, mich noch nicht nach meinen Namen gefragt? Und warum hatte er mich nicht mit den Handschellen an der Gittertür krummgeschlossen und mir mit dem Kolben seines Colts das Fell gegerbt, bis ich eine einzige Platzwunde war? Ich hatte ihn in der Zelle überfallen und zu Boden geworfen. Ich hätte mich nicht beschweren können, falls er mich dafür mißhandelte. Er hatte mich nicht angefaßt, sondern beschränkte sich auf die monotone Wiederholung: »Das hat Ihnen nichts eingebracht, Mister!« »Ich habe einen Namen«, erwiderte ich waghalsig. »Sicher«, erwiderte er phlegmatisch, »und ich wette, er ist falsch.« »Wann komm ich hier 'raus?« »Vielleicht in zwei Tagen, vielleicht gar nicht.« »Sie können mir nichts vorwerfen, Marshal!« »Angriff auf einen Polizeibeamten ist ein schweres Vergehen.« »Sie haben auf einen Gefangenen geschossen, Marshal, der ganz friedlich auf seiner Pritsche saß!« »Sie saßen nicht friedlich auf einer Pritsche, sondern haben mich angegriffen.« »Weil Sie einen alten Mann schikaniert haben.« »Wenn das den alten Whisper gestört hätte, hätte er sich darüber beschweren können. Der Fall ging Sie gar nichts an.« »Sie haben auf mich geschossen!« »Sie wollten fliehen, Mister.« Der Marshal hielt seine fette Hand vor das unrasierte Kinn und gähnte herzhaft. »Es ist viel zu heiß für fruchtlose Debatten. Legen Sie sich auf Ihre Pritsche, und warten Sie ab. Ich habe Ihnen Haftverschärfung zudiktiert. Sie erhalten am Abend noch ein Stück Brot und einen Becher Wasser. Also sparen Sie Ihre Kräfte. Andererseits hat Haftverschärfung auch etwas Gutes. Der Abortkübel wird nicht so schnell voll.«
Er legte die Beine auf den Schreibtisch und fing an zu dösen. Aber ein Auge behielt er dabei immer offen. Er wartet nur auf ein Telegramm aus Phoenix oder Texas, das ihm bestätigt, daß ich der gesuchte Ex-Scout Ronco bin! Er wagt nicht zum Essen zu gehen, damit ihm keiner seine fünftausend Dollar Belohnung wegnimmt! Vielleicht hat er mich deshalb nicht mißhandelt. Wer schlägt schon gern mit Fäusten auf ein kleines Vermögen ein! Dumpfe Verzweiflung löste meine Aufsässigkeit ab. Einer der beiden Galgenvögel mußte dem Marshal zugeflüstert haben, daß ich der gesuchte Verräter vom Halcon Canyon sei. Ich wollte mich gerade mit einem neuen Fluchtplan befassen, als die Tür zum Marshal-Office aufging und ein Mann mit einem steifen Kragen, einer sorgfältig gebundenen Krawatte und einem Anzug erschien, der sich nicht für einen Pferdesattel eignete. Seine Gesichtsfarbe war so blaß und seine Haut so dünn, daß ich vermutete, er habe überhaupt noch nie auf einem Pferd gesessen, sondern immer nur auf einem Kontorstuhl. Er blieb auf der Türschwelle stehen und starrte mich an, als kannten wir uns bereits aus der Windelzeit und als hätte ich ihm immer den Lutscher weggenommen. Als mir das Anstarren zuviel wurde, streckte ich mich auf der Pritsche aus und schloß die Augen. Ich hörte, wie er dem Marshal leise zuraunte: »Stimmt das, James, was man über diesen Mann dort sagt?« »Was soll stimmen, Henry?« Der Marshal schien nicht sonderlich aufgelegt zu sein, schon wieder ein Gespräch anzufangen. Nach dem Fragezeichen folgte ein langes, herzhaftes Gähnen. »Daß er der berüchtigte Massenmörder vom Halcon Canyon sein soll!« flüsterte der Mann mit dem blassen Teint. Das Flüstern klang wie Donner in meinen Ohren. Ich stellte mich schlafend, um mich nicht mit schreckhaft geweiteten Pupillen oder nervösem Lidzucken zu verraten. »Halcon Canyon?« erwiderte der dicke Marshal begriffsstutzig. »Ach ja, ich erinnere mich. Das Massaker in Texas. Das waren doch die Apachen!«
»Ein Armeescout hat zweihundert Frauen und Kinder in einen Hinterhalt der Indianer geführt, James. Die Armee hat ihn dafür zum Tode verurteilt.« hörte ich wieder das heisere Flüstern. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Seit Monaten immer der gleiche Text: Zweihundert Frauen und Kinder – Massaker – Mörder – Verräter! »Ich glaube nicht, daß mein Gefangener der gesuchte Verräter vom Halcon Canyon ist«, sagte der Marshal so laut, daß ich ihn gut verstehen konnte. »Schau ihn dir an. Glaubst du, daß ein Mann, der zweihundert Frauen und Kinder auf dem Gewissen hat, auch nur eine Sekunde ruhig schlafen kann? Und was tut er? Er schläft.« »Das ist doch nur eine Finte, James. Er will uns täuschen.« »Ausgeschlossen. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die dich überzeugen wird. Ich schloß heute früh die Zelle auf, um den alten Whisper herauszulassen. Ich gehe in die Zelle hinein und wecke den alten Trunkenbold. Der Alte ist so erschrocken, als ich ihm einen Becher Wasser ins Gesicht schütte, daß er mit Armen und Beinen um sich schlägt. Er trifft mich mit dem Knie im Unterleib, und ich verliere dabei meinen Colt und den Schlüsselbund. Ich bekomme keine Luft mehr und muß mich auf die Pritsche dort setzen. Weißt du, was der junge Mann getan hat?« »Na?« »Er klopfte mir auf den Rücken, bis ich zu husten aufhörte. Er hob meinen Colt und den Schlüsselbund auf. Dann sagte er zu mir: ›Sie haben was verloren, Marshal. Und passen Sie nächstens besser auf Ihren Colt auf. Sie könnten ja zufällig mit einem Schwerverbrecher in der Zelle haben, der Ihnen die Waffe zwischen die Rippen steckt, statt ins Holster!‹« »Das hat er gesagt?« »Er hat es sogar getan. Mir den Colt ins Leder zurückgeschoben. Ich frage dich nun – tut ein Mann so etwas, auf den der Galgen wartet?« »Hm, ich muß zugeben, daß er sich genau entgegengesetzt verhalten würde.« »Das würde ich auch sagen, Henry. Und außerdem heißt der Gefangene nicht Ronco, sondern Bob. Wer hat denn die Gerüchte ausgestreut, daß in meiner Zelle ein Massenmörder sitzt?«
»Ein Mann namens Chuck Connel. Er hat drüben im GloriusSaloon eine Ansprache an der Theke gehalten, daß wir den gesuchten Verräter vom Halcon Canyon inhaftiert hätten.« »Wenn du mich fragst, sieht dieser Hüne nicht sehr vertrauenswürdig aus. Ich traue ihm selbst ein paar Morde zu.« »Tatsächlich?« »Er ist unrasiert, trägt zwei Colts am Gürtel, hat Hände wie Dreschflegel und so kalte Augen, daß man eine Gänsehaut kriegt, wenn er einen ansieht, Henry.« »Mein Gott«, flüsterte Henry heiser, »was ist aus unserer Stadt geworden, wenn sich schon zwei Massenmörder gleichzeitig darin aufhalten!« »Ich würde das nicht so laut vor deiner Frau sagen, Henry. Du weißt, was für ein schwaches Herz Betty hat!« »Wie wahr, James!« »Um dich aber nochmals zu beruhigen: Ich behalte den jungen Mann dort fest im Auge. Und Chuck Connel natürlich ebenfalls. Außerdem werde ich noch einmal alle Steckbriefe in meiner Schublade durchsehen, ob einer der beiden irgendwo als Kapitalverbrecher gesucht wird. Ich bin ganz sicher, daß nicht nach ihnen gefahndet wird. Schau, wie er schläft! Die Unschuld in Person!« »Danke, James, ich werde es gleich Betty sagen, daß sie sich keine Sorgen zu bereiten braucht. Aber warum streut dieser Chuck Connel im Saloon solche schrecklichen Gerüchte aus? Wo Rauch ist, ist auch Feuer, heißt es doch.« »Purer Neid.« »Neid auf einen Massenmörder?« »Es gibt eben perverse Menschen, mit makabren Gelüsten. Ich sehe, in deinem Laden lassen sie bereits die Jalousien herunter. Zeit zum Mittagessen. Betty wartet nicht gern, wie du weißt. Laß deine Suppe nicht kalt werden!« »Danke, James. Du hältst also nichts von diesem Gerücht?« »Absolut nichts. Du kannst beruhigt deine Siesta halten.« Ich war so verwirrt, daß ich vergaß, die Augen zu öffnen, als der elegante Henry das Marshal-Office wieder verließ.
Warum hatte James Webb, der Marshal von Croton Springs, dem Storekeeper eine so faustdicke Lüge über mich erzählt? Ich war überzeugt, daß Marshal Webb genau wußte, wer ich war. Aber warum spielte er selbst vor mir den Ahnungslosen? Ich verstand die Logik seines Verhaltens nicht, hielt die Augen geschlossen und dachte nach. Für den Marshal standen fünftausend Dollar Prämie auf dem Spiel, aber Henry, der blasse Gent aus dem General-Store, würde ihm diese Prämie niemals streitig machen. Und Chuck Connel ahnte bereits, wer ich war, und erzählte es jedem, ob er es wissen wollte oder nicht. Chuck Connel war offenbar mit Mahon Tabor verbündet. Dieser feiste Marshal mit dem Bewegungsdrang eines Faultiers und dem Scharfsinn einer Blindschleiche war doch kein Gegner für Chuck Connel und Mahon Tabor. Warum kamen die beiden nicht auf dem schnellsten Weg hierher in das Gefängnis und jagten mir durch die Gitterstäbe ein paar Kugeln in den Kopf? Trotz der mörderischen Hitze, die in Croton Springs herrschte, liefen mir kalte Schauer über den Rücken. Ich hatte das unangenehme Gefühl, ich sollte als lebender Köder irgendwelche Raubtiere anlocken. * Der alte Whisper lebte von Gelegenheitsarbeiten. Er klapperte die Saloons an der Main Street und die Transportagenturen in den Nebenstraßen ab und fragte nach, ob er aushelfen könne. Aushelfen bedeutete, ein paar Stunden Arbeit verrichten, für die sich andere zu schade waren. In den Saloons durfte er die Spucknäpfe entleeren und die Dielen mit Sand oder Sägespänen schrubben. In den Lagerhäusern gab man ihm schadhafte Kisten zur Reparatur oder einen Besen in die Hand, damit er den Pferdemist vor den Laderampen zusammenkehrte. Whisper wohnte nicht in Croton Springs, sondern in einer halbverfallenen Blockhütte im Norden der Stadt, wo er sich in die alten Zeiten des Fallenstellers und Trappers in seinen Tagträumen zurückversetzte. In der Stadt arbeitete er nur, wenn er seinen Whiskydurst löschen wollte oder ein paar
unentbehrliche Dinge einkaufen mußte. Doch heute suchte er zum erstenmal nach Arbeit, um in der Nähe eines Menschen bleiben zu können, für den er väterliche Gefühle hegte und den er beschützen zu müssen glaubte. Er lief durch die Stadt wie ein gehetztes Tier. Die Mittagsstunde war sehr ungünstig für seine Nachfrage. Gelegenheitsarbeiten wurden schon in aller Frühe vergeben, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen war. Der alte Whisper holte sich zudem in jedem Saloon an der Main Street eine Absage, weil sich seine Auseinandersetzung mit Chuck Connel sehr schnell herumgesprochen hatte. Dieser Hüne mit den beiden PeacemakerColts und den Schultern, die so breit waren, daß sie im Rahmen einer normalen Wohnungstür steckenblieben, würde die Lektion, die ihm der alte Trunkenbold mit einer leeren Whiskyflasche verpaßt hatte, nicht ungerächt lassen. Ein Toter im Saloon bedeutete immer Scherereien und Ärger, besonders dann, wenn sich kein Verwandter um die Leiche kümmern und sie abholen würde. Jedenfalls erhielt Whisper sogar in seinem Stammlokal eine Absage, wo er sonst seine Schulden immer abarbeiten durfte. »Deine Pendeltür knarrt, Sam«, sagte Whisper zu dem Inhaber des Trail-Saloons. »Ich hole nur mal rasch bei der Wells-Fargo-Agentur einen Topf Wagenschmiere und …« »Nichts zu machen heute, Whisper.« Der dicke Samuel Polder winkte ab. »Oder hat jemand in der Toilette wieder mal neben die Brille …« »Nein, Whisper«, unterbrach ihn der dicke Sam zum zweitenmal. Doch dann holte sich Samuel Polder seinen Kneifer aus dem Fach unter der Theke, wo er auch seine abgesägte Schrotflinte und den Holzhammer zum Anzapfen der Fässer aufbewahrte, rieb ihn an seiner Schürze blank und setzte ihn auf seinen fleischigen Nasenrücken. »Teufel«, sagte er, während er Whisper durch die Gläser betrachtete, »bist du es wirklich, oder hast du einen Zwillingsbruder?« »Sam, ich habe meines Wissens in ganz Arizona nicht mal einen Vetter zweiten Grades.«
»Unbegreiflich, man könnte dich ja fast als Bürgermeister beschäftigen!« »Sam, ich suche nach einem Gelegenheitsjob, keinen Dauerposten! Ich kann gerade meinen Namen schreiben, und lesen kann ich nur so viel, daß ich eine Flasche Whisky von einer Flasche Schwefelsäure unterscheiden würde. Zu mehr reicht es bei mir nicht.« »Du kannst aber reden, Whisper. Auf einmal redest du wie ein Wasserfall! Und gestern konntest du noch keine zwei Silben zusammenhalten und hast jedes Wort dreimal mit der Zunge gespalten, als wäre es Brennholz.« Whisper kratzte sich über dem linken Ohr. »Sam«, erwiderte er, »ich verstehe es selbst nicht. Betone es nicht zu oft. Sobald ich daran denke, könnte es einen Rückfall geben. Im Glorious-Saloon scheint ein Wunder passiert zu sein. Ich stehe vor diesem stoppelbärtigen Banditen und bringe kein einziges Wort heraus. Er macht sich lustig über meine Sprachfehler. Ich nehme eine Whiskyflasche und schlage sie ihm ins Gesicht. Die Wirkung war phantastisch! Ich konnte plötzlich reden, wie ein frischgeborener Säugling schreien kann! Laut und ohne eine einzige Pause oder Unterbrechung!« »Hoffentlich hast du auch etwas von deiner Heilung, Mann«, erwiderte Samuel Polder kopfschüttelnd. »Chuck Connel sieht mir nicht danach aus, als würde er dein Flaschenwunder als heilsame Fügung des Allmächtigen hinnehmen. Ich fürchte, er schleicht mit seinem Messer hierher und macht es wieder rückgängig, indem er dir die Stimmbänder durchschneidet!« Whispers Selbstbewußtsein war durch das »Wunder im GloriousSaloon« erheblich gewachsen, und es nahm auch jetzt noch ständig zu. Er hatte natürlich keine Ahnung, daß sein Stottern mit dem Mangel an Selbstbewußtsein zusammengehangen hatte. »Du hast Angst vor diesem stoppelbärtigen Kerl?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen. »Aber nein, Whisper«, wehrte der Saloonkeeper ab, »ich habe nur keine Arbeit für dich.« »Ich verstehe«, sagte Whisper grollend. »Dein Abortkübel läuft
über, und deine Spucknäpfe schillern in der Sonne. Aber du hast keine Arbeit für mich. Ich habe schon Leute erlebt, die vor Angst einen Sprachfehler kriegen. Oder eine Gelbsucht, an der sie krepiert sind.« Whisper zog sich seinen zerknitterten Schlapphut wütend über die Ohren und warf die Pendeltür hinter sich zu, daß sie fast drei Minuten brauchte, bis sie sich wieder beruhigt hatte. * Gegen zwei Uhr nachmittags, als die Luft über den Dächern von Croton Springs kochte, wollte Whisper seine Bemühungen schon aufgeben, als ihm der Bahnhof einfiel, der fast zwei Meilen vom Stadtkern entfernt lag. Das war eine Notlösung, aber besser als nichts. Wenn er sich dort ein Pferd ausleihen konnte, würde er seinem Freund immer noch helfen können, falls ihm Gefahr drohte. Zwei Meilen waren keine Entfernung für ein Pferd. Für ihn war es eine Strapaze von anderthalb Stunden, bis er die Geleise der Pacific Railroad zu Fuß erreichte. Hier hatte er endlich Glück. Der Stationsvorsteher, Bram Copperfield, beschäftigte einen Neger als Gepäckträger und Gehilfen in der Frachtannahme. Der Neger war heute nicht zum Dienst erschienen, und die Geschichte, die im Glorious-Saloon passiert war, hatte sich noch nicht bis zur Eisenbahn durchgesprochen, weil zwei Meilen glühender Sand zwischen den Geleisen und der Main Street von Croton Springs lagen. »Du kommst mir wie gerufen, Whisper«, sagte der alte Bram Copperfield, der unter seinem Telegraphen-Ticker Siesta hielt. Bram Copperfield war gehörgeschädigt, und deshalb war ihm das Stottern von Whisper noch nie aufgefallen. Er hörte sowieso nur die Hälfte von dem, was die Leute zu ihm sagten. Und so merkte er gar nicht, daß Whisper plötzlich ganz normal und flüssig mit ihm redete. Bram Copperfiel lächelte breit. »Einen Job willst du haben? Der Himmel schickt dich! Abe, mein Assistent, ist plötzlich krank geworden.« Er deutete auf einen Reisigbesen, der im Warteraum in einer Ecke
stand. »Zuerst fegst du die Wartehalle, Whisper. Das macht einen halben Dollar. Anschließend gehst du hinaus auf den Bahnsteig und fegst den ebenfalls. Macht einen weiteren halben Dollar. Dann könntest du dir noch einen Extradollar mit einer Nachtschicht verdienen.« »Die ganze Nacht fegen für einen lumpigen Dollar? Das betrachte ich aber als Ausbeutung, Mister Copperfield!« »… Nacht fegen … Ausbeutung …«, war alles, was der schwerhörige Copperfield verstand. Das genügte ihm völlig, um Whisper beruhigend zuzulächeln. »Du sollst nicht fegen, Whisper, sondern mich vertreten.« »Für einen Dollar?« erwiderte Whisper skeptisch. »Ein Stationsvorsteher wird doch für seine Stellung und nicht für seine Arbeit bezahlt. Ich denke, dafür sollte ich mindestens zwei Dollar verlangen!« »Zwei Dollar, in Ordnung«, antwortete Bram Copperfield. Seinem Nigger hätte er für die Sonderschicht das Doppelte bezahlen müssen. »Du brauchst die ganze Nacht nichts weiter zu tun, als auf einen Zug aufzupassen. Und der ist so groß und so lang, daß ihn keiner klauen kann.« »Ich weiß nicht recht«, erwiderte Whisper skeptisch, »ich habe keine Erfahrung mit Zügen. Muß ich vielleicht auch noch irgendwelche Weichen stellen?« »Um Gottes willen! Weichen darf nicht mal Abe stellen! Du setzt dich nur auf diesen Stuhl hier und bist anwesend. Der Zug steht dort drüben auf dem Abstellgeleise und rührt sich nicht von der Stelle. Es ist ein Güterzug, verstehst du?« »Güterzug, ja. Aber warum muß jemand auf ihn aufpassen, wenn ihn doch keiner stehlen kann?« »Weil das Vorschrift ist, Whisper. Es ist ein Güterzug, der für die Armee bestimmt ist. Die Armee ist sehr pingelig mit ihren Sachen, verstehst du? Sie leidet an Verfolgungswahn. Soweit ich informiert bin, hat der Zug Socken, Decken, Matratzen und Pferdegeschirre für Fort Bowie geladen. Vielleicht auch ein paar Waffen und eine Kiste Munition. Alles Dinge, die man überall kaufen kann. Aber die Armee hat Angst, es könnten nachts Spione an ihre Transporte anschleichen
und nachsehen, ob die Socken für Yankee-Soldaten vielleicht anders gestrickt sind als die für mexikanische Rurales. Verstehst du mich?« »Spione?« erwiderte Whisper ratlos. »Ich kenne ja nun alle Indianerstämme, die hier in der Gegend leben, aber von dem Stamm habe ich noch nie was gehört.« »Ein Spion ist keine Bezeichnung für einen Indianerstamm, Whisper, sondern für einen Mann, der für seine Neugier gut bezahlt wird.« »Teufel«, sagte Whisper schnell, »wo kann man sich denn für diesen Job bewerben!« »Whisper!« sagte der Stationsvorsteher ungeduldig, weil ihm das Gespräch zu anstrengend wurde, »willst du mich jetzt für zwei Dollar heute nacht vertreten oder nicht?« »Doch, Mister Copperfield, ich tue es, wenn ich keine Weichen und keinen Besen bedienen muß. Und wenn Sie mir Ihr Dienstpferd zur Verfügung stellen.« »Wozu brauchst du denn ein Pferd, wenn du nachtsüber hier auf dem Stuhl sitzen sollst?« »Sie sagten eben, ich soll aufpassen, daß sich hier keiner dem Zug nähert und nachsieht, wie die Socken gestrickt sind, die er geladen hat. Und da der Zug sehr lang ist, wäre ein Pferd ein sehr willkommenes Fortbewegungsmittel für so einen alten Mann wie mich.« »Also gut«, sagte Bram Copperfield seufzend, »ich gebe dir zwei Dollar für die Nachtschicht und mein Dienstpferd leihweise für die Kontrollrunden am Nebengeleise. Aber wehe, du mißbrauchst es für einen Abstecher nach Croton Springs, um dir dort einen Whisky zu besorgen. Das Trinken von alkoholischen Getränken ist Eisenbahnbediensteten während der Dienstzeit streng verboten, Whisper.« Gut, daß ich bei der Eisenbahn nur eine Nacht aushelfe, dachte Whisper. Solche Arbeitsbedingungen wären für mich auf die Dauer unannehmbar. *
Chuck Connel, Cyrus Gains, Hank Stiller und Andy Young waren wieder im Hotelzimmer von Mahon Tabor versammelt. Mahon Tabor lag auf dem Bett und manikürte sich die Fingernägel. Die drei Banditen, die für Chuck Connel arbeiteten, hatten die Siestastunden in irgendeinem Bordell verbracht und blickten satt und schläfrig zum Fenster hinaus. Nur Chuck Connel war mit sich und der Welt unzufrieden. Er lief wie ein gereizter Tiger im Zimmer auf und ab. »Ich hätte diesen alten Saufbold erwürgen können, nachdem er mir die Flasche gegen das Kinn geschlagen hatte. Ich hätte ihn töten können, ohne daß ein Gericht in Arizona oder anderswo mir daraus hätte einen Strick drehen können! Aber da kommt mir ein lausiger Texaner ins Gehege und drückte mir einen Colt gegen die Rippen! Ich hätte sie beide erwürgen können!« Mahon Tabor blickte über die Bettstatt hinweg auf den hünenhaften Banditen. Wie ihn dieser Kerl anödete! Diese Kraftmeierei hing ihn zum Hals heraus! Er war froh, daß diese Geschichte im Glorious-Saloon unblutig zu Ende gegangen war. Blut ist kein Saft, der den Geschäften förderlich war. Geld verdiente man am besten auf eine lautlose, unauffällighöfliche Art. »Chuck«, sagte Mahon Tabor kühl, »regen Sie sich ab. Sie haben schon genügend Kerben an Ihren Colts, und der Tod eines alten Mannes hätte doch nur Ihrem Ruf geschadet.« »Er hat sich für diesen verdammten Scout eingesetzt, der drüben in der Zelle sitzt! Ich hatte die Männer schon so weit, daß sie nach einem Strick riefen, um diesen blonden Kerl aufzuhängen!« »Zum Glück hat dieser Treckführer den Dampf wieder aus dem Ventil gelassen, Chuck. Sie sollten die Stimmung ganz langsam anheizen, damit dieser Ex-Scout erst nach Sonnenuntergang gelyncht wird. Nachmittags hätte uns sein Lynchtod nicht einen Cent eingebracht.« »Wenn ich jetzt zum zweitenmal in den Glorious-Saloon gehe und noch ein paar Flaschen Whisky springen lasse, glaubt mir doch kein Mensch mehr, daß ich aus moralischer Überzeugung gegen diesen Kerl hetze!« »Dann werde ich diesen Job übernehmen, Chuck. Ich habe eine
überzeugende Geschichte parat, die ihre Wirkung auf die Männer von Croton Springs bestimmt nicht verfehlen wird.« »Sie sind doch gestern abend vor diesem jungen Mann davongelaufen, Freund. Wenn Sie heute abend gegen ihn hetzen, sieht das auch nicht sehr überzeugend aus.« »Ich verlor gestern abend nur einen Moment die Nerven, weil ich den Ex-Scout längst für tot hielt. Ebensogut hätte mir ein Geist erscheinen können. Aber jetzt werde ich aus dieser Panne einen Sieg machen. Dazu brauche ich nicht einmal ein paar Whiskys zu spendieren. Sie werden mit Ihren Leuten hier im Zimmer so lange warten, bis ich die Stadt so richtig aufgeheizt habe. Wenn die Männer zum Gefängnis aufbrechen, um den Ex-Scout zu lynchen, nehmen Sie Ihre Männer und verschwinden durch die Hintertür. Keinem wird es auffallen, wenn Sie die Stadt verlassen.« »Wir sollen die ganze Dreckarbeit übernehmen, während Sie von Saloon zu Saloon ziehen und Reden schwingen, Freund?« sagte der Bandit mit einem häßlichen Grinsen. »Gleiches Risiko, gleicher Verdienst – so war es vereinbart.« Mahon Tabor legte die Nagelfeile auf die Bettdecke und blickte den Banditen kühl an. »Eine Lynchpartie zu organisieren, ist mindestens so gefährlich, wie einen unbewachten Zug zu überfallen.« »Unbewacht? Ich dachte, der Zug wird von mindestens einem Dutzend Soldaten bewacht!« Mahon Tabor lächelte fein. »Ich werde diese Soldaten zur Lynchpartie einladen. Ich denke, daß mein Plan noch besser ist als der, den wir gestern nacht gemeinsam in diesem Zimmer ausheckten!« * Am Abend war der Glorious-Saloon wieder so gut besetzt wie in der Nacht vorher. Die Mädchen in ihren Flitterröckchen schleppten ihre Tabletts mit Batterien voll Whiskygläsern zu den Tischen und bekamen so viele zusammengefaltete Dollarnoten unter die Strumpfbänder geschoben, daß sie alle halbe Stunde verschwinden
mußten, um die Greenbacks in ihre Pompadours umzupacken. Es war ein schöner, windstiller Samstagabend, und gegen Mitternacht würden die größeren Saloons brechend voll sein. Samstagabend war für die Mädchen von Croton Springs Hochbetrieb. Für diskrete Dinge nahmen sie samstags fünfzig Cents mehr als sonst. Auch der Sergeant, der mit einem Dutzend Soldaten den Transportzug begleitete, der auf dem Nebengeleise am Bahnhof abgestellt war, unternahm noch einen kurzen Abendbummel durch Croton Springs. Seine Leute hatten seit zwei Nächten nicht mehr richtig geschlafen und waren hundemüde. Die Hitze war in den Waggons kaum auszuhalten gewesen, und nachts hatten die Stöße der ungefederten Güterwaggons ihnen kaum Ruhe gegönnt. Deshalb hatte der Sergeant ein Telegramm nach Croton Springs vorausgeschickt, man möge einen zuverlässigen Mann als Nachtwächter für den Transportzug engagieren, da seine Leute wegen Übermüdung nicht mehr im Stande wären, einen geregelten Postendienst zu versehen. Trotzdem wollte Sergeant Beagle nur die Hälfte seiner Männer im Gila-Bend-Hotel übernachten lassen, ehe sie morgen früh wieder in die rollenden Backöfen steigen mußten. Die andere Hälfte, die ihn auf dem Bummel durch Croton Springs begleitete, sollte sich paarweise als Nachtwache am Bahnhof ablösen. Zwei seiner Männer waren bereits wieder am Bahnhof, nachdem sie sich mit einem Steak gestärkt und für eine knappe Viertelstunde mit einem Mädchen durch den Notausgang verschwunden waren. Mahon Tabor war dem Sergeanten und den vier Soldaten, die sich noch in seiner Begleitung befanden, in ein paar Schritten Abstand durch die Main Street gefolgt. Als sie am Westeingang des GloriousSaloons anhielten, ging er etwas rascher. Er trug seinen dunklen, eleganten Anzug und erweckte einen durch und durch seriösen Eindruck. Nur seine sonst so sorgfältig gekämmten Haare hingen ihm etwas wirr in die Stirn. »Mein Gott, Sergeant«, sagte er verstört, »ich glaube, Sie schickt der Himmel hierher nach Croton Springs!« Sergeant Beagle hatte vierundzwanzig Dienstjahre auf dem Buckel. Seine Haare waren grau und schütter, sein Gesicht von Wind
und Sonne gegerbt. Bisher hatten die meisten ihn nur zum Teufel gewünscht, wenn er irgendwo aufgetaucht war. Beagle war ein Stock-Yankee, und die Bevölkerung hier im Süden betrachtete Yankees in blauen Uniformen immer noch als Feinde, obwohl der Krieg seit anderthalb Jahren zu Ende war. Daß ein Gentleman, der dazu noch den Akzent eines im Süden Geborenen sprach, ihn wie einen Schutzengel begrüßte, tat Sergeant Beagle wohl. Er tippte an seine Kappe und fragte: »Zu Ihren Diensten, Sir! Was hat man Ihnen getan? Ihnen die Brieftasche weggenommen? Oder Sie beleidigt?« »Man hätte beinahe auf mich geschossen, Sergeant«, erwiderte Mahon Tabor aufgeregt. Der Sergeant wechselte einen verstohlenen Blick mit den vier Soldaten, die ihn auf seinem Bummel begleiteten. »Sir«, sagte er etwas weniger zuvorkommend, »wenn Sie sich bedroht fühlen, sollten Sie sich einen Revolver kaufen. Die Mannesehre muß jeder selbst verteidigen, wenn er sich zu den Männern zählen will.« Mahon Tabor spielte einen Moment den Gekränkten. Dann griff er in seine Brusttasche und zog ein zusammengefaltetes Papier heraus. Er hielt es an einer Ecke und schüttelte es, bis es sich entfaltete. Er hielt es so, daß das Licht aus dem Saloon darauf fiel. »Kennen Sie diesen Mann, Sergeant?« fragte er erregt. Die Soldaten drängten sich um ihren Sergeant zusammen und betrachteten das Papier. »Natürlich kennen wir diesen Mann, Sir«, erwiderte Sergeant Beagle prompt. »Dieser Steckbrief hängt bei uns im Fort Yuma in jedem Flur am Schwarzen Brett! Fünftausend Dollar Belohnung für diesen Hundsfott von Scout, der unsere Armee beleidigt und mit Kot bekleckert hat, sind viel zu wenig! Was ist mit diesem Kerl?« »Er ist hier in der Stadt, Sergeant.« »Teufel, Mister, wenn es hier keinen Marshal gibt, der ihn festnimmt, werden wir es tun. Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren. Wir sind zu fünft, das bringt uns pro Kopf immer noch tausend Dollar ein.« »Dieser Mann auf dem Steckbrief hat gestern versucht, auf mich zu schießen. Er sitzt hier zwar im Gefängnis, aber nicht wegen seines
Verbrechens im Halcon Canyon. Er sitzt nur wegen Ruhestörung und soll heute nacht wieder entlassen werden.« »Teufel, Teufel – könnte so etwas möglich sein?« »Es könnte nicht nur, sondern es ist möglich. Dieser Verbrecher hat so viel Gold für seinen Verrat von den Apachen erhalten, daß er damit sogar Sternträger bestechen kann. Zuerst haben ihm die Apachen geholfen, daß er aus Fort Calhoun fliehen konnte. Und jetzt sind es die Sternträger, die mehr von Schmiergeldern halten als von ihrem Diensteid!« »Hm, so etwas gibt es. Besonders hier im Süden. Wir sind nur auf der Durchreise. Solange dieser Hundsfott hier im Stadtgefängnis sitzt, können wir nicht an ihn heran. Morgen früh sind wir wieder fort. Wenn der Marshal ihn erst dann aus seiner Zelle herausläßt, können wir es nicht mehr ändern, Sir.« »Mein Gott, Sergeant, ich stamme vom Rio Doro und habe fast alle meine Angehörigen im Halcon Canyon verloren! Es darf nicht geschehen, daß dieser Verbrecher zum zweitenmal aus dem Gefängnis entkommt. Wenn ihn ein ganzes Regiment Soldaten in Fort Calhoun nicht festhalten konnte, dann kann es ein einzelner Marshal erst recht nicht!« Mahon Tabor raufte sich die Haare und rang die Hände. »Ich habe versucht, heute mittag eine Lynchpartie gegen diesen Verbrecher zusammenzubringen. Es ist mir beinahe gelungen, aber dann …« »Lynchen«, sagte der Sergeant bestimmt, »kommt für einen Mann in Uniform nicht in Frage, Mister. Aber wenn wir dafür sorgen können, daß er gelyncht wird, helfen wir Ihnen gern. Wenn Sie ein paar Zivilisten dazu bewegen können, das Gefängnis zu stürmen, passen wir auf, daß Ihnen dieser Hundsfott nicht entwischt. Sind Sie damit einverstanden, Sir?« Mahon Tabor warf dem Sergeanten beide Arme um den Hals und küßte ihn auf die verschwitzte Wange. »Ich wußte doch, daß der Himmel Sie hierher nach Croton Springs geschickt hat! Sie müssen nur bestätigen, daß der Mann, der gestern auf mich schießen wollte, der gesuchte Massenmörder vom Halcon Canyon ist! Alles andere übernehme ich schon selbst!«
* Ich lag immer noch auf meiner Pritsche und betrachtete den feisten Marshal durch die Gitterstäbe. Der Strohsack unter meinem Rücken war pitschnaß von meinem Schweiß. Ich hatte nicht mehr als ein Stück Brot und vier Becher Wasser in vierundzwanzig Stunden zu mir genommen. Aber ich hatte keinen Hunger. Ich hörte ein ominöses Brausen von der Main Street herüberdringen. Ein erregtes Stimmengewirr, das nichts Gutes verhieß. Ich hatte so ein hysterisches Geplärr schon einmal im Fort Worth gehört, als ich in eine Versammlung von weißen Kapuzenmännern geraten war, die einen Neger lynchen wollten. Dieser Storekeeper mit dem blassen Teint hatte ja schon am Mittag angedeutet, daß der Bandit mit den beiden Colts, der mich gestern mit einem Schlag ins Genick betäubt hatte, in den Saloons der Stadt gegen mich hetzte. Offenbar versuchte er das zum zweitenmal mit größerem Erfolg. Eine laue Spätsommernacht ist ein idealer Nährboden für eine Lynchjustiz. »Marshal Webb«, versuchte ich zum x-ten Male, ein Gespräch mit dem Marshal anzuknüpfen, »hören Sie das Summen drüben in der Main Street? Das sind keine Hornissen, sondern ein Mob betrunkener Männer, die bald hier erscheinen werden, um das Gefängnis zu stürmen.« Marshal Webb war genauso schweißgebadet wie ich. Offenbar beschäftigten ihn ähnliche Gedanken. »Ich sehe keinen Grund, weshalb irgend jemand mein Gefängnis stürmen sollte«, erwiderte er unwirsch. Aber seine Stimme hatte einen heiseren Unterton, der mich Hoffnung schöpfen ließ. »Ich sehe den Grund in meiner Person, Marshal«, sagte ich, die Hände im Nacken verschränkt. »Dieser Kerl, von dem Henry, der Pantoffelheld, heute mittag zu Ihnen sprach, möchte unbedingt, daß ich noch heute nacht gelyncht werde.« Ich sagte das so ruhig und freundlich, daß er sich aus seinem Sessel erhob und bis zur Gittertür ging. Er umklammerte mit seinen feisten Händen zwei Gitterstäbe und sagte: »Mann, Sie haben aber die Ruhe weg! Sie sagen das so, als käme jemand zum Haareschneiden zu Ihnen in die Zelle.«
Ich tat so, als müßte ich gähnen. »Das hängt mit meinem guten Gewissen zusammen. Angeblich soll es ja ein sanftes Ruhekissen sein.« »Ich hatte Sie sofort erkannt, Mister«, erwiderte der Marshal mit barscher Stimme, »als diese Kerle Sie bewußtlos hierher in mein Büro trugen. Ein gutes Gewissen? Daß ich nicht lache! Sie sind ein ganz abgebrühter Halunke!« »Sie haben einen Steckbrief von mir in Ihrer Schublade, Marshal?« fragte ich gelassen. Er hatte es also gewußt, daß ich der gesuchte Mörder vom Halcon Canyon war. Von Anfang an hatte er es gewußt. Meine grauen Gehirnzellen tickten. Warum hatte er dann Henry gegenüber abgestritten, daß ich ein steckbrieflich gesuchter Verbrecher war? »Ein ganzes Bündel, Mister Ronco! Fünftausend Dollar sind mir so gut wie sicher!« »Ich hätte heute morgen fliehen können. Warum habe ich es nicht getan?« »Weil Massenmörder geistig in der Regel beschränkt sind. Das können Sie in jedem Fachbuch nachlesen.« »Sehe ich so aus, als wäre ich geistig beschränkt?« »Das nicht gerade. Aber wahrscheinlich hat Ihnen Chuck Connel gestern abend auch einen Schlag mit dem Colt auf den Hinterkopf verpaßt und dadurch Ihr Gehirn erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Sonst hätten Sie heute morgen Whisper meinen Colt gegeben, daß er auf mich aufpassen soll, und wären an seiner Stelle getürmt!« »Und ich hätte Ihnen ein Loch in das Gehirn schießen können, wenn ich unbedingt hätte fliehen wollen, denn mehr als einmal kann man nicht gehängt werden, Marshal.« »Ja, das ist allerdings wahr und beschäftigt mich schon seit dem Frühstück. Sie müssen völlig verrückt geworden sein. Liegen auf der Pritsche und grinsen, während sich in den Saloons eine Lynchparty für Sie zusammenrottet.« »Und Sie müssen mich gegen diese lynchwütigen Männer verteidigen. So will es das Gesetz.« »Ich denke nicht daran. Einen Massenmörder zu verteidigen?
Dafür bin ich mir zu schade.« »Ich verstehe Sie nicht ganz, Marshal. Wenn einer von uns beiden verrückt ist, müssen Sie das sein! Sie haben nicht mehr viel Zeit, wieder zu Verstand zu kommen. Das Fieber steigt von Minute zu Minute höher.« Er horchte in die Nacht hinaus, und der Schweiß lief an seinen Nasenflügeln entlang in die Mundwinkel. »Wie viele Dollar hat Ihnen dieser Gentleman mit dem getrimmten Schnurrbart bezahlt, daß Sie meinen Namen vor den Leuten in Croton Springs geheimhalten?« Der Marshal zuckte zusammen, und seine Hände krampften sich noch fester um die Gitterstäbe. »Gar nichts hat er mir bezahlt! Weshalb sollte er auch?« »Ja, das beschäftigt mich auch schon seit dem Frühstück, das Sie mir verweigert haben. Ich versuche einmal, mich an Ihre Stelle zu versetzen. Also, da taucht ein ehemaliger Offizier von Fort Calhoun, der einen Treck Frauen und Kinder an die Apachen verraten hat, hier in Croton Springs auf. Die Armee hat ihn gezwungen, den Abschied zu nehmen, um einen Skandal zu vermeiden. Ich …« »Moment mal! Dieser Gentleman mit der Schnürsenkelkrawatte und dem Anzug eines Berufsspielers ist ein ehemaliger YankeeOffizier aus Fort Calhoun?« »Ach, das hat er Ihnen verschwiegen? Aha! Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß er sich mit Männern verbündet hat, die einem ehemaligen Offizier der Yankee-Armee schlecht zu Gesicht stehen? Ich kann beweisen, daß dieser Ex-Offizier den Treck mit Frauen und Kindern, den ich nach Fort Calhoun führen mußte, an die Apachen verraten hat. Das haben mir die Apachen selbst erzählt. Und wissen Sie auch, warum? Weil dieser saubere Yankee seine Spielschulden nicht mehr bezahlen konnte. Ich sollte dafür gehängt werden, weil dieser abgefeimte Schuft und ehemalige Yankee-Offizier die geheime Route meines Trecks an die Apachen verriet und dafür von den Rothäuten Gold erhielt, damit er seine Spielschulden bezahlen konnte.« »Ist das wahr?« fragte der Marshal mit belegter Stimme. »Ich schwöre es bei allen Bibelübersetzungen und dem Original.
Und bei der Seele meiner Mutter und der Heiligen Jungfrau Maria – falls Sie katholisch sein sollten –, daß ich an dem Massaker im Halcon Canyon unschuldig bin. Wieviel hat Ihnen dieser abgefeimte Schurke bezahlt, daß Sie mich hier in der Zelle einschließen und keinem einen Ton davon sagen, daß ich der gesuchte Outlaw Ronco bin?« »Keinen Cent hat er mir bezahlt«, erwiderte der Marshal heiser, aber der Schweiß lief ihm jetzt in Sturzbächen über das feiste Gesicht. »Sie schwindeln mich an, Marshal, aber das müssen Sie mit Ihrem Gewissen aushandeln. Sie wundern sich nur, daß er inzwischen mit Hilfe seiner zwielichtigen Partner die Stimmung in Croton Springs bis zum Siedepunkt anheizt. Das widerspricht doch allen Regeln der Vernunft, nicht wahr? Sie sollen meinen Namen geheimhalten, und er posaunt ihn jetzt in allen Saloons der Stadt aus. Das reimt sich doch nicht zusammen!« »Ich verstehe es auch nicht«, flüsterte Marshal Webb vor den Gitterstäben. »Ich werde es Ihnen erklären, Marshal. Dieser saubere Ex-Offizier mit der Schnürsenkelkrawatte und dem getrimmten Schnurrbart war gestern im Saloon zu Tode erschrocken, als ich auf ihn zuging und sagte, ich hätte jetzt die Beweise gegen ihn, die mich entlasten und ihn an den Galgen bringen würden. Er flüchtete aus dem Saloon, und ich lief ihm nach, um ihn mit gezogener Waffe zu Ihnen hierher ins Gefängnis zu bringen. Leider schlugen mich seine Partner bewußtlos, bevor ich mein Vorhaben durchführen konnte. Und jetzt kommt der geniale Schachzug dieses intelligenten Halunken.« »Was für ein Schachzug?« »Er muß verhindern, daß ich von Ihnen dem US-Marshal des Territoriums Arizona ausgeliefert werde, der meine Aussage zu Protokoll nehmen würde. Deswegen die Lynchparty. Ein Toter kann nichts mehr aussagen. Und damit Sie die Prämie von fünftausend Dollar nicht kassieren können, werden Sie auch gleich bei der Lynch-Party liquidiert. Sie versuchen, das Lynchen zu verhindern …« »Ich werde mich hüten«, flüsterte der Marshal heiser. »Ich bin
doch nicht verrückt!« »Das wird Ihnen gar nichts nutzen, Mann. Die Meute stürmt in Ihr Büro. Ein Schuß fällt, und trifft Sie aus Versehen. Sie sind tot und können nicht mehr aussagen, daß ein gewisser Mahon Tabor, ExOffizier der Yankee-Armee aus Fort Calhoun, Sie bestochen hat, meinen Namen nicht zu verraten, bis ich in Croton Springs von einer aufgebrachten Menge gelyncht wurde. Wenn man Geld bei Ihnen findet, stammt es natürlich von mir. Dann habe ich Sie bestochen, meinen Namen nicht zu verraten und mir zur Flucht zu verhelfen. Nun, wieviel hat dieser Schurke Ihnen gegeben?« Ich wartete nervös, bis er alles verdaut hatte und die Logik meiner Darstellung begriff. Er starrte mich an, und dann sagte er leise: »Und das alles für fünfhundert Dollar! Für lumpige fünfhundert Dollar!« »Das hat er Ihnen bezahlt?« Ich lachte mit gespielter Sorglosigkeit. »Wenn Sie mich schon gestern nacht nach Fort Bowie gebracht und dort abgeliefert hätten, wären Sie jetzt um fünftausend Dollar reicher und aller Sorgen frei!« »Er hat mir fünfhundert Dollar gegeben, daß ich Sie erst morgen am Tage nach Fort Bowie bringe«, flüsterte der Marshal. »Jetzt verstehe ich endlich, warum!« »Ja«, erwiderte ich mit einem Achselzucken, »fünfhundert Dollar reichen gerade für eine wunderschöne Beerdigung. Vielleicht kriegen wir beide sogar ein Doppelgrab, Marshal.« »Das finde ich gar nicht komisch.« Er horchte wieder in die Nacht hinaus. Das Summen in der Main Street war inzwischen zu einem Grölen angeschwollen, das keine Mißdeutungen mehr zuließ. »Holt ein Seil!« riefen ein paar Stimmen im Chor. »Ein schönes, neues Seil aus dem General-Store, das einen Massenmörder aushält!« »Nun«, sagte ich und würgte meinen eigenen Schrecken herunter. »Sie hätten mit den fünftausend Dollar, die auf meinen Kopf gesetzt waren, ganz gut leben können. Aber fünfhundert Dollar sind eine lausige Bezahlung, wenn man dafür sterben soll.« »Das weiß ich auch«, flüsterte der Marshal, in Schweiß gebadet. »Was soll ich tun?« »Etwas Rasches!« »Wir könnten durch die Hintertür des Zellenblocks aus dem
Gefängnis entweichen und die Nacht über nach Fort Bowie reiten«, sagte der Marshal. Das erschien mir zu riskant, aber ich stimmte erst einmal zu, um ihn in dieser Richtung weiterzutreiben. Er war bereits auf dem richtigen Weg. »Ja«, sagte ich, »das wäre eine Lösung. Ich könnte in Fort Bowie meine Aussage zu Protokoll geben, und Sie erhielten Ihre fünftausend Dollar Belohnung. Aber wir brauchen zwei Pferde zu diesem Zweck. Haben Sie zwei Pferde?« »Nein. Ich müßte sie im Mietstall besorgen.« »Und wo ist der Mietstall?« »Hinter dem Glorious-Saloon.« »Wie gelangt man dorthin?« »Durch die Main Street.« »Mist«, erklärte ich, »da muß Ihnen schon etwas anderes einfallen, Marshal. Die Leute werden sagen, ich hätte Sie bestochen, daß Sie mit mir ein paar Meilen weit aus der Stadt reiten und mich dann freilassen.« »Fünftausend Dollar! Das würde mir reichen für die Ranch, die ich mir schon lange aufbauen wollte. Für fünftausend Dollar täte ich alles!« »Wenn Sie sich dafür töten lassen wollen, kann Ihre Frau für Sie den Wunschtraum erfüllen.« »Lucy?« Er schüttelte den Kopf. »Lucy würde das Geld nehmen und sofort wieder heiraten. Das wäre eine schlechte Lösung.« »Wir müssen uns auf etwas einigen, was uns beiden keinen Strick, sondern einen Vorteil bringt«, sagte ich, angespornt von den bedrohlichen Geräuschen auf der Main Street. »Sie wollen Ihre Ranch haben, und für mich ist jetzt die Freiheit das höchste Gut. Mehr als fünftausend Dollar war in diesem Spiel für Sie auf keinen Fall zu gewinnen. Und das könnte ich Ihnen auch bieten!« »Mit Ihrem Kopf …« »Nein«, unterbrach ich ihn, »aber ohne viele amtliche Umwege, die manchmal Jahre dauern können. Sie müssen nur rasch auf meinen Vorschlag eingehen. Sonst wird uns jede Wahl abgenommen.« »Ein Trick, wie?«
»Nein«, erwiderte ich gereizt. Die Habgier dieses Marshals überstieg bei weitem seine Vernunft. »Sie kommen hier herein. Mit Ihrem Tablett und dem Geschirr, auf dem Sie Ihr Abendbrot verzehrt haben. Wir werden es ein bißchen zerbrechen, verstehen Sie? Und den Rest des Kaffees auf den Zellenboden schütten. Ich werde Sie hier an die Pritsche fesseln und Ihnen einen Knebel in den Mund stecken. Damit es echter aussieht, verschaffe ich Ihnen auch noch ein paar Hautabschürfungen und blaue Flecken. Dann nehme ich Ihre Schlüssel und meinen Waffengurt und verlasse das Gefängnis durch die Hintertür.« »Ein Trick …« »Und vorher tauschen wir noch die Stiefel. Sie haben die gleiche Größe wie ich, und das Leder ist besser. Weniger abgenutzt.« »Und das soll ein Handel zum gegenseitigen Vorteil sein?« »In dem Futter meiner Stiefel stecken fünftausend Dollar in Scheinen!« Er starrte mich durch die Gitterstäbe an, als könne er jetzt zehntausend Dollar an mir verdienen. Aber ich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Sie kommen an die Stiefel nur heran, wenn Sie die Zelle aufschließen und sie betreten. Sie können einen Blick in die Geheimtasche in dem Innenfutter werfen und das grüne Notenpapier betrachten. Doch zu mehr reicht die Zeit nicht mehr! Vorwärts! Haben Sie doch endlich ein bißchen Vertrauen zu einem Mitmenschen!« »Ich weiß nicht!« »Schön«, erwiderte ich wütend, »dann ziehe ich jetzt meine Stiefel aus, zerkaue die fünftausend Dollar zu einem Papierbrei und spucke ihn auf den Zellenboden. Ich sehe nicht ein, daß ich meine Mörder auch noch mit meinem sauer verdienten Vermögen belohnen soll!« Ich griff in meinen linken Stiefel, klaubte einen Hunderter heraus und steckte ihn in den Mund. Die Augen fielen ihm fast aus dem Gesicht, als er sah, wie ich heftig in das knisternde Papier biß. »Wahrhaftig«, flüsterte Marshal Webb heiser, »der Kerl bringt es fertig und frißt vor meinen Augen ein Vermögen auf!« »Letzte Chance für Sie, Marshal! Noch können Sie viertausendneunhundert Dollar verdienen!«
»Ich bin einverstanden. Hier haben Sie die Schlüssel!« »Und Ihren Colt bitte auch, Marshal, ehe Sie die Zelle betreten. Dafür können Sie auch gleich meine Stiefel an der Zellentür in Empfang nehmen …« * Whisper hörte das schreckliche Grölen bis zum Bahnhof. Er hatte sich in dem Stationsvorsteherhäuschen eingerichtet, das nicht viel größer war als das Hühnerhaus, das er an sein Blockhaus angebaut hatte. Seine zerlumpte Jacke und seinen zerknautschten Schlapphut hatte er an den Hebeln aufgehangen, mit denen die Weichen zur Einund Ausfahrt auf das Nebengeleis gestellt wurden. Dann hatte er sich den Stuhl des Stationsvorstehers so zurecht geschoben, daß er die Weichenhebel im Rücken und das Fenster zum Bahnsteig vor sich hatte. Der Güterzug war eine dunkle Masse vor dem hellen Sand der Wüste. Nur im Wagen am Ende des langen Zuges brannte ein Licht. Der Güterzug war wahrhaftig zu groß und schwer für einen Dieb. Auch eine große Bande von Dieben hätten ihn nicht von der Stelle rücken können. Und solange die Weichen am Anfang und Ende des Zuges blockiert waren, hatte ihm Bram Copperfield erklärt, konnte auch keiner mit dem Zug davonfahren. Whisper glaubte bereits fest daran, daß die zwei Dollar, die er für seine Nachtwache erhielt, so gut wie im Schlaf verdient waren, als er das bedrohliche Geräusch aus der Richtung von Croton Springs vernahm. Ein leichter Wind war aufgekommen, der von den Bergen im Norden in das Tal des Gila wehte. Der Wind trug ihm das Grölen der betrunkenen Männer zu, und sofort mußte er wieder an seinen jungen Freund denken. Da hetzte wieder jemand im Saloon die Leute auf. Dieser Hüne wahrscheinlich, der Bob als Massenmörder bezeichnet hatte! Whisper begann zu schwitzen, als das Grölen in Croton Springs immer lauter wurde. Whisper war ein Mann, der Gewissenspflichten ernst nahm. Er hatte diesen Job am Bahnhof nur angetreten, um in der Nähe seines Freundes bleiben zu können.
Widerstreitende Interessen zerrten jetzt an ihm. Er fühlte sich wie die bemitleidenswerten armen Sünder, die er als kleiner Junge auf vergilbten Holzschnitten betrachtet hatte: halbnackte Männer, deren Arme und Beine mittels eines dicken Taus an zwei kräftige Gespanne angebunden waren, die von Henkersknechten mit der Peitsche in entgegengesetzte Richtungen getrieben wurden. Genauso fühlte er sich hin und her gerissen, und in seiner Phantasie sah er bereits seinen jungen Freund mit einem dicken Tau um den Hals. Was dachte er da? Sein Freund Bob war unschuldig! Er hatte keinen Freund in Croton Springs außer dem alten Whisper. Und der saß hier am Bahnhof, zwei Meilen vom Gefängnis entfernt! Er war verrückt gewesen, daß er diesen Job angenommen hatte! Er hätte sich hinter dem Gefängnisgebäude mit einer Flinte auf die Lauer legen sollen! Er hatte nicht einmal einen Colt bei sich. Das alles stürmte jetzt auf den alten Whisper ein. Er hätte sich denken können, daß man seinem Freund Bob keine ruhige Nacht mehr im Gefängnis gönnte. Hatte Bob ihm nicht angedeutet, daß sich der wahre Schuldige an dem Massaker im Halcon Canyon mit dem stoppelbärtigen Hünen verbündet hatte, der im Glorious-Saloon die Stimmung mit Whisky gegen Bob anheizte? Hatte ihn der Whisky so arglos und vertrottelt werden lassen, daß er die Schatten drohender Gefahren nicht mehr rechtzeitig erkannte? Er hatte sie vorausgeahnt! Deswegen hatte er auch von Bram Copperfield die Bereitstellung eines Dienstpferdes verlangt. Whisper nahm seinen Schlapphut wieder vom Stellhebel der Weiche zwei und stülpte ihn auf seine grauen Haare. Die Jacke ließ er hängen. Dann zog er alle erreichbaren Schubladen in seiner Nähe auf, bis er fand, was er suchte: einen alten Dienstrevolver und eine Schachtel Munition. Den Revolver schob er in den Hosenbund, die Munition ließ er liegen. Er hätte sie nur auf dem Weg verstreut wie Hühnerfutter. Seine Taschen hatten längst keine Böden mehr. Die Lampe im Stationsgebäude ließ er brennen. Er lief durch den leeren Warteraum, kletterte über den Schalter der Gepäckannahme und ging durch die Tür in den angrenzenden Schuppen, wo die Fracht gelagert wurde. Dahinter schloß sich ein kleiner Stall an, in
dem ein Kastenwagen und zwei Pferde untergestellt waren. Der Kastenwagen gehörte der Eisenbahn und war für die Zustellung von Bahnfrachtstücken bestimmt. Auch die beiden Pferde, die dort in ihren Boxen schliefen, waren Eigentum der Pacific Railroad. Das eine davon war zum Reiten nicht geeignet. Es war ein schweres Kaltblut von beträchtlichem Leibesumfang und einem blinden Auge. Daneben stand der Morgan, der dem Stationsvorsteher als Dienstpferd zugeteilt war. Der Morgan war auch nicht mehr jung, aber für einen scharfen Trab über zwei Meilen war er doch noch gut genug. Whisper holte den Sattel vom Sattelbalken, warf ihn dem Morgan über den Rücken und zog den Gurt unter dem Bauch des Morgan fest. Hoffentlich komme ich nicht zu spät! Hoffentlich komme ich nicht zu spät! betete er ununterbrochen. Seine Sorge nahm ihn so gefangen, daß sie alle seine Sinne nach innen richtete. Er hörte seine Gebete, die er doch nur in Gedanken herunterleierte, so laut, als säße er in einer Kirche zwischen Mönchen, die den Rosenkranz herunterbeteten. Er warf dem Morgan das Halfter über und zog ihn aus der Box. Dann öffnete er die äußere Stalltür und ging rückwärts aus dem Schuppen hinaus in das Mondlicht, weil der Morgan am Zügel zerrte. Das rettete Whisper das Leben. Denn neben dem Schuppen, im Schatten des Giebels an der Seitenwand, parkte ein großer Planwagen, der mit vier Pferden bespannt war. Zwei maskierte Reiter verharrten am Heck des Wagens, die Gewehre auf die Schenkel gestemmt, den Blick abwechselnd auf den Zug und das Bahnhofsgebäude gerichtet. Als die Stalltür, die nur fünf Yards von ihnen entfernt war, plötzlich nach außen aufschwang, nahm einer von den beiden Posten mit einem leisen Fluch das Gewehr hoch. Er visierte an der senkrechten Linie der Stalltür vorbei und wartete darauf, daß jemand diese Grenze überschritt. Dann erschien der Absatz eines Stiefels, die Kehrseite einer zerlumpten Hose, ein flatterndes Hemd. »Er hat uns nicht bemerkt«, flüsterte Cyrus Gains hinter Hank Stillers Nacken, als der Bandit schon den Druckpunkt aufnahm. »Wir
ziehen uns in den Schatten der Schuppenwand zurück und warten ab, was er tut«, fuhr Gains flüsternd fort. Hank Stiller nickte. Dann drängte er seinen Braunen einen Schritt weiter auf den Planwagen zu, während er das Gewehr schußbereit an der Schulter behielt. Whisper ahnte nicht, daß der Tod ihn über Kimme und Korn belauerte, während er mit leisen Flüchen den widerstrebenden Morgan aus dem Stall zerrte. Das Biest war so widerborstig, daß Whisper keine Zeit oder einen Blick für seine Umgebung hatte. Als er sich endlich in den Sattel des Morgan schwingen konnte, war er bereits zehn Yards vom Bahnhofsgebäude entfernt. Er drückte Morgan die Hacken in die Weichen und trabte in die Dunkelheit. An der Schuppenwand setzte Hank Stiller seinen Spencer wieder ab. »Der hat mehr Glück als Verstand«, sagte er leise zu Cyrus Gains. »Wir aber auch«, erwiderte Cyrus Gains im Flüsterton. »Ein Schuß hätte uns den ganzen Coup verdorben.« * Corporal Stocker hörte das Grölen im letzten Waggon des Güterzuges ebenfalls. Er unterbrach das Pokerspiel, das er mit Private First Class Brian Pitchfork seit zwei Stunden notdürftig im Gang hielt. Sie spielten um Schwefelholzköpfe, die irgendwann einmal in Dollar umgetauscht werden sollten. Irgendwann bedeutete in der Regel niemals, weil die Löhnung eines Private First Class nicht einmal für das Allernötigste reichte. »Teufel«, sagte Corporal Stocker, »ich glaube, der Sergeant hat unsere Ablösung vergessen.« »Ist noch fünf Minuten hin«, tröstete Brian Pitchfork seinen Wachführer. »Ich habe 'ne Uhr, die sehr genau geht.« »Müßte aber schon hören, daß die Ablösung zum Bahnhof unterwegs ist, Pitchfork.« »Ich habe gerade einen Wagen mit Pferden gehört, Corporal. Vielleicht fahren Baldwien und Thompson mit 'ner Kutsche zur
Ablösung.« »Dann müssen sie aber schon so besoffen sein wie die Leute, die wir die ganze Zeit grölen hören. Mann, dann dürfen wir doppelt so lange Wache schieben! Besoffene müssen sofort abgelöst werden oder können gar nicht erst die Wache übernehmen.« »Warten wir doch erst mal ab, Corporal«, besänftigte PFC Brian Pitchfork den aufkeimenden Ärger seines Vorgesetzten. Corporal Stocker warf seine Karten auf das Stroh, mit dem die Ladefläche des Waggons ausgelegt war, wo keine Munitions- oder Gewehrkisten standen. Er hängte den Spencer mit der Mündung nach unten am Riemen über seine rechte Schulter und blickte durch das kleine, vergitterte Fenster des Güterwagens hinüber zum Stationsgebäude, wo eine einzige Lampe im Fenster neben der Sperre brannte. Der Bahnsteig sah ruhig und friedlich aus, genauso wie der Mann im Büro des Stationsvorstehers. Ein ulkiger Kauz, dachte Corporal Stocker, schläft im Stehen wie ein Pferd! Er konnte durch die Scheibe nicht erkennen, daß es nur eine zerlumpte Jacke war, die dort an einem Weichenhebel hing. Der Anblick beruhigte Stockers Nerven und wiegte ihn in ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. »Da kommen sie ja endlich!« rief Private First Class Brian Pitchfork hinter ihm an der offenen Waggontür. Pitchfork blickte noch einmal auf seine Taschenuhr. Die Ablösung hatte sich nur zwei Minuten verspätet. Sie kam nicht vom Bahnsteig, sondern über das Hauptgeleise, wo die Weichen schon wieder für die Durchfahrt des Zuges geradegestellt war, der gegen Morgen hier durchfahren sollte. Die beiden uniformierten Gestalten gingen über den Schotter des Bahnkörpers. Das mußten Corporal Baldwin und Private Thompson sein, und sie schienen völlig nüchtern zu sein. Pitchfork atmete auf. Er würde in Croton Springs noch ein paar Gläser Whisky trinken und vielleicht auch eine Lady mit ins Heu nehmen, wenn das Geld dafür noch reichte. Corporal Stocker zwängte sich zwischen den Munitionskisten hindurch zur offenen Schiebetür. Er beugte sich über Pitchforks Rücken und spähte auf den Bahnkörper hinunter. Corporal Baldwin
würde die Wachführung übernehmen und die vorschriftsmäßige Meldung verlangen. »Keine besonderen Vorkommnisse, Corporal!« rief Stocker zu der Deckelmütze hinunter, die sich unter ihm am Fuß der Schotterböschung bewegte. »Was ist denn das für ein Lärm in der Stadt?« Die beiden uniformierten Gestalten blickten zu ihnen hoch. PFC Brian Pitchfork ließ vor Schreck seine Nickeluhr fallen. Doch ehe er zu seinem Holster greifen konnte, fuhr ihm ein Bajonett von unten her durch die Brust. Corporal Stocker brachte noch sein Gewehr nach vorn. Er schwang es am Riemen, während seine rechte Hand am Schaft nach oben glitt und den Abzug suchte. Doch so lange wartete der Hüne nicht, der plötzlich unter dem Waggon aufgetaucht war wie ein Geist, der aus der Hölle erscheint. Auch er hatte ein Gewehr, das mit einem Bajonett versehen war. Es war für alles zu spät. Stocker brach tödlich getroffen zusammen. »Zieht sie aus dem Waggon«, befahl Chuck Connel, der mit Andy Young unter dem Waggon hindurchgekrochen war, während Cyrus Gains und Hank Stiller mit den Uniformen, die sie den beiden Soldaten vor dem Bahnhof abgenommen hatten, die Wachablösung mimten. »Was sollen wir mit den beiden tun?« fragte Stiller. »Sie hier im Sand verscharren?« »Dafür haben wir keine Zeit«, erwiderte Chuck Connel. »Uns bleiben genau zwei Stunden bis zur nächsten Wachablösung. Bis dahin muß dieser Waggon leergeräumt sein. Du, Andy, holst jetzt das Gespann und läßt es auf der anderen Seite auf dem Bahnsteig anhalten! Die beiden toten Yankees werfen wir zusammen mit den beiden anderen Leichen in den Gila. Dann wird es so aussehen, als hätten die Yankee-Soldaten die Gunst der Lynchstunde dafür ausgenutzt, mit den Waffen und der Munition in die Berge zu desertieren!« *
Für mich war die Gunst der Stunde außerordentlich knapp bemessen. Ich hatte noch rasch ein paar Hunderter in den hohlen Hand verschwinden lassen, ehe ich die kostbaren Stiefel gegen die Treter des Marshals eintauschte. Dann band ich den Marshal in fliegender Hast an meiner Pritsche fest. Zu einem Knebel reichte es nicht mehr. Ich gab ihm einen Schlag auf den Kopf, so daß er schlaff auf dem Strohsack zusammensank. Fairerweise überließ ich ihm trotzdem meine Stiefel. Ich raste aus der Zelle, warf die Riegel ins Schloß und die kugelsicheren Läden vor die Fenster, als die ersten Schläge gegen die Tür wummerten. Ich schlang mir meinen Waffengurt um, nahm noch eine doppelläufige Greener aus dem Gewehrständer mit und eilte zur Hintertür des gemauerten Gefängnisbaues, durch den sonst die Abortkübel ins Freie befördert wurden. »Gib den Halunken heraus, Webb!« brüllten draußen die betrunkenen Männer. »Gib uns den Halunken heraus, damit wir ihn baumeln lassen können!« Das hörte sich gar nicht so bösartig an. Es erinnerte mich eher an ein Rodeofest in Texas. Aber dann prasselten die ersten Schüsse gegen die holzverschalten Fenster, und das erinnerte mich wieder daran, daß Hinrichtungen in Texas auch eine Art Volksfest zu sein pflegten. Die Hintertür des Gefängnisses zeigte noch keine Kugeleinschläge. Es war nur eine Art von Notausgang – klein und schmal, daß ein ausgewachsener Mann nur gebückt hindurchschlüpfen konnte. Ich hatte das Licht vom Schreibtisch des Marshal mitgenommen und blies jetzt die Flamme aus, ehe ich die Tür aufsperrte. Ein kalter Luftzug wehte mich von draußen an. Ich war bewußtlos in diesen Bau verschleppt worden und hatte keine Ahnung, wie es auf der Nordseite des Gefängnisses aussah. Schüsse bellten in meiner Nähe auf. Mündungsflammen zuckten über ein Gemäuer weg. Eine Zehntelsekunde Licht genügte mir, den Hof zu übersehen, auf den der Notausgang mündete.
Der Hof war eine schmale Gasse, nur so breit wie der Arm, den ich vorsichtig ausstreckte. Meine Fingerspitzen berührten wieder etwas Gemauertes, das eine Handbreit über meinem Kopf zu Ende war. Ich war nicht in einem Hof. Ich befand mich in einer gemauerten Jauchengrube, die über mir mit ein paar Brettern abgedeckt war und unter mir schwarz gähnte wie ein Brunnenschacht, aus dem ein fauliger Geruch zu mir hochstieg. Schüsse peitschten wieder über das Gebäude und die gemauerte Grube. Die Lücke in dem Gemauerten vor mir war eine Öffnung, durch die Jauche ins Freie abfließen konnte, falls das Gefängnis einmal brechend voll sein sollte und diesen organischen Dünger im Überfluß produzieren würde. Wenn ich einen kleinen gestreckten Hechtsprung wagte, konnte ich durch diese Öffnung ins Freie gelangen und den stinkenden Abgrund unter mir überbrücken. Es bedurfte nur eines kurzen Sprunges in waagerechter Richtung, wie ihn Katzen jeden Tag dutzendweise vollführen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Ich warf zuerst die Greener über die Grube und sprang dann hinterher. Ich streifte mit den Schultern scharfkantige Steine, die ein wenig an meiner Lederjacke schabten. Doch dann konnte ich den Sprung als geglückt bezeichnen, wenn auch nicht die Landung. Ich sah die Greener tief unter mir. Ich hatte nicht gewußt, daß Croton Springs in der Diagonalen von einem Canyon durchschnitten wurde, der offenbar der Stadt als Kloake diente, soweit nicht Schmelzwasser aus den Bergen oder seltene Regengüsse ihn mit Trinkwasser füllten. Die Hintertür des Gefängnisses führte also direkt in einen Abgrund hinunter, und deshalb hatten hier auch keine lynchwütigen Menschen gestanden. Der Canyon war nicht sehr breit und auch nicht sehr tief. Doch sechs Yards mit einer fast senkrechten Böschung sind ausreichend, um sich darin das Genick zu brechen. Ich rutschte kopfüber in den Abgrund, packte dort zu, wo ich den Doppellauf der Greener im Mondlicht schimmern sah, und schwang an einem Felszacken herum,
bis mein Kopf wieder nach oben wies und meine Beine nach unten. Ich holte tief und dankbar Luft, während über mir die Beschießung des fast leerstehenden Gefängnisses weiterging. Das Mündungsfeuer warf rötliche Lichter über den Canyon und zeigte mir schwach ausgebildete Felsbänder und karges Gestrüpp, die eine waagerechte Fortbewegung begünstigten. Ich schob mich mit Spreizschritten am Abgrund entlang, der nach Nordosten vom Gefängnis wegführte. Mein Herz vollführte einen kleinen Freudensprung, denn ich sah etwas Dunkles, das sich über dem Abgrund ausbreitete wie eine gluckende Henne. Ein solider Steg war dort über den Canyon geschlagen, der mit seinen Stützbalken in den Canyonwänden verankert war. Ich krallte mich vorwärts, die Greener zwischen den Zähnen, als müßte ich sie apportieren. Ich spielte mit den Gedanken, sie auszuspucken und in die Tiefe poltern zu lassen. Doch ich wußte, daß meine Flucht noch lange nicht geglückt war. Ich befand mich irgendwo im Gewirr der Gassen hinter der Main Street, und die Wohnhäuser der Familien, die an der Hauptstraße ihre Läden und Saloons errichtet hatten, warfen ihre drohenden Schatten über mich. Am Gefängnis setzte der Mob offenbar zum Sturm auf die Vordertür und die zerschossenen Fenster an. Sie würden bald entdecken, daß der Vogel ausgeflogen war. Ich arbeitete mich auf den Steg zu, sah ein paar Fackeln sich dem Abgrund nähern und schloß grimmig eine Wette mit mir ab, daß ich die Stützbalken zuerst erreichen würde, ehe die Fackelträger mich entdeckten. Ich gewann die Wette um eine Handbreite. Ich hing an den Streben unter den Bohlen, bevor schwere Stiefel das Holz über mir zum Schwingen brachten. Die Schritte gingen zweimal auf der Brücke hin und her und bewegten sich dann auf das Nordufer des Canyons zu. Ich klammerte mich an den schrägen Balken unter dem Steg, die Greener immer noch zwischen den Zähnen. Das Gewicht dieser Flinte schien zu einer Zentnerlast anzuwachsen. Aber ich durfte sie jetzt nicht mehr ausspucken, denn das Geräusch der aufpolternden Flinte hätte die Fackelträger in der Gasse über mir alarmiert und ihnen meinen
Standort verraten. Dann, als der Lärm bei dem Gefängnis zu einem tobenden Sturm anschwoll, der sich aus Schüssen, Schreien und Flüchen zusammensetzte, schwang ich zum nächsten Balken hinüber, klammerte mich dort wie ein Affe fest, der an einem Baumast auspendelt, streckte erneut den linken Arm aus, schloß meine Hand fest um den Rand des Steges, krallte mich dort fest und griff dann auch mit der rechten Hand nach. Über mir blieb alles still. Ich sog die frische Nachtluft, die über den Canyon strich, tief in die Lungen und sammelte neue Kraft in den Oberarmmuskeln. Dann setzte ich zu einem Klimmzug an und bewegte meinen Kopf nach oben. Ich passierte mit den Augen den dunklen Rand des Bohlensteges und sah drei Paar Stiefelkappen, die auf der Brücke auf mich gewartet zu haben schienen. Ehe ich wieder hinuntertauchen konnte in den Schatten des Canyons, griffen drei paar Arme zu. Ein paar Hände nahmen mir die Greener aus den Zähnen, ein anderes Paar krallte sich in meinen Haaren fest, und das dritte war mir dabei behilflich, mich auf den Steg hinaufzubefördern, in dem es mich am Genick nach oben zog. Die drei hilfreichen Männer sprachen kein Wort, bis ich vor ihnen auf den Bohlen lag. Erst als ich sie von den Knien an aufwärts überschauen konnte, meinte der Mann, der mich immer noch bei den Haaren gepackt hielt, mit grimmiger Freude: »Ich danke Ihnen, Sergeant, für Ihre Umsicht und Hilfsbereitschaft!« »Nichts zu danken, Sir«, erwiderte der grauhaarige Mann in der blauen Uniform und den drei gelben Winkeln auf dem Arm mit halblauter Stimme. Es war der Mann, der mir die Greener abgenommen hatte und sie mir nun mit beiden Mündungen gegen das linke Ohr drückte. Der Sergeant blickte kurz zu dem Corporal hinüber, der mich am Genick auf den Steg gezogen hatte. »Was sollen wir mit ihm anfangen, Buck? Ihn den Zivilisten dort drüben ausliefern, damit sie den Halunken doch noch hängen können?« Mahon Tabor, der meine Haare festhielt und mich mit seinen dunklen spöttischen Augen triumphierend ansah, sagte mit flehender, bittender Stimme, die ihm auf jeder Provinzbühne an der Ostküste
eine Anstellung verschafft hätte: »Überlaßt ihn mir, Gentlemen! Er hat die Familie meiner Schwester auf dem Gewissen. Ich habe am Grab meiner Schwester geschworen, daß ich ihren Tod rächen würde!« Der Corporal, der mich am Genick gepackt hatte, wiegte den Kopf hin und her. »Er ist fünftausend Dollar wert, Mister«, sagte er zu Mahon Tabor. »Wenn wir Ihnen die fünftausend Dollar überlassen sollen, nur weil Sie am Grab Ihrer Schwester einen heiligen Eid geleistet haben, gingen der Sergeant und ich leer aus. Das wäre nicht gerecht!« »Du hast recht, Buck«, stimmte der Sergeant seinem jüngeren Kameraden zu. »Wir sollten ihn hier auf dem Steg gemeinsam töten und dann bei der Kommandantur von Fort Bowie abliefern. Damit hätten wir gesichert, daß er nicht noch einmal fliehen kann, und trotzdem noch die Prämie verdient.« »Aber wenn du ihn mit der Doppelflinte tötest, die du in der Hand hältst, Beagle«, sagte der Corporal besorgt, »bleibt von seinem Kopf nichts mehr übrig. Das gefährdet die Prämie. Ohne seinen Kopf ist er nicht mehr wiederzuerkennen.« »Hm, damit hast du allerdings recht. Ich sollte meinen Colt dazu nehmen.« »Wir sollten ihn besser lebend nach Fort Bowie mitnehmen«, meldete sich der Corporal wieder zu Wort. »Eine Leiche in unserem Waggon, die einen ganzen Tag bei dieser Hitze unterwegs ist, ist kein angenehmer Reisebegleiter.« Endlich hatte ich so viel Mut beisammen, daß ich auch ein Wort einzuwerfen wagte. »Sergeant«, sagte ich, »dieser Mann in dem eleganten schwarzen Anzug ist der wahre Ver …« Der Rest meines Satzes endete in einem Gurgeln, weil Mahon Tabor, genau wußte, wann er mich unterbrechen mußte. Ehe ich das Wort Verräter zu Ende sprechen konnte, knallte er mir den Mund und die Nase auf die Bohlen, indem er mich an den Haaren nach vorn riß. Dann stellte er sich mit einem Stiefel auf meinen Nacken, während ich ihn wieder mit seiner bühnenreifen Stimme bitten und betteln
hörte: »Sergeant, ich will meinen Eid nicht brechen! Hier! Ich gebe Ihnen tausend Dollar Vorschuß auf die Prämie! Ich will keinen Dollar davon haben! Nur überlassen Sie mir hier und jetzt die heilige Pflicht, den Mörder meiner Schwester seiner gerechten Strafe zuzuführen!« Ich krümmte mich unter seinem Stiefel. Dieser Halunke hatte weder eine Schwester noch eine Ahnung, was Pflicht bedeutete. Er mußte diesen beiden arglosen Yankeesoldaten die Hucke vollgelogen haben. Jetzt bestach er sie auch noch mit tausend Dollar, damit ich vor keinem Gericht der Welt mehr gegen ihn aussagen und ihn als den wahren Schurken des Massakers entlarven konnte. Im Brausen meines Blutes, das in meinen Ohren anschwoll zu einem Wasserfall, hörte ich die zögernde Stimme des Sergeanten: »Also gut. Wir kassieren die Prämie von fünftausend und diese tausend Dollar Vorschuß dazu. Dafür dürfen Sie Ihren heiligen Eid erfüllen. Aber ich weise Sie darauf hin, daß uns nach dem Militärgesetz nicht erlaubt ist, in Uniform an einem Akt der Lynchjustiz teilzunehmen oder ihn auch nur zu dulden. Das ist die Schwierigkeit, Sir. Sonst bin ich damit einverstanden.« Der Corporal ließ seine helle Stimme wieder vernehmen: »Wir begleiten den Gentleman bis zu dem Hofeingang dort drüben, Sergeant Beagle. Dort geben wir ihm einen Colt und drehen ihm kurz den Rücken zu, bis er die Sache erledigt hat. Dann haben wir nichts gesehen und nichts davon gewußt. Anschließend bringen wir die Leiche dieses Halunken zum Zug und laden sie in einen unserer Waggons. Ich meine, für sechstausend Dollar müssen wir schon ein bißchen Gestank ertragen können!« »Bist ein kluger Junge, Buck. Ich bin sicher, du wirst es sogar noch bis zum General bringen.« »Alles klar?« fragte Mahon Tabor mit lauernder Stimme. »Alles klar«, bestätigte der Sergeant. Dann lockerte sich der Stiefel über meinem Genick, und ich wurde an den Armen in die Höhe gerissen. *
Whisper umkreiste auf seinem Morgan die Stätte des Grauens. Er traf gerade vor dem Gefängnis in Croton Springs ein, als ungefähr dreißig Männer grölend und brüllend das Marshal-Office stürmten. Er sah, wie die zerschossene Tür aus dem Rahmen flog und die Männer durch die beiden Vorderfenster in das Gebäude stiegen, als wäre das Gefängnis eine Bank, in der Dollarscheine sackweise verteilt wurden. Er hörte auch das enttäuschte Brüllen aus dem Innern des Gebäudes: »Der Kerl ist nicht hier! Er ist schon wieder entwischt! Er hat den Marshal zu sich in die Zelle gelockt und ist entwischt!« »Aber wie? Wir haben doch vorn aufgepaßt!« »Er kann nur durch die Luke entwischt sein, die Marshal Webb durch die Außenmauer brechen ließ, um seine Mülleimer und die Abortkübel bequemer entleeren zu können! Dort muß er herausgekrochen sein!« »Dann liegt der Halunke unten im Müll?« »Holt mal eine Laterne, damit wir nachschauen können! Weit kann er nicht sein!« »Aber dahinter ist doch gleich der Canyon!« »Dort kann er sich nur das Genick brechen!« »Wir müssen ihn finden! Fünftausend Dollar schwemmt man doch nicht in die Kloake! Der Kerl kommt nicht weit! Wir werden den Canyon notfalls die ganze Nacht mit Stangen absuchen!« »Vielleicht weiß der Marshal, wohin der Halunke abgehauen ist!« »Der Marshal ist bewußtlos, und hast du von diesem Esel schon jemals eine vernünftige Antwort auf eine vernünftige Frage erhalten?« »Nein, Ted.« »Also halte dich nicht lange mit diesem Dummkopf auf, sonst will er am Ende auch noch was von der Prämie haben!« Soweit hatte Whisper zugehört. In diesem Moment hätte er am liebsten »Juhu« geschrien und einen Handstand auf dem Rücken des Morgans probiert. Doch dann überlegte er sich, daß sein Freund noch lange nicht gerettet und er schon zu alt war für solche RodeoKunststückchen. Whisper verfügte über einen sehr scharfen Verstand, wenn er
nüchtern war. Und zum erstenmal seit zehn Jahren war er sogar einen ganzen Tag über nüchtern geblieben. Er staunte darüber, wie gut ihm das tat. Er fühlte sich zehn Jahre jünger. Er überlegte, während er den Morgan am Gefängnis vorbeitrieb. Sein Freund konnte sich nur in den Canyon hinuntergerettet haben, den Croton Springs als Kloake benutzte. Der Canyon durchquerte die Stadt in einer schlanken S-Kurve. Nördlich der Main Street war der Canyon zum größten Teil offen und wurde von mehreren Stegen überbrückt. Südlich der Main Street wurde der Canyon so schmal und tief, daß er eine große Gefahr für Passanten und Kinder darstellte. Deswegen hatte man ihn dort zum größten Teil zugemauert. Der logische Fluchtweg für seinen Freund war der offene Canyon nach Norden, der hinter der Stadt zu einer richtigen Schlucht mit kirchturmhohen Wänden wurde. Whisper traute ihm die Kraft und Fähigkeit zu, sich unbemerkt, an den schmalen Felsbändern entlanghangelnd, bis zum nördlichen Ende der Stadt arbeiten zu können. Von dort an war eine Flucht für ihn ohne fremde Hilfe unmöglich. Er brauchte ein Pferd und Wasser, sonst war er am Tag im Croton Canyon verloren, weil die Hitze oder die Pumas ihn dort erledigen würden. Whisper trieb den Morgan über einen der zahlreichen Stege in den Nordteil der Stadt hinüber und drängte sein Pferd dort rücksichtslos durch einen sorgfältig gepflegten und künstlich bewässerten Küchengarten. Er durfte sich nie weiter als zehn Yards vom Canyon entfernen, falls sein Freund am jenseitigen Ufer an der steilen Wand des Schluchtbettes hing und um sein Leben kämpfte. Mein Gott, dachte Whisper bestürzt, ich hätte an ein Lasso denken sollen! Ohne ein Lasso kann ich ihn niemals aus diesem Canyon ziehen, wenn ihm beim Klettern die Kräfte verlassen. Whisper zwang den Morgan dazu, über einen niedrigen Stacheldrahtzaun zu springen, erreichte eine schmale dunkle Gasse und erstarrte: Vor ihm trieben drei Männer den Freund an der Mündung der Gasse vorbei. Einer hielt ihm den Mund zu, einer hatte ihn bei den Haaren gepackt, und der dritte drückte ihm einen Colt zwischen die
Rippen. Whispers Rippen schienen sich in Eisenbänder zu verwandeln. Aus seinem Mund drang ein rasselndes Stöhnen. Aber er durfte nicht schlappmachen wie ein Blasebalg, aus dem die letzte Luft herausgepreßt wird. Er ritt vorsichtig bis zum Ende der Gasse weiter und lugte um die Ecke, den Colt, den er im Aktenschrank des Stationsvorstehers gefunden hatte, mit zurückgezogenen Hammer in der Hand. Er sah nur noch die beiden Soldaten, die sich flüsternd unterhielten. Sie warteten neben einem Hofeingang. Der Hof gehörte einer Frachtlinie, wo er schon gearbeitet hatte. Gleich rechts lag das Kontor, daneben stand die Remise, und dann folgte ein Bretterzaun mit einer Tür für den Abtransport von Abfällen und verdorbenen Frachtgütern, die auf diesem Weg sofort in den Canyon geschafft werden konnten, ohne Kunden zu belästigen, die durch die Hoftür … Mein Gott, Whisper, nimm den Weg durch diese Seitentür, wenn du deinen Freund noch retten willst! * Ich spürte jetzt das kalte Eisen des Colts im Nacken, während die leise, höhnische Stimme von Mahon Tabor ununterbrochen auf mich einredete. »Viel besser als ein Galgen, Freund Ronco. Du hättest die Armee nie von deiner Unschuld überzeugen können. Sie werden alles vertuschen, falls die Wahrheit auf andere Weise ans Licht kommen sollte. Die Armee wird eher die Prämie auf deinen Kopf verdoppeln, als ihre Schuld einzugestehen. Sei froh, daß dieses grausame Spiel endlich zu Ende ist. Sie haben mir den Abschied gegeben, aber mir sogar eine Abfindung dafür gezahlt, daß ich den Mund halte. Aber du bist ja unbestechlich. Du hältst nur den Mund, wenn du nicht mehr reden kannst. Schade um so einen Kerl wie dich.« »Hast du genug geredet, Tabor?« fragte ich über die Schulter. »Nein. Glaube ja nicht, daß du diesmal entwischen kannst! Ich habe noch eine Derringer in der Tasche. Und die beiden Soldaten vorn an der Gasse warten auf ihre fünftausend Dollar!«
Er schob mich auf den Bretterzaun zu, und ich spürte, wie sein Finger am Abzug spielte. Gleich würde es vorbei sein. Ich glaube, man spürt nichts mehr, wenn so ein Stück Blei den Nervenstrang knapp unter dem Kopf durchtrennt. Aber bisher hat noch keiner sagen können, wie es ist, wenn man stirbt. In einer Beziehung hatte er allerdings recht. So ein Schuß in den Nacken war mir lieber als eine Schlinge um den Hals. »Mach …« … ein Ende, hatte ich sagen wollen. Doch ich verschluckte rasch die beiden Worte, die seinen Zeigefinger nur beschleunigen würden. Ich achtete sogar darauf, daß keine Erschütterung den Schuß aus Versehen auslöste. Ich veränderte im letzten Moment den Text, damit Mahon Tabor keinen Verdacht schöpfte. Ich sage: »Mach nur so weiter, Tabor. Es gibt noch einen Zeugen, der dich an den Galgen bringen kann, wenn ich tot bin.« Das hielt seinen Zeigefinger doch noch einmal zurück. Das wollte er jetzt genau wissen. »Ich war der einzige Zeuge außer dir. Ich stand oben über dem Canyon und habe alles mitangesehen! Du bist der einzige gewesen, der lebend dem Massaker entkommen ist!« Ich hatte jede seiner Silben mitgezählt, nachdem ich den verbeulten Hut zwischen den Zaunlatten hatte auftauchen sehen. Die Entfernung bis zu der Stelle, wo wir beide hintereinander im Mondlicht standen, betrug keine drei Yards. Mahon Tabors langatmiges Leugnen, daß es außer uns beiden noch Zeugen für seine Schuld auf dieser Welt geben konnte, hat mehr als ausgereicht, dachte ich, berstend voll neuerwachter Lebenshoffnung. »Doch«, erwiderte ich über die Schulter, »es gibt noch einen Zeugen. Und er steht jetzt genau hinter dir, Tabor!« »Ein Bluff!« zischte er. »Ein uralter Trick! So etwas zieht bei einem Rekruten, aber nicht bei mir!« »Kein Trick, kein Bluff, sondern die Wahrheit«, erwiderte ich leise. Ich hörte es sausen über meinem Kopf, so dicht standen wir hintereinander. Dieser Whisper hatte zwanzig Jahre am Gila River mitten zwischen den Apachen gelebt, und ich glaubte ihm das jetzt. Selbst ich hatte nicht gehört, wie er sich von hinten an den Ex-
Zahlmeister herangepirscht hatte. Und dann dieser Schlag, als hielte er ein Tomahawk in der Hand! Ich hätte ihm die schmutzigen Füße abküssen können in diesem Moment. Dann, als der Kolben auf Mahon Tabors Schädel prallte, hatte er sogar noch die richtige Stelle ausgesucht, die sofort alle Reflexe zum Stillstand bringt und jeden Muskel lähmt. Mahon Tabor knickte nach vorn, rutschte an meinem Rücken entlang und blieb hinter meinen Stiefelabsätzen wie ein Häufchen Dreck liegen. »Mein Gott, Whisper! Ein Schutzengel ist ein lächerlicher Stümper im Vergleich zu dir«, hauchte ich. »Er hatte schon den Finger am Abzug, und du hast ihn betäubt, ohne daß der Schuß losging!« »Habe ich von einem Mescalero gelernt, Bob«, gab Whisper ebenso leise zurück. »Die Beule kannst du heute noch auf meinem Kopf sehen. Das war für mich immer ein Fingerzeig, wo ich hinschlagen muß.« Nicht der Hauch eines Stotterns in seiner Stimme. Aber vom Hofeingang rief eine halblaute Stimme ungeduldig: »Nun machen Sie schon, Sir!« Whisper zog mich zu der Tür in der Bretterzaunwand, die den Frachthof zum Canyon hin abschloß. Ich hatte Mahon Tabor den Colt abgenommen. Es juckte mich in den Fingern, ihm auch eine Kugel in seinen verräterischen Schädel zu jagen. Aber ich brauchte ihn irgendwann lebend, damit er vor einem Gericht meine Unschuld bezeugen konnte. Leider konnte ich ihn jetzt nicht mitnehmen. Whisper hatte nur ein Pferd, und alle Männer in Croton Springs jagten mich inzwischen. * »Junge, ich habe gehört, wie er zugab, selbst der Verräter vom Halcon Canyon zu sein. Das würde dir helfen, deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.« Ich saß hinter dem alten Whisper auf dem Morgan, während er in einem weiten Bogen durch die Wüste nach Westen ritt. »Ich werde aussagen, was ich mit meinen eigenen Ohren gehört habe. Ich wußte
doch, daß du unschuldig bist. Ein Mann, der sich für einen stotternden Trunkenbold einsetzt, kann gar kein Verräter sein.« Das war es ja, dachte ich niedergeschlagen. Das Stottern hatte er überwunden, aber das Trinken wahrscheinlich nicht. Welches Gewicht würde ein Richter auf die Aussage von Whisper legen? Gar keins. Macht, Geld und das Ansehen einer Person waren ausschlaggebend für die Glaubwürdigkeit eines Zeugen. Whisper hatte nichts davon. Man würde glauben, ich hätte ihn mit einer Flasche Whisky bestochen, dem Gericht ein Märchen zu erzählen. Und Mahon Tabor würde alles abstreiten, was er im Augenblick seines vermeintlichen Triumphs einem Todgeweihten erzählt hatte. »Ich heiße nicht Bob, Whisper. Hast du nicht gehört, daß dieser Halunke im eleganten schwarzen Anzug mich Ronco nannte?« »Natürlich habe ich das gehört. Meine Ohren sind fast so gut wie die eines Apachen. Aber für mich heißt du nach wie vor Bob Homeless – der Heimatlose. Einen besseren Namen hättest du für dich gar nicht erfinden können!« »Warum reitest du jetzt eigentlich nach Süden?« lenkte ich ihn von seiner fixen Idee ab, für mich den Entlastungszeugen spielen zu wollen. »Ich wohne dort oben in den Hügeln im Norden. Dort habe ich eine Blockhütte mit ein paar Hühnern und Truthennen. Dort könntest du untertauchen, bis du einen neuen Prozeß angestrengt hast. Wir werden uns schon durchschlagen. Ein Indianerscout und ein alter Trapper – das gäbe ein erstklassiges Paar ab!« »Ja, aber du reitest doch in die entgegengesetzte Richtung!« »Ich habe für Bram Copperfield einen Auftrag übernommen. Copperfield ist der Stationsvorsteher vom Bahnhof von Croton Springs. Ich denke, wenn ich dich dort so lange verstecke, bis mein Job beendet ist, können wir anschließend zu mir nach Hause gehen.« »Einen Job nachts am Bahnhof?« fragte ich. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Denn jetzt, da ich wieder an eine Zukunft denken durfte, sahen meine Pläne anders aus, als Whisper sie für uns beide entwarf. »Nachtwächter. Es ist mir gar nicht recht, daß ich meinen Posten zeitweilig aufgeben mußte. Zwei Dollar ist eine Menge Geld für mich. Dafür darf man seinen Auftraggeber nicht enttäuschen.«
Ich sah eine helle Linie im Mondlicht über der Wüste. Das mußte der Bahnkörper der Southern Pacific sein. »Nachtwächter auf einem Bahnhof? Hatte dieser Copperfield Angst, jemand könne seine Schienen klauen?« »Nein, heute nacht steht ein Güterzug dort auf dem Abstellgeleis. Es ist ein Versorgungszug für die Armee, sagt Copperfield, und die Armee ist immer so pingelig, obwohl die Waggons in der Hauptsache Socken, Decken und Bettgestelle geladen haben. Aber ein Waggon mit Waffen und Munition ist auch dabei. Und da die Soldaten, die den Zug begleiten, von der Hitze und der schlechten Luft in den Waggons übermüdet sind, hatten sie um einen Nachtwächter gebeten …« »Du lieber Gott!« entfuhr es mir. »Jetzt wird mir einiges klar!« »Was hast du denn, Bob? Du machst ja das Pferd ganz scheu!« »Hast du einen von den Banditen bei der Lynchparty gesehen?« »Was für Banditen?« »Diesen stoppelbärtigen zum Beispiel, der dir seine vier Whiskys aufdrängen wollte und dem du die Flasehe ans Kinn geschlagen hast.« Der alte Trapper kicherte in sich hinein. »Dieser unrasierte Kleiderschrank mit der Ochsenfroschstimme? Nein, der war nicht bei der Party. Ich hätte ihn kaum übersehen können. Mit Hut ist dieser Galgenvogel größer als das Gefängnis mit Schornstein.« »Und die drei anderen Männer, die in seiner Begleitung waren, als ich bewußtlos im Gefängnis abgeliefert wurde?« »Nein. Keiner von diesen Galgenvögeln war unter den Männern, die das Gefängnis stürmten. Vielleicht hatten sie gerade ein Mädchen auf dem Schoß, als sie dich aufhängen wollten.« »Möglich, Whisper, aber ich habe so ein ungutes Gefühl, als bestünde ein Zusammenhang zwischen dem Zug am Bahnhof und dem Sturm auf das Gefängnis.« »Da liegen drei Meilen dazwischen, Bob.« »Der Lärm, die Aufregung und die Schüsse – das könnte ein vorzügliches Ablenkungsmanöver sein.« »Der Zug«, sagte Copperfield zu mir, »ist viel zu groß und zu schwer, als daß ihn jemand klauen könnte.«
»Nicht den ganzen Zug, Whisper, sondern nur einen einzigen Waggon. Habe ich dir nicht erzählt, daß der Verräter vom Halcon Canyon mit einer Organisation von Waffenschiebern verbündet war? Im letzten Planwagen meines Trecks waren Waffen und Munition versteckt, ohne daß ich das wußte. Die Apachen mußten das Massaker veranstalten, um an diese Waffen zu gelangen. Und an diesem Zug hängt auch ein letzter Wagen mit Waffen und Munition …« »Heiliger Strohsack! Du glaubst, diese Banditen haben es auf diesen Waggon abgesehen?« »Höchstwahrscheinlich«, erwiderte ich grimmig. »Aber die Weichen sind so gestellt, sagt Copperfield, daß das Nebengeleis gesperrt ist. Die können den Waggon gar nicht klauen.« »Aber den Inhalt!« »So etwas muß aber vorbereitet sein. Dazu braucht man ein Gespann und einen Wagen.« »Mahon Tabor, den du mit der Dienstwaffe der Eisenbahn niedergeschlagen hast, ist ein vorzüglicher Organisator. Er war in Begleitung von Soldaten. Sollte er sie nicht mit Vorbedacht in diese Lynchaffäre verwickelt haben, damit sie nicht am Bahnhof auf ihren Zug aufpassen?« »Himmel und Hölle, ich Riesentrottel!« Whisper hatte den Morgan angehalten und deutete mit einem Arm nach Südosten, wo sich eine Reihe von Waggons als schwarzer Strich zwischen Sanddünen abzeichnete. Ich blickte ebenfalls in diese Richtung. Ein Planwagen, der mit vier Pferden bespannt war, bewegte sich im raschen Tempo vom Zug weg. Zwei Reiter sprengten neben dem Planwagen her. Der Planwagen befand sich auf der Nordseite des Bahnkörpers und beschrieb einen Bogen, der sich mit unserer Spur kreuzen mußte. »Du kannst nichts dafür, Whisper«, sagte ich beschwichtigend. »Du hast jetzt zwei Leben gerettet!« »Wieso?« »Meins und deins. Die Banditen hätten dich umgebracht, wenn du sie bei ihrem Vorhaben gestört hättest. Diese Waffenschmuggler sind
mächtige, völlig skrupellose Kerle.« »Was tun wir jetzt?« »Wir suchen uns ein Versteck, ehe sie uns entdecken können. Und dann folgen wir ihrer Spur.« »Wie zwei Scouts – eh?« »Wie zwei Scouts und erfahrene Trapper und Waldläufer. Aber es könnte zum Kampf kommen, Whisper!« »Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Ich bin nur knapp an Munition.« »Davon habe ich nun wieder reichlich.« »Großartig. Es ist nur gut, daß ich hier schon so lange lebe, um selbst nachts mit verbundenen Augen ein Loch in der Wüste zu finden, wo wir uns verkriechen können.« * Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß aus meiner Erholung in Croton Springs die anstrengendsten und aufregendsten Tage seit meiner Verurteilung in Fort Calhoun werden sollte. Whisper hatte uns in einer Kuhle untergebracht, die man tatsächlich als Loch in der Wüste bezeichnen konnte. Das Gespann zog in einer Entfernung von knapp zwei Meilen an uns vorbei und war ebenfalls darauf bedacht, keine auffällige Silhouette in der Wüste abzugeben. Es wandte sich einer der vielen flachen Felsrinnen zu, die sich hier von Süden nach Norden erstreckten und von Buschwald und Kakteen gesäumt wurden. Nach Norden zu wurden diese Rinnen immer steiler und erhoben sich schließlich bis zu einer Höhe von über zweitausend Yards, auf denen mächtige Vulkankegel wie riesige Schornsteine aufragten. Das Ganze nannte sich Pinaleno Range – ein zerklüftetes, unübersichtliches Berggelände, das von vielen Schluchten durchzogen war. Ein ideales Versteck für Rinderdiebe und Waffenschmuggler, überlegte ich, als wir die Spur des Planwagens verfolgten. Whisper schien seine Zungenfertigkeit und seine wiedergewonnene Redegewandtheit in vollen Zügen zu genießen. Er war nicht zu bremsen.
»Von Süden aus betrachtet, scheinen das nur leblose Schutthalden zu sein. Doch das Auge trügt. Wenn du näher heranreitest, kannst du die Nordhänge sehen, die zwischen kahlen Bergrippen liegen. Saftiges, grünes Gras an vielen Stellen und eine Menge Wasser, das plötzlich zwischen den Steinen hervorsprudelt. In den Schluchten gibt es viele Bäche, die entweder zum Gila hinunterfließen oder hier im Süden im Sand versickern. Die Spur wird schwächer. Diese Halunken kennen sich hier ebenfalls aus. Dort oben am Hang kommt blanker Fels. Da können wir nur noch raten, wo die Fuhre hingehen soll. Ja, wenn es schon hell wäre.« »Wann wird es hell?« Er blickte nach Osten hinüber. »Eine halbe Stunde mußt du noch Geduld haben. Dann sind die Felsen dort drüben schon nicht mehr schwarz, sondern grau.« »Ich habe viel Geduld. Und für erfahrene Spurenleser wie uns kann eine Fährte gar nicht verloren gehen. Da muß ein Gespann schon durch die Luft fliegen.« »Du sprichst mir aus der Seele, Junge. Ja, wenn wir Apachen vor uns hätten, sähe es nicht so gut für uns aus. Was willst du eigentlich unternehmen? Diesen Banditen die Beute wieder abjagen?« »Diese Waffen, die sie zweifellos aus dem Zug gestohlen haben, sind für aufständische Apachen bestimmt. Wenn sie in die Hände der Rothäute fallen, werden wieder unschuldige Frauen und Kinder daran sterben.« »Sie wollen dich zu Unrecht hängen, und du kümmerst dich noch um andere Leute?« »Wir wären nicht Freunde, hätte ich das nicht getan.« Er saß jetzt hinter mir auf dem Morgan und klopfte mir auf die Schulter. »So einen Sohn wie dich habe ich mir immer gewünscht.« Dann sagte er eine Weile nichts, offenbar in Erinnerungen versunken. Die Sonne deutete sich im Osten mit einem gelben Streifen über den Felsen an. Ein Puma lief geduckt an einem Felsgrat entlang und setzte mit lautlosem Sprung über einen Graben weg. Dann hielt er an, bewegte den Schwanz in langen Abständen hin und her, den Kopf nach Westen gewandt.
»Er hat nicht unsere Witterung«, sagte Whisper. »Er wurde bei der Mahlzeit gestört.« »Der Planwagen«, sagte ich. »Gäbe es dort oben, etwas abseits von dieser Felsrinne, ein gutes Versteck?« »Und ob«, erwiderte Whisper sofort. »Die alte Triangle-Ranch.« »Eine Ranch?« »Sie steht zum Verkauf, seit George Mastersons Tochter einen Minenbesitzer in Phoenix geheiratet hat. Marshal Webb interessiert sich schon lange für die Triangle-Ranch. Ich meine, Land gibt es hier ja in Hülle und Fülle, aber nicht so eine gute Quelle, wie sie die Triangle-Ranch hat. Und die Scheune soll auch noch ganz gut sein.« »Eine Scheune, Wasser und Futter für die Pferde – ich glaube, wir brauchen nicht mehr lange nach einer Spur zu suchen, Whisper!« Es wurde auch höchste Zeit, daß wir an ein Ziel gelangten. Der Morgan würde die doppelte Last nicht mehr lange tragen können. * Die Triangle-Ranch lag auf einem kleinen Plateau, das terrassenförmig nach Norden hin abfiel. Im Süden wurde es von einer schmalen Felsrippe begrenzt. Whisper hatte recht behalten. Auf dem Nordhang des Berges, den wir erstiegen hatten, breitete sich ein weiter grüner Teppich zwischen den kahlen Felsspitzen aus. Gelbkiefern säumten das Plateau, wo das Gras wieder in trockenes Geröll überging. Doch dort, wo eine große, aus Zedernholz errichtete Scheune neben einer Blockhausruine stand, sah ich Haselsträucher und Nußbäume um einen flachen Tümpel herum, die sich schon zu einem kleinen Wald ausgebreitet hatten, wo sie früher nur einen Garten begrenzen sollten. Die Spur des Planwagens zeichnete sich deutlich im hohen Gras ab. Ich zählte sechs Pferde, die in der Nähe des Tümpels gierig das Gras abweideten. »Sie haben den Wagen im Freien gelassen«, flüsterte Whisper neben mir. Wir lagen knapp hundert Yards von der Scheune entfernt hinter einem Felsblock und beobachteten die verlassene Ranch.
»Der Wagen ist schwer beladen«, flüsterte ich. »Sie haben ihn zwischen die Haselbüsche geschoben. Ich kann die graue Plane im Laub erkennen.« »Und wo sind die Banditen, die den Waggon geplündert haben?« »Zu weit weg für unsere Revolver«, erwiderte ich grimmig. »Das könnten wir rasch ändern«, erwiderte Whisper eifrig. Er war wie verwandelt. Seine kleinen dunklen Augen glänzten vor Jagdlust. Seine Hände, die gestern noch fahrig an seinem Bart herumzupften, waren fest und ruhig wie der Stein, hinter dem wir lagen. Er deutete mit dem Colt auf das Blockhaus, das nur noch ein halbes Dach hatte. »Vier müssen es mindestens sein. Zwei brauchten sie für das Gespann, und zwei ritten auf den Pferden neben dem Planwagen her. Die Pferde sind noch frisch genug, daß sie den Wagen bis zum Gila gezogen hätten. Warum rasten sie schon hier?« »Ich schätze, sie warten auf jemanden«, erwiderte ich. »Auf wen?« »Auf ihren Boß.« »Hm – wer könnte das sein?« »Dieser Halunke, dem du den Colt auf den Kopf geschlagen hast.« »Mahon Tabor? Das träfe sich gut. Wir könnten ihnen die Beute wieder abjagen und gleichzeitig den Verräter vom Halcon Canyon fangen.« »Ich schätze, soviel Glück auf einmal ist keinem Sterblichen vergönnt, Whisper. Siehst du, wie recht ich habe?« Ein Mann trat aus dem halbverfallenen Blockhaus, blickte zu dem Felsgrat im Osten hinüber und schob den Kinnriemen über die Wangen. Die Sonne kroch gerade über die Felsbarrieren, die das Plateau im Osten begrenzten. Der Mann war so riesig, daß ich sogar sah, wie er die mächtigen Kinnladen auf und ab bewegte. »Der Kerl, der mir die Whiskys spendieren wollte«, flüsterte Whisper. »Es scheint, als wollte er fortreiten.« »Was schadet das? Wenn wir unseren Morgan besteigen, der jetzt hinter dem Felsgrat angehobbelt ist, könnten wir ihm den Weg abschneiden.« »Zu riskant, Whisper.«
Ich beobachtete, wie der Hüne, ein Gewehr unter dem Arm, zu den Pferden ging, die neben dem Tümpel weideten. Er suchte sich das größte Pferd heraus, schwang sich in den Sattel und ritt auf dem Plateau nach Norden, wo die Weide stufenförmig in eine Schlucht hinunterfiel. »Dort ist ein Trail, der nach Croton Springs führt«, sagte Whisper. »Er reitet seinem Boß entgegen. Wir könnten ihn nicht einholen, selbst wenn wir wollten, Whisper. Bleiben noch drei. Einer kauert im Schatten der Scheune und bewacht den Planwagen. Die anderen beiden sehe ich nicht!« »Wahrscheinlich nehmen sie ein kaltes Frühstück in der Blockhütte ein. Ich denke, die Gelegenheit ist günstig.« Er kroch von mir weg, ehe ich ihn fragen oder zurückhalten konnte. Ich mußte ihn bewundern. Er kroch wie ein Apache, der sich an eine Herde Bisons heranpirschen will. Er nutzte jede Unebenheit im Boden aus und jeden Stein, bis er die blaugrünen Gräser erreichte, die am Fuße der Geröllhalde wuchsen. Ich kroch auf Whispers Spur. Die Grashalme zitterten, aber sie wogten nicht. Eine Natter, die durch das Gras kroch, hätte die Halme schlimmer durcheinandergebracht. Jetzt wurde mir verständlich, wie Whisper zehn Jahre lang als einziger Weißer hier auf den Plateaus auf ehemaligem Apachengebiet überlebt hatte, ohne seinen Skalp zu verlieren. Er glitt durch das Gras, als wäre es Wasser. Ich hörte es bei ihm nicht einmal rascheln, was es unter meinen Stiefeln tat, so daß ich mich fluchend ermahnte, gefälligst vorsichtiger zu sein. Er war bereits an den Büschen und gab mir ein Zeichen mit der Hand auf dem Rücken. Indianersprache. Auch das beherrschte er. Dann lag ich neben ihm und lugte durch die Zweige auf den Planwagen, dessen mächtige Speichenräder keine fünf Yards von mir entfernt aus den geknickten Gräsern herauswuchsen. Ein Vogel flatterte über uns aus dem Busch. Whisper erstarrte, als wäre er aus Holz geschnitzt. Dann deutete er unter den Wagen hindurch auf die Scheune. Ich sah zwei Paar ausgestreckte Füße im Gras. Und Whisper streckte zwei Finger in die Höhe und deutete dann auf sich. Er wollte die beiden ganz allein übernehmen! Er ließ sich nicht aufhalten. Ich schüttelte den Kopf, aber er
grinste nur und wies auf das Blockhaus hinüber. Ich sollte mich mit dem Banditen befassen, der wahrscheinlich dort drüben gerade frühstückte. Ich konnte nicht einen Ton sagen, und das nutzte er aus. Er lag schon wieder platt auf dem Bauch und kroch auf den Wagen zu. Er wählte den Weg in der Mitte zwischen den beiden Achsen, wo das Gras ihm leidlich Deckung geben würde. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Der Alte hatte kein Messer bei sich. Wollte er die beiden Männer mit einem Kolbenschlag auf den Kopf betäuben, wie er das bei Mahon Tabor getan hatte? Das war ein tollkühnes Unternehmen. Die beiden hatten die Gesichter dem Planwagen zugekehrt. Ich nahm meinen Colt aus dem Holster, spannte den Hahn und kroch ihm nach, statt mich dem Blockhaus zuzuwenden. Der Vorplatz der Scheune lag noch im tiefen Schatten. Ich hielt am hinteren Wagenrad des Prärieschoners an und warf einen Blick zu den Pferden hinüber. Sie behielten die Köpfe unten und rupften gierig die blaugrünen Stengel. Wenn es hier einen Wind gab, trieb er von den Pferden auf uns zu. Dann sah ich, wie Whisper plötzlich im Schatten stockte, sich halb aufrichtete und dann im Zwielicht verharrte wie eine Raubkatze, die plötzlich entdecken muß, daß ein Sprung sich nicht lohnt. Er drehte sich um, sah mich und bewegte kurz die Schultern. Er sah schrecklich ratlos aus. Er ließ sich wieder auf Hände und Füße nieder und bewegte sich weiter auf die Scheune zu, als hätte er von dort nichts mehr zu befürchten. Da sah ich, wie sich über mir der Wagenboden leicht bewegte. »Whisper!« schrie ich gellend. Ein hartes, trockenes Bersten folgte meiner Warnung. Whisper lag platt auf dem blauschwarzen Gras im Schatten der Scheune, und vom Blockhaus her ertönte der scheppernde Peitschenschlag eines Gewehrschusses. Ich sah, wie sich Whispers Hemd an der Schulter rot färbte. Und dann rollte ich durch das Gras und schoß und schoß. Ich war bei Whisper, der stöhnend im Gras lag, und drückte ihn mit der Schulter zur Seite, bis er um seine Längsachse kippte und auf
dem abschüssigen Boden bis zur Scheune rollte. Dort blieb er im tiefsten Schatten unter ein paar morschen Brettern liegen, die früher einmal zu einer Rampe oder einen Steg gehört haben mußten. Ich hatte jetzt auch seinen Colt in der Hand und schoß in zwei Richtungen zugleich. Über der Seitenbracke des Planwagens klaffte ein Riß in der Zeltplane. Ein Gewehrlauf ragte dort aus dem Wagen und spuckte eine armlange Flamme aus. Ich hörte, wie die Kugel in Kopfhöhe hinter mir in die Scheunenwand schlug. Aus so kurzer Entfernung war das Gewehrfeuer eine todsichere Angelegenheit. Ich war keine fünf Yards von der Mündung entfernt, und nur ein Blinder hätte mich verfehlen können. Aber ich mußte ihn getroffen haben. Das war die einzige Erklärung. Ich warf mich geduckt gegen die Scheunenwand, jagte einen Schuß zum Blockhaus hinüber, wo einer der Banditen in der Tür stand und am Verschluß seiner Spencer herumfummelte. Hoffentlich hatte er Ladehemmung, dachte ich, packte Whisper an den Beinen und schleifte ihn einfach hinter mir her. Ich erreichte das Scheunentor, das mir halb offen entgegengähnte. Eine Kugel zerschmetterte ein Brett neben meiner Schulter. Dann hatte ich Whisper in die Scheune gezogen und riß die beiden Colts wieder aus dem Gürtel. Vor mir saßen die beiden Männer, die ich für Posten gehalten hatte, mit hängenden Köpfen auf den morschen Brettern vor der Tenne. Sie trugen blaue, blutbesudelte Uniformen, und ihre Hälse sahen aus, als bestünden sie aus Wachs. »Ich kenne die beiden«, stöhnte Whisper, »sie haben auf dem Bahnhof mit mir gesprochen. Sie bewachten die Waffen und die Munition im letzten … au, verflucht!« Ich schoß mit ausgestreckten Armen, wechselte zur anderen Seite der Tenne hinüber und schoß aus der Hocke. Die Plane am Wagen spannte sich unter einer heftigen Erschütterung. »Wo hat es dich erwischt, Whisper?« fragte ich mit gebleckten Zähnen, damit das Knacken im Trommelfell rascher nachließ. »Ich Trottel glaubte, die beiden hätten mit den Banditen gemeinsame Sache gemacht, Bob! Erst dann sah ich, daß sie nicht
mehr atmeten und …« »Wo hat es dich erwischt?« unterbrach ich ihn barsch. Der Bandit, der am Blockhaus mit seinem Gewehr herumgespielt hatte, lief zu den Büschen hinter dem Wagen. Ich beugte mich vor und jagte einen Schuß durch die Speichen der Wagenräder. Ein paar Blätter stoben durch die Morgensonne. Dann fauchten zwei Kugeln gleichzeitig durch das halboffene Scheunentor. Eine davon stammte aus dem Planwagen. Ich behielt den einen Colt im Anschlag, während ich mit der linken Hand Patronen aus den Gurtschlaufen zog. »Ich glaubte, ein Blitz brauste unter meinem Schlüsselbein hindurch«, sagte Whisper neben mir. »Es tut verflucht weh, aber das Schulterblatt scheint nur angeknackst zu sein.« »Wie ist es mit dem linken Arm?« »Dem geht es prächtig.« »Kannst du damit schießen?« »Schießen ja, aber ob ich auch etwas treffe, ist eine andere Sache.« »Schieß auf den Planwagen, während ich den anderen Colt noch nachlade. Du mußt diesen Halunken beschäftigen.« »Nur zu gern!« Er langte nach dem Colt, den ich ihm zugeworfen hatte, nahm ihn etwas schwerfällig hoch und stanzte vier Löcher in die Planen des Wagens vor der Scheune. Ich dachte an den Hünen, der die Schüsse gehört haben mußte. Und ich überlegte, daß Mahon Tabor inzwischen das Schießen auch nicht verlernt haben konnte, da er erst vor einem Monat aus der Armee entlassen worden war. Die Banditen hatten einen ganzen Wagen voll Munition zur Verfügung, während ich noch vierundzwanzig Patronen in meinen Gürtelschlaufen zählte. Und der Colt, den Whisper aus der Bahnhofstation mitgenommen hatte, war ein altmodisches Modell, der erst mit der Hülse und dann mit der Kugel geladen werden mußte. Das war eine zeitraubende Angelegenheit und ich … Ich hatte eine Idee! Die Späne, zu denen die morschen Bretter der Tenne zerbröselten, waren wie Zunder. Ich hatte einen Packen Schwefelhölzer in der
Tasche. Und wenn ich nur die Hülsen in die Trommel des Dienstrevolvers der Eisenbahn einführte und Späne vor die Treibladung setzte? Ich hatte so etwas schon einmal ausprobiert. Der Wagen stand keine sechs Yards von mir entfernt. Wenn ich zuerst die Fässer, die mit Pulver gefüllt waren, mit meinem Colt anbohrte, konnte ich vielleicht ein Feuerwerk veranstalten, an das Mahon Tabor bis an sein Lebensende denken würde! »Im Planwagen hat jemand geschrien«, sagte Whisper mit offensichtlicher Befriedigung. »Tatsächlich?« erwiderte ich zerstreut, während ich ein paar Späne vom Boden aufhob. »Hast du es nicht gehört, Bob?« »Ich schätze, ich war nicht ganz bei der Sache«, sagte ich zerstreut. Von den Büschen pfiffen zwei Schüsse herüber, die irgendwo im Hintergrund der Scheune einschlugen. Dann rief ich scharf: »Was hast du gesagt, Whisper?« »Ich sagte, ich glaube, ich habe den Kerl im Planwagen getroffen!« »Warum sagst du das nicht gleich?« »He, was ist los mit dir, Junge!« »Wieso?« »Du siehst aus, als hättest du ein Kamel durch ein Nadelöhr fädeln wollen und entdeckst plötzlich, daß das gar nicht nötig ist!« »Richtig, Whisper«, erwiderte ich grimmig. »Hier hast du meinen Colt! Schieß auf die Büsche, wo der Bandit mit dem Gewehr versteckt ist! Ich muß zu diesem Wagen dort!« Bevor Whisper dagegen protestieren konnte, drückte ich ihm meinen frischgeladenen Colt in die Hand und lief auf den Planwagen zu. * Ich stürmte ihn, während ein paar heiße Hornissen an meinen Knien vorbeiwehten. Ich sprang ihn von der Seite an, krallte mich an den Seitenbracken fest und drückte mit der Schulter eine der
Planenstützen zusammen wie ein Schwefelholz. Ich bohrte die Finger dort hinein, wo Whisper mit den Kugeln aus meinem Colt Löcher in den Stoff gestanzt hatte. Ich riß und zog, bis ich einen klaffenden Spalt vor mir sah, und drängte mich dann seitwärts in den Wagen. Ein Bandit starrte mich an, das Gewehr zwischen den Schenkeln. Aber das dritte Auge über dem Nasensattel hatte die Sehkraft der beiden anderen Augen ausgelöscht. Er saß auf einer Kiste, den Rücken gegen ein Faß gelehnt, aus dem es leise rieselte. Schwarze, kleine Körner rieselten über die Knie und Stiefel des Toten und bildeten auf dem Boden des Planwagens einen kleinen lockeren Kegel, der langsam in die Höhe wuchs. Das Faß fing an zu wackeln, als es draußen schepperte. Ich zog den Kopf ein. Offenbar zeichnete sich mein Körper als Silhouette auf der Außenplane ab. Nicht mehr lange, dachte ich grimmig, und rückte das Faß neben mir wieder zurecht. Noch ein paar Löcher im Holz konnten mir nur recht sein. Und die Fässer waren so dick, daß eine Gewehrkugel darin steckenblieb. Aber die Reibung einer Kugel im Pulver konnte den Wagen in die Luft jagen, während ich noch hier zwischen den Gewehrkisten bei dem Toten saß. Das war nicht ganz in meinem Sinn. Der Wagen sollte erst explodieren, wenn ich wieder in der Scheune war. Ich schob die Stiefelspitzen des Toten etwas auseinander, schöpfte eine Handvoll Pulver von dem Kegel, der sich auf dem Wagenboden gebildet hatte, und streute es wieder auf den Bohlen aus, während ich rückwärts zu dem klaffenden Riß in der Plane ging, wo ich in den Wagen gestiegen war. Eine fingerbreite Pulverspur führte jetzt zu dem schwarzen Kegel, vor dem der tote Bandit hockte wie vor der Asche eines erloschenen Lagerfeuers. Dann schob ich ein Bein durch den Riß in der Plane, setzte mich rittlings auf die Kante der Seitenbracke und riß ein Schwefelholz an meiner Stiefelsohle an. Ich warf es auf die fingerbreite Pulverspur, sah, wie es zischend Feuer fing, und sprang vom Wagen hinunter. Ich lief auf die klaffende Scheunentür zu und schrie: »Runter mit der Rübe, Whisper! Und weg vom Scheunentor!«
Er hatte längst erraten, was ich vorhatte. Als ich in die Scheune stolperte, winkte Whisper mir mit meinem Colt zu, daß ich hinter einem schweren Stützbalken noch ein paar Strohballen finden würde, unter denen wir uns vergraben konnten. Wir erreichten den Stützbalken noch. Dann warf uns eine mächtige Druckwelle bis an die hintere Scheunenwand. Als wir uns den Staub und das Stroh aus dem Gesicht rieben und solange mit dem Finger in den Ohren bohrten, bis wir wieder etwas hören konnten, sahen wir zwei Reiter unten am Hang vor dem Blockhaus, die ihre Pferde herumrissen und im rasenden Galopp in die Schlucht hinunterritten, aus der sie eben heraufgekommen sein mußten, während glühende Kistenreste und verbogene Gewehrläufe auf die beiden niederprasselten. Wir konnten die beiden sehen, weil von der Seitenwand der Scheune nur ein paar lose Bretter übriggeblieben waren. Aber die Stützbalken und das Dach hatten der Druckwelle standgehalten. Dort, wo der Wagen gestanden hatte, war nur noch ein schwarzes Loch im Boden. Und über den verbrannten Büschen dahinter hing eine mächtige schwarze Rauchwolke. Die beiden Toten, die mit hängenden Köpfen vor der Scheune gesessen hatten, waren ebenfalls verschwunden. Wir fanden auch später nichts mehr von ihnen oder den beiden Banditen, die den Planwagen bewachen sollten. »Schade«, sagte Whisper neben mir und hielt sich seine blutende Schulter, »daß du kein Gewehr aus dem Wagen mitgenommen hast, ehe du ihn in die Luft sprengtest! Mit einem gezielten Schuß könnten wir die beiden dort vielleicht noch aus dem Sattel holen.« »Man kann nicht alles im Leben haben, Whisper«, erwiderte ich. »Den einen von den beiden brauche ich außerdem noch als Zeugen für meinen neuen Prozeß.« »Als Zeugen wirst du ihn erst verwenden können«, erwiderte Whisper nachdenklich, »wenn du ihn wieder eingefangen hast. Und bei dem Tempo, mit dem er reitet, holst du ihn nicht so rasch wieder ein, Bob.« »Ich heiße nicht Bob, sondern Ronco. Wie oft muß ich dir das noch sagen!«
»Und ich heiße James Howard Enzensbarger. Und ich bestehe darauf, daß du mich von nun an immer mit meinem vollen, richtigen Namen ansprechen mußt, wenn ich dich nicht mehr mit Bob anreden darf!« »Whisper, ich …« »Ich heiße James Howard Enzensbarger! Wie oft muß ich dir das denn noch sagen, zum Donnerwetter!« Wir blickten uns an. Wir sahen beide aus, als hätten wir in einem Berg aus Kohlenstaub Maulwurf gespielt. »Nun los, Bob, beeile dich. Hol dir ein Pferd von der Weide und jage deinem Kronzeugen nach.« Ich schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage, Whisper. Zuerst bringe ich dich nach Hause und pflege dich gesund. Und dann überlegen wir uns, ob wir nicht gemeinsam losziehen und diesen Halunken verfolgen, der für ein paar lumpige Dollar seine Ehre und zweihundert Frauen und Kinder verkauft hat.« Ein Lächeln huschte über sein rußgeschwärztes Gesicht. »Ist das wahr? Du würdest mich mitnehmen auf die Jagd nach diesem Erzgauner und Satansjünger?« »Selbstverständlich würde ich das. Ich habe noch nie einen Partner gehabt, der so flüssig reden und so geräuschlos Männer auf den Kopf schlagen kann wie du, James Howard Enzensbarger!« Wir lachten uns an, und dann sagte Whisper, indem er sich verstohlen die Tränen aus den rußigen Augen wischte: »Weißt du, wenn Betty nicht unfruchtbar gewesen wäre wie ein Muli, hätte ich den Sohn, den sie mir geboren hätte, Bob genannt – Bob Howard Enzensbarger …«
ENDE
Vorschau Ronco ließ keine Sekunde verstreichen. Er riß die Reisetasche hoch und schmetterte sie seitwärts gegen den Kopf Pearsons. Der Schläger verlor das Gleichgewicht, taumelte und trat ein paar Schritte zurück. Fast gleichzeitig sprangen die drei Kartenspieler auf und schoben schurrend ihre Stühle zurück. Der Ranger ließ die Reisetasche fallen und zog den Peacemaker. Es war eine einzige Bewegung, die niemand hatte verfolgen können. Eben noch hatte er die Reisetasche in der Hand gehalten, jetzt war es ein blauschimmernder Colt. Die vier Männer blieben gebannt stehen, wahrscheinlich hatten sie noch nie in ihrem Leben eine Waffe so schnell aus der Halfter fliegen sehen … Das ist Ronco, der Texas Ranger. Lesen Sie nächste Woche Band 366 dieser großen deutschen Western-Serie:
Der Stern des toten Rangers