41 J"I
Geschichte - Politik - Philosophie
Festschrift für Willem van Reijen zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Ber...
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41 J"I
Geschichte - Politik - Philosophie
Festschrift für Willem van Reijen zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Bert van den Brink, Marcus Düwell, Herman van Doorn und Wolfgang Eßbach
Wilhe1m Fink Verlag Wilhelm
Bibliografische Information Der Deurschen Bibliothek Die Deulsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deulschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internel über ~abrufbar.
Das \\ierk einschließlich aller seiner Teile iSI urheberrechdich geschützt. Jede Vern'ertung außcrhalb der engen Grenzen des Urheberrechrsgesetzes iSI ohne Zustimmung des Verlages unzulissig und strafbar. Das gih insbesondere für Verviclfaltigungen, übcrsttzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in dekuonischen S)'slemen.
ISB 3-7705-3880-3 o 2(0) Wilhclm Fink Verlag, München Einbandgeslaltung: E\'el)'n Zieglcr, München Her5leUung: Fcrdinand Schöningh GmbH, Padcrborn
Inhaltsverzeichnis 7
VorwOrt
J Geschichte
Keimpe Algrn
Vi/tU philoJophio dlix. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik bei Cicero
11
Herta Nagl-Docekal und Ludwig Nagl Augustilluslektüren im Kontext der Gegenwansphilosophie
24
Ria van der Lecq Thonuls von Aquin: Geschichte, Philosophie und Politik
39
Henning Ottmann Was ist neu im Denken Machiavellis?
48
Theo Verbeek ..Göttliche Verwaltung", Spinoza über Demokratie und Theokratie
60
11 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts Ton van den Beld Der Philosoph Masaryk: Zwischen Lilxralismus und Kommunitarismus
7t
Bernd Stiegler Profane Erleuchtung als photographische Belichtung. ßildordnungen in der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert
83
Rob van Gerwen Hauch auf dem Spiegel
96
Uwe Sleiner Philosophische Um- und Abwege. Aus dem Schwarzwald über Heidelberg nach Paris: Hcidcgger, i\hx Weber, Benjamin
106
Rolf Wiggershaus Was ist deutsch? Was iSI normal? Anrwonversuche der Frankfurter Schule
117
6
InhaJlsverzeichnis
Wolfll"ng Eßbach Subversion. Kritik und Korrektur als Theorie-Praxis-Modelle
129
Hermann Schwengel Von Luhmann zu Hege!. Zum Wandel politischer Konstellationen
138
Gerard Raulet Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus. Zur Problematik der französischen Cüo}"cnnetC:
146
Ben van den Brink Politische Philosophie und Geschichte. Plädoyer für eine aspektivische Flexibilität des politischen Denkens
155
111 Aktuelle Debatten Wilhelm Berger Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation?
167
Marcus Düwell Naturbeherrschung und Versöhnung. Probleme einer philosophischen Reflexion auf das Verhältnis von atur, Technik und Politik
179
Gunzelin Schmid Noerr Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? Zur Legitimität der moralischen Fragen nach dem Allgemeinwohl
191
Jan Bergsrra und Albert Visser Heilserwartung in der Informatik
204
Jan Hein Hoogsrad The revolution shou1d be te1evised
217
Norben Bolz Warum es intelligent ist, nett zu sein
225
Raimar Zons Ruby Tuesday
235
Herman van Doorn Philosophie und PholOgraphie oder Triumph des Bildes?
246
Kurzbiographie und Bibliographie Willem van Reijens
255
Die Autoren
265
Personenregister
267
Vorwort
"Die Frage nach Versöhnung, Glück und Heil ist die Folie, vor der sich in der Philosophie, von Anfang an, die Frage nach der Wahrheit artikuliert.'<· Mit diesem Satz eröffnet \'('iIlern van Reijen. dem dieser Band zurn 65. Ge~ burtstag gewidmet ist, einen seiner Aufsätze über das Heilsversprechen und umreißt damit zugleich die Konturen seiner philosophischen Wdtsicht. In der PhiJosophie dreht es sich für van Reijen um Wahrheit, aber Wahrheit ist kein letztes Ziel. Ziel ist vielmehr Versöhnung. Glück und Heil. Van Reijen ist es, wie so viele anderen Philosophen vor ihm, bisher nicht gelungen, über Versöhnung. Glück und Heil letzte Wone zu sprechen. Man wäre sogar versucht zu sagen, daß die Frage nach der Wahrheit sich in van Reijens Philosophie vor der Folie einer existentiell notwendigen, aber von Anfang an zum Scheitern verurteilten GraJssuche artikuliert. Begrifflich-analytisch orientierte Philosophen flüstern schljeßlich nicht nur im Utrechter Fachbereich, daß düstere kontinen· tale Kollegen wie van Reijen die Vorstellung vom menschlichen Glück vielleicht nicht ganz unabsichtlkh so formulieren, daß sie dem Menschen per dtfinilionem unerreichbar bleiben muß. Die Tl1Igik und die Melancholik, dje mit der Vorstellung des unerreichbaren Glückes einhergehen, bleiben nur durch Ironje erträglich. In dem Balanceakt zwischen Tragik, 1elanchoLie und Ironie haben die düsteren Philosophen der l\loderne eine eigene Form des Glücks finden können. Dieser Balanceakt ermöglicht es ihnen, ein Wohlbefinden zu erfahren, das zwar keineswegs ein volJends versöhntes oder glückliches ist, aber doch Ergebnis der mutigen Gralssuche nach dem Unmöglichen - und eben deshalb eine bessere als jede andere im Leben hienieden mögliche Form des Wohlbefindens. Mit diesen kurz umrissenen zentralen Themen von Versöhnung, Glück und Heil wird ein Spektrum wissenschaftlicher Bemühungen umrissen, das in ganz unterschiedlichen Kontexten im Hinblick auf Fragen der praktischen und der politischen Philosophie und ihrem Verhältnis zu der Idee der Geschichte ver· folgt wird. Gcschicllle ist für van Reijen immer ein wichtiges Thema gewesen, weil er als poljtischer Philosoph und Sozial philosoph die Fragen nach Versöhnung und Wahrheit immer auch im Lichte politischer und sozialer Utopien und Zukunftsvorstellungen wahrgenommen haI. Ob nun in Auseinanderset\'(fillern V2n Reijen, .. Der ~lessi2s und der letzte GOtL Heilsversprechen bei Benj2min und Heidegger", in: Narben Bolz, WilJem V2n Reijen (Hrsg.), Htihl.,rsprrrht", München 1998, S. 116.
8
VorwOrt
zung mit Problemen von Identität und Subjektivität,2 mit dem Begriff der Aufklirung in der frühen Kritischen Theorie,) mit den Debauen zwischen ,,;\'10demen" und ..Postmoderneo"4 und •• überalismus" und "Kommunitarismus«s oder mit den philosophischen Ideen Benjamins und Heideggers 6 - immer ging es um die Frage, ob und inwiefern die Philosophie versuchen saUte, der Menschengemeinschaft dabei behilflich zu sein, ihre Zukunft im Lichte ihrer Vergangenheit :autonom und human zu gestalten. Dabei macht schon dieser schJagljchtartige Überblick über Themen und Debatten auch deutlich, daß Versöhnung und Wahrheit für \'V'illem van Reijen nicht nur theoretische Begriffe in eschatologisch-apok3.l)'ptischer Ferne, sondern stets auch einen konkreten Aspekt seiner Arbeit darstellen. Es fallt unmittelbar auf, daß Willem van Reijen stets kontroverse Debatten aufsucht und versucht, diese füreinander fruchtbar zu machen. Dabei geht es ihm weder um vordergründige Vergleiche noch um obernächljche Vermittlungsversuche. In jeder dieser Auseinandersetzungen geht es ihm darum, die Kontroverse offen auszutragen: "Ich war immer davon überzeugt [...}, daß es genauso wenig Sinn hat, Philosophien miteinander zu vergleichen wie Kunstwerke. Man sollte sie, so meinte ich, jeweils mir ihrem Anspruch auf Unverwechselbarkeit ernst nehmen. Und eine Phjlosophie nimmt man nur ernSt, wenn man sie mit ihrem Anspruch, nicht nur einige richtige, sondern die einzig richtigen Kriterien für die Unterscheidung wahr/falsch zu bieten, akzeptiert."7 l\·lit dieser Haltung unerbittlicher Prüfung der philosophjschen Ansprüche stürzte sich van Reijen in alle Debatten, die sich in den letzten dreißig Jahren im Spannungsfeld von Geschichte, Politik und Philosophie aufgetan haben. Es ging dabei um den Versuch, am Anspruch auf Wahrheit festzuhalten und doch im Spannungsfeld der unterschiedlichen Positionen den philosophischen Gehalt von Kontroversen stets besser zu verstehen. 2
Willem van Reijen. Bt.'Njlstin, JJ",tilil Nnd Sinn, Srultgarl 1975 (Habililll.tionsschrift). Siehe fur eine vollständige übersicht über van Reijens Publikationen die Bibliographie hinten in diesem Buch. } WiJ1ern van Reijen. Ado,."o zlir Ehljiihflln,g. Hannover 1980; ders.• J-Iorlr.hrimtr, I-Iannover 1982: ders. Philosophit (lls Kri/ile, Königstein i. Ts. 1984; ders. "Die lJ;(1ltlelik drr ANfleliirlinl. gdesen als Allegorie", in: Willern van Reijen, Gunzellin Schrnid Nocrr (I-Irsg.), Di(lltlelile dtrAlifleliirll"1. 1947-1987, Frankfurt a. l\L 1987. Dietmar Kamper. Willem van Reijen (I-Irsg.), Dit IInt'OlItndtlt Vt,."lInjt, Frankfurt a. M. 1986: Willem van Reijen. "Moderne versus Postmoderne. Die Allegorisierung unserer Zeit". in: S. BUrischer und W. Donner u. a. (Hrsg.), Pos/modt,."t: Phi/osophrm und Ara/miet, Bern 1989; ders... Labyrinth und Ruine. Die Wiederkehr des Barock in der Postmoderne;" in: ders. (Hrsg.). Alltgorit lutd MtI(I,,(holit. Fnnkfurt a. M. 1992. Willem van Reijen, .. Die Beweislast der politischen Philosophie", in; Bert van den Brink, Willem "an Reijen (Hrsg.), ßi'ltrgmlluhaft. Rtthl Mild Dtltlolera/it, Frankfufl a. M. 1995. Norbert Bolz, Willem van Reijen, If/(llur Btllja/1tin, Fnnkfurt a. M. 1991; \'(Iillem "an Reijen... Der Messias und der lerzte Galt"; ders.• Dtr Sth.·(I't!'·(I/J Mild Paris. Rr'YJIII/io"irr Mt/aphorile bti Htid'l,glf' Nlld ßtIlj(l/1till. Munchen 1998. \Villern \'an Reijen, Dtr Sth.·a"Z"·a/J Nlld PQris, S. 8.
•
• • ,
Vorwort
9
Diese Haltung der Überbrückung von Grenzen findet sich nicht allein im philosophischen Werk van Reijens, sondern auch in seinem gesamten Wirken. Als Pendler zwischen Deutschland und den Niederlanden hat van Reijen einersein philosophische Bemiihungen aus Deutschland in Phänomenologie, Hermeneutik und Kritischer Theorie in die Niederlande vermittelt und zugleich aus niederländischer Perspektive in Deutschland publiziert wie kein anderer. Das schlägt sich auch in seinen vielfachen institutionellen Verankerungen nieder: Er hat in Deutschland studiert, promovien und habilitien, ist Ordinarius in den iederlanden und zugleich Honorarprofessor in Freiburg. Aber Überbrückungen finden sich auch in Willems Tätigkeit in Utrecht: in der jahrelangen Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften und dem in zahlreichen Zeitungsartikeln belegten Versuch, Philosophie in öffentliche Auseinandersetzungen zu tragen. Und schließlich in seiner Tätigkeit als langjähriger Dekan der Philosophischen Fakuhät, in der Willem durch seine koUegiale und vermittelnde Art nicht vor Konflikten zurückscheute, aber doch an einer Atmosphäre der Offenheit, des gegenseitigen Respekts und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gearbeitet hat, die schlichtweg angenehm und fruchtbar ist. Die skizzierten wissenschaftlkhen Interessen van Reijens haben die Herausgeber dazu inspiriert, eine Reihe von Schülern, Freunden und Kollegen um Beiträge zu bitten, die sich mit den Möglichkeiten philosophischer Reflexion im Hinblick auf Politik und Geschichte beschäftigen. Im Hinblick auf die Möglichkeit, rationale Maßstäbe für die politische Praxis zu entwickeln, hat das Geschichtsbild in den vielC'n Konzepten der Moderne eine große Rolle gespielt. Um dem philosophischen Wissen gegenüber der alltäglichen Welt ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und doch eine gewisse Wirksamkeit im Hinblick auf die politische Praxis zu verschaffen, war die Geschichtsauffassung vieler Philosophen der Moderne häufig linear und fonschrittsorientien. Sie wolhen zumindest pragmatisch die MögHchkeit von Fortschrit[ und gezieher Entwicklung offenhalten. Im Hintergrund standen dabei häufig Annahmen im Hinbl.ick auf eine mögliche Versöhnung von menschlicher Natur und moralisch-politischen Zielen im Verlauf der Geschichte. Von der anderen Seite wurde entweder die Unabhängigkeit philosophischen Wissens von geschichtlicher Bedingtheit angezweifelt oder doch über philosophisches Wissen ein Anwendungsverbo! verhängt. Die gezielte praktische Anwendung philosophischen Wissens wird bisweilen für kontraproduktiv, gef.-ihrlich oder fur unmöglich angesehen. Die Geschichtsauffassung kann die der "ewigen \'(liderkehr des Gleichen" sein, möglicherweise in Verbindung mit der These, man könne sich aus der "empirischen Zeit" der ewigen Wiederkehr nur mit einem revolutionären, praktisch-philosophisch nicht begründbaren Sprung befreien. Diese kurzen thematischen Bemerkungen machen deutlich, daß Willem "an Reijens Themen um Versöhnung und Heil mit zentralen geschichtsphilosophischen Hintergrundannahmen der ugitimationsdiskurse der politischen Philosophie zusammenhängen, die es lohnt in historischer und systematischer Per.
10
VorwOrt
spektivc näher zu beleuchten. Daher versucht der vorljegende Band auch hiStorische und systematische Perspektiven miteinander zu verbinden. Während in einem ersten Teil dem Verhältnis von Geschichte, Politik und Philosophie im Hinblick auf verschiedene kJassische AutOren von Cicero bis Spinoza nachgcg;togen wird, lokalisiert der zweite Teil dieses Thema in verschiedenen philosophischen Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts. Der dritte Teil umreißt aktuelle Debatten, in denen das Thema in unterschiedlicher Weise \Ton Bedeutung ist, in denen uns Phänomene wie hip-hop, Technikcthik und lo(ormauonslcchnologie in teils recht ungewöhnlicher Perspektive entgegentreten. Wir haben den Eindruck, daß die hier geschaffenen Konstellationen den Raum zwischen Philosophie, Geschichte und Politik in Fragmenten aus Geschichte und Gegenwart erfassen, die sie zwar weder ohne weiteres als Trümmer erscheinen lassen, die erSt im Geiste der Allegorie als Bruchstücke eines unerkannten Bauplans gelesen werden können, noch als Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Doch als zentrale Elemente einer philosophischen Reflexion, die sich auf der Suche nach einer humanen Welt der Offenheit, Vorläufigkeil, Vieldimensionalität und Widersprüchlichkeit dieses Bemühens bewußt ist. Darin - so scheint uns - ist diese Sammlung in der Tat eine geeignete Feslg
Die Herausgeber danken der Philosophischen FakuJtät der niversitäl Utrecht fur einen großzügigen Druckkoslenzuschuß. Wir danken Tatjana Visak rur ihre Übersetzungen aus dem 1 iederländischen der Aufsätze von Ton van den Beld, Rob van Gerwen und Ria van der Lecq und Franziska Riegelmann für ihre Übcrsctzung des Aufsatzcs von Jan Hein Hoogstad aus dem Englischen. Pim Soomer gebührt Dank für seine Assistenz bei der Fertigstellung des Manuskripts.
I Geschichte
Keimpe Algra
Vitae philosophia dux Zum Verhältnis von Philosophie und Politik bei Cicero
I Über mehr als zwanzig Jahre war Marcus Tullius Cicero einer der mächtigsten Männer Roms. In den sechziger und fünfziger Jahren des erSten vorchristlichen Jahrhunderts spielte er eine herausragende RoHe als Politiker und Redner. Geboren 106 v. ehr., war er 80 v. ehr., also mit sechsundzwanzig Jahren, zum erstenmaJ in einem politischen Prozeß aufgetreten (die diesbezügliche Rede kennen wir noch heute als Pro S~xl(J Rosrio Amtrino), mit Einunddreißig hatte er das erste Staatsamt (Quaeslor in Sizilien) bekleidet und mit Dreiundvierzig die höchste Stellung im Staat (das Konsulat) erreicht. Dank seiner publizierten Reden und Briefe können wir uns ein recht ausfuhrliches Bild von seiner Persönlichkeit bilden. Man könnte beinahe sagen, es gebe im ganzen Altertum niemand, von dessen Leben und \Virken wir eine so unmiuelbare Vorstellung gewinnen können. Dieser J\'!ann der Praxis war aber auch Autor rhetorischer und philosophischer Schriften - zwei Kategorien, die er übrigens selbst in engem Zusammenhang zueinander zu betrachten pOegte. 1 Die philosophischen Schriften, auf die wir uns hier konzentrieren werden, wurden von der Nachwelt nicht immer in gleicher Weise gewürdigt. Einflußreich waren sie in der römischen Kaiserzeit (Augustinus wurde bekanntlich in seiner Jugend durch die Lektüre des Hortm+
Siehe umen Anm. 8 und 19. Die beste allgemeine EinfUhrung in Ciceros philtmphit(l (auch in ihrem Zusammenhang mit den rhetorischen \'I;'erken und mit einer hen'orragenden DokumeOlation der Forschung des letzten Jahrhundens) ist Gawlick & Görler 1994. Weitere ",'ichtige Studien sind Bringmann 1971 und Leonhardl 1999. Zur Biographie: Raw$on 1975.
12
Geschichte
,iu! zur Philosophie geführt, Conftnionu 1Il, 4), im i\littelaher (die TI/Jeu/anot
Dhpolalionu und De offtdh gehörten damals zum Kanon) und in der Neuzeit (so fanden die skeptischen Gegenargumente zu den Gottesbeweisen im dritten Buch des De nalura dtortim ein spätes Echo in David Hurnes 1779 postum veröffentlichten Dia/ogllU Conrtrning Na/ural Religion). Man betrachtete Ciceros philosophieo als Fundgrube philosophischer Meinungen und Argumente, von denen man sich anregen lassen oder die man kritisieren konnte, und man war bemüht philosophisch Brauchbares aus diesen Werken herauszuarbeiten. Die Frage nach der Stellung Geetos im weiteren Umfeld der antiken Philosophie und die Frage nach der Originalität seiner Arbeiten waren aJso durchaus unwichtig. Das änderte sich aber, als vom 18. Jahrhunden an die Philosophiegeschichte sich zu einer Disziplin SII; genens zu entwickeln begann. Jetzt war es angebracht, klar zu unterscheiden zwischen denjenigen, die die Entwicklung der Philosophie mitbestimmt harten, und denjenigen, die man eher als Epigonen oder Eklektiker betrachten soLlte. Die Folgen dieser "Historisierung" der Philosophiegeschichte für das Cicerobild waren zumindest anfänglich überwiegend negativ. So bezeichnet Hegel in seinen Vor!ullngtn iibtr d;t GmhidJlt der Philosophit (1817) Cicero als "eine trübere Quelle, weil er zwar viele ach richten enthält; aber da es ihm überhaupt an philosophischem Geiste fehlte, so hat er die Philosophie mehr nur geschichtlich zu nehmen verstanden". 2 Cicero habe entsprechend ..das Medium des Räsonierens, nicht des Spekulierens" gewählt J selbstverständlich, denn "das schöne Latein des Cicero kann sich nicht in tiefe Spekulation einlassen".· Zu einem mehr ausgewogenen Verständnis der historischen Stellung und Bedeutung des Philosophen Cicero kam es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Jetzt erkannte man, daß für die hellenistische Philosophie des Ciceronischen Zeitalters - also fUr die Philosophie des erSten vorchristlichen Jahrhunderts - die Originalitätsfrage weniger angebracht iSI oder zumindest priiziser formuliert werden solhe. Auch andere Philosophen waren damals vor allem bemüht, die vorgefundenen S}'steme der Akademie, der Stoa oder des Epikureismus zu verfeinern und zu verteidigen. Mit andern Worten: "räsonieren", nicht spekulieren, war gerade die Aufgabe, welche die meisten Philosophen dieser Periode sich stellten. Ihre etwaige Originalität bestand demgemäß nicht in s)'stematischen Neuerungen, sondern in der An der Verwendung des herkömmlichen l...laterials. Wichtig dabei ist die Voraussetzung, die Philosophie sei primär Lebensphilosophie: die verschiedenen Schulen bieten nicht nur je eine kohärente Weltanschauung, sondern auch praktische Anweisungen zur Lebensführung. Dieser praktische Aspekt tritt auch in Ciceros Arbeiten klar hervor. Er zeigt sich auf mehreren Ebenen. Erstens hat seine philosophische SchriflSlellerei
2 Moldenhauer & Mkhel 1971. ßd. 18, S. 190. J Moldenhauer & Michel 1971, Bd. 18. S. 191. -4 Moldenhauer & Michel 1971, Bd. 19, S. 541.
Aigra, Vi/ilt philoJophio dMX
13
angeblich, in sehr konkreter Weise, wie eine Art Therapie funktioniert. Am Anfang der Schrift Oe nolllra tleorllm lesen wir, daß er nach dem Tode seiner Tochter Tullia Trost fand in der Lektüre philosophischer Werke, aber vor allem in seiner eigenen schriftlichen Behandlung der ganzen Philosophie (atl 1010m pbiloJophial1l p~rtra(/andaIJt, NDs I, 9). Gerotde im Schreiben konnte sich nämlich der Zusammenhang der verschiedenen Teilgebiete und Teilfragen der Philosophie zeigen,6 so daß ethische und politische Fragen nunmehr im breiteren Kontext der Metaphysik, Theologie und Epistemologie betrachtet werden konnten. Aber auch abgesehen von dieser traurigen Episode hat die Philosophie in Ciceros Leben eine wichtige RoUe gespielt. Als junger Mann hane er in Rom Philosophie studiert, unter anderem bei dem Akademiker PhiIon von La· rissa, und zwischen 79 und 77 hane er sich während eines Studienaufenthalts in Athen, wo er den eklektischen Plaronisten Antiochus von Ascalon höfte, erneut mit Philosophie beschäftigt. Neben Phiion und Antiochus nennt er (ND I, 6) Posidonius und seinen späteren Hausphilosophen Diodotus als wichtige und für seine Lebensführung bestimmende Persönlichkeiten. In der Tat hat die philosophische Bildung Ciceros Leben geprägt, sowohl als Privatmensch als auch als Politiker: wenn man ..alle Gebote der Philosophie auf das Leben beziehen muß", so glaubt er in der Tat ..in öffentlichen wie in privaten Angelegenheiten das geleistet zu haben, was mir die Vernunft und die Lehre vor· schrieben".1 In diesem Willem van Reijen gewidmeten Aufsatz werde ich die Frage nach der Bedeutung der Philosophie für Cicero als Privatmensch übergehen und mich auf die Ciceronische Konzeption des Verhältnisses zwischen Philosophie und Politik konzentrieren. Es handelt sich dabei nicht um die politische Philosophie oder politische Theorie im engeren Sinne, die es bei Cicero offenbar auch gibt - neben mehr konkreter, praxisorientierter Renexion -, sondern um die Frage nach dem pnktisch-poJitischen Aspekt der Philosophie überhaupt. 8 Wie glaubte Cicero die Philosophie in seine eigene politische Tätigkeit einbeziehen zu können, und welche Stellung konnte - oder sollte - seines Erachtens die griechische Phllosophie im Rahmen der politischen Praxis der römischen Republik haben? Kurzum: Inwiefern sollte und konnte, nach Cicero, die Philosophie politisch sein?
SEine üste mil Abkürzungen von Titeln von Ciceros Ar1x:ilen findet sich in der Bibliognphie am Ende dieses Aufs2tus. 6 ND I, 9 ..omnes autem eius partes atque omnia membra lum facillume noscuntur cum tOiae quaestiones scrilxndo explicantur". 1 ND I. 7 "eI si omnia philosophiae pnecepta referuntur ad vilam, arbitnmur nos el pubLicis el prh':uis in rebus ell praestitisse qu.ae ratio el doctrina praescripserit". Vgl. auch Q. Fr. I, 1, 28. DlIZu auch Fuchs 1956 und Kumanieck)' 1960. 8 Zum merschied zwischen praxisoriemierter politischer Reflexion, politischer Theorie und politischer Philosophie siehe 'eschke-Hemschke 2003.
14
Geschichte
II Philosophisches Material findet man nicht nur in den theoretischen Schriften, sondern auch in Ciceros öffentlichen Reden und in seinen persönlichen Briefen. 9 Wie er 20m Anfang der Schrift Vt na/lira dtorum betont, waren schon seine fruhen Reden von philosophischen Maximen erfüllt und war er ..gcrnde dann 20m meisten mit der Philosophie beschäftigt. wenn sich das 20m wenigsten zeigtC".1O In einem Brief an den Stoischen Politiker M. Porcius Calo stellt er fest, sie heide hätten die Philosophje "ins Forum", abo in das Zentrum der poLitischen Aktivität gerückt. 11 Nicht zufallig aber erschienen die philosophischen Schriften Ciceros gerade in zwei relativ kurzen Perioden, in denen er durch die politischen Umstände selbst von aktiver politischer Betätigung mehr oder we· niger ferngehalten wurde. Während des ersten Triumvirats (Caesar, Crassus, Pompeius), in den fünfziger Jahren, schrieb er Oe re pub/im und De /rgibll1. Als in dem 49 entbrannten Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius Caesar schließlich als Sieger gegen die römische Verfassung die Alleinherrschaft zu erwerben versuchte, konnte Cicero als Verfechter der republikanischen Wene, der sich außerdem in dem Bürgerkrieg an die Seite von Pompeius gestellt hatte, politisch überhaupt keine Funktion mehr erlangen. Die in diesen Jahren entstandenen philosophischen Schriften (wie De jinibus, Oe nalura dtorum, Ot dh'jnahont, Atadtmica, Oe offidjs) sollte man demgemäß nkht mehr als komplemen. täre. theoretische Bemühungen zu einer aktiven politischen Praxis betrachten, sondern eher als Versuche, seine politischen Ziele nunmehr mll anderen Mit· tein zu verfolgen. Wie er am Anfang des zweiten Buches von Dt dit'jnaljone deutlich macht. war er bemüht mit seiner philosophischen Schriftstellerei seinen Dienst an der ffentHchkeit fortzusetzen. Dabei hatte er nicht nur ein kulturelles Programm vor Augen - indem er den Römern die griechische Philosophie in Hauptlinien auf lateinisch zur Verftigung stellen wollte -, sondern auch ein erzieherisches - man könnte auch sagen: im weiteren Sinn politisches - Ziel, denn er wollte die zeitgenössische Elite, vor allem die Jugend, unter· richten und moralisch auf die rechte Bahn bringen. 12 Zumindest die politischen Werke der fünfziger Jahre scheinen diese Zielgruppe auch tatsächlich cr· reicht zu haben, denn in einem Brief an Cicero (Mai 5 I) schreibt sein Freund
9 Die theoretischen Schriften zur Rhelorik könnle man muürlich als philosophisch im breiteren Sinne betrachten; siehe dazu Gawlick & Görler 1994, S. 1016. Zu den phi. losophischen Aspekten der Reden siehe z. B. Grilli 1987. Zu den Briefen Grifftn 1994. 10 ND 1, 7: "ei cum minime videbamur, turn maxime philosophabamur, quod et or:nio· nes dedaraOl refertae philosophorum seOlenLiis eie:'. 11 Fa"'. XV, 4, 16: "nos phiJosophiam veram illam et anLiquam, quae quibusdam otii esse ac desidiae viderur, in forum atque in rem publicam atque in ipsam aciem paene deduximus". 12 Dip. J, 4 ..quod cnim munus rei publicae afferre maius meJiusve possumus, quam si docemus alque erudimus iu\·en{ut~m".
Algra, Vitat philofophia dllx
15
M. Caelius Rufus (Fom. VIII, I): "Deine politischen Schriften werden von allen gelesen" (Illi polilid libn omnibuJ ,!igtnl), wobei "allen" sich in diesem Kontext selbstverständLich auf die führenden Schkhten Roms bezieht. Welchen Effekt er mit den pbiloJopbirn zu erzielen hoffte, können wir vielleicht einem Brief an Atticus (vom 9. Juli 44) entnehmen, in dem er beschreibt, wie er nicht nur mit seinen Ratschlägen, sondern auch mit seinen Schriften seinen effen Quintus Cicero, den Sohn seines Bruders, zur richtigen politischen Stellungnahme überzeugt hat (Nlloli animo in nm publirom quoli nOJ ,,'OINmUJ JUINnlJ fil).13 Die Frage liegt dann aber nahe, wie, nach Cicero, die pbiloJophüclJe Bildung der Elite einen polih"ffbtn Effekt erzielen könnte oder erzielen solhe. Diese Frage läßt sich, wie wir sehen werden, auf verschiedenen Ebenen beantworten. Ein Indiz für eine erste, noch recht allgemeine Antwort entnehmen wir der Tatsache, daß Cicero Platen bewunderte und von dessen Forderung, die Philosophen müßten zu Herrschern, die Herrscher zu Philosophen werden, be4 trächtlieh beeinflußt war. 14 In diesem Rahmen sollen natürlkh zuerst die offenbar an Platen angelehnten politisch-philosophischen Schriften der fünfziger Jahren betrachtet werden. Im Proömium der Schrift Dt n pub/iea bekämpft Cicero zuerst (Rep. I, 1-9) den epikureischen Quietismus - anhand dessen viele angeblich glaubten, man solle sich der politischen Praxis fernhahen -, um dann zu behaupten, daß führende Politiker von einer politischen Philosophie unter4 Stützt werden sollten (Rtp. I, 10-1 I). Im zweiten Buch läßt er Scipio die Bedeutung der Persönlichkeit betonen: immer sind es die Einzelnen gewesen, die mit ihrer Chanktertugend und Einsicht den Staat stufenweise zu der besten Verfassung geruhrt haben. Und der ideale Staatsmann steHt mit seinen Tugenden ein Exemplum fur die Bürger dar fRLp. 11,69: u/ od imilolion,,,, JU; ,,'Ocal o/ioJ, ul Jtlt fp/mt/ort animi tl tÜnt fliOt firul Jpuu/um protbtal eh·ibuJ}. In einem gewissen Sinne ist also der tugend ethische Aspekt wichtiger als der legalistisch-politische. Im Proömium des drinen Buches (Rtp. 111, 5) lobt er die Vereinigung praktischer Erfahrung und theoretischer Vertiefung, die er den Lesern als eine Verbindung römischer Pragmatik und griechischer Philosophie vorstellt. Im fünften Buch schHeßlich entwickelt er eine Theorie über die Bildung des princtPf oder gubtnlalor rti pub/ient. Dies alles bildet insgesamt eine Art Erziehungsprogramm für die römische politische Elite. Es handelt sich hier also im wesentlichen um eine tugendethische Konzeption, nach der die Sicherung des Staates nicht primär von seinen Institutionen, sondern vom Ethos seiner Bürger und vor allem vom Ethos seiner Führer bestimm( wird. Eine solche Konzeption finden wir bekanntlich auch anderswo in der Geschichte der antiken politischen Philosophie. Sie tritt klar hervor aus Pl3tOns Po/iltia, und auch Platons mißlungene Bemühungen, am Hofe von
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All. XVI, 5. 2: ..sie enim commutalus est
et scriptis meis quibusdam quae in rnanibus habebam et adsiduitale oralionis et praeceptis Ul (ali animo in rem publicam quali nos volumus rUluru5 si I". Zum PlalOnbild Cieeros. siehe Long 1995a. IONS
16
Geschichte
Dionysius in Syrakuse seine politische Philosophie praktisch anzuwenden, hatten angeblich vor allem die Absicht, den Tyrannen zu erziehen. Auch die "Ethisierung" des Politischen in der frühen Stoa sollte in diesem Rahmen betrachtet werden. Natürlich gibt es auch antike Texte, in denen sich die Perspektive aUmählich in eine rein politische wandelt - so z. B. schon zum Teil in Platons späteren Nomoi und über weite Strecken der aristotelischen Politica. wo etwa die Verfassungslehre und die Lehre des Ausgleichs von sozialen Konflikten, dje die Stabilität der Polis garantieren soll, zu Hauptthemen werden. Auch bei Cicero findet man beides: neben und in Verbindung mit der tugendethisehen Perspektive gibt es, wie gesagt, auch eine politische Philosophie im engeren oder technischen Sinne, vor allem natürlich in den Schriften über die ideale Verfassung (De n publiea) und über die idealen Gesetze (De legiblls). Es sollte aber angemerkt werden, daß seine Betrachtungen in diesem Rahmen eher geschichtlich als rein philosophisch sind. Die ideale Verfassung ist, nach Cicero, die Mischverfassung der römischen Republik, und die idealen Gesetze lehm er an die alte römische Rechtsordnung an. Hier kann man sich also auf die Tradition verlassen. Die Philosophie als ganze btaucht man dagegen vor allem, wo es sich um das Ethos der Regierenden handelt. Offensichtlich handelt es sich dabei, nach Cicero, weder um metaphysische Schwärmerei noch um die Skizze eines bloß utOpischen Idealbildes. In einem Brief an seinen Bruder Quimus, geschrieben in 60/59, als Quimus Proconsul in Asia war, verbindet er seine ethischen und politischen Ratschläge mit einem Verweis auf das platonische Ideal des Philosophen-Herrschers, indem er suggeriert, Quimus verkörpere in seiner gUten Verwaltung der Provinz schon dieses Ideal- es sei also in einem gewissen Sinne erreichbar (Q. Fr. I, 1,29). Daß er diesbezüglich die platonische Position ernst nahm, läßt sich aber auch anderen Briefen entnehmen. In einem Brief an seinen Freund Atticus vergleicht er sein eigenes Verhältnis zu Caesar mit Platons Bemühen, Dionysius, den Tyrannen von Syrakuse, phiJosophisch zu erziehen (All. IX, 13,4). Als Caesar im Januar 49 den Rubikon überquert und somit der Bürgerkrieg zwischen ihm und Pompeius erSt recht seinen Anfang nimmt, schreibt Cicero demselben Anicus: "Welch ein wahnsinniger, welch ein unglücklicher Mann! Denn nicht einmal einen Schauen des Guten hat er je gesehen" (All. VII, 11, I). Der Anklang an Platons Po/iteia - wo die Idee des Guten bekanntlich die transzendente Norm für den guten Herrscher und für den guten Menschen überhaupt darstellt - ist unverkennbar. Ein weiteres Beispiel finden wir in einem Brief an Aniclls vom 27. Februar 49, in dem er das Verhalten der beiden Gegner im Bürgerkrieg. Caesar und Pompeius, scharf kritisiert: Beide sind nur bemüht, ihre I\'Iacht zu sichern, während sie das Interesse des Staates vernachlässigen und somit Ciceros eigene Weisungen über den gubemalor ni pub/ieae, im fünften Buch der De Fr pub/ica, nicht mehr im Auge behahen. 1S Noch in der Spätschrift De offidis kriti-
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Alt. VIII, 11, I: "consumo igitur omne tempus considerans quanta vis sir illius vin
Algra, ViI,u philolophio d/lx
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siert er. anhand der stoischen Theorie der /en/hikon/a (o.fIida, Pflichten) die PoLitiker Sulla, Caesar und, ptr i11lplicotiont11l, Amonius und stellt ihnen ein Idealbild gegenüber, nach dem sich der PoLitiker bewußt ist, daß er die "Maske des Staates trägt" - also den Staat verkörpen - und daß er demgemäß dessen digni/0$ vergegenwärtigen soll 16 un soll man aber aus den platonischen AnkJängen in De rt pllblira oder aus dem platonischen Wortlaut in dem oben zitierten Brief an Atticus iiber Caesar nicht schließen, Ciceros politische Ethik komme der orthodox platonischen nahe. Das Konzept des idealen Staatsmannes wird bei ihm nicht mit der Erkenntnis transzendentet Werte in Verbindung gebracht. Exemplarisch ist nicht der Jenseits-Philosoph der platonischen Poliltia, sondern der Staatsmann+Philosoph, so wie Cicero es selber war. 17 Demgemäß erkennen wir in seiner Skizze des Idealbilds die Elemente seiner eigenen philosophischen Bildung in der zeitgenössischen Akademie bei Phi Ion von Larissa und Antiochus von Askalon. 18 Einerseits folgt er nämlich im großen und ganzen dem gemäßigten Skeptizismus der "neuen" Akademie Phiions, indem er uns den idealen PhiJosophen als einen vorfünn, der die vorhandenen philosophischen Meinungen einander gegenübersteHt und versucht, in einer rhetorisch-philosophischer Praxis des pro tI contra düplI/ari herauszufinden, welche Theorie man flir die wahrscheinlichste halten kann. So schilden er uns am Anfang der Schrift De na/Nra dtof'H11I den idealen Akademiker. Dieser kenne alle philosophischen Systeme und sei um der Wahrheit willen imstande, sowohl ftir als auch gegen alle diese Systeme zu argumentieren: "Wenn es schon eine große Aufgabe ist, die Lehren einer einzc:lnen Schule zu verstehen, wie\'iel größer ist die dann ftir alle SchuI.::n? D;e müssen aber diejenigen auf sich nehmen, die 5ich vorgencmmen ha· ben, sowohl gegen als auch für alle Philosophen zu disputieren, um die Wahrheit zu finden. Ich selbst behaupte gewiß nicht, daß ich die Fähigkeit zu einem
'1uem nostris saris diligenler 1... 1 expressimus. tenesne igitur moderatorem illum rci publicae '1uo referre "dimus omnia? (... 1huic moderatori rei pubblic2e be2fa civium vit2 proposita est 1... [ hoc Gnaeus noster cum 2ntea numquam turn in hac causa minime cogitavit. dominatio quaesita a utroque est, non id aCtum, be:l.t.a et honesta civitas ut esset". Zum philosophischen Himergrund der Ciceronischen Konzeption der rrs publica siehe Ferrary 1995 und Schofield 1995. Zum Verhältnis zwischen Philosophie und Politik in der späten Republik im allgemeinen siehe Griffin 1989. 16 Off I, 124: .,est igitur proprium munus m2gistnHuS imellegere se gere re personam dvit2tis debere'lue eius dignit2tem el decus susrinere, sef'.'2re leges, iura describere, e2 fidci suac commiSS2 meminisse'·. Dazu 2uch Lang 1995b. 17 Fur ein Beispiel dieser SclbSlzufriedenheit siehe Off I, 77-78. M2n soll 2ber 2uch solche P2SS2gen "on einem lu~nde{hischen Gesichtspunkt aus betrachten: es handelt sich nicht um die Verherrlichung rein persönlicher Merkm:ale, sondern es wird ein Charakter!TpMJ 21s exemplarisch d2rgeslellt. ~f1l,de mil der Absicht, auch .andere zur achfol~ herauszufordern. 18 Zu Phiion und Anriochus (und ihr Verhältnis zueinander) siehe Barnes 1989 und Görler 1994.
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so großem und schwierigen Unternehmen erlangt habe. Dass ich danach gestrebt habe, erkläre ich dagegen gcrne."19 Andererseits aber stellt sich gerade bei diesem probabilistischen Verfahren des öftcren heraus, daß die Position der antiocheischen "alten" Akademie - ein synkretisierendes Amalgam von Platonismus ohne Transzendenz und Stoizismus - zu präferiercn sei. Ein Beispiel findet man am Ende des ersten Buches von De legiblls (Leg. I, 58-63), wo Cicero die philosophische Weisheit als Erzeuger der guten politischen Praxis (I, 62: tarollJ paretu esl ed,uoln'xqlft sapientia) bezeichnet - die Weisheit, von der sein eigenes Leben, wie er sagt, ganz und gar geprägt worden ist (I, 63: millI studio leneor qlloequt mt ellm, qllicumqut SlIm, ifftcil). Es stellt sich also heraus, daß Cicero - wie sehr auch das Ideal des Staatsmann-Philosophen als solches platonischer Herkunft war und wie sehr auch Platon in dieser Hinsicht fur ihn exemplarisch war - auf jede Form von Tran~ szendenz verzichtet: Die Werte, die das Leben und das Verhalten des Politikers prägen sollen, enmimmt er einer probabiJistischen Dialektik, in deren Rahmen er - und nicht nur er, sondern auch der ideale Politiker - sich dann letztlich, ohne Sicherheit und nur aus Plausibilitätsgründen, zu der stark stoisch anmutenden antiocheischen Position bekennt.
III Mit dem Hinweis auf diese tugendethischen Aspekte ist aber dje Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und Politik bei Cicero noch nicht erschöpfend behandelt. Denn die Frage läßt sich auch auf mehreren konkreteren Ebenen beantworten. Wie lassen sich, nach Ansicht Ciceros, die Werte und Tugenden, die der ideale Politiker aus der Philosophie herausbekommen wird, praktisch im römischen Kontext der späten Republik verwenden? Erstens ist zu bemerken, daß die Philosophie nicht allein für die Persönlichkeit des Politikers eine bildende Rolle spielen kann, sondern daß sie ihm auch bei seiner alltäglichen rhetorischen Arbeit nützljch sein wird. Dieser Aspekt tritt klar und bemessen hervor im Orator, wo Cicero mehrfach betOnt, daß nicht nur die Ethik, sondern auch die Logik und die Physik für die oratorische Praxis hilfreich sind. 2o Es handelt sich dabei natürlich nicht um Stil oder rhctOND I, 11-12: "si singulas diseiplinas pereipere magnum est, quanto maius omnis? quod faeere iis necesse est quibus propositum est veri reperiendi causa et contra omnis philosophos et pro omnibus dicere. euius rci tantae tanamque diffieilis faeuhatem conseeutum esse me non profiteor, secutum ersse prae me fero". 20 Or. 16: "nee vero sine philosophorum diseiplina genus et speeies euiusque rei eemere, neque eam definiendo expüeare ncc tribuere in partes possumus nce iudicare '1uae vera, quae falsa sint, neque eemere eonsequentia, repugnantia videre, ambigua distinguere. quid dicam de nawra re rum, cuius eognitio magnam orationis suppeditat copiam? de vita, cle officiis, de virtute, de moribus sine multa earum ipsarum rerurn disciplina aUf diei aut imellcgi posse?". Ausfuhrlieher Or. 113-119, und vor allem De 19
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rische Technik, sondern um den Stoff, um die rhetorische Erfindungskraft (de malerio loqllor oral;onü, Or. 119). Es wird hier ein Thema wieder aufgenommen, das Cicero schon in der Frühschrift De htt'tflh·one und ausfUhrlieher in De ora/ore behandelt hat. So wie Weisheit ohne Eloquenz Staaten wenig nützen wird, so werden sie auch von einer tloqlltnlia sint sopitfl/ia nicht profitieten (Inv. I, 1). Miriam Griffin hat daf2uf hingewiesen, daß in Ciceros eigenen Reden politische Ff2gen öfters in philosophischen Termen diskutiert werden: ..the docrri· nes of the dogmatic sects were tOO complex tO provide directives on particular occasions. But they provided the moral vocabulary for weighing alternatives and justifying decisions."ZI Zweitens scheint es, obwohl hier explizite Indizien fehlen, daß Cicero glaubte, die griechische Philosophie - vor allem natürlich das von ihm in mancher Hinsicht bevorzugte antiocheische Amalg
orat. 1J I. 56-90. Die Physik wird natürlich vor allem dienSlbar sein. wenn es sich um Fragern mil Bezug auf das Weltbild und die Religion handelt (cf. Div. 11, 149: "religio propaganda 1...1 quae eSI iunCfa eum eognitione naturae"). 2\ Griffin 1989, S. 36. Z2 D;'I. 11. 148-149: "Nam el rnaiorurn instituta tueri saeris eaerimoniisque retinendis sapientis est (... ) quan1 ob rem UI rcJigio propaganda etiarn eS[, quae est iuneta eum cogniuone muurae, sic superstitionis stirpes ornnes eiidendae;'. lJ ND J, 3-4: .. In specie aUlem ficlae simulationis sicut reliquae virtules ilem pietas inesse non polesi, cum qua simul sancutalem et religionem tolli necesse est; quibus sublatis penurbatio vitae sequitur et magna confusio, atque haud sdo an pietate adversus dcos sublata sublara fides euam et societas generis humani et una e"cellenussima virtus iustitia loUatur". 24 A(ad. 11, 140; "alteram si sequare, muha ruunl el maxime communitas cum hominum genere. cuitas, amicitia. iustitia, reliquae virtutes". Siehe dazu ""'eiter AJgra 1995, S. 115-118.
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zwischen Philosophie und Politik ein wechselseitiges ist. Die Philosophie soll nicht nur die Politik begründen, sondern umgekehrt soUen die politischen Konsequenzen der respektiven philosophischen Systeme auch die probabilistj. sehe WahJ fUf das eine oder das andere System mitbestimmen. Diese enge Verknüpfung dieser zwei Bereiche wird letztendlich dadurch ermöglicht, daß es sich im wesentlichen um zwei Aspekte der Bildung oder der Persönlichkeit des idealen Politikers handelt.
IV Schließlich soll darauf hingewiesen werden, daß Ciccros Bemühen, das Idealbild eines Politikers darzustellen und dieses Idealbild mit einer Wiederherstellung der herkömmlichen römischen mons zu verknüpfen, keine vereinzelten Phänomene in der Staats theoretischen Debaue der Caesarischen Zeit waren. Oberhaupt spielte in der Antike die Ch:trakterstirke der Politiker eine wichtige Rolle sowohl bei ihrer Selbstdarstellung als auch bei der An und Wcise, in der sie in der Dcbattc andcrcn begegnercn. 25 Wahrschcinlich hatte schon um 58 der epikureische Philosoph Philodem von Gadara scinen Gulen Kiinig gemaß Ho",er geschrieben und das Buch seinem adligen Patron L. Calpurnius Piso Caesoninus, dem Schwiegervater Caesars, gewidmet. Diese Schrift reiht sich zwar in die Tradition hcllcnistischcr Fürstcnspiegel, kann aber als einc stillc Mahnung, nicht an einen Monarchen, sondern an die gesamte Führungsschichr der römischen Rcpublik, verstanden werden. 26 Caesar hat auch offenbar selbst versucht, sich als einen weisen, milden Führer darzustellen, kurz, als einen Herrscher im Sinne des Ideal bilds Philodems. 21 Hermann Strasburger hat eine Rei· he von Indizien gesammelt, die darauf hinweisen, daß es im philosophischen Spätwerk Ciceros eben auch in einem solchen konkreten Sinne ein politisches Programm gibt. Cicero habe durch die \,\/ahl seincr Personagen und durch ein
Das Phänomen spieh übrigens auch noch in der r-,'!oderne eine häufig unlerschätzte Rolle. So hat \'(fills 1990. S. 35-36. darauf hingewiesen. daß die Drogenpolitik des amerikanischen Präsidenten Reagan, die faktisch ohne Erfolg war, doch als erfolgreich erfahren wurde. nur weil der Präsident die erwünschte Attitude ,'erkörperte: .,Neither the sexual nor the drug revolution was reversed. or eyen held Statie by the Reaga.ns' exhortation TO ,say no'. but these developmenu were made somehow endur20ble b)' being treated as 2onom20lous. Re20ga..n m20de it possible tO live with change while not accepting it..'· Siehe ferner 20uch Kochin 2002. dem ich dC'n HinwC'is 20uf Wills verdanke. 26 Zur Tradion hellenistischer Flirstenspiegel siehe jetzt Schofield 1999 mit weiteren Venl.'eisen. n Siehe dazu den Brief Caes20ts an Oppius und Cornelius vom 5. Mirz 49. Alt. IX, 7: .. haec nova sit ratio vincendi, ut misericordia et liberalitate nos muniamus"; vgl. auch Zecchini 1998. S. 151. 2S
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Netz politischer Anspielungen die Schriften der vierziger Jahre zu einem Aufruf gegen Caesars Gewaltherrschaft verdichtet. 28 \'(las das Element der römischen Tradition anbetrifft, soll hier noch auf die in den fünfziger Jahren veröffentlichte De n pNb/iro von L. AuruncuJeius Coua hingewiesen werden, in der betont wurde, daß nicht die Optimaten, sondern Caesar mit seiner ..neuen Politik" gerade als einziger f:ih.ig ware, die ns pNb/iro und die pdsri mom auf dje Höhe ihrer besten Zeiten zurückzuführen. Dagegen wurde in der anonymen KOlIsh·INlion du &mNbiJ von seiten der radikalen Optimaten zu zeigen versucht, daß die popl/lons im Begriff waren, die beiden Grundpfeiler des Staates, die Autorität des Senats und die öffentliche Religion, insbesondere die oNspirio, umzustürzen. 29 Ohne Zweifel soll die Hervorhebung traditioneller Begriffe wie (on(ordio und die Verteidigung der Religion bei Cicero auch vor dieser Hintergrund betrachtet werden. In einem gewissen Sinne reihen sich also die philosophischen Werke Ciceros, soweit sie ein politisches Programm beinhalten, in eine zeitgenössische Debatte ein. Was aber die Position Ciccros innerhalb dieser Debatte auszeichnet, ist sein Bemühen, sowohl das Ideal bild des Politikers als auch die Ideale der römischen Tradition philosophisch zu unterstützen und zu vertiefen. Seines Erachtens kann man das machen und soll man das auch machen, weil die Philosophie in allen Bereichen des Lebens eine flihrende Rolle spielen soll. In den \'(Iorten des berühmten Prosahymnus im fUnften Buch der TIISNi/onat DisPl/folionu 01, 5): ,.i/ot philosophio dNX.
28 Slfasburger 1995. 19 Siehe Zecchini 1998, 153--154.
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Abkürzungen AClld. - Academin Au. - EpislUlae ad Atticum Oe orou. - Oe or:uore Div. - Oe divin:uione Fa",. - EpiJllllor adjaJltiliarrs ug. - Oe legibus
ND - De nalMra d,Orln" Off - Dt ojfidis Or. - Orator Q. Fr. - EpiJ,,,!
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Hena Nagl-Docekal, Ludwig Nagl
Augustinuslektüren im Kontext der Gegenwartsphilosophie
Nicht ohne ein gewisses Pathos wird heute vielfach die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß durch die Denkbewegungen der Gegenwartsphilosophie vormoderne Fragestellungen und Konzeptionen schlicht obsolet geworden seien. Insbesondere mit Bezug auf jene Kapitel der Philosophiegeschichte, in de~ neo der Ausgangspunkt des Denkeos in theologischen Problemstellungen lag, scheint der Gestus einer vollständigen Abkehr weithin Konsens zu finden. Doch iSt der Preis flir diese Distanznahme nicht sehr hoch? Möglicherweise enthalten die als ataviStisch empfundenen Entwürfe, bei aller Kontextbezogenheit, dennoch Fragen, die im Zuge der pauschaJen Verabschiedung nicht gelöst, sondern lediglich aus dem Blickfeld gerückt wurden? So wäre es denkbar, daß eine Relektüre, die nicht bloß histOrisch-philologischen Intentionen folgt, sondern die ein fremd gewordenes Denken aus dem Kontext der Gegenwartsphilosophie heraus aufzuschließen sucht, Differenzierungspotentiale für die heutige Debatte erbringt. Vorliegende Studien in dieser Richtung geben Grund zur Annahme, daß ein weiteres Verfolgen dieses Weges sich als lohnend erweisen könnte. Um dies exemplarisch zu erläutern. gehen die folgenden AusfUh~ rungen der Augustinusrezeption im Rahmen unterschiedlicher Theoriekonstellationen der Philosophie des 20. Jahrhunderts nach: Es soll gezeigt werden, wie Hannah Arendt und Jean-Fran~ois Lrotard das Werk Augustins auf ihre jeweils spezifischen Problemstellungen beziehen. Dabei fallt gerade angesichts der Differenz dieser beiden Zugänge ins Auge, daß - in unabhängiger Übereinstimmung - zwei Elemente des Denkens Augustins aus dem Blickwinkel der Gegenwart besondere Beachtung erfahren: erstens die Thematisierung des Selbst im Sinne der Formulierung "Questio mihi factus sum"; und zweitens die Verschärfung des Endlichkeitsaspekts von Praxis und die damit verknüpfte Virulenz des Themas "Hoffnung"l.
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Die Fr2~. ob Augustinus bei Arendt und Lyotllfd eine "adiqu:ue" oder "zulissige" Deutung erfahren h:u, ist nicht Thema der folgendC'n Ausführungen; diese konzentrieren sich vielmehr auf den Versuch, im Rückgriff auf August.inus Theorieelemente zu gewinnen, die die zeitgenössische Debatte voranbringen können.
N agl. Doc~k:a 11 Nagl, Augusli nu sl~k t Ür~n
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Liebe als Grundlage einer alternativen Politik: Hannah Arendts Augustinuslektüre Welche Bedeutung die Auseinandersetzung mü Augustinus für das Werk Arendts hatte, ist sehr unterschiedljch beurteilt worden. Wie bekannt ist, dokumentiert die - 1928 bei Jaspecs eingereichte und im Jahr darauf gedruckte Dissertation zum Thema "Der Liebesbegriff bei Augustin"2 Arendts frühe und eingehende Beschäftigung mit diesem Denker, während in den späteren Publikationen Arendts zwar immer wieder kurze Verweise. aber keine extensiveren Bezugnahmen auf Augustinus mehr zu finden sind. Das wurde vielfach dahingehend gedeutet, daß Arendt diesem Interesse ihrer philosophischen Anfange bald - vor allem unter dem Eindruck der politischen Erfahrungen ihrer Zeit den Rücken gekehrt habe. Dementsprechend wurde zwischen einer .,frühen Arendt" und einer .. reifen Arendt" umerschieden, wobei die Zeit vor 1930 als eine Phase der Orientierung Arendts an einem unpolitischen, romantischen Idealismus gedeutet wurde.) Mitunter erschien Arendts Dissertation im Btick auf ihr späteres CEuvre geradezu als ein ..embarrassment": "If we trace her thought trains tO their source, it must be admitled that the first thing we find when we go back (... J may be something of an embarrassment."4 - Für eine ganz andere Deutung sprechen jedoch die Forschungen zu Arendts letztem Lebensabschnitt. In den 1960er Jahren wandte Arendt sich ihrer Dissertation erneut zu, um eine DruckJegung in englischer Sprache und in revidierter Form vorzubereiten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie einen Großteil ihrer bahnbrechend~n Studie!l. zum Phänomer. des Touliurismus bereits veröffentlicht. etwa ihre Bücher ..Elemente und Ursprünge tOta..ler Herrschaft" (1951), "Vita activa" (1958), .. Über die Revolution" (1963) und "Eichmann in Jerusa..lem" (1963). Vor diesem Hintergrund befaßte sie sich nun abermals mit der Deu· tung von "Liebe" bei Augustinus. Es ist interessant zu verfolgen, welche Akzente sie dabei im Vergleich zu ihrem ursprünglichen Text deutlicher herausar· bcitclC oder erginzte und wie damit ihre eigene Zugangsweise zu diesem Autor an Konturen gewann - wobei auch zu bedenken ist, daß Arendt parallel zu dieser erneuten Beschäftigung mit ihrer Dissertation an ihren Schriften "Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im Politischen Denken" (1968)
2 Gedruckt erschien diese Dissert2tion unter dem gleichen Titel in Berlin, 1929. 1 Vgl. Elisabeth Young-Bruehl. HOf/lfob Artlfaf: For UI.V pf fht U7orIJ, Ne"" Haven, Conn., 1982, S. 366--370, 494, 499; Hauke Brunkhorn, Halff/ob Am,af, München 1999, S. 27. In diesem Zusammenhang erscheint auch signifikant, daß die Hannah Arendt gewidmete und in entscheidenden ASIXkten an ihrem Werk oriemiene Studie Ernst Vollraths - Vii Rdeolfstrltkti,If dtr fHJlitisrlNIf UrtdlJlerofl, SlUugan 1977 Arendt$ Auseinandersetzung mit Auguscinus an keinem Punkt nachgeht. .. Margaret Cano\'an, HOlflfob Artlfaf. A RLilfftrprtfati'If pf Hrr Po/i/irs/ ThfJM~bt, Cambridge 1992, S. 279.
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und "Menschen in finsteren Zeiten" (1968) arbeitete. (Die revidierte Fassung des Augustinusbuches konnte freilich zu Arendts Lebzeiten nicht mehr, wie geplant, im Druck erscheinen 5. Sie liegt erst seit 1996 als Publikation vor - in einer Form, die genau erkennbar macht, welche Textahschnine der ursprünglichen Fassung entstammen und welche auf die spätere Überarbeitung zurückgehen 6 .) Daß Arendt sich ihrem ersu.~:n Buch in so eingehender Weise erneut zugewandt hat, bildet ein nicht unwichtiges Indjz fUf jene Deutungen, die im Denkweg Arendts keine schroffen Zäsuren wahrnehmen, sondern - im Gegenteil - zu zeigen suchen, daß wesentliche Elemente der für Arendts Gesamtwerk so zenwllen Konzeption des Politischen auf die Auseinandersetzung mit Augustinus zurückgehen. So urteilt erwa Ronald Beiner: "The categories of mor· taht}' and natality that Arendt develops in the Human Condition are already implicit in the strucrure of the Augustine book."7 Ganz ähnlich argumentieren Joanna SCOlt und Judith Stark, die diese Kontinuitätsthese noch bis zu den letzten Arbeiten Arendts erstrecken, indem sie hervorheben, daß Arendt in ih· ren Gifford lecrures - die sie 1973 hielt und die erst posthum unter dem Titel "Life of the Mind"S zur Veröffentlichung gelangten - den Begriff des "Wol· lens" in enger Anlehnung an das Denken Augustins formuliert hat 9. Hier sollen nun einige jener Überlegungen aus Arendts Augustinus-Buch skizziert werden, die als Hintergrund der in den bekannteren Schriften enrwik· kelten Konzeption des "Politischen" beuachtet werden können (wobei es frei· lich nicht möglich sein wird, auf die erwähnten uancierungsdifferenzen zwischen den einzelnen Fassungen dieses Buches einzugehen). Das Augenmerk wird vor allem darauf gerichtet sein, in welcher Weise Arendt Augustins Interpretation der Forderung "Liebe deinen Nächsten" aufgegriffen hat. Zunächst arbeitet Arendt heraus, daß der menschlichen Gemeinschaft eine zweifache Bedeutung beigemessen werden kann, und sie eignet sich in diesem Zusammenhang Augustins Unterscheidung von "civitas terrena" und "civitas Dei" an. Arendt thematisiert hier zum einen das Geborenwerden, sofern es sich als ein sowohl leiblicher als auch geschichtlicher Vorgang darstellt, durch den wir an einen bestimmten Platz in der Generationenkette gestellt sind 10.
S Die Publikation war mit dem Verlag Crowell-Collier vcrlraglich vereinbar! gewesen. Nach ArendIS Tod war die (nicht von der Autorin selbst besorgte) Übersetzung ins Englische umt den von Arendt vorgenommenen Veränderungen und Ergänzungen nur in der Nachlaßableilung der Library of Congress. WashingtOn D.C., zugänglich. 6 Hannah Arendt, Utv alld Sai", /!lIgllsti"t. edited and with an imerpretive essay by Joanna V«chiarelli Scott, Judith Chelius Stark, Chicago und I..ondon 1996. 7 Ronald Ikiner, "Love and Worldliness: Hannah Arcndt's Rcading of Saim AUguSlinc". in: Larr}' Mar, Jerome Kohn (Hrsg.), Ha""ah /!rr"d,. T..,,,~ Ytar1 uttr, Cambrid~. Mass., und London 1996, S. 269-284, hier 276. 8 Dt.: Hannah Arendt, V"", l..Lbt" du Gnstts. 2 Bde., München 1979. 9 Joanna Vecchiarclli Seon. Judith Chclius Stark, nRcdiscoycring Hannah Arendt". in: H2o.nnah Arcndt,!Art 4"J S4i"t /!JlgNsH"t, a. a. 0., S. 115-212. hier 135 f. 10 Arendt, Ul~ a"J 54i", /!lIl,lIsti"t, a. 20.. 0 .. S. 100 f.
Nagl- DocekaI / Nagl. Augu sun uslek IÜ re n
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Dabei lenkt sie den Blick darauf, daß unser Leben bzw. Überleben nur dadurch möglich ist, daß wir in eine menschliche Gemeinschaft eingebunden sind, dje durch die Verflechtung der Partikularinteressen gekennzeichnet ist - durch ein "wechselseitiges Geben und Nehmen"lI, wie Augustin es ausdrückt. Zu den Elementen dieser gegebenen Gemeinschaft gehört auch ein Aspekt von Gleichheit, insofern alle Menschen das Schicksal der Endlichkeit teilen. Doch ist diese Art des Zusammenlebens, so Arendt, nicht das letzte WOrt. Wir wissen zugleich, daß wir auf die biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten nicht eingeschränkt sind, sondern daß wir sie zu transzendieren vermögen. Arendt interpretiert in diesem Zusammenhang den Gedanken des "Nicht·vondieser-Welt-Seins"l2. Es sind vor allem Erfahrungen der Entfremdung, die uns die Möglichkeit eines Heraustretens deutlich machen. In djesen Erfahrungen werden die einzelnen zunächst auf sich selbst zurückgeworfen, doch werden sie sich gerade in der Vereinzelung ihres Selbstseins bewußt. Arendt unter· streicht hier die Bedeutung der von Augustinus gewählten Formulierung: .. I have become a question tO myselr'13. Die fiir sie entscheidende Frage geht nun dahin, wie ausgehend von dieser Vereinzelung eine andere Gemeinschaft auf· gebaut werden kann, die nicht mehr von vorgegebenen Konditionen bzw. vom System der Bedürfnisse abhängig ist, sondern sich dem gemeinsamen Handeln der Menschen verdankt l4 . An diesem Punkt kommt der Begriff "Liebe" ins Spiel. Indem Arendt jenen Gedanken Augustins nachgeht, die das Verhältnjs der einzelnen zu Gott - das "coram Deo esse"IS - betreffen, entwickelt sie einen alternativen Begriff von Gleichheit: Wenn die Menschen ihre Endljchkeit transzendieren, sind sie nicht mehr bloß vom gle:chen Sch:c1:saJ betroffen, sondern Gleichheit wird fur sie zum expliziten Thema. In djesem Sinne liest Arendt die Forderung der Nächstenliebe: ..[EJqual.iry is made explicit in a definite sense. The explicitness of equalüy is contained in lhe commandment of neighborly love. The reason one should love one's neighbor is that the neighbor is fundamentally one's equal."16 Anders gesagt: Aus der Entdeckung von Gleichheit in diesem Sinn erwächst eine Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen, die die einzelnen aus ihrer Vereinzelung herausführt. "Esrrangement itsclf gives rise 10 a new tOgethcrness, that is, a new being wit.h and for each other."17 Diese neue Art des Milcinandcrhandelns äußert sich in Form der kritischen Auseinandersetzung mit der bestehenden, vorgegebenen Gesellschaft.
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Ebd.. S. 101. Ebd., S. 104. Ebd .. S. 5. Vgl. Auguslinus, C",jtUÜUIt/ X, 33, 50. Siehe d:u gesamle Kapilel "Pan 111. Sodal Life". in: Arendl. a. a. 0., S. 9S-112. Arendt, Lo,~ a"d Sai", Alig/lllti"t, a. ~. 0 .. S. 105. Ebd.. S. 106.
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Ebd.. S. 108.
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Die ursprüng(jche wechselseitige Abhängigkeit wird nun ersetzt durch die Beziehung wechselseitiger Liebe: "This oe\\' social Life which is grounded in Christ, is defined by muruallove (... ], which replaces mutual dependence."18 Wenn aber die Verpflichtung dem Nächsten gegenüber darauf hinausläuft, ge~ meinsam gegen die alte Gesellschaft - "ag:linsl the old socicry"19 - vorzugehen, so bedeutet das, daß Arendl Liebe auch als Widerstand definiert. In der näheren Erläuterung dieser Zusammenhänge arbeitet Arendt eine Differenzierung heraus, in der ein Grundgedanke ihrer politischen Philosophie angelegt ist; Sie erörtert den zugleich universalistischen und individualistischen Charakter der Liehe. Die universalistische Perspektive liegt darin, daß aus dem Begriff "Nächster" grundsätzlich niemand auszuschließen ist. Aufgrund der Gleichheit aller Menschen haben wir kein Recht auszuwählen: "Mutual love lacks the element of choice; we cannot choose our ,beloved'."zo Doch wäre es ein l\.1.ißverständnis, dies im Sinne einer allgemeinen, dem Menschengeschlecht als ganzem geschuldeten Zuwendung zu verstehen 21 • Da dje Liebe in der Vereinzelung ihren Ursprung hat, ist mit dem Ausdruck ,. ächsrer" jeder/jede einzelne als Individuum gemeint. ..Love does nOt turn tO humankind but ('0 the individual, aJbeit every individual. In the community of the new society the human race dissolves imo its many individuals."22 Auf der letzten Seite ihrer Dissertation hält Arendt fest, daß mit Augustins Deurung des einzelnen "coram Deo" nicht weniger geleistet ist als die Entdeckung der Individualität. "God is the source of each and every individual. Ir is at this point that the individual is discovered."23 An genau diesem Punkt knüpft der Begriff der "Natalität" an, der in Arendts Konzeption des "PoLitischen" von so zentntler Bedeutung iS1 24 • Auch dieser Begriff bezieht sich bekanntlich nicht auf die bloße Faktizität der leibLichen Geburt und der damit erfolgenden Positionierung in der Generationenkette, sondern darauf, daß die einzelnen durch ihr Handeln einen Unt.erschied machen können. Demnach kommt mit jedem/jeder einzelnen etwas Neues in die Welt; "it was for the sake of novit20S (... 1 that man was created 1... 1 he is able tO act as a beginner"25. Unter dieser Perspektive formuliert
Ebd., S. 108. 19 Ebd., S. 108. 20 Ebd., S. 110. 21 Arendt räumt freilich ein, daß manche von Augustins überlegungen zur Nichsten· liebe - bei Ausblendung ihres Kontextes - im Sinne einer "sublime indiffen::nce" gelesen werden könnten, das heißt dahingehend, daß mit dem Begriff des Nächsten nur die abstrakte Qualität des Menschseins, ...nOt everyone in his concrete uniqueness", angesprochen ist. Vgl. ebd., S. 43. 22 Arendt, LA,.v {llld S{lillt AII/luti." a. 21. 0., S. 111. 13 Ebd.• S.llt f. 24 Die Bedeutung der Dissertation für diesen Grundgedanken Arendrs erläutert 2Iuch: Julia Kristeva, Hall1fah Arrntit, New York 2001, S. 44 ff. n Arendt, Ut"e a"d Sai", AI/gI/stint, a. a. 0., S. 55. Arendt "erwe.ist an die.ser teile auf die Differe.nz der Begriffe "initium" und "Principium". 18
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Arendt den Maßstab rur die kritische Auseinandersetzung mit den jeweils gegebenen Verhältnissen: Eine Politik, die sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, Menschen zu mißachten, hat Arendt zufolge auf die Besonderheit der einzelnen Bedacht zu nehmen und .. Pluralität" zu ihrer Zielsetzung zu machen. Es scheint somit nicht überzogen, wenn festgestellt wurde, Arendts Kritik der Moderne habe Augustinische Wurzeln 26• Noch in einem ihrer letzten Essays ..What is Freedom?" (erschienen posthum, 1977) - schreibt Arendt Augustinus die Leistung zu, die im Christentum angelegte neue Idee poLitischer Freiheit formuliert zu haben; es findet sich, schreibt sie, eine "valid political idea of freedom in Augustine,m. Wenn nun davon auszugehen ist, daß Arendts Konzeption des .. Politischen" auch als ein Versuch gesehen werden kann, die hier entdeckte "politische Idee von Freiheit" auf die Bedingungen der Gegenwart zur Anwendung zu bringen, so erhebt sich die Frage nach der Tragfahigkeit dieses Versuches. Die in den letzten Jahren intensivierte Auseinandersetzung mit Arendt brachte die Formulierung einiger schwerwiegender Einwände mit sich. Aus dem Blick· winkel der Kritischen Theorie und der Kantischen Tradition der Rechtsphilosophie wird insbesondere moniert, daß Arendts Denken Defizite hinsichtlich der sozialen Asymmetrien sowie der Bedeutung von Gesetzgebung und rechtlich-institutioneUen Strukturen aufweise 28. Indem Arendt - so lautet einer dieser Einwände - aufgrund ihrer Fokussierung der Einzelnen eine republikanische Konzeption von Öffentlichkeit in den Vordergrund rückt, läßt sie die Begrenztheit der Güter und die dadurch bedingte "Situation von Konnikt und Konkurrenz" weitgehend unberücksichtigt. Unter dieser Perspektive stelle sich ihre Konz.eption a1;; cir.e "schlechte Utopie" dar?9. Auf d:ese Diskuss:o:l kann hier nicht niher eingegangen werden; doch bei aUer Berechtigung, die manche der vorgebrachten Einwände haben mögen, scheint die Lcistungsfahigkeit des Arendtschen Ansatzes unbeStreitbar. Sie liegt zum einen in der z.eitdiagnostisehen Rele\'anz. So hat Arendts Kritik an dem durch die Konsumgesellschaft verursachten "Selbsrverlust" nichts an Brisanz verioren JO . Auch das Plädoyer
Auf "the Augustinian root of Arench's critique of modcrnity" weisen Scott, Stark, "Rediscovering Hannah Arcndt", S. 115, hin. 27 Arcndl, J-1annah, "Wha! is Freedom?", in: dies., Behnln PalI and FNINrr: Eighl EXUr1llS in PolilitalThoNghl, New York 1977, S. 167. Arend! nennt es auch "das Verdienst Auguslins", daß er "höchst u.'ahrscheinlich der geistige Urheber und sicher der größle Theoretiker christlicher Politik ist". In: dies., Z.'Ürhl" V"l.a"gtwhtil Nntl ZN/eJmfl. Ob""gm im polililf/N" Dt"kt" J, München 1994, S. 91. 28 Vgl. Albrechi Wellmer. "Hannah Arend! über die Revolution", in; den.• Rt~VJINlio" Nltd J"ltrprrlaIiOlt, Amsterdam 1998, S. 4>-75; Hauke Brunkhorst, Ha''',ah Amldl. a. a. 0., S. 124 ff. 29 Otfrie
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für "Pluralität" erwies sich als eine wichtige theoretische Weichenstellong. vor allem in bezug auf die Probleme, mit denen sich rnulticlhnische bzw. multikul· turelle Gesellschaften konfrontiert sehen. So formuliert 5c)'la Benhabib ihre Version eines ..procedural concept of the public spacc" im Rückgriff auf Arendrl l . In diesem Kontext wurde auch deutljch, daß die zeitgenössi.sche feministische Theoriebildung entscheidende Differenzierungen von Arendt bt:ziehen kann)2. Indes steht fUf manche der Überlegungen Arendts eine solche ReakruaLisierung noch aus, obwohl sie wünschenswert wäre; dies gilt insbesondere für Arendts Kritik an einer Gerechtigkeitstheorie, die so vom NationalStaat her denkt, daß sie hinsichtlkh der prekären Lage der Flüchttioge und Staatenlosen keine angemessene Lösung bereitzustellen vermag, sowie für Arendts damit verbundene Forderung, daß dje Individuen als solche Rechte haben müssen)).
Jenseits der "binären Klarheit des animus" (CA 47): Lyotards Augustinusiektüre Ein weiteres wichtiges Dokument dafUr, daß in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts das Interesse an Augustinus anhältJ<', ist Jean-Franc;ois Lyo-
ZM", o"fhrop6logiJ(hu, Hi"ftrl,rNnd dtr GmllsrhojlJluitile Honnoh ArtndfJ, Berlin 1997, S. 86-98. Vgl. Seyb. Benhabib, "Feminist Theory and Hannah Arendt's Concept of Public Sphere", in: Walter Brogan, James Risser (Hrsg.), A",triron Contin",fol Phi/(J/opb.J. A ~oJt,., Bloomington, Indiana, 2000, S. 372-390. Benhabib steht Arendt keineswegs unkritisch gegenüber; sie teih vielmehr den Vorbehalt, daß Arendts politische Theorie die nötigen normativen Grundlagen vermissen lasse. Vgl. Seyla Benhabib, Han"oh An"df. Dit 111tlol1rhtJlüt!Je Denletri" Jt,. Mod".,/t, Hamburg 1998, bes. S. 301-309. Vgl. Bonnie Honig, Ftmi"irf l"ftrprtfofio"J of Ha""ah An"df, University Park, Pennsylvania, 1995. Arendt äußerte sich freilich zur Frauenbewegung ihrer Zeit höchst vorbehaldich, doch gibt Honig mit gutem Grund zu bedenken, daß sich die heutige feministische Theorie wesen dich unterscheidet von jener, die Arendr zurückgewiesen hat. Wenn heute frühere Annahmen einer geteilten weiblichen Identität und gynozentrisch orientierte politische Programme ihre Aktualität verloren haben, so liegt diese Enrwicklung auf einer Linie mit Arendrs Insistieren auf der Besonderheit aller Einzelnen. Vgl. Bonnie Honig, .. Inuoduction", in: ebd., S. 2. Vgl. Axel Honneth, "Die Chance, neu beginnen zu können. Ober Hannah Arendt und die Bedeutung ihres Werkes rur das 20. und 21. Jahrhundert", in: U/tra/llre", 09/ 02, S. 44-45. Siehe auch Sidonia BlättIer, "Zwischen Universalismus- und Nationalsruukritik. Zum ambivalenten Status des Nationalstaats bei Hannah Arendt", in: D,MlHbt ZtiUrhrijf fir Phi/oJophit 48 (2000), 5, S. 691-707. Ntben Hannah Arendt habtn sich so unttrschiedliche Denker wit Ludwig Wittgenstein und Jacques Dtrrida ausführlich mit Augustinus b!=schiftigt; sithe dazu, einleitend, Ludwig Nagl, "Drei Augustinus-Lekriirtn: Wittgenstein, Derrida, Lyotard", in: Milan Znoj (Hrsg.), HtgtlotYJ" JfOpM (FeStschrift für Milan Sobotka, Prag (in Druck).
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tards unvoUendet gebliebene Schrift Tht Confusion 0/ Aliglistint. J5 Wie die Her· ausgeberin Dolor~s Lyotard a.nmerkt, ist der uns vorliegende Text "scarcely half of the projeced work" (CA V11). Er um faßt zwei Hauptteile, einen Essay ("which brings together [Wo texts written in 1997") und ein" otebook, a collection of scanered elements that h:1ve nevenheless been arranged, each being of a distinct lcind" (CA VB). Im folgenden konzentrieren wir uns auf Erwä· gungen im ersten Teil, näherhin auf dessen Schlußpassagen, die die Titel "Animus", "Fissure", "Trance" und "Laudes" tragen (CA 46--57). In den genannten Abschnitten des Texts geht es Lyotard darum, die Augu. stinische invocolio Vti als einen Ort disruptiver (Denk-)Erfahrungen kenntlich zu machen, die (obzwar in den Conftuionu beschrieben) das Beschreiben - soweit es eine verständige, an der "binären Klarheit" (CA 47) orientierte Tätig. keit ist - an den Rand seiner Leistungskraft führen. Lyotard nimmt dabei, texthermeneutisch, die (lnnen-)Perspektive des Augustinus ein. Dieser, der Bekennende - so Lyotard - schreibt seine Bekenntnisse nieder, ist also deren "Au· tor"; in dieser Tätigkeit selbst findet er sich jedoch zugleich vor als "geschrieben": "I have been wrirten in my life, so sa)'s the confessant to himself, and I h:1ve understood nothing, forever relating anything that happens to myself, forever reading events at their face value" (CA 46). Die paradoxe Einsicht "I have been wrinen" ist, obzwar sich um sie die com/usio dreht, jederzeit zugleich überdeckt durch das Bild der autarken Autorenschaft: ein Bild, das den Bild· sprung des Aufschwungs zum Unendlichen unverständlich macht. Alles, was geschieht, beziehe ich auf mich, den Handelnden/Schreibenden; alles wird so gesehen, wie es Pn"ntd v;slo zu sein scheint, das heißt aber: nichts wird verstan· den. ,,Animus, thc intdleet" (CA 46), spielt ir. dieser Situ::.tior. eine Doppelrolle: Er ist, einerseits, 21s sem2ntische Ordnungs form aller Schrift. auch der bekennenden, fUr den Denkenden/Schreibenden unverzichtbar, zum anderen je· doch zugleich die Grenze (oder die Eingrenzung?) jener Einsicht, die die im:ofolio trägt. (Auch in philosophiegeschichdich späteren Thematisierungsversu. ehen des Absoluten, bei HegeI, z. B., bleibt dieses - 2.ls Gegenstand djalektischer Begriffsbewegung - dem Verstand unzugänglkh, obgleich der Verstand, im 1'1I10dus der Artikulation, unverzichtbar ist: er "kann nicht geschenkt werden", insofern er erSt möglich macht, d2ß das Absolute, indirekt, in seinen ab-
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L)'OIards AugustinusJektüre ist - wie das Denken Lyorards überhaupt - "nach \'\Iingenstein" angesiedeh (siehe J. F. L)'Olard, "Nach Wingenstein", in: den.: Grabmal des Intellektuellen, Wien 1985); das heißt, es beerbt jenes Interesse Wingensteins an Augustinus, das (",'ie dasjenige Kanu) einsetzt am Rande theoretisch-kognitiver Diskursi,·it2t: ..\'(lu also Augustinus im Irnum, wenn er Gou auf jeder Seite der Confessionen anruft?" Nein, so Wingenstein: Weder er noch der Buddhistische Heiljge "waren im Irrtum, aulkr ""0 sie eine Theorie aufstellten". (Ludwig \'('iugenslein, "Bemerkungen über Fruers Golden 8ough", in: ders.: Vortrag ibtr Ethik, Frankfun a. M. 1989, S. 29.) D:l zur Zeit noch keine deutsche übersetzung vorliegt, wird im folgenden nach der amerik:.tnischen Ausgabe zitiert: Jean Ff:ln~ois Lyotard, Tht CO/lftslio" oJ Auglllti"e, Sranford, California 2000 (= CA).
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strakten ..l\'lomcntco" approximiert wird.) Lyotard beschreibt - im Blick auf Augustinus - diese DoppelrolJe des Verstandes so. Einerseits liegt auf der Hand: ..The C()njtJJions CQuid not h2VC been written without the competence of animus. the contribution of its memory together wirh irs ability (0 plan an aim" (CA 47). Zum anderen jedoch ist animllJ auch der Ort der Selbstbornierung darauf, daß jeder Text (nur) endlich-"weltlichc" Statur hat: "Even the arguments, the reasons and the causes that are articulated in philosophieal or rhetorieal mode by the animus, the intellect, even the disciplines of the mind re· main immanent to the text of the warld, presuming to find light in its obscurity" (CA 46). Dcr Aufschwung zum Absoluten ist verspern durch die Sichtform und die BegrifAichkeit seiner "binary c1arity" (CA 47): "To c1imb back beyond the uncenain meanings and peirce the firmament - animus rebeIs against this wayward movement, since it would loose rnerein its eyes and its concepts" (CA 46). Die Resultate" der Versrandesbegrifflichkeit sind zugleich bei a11 ihrer logischen \'(fohldefiniertheit - "uncenain" - nirgendwo zeigt sich in ihnen ein "Wesen" des Weltlichen "sub specie aeternitatis". Btide dieser Denkerfahrungen bestimmen das Tableau des Augustinischen Schreibens. Der Weg, den er aus dieser Aporie sucht, ist jederzeit auch einer. der in ihren Momenten verweilt: weder rhetOrische Persuasion genügt (obzwar auch sie ins Augustinische Schreiben eingeht ), noch theoretizistischer (intellektueller: "vi· ril intellectual", so Lyotard) Diskurs: die intJofatio ist ein "zigzag" - ein Hinundhergehen, in dem die Fixierungssucht des Intellekts "gedemütigt" wird (CA 47); genauer noch: in dem der Intellekt - unter dauernder Verwendung intel· lektuellcr Denkfiguren - seine "humiliation" vorbereitet. Der On der confessio ist ein Unort, ist der Prozeß einer sprechenden/schreibenden "fissure" (CA 48): dieser Riß, diese mehrfache Negation, bündelt sich freilich bei Augustinus nicht wie spiter bei Hegel zu neuer, dialektischer "Synthesis". Die Conftssiones sind kein philosophischer Traktat, der versucht, die Denkenergien systematisch zu organisieren, sie haben vielmehr, so Lyotard, den Status eines "confessive wr:iting", das sich an tim Riindern des Verständigen organisien (unter Markierung dieser Ränder als P"inder in den Artikulationsleistungen des animus). Im Abschnitt "Fissure" heißt es daher: Die Conftssionu sind "neither a plea whose end would be mastered and fixed by a virile intel1ect I...1; nor a lreatise of phi. losophy in which the path would be traced through conceptual discrimination between thjs and that, the sensible and the intelligible, soul and body, reason and imagination. Confession does not decide, on the contraf)': a fissure zigzags across all that lends itself tO writing. tO the great vexation of animus, whose bi+ naf)' c1ariry is humiliated" (CA 48 f.). Diese (Selbst.)Demütigung des Verstandes - als ErmögLichungsform eines nicht selbst Gewirkten - hat spezifische Konditionen. Sie findet nüht statt als ein einmaliger Akt von .,Konversion" (das heißt nicht im Modus jener Legende, in der Augustinus seine Bekehrung "tolle, lege" - in einem Jetzt bündelt.) "The strike of confession", so L)'otard. "is not a single blow delivered once and for all; it is nOt a shower of repeated blows either" (CA 49). Dieser Prozeß ist offener, tentativer: im "confessive
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writing" wird nicht von einer Bekehrung, die bereits stattgefunden hat, ..berichtet", das Schreiben selbst ist vielmehr Akt der conversio (eines Prozesses im Zeichen der .. fis sure", des Hinundhergehens, eine von Unsicherheit und Skeptizismus interprenetrierte Suche, die nicht ..beendet" ist): ..No, confessive weiting beus the fissure along with it", so Lyotard...Augustin confesses his God and confesses himself not because he is converted: he becomes converted or tries tO become converted while malcing confession" (CA 49). Erst in dieser zerrissenen Denkbewegung wird der Augustinische Text möglich: als .. reciprocal balance of enigma and demonS[ration". Diese (unmöglich scheinende) Balance zwischen rationaler Demonstration und (Verstandes-)Rätsel verunsichert das Selbstvertrauen, das onimNS (in egologischer Reflexion) aufzubauen beginnt: ein Selbstvertrauen, das durch den Blick auf die memon"o als den gigantischen Um- und Vorraum jede!' rationalen Arguments gestärkt wurde. Denn, so schien es, .. lanimus] knows [... ) how to find itself in time. Memory is its strong point, its stOmach, writes Augustine, but more than that: memory is the mind itself" (CA 46 f.). Das ist - bei Lyotard - zwar knapp formuliert: die uns in unserem eigenen Inneren offenstehende, erinnerte Welt macht jeden djskursiven Verstandesschluß aUererst möglich, ist somit Kondition des Ich (obzwar nicht sogleich das Ich selbst). Freilich: alles, was überhaupt Gedankeninhalt werden kann, ist erinnert (oder erinnerbar) im Ich, auch das Absolute. Hat das diskursive, erinnerungsf:ihige Ich - der diskursive onimNJ - das Absolute somit ..in seiner Macht"? ..Tbe mind stocks data in its vast stores of memory; it finds them in their place, recognizes them, and effortlessly recalls them. If it has met God, il will remember so, a.nd wiIJ recognize rum" (CA 47). Das hieße freilich, daß die Erkennbarkeit Gott('s an die Kapa~ität des Ir.h geknüpft ist, dieser Erkenntnis f:ihig zu sein. Der in/ellecllls bekommt somit die RoUe der Präkondition, des unbedjngt Vorauszusetzenden auch für die mögliche Kognition/Rekognition des Absoluten - jenes Absoluten, das zugleich erSt das eigen/Iich Unbedingte sein soll. Wie läßt sich diese Aporie auflösen? Einerseits scheint onimNS alles zu strukturieren: ..Animus harps on that it has God in its store, it reassures itself, reassures its competence." Zum anderen jedoch ist dieser Inhalt, Gou, (schon seiner bloßen Semantik nach) nicht einfach ein Produkt unseres "Vermögens", ihn zu erfahren, nicht ein selbstgewirktes Phantasma. Wie aber kann animus seine Grenze (die es auch dem Absoluten zieht) überschreiten? ..Anima, the soul-body" - die Augustinjsche Denkfigur einer vernehmenden Vernunft - subvertiert, so Lyotard, alle (protocartesianische) Verstandesgtwtß· heil und Verstandessicberheit. Zwar weiß schon animJu, formaliter, um dje Semantik des Absoluten (das heißt um die Elemente seines MögLichkeitsraums), dieses ist schon - irgendwie - ..in the mind". Als ein wirkliches Absolutes ist es jedoch nirgendwo ..in seiner Macht". ,,Animo, the soul I...) asks: where then did I find mee so that I might learn thee? For in my memory thou wen not before I learnt mee. Where wert mou (... ] if not in thine own self, far above myself, in /e fNpro me?" (CA 50 f.). Das Verhältnis von Ich und Absolutem, so scheint es, kehrt sich - don wo es wirklich wird - um: ist djese Umkehrung
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aber begreifbar? Lyotard umreißt - im Abschnitt "Trance" seines Texts Schwierigkeiten, die hier entstehen, :tur eine Weise, die durch spätere Denkfiguren (z. B. durch Kams Einspruch gegen II11Sert Möglichkeit. über einen in· tel/ulI/1 in/ui/NI zu verfUgen) informiert sind: der Aufschwung zum Absoluten folgt nicht aus der (fiefen.)Analyse des Ich selbst, nicht aus dem Gang in die ungeheuren Hallen der mt11lon"o: zwar ist er dadurch ermöglicht, nirgendwo wird er jedoch "konstituiert" bloß durch das (endliche) Ich. "The word is out, in flat dcnial of animlis's plea for the defense. The im'tn/io itself. the encounter with, (he discovcry of God does nOt take place in (he StOres of memory. Such apprenticeship excecds (he mind" (CA 5 I). Die Seihstversicherungen eines (autark und "theoretizistisch" gedeuteten) Bewußtseins - die kognitive AutOaffir mation und die egologische Erkenntnis, daß das Ich im ~'ledium von Zeit und Gedächtnis konstituiert ist - führt nirgendwo durch Ableitung - mit "deduktiver" Konsequenz - notwendig zum Absoluten. Der reale Aufschwung, die inlJO(oho Dti, hat andere Struktur. Lyotard erkundet deren Andersheit - mit Augustinus und über Augustinus hinaus - auf (zumindest) dreifache Weise: erstens als Versuch ..intuitiver Schau", das heißt auf einem \Xfeg, den ani",a vor schlägt. den anifNlIJ (kantianisch avant le leure) aber als ungangbar beeinspruche Zweitens (und an der Grenze dieses erSten Versuchs): im Pra.:\7JhoriZOnt des Hoffens (auch hier: kamianisch); und drittens im Modus einer - diesen Praxisbezug dimensionierenden - "tgaliv./it"ilal;'ltn Diskursivität: das heißt durch ein Umkreisen des Absoluten in seiner Absenz - einer Abwesenheit, die freilich Gegenwart aufblitzen läßt (ohne sie je theoretisch zu "fixieren"). Zunächst zum erSten Versuch: zur Hoffnung, die i",,'O{alio als eine Aktualisierung des "Engelsgleichen" im Menschen zu deuten, als Intuition und ..Trance". "Would a,,;ma, the soul, then be an angel that can see God in the light of God, in ehe heavenly pan of the heavens, as if it could break ehrough the he:l\1' \'ault of the firmament and burst through the skin of (he skies? [... ) Ani",IIJ de c1ines to write, tQ describe such an absurdiry, and the mi nd lays down ehe stillls" (CA 51). Der diskursive Verstand sieht hier jeden Weg versperrt. A"i",a freilich setzt auf diesen Aufschwung, auf eine Trance, die sich, poetisch invozierbar, konstant im Hintergrund der conversio/confessio hält. Lyotard deutet diesen Aufschwung - den er, in postmoderner Brechung, mit sexuellen Konnotationen durchsetzt - als Überwältigung, als eine "Urszene" im Freudschen Sinn, als "the violent assault of an encounter" (CA 52). In dem, was in dieser Szene geschieht, kehrt sich das Verhältnis zwischen Ich und Absolutem um: nicht Augustinus nähert sich dem Absoluten, umgekehrt: er wird "gelesen'" penetriert - in einem "encounter without witness", das sich der binären Logik, der an;",lIs und Inunoria folgen, entzieht. Diese rszene - die dem Trancebild des Aufschwungs zum Absoluten zugrunde liegt - beschreibt Lyotard so: "The scene is primitive, not locarable in memory. The absolute ere watched us, AU gustine says, he looked through the Jattice of our nesh, he caressed us with his voice, and we hasten on his scent like drunk hounds. We believe we take hold of the divinc, bUI then, a1l of a sudden, his calm cnraptures us, and uncovered, 4
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lashed, outside ourselves, for one moment we find ourselves gaping in his
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"rude" (CA 53). Dieses .,Hingerissenwerden" ("enrapment'') terminierr nirgendwo in der Ruhe eines "geregelten" Verhälrnisses zwischen Ich und Absolutem. Nicht nur ist es dem djskursiven Verstand, animus. unnachvollziehbarj es bewirkt auch praktisch - im Handlungssystem - keine Ruhe und Sicherheit, sondern ein Bewußtsein von Unangemessenheit. Zu-spät-Kommen, Ermattung. kurzum, einen Erfahrungsraum von Insuffizienz. Im Trancebild der Penetration kommt zum Ausdruck, daß das Absolute und das Endliche sich berühren. Dies läßt eine Spur des Absoluten in uns zurück. freilich - so liest Lyotard Augustinus - keine erinnerbar-explizierbare: die Spur, in der sich die "Engelartigkeit" des Menschen bündelt, läßt sich, z. B.• nicht durch das ontologisierte Theologumenon der Ebenbildlichkeits/ehre extrapolieren. Lyotard beschreibt. was in diesem tranceartigen Berührungsmodus geschieht - in einer Weise. die Augustinjschen Metaphern postmodern resituiert - so: "The majestic one takes the schoolboy like a woman. opens hirn, turns hirn inside out, turns his dosest intimacy into hjs shrine. pmetrale nlem", his shrine in me. The absolute, absolutely irrelative, outside space and time. so absoluteIe)' far - there he is fOt a moment lodged in the most intimate part of this man. Limits are rcvetsed, the inside and the outside. the before and the after. these miscries of the mind" (CA 53). Die diskursive Distribution. in der animus sich jederzeit ausdrückt. wird nicht nur "aufgehoben" durch Entgrenzung. sondern - so Lyotard - unterworfen, ..gedemütigt" (CA 47). (Zu dieser Transkription des Augustinischen Textes werder. wir s?äter, kritisch. zur;:ickkehren.) Frei!ich: Damit das, W3S d3s Trancebild kündet, njederschreibbar wird, muß Augustinus sich der Semantik einer publiken Sprache bedienen: wie weit führt das - unvermeidlich - zurück in die theoretischen Limits und die praktiJehen EndJichkeitsräume des Ich?36
Theoretisch stellt sich die Situation - wie LYOlard sie bestimmt - so dar: "The soul has not penetrated ioto the angclic spheres. but a lillle oj the abJolJlle - is it thinkable? - has encrypted itself within it, and the soul knows nothing of it" (CA 53). Der Aufschwung ist nicht einfach das Werk des endlichen Ich, sondern ein - Ilnerinnerbaru, der "Macht" der memoria nicht verfügbares - Eindringen des Absoluten in die Seele (wie freilich ist das denkbar, so fragt animus und Lyotard mit ihm?) Erinnert muß ja etwas werden, auch wenn aus dieser Trance
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Mit der inneren Suukrur von Trance und Mystik (und den Grenzen ihrer rationalen Exploration) hat sich \X/illiam James in seinen Gifford Lcctures (Vorlesung XVI und XVII, "Mysticism''), The I/an'eliu OfRtligious Exptn'tnce. New York 1902, beschäftigt. \'(/ingenstein war von dieser Schrift fasziniert (und, wie d2s Ende des Traetatus deutlich macht. auch theoretisch von ihr beeinflußt); über diese Rezeptionslinie gehen meines Erachtens indirekt - wie die vorliegende Augustinuslektüre indiziert - Elemente der Jamesschen Studie in das ("nachwingensteinsche") Denken Lyot2rds ein.
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Geschieht(:
nirgendwo die tOtale prale./;ube Ver:inderung des leh folgt, sondern CCW3.S :tode· res: wie Lyotard behauptet, vor allem die schärfere Akzenruierung des Wissens um Endlichkeit und Defizit: ..Marked with such a trance, the soul can think of nothing but of retuming TO its comes (... ) He [Augusüne) is even more the 50n of Ad3.m 2nd of sin, more bcholden (han ever to responsibilicies previously taken on, :tnd ill the more f2.lIible, since thete is oow added [0 thc passions ag.tinsr which he struggles an im~tuous ardor whose strident tones, for lack of memory, resonate ",imin hirn without sourcc" (CA 55). Daß das Absolute sich im Ich - als Spur, .,ein wenig" - priisentie~ heißt zugleich, so Lyot3.rd, daß es von dieser Präsenz kein (theoretisch oder philosophisch stimmiges, publik explizierbares) Bewußtsein gibt. Die Gegenwart des Absolut'en bleibt, so mag es scheinen, IIngegenwärtig: ein Horitpnl endlicher Erfahrungen, der sich selbst der DarsteIlbarkeit entzieht. Dieser prekäre Status hat gravierende Folgen, die sich nicht zuletzt in der Lebenspraxis manifestieren: keines der Probleme ist gelöst, das Gefühl der Unangemessenheit, des "Zu-spät-Kommens", der Unsicherheit wächst. Der Aufschwung der Trance organisiert nirgendwo die Auflösung der Spannungen des Ich, ja macht die Grenzen von animlls schärfer sicht· bar. "How could conversion give hirn light? It exempts him from nothing, it makes everything ring false, the iUusionary and the lrue. He prays: Bm thou, 0 Lord my God, look upon me, hearken, and behold, and pity and heal me. Thou in whose eyes I am now become a problem tO myself, aod that is my languor, '-pSt tJllonglior I1ItIlS" (CA 55). Dort, wo sich die Schwierigkeiten von Gedankenbewegung eins zeigen: im Scheitern einer glückenden, endgiiJcigen Aufhebung des Endlichen im UnendLichen durch "Intuition", treten - in Lyourds Augustinuslektüre - zwei weitere Denkfiguren, die die Erkundungen von Denkfigur eins redimensionieren, in den Raum: erstens - unter Einklammerung der Möglichkeit, das Absolute theoretisch zu pddizieren - die Hoffnll1lg als der (praktische) Ort der Auflösung einer - sieh zuspitzenden - Krise der Endlichkeit (ein kantianiseh inspirierter Wegl 7): "Here lies the whole advantage of faith: to beeome an enigma tO one· sel(, to grow old, hoping (ar the solution, the resolution (rom the Other. Have mere)' upon me, Yahwh, for I am languishing. Heal me, for my banes are worn" (CA 55). Und, kurz darauf, expliziter, in "Laudes": "Listen: for by hope we are already saved, la/vi farH IlImlll, hope has made us safe, it has aJready made o( us, children of the night and of darkness (hat we were, children of the day and light. Hope does not wait, presence recurs with it, the unbearable light o( raputure is there" (CA 57). In der Hoffnllng - dem Handelnshorizonl des Gederzeit endlich bleibenden) Handelns - wird das (wieder) gegenwärtig, was sich der theoretischen Präsentierbarkeit entzieht: die Gegenwärtigkeit des Hoffens
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Freilich: bei Kam sind die innere Struktur und die Grenzen des Handelns - anden a.1s bei l)"otard - extensiv erkundigt. Vgl. dazu: Onon. 0' eill, ..Vemunfcigc: Hoffnung. Tanner L.ccture 1 uber Kanu Religionsphilosophie", in: ludwig Nagl (Hrsg.): Rolli!,;'" ,,6th Jtr RLIi!,i'.lltririk. Wi~n und Berlin 2003. S. 86-110.
Nagl-Doc~kal/Nagl, Augustinuslütür~n
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partIZIpIen am Absoluten (das sich zugleich im Hinlergnlnd des Handelns hält und so nirgendwo, direkt, als "Problemlösung" auftritt). Die tonftui(J/t(Jnt'ersio terminien somit in einer Restrukturierung, ja Verschärfung des Endlichkeitsaspekts \'on Praxis: sie mündet nirgendwo in imeHektualistische "Einsicht" oder "spekulative" Schau. irgendwo wird das Absolute - das zugleich den Hoffnungshorizonl bestimmt - theoretisch/philosophjsch zwingend ..deduzierbar". Denn Hoffnung ist - das ist Lyotards dn'''e Gedankenbewegung. die den von uns analysienen Text beschljeßt - ihrer Struktur nach unabdingbar gebun~ den an die Fragilität und Gebrochenheit des Wissens ums Absolute (an ein "zigzag" von Prädikationen und Dementis - ein offenes, suchendes Schreiben, in dem das Ende des Dunkels nicht ein für allemal, sondern je wieder beginnt): "Hope threads a ray of fire in the black web of immanence. What is missing, the absolute, cuts its presence into the shaUow furrow of its absence. Tbe fissure that zigzags across the confession spreads with all speed over life, over Jives. The end of the night forever begins" (CA 57). Lyotard läßt sich weit ein in die (prä- und posthegeIsche) Dialektik von EndIjchkeit und Absolutheit, die die Conftuionu des Augustinus strukturiert - viel weiter, als die meisten zeitgenössischen Philosophen, die Augustinus lesen. Seine Lektüre restrukturiert freilich in ihrem Zentrum - im Trancebild der "rapturc", in dem das Absolute das endliche Ich überwältigt - den Augustinischen Text, postmodcrn, in eine Richtung, die eine Reihe von Fragen hervorruft. Lyotard drückt den zentralen Gehalt seiner Relektüre der intY)Colio gelegentIjch auch so aus: "I, the apparem slObjecr of the cor:fessive phrase, fir.ds hirnself, rather loses hirnself, undone at all ends. And while he confesses his submission tO lures (... ), while he disavows abject worldliness, he passes under an even more despotic authority, he must accept and savor a quite different radical heteronomy under the law of an unknown master of whom he obstinate1y de1ights in makjng hirnself the subject" (CA 77). In dieser Transposition wird deutlich, daß Lyotard Augustinus' Inkorporieren des Göttlichen im Endlichen entsprechend der neuen Imagologie einer sexuell konnotienen "enrapture" als radikale Helerollo,,,ie liest. Diese Extrapolation - daß der invokalorische Aufschwung, genau betrachtet, in der lustvollcn Unterwerfung unter einen "unknown master" endet - entsprichl, so scheint es, dem Augustinischen Selbstverständnis insofern nühl, als das, was Lyotard den "Meister" nennt - das göttliche Du - im Augustinischen Diskurs weder &iinzlirh "unbekannt" bleibt (wenngleich das absolute Du auch nirgendu'o sich 'YJIISlijndi~er Bekanmheit öffnet), noch - als ein .,liebendes Du" - die radikal heteronome "Unterwerfung", und sei sie auch IJlshYJII, fordert. Wir blicken deshalb zum $chJuß mit einiger Distanz auf Lyotards Augustinuslektüre und skizzieren, fragend, einen Einspnlth, der bei seiner Rede von .. Unterwerfung" einsetzt. Augustinus selbst verwendet die Terminologie, die Lyotard zur Beschreibung des Verhältnisses endlich/absolut heranzieht, nicht. Wie läßt
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Geschichte
sich der Unümhüd zwischen dem semantischen Gehalt, den das Absolute in der Optik des Augustinus hat - das heißt dem Konzept eines litbt1ldtn Gottes, zu dem der Anrufer sich als in einem Verhältnis der Ebenbildlichkeit Stehend sieht - und der Autorität jenes ,.unbekannten Meisters" deuten. dem sich, Lrot3rd zufolge, die ;l1l-'O(olio !luh!o/l htltTOlIom unterwirft? Ist solch ein triebdynamisch überformtes re-reacling des Verhiltnisses Ich/Absolutes schlüssig? Oder ist es nur der Auftakt zu einer (aus der Optik des Augustinus reduktiven) psychoanalytischen Dekonstruktion der Aufschwungbewegung? Endet - in den Kategorien des Augustinischen Liebesbegriffs gesprochen - die imlocotio, genau betrachtet, in einer cHpMiloJ, die auf ein radikales Dominierrwerdcn abzielt (das heißt: in einer - triebdynamisch radikalisierten und gebrochenen - "Selbstermächtigung des Ich')? Zweifellos hat L)'otard recht, daß - im Umfeld der Prädeterminationsspekulation - bei Augustinus die Gefahr der Heteronomie gege+ ben ist. Zugleich aber ist "amor Dei" bei Augustinus 'ieJb~t nirgefldwo substituierbar durch Instrumentalisierung oder gar: dNrrh die unI 11m InJlrJlmmla/isitrl1Jftrdm. Die identische Nichtidentität von Ego und Absolutem kann, semantisch schlüssig, nicht ersetzt werden durch die Strukturlogik eines bloßen merwerfungswunsches. Dies, so scheint es, macht Lyotard in seiner postmodernen Resemamisierung der intl()(otio als "Trance" unsichtbar, obzwar er zugleich - in der Triplette seiner Lektüren der fonjt/lio - weit in deren innere Struktur eindringt.
Ria ,'an der Lecq
Thomas von Aquin: Geschichte, Philosophie und Politik
Das Mittelalter und die Geschichte Wenn es etwas gibt, das die Menschen im Mittelalter nicht wußten, dann ist es die Tatsache, daß sie im Mittelalter lebten. Es ist, nach Gilson, ein merkwürdi· ges Paradox, daß ausgerechnet in der Zeit, die - wie der Name schon sagt eine Übergangs periode ist, kein Gefühl für Geschichte bestand. 1 Während am Ende der Antike die Vorstellung des ständigen Verfalles dominierte und in der Neuzeit der Glaube an den Fonschritt entstand, gab es im i\'liuelalter weder das eine noch das andere. Was manche charakteristisch flir das Mittelalter ansehen, ist die Vorstellung von der Unveränderlichkeit der Dinge. Der bereits erwähnte Gilson weist aber darauf hin, daß es so erwas wie ein spezielles mit· telaherliches Geschichtsverständnis gegeben hat, das sowohl von dem der Griechen als auch von dem unsrigen abweicht 2. Das Christentum lehne, daß das Ziel des Menschen außerhalb des irdischen Lebens liege. Gleichzeitig war fr.all davon überzeugt, daß nichts in unserer Geschichte geschehel'! könne, ohne daß GOtt in seiner Allwissenheit schon vorher davon gewußt hätte. Alles, was geschieht, ist im vorhinein bestimmt, und die Geschichte verläuft gemäß einem vorher bedachten Plan. Der .Mensch unterscheidet sich insofern von den anderen Geschöpfen, daß er sich der Vergänglichkeit und der Verinder· lichkeit seines Daseins, im Gegens:uz zur Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gaues, bewußt ist. Ebenso ist er sich seines Bandes mit demjenigen bewußt, der den J\'lenschcn und die Dinge um uns herum gemacht hat. Huizinga spricht hier von "Symbolismus". Die Gefühlsbasis, worauf der Symbolismus gegrün. det ist, besteht darin, daß es bei GOtt nichts Leeres oder Bedeutungsloses gibt. "Und so entsteht jene edle und erhabene Darstellung der Welt als eines großen symbolischen Zusammenhanges - eine Kathedrale von Ideen, der allerreichste rh)'thmische und polyphone Ausdruck alles Denkbaren.") Die s)'mholische Denkart beSieht - nach Huizinga - selbständig neben der genetischen. Die
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E. Gilson. L 'Erpri/ dt 1(1 Philosophie Mldiit'alt, Paris 1969, S. 365. Ebd., S. 366. J. Huizinga. /-Ierbll du M;/te/(,lters. SlIidim iib" LLbtns- lind Gtisrufornltn du /4. lind 15. Jahrhllndtf1s in Frank"irh lind in dtn Nüderlanden (deulSch von T. Wolff-Mönckeberg), München 1931. S. 294.
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Geschichte:
letztere, das Begreifen der \'(feh als EntwickJung. war seiner Meinung nach im ~tittelaJ[eT nicht so unbekannt, wie man manchmal umerstdk "Doch wurde das Hervorgehen eines Dinges aus dem anderen nur in der naiven Gestalt direkter Forrpflanzung oder Verzweigung gesehen, und ausschließlich durch 10· gische Deduktion auf die Dinge des Geistes angewandt."4 Der Symbolismus dagegen sucht die Verbindung zwischen zwei Dingen nicht in ihrem ursächLi· ehen Zusammenhang, sondern in ihrer Bedeutung und in ihrem Ziel. Der Symbolismus ist stärkstens mit dem (Neu-)Plaronismus verbunden, wie er sich im Mittelalter entwickelt hal. s Alles hier auf der Erde wird als eine Abspiegelung von den Vorstellungen in ",mit dhina gesehen, entweder als Ergebnis einer Emanation oder als Folge eines freien Schöpfungsaktes Gottes. Jedes Geschöpf ist also ein Zeichen, das auf seinen Schöpfer "erweist. Der Christ wußte außerdem, daß er dazu berufen war, an einer größeren Gemeinschaft als der irdischen teilzunehmen: nämlich an der nt'i!tU Dti. Diese Gemeinschaft Gottes rekrutiert ihre Einwohner aus aUen Völkern der Erde, und sie wächst, je länger es die Welt gibt. Während sich die antike Moral auf das Leben hier auf der Erde bezog, war es für den Christen viel wichtiger, daß er an der höheren Gemeinschaft teilnehmen würde, dje alle vemunftbegabten Wesen mü ihrem Schöpfer bilden können. 6 Gilson zufolge war die Konsequenz dieses Bewußtseins, daß die Vorstellung der Geschichte als eines Zyklus, einer ewigen Wiederkehr, die so gut zum grie. chisehen Norwendigkeitsdenken paßte, durch eine lineare Geschichtsauffassung ersetzt wurde: Jeder Mensch hat eine individuelle Geschichte, die sich in einer geraden Linie bis zum Tod entfaltet. Je älter ein Mensch wird, desto mehr Wissen erwirbt er und desto mehr Einsicht bekommt et; so lange, wie seine Kräfte das zulassen. Wenn er schließlich stirbt, war seine Mühe nicht um· sonst, denn W2.S für den individuellen Menschen gilt, gilt auch für die Gemeinschaft, in der er lebt. Darum gibt es in der politischen und sozialen Ordnung genauso wie in der Wissenschaft und der Philosophie einen Fortschritt. Jede Generation profitiert \Ton den Leistungen der vorhergehenden. Jeder Philosoph, ob er nun AristoteIes heißt oder Thomas, leistet einen eigenen Beitrag an der Entdeckung der einen Wahrheit. Die Geschichte kennzeichnet sich also durch einen Fortschritt im Streben nach Perfektion. Gilson zu folge beschauten die Menschen im Mittelalter die Weltgeschichte als ein schönes Gedicht, dessen Bedeutung für uns erkennbar und vollständig ist, weil wir den Anfang und das Ende davon kennen.' Die Geschichte entfaltet sich wie ein Plan, der in endlicher Zeit und bestimmten Entwicklungsstufen folgend abläuft. Dies alles führt zu einem geordneten Verlauf der Geschehnisse in der Zeit. Die Vorarbeit wurde von den Griechen, den Juden und den Arabern erledigt, aber die Men-
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Ebd. 5 Huizinga spricht hier über "platonischen Idealismus". 6 Gilson, L 'Esprit, S. 368. 7
Ebd., S. 372.
van der Lecq, Thomas von Aquin
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sehen im Mittelalter sahen die Zeit, in der sie lebten, als die bedeutendste. Gilsons Auffassung von dem linearen Geschichtsverständnis der Menschen im Mittelalter ist nicht unumstritten. Vor allem im Hinblick auf das Werk von Thomas von Aquin kann man sich fragen, ob Gilsons Bild wohl stimmt. Im folgenden will ich mich zuerst mit der Frage beschäftigen, ob Thomas eine zyklische oder eine lineare Geschichtsauffassung hatte; danach werde ich die damit zusammenhängende Frage beantworten, ob die thomistische Philosophie einen Beitrag zum Festlegen von ethisch-politischen Zielen im Geschichtslauf liefern kann. Meine Schlußfolgerung wird sein, daß sie dies in bezug auf die Ethik nicht kann, wohl aber in bezug auf die Politik.
Thomas und die Geschichte Die Frage, ob Thomas eine zyklische oder eine lineare Geschichtsauffassung hatte, ist nicht ejndeutig zu beantworten. Wie so oft bei Thomas hängt die Antwort vom Bild ab, das man von Thomas hat: das von einem Aristoteliker oder das von einem Neuplatonisten. Bei den älteren Thomasforschern, von denen Gilson einer ist, war der Gedanke vorherrschend, daß Thomas ein antiplatonischer Aristoteliker sei, der die wesentlichen Denkbilder des Neuplatonis. mus verwerfe. Er soU vom Neuplatonismus nur ab und zu einige Gedanken gleichsam als Dekoration - übernommen haben, wenngleich auch zugegeben wird, daß es in der thomanischen Philosophie platonische Elemente gibt. Das Bild von Thomas als Aristoteliker scheint vor allem auf zwei Fakten zu beruhen, nämlich (1) er hat die Rezeption von AristOteies im Westen möglich gemacht und (2) er hat die neuplatonische Interpretation von Aristoteles durch die der jüdischen und islamischen Philosophen ersetzt. Das bedeutet aber nicht, daß er selbst ein reiner Aristoteliker war. In der späteren Thomasforschung wird dieses Bild darum auch korrigiert. 8 Diese Untersuchungen geben uns das Bild eines Theologen/Philosophen, der die neu platOnische Metaphysik und Theologie mit einer aristoteljschen Physik kombiniert, obgleich er auf bei· den Gebieten einige Korrekturen anbringen muß, die ihm von seinem christlichen Glauben nahegclcgt werden. In dcr Synthese versucht er eine Harmonie zu finden, und die Probleme in der Thomasinterpretation entstehen zumeist dort, wo dies scheinbar nicht gut gelingt. Die Frage, ob Thomas die Geschich· te als einen Kreislauf oder eine Linie sah, muß darum in zweierlei Weise beantwonel werden: der Neuplaronist Thomas faßt die Geschichle als einen Kreislauf auf, während der Aristoteliker Thomas die Geschichte als geradlinig beschreibt. Man kann es auch so formulieren: in der thomanischen Geschichtsauffassung gibt es horizontale und vertikale Elemente: leloJ als der ewige Sinn
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Siehe K. Kremer, Dit ntNplaloniuht Stin.rphiloJophit lind ihn IYlir.hng ON! Thol1JO.r /IOn Aquin, Leiden 1971.
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Geschichte
vom Hier und Jetzt und Je/os als Endziel des historischen Prozesses. Beide Elemente bestehen gleichzeitig und hängen davon ab, wie der Mensch die Wirklichkeit erfährt: alle religiöse Zeit ist zyklisch (vertikal) und alle geschichtliche Zeit ist linear (horizontal), denn der religiöse Mensch kehrt dorthin zurück, wo er herkam. Der Mensch im Hier und Jetzt hingegen hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. 9 Vor allem der erste Teil dieser Schlußfolgerung bedarf einiger Erläuterung.
Thomas und der Neuplatonismus Im Denken von Thomas über die Wirklichkeit spielt die Figur des Kreises eine wichtige Rolle. Thomas sicht im Kreis nicht nur die vol.lenclete Figur, sondern auch in der Kreisbewegung die vollendete (jcwegung. Alles was geschieht, verläuft für Thomas auf eine bestimmte Weise zirkulär (per nlOdltnJ tirculationis). Die letztliche Perfektion eines jeden Dinges besteht darin, daß es zu seinem Anfangspunkt zurückkehrt. 1O Ursprung und Ziel sind identisch. Es ist für Thomas evident, daß jede Folge zu ihrer Ursache zurückkehrt (onmis iffUlu! HaluraHler ad slIom toImUlI COTlt'trlitltr 11 ), und im allgemeinen daß alles, was geschieht, einem zyklischen Gesetz unterliegt. Dies gilt für alles, was es gibt: Also sowohl für das natürliche Streben von seelenlosen Dingen als auch für den "freien" Willen des Menschen. Es ist unumstritten, daß dieses zyklische Denken neuplatOnisch ist. Die exiIlIs-redilllS-Formel, die bei Thomas regelmäßig zurückkommt, finden wir auch bei Proklus und bei den späteren Neuplatonikern Eckhart und Nikolaus von Kues. Auch das Axiom von der unbedingten Zurückkehr einer Folge zu ihrer Ursache finden wir fast wörtlich bei Proklus wieder. Die Kreisförmigkeit der Geschichte beruht auf der Identität von Wirkursache und Zielursache. Die Wirk ursache sorgt für das Sein der Dinge; die Zielursache sorgt für den Sinn dieses Seins. Wenn der metaphysische Anfangspunkt gegeben ist, ist gleichfalls der ethische Zielpunkt bekannt. 12 Jetzt könnte man entgegnen, daß der Gedanke, daß die Geschichte zyklisch verlaufe, njcht ausschließlich neu platOnisch sei. Auch in der antiken Philosophie gebrauchte man nämlich das "Kreislaufmodell". Es gibt da jedoch einen wichtigen Unterschied: im antiken Kreislaufdenken führt die Figur des Kreises zu einer "ewigen Wiederkehr des Gleichen". zur zyklischen Wiederholung des
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M. Seckler, Das Hti!;l1 dtr Ctuhichlt. Cuchichlslhto!ogüc!Ju Dtnkm bt; TbOl1/as j,'(Jn Aquin, l\Iünchen 1964, S. 156. Summa Theologiae (51) lallat 3, 7. Seckler weist auf viel mehr Texte hin, die diese Ansicht leilen. ST I/al/at 106, 3. Seckler, Htil in dtr Cmhichlt, S. 66.
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SeIhen. Bei Thomas ist dies jedoch nkht der Fall. Die Metapher des Kreises ist nicht beabsichtigt, um zu suggerieren, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt, sondern um anzudeuten, daß für alles gilt, daß Ursprung und Ziel identisch sind. 13 Diesen Gedanken kann Thomas übrigens ausgezeichnet mit der aristOtelischen Ursachenlehre kombinieren. Die verschiedenen Ursachen (ejji(iens, finalis, formaliJ, moterioliJ) sind für ihn nicht wirklich verschieden, sondern sie sind verschiedene Aspekte desselben Prozesses. Wirkursache und Formursache sind miteinander verbunden, da Wirkung dasselbe ist wie Formung. Jedes natürliche Ding entsteht dadurch, daß GOtt ihm Sein gibt; das tut er durch die Form (for'Hn dot we). Die Form ist auch das Ziel des Dinges; ohne Ziel kann nichts sein. Vor allem das Verhältnis zwischen r01lso ejjin"enJ und (01lJO JinoliJ ist jetzt wichtig. Dieses wird ausgedrückt in der FormeL eJficienJ COIfJtJ Jinis, Jillis causa ejjicienJ. 14 Anders ausgedrückt: Die Wirkursache ist vom Ziel formgesteuert, aber das Ziel verdankt sein Scin der Wirkursache.
Thomas über Philosophie und Politik Die Identität von Ursache und Ziel hat auch Folgen für die Ethik. Es steht außer Zweifel, daß für Thomas der metaphysische Anfangspunkt auch der ethische Zielpunkt ist. Das heißt, daß das letztendliche Ziel unseres menschlichen Lebens die Schau Gones ist und nicht irgendein irdisches Glück. l '; Das Glück in diesem Leben ist nur eine "Teilnahme am Glück" (parlicipatio btOtitlidilliJ). Dies führt uns zu der bemerkenswerten Schlußfolgerung, daß der thomistische "rbeologe schon weiß, was das Ziel des Lebens ist, aber daß der thomistische Philosoph dieses Ziel nicht kennen kann. 16 Die menschliche Vernunft reicht nicht aus, um dieses Wissen auf natürliche Weise zu erwerben. Was der Mensch auf natürliche Weise weiß, ist, daß das letztendliche Ziel unseres Handelns - die perfekte beotitudo - nicht in diesem Leben liegen kOlln, da die letztendliche Perfektion eines jeden Dinges darin besteht, wieder zu seinem Anfangspunkt zurückzukehren. Die menschliche Natur hat in diesen Leben kein letztendliches Ziel; das Leben ist also in gewissem Sinne ziel1os. 11 Der thomi-
Ebd.,S. 51. 14 Ebd., S. 53, weist hin auf: In V ~letaph. Lee!. 2, nr 775. 15 Siehe ST laIbe gg 2, 3 und 4. 16 Siehe für eine ausführliche Unterstützung dieser Schlußfolgerung: D. J. M. Bradley, Aquif/oS on thf TU'ojold HJIIlI(lfI Cood. RrasoH and HJI"faN Hoppi/ltJS il/ AqNina's Mora! SritJ/u, Washington D.C., 1997. 17 I3radley, Aquinas (5. 527), spricht hier von .. the deep paradox confronting the Thomistic philosopher. Philosophical reason. beginning with the natural desire for happiness, demonslrateS that human nature cannot be satisfied by an}' end naturally attainable, and concludes that only a supernamnr.l end, the vision of the divine essence, could satisfy man's natural desire." 13
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stische Philosoph basien seine Ethik auf das Wissen um das übernatürliche Ziel, aber dieses Wissen ist von theologischer An. Eine systematische teleologische Ethik, die auf dem natürlichen Ziel des Menschen beruht, ist für ihn als Philosopbtn also unmöglich. 18 Die thomistische Philosophie kann also nichts zum Festlegen von ethischen Zielen im Geschichtslauf beitragen, da diese Ziele für den Philosophen nicht zu erkennen sind. Gilt diese Schlußfolgerung nun auch für die thomistische politische Philosophie? In seiner politischen Philosophie scheim Thomas, stärker als in seiner Ethik, von AristoteIes inspiriert zu sein. Im Kontext mit dem oben Beschriebe4 neo ist das auch verständlich, da Politik eine typische Angelegenheit des Hier und Jetzt, der Aktualität darstellt. FÜ,r AristoteIes schloß die politische Philosophie bei der Ethik an. Der Mensch ist per definition ein rationales, mit Sinnen ausgerüstetes lebendes Wesen (animal rationale). Er unterscheidet sich von den (anderen) Tieren dutch seine Rationalität. Diesen Aspekt seiner selbst muß der Mensch darum auch perfektionieren, um so gut wie rnöglichMensch zu sein. Hierin erkennen wir die (horizonraJe) teleologische Auffassung von der Natur, die für AristoteIes so wichtig ist. Diese Auffassung besagt, daß jedes Wesen danach strebt, so gut wie möglich die eigene Natur zu perfektionieren. Dies ist ein physischer - man kann sOWlr sagen metaphysischer - Standpunkt. Dies hat aber auch Folgen für die Ethik, denn mit einem gut funktionierenden Verstand kann der Mensch bestimmen, was gut und schlecht isr. 19 Der Verstand sorgt auch dafür, daß ein Mensch sprechen und kommunizieren kann. Und da die Natur nichts ohne Grund tut, eignet sich der Mensch von Natur aus dazu, in einer Gemeinschaft zu leben. Anders gesagt: der Mensch ist ein politisches Tier. Dies alles führt dazu, daß der Staat als ein Naturprodukt angesehen wird. In einer Gemeinschaft kann der Mensch seine eigene Natur am besten aus· drücken. Dem Leben in der Gemeinschaft ist es zu verdanken, daß der Mensch ein glückliches und tugendhaftes Leben haben kann. Die Natur ist also die treibende Kraft. Was in Gesetzen festgelegt wird, ist das, was von Natur aus gut ist. Die Natur wirkt sozusagen durch den Verstand und den Willen von denjenigen, die die Gesetze machen: den Bürgern. Auf der Basis dieser Gesetze wird die Gemeinschaft auf ihr letztendliches Ziel hin geleitet und gesteuert: das bo11111" COIIJflJlme. Wenn der Staat von einem Fürsten geleitet wird, dann muß diese Figur selbstverständlich über einen großen Anreil praktischer Vernunft verfügen (phronuiJ). Es ist seine Aufgabe, die Gemeinschaft so zu leiten, daß jedes Individuum ein gutes und tugendhaftes, das heißt glückliches Leben führen kann. Obwohl AristoteJes den Menschen als einen Teil der Gemeinschaft an·
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Dies ist natürlich anders bei dem Aristotelischen Ethiker, fur den das letztendliche Ziel des Menschen in diesem Leben liegt. In der Elbira Niroma(hta spielt die praktische Vernunft eine wichtige RoUe beim Fin~ den des besten Miuelweges zwischen zwei Extremen, das heißt des tugendhaften Lebens.
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d~r
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sieht, bedeutet dies nkht, daß ein guter Mensch automatisch ein guter Bürger wäre oder um~kehrt. Es ist aber schon so, daß das uben in einer Gemeinschaft als guter Bürger dazu beitragen kann, daß jemand ein glücklicher Mensch ist. Das voUkommene Glück besteht AristoteIes zu folge aUerdings in der philosophischen Kontemplation, einer Aktivität, für die man die Gemeinschaft eigentIich nicht benötigt. Wenn wir uns in die politische Philosophie Thomas von Aquins vertiefen, faUt ab erstes auf, daß dje Kommentare auf AristoteIes' Elhito und Polilito nicht sehr informativ in bezug auf Thomas' eigenen Standpunkt sind. Er erweist sich als ein sorgfältiger user des Werkes von AristoteIes, erklärt es, und fügt nur an einer einzigen Stelle eine kritische Bemerkung hinzu. Seine eigenen Auffassungen können wir in seinen theologischen Werken und in einem kleinen Werk mit dem Titel De regimine pn'ncipNm lesen. 20 Was Thomas darin darlegt, läuft auf das folgende hinaus: er übernimmt zum größten Teil die Theorie von Aristoteles, aber nicht ohne weiteres; genau wie in seiner Metaphysik benutzt er in seiner politischen Philosophie das Gedankengut von Aristoteies als Fundament für ein christliches Gebäude, welches mit dem neuplatonischen Partizipationsdenken verwandt ist. In der politischen Theorie von Thomas spielt seine Theorie des Naturgesetzes eine zentrale Rolle. 21 Das Naturgesetz kann man als eine Brücke zwischen Gott und den Menschen begreifen. Die Philosophje von Thomas ist genauso wie die des AristoteIes von teleologischer Art: jedes Ding strebt von atur aus nach seiner eigenen Perfektion. Aber für Thomas ist es wichtig, daß die atur von Gon geschaffen ist und an den Gedanken seiner Vernunft teilnimmt. Das Naturgesetz ist darum njcht selbständig, sondern Teil einer hieruchischen Ordnung. Ganz oben steht das ewige Gesetz, das ist die göttliche Vernunft, die das niversum leitet. Darunter finden wir das Naturgesetz, als dje Teilnahme der rationalen Schöpfungen am ewigen Gesetz. Alle geschaffenen Dinge nehmen am göttlichen Plan teil, aber Menschen tun dies auf eine besondere \Veise, nämlich indem sie Verstand (rolio) erhalten haben, anders gesagt: sie sind nach Gottes Bild geschaffen. Dadurch nehmen sie teil an der göttlichen Vernunft, wodurch sie von Natur aus die Neigung haben, nach dem Guten zu streben. Unten in der Hierarchie stehen die menschljchen Gesetze. Diese sieht Thomas als das Anwenden des (allgemeinen) Naturgesetzes auf konkrete Fälle. So ist zum Beispiel das Gebot "Du sollst nicht töten" Teil des Naturgesetzes, das praktische Handhaben dieses Gesetzes ist jedoch Aufg2be des menschlichen Richters und Teil der menschlichen Gesetze. Die menschlichen Gesetze können nie mit dem aturgesetz in Konflikt geraten, da die Vorschriften des Naturgesetzes die Ausg2ngspunkte bilden, auf deren Basis die menschlichen Gesetze formuliert werden. Der Begriff ..Naturgesetz" war nicht neu - er bescand 20
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Die: rc:le:vant~n Tc:xt~ und Fragrn~ntc: wurd~n von A. P. O'Enue:ves v~rÖffentl..icht: Aqlli1l'u StkrttJ P,h·tiri11 Writi1lgs. Oxford 1959 (ÜberselZungen von JG. 02wson). ST 12112~. qu. 91.
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bereits im zwölften Jahrhundert und basierte auf dem Werk von Augustinus -, aber die teleologische Bedeutung. die Thomas dem Begriff umer Einfluß von Arisroteles gab, war wohl neu. Etwas Vergleichbares macht Thomas mit AristoteIes' Theorie vom Staat als Naturprodukt. Auch diese übernimmt er, aber wiederum als Fundament fUr sein christliches Gebäude. Auch für Thomas ist der Mensch von Natur aus ein politisches und soziales Tier (anima/ po/iticum t/ $orialeJ. Die Zu fUgung t/ sodale kann rollO als eine Erläuterung des Begriffes "poliliomJ" ansehen, womit gleichzeitig angegeben wird, daß der griechische Stadtstaat nicht die einzig denkbare Gemeinschaft ist, in der ein Mensch Tugendhaft leben kann. Es geht darum, daß das Umgehen mit anderen dem Menschen von atur aus eigen ist. Thomas' Auffassung zufolge muß die Integration des Individuums in ein größeres Ganzes als eine Bereicherung seiner Persönlichkeit verstanden werden und nkht als etwas, das auf Kosten des Wertes des menschlichen Individuums geht. Wo AristOteies den Menschen als Bürger vom Menschen als Mensch unterscheidet - ein guter Mensch war nämlich nicht autOmatisch ein guter Bürger und umgekehrt - unterscheidet Thomas den ~'lenschen aJs Bürger vom Menschen als Christen. Während bei AristOteIes die Gcmeinschaft dafür sorgen muß, daß der Mensch ein tugendhaftes und glückliches Leben fUhren kann. ist das tugendhafte Leben bei Thomas auf das Leben nach dem Tod gerichtet, denn erst dann kann das echte Glück erreicht werden. Das bonNm (omnIHne, nach dem der Staat strebt, ist also rur den Menschen als Christ kein eigentliches Ziel. sondern nur ein Zwischenschritt auf ein weiter weggelegenes, höheres Ziel hin. Die Funktion des Staates, als Teil der natürlichen Ordnung, muß also im Rahmen der gärdichen Leitung der Welt verstanden werden und ist dieser untergeordnet. Der Staat ist bei Thomas auch nicht ob tintiger verantwortlich für das tugendvoLlc Leben der Bürger. Er darf sich nur mit dessen äußerer Erscheinungsform beschäftigen; rur das Seelenheil des Individuums ist schließlich nur die Kirche verantwortlich. Und so wie die Seele über dem Körper stcht, steht die Kirche über dem Staat. Demzufolge ist die Autorität der kirchlichen Macht größer als die der weltlichen Macht. Die ideale Staatsform ist für Thomas die Monarchie. In der i\'lonarchie, die Thomas vor Augen hat, verdankt der weltliche Fürst seine Autorität vor allem dem Volk, das ihn unterstützen und ihm gehorchen muß. Der Fürst erwirbt seine Macht, indem er zum Besten seiner Untertanen regien. Wir erkennen hier ein aristotelisches (populjstisches) Element in der politischen Theorie von Thomas. Aber wichtiger ist doch das christliche (theokratische) Element in sei· ner Theorie: aUe Macht kommt direkt oder indirekt von Gott. Der Papst empfangt seine Macht direkt von Gort, und der weldiche Fürst ist, wenn es darauf ankommt. der kirchlichen Autorität untergeordnet. Theoretisch liegt die I,acht der Kirche ausschließlich auf dem spirituellen Gebiet, llber der Staat muß in allen weltljchen Dingen der Kirche gehorchen. Theorctisch ist das für Thonns kein Problem, da ein weiser Fürst das bonHI1I (On/n/Hne anstrebt. Und was das bo-
van der Lecq, Thomas von Aquin
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ist, kann mit dem natürlichen Verstand herausgefunden werden. Kirche und Staat können also nie im Streit miteinander sein, genausowenig wie Theologie und Philosophie das können. ]\'Iit dem Gedanken, daß der Mensch außer ein Christ auch noch ein Bürger ist, fühn Thomas etwas Neues im Hinblick auf seine Vorgänger ein. Es ist natürlich nicht so, daß es im Mittelalter zwei verschiedene Sonen Menschen gäbe: die Gruppe Bürger und die Gruppe Christen. Es geht hier um einen formelJen Unterschied zwischen zwei Aspekten eines jeden Individuums: als t\1..itglied der christlichen Gemeinschaft betrachtet, ist er Christ, als Mitgljed der weltlichen Gemeinschaft ist er Bürger. Obwohl nach Thomas' Ansicht das Ziel des Menschen als Bürger (das bOllfUII comnJJllU in diesem Leben) dem Ziel des Menschen als Christ (beatitudo nach diesem Leben) untergeordnet ist (und in dessen Dienste steht), war es sicherlich revolutionär zu behaupten, daß politische Autorität, unabhängig von Glaube und Kirche, einen gewissen Wert habe, wenngleich dieser tatsächlich nicht viel ausmachte. Es konnte zu der Schlußfolgerung führen, daß es auch ein Naturgesetz und einen Staat geben könne ohne Gmt. Daß diese Schlußfolgerung tatsächlich gezogen wurde. kann man aus der Tatsache schließen, daß die theokratische Theorie im Mittelalter schließlich verloren hat. In der Theorie des Philosophen Marsilius von Padua aus dem vierzehnten Jahrhunden war die Rolle der Kirche so gering, daß man diese ruhig "trivial" nennen darf. Das war natürlich nicht Thomas' Absicht, aber das Paradoxon ist, daß es nur geschehen konnte, nachdem er dafür gesorgt hatte, daß das Gedankengut von AristOtcles akzeptiert werden konnte, ohne daß der Kirche dadurch geschadet wurde. Er hat die Scheidung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Kirche und Staat schlicßlkh selbst mit möglich gemacht. Auf dem Gebiet der politischen Philosophie hat Thomas - entgegen seinen Absichten - gezeigt, daß es sehr gut möglich ist, ein ungläubiger thomistischer Philosoph zu sein. Das gleiche gilt für die Metaphysik und die Erkenntnistheorie. Auf dem Gebiet der Ethik scheint dies nicht möglich zu sein, aber der thomistische Philosoph kann dennoch einen Beitrag bei der Bestimmung politischer Ziele im GeschiclHslauf leisten, auch wenn die Ziele den letztendlichen Zielen des Menschen als Christ immer untergeordnet bleiben. nJUII commUllt
Henning Ottmann
Was ist neu im Denken Machiavellis?
Qne can saftly lay thaI thert is no moral or poHlica/ pbenomenon Ihal Machiat't/li kneIP or ftr whoie diJ(ot~ry he is /amolls that II'lIJ nol pufutIJ known 10 Xtnophon, to stry nothing 0/ Plalo or An·stot/t.!
I Machiavel1i gilt als Begründer des neuzeitlichen politischen Denkens. Unter seinen Händen verwandelt sich das Genre der Fürstenspiegel. Aus einem Buch zur Erziehung christlicher Fürsten wird ein Handbuch der Techniken des Machterwerbs und der Machtsicherung. Der Principt löst die alte Einheit von Politik und Ethik auf, wie sie für die klassische Philosophie kennzeichnend gewesen war. 2 Mit Machiavelli beginnt die Autonomisierung der Politik, ihre Lö~ sung von der Moral. Auch wenn Machiavelli das WOrt "Staatsraison" noch nicht verwendet, rechnet man ihn doch zu den Begründern der neuzeitlichen Staatsraisondoktrin. Die Einheit von hones/unI und utjJt, wie sie etwa Cicero in De o.fficiis verteidigt, wird von Machiavelli aufgelöst. Für ihn kann politisch nützlich sein, was moraHsch fragwürdig oder verboten ist. Der Fürst kann und soU sein Won njcht halten, wenn es ihm zum Nachteil gereichen würde. 3 Er muß nicht mehr gerecht, milde, fromm etc. stin, sondern es nur noch zu sein schtintn. Politik wird zur Kunst der Vorspiegelung, zur Schauspielerei, zur gro~ ßen Simulation. Bei MachiavelU vollzieht sich ein Bruch mit dem kJassischen politischen Denken sowie mit den Fürstenspiegeln der christlichen Tradition. Der Fürst wird von seiner Bindung an die Religion gelöst. Religion wird nur noch aus der Perspektive der poljtischen Nützlichkeit wahrgenommen. Sie wird zum bloßen Instrument der Poljtik. Die christliche Zeitvorstellung wird abgelöst durch ein zyklisches Denken. An die Stelle der EschatOlogie und der Ausrichtung aller Zeit auf das Ende tritt das Auf und Ab einer sich einmal hier, einmaJ dort konzentrierenden Energie des Politischen, der vir/u. Diese ist eine Handlungsforrn ohne letzten Sinn und Ziel, verschrieben allein dem faktischen Erfolg. Ihr Ge-
Smuss 1972, S. 291. 2 Schmölz 1963. 3 Machill.Vclli 1986: Kap. 18. I
Oumann, Wu ist neu im Denken Machiavellis?
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genspieler ist eine launische forluno, die mit der christlichen Vorsehung nichts mehr gemein hat, sondern eine irrationale M,acht des Geschehens ist. Ein Bruch mit der Tradjtion des klassischen politischen Denkens und mit dem Christentum ist in Machiavellis Lehre unverkennbar. Ob es sich aber um ein ntlieJ Denken handelt, steht auf einem ganz anderen Blatt. MachiaveUj ist ein großer Verehrer der Autoren der Antike. Das führt dazu, daß er manche ihrer Lehrstücke geradezu sklavisch reproduziert, um nicht zu sagen plagüert. Was prima fade revolutionär zu sein scheint, ist bei näherer Betrachtung meist njchts als eine bereits in der Antike wohlbekannte und vielerörterre Lehre. Der nterschied zwischen MachiaveUi und den klassischen Denkern besteht nur darin, daß l\hchiavelli begrüßt, was die Klassik verwirft. Aber nichts, von Machiavellis Politikbegriff im allgemeinen bis zu seinen einzelnen Empfehlungen, ist wirkJjch neu. Machia\'elli hat nur, was längst bekannt war, wieder ausgegra· ben und sich im Unterschied zur kJassischen Tradition zu eigen gemacht. Der Begriff des AutOrs hat sich erSt im 18. Jahrhundert dutchgesetzt. Zur Zeit MachiaveUis war es üblich, sich bei den klassischen Autoren zu bedienen. Oft "zitiert" Machiavelli aus dem Kopf. Manchesmal nennt er seine QueUe, manchesmal verschweigt er sie. Die Frage, was ist ntu im Denken Machiavems, zielt nicht auf eine moraljsche Diskreditierung der Person. Ziel der Frage ist es vielmehr, zu untersuchen, was an den angebHch so umstürzlerischen Lehren Machiavellis altbekannte Lehrstücke sind. Hat man dies erSt einmal erkannt, läßt sich um so genauer bestimmen, was "neu" im Denken MachjaveUjs ist.
II Was ist neu im Denken MachiaveLLis? icht die Grundthese des Pn'nripe, nicht die einzelnen Ratschläge an den Fürsten, nicht die PoiÜlk des "Scheins", nicht die Symbole von Fuchs und Löwe, nicht der Republjkbegriff der Diuorsi, nicht die Theorie der Mischverfassung, nicht der Kreislauf der Verfassungen, nicht die Sicht der politischen Theologie. Dies und vieles andere mehr verdankt sich vielmehr Machiavel1is antiken Quellen. Im Pn'ndpt sind dies vor allem Aristoteles, Cicero und die Sophistik. In den Discorsi "paraphrasiert" Machiavelli Livius'" Polybios 5, Tacitus und Xenophon 6 . In anderen Werken sind es andere AulOren der Antike, aus denen er seine Stoffe und seine Thesen nimmt. In der orlt dello gutfTa ist es vor allem Vestigius' tpilomo ni mi/ilon's, die Bibel der Kriegsführung im Mittelalter. In der ";10 des Cosl1'Ucao Coslrol'oni borgt sich Machiavelli die Sentenzen von Diogencs Laertius 7 .
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Whitfidd 1971. 5 SliSSO t 988: Bd. I, S. 3--118.
6
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StllmmC'n 2002. Stt1lluS$ 1972: S. 291.
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Geschichte
Humanistische Wiederbelebung der Antike und schlichte Kopierung derselben gehen in Machiavellis Werken sehsame Verbindungen ein. Schon der Blick auf den Pn"nript zeigt, daß sich dort so gut wie nichts Neues findet. Schon die Grundthese des Werkes ist nicht neu. Vielmehr handeh es sich um die in der Antike immer wieder erörterte Streüfrage, ob ein Gegensatz zwischen honuINm und N/ile (zwischen dem Sittlich-Gebotenen und dem 'ützlichen) oder zwischen dem Jikdion und dem opkljmon (dem Gerechten und dem ützLichen) besteht. Cicero, der, was diese: Frage angeht, vermutlich die Hauptquelle für Machiavelli war, hatte in Dt officiis dargelegt, daß Konflikte zwischen dem Sittlich-Gebotenen und dem Nützlichen bloße Scheinkonflikte sind. Es war immer richtig, anständig zu sein. Das war auch die uhre des Stoiker Panaitios gewesen, auf dessen Buch Pen ION lealhrleonloJ Cicero seine Ausführungen in Oe offidh stützte. Cicero fühlte sich, als er sein politisches Hauptwerk De rt publico schrieb. besonders herausgefordert durch den Philosophen Karneades. Dieser hatte bei seinem Besuch in Rom im Jahre 156 v. Chr. zwei Reden gehalten (eine für, eine gegen die Gerechtigkeit). Er hatte den Römern damals zugerufen, sie müßten, "wenn sie gerecht sein woilten, das heißt, wenn sie fremden Besitz zurückerstatten wollten, in die Hütten zurückkehren und in Armut und Elend am Boden liegen"8. Für Karneades war gerade die Politik der Paradefall der Konflikte von Gerechtigkeit und Nutzen. Und Cicero hat sich im dritten Buch von De rt publico nach Kräften bemüht, die römische Weltherrschaft gegen den Vorwurf zu verteidigen, daß sie nur dem 1 utzen der Römer diene, eine ungerechte Herrschaft sei. Ob Cicero die Verteidigung Roms gegen Karneades gelungen ist, mag dahingestellt bleiben. So oder so ist die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und utzen eine nicht nur von Cicero, sondern bereits von Thukydides oder Platon erörterte Standardfrage. Sie stammt ursprünglich aus dem Arsenal der Sophistik, und sie begegnet allenthalben, wo diese von Einfluß ist (wie bei Thukydides) oder ein Philosoph mit Sophisten streitet (wie dies bei Platon der Fall ist). Platon läßt in seinen Dialogen sowohl Thrasymachos als auch seine Brüder Glaukon und Adeimantos genau jene Lehren vortragen, die Machiavelli erneuert: daß Gerechtigkeit und politischer Nutzen nicht miteinander harmonjeren, daß der Gerechte weltfremd ist, daß die Logik der Macht und die Gebote der Sittlichkeit nicht miteinander zu vereinen sind 9 . Machiavellis Grundlehre vom möglichen Konflikt der Werte ist somit alles andere als neu. Sie "erneuen" nur eine alte sophistische Doktrin, und sie ähneh in vielem auch dem, was Thukydides in seiner Cmhithlt du Ptltponnuiuhtn Kriegu als Konflikt von dikaion und ophtlimon vorgefUhrt hat. Der Melier-Dialog ist bei Thukydides das bekannteste, aber nicht einzige Beispiel eines sophistischen Schlagabtausches der Argumente. Die l\·relier beklagen sich bei den
8 9
Lakl:mz 1844 rf.; V, 16, 5. Plalon 1971: I, 343d rr.; 111, 358e
rf.
Ottmann, Was iSI n(:u im Dcnk(:n Machiavellis?
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Athenern, diese würden das \Vort ..gerecht" durch das \VOrt ..nützlich" ersetzen 10. Der MeLier-Dialog ist ein einziges Streitgespräch über den Konflikt zwischen Machtpoljtik und Sittlichkeit oder Gerechtigkeit und utzen. Das Werk des Thuk)'djdes ist, auch wenn der Historiker eigentlich vor der überreizung der Machtpolitik wunen will, übers:i.t mit J\-laximen der poljtischen Opportunität. Strasburger ll hat sie einmal zusammengestellt, um die Ähnlichkeit mit Machiavellis politischen Ratschlägen zu dokumentieren l2 . Reinhardt hat die Ähnlichkeit der Krisenlage hervorgehoben, in der sich Thukydides und Machiavelli befanden. "Beide sind sie große Patrioten, heide als Politiker verschmäht von ihren Vaterstädten ... Beiden sind Moral und Macht zwei Größen, die nicht mehr in einer und derselben Richtung aufgehen ..... 13. Was zunächst so umstürzlerisch klingt, MachiaveUis Politik des "Scheins" und der Schauspielerei des Fürsten, auch sie ist nichts :tls eine Reproduktion wohlbekannter antiker Lehren. Einmal abgesehen davon, daß die Demagogen bereits bei Platon als Schauspieler, als eine An Volksschauspieler, gelten - der größere Erfolg des nur "scheinbar Gerechten", auch das ist ein Argument, das aus der Sophistik stammt. Platon legt es seinem Bruder, der in der Polittia den advocatus diaboli spielt, in den Mund!". Eine weitere heiße Spur führt zu Aristotcles, einer der wichtigsten Quellen rur MachiaveUis Pn'ntipt und die dort empfohlene Politik des Scheins. In den T)'rannis-Kapiceln seiner Politile 15 hat Aristoteles den Tyrannen geraten, sie sollten wenigstens Monarchen zu sein ..scheinen". AristoteIes' Überlegung war dabei folgende. Mit den traditionellen Mitteln eines Tyrannen, der Erzeugung von Kleinmut (mikropsychia), dem Säen von Mißtrauen, der Schaffung ohnmächtiger Bürger etc. war nach aUen Erf~h;uagen eine Tyr:o:.nai:; nicht auf Da~er zu s:abilisier::n. Wollte ein Tyrac.n eine stabiJe Herrschaft errichten, mußte er wenigstens so tun, ..als ob" er ein Monarch wäre. AristoteIes scheint hier ein .. Machi:l\'ellist" avant la lerrre zu sein 16 , auch wenn er wohl im Sinne seiner Philosophie des Ethos gehofft haben mag, daß ein Tyrann, der den Monarchen spielt, sich der Gewohnheit richtigen Handelns irgendwann einmal nicht mehr entziehen kann, er wenigstens teilweise auch ein Monarch wird. Es ist hier nicht der Ort, mit Aristotcles zu streiten, ob seine Empfehlungen an den Tyrannen mit dem Charakter seiner Politik vereinbar sind. Jedenfalls ist es so, daß fast alJe Ratschläge, die Machiavelli den Fürsten zur Sicherung ihrer Herrschaft erteilt, den Empfehlungen des A.ristoteles für Tyrannen - sagen wir
Thuk)"dides 1993: V, 90. 11 Slrasburger 1954. 12 Etwa Thuk)"did~s 1993: 1, 34, 3; 74, 4; 111, 11,2; VI, 85, 2. u Rdnhardt 1960: S. 185. H Plalon 1971: 111,361 b. lS AristOieles 1991 fr.: V, Kap. 10-11. 16 Barker 1931. 10
S2
Geschichte
- "nachempfunden" sind. Dies gilt sowohl für den Inhalt der Ratschläge als auch für deren Reihenfolge. Schon Botero muß behauptet haben, der Prinapt sei nichts als eine Wiederholung des zweiten Tyrannis-Kapitels aus der Aristotelischen Polilile 17 , der neue Fürst somit nichts als der alte Tyrann. Friedrich Mehmel l8 und Dolf Sternberger l9 haben bereits auf die zahlreichen Wiederholungen aristotelischer Ratschläge aufmerksam gemacht, die sich im Prifldpt vom 15. K2pite1 an finden. Sie lassen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man M:achiavelli die Kenntnis des Griechischen abstreitct 20. Vermutlich hat MachiaveUi Brunis übersetzung der Aristotelischen Politik benutzt, so wie er für andere griechische Texte Übersetzungen zur Hand hatte. Machiavelli übernimmt den bei Aristoteles wichtigsten Rat. daß der Tyrann Haß und Verachtung meiden so1l21. Aristotelisch ist die Empfehlung, daß der Fürst Ehrungen selber vornehmen, Haß Erregendes aber auf Umergebene abwälzen soll 22. A.ristOtelisch ist der Rat, daß der Fürst sich den Anschein geben soll, ein sparsamer Haushalter der öffentlichen Mittel zu seinli. Ebenso aristotelisch ist die Empfehlung, sich der Übergriffe auf Frauen zu enthalten 24 . Das Kapitel 17 des Principt, das von Grausamkeit und Milde handelt, erinnert an den Rat des Aristoteles, daß der Tyrann nicht auf die Furcht, sondern auf die Ehrfurcht der Bürger setzen so1l25. Allerdings spielt in dieses Kapitel noch eine andere, ebenfalls antike Lehre mit hinein. Es geht im Kapitel 17, das die Frage nach "Gnusamkeit und Milde" des Fürsten stellt. um die berühmte Sentenz "oderint dum metuam", "mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten"26. Dieses WOrt soU ein Lieblingsspruch des Caligula gewesen sein 27 • Geprägt hatte das Wort der Dichter Accius (1. Jh. v. Chr.). und diskutiert wird es bei verschjedenen Klassikern wie Cicero 28 oder Seneca 29 . Machiavelli hilt sich auch hier an die antike Fragestellung. Er stellt die klassische Antwort jedoch auf den Kopf. Alle Klassiker, von Xenophon bis Cicero, argumentieren rur eine Politik, die auf die Zuneigung der
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Mehmd 1948, S. 153. Mehmel 1948. Sternberger 1978: S. 172 ff.; Sternbcrger 1980: S. 83 f. Villari 1882: ßd. 2, S. 472 H. Machiavelli 1986: K2p. 19; Aristotdes 1991 H.: V, Kap. 10, 1312a-b. Machiavelli 1986: Kap. 18; AristoteIes 1991 ff.: V, Kap. 11, 1315a. Dieser Rat begegnet übrigens schon bei Xenophon (Hieron IX). Machiavelli hat die ahbekannte lehre nur am ßeispid des grausamen Statthalters des Cesare ßorgia, des Ramiro de Orco, dramatisch prisentiert (princ. 7). Machiavelli 1986: Kap. 16; AristOteles 1991 ff.: V, Kap. 11, 1314b. AristOieles 1991 ff.: V, Kap. 11, 1314b; l\lachiavelli 1986: Kap. 17. AristOleles 1991 ff.: V, Kap. t 1, 1314b. Machia\'dli t 977: 1II, Kap. 19. Sueton 1970: S. 29. Cicero 1980: I, 28, 97. Seneca 1980: 1,20,4.
Onmann, Was ist neu im Denken Machiavellis?
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Untertanen setzt. Machiavelli dagegen meint. es sei ..sicherer. gefUrchtet als geLiebt zu werden"JO. AlJerdings wird diese Abweichung von der klassischen Lehre in den DücorJi wieder relativiert. Dort wird dem Fürsten dann doch zu ..Leutseligkeit. Menschlichkeit•.Milde" geraten. und zwar mit Berufung auf Xenophons KYfJIpiidii3 1• Härte und Strenge werden an dieser SteUe der Republik empfohlen. Die SchJüsselbegriffe Machiavellis L7rtN und fOrll/no - handelt es sich hier um euschöpfungen? In gewissem Sinne erhalten diese Begriffe ein eigenes Gepräge. In der L7rlit schwingt das Pathos der Renaissance mit, das Vertrauen in die Schöpferkraft des Menschen, die Tatkraft, die EntschJossenheit., das Zupackende. Die ftrluna ist in Abgrenzung von der christlichen Vorsehung ein launisches Geschick, die Gunst der Sterne, eine Sache der Glücksritter, der wagemutigen Söldner und entschlossenen Machthaber. Und doch ist auch in den Schlüsselbegriffen Machiavellis mehr antikes Erbe. als es prima facie der Fall zu sein scheint. VirlN ist in gewisser Hinsicht immer noch virluJ. In ihr treten immer noch die Mannhaftigkeit und die Tapferkeit besonders hervor, der vir und die vii. Die fortuna ist von Polybios' Tyche kaum zu unterscheiden. Auch bei Polybios ist das Geschick nicht mehr die stoische Vorsehung oder die gÖttliche Lenkung der Geschichte, sondern eher schon der Zufall oder das. was man rational nicht mehr erklären kann. Glück oder Tüchtigkeit - die Alternative als solche ist ein Erbe antiker FragesteUungen. Immer wieder wird die Alternative erörtert bei AristoteIes, bei den Stoikern oder bei Plutarch. Ob etwa Alexander seine Weltherrschaft eher dem Glück oder eher der Tüchtigkeit zu verdanken habe, war ein beliebtes Thema der Peripatetiker und Stoiker. Machia'lelJj greift es in den DiJ~orJi mit Bezug :ö.uf Plut:.rch auf32. Machiavelli teih mit den Klassikern die ~'Ieinung, daß man alles daran setzen soU~ auf Tüchtigkeit zu setzen und sich von der Gunst des Glücks unabhängig zu machen. Eine gewisse makzenruierung der klassischen Lehre liegt nur darin. daß MachiaveUi t'irtN und fortuna als gleich starke Mächte begreift}3. Bei Aristoteles war eindeutig. daß das Glück zwar immer auch vom Zufall und von den äußeren Gütern abhängt, sich aber mehr der Tüchtigkeit als dem Zufall verdankt. Eine Halbierung der Anteile entspricht der klassischen Lehre nicht. Die berühmten Wappentiere des .. neuen Fürsten", der Fuchs und der Löwe, die Symbole von üst und Gewalt, auch sie sind nichts als ein Zitat J4 . Sie begegnen an zwei prominenten, MachiaveLli bekannten Stellen. Die eine ist De ofjiciil 1. 13, die andere Plutarchs Biographie du LYJander35 . In der Lysanderbiographie he.ißt es: ,,\'(/0 die Löwenhaut nicht hinreichte. da müßte man noch den
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Machiavelli 1986: Kap. 17. Xenophon 1992: 111, S. 22. Machiavelli 1977: 11. Kap. 1. M:achiavelli 1986: Kap. 25. M:achi:avelli 1986: Kap. 18. Plut:arch o. J.: Kap. 7.
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Geschichte
Fuchsbalg darannäheo". Nach Stolleis hat Machiavelli die Lysanderbiograpbie 1502/03 gelesen J6 . Aber auch Cicero kann selbstverständlich die QueUe für die Symboltiere des Fürsten gewesen sein. \'(I'enn wir uns dem zweiten Hauptwerk ~hchiavellis. den DisrorJi. zuu'enden, dann wird noch deuilicher, wie abhängig Machiavelli von den Vorbildern der Antike ist. Sein Ideal der Republik modeUiert er anhand von Livius' Ab Krbt (o"diJa. deren zehn erste Bücher er seinem Werk zugrunde legt. Livius war ein biederer, theoretisch nicht sonderlich versierter Historiker. Von ihm nimmt Machiavelli meist nur die historischen Beispiele, die exemplo repulikanischer ,,·irlu!. Für seine Deutung der republikanischen Verfassung und rut manches andere mehr stützt er sich dagegen weitgehend auf Polybios, dessen amen er in den Discors; nicht nennt. Es sind drei fur Machiavellis Denken bedeutende Grundlehren, die er dem Polybios emlehnt. Da ist trs/tns die Kreislauftheorie der Verfassungen, die aus dem 6. Buch der His/on"tn des Polybios übernommen wird. Sie wird von Machiavelli ausführlich und ohne jede signifikame Veränderung in Discorsi I, 2 wiedergegeben; in einem weiteren Sinne könnte sie sogar die Anregung für das zyklische Geschichtsdenken Machiavellis gewesen sein. Da ist tfPtiltns die Polybianjsche po· litische Theologie, Polybios' Lob der politischen Nützlichkeit der Religion der Römer 37 . Dieses kehrt in der instrumentellen Auffassung von Religion wieder, die die Religionskapite1 der Discors; auszeichnet 38 . Da ist schließlich Jn)/ms Machiavellis Übernahme der Polybianischen ?fischverfassungslehre, nach der Rom eine Mischverfassung gewesen sein soll und jede Republik eine Misch\'er. fassung zu sein hat. Machiavellis Abhängigkeit von Pol)'bios ist in zwei der genannten Fälle eine gendezu sklavische. Sowohl die Kreislauftheorie als auch die Mischverfas· sungslehre werden ohne jeden Abstrich einfach reproduziert. Das ist um so erstaunlicher, als es sich um primitive, schematisierte und im Grunde falsche Lehren handelt. Die Kreislauftheorie des Polybios ist eine völlig unhistorische, schematische Konstruktion. Das Sechser-Schema der Verfassungen wird ein· fach in Bewegung gesetzt, so als ob es sich um eine immer wiederkehrende hi· storische Abfolge handeln würde. Die These von der J\-1.ischverfassung Roms war schon falsch, als Polybios sie vortrug. Rom besaß keine Mischverfassung, sondern eine vom Adel und vom Senat dominierte Verfassungsform. Zu einer wohltemperierten Balance zwischen Adel und Volk haue es Rom nie gebracht. Der Grieche Polybios hatte Rom einfach ein griechjsches Verfassungsschema übergesrülpl. Daß MachiaveUi die Kreislauftheorie und die Mischverfassungslehre einfach wiedergibt, läßt an seinem guten Urteil zweifeln. Es zeugt davon, daß er manche der antiken Quellen einfach abgeschrieben hat. Stolleis 1990: S. 26. 37 Polybios 1978: VI, Kap. 56. 18 Machiavclli 1977: I, Kap. 11-15. )6
Oumann, Was ist nt:u im Denken Machiavdlis?
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Die Diuorsi zeigen Machiavellis gute Kenntnis griechischer und römischer HistOriker. Er zitiert aus Diodor 39 , Sallust 4O, Curtius Rufus 41 und Cornelius Nepos~2. In ihrer Bedeutung für MachiaveUis Denken werden aUe diese HistOriker aber übertroffen durch die besondere Rolle, die Tacitus in den Disrorri spieho. Machiavelli bedient sich des großen römischen Historikers, um die Vorzüge der Republik vor dem Prinzipat ins rechte Licht zu rucken. Ohne den Namen des Tacüus zu nennen, gibt er Disrorsi I, 2 einen ganzen Abschniu vom Beginn der Hisloritfl wieder. Es ist jener Abschniu, in dem Tacitus die Greuel und Schrecken der ersten Jahrzehnte des Prinzipats beklagt. Tacitus war ein Anhinger der Republik, der gleichwohl nicht wußte, wie man dem Prinzipat noch entgehen sollte. In dieser Ambivalenz hatte er die grausame Herrschaft des Domitian und die Tumuhe des Vierkaiserjahres scharf verurteilt. Der stoischen Opposition und den Selbstmorden des Seneca. des Thrasea Paetus und des Lucan haue er ein würdiges Andenken geschaffen. Machiavelli bedient sich des römischen Historikers noch einmal, als er im umfangreichsten Kapitel der Disrorsi, im Kapitel über Verschwörungen 44 , Tacitus' Darstellung der Pisonischen Verschwörung aufgreift. Auch spricht er dort, was bedeutsamer ist, vom "goldenen \Vort" des Tacitus. Damit meint er den Satz: ,,,er bete von Herzen um gute Regenten, finde sich aber mit jedem ab, wie er auch sei"'45. Im politischen Denken des 17. Jahrhunderts haben sich Machiavellismus und Tacitismus eng miteinander verbunden. Es gab einen Toritismo muo und einen To('ilismo ntro46 . Entsprechend der Ambivalenz des römischen Historikers, seiner Republiknostalgie und seiner Anerkennung des Prinzipats, wurde Taei· tuS sowohl rur die Gegnerschaft gegen den Absolutismus (facitismo rosso) als acch für dess~n Anerkennung (f2.citisIT!.o nero) in Al!spruch genoffiwen. Die jesuitischen Kritiker Machiavellis wie Botero, Ribadeneyra oder Mascardi kritisierten Machiavelli und Taeitus in einem Atemzug. Befurworrer der Staatsrai· sonlehrc wie C1apmarius empfahlen dagegen beide als Rechtfertiger einer Poli. tik des Scheins und der orrona imptrii. l\'lachiavelli und Tacitus gehen vereint in die Lehrbücher für Höflinge ein, etwa in Lorenzo Duccis Artt oulifo (1601) oder Etienne du Refuges Tmiti dt 10 (DUr (1616). Es waren Bücher, die den Höf· ling lehrten, wie er sich verstellen, heucheln und schmeicheln sollte, um am Hof Karriere ;.:u machen 47 •
39 Machi:wdli 1977: 11, Kap. 5. .ao Machia"dli 1977: 111, Kap. 6. 41 Machia"elli 1977: 11. Kap. 10. 42 Machia"elli 1977: I, Kap. 21; 11. Kap. 12; 11, Kap. 31. "3 Schellhase 1976: S. 65 ff. .... Machia\fdli 1977: 111, Kap. 6. ..s Tacitus 1984: IV, 8, 3. 46 Toffanin 1972. 47 Burke 1996: S. 141 ff.
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Geschichte
Machiavelli hatte den Fürsten vor den Schmeichlern zu warnen versucht, Er hatte die Humanisten und (natürlich auch sich selbst) als wahre Diener und Minister empfehlen wollen 411 • Was dem Fürsten gestattet wurde, im Notfall zu lügen, konnte bei der Beratung des Fürsten nicht sinnvoll sein. Hinter der Abfassung des Pn"napt stand der Wunsch Machiavellis, wieder in die Politik zurückzukehren. Dieser \Vunsch war so stark, daß er das ..Buch vom Fürsten" so verfaßte. als ob es die Republiken gar nicht gibe und sie einfach ausgeklammert werden könnten. Tacitus wiederum hane unter Dominan Karriere gemacht. Er harte in düsterer Zeit geschwiegen. Erst nach dem Tode Domitians hane er seine Republiknostalgie offen bekannt. In KapitellI, 10 der Diuor$i zitiert Machiavelli (wieder ohne ennung des Namens) das Wort des Tacirus von den "seltenen Zeiten", ..in denen es möglich ist, zu denken, was man wiU, und zu sagen, was man denkt"4'. Es drückt eine Erfahrung aus, die beide. den politischen Denker und den Historiker, wahrhaft miteinander verbunden hat.
III Was aJso ist neu im Denken Machiavellis? Nicht die berüchtigte Grundthese des Prinript, nicht die einzelnen Ratschläge an den Fürsten, nicht die Lehre von der Republik und von der Mischverfassung und vieles andere mehr. " eu" an seiner Lehre ist allenfalls der Dtnhtil. die Zuspitzung aller Fragen auf klare Alternativen (entweder dies oder das); es ist ein Denkstil, der zur Entscheidung und zur Handlung drängt. Immer wird eine klare Alternative benannt: Staaten sind entweder Republiken oder Fürstentümer, entweder ererbt oder neuerworben, entweder an Fürsten gewöhnt oder frei, erworben entweder durch l:irlN oder jorlNIIQ, durch Verbrechen oder die Gunst des Volkes usf. Immer wird durch das politische Denken eine Option herausgeschält und eine Entscheidung vorbereitet. Ein eigentümliches Gepräge erhalten die Begriffe Machiavellis des weiteren dadurch, daß der Florentiner 1500 Jahre Christentum im Rücken hat. Zwar möchte er diese Zeit wohl einfach überspringen. Aber es ist die historische Lage, welche die Begriffe Machiavellis farbt. Ein Satz wie das berühmte WOrt, "er liebe das Vaterland mehr als die Seele"so, könnte in der Antike so nicht geäußert werden. In der Antike war das Leben selbstverständlich in der Politik zentriert. Das WOrt Machiavellis setzt, auch wenn der Florentiner das Chri· stentum als eine politisch verderbliche Religion kritisiert, die mit dem Christentum gekommene Spannung von irdischem Glück und jenseitigem Heil, von irdischer und himmlischer Stadt voraus. Die Verschiebung der Interessen
MachiavelLi 1986: Kap. 22-23. Tacitus 1984: I, 1,4. so An Venori, 16. April 1527, in: Machiavelli 1925, S. 549.
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Oltmann, Was ist neu im Denken MachiavelJis?
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vom Jenseits zum Diesseits, von der Kirche zum Staat, von der Religion zur Politik ist bei MachiaveJli immer auch durch das bedingt, was er als Christentum und Mittelalter hinter sich bringen will. Der Umfang der Neuerungen im Denken Machiavellis ist freilich bescheiden, und gelegenilich sind ihm sogar die klassischen Wertungen wieder in die Quere geraten. Das beginnt schon bei der Feier der Republik und der Mischverfassung in den Di.uorsi, und es findet sich sogar im Pn"ncipt, wenn dort der Ruhm des Fürsten doch wieder von ehrenwerten Taten abhängig gemacht wird. Man könne, schreibt er über den Tyrannen Agathokles (317-289 v. Chr.): es nicht Tüchtigkeit nennen, seine Mitbürger umzubringen, seine Freunde zu verraten und ohne Treue und Religion zu sein; auf solche Weise kann man zwar Macht erw~rben, aber kdnen Ruhm sl .
Hier ist Machiavelli einmal nicht der Faszination der prächtigen Bestien wie Cesare Borgia erlegen. Vielmehr kehrt er, sei es gewollt, sei es ungewolJt, in den Hafen der Tradition zurück. Der Pn'nript hinterläßt beim Leser einen faden Nachgeschmack. Allzusehr ist der Autor bemüht, skandalös zu wirken und den Leser zu provozieren. Der angebliche "Realjsmus" ist nur ein Deckmantel für die Feier einer AUeinherr+ schaft, deren Unterschied zur alten Tyrannis allein darin besteht, daß der Begriff der Tyrannis entfallen ist und der neue Fürst über kein kritisches Gegenbild mehr verfügt. Am Maßstab des Erfolges gemessen, der nun an die Stelle des traditionellen Kriteriums der guten Herrschaft tritt, war Machiavellis Vorbild des neuen Fürsten, Cesare Borgia, ein Versager. Daß politisches Verb rechertum Erfolg hat, daran darf man heure genauso zweifeln wie in der Antike. Nichts ist instabiler als eine Tyrannis. Der bloße Anschein guter Herrschaft wirkt nur so lange, als er als Schein nicht durchschaut wird. Machiavelli bedarf, um seine Politik schlüssig zu begründen, der Theorie einer immer korrupten und nicht lernfähigen r.'lenge. Aber auch diese Annahme hält der Florentiner nicht konsequent durch. Sie verträgt sich mit seiner Lehre von der Republik nicht. Eine solche bedarf nicht nur der virlu eines Gründers, sondern der virlu der Bürger selbst. So kann es denn auch einmal heißen, das Volk sei "weiser und beständiger als ein Alleinherrscher"s2. Jedenfalls genügt es, daß ein Volk soviel Einsicht besitzt, Schein und Sein unterscheiden zu können. Dann dürfte es langfristig durch eine Politik der Täuschung nicht zu beherrschen sein.
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Machiavelli 1986: Kap. 8. Machiavelli 1977: I, Kap. 58; I, Kap. 41.
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Geschichte
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Theo Verbeek
"Göttliche Verwaltung" Spinoza über Demokratie und Theokratie
Wie bekannt, hört Spinozas Politischer Traktat gleich nach Beginn des Hallptstücks über die Demokratie auf, ohne daß einem klar wird, was Spinoza von djeser Verfassungsart denkt. Ob das anders wäre, wenn Spinoza seine Schrift vollendet hätte, mag dahingestellt bleiben; handelt es sich doch beim Politüchtn Traktat um eine wissenschaftliche und weniger um eine wertende, evaluative Diskussion. Aber auch im Theologisch-politischm Traktat bleibt es im ganzen unklar, in welchem Sinne man Spinozas Beurteilung der Demokratie verstehen soll. Dennoch findet man häufig dje Idee vorgetragen, Spinoza sehe die Demokratie als wünschenswert und möglich an und glaube, daß - wenngleich sie jetzt nicht realistisch sei - die Menschheit eines Tages einen solchen Fortschritt gemacht haben werde, daß auch eine demokratische Verfassung möglich sei. 1 Es gibt freilich nichts, das diese Auffassung belegt. Nicht nur findet man bei Spinoza überhaupt keine allgemeine Verteidigung der Demokratie, auch hat er keine Philosophie der Geschichte, die sie als Zukunftserwartung legitimiert - ganz im Gegenteil scheint seine Geschichtsauffassung durch und durch pessimistisch zu sein. Das hjstOrisch-komextuelle Argument dagegen, die Provinz Holland sei für Spinoza ein konkretes, "demokratisches" Ideal gewesen belegt durch sein Lob für die Amsterdamer Stadtverwaltung2 - ist wohl kaum geeignet, eine solche Vermutung zu legitimieren. Zwar wurde in den meisten niederländischen Städten ..das Volk" irgendwie politisch vertreten, aber Amsterdam wurde ausnahmsweise seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts vönig aristokratisch verwaltet, ohne daß "das Volk" irgendwelchen Zugang zur Regierung hatte.} Wichtiger jedoch ist dje Tatsache, daß die Verfassung Hollands -
Alexandre ~h.theron, Jndividll tl (O",,,,lInallll (hez Spinoza, Paris 1969; den., Lt ehn"JI tt /e Ja/1I1 du ignorantJ (hez SpinoZa, Paris: Aubier-Monlaigne, 1971; Jonathan Isud, Rodi(al En/ighttn",tnt, Oxford 2OOl. 2 TIP, xx, Gebhardt 111, S. 245-246. Spinon wird zitiert in der kJassischen Herausgabe von earl G. Gebhardt (5 Bde., Heidelberg 1925-1987). 3 Cf. Roben Fruin, "Bijdrage tot de geschiedenis van het burgemeesterschap van Amsterdam tijdens de Republiek", in: De tiji va" Dt lf/i" m Willem IJJ: Hi!lorlJ(ht opJltllm I, Den Haag 1929, S. 70-107. I
Verbeek, ..Göttliche Verwaltung"
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hier als eine der sieben Provinzen zu verstehen - von Spinoza selber als arisw· kratisch interpretiert wird. 4 Dennoch machen es die wenigen Außerungen über Demokratie, die es bei Spinoza tatsächlich gibt, unmöglich, die Frage als völlig unbestimmbar zu übergehen. Zu diesen rechne ich den Anfang der zweiten Hälfte des TheologiIchpolitischen Traktats, wo Spinoza ausführt, daß er besonders die Demokratie als Gegenstand nehme, weil sie unserer "natürlichen Freiheit" am nächsten stehe.) "Natürliche Freiheit" ist allerdings ein doppelsinniger Ausdruck. Denn tatsächlich wäre eine Freiheit, die nur "natürlich" ist und nicht von der Vernunft vermittelt, etwas Erschreckendes. Befremdender noch ist die Behauptung, daß das wichtigste Thema des Theologisch-politischen Traktats eben die DemoKratie sei, denn tatsächlich ist die einzige Verfassung, die eingehend besprochen wird, die Theokratie, von der allgemein angenommen wird, daß Spinoza sie zu· rückweist. Aber soll das nicht vielmehr heißen, daß TheoKratie für Spinoza eine An Demokratie ist und damit daß Demokratie zu einer überwundenen Vergangenheit gehört? Das ist die Frage, die ich mir in diesem Beitrag stellen werde. Letzten Endes verteidige ich dabei eine dreifache These: 1) Für Spinoza ist die Theokratie das einzig realistische Modell einer "demokratischen" bzw. "republikanischen" Verfassung; 2) eine Religion kann nur dann politisch-theokratisch umgesetzt werden, wenn sie gewissen Bedjngungen genügt; 3) weil das Christentum diesen Bedingungen nicht genügt, sei die Theokratie - und damit die Demokratie - nicht länger möglich.
I Eines der wichtigsten Konzepte, die im Theologisch-politischen Traktat verwendet werden, ist dasjenige des "Willen Gottes" - "Konzept" freilich im alltäglichen Sinne verstanden, weil ein "Wille Gones" überhaupt nicht vom Verstand gedacht, sondern lediglich von der Einbildungskraft vorgestellt werden und deshalb auch nicht bestehen kann. Der Wille Gottes ist am besten als metaphorischer Ausdruck der von Kausalität, Uniformität und InteUigibilität geprägten Regel zu verstehen, wonach die Dinge sich ändern. Die Kausalüät eines Gesetzgebers aber, die ja von den Affekten und Vorstellungen seiner Untertanen vermittelt ist, wäre einem Wesen, in dem Wollen und Denken identisch sind, völlig fremd. 6 Das ist die These, nicht nur der Ethik, sondern auch des 4. Kapitels des TheologiIrh-politiIehen Traktats. Dennoch spielt die Vorstellung eines gesetzgebenden Gottes im Theologisch-politischen Traktat eine wichtige Rolle, einer-
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TP, IX. § 14. Der Unterschied zwischen .. Hollandus" (Holländer) und .. Belga" (Niederländer) wird öflers übersehen, ist aber für den Zeitgenossen überaus wichtig. 5 TTP, x\'i, Gebhardt 111, S. 195. 6 Für eine ausführlichere Diskussion verweise ich auf meine Arbeit Spinozo's Theologiro· politiral Treatist: Explorin!, "thf 117ill of God". Landon 2003.
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Geschichte
seits weil Spinoza sie für die allein wesentliche Vorstellung jeder Offenbarungsreligion ansieht, andererseits weil er den Souverän als den einzigen Vertreter des "WiIJen Gottes" betrachtet. Jede Offenbarungsreligion wäre also nur relevant, insoweit sie ein göttliches Gebot enthält; die von Gott auferlegten Pflichten hingegen seien nur in einem politischen Kontext gültig und nur insoweit sie vom Souverän sanktioniert werden. Es ist gegen diesen Hintergrund, daß die Konzepte von "Theokratie" und "Demokratie" ihren paradoxen Sinn erhalten. Denn wenn der Wille Gottes nur von einem jrdjschen Souverän vermiueh werden kann und wenn es ohne eine solche Vermittlung keine Pflichten geben kann, dann sind Theokratie und Demokratie Anomalien. Wenn "theokratisch" jede Verwaltung ist, in der Gon der Souverän ist, dann wird er nkht spezifisch vertreten - das Volk wäre also für seine Gesetzgebung auf sich selbst angewiesen. Wenn dagegen "demokratisch" jede VerfassllOg !st, in der das Volk der Souverän ist, dann gibt es außer dem Volk überhaupt keinen irdjschen Vertreter des Willens Gones - das Volk wäre also abermals auf sich selbst angewiesen. Allerdings ist dies eine tendenziöse Auffassung von Theokratie - gibt es doch Theokratien, in denen "der Wille Gones" hauptsächlich von Propheten und Priestern (oder Mullahs und Ayarollas) vertreten wird. Eine nähere Betrachtung lehrt aber, daß Spinoza solche Verfassungen überhaupt nicht "theokratisch" genannt hat. 1m Tbeologi1Cb-politi1Chen Traklal findet man zwei Analysen der jüdischen Theokratie, die erste im 5. Kapitel, die zweite im 17. und 18. Kapitel. Was sie gemeinsam haben, ist die Idee, daß der Auszug aus Ägypten die Juden in den Naturzustand zurückversetzte, daß jedermann also aufs neue überlegen mußte, ob er sein Recht über alles behalte oder aber es andern übergebeJ Die Juden aber entschlossen sich, "ihr Recht, nkht einem sterblichen Menschen, sondern Gon allein zu übertragen". 8 Gon wat ihr Souvetän - die RaUe des Mose war bestenfalls die eines geistigen Beraters. Man stiftete also eine Theokratie. Spinoza stipuliert aber, daß djes "demokratisch" geschah, das heißt auf Grund eines Vertrags, der freiwillig von aUen unterschrieben wurde. 9 In Wirklichkeit aber war, im Worte Spinozas, die Souveränität Gones "nur Sache der Meinung, denn faktisch behielten dje Juden völlig ihr souvcränes Recht" - selbst· verständlich, möchten wir einwenden, denn tatsächlich gibt es nach Spinoza keincn Gon-Gesetzgeber: "Wie in ciner Demokratic, übergaben sie alle ihr Recht im gleichen Maße, und schrien wie mit einer Stimme: ,Alles was der Herr redet, wcrden wir tun', ohne sich um einen Vermittler zu kümmern." Alle hät-
7 TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 205; cf. v, Gehhardt 111, S. 74-75. In Ägypten waren die Juden an das Gesetz Pharaos gebunden, soweit dieses nicht dem natürlichen göttlichen Gesetz entgegengesetzt war (TTP v, Gebhardt 111, 72), das heißt soweit sie ohnmächtig waren, dem Gesetze Pharaos zu widerstehen. 8 TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 205-206. 9 TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 206, verweisend nach 2. Mose 19: S. 4-5. Die Bibelzitate sind der revidierten Lutherübersetzung entnommen.
Verbeek, "Görtliche Verwaltung"
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ten "im gleichen Maße Teil an die Verwaltung des Staares".IO Das "theokratische" Prinzip wäre also eine kollektive Fiktion, die eine "demokratische" Verfassung verhüllt. Es ist um so wichtiger, dies zu betonen, als Spinozas Vorstellung im 2. Buch Mose (Exodus) kaum belegt werden kann. Nicht nur ist dort, selbstverständlich, von der Subjektivität der theokratischen Vorstellung überhaupt keine Rede; auch die Rolle des Mose wird anders eingeschätzt. Er "setzte sich um dem Volk Recht zu sprechen" (2. Mose 18:13) und lehne dem Volk "die Satzungen Gottes und seine Weisungen" (2. Mose 18:16); er schlug einen Bund vor (2. Mose 19:3-6) und teilte Gott die Antwort des Volkes mit (2. Mose 19:8) - seine Rolle war also die eines Vermittlers, das heißt eines Souveräns. Auch der Unterschied zu Spinozas Version im 5. Kapitel soll in Betracht gezogen werden. Dort heißt es einfach, daß es "Mose leicht war die Souveränität zu behalten"ll - also wäre er von Anfang an Souverän und bliebe es auch. Die Vermutung Hegt daher nahe, daß es im t 7. Kapitel genau um den "demokratischen" Aspekt djeses Verfahrens geht - und dann ist es nicht ohne Bedeutung, daß das "demokratische" Experiment nur kurz gedauert hat. Denn wenn Gott die Juden zu sich rief, "flohen sie und blieben in der Ferne stehen" (2. Mose 20: 18); und sie baten Mose, in ihrem Namen mit Gott zu sprechen: "Laßt Gott nicht mit uns reden, wir könnten sonst sterben" (2. Mose 20: 19). 12 Nach Spinoza heißt das, daß Mose Souverän wurde, denn "nur er hatte fouan das Recht, Gott zu befragen, die Antwort Gottes dem Volke mitzuteilen und das Volk zu Gehorsam zu zwingen".I) Anders also als bei Hobbes genügt die Tatsache, daß Mose Prophet war, nicht, um diese neue Verfassung "Theokratie" zu nennen. Ganz im Gegenteil handle e:; :;ich um eine absolute Monarchie, denn "was sie jetzt versprachen, war nicht, wie erst, alJes zu tun, was Gott ihnen sagen würde, aber was Gau Most sage". 14 Nach dem Tode Mose änderte sich alJes abermals: "Das Recht, die Gesetze zu interpretieren und die Antwort Gottes dem Volke mitzuteilen, gehörte Einem; und das Recht den Staat nach dem Gesetz zu verwalten einem Anderen" .1> Das Resultat ist theokratisch: "dies war weder Demokratie, noch Aristokratie, noch Monarchie, sondern Theokr3tie".16 Dafür gibt es nach Spinoza folgende Gründe: 1) ein Tempel soll gebaut werden, wie ein Palast für den Souverän; 2) der Hohe Priester ist Interpret des Gesetzes; 3) das Land wird aufgeteilt zwischen den Stämmen Israels; 4) Josua erhält das Recht, Gott zu
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TIP, xvii, Gebhardt 111, $.206; siehe 2. Mase 19.8. TIP, v, Gebhardt 111,75; siehe Letiathon, xxxvi (Hobbes, English Works, ed. Moles+ worth, 111, $. 421-422). TIP, xvii, Gcbhardt 111, S. 206-207. TrP, xvii, Gebhardt 111, $. 207. TIP, xvii, Gebhardl 111, $. 207 (vcrweisend nach 5. Mose 5:22 and 18:15-16). TIP, xvii, Gebhardl 111, $. 208. TrP, xvii, Gcbhardt 11I. S. 208; cf. 111,211.
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Geschichte
befragen; 5) endlich sollen alle Männer zwischen zwanzig und sechzig Waffen tragen und Treue schwören, nicht ihrem Hauptmann oder dem Priester, sondern GouY Was macht diese Verfassung theokratischer als die Regierung von Mose? Nicht der Tempel und der Eid der Soldaten, denn gleiches könnte man sich leicht unter Mose vorstellen. Außer der Teilung des Landes ist das einzig Neue die Tatsache, daß d.ie weltliche und die geistige Macht auf zwei Instanzen verteilt sind, die aber, weil heide unter dem göttlichen Gesetz stehen, aufeinander angewiesen sind. 18 Der Staat ist also nie Gesetzgeber, sondern allein Dic+ oer des einmal gegebenen Gesetzes. Andrerseits kann auch keiner das Gesetz usurpieren, weil der Staat von einem delikaten Spiel von cbuk! ond bolonct! gekennzeichnet ist. Spinozas Vorstellung hat allerdings mythische Züge. Sein Haupuext ist ja 4. Mose 27:21: "Und er 00sua1 soll treten vor Eleazar, den Priester, der soll für ihn mit deo heiligen Losen den Herrn befragen. Nach dessen Befehl sollen aus- und einziehen er und alle Israeliten mit ihm und die gotnze Gemeinde."19 Hobbcs interpretiert diesen Text ..theokratisch" in dem Sinne, daß Josua dem Priester im strikten Sinne untergeordnet sei - Eleazar wäre also der eigentliche Verwalter (zwar im Namen Gottes, aber dasselbe gilt auch für Mose).20 Spinoza dagegen betont Josuas relative Unabhängigkeit. Josua sei "Fürst" (pn"ncepJ).2l Er habe das Recht, Gou zu befragen, Gehorsam zu erzwingen und Kriege zu führen - alles gemeinsam mit den Priestern und den anderen Fürsten, also nicht wie ein Souvcrän. Aber seinerseits könne der Hohe Priester GOtt nur dann befragen, wenn er dazu von der weltlichen Führung beauftragt wird - wie Josua war er also Dicner des Gesetzes. 22 Endlich habe die wirkliche Macht das Volk, Das ganze Volk sollte jedes siebte Jahr zusammenkommen an einem gewissen Platz. um sich vom Priester über das Gesetz unterrichten zu lassen. Auch war jedermann verpflichtet, das Buch des Gesetzes andächtig zu lesen und wieder zu lesen (5. Mose 31:9, usw., und 6:7). Wenn die Fürsten also vom Volke respektiert werden wollten, dann mußlen sie, in ihrem eigenen Inu:resse, regieren nach dem Gesetz, das ja jedermann kannte. 23 Das Volk wäre sich selbst sein Gesetz - und sei es nur, weil es in Freiheit den göttlichen Willen als Gesetz umarmt hatte. Auch diese Verfassung mutet daher
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TIP, xvii, Gebhardl 11I, S. 208-209. Die Teilung des Landes erzeugte eine föderale Struktur, die "theokratisch" sei, da ein Bund keiner höheren irdischen Macht unterworfen ist (es ist nur in dieser Hinsicht, daß die Niederlande als Ganzes ftir Spinoza eine "Theokratie" waren). TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 208. LtI:iathnn, 111, xl (English Warks 111, S. 468-469). Adn. in TIP, xxxvii, Gebhardt 11I, S. 265. TIP, xvii, Gebhardt 11I, S. 209. Für diese Behauptung, die für die Imerpretation der Verfassung ungeheuer wichtig ist, linde ich keinen biblischen Beleg. TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 212.
Verbeek, "Göttliche Verwaltung"
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"demokratisch" an, besonders weil aUe gleich waren unter dem Gesetz. Und tatsächlich, wenn Spinoza später auf die Episode der "Richter" verweist, spricht er davon als von einer, "in det das Volk regiere"?' Spinoza sieht diese Episode also als ein zweites demokratisches Experiment, das aber, anders als das erste, für einige Zeit wenigstens gelingt, nicht nur weil es jetzt ein geschriebenes und unveränderliches Gesetz gibt (denn das macht es für das Volk unnötig, sich selbst ein Gesetz zu geben), sondern auch weil es eine Teilung der Mächte gibt (denn sie macht es unmöglich, das Gesetz zu IISNrpienn). Theokratie wäre also eine An republikanisch+konstitutioneller Verfassung, die grundsätzlich "demokratisch" wäre, weil sie sich auf Freiheit und Gleichheit stützt.
II Die posltlve Beziehung zwischen Theokratie und Demokratie soll dennoch nicht übertrieben werden. Denn nach Spinoza ist in jeder Verfassung das Volk faktisch die mächtigste Instanz. Schließlich sei ja das Recht des Souveräns (iNS SI/"'I/Iot POfUfofis) nichts anderes als "natürliches Recht, wie es von der Macht, nicht eines jeden Individuums, aber der Menge des Volkes, einguchriinkf wird".2s Das Paradoxon jeder Staatsbildung ist ja, daß der Staat nur zustande kommen kann, wenn das Volk sich dem Willen eines Mächtigeren unterwirft, aber daß diese Unterwerfung an sich eine Einheit erzeugt, die dem Volk mehr Macht gibt als dem Souverän. Keine Regierung kann also völlig absolut sein wenn das Volk die ~hcht eines Souveräns nicht länger fürchtet (weil es seine Freiheit, se;ne Religicn oder seine 2.lten Sitten für wichtiger häl~), dann hat er keine. 26 Die Begrenzung der souveränen Macht wird nur in der "Demokratie" aufgehoben, da in ihr das Volk selber Souverän ist. Sie wäre also die einzige "völlig absolutc" (omnino oIHOINIn) Verfassung. 27 Angenommen, daß Spinoza diese MaximaJisicrung von Macht für wünschenswert (oder "natürlich'') hält (weil gegründet im \'(fesen "Goltes"), dann wäre die einzige wichtige Frage, ob eine "demokratische" Verfassung auch möglich sei. Das scheint tatsächlich der Fall zu sein: Ohne das natürliche Recht zu vereinbaren, ist es möglich eine Gemeinschaft zu formen und einen Venrag in guter Treue zu behahen, wenn nur jedermann alle seine Macht der Gemeinschaft übertrage, die also als einzige das souveräne natürliche Recht über alles behalte 1.../ Ein solches Recht der Gemeinschaft wird ,Demokratie' genanOl, die man also definiere als eine einheitliche Versammlung von Menschen, die gemeinsam das souveräne Rechl besitzen über alles, das in ihrer Macht sei. 28 TfP, xviii, Gebhardt JII. S. 224. 2$ TP, iii, p. U TIP, xvii, Ge-bhardt 111, S. 202. Es fallt schwer, hier nicht an ~bchiaveJli zu denken (Principt, Kap. 19; DiJ(Orsi, 111, $. 6). 27 TP,viii.§3. 28 TIP, xvi, Gebhardt 111, S. 193. 24
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Demokratie ware also möglich in der Gestalt eines freiwillig eingegangenen Vertrags - und weil dieser eine Möglichkeit der Narur ist (sie wird ja auch pdvatrechdich realisiert), wäre also auch die Demokratie prinzipiell rnöglich. 29 Aber das scheint zu implizieren, daß jedes im Namen eines solchen Kollektivs ausgeübte Recht prinzipiell "demokratisch" wäre, ungeachtet der Frage, ob das Kollektiv .,demokrat.isch", "aristokratisch" oder sogar "tyrannisch" verwaltet wird. Daß es hier ein Problem gibt, wird deutlich, wenn man die relevanten Passagen des Politüchm Traktais hinzuzieht. Nicht nur hejßt es don, daß "Demokratie" diejenige Verfassung ist, worin aUe tatsächlich regimn. Zudem wird die Übenragung individuelJer Rechte, die nach der Definition des ThtologiJclJ.poliliJdJtn TraklalJ schon konstitutiv für die "Demokratie" wäre, als vorangehend an die eigentliche Verfassungswahl vorgestellt - zuerst kommt das Gemeinwesen zustande, dann überlegt man sich, in welcher \'(leise man verwaltet wird. JO Wäre also, wie im Theologisch-politischen Traktat, "Demokratie" jede Ausübung kollektiver Rechte, dann wäre jede Regierung "demokratisch". Das scheint auch wirklich die Idee Spinozas zu sein: Hätten sie [das Volk, die Bürger] irgendwelches Recht fur sich selbst behalten wollen, dann hätten sie dazu auch das Nötige tun sollen. Aber weil solches nicht möglich ist ohne die Teilung, und deswegen die Vernichtung, des Staates, unterwarfen sie sich völlig dem Willen des Souveräns. 31 Spinozas Auffassung ist also, daß, weil iedc nicht-demokratische (monarchische oder aristokratische) Regierung sich nur dann in Frieden und Einheit bewähre, wenn dem Volke möglkhst viel Freiheit gelassen wird, jede Verfassung faktisch "demokratisch" ist. Wahrscheinlich gibt es hier eine polemische Spitze entweder gegen Hobbes oder gegen Verteidiger der Demokratie, wie Franc;ois van den Enden (1602_1674).32 Das hieße aber, daß die Frage für Spinoza nicht lautet, ob Demokratie wünschenswert oder möglich ist, sondern ob Friede und Einheit in einer Demokratie leichter gefahrdet werden als in einer Monarchie und Aristokratie.
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JO 31 32
t'tbnche lesen hier eine Verteidigung der Vcnragstheorie (und sehen darin einen "(liderspruch mit dem PotitiJ(hen Traktat). Das scheim mir unzutreffend, nicht nur weil in diesem Passus nichts mehr als die prinzipielle Möglichkeit eines Vertrags angesprochen wird, sondern auch weil die Verbindlichkeit des Vertrags. wenn es eine solche gibt, nicht auf dem Vertrag als solchem, wohl aber auf dem Imeresse beruht, das die Kontraktanten daran haben, am Vertrag festzuhahen. TP, ii. § 13-17; cf. Eth. IV, prop. 35, cor. 1-2. Für die Definition von "Demokratie" siehe TP. xi, § 1. TIP, xvi. Gebhard[ 111, S. 193. Über Van den Enden siehe ie[zt Israel, Rodifol Enlightennltnt. S. 175-184.
Verbeek, "Göttliche Verwaltung"
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III Nach Spinoza ist dcr Zweck des Staates, den ,,\Vahnsinn der Lust zu vermeiden und die Menschen innerhalb der Grenzen der Vernunft zu behalten".33 Dies soll natürlich nur im kollektiven Sinne verstanden werden - Zweck des Staates sei es nicht, aus jedermann einen Philosophen zu machen, sondern eine Umwelt zu schaffen, in der die meisten "vernünftig" handeln (das heißt in Frieden zusammen leben). Zunächst soll diese praktische "Vernünftigkeit" wesemlkh unvernünftige Motive haben und allein von dcr Macht des Souveräns (bzw. der Furcht der Untertanen) abhängen. Jot Macht und Furcht allein genügen aber njemals. Im Gegenteil, die Leute gehorchen am besten, wenn sie die Idee haben, "frei" zu sein. JS Diese Idee vermag nur subjektiv zu sein - einzig wichtig sei, daß die Regel, die sich jeder "freiwiHig" als Norm auferlegt, auf dasselbe abzielt: nämljch auf Friede und Einheit. Das Beispiel der Juden zeigt, wie wichtig in dieser Hinsicht die Reljgion sein kann. Denn Mose gab seinem Volke eine Religion, damit es seine Pflicht nicht nur aus Furcht, sondern aus Zuneigung (dttlOlio) erfüllt. 36 Zwar gründet devotio auf Einbildungskraft, kann also nie wahre Freiheit erzeugen, macht aber den Menschen weniger abhängigY Jemand, der seine Pflicht aus Liebe zu Gon tut, wäre aJso "freier" als jemand, der dasselbe aus Furcht tut. Endlich, da man nicht annehmen kann, daß eines Tages alle r\'lenschen vernünftig sein werden - jedenfalls gibt es bei Spinoza nicht den geringsten Hinweis darauf -, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß Demokratie als sich auf Freiheit und Gleichheit stützende Verfassung nur in ihrer "theokratischen" Gestalt prinzipiell bestehen kann. Das macht die Frage, warum ;heokra~je nicht länger möglich sei (wie Spirioza versichert), übera;.as wichtlg.
IV Am Anfang des 18. Kapitels des TbeologiJ(lJ.politisrlJen Traktats behauptet Spinoza, daß tJI/ sielJ die theokratische Verfassung der Juden dauerhaft hätte fortbestehen können J8 - Ursache ihres Untergangs wäre also nicht das theokratische Prinzip als solches, sondcrn entweder die konkrcte \X!cise, wie es von Mose ausgearbeitet wurde, oder die historische Lage des Volkes Israels. ßeides
JJ J4
JS }6
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J.8
TTP, xvi, Gebhardllll, S. 194. TI'P, iii, Gebhardt 111,48; cf. TP, v, §2; Eth. IV, prop. 59, Gebhardt 11, S. 254-255. TP, x, §8; über die Asymmetrie von Furcht und Hoffnung siehe TTP, v, Gebhardt 111, S. 74. TTP. v, Gcbhardt 111,75; siehe auch 111, 77, 78; vi, Gebhardt IIl, 90; xii, Gebhardt 111, S. 146. Eth. 111, aff. def. 10, Gebhardt 11, S. 193. 'n'p, xviii, Gebhardt 111, S. 221.
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Geschichte
scheint der Fall zu sein. Denn einerseits betont Spinoza ausdrücklich die Tatsache, daß dje konstitutionelle Lage der Priester verfehlt sei (weil ihre Privi1cgi. co sie verhaßt machten); andrerseits führt er aus, daß Theokratie jetzt unmöglich sei. 39 Nicht allein sei sie nur für eine geschlossene Gesellschaft geeignet, sondern Gon hätte auch "durch seine Jünger" offenbart, daß "sein Vertrag nidit ist festgelegt auf steinernen Tafeln, aber vom Geist Goues in des Menschen Herzen geschrieben".40 Das Argument über die Priester ist komplex und kann dahingestellt bleiben - offensichtlich handelt es sich um einen Vcrfassungsfchler, der korrigiert werden könnte. Wichtiger sind die beiden anderen Argumente. Das erste ist leicht zu verstehen. Das Fundament einer Theokratie ist eine Offenbarungsre1igion, das heißt eine Erzeugung der Einbildungskraft. Und da diese veränderlich ist, könne die Religion nur in ihrer Reinheit erhalten werden, wenn die Gläubigen nicht fortwährend fremden Vo'Csrellur'lgen au~geset7.t sind. Der zweite Grund aber bezieht sich auf die Natur des Christentums, dabei handelt es sich um eine Anspielung auf den Zwtiten Korintberbritj: Ihr seid unser Brief in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von aUen Menschen. Ist doch offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Time, sondern mit dem Geist des lebendigen Goues, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herun. (2 Kor. 3:2-3).
Was man mit diesem Text hier machen kann - Spinoza zitiert ihn auch um die Idee eines Kanons zurückzuweisen 4l -, läßt sich wahrscheinlich auf zwei oder drei Punkte reduzieren: 1) das Won des christlichen Gottes ("Liebet euch') hat nicht die Form eines Gmtzu (es ist nicht auf steinerne Tafeln geschrieben), sondern es ist ein sentimentalülhu Prinzip (aber im Herzen); 2) es beansprucht universale Gültigkeit (es wird von allen Men1Chen gelesen) oder aber 3) es ist an sich irrelevant (es wird von aUen schon gekonnt). A.lso, zum erSten, wäre der Wille des christlichen Gottes kein Gesetz (im Sinne eines Handlungsgebors), sondern ein Gesinnungsgebot. 42 Um Gesetz zu werden, muß man es "interpretieren", und dafür braucht man einen irdischen Souverän, den es in einer Theokratie grundsätzlich nkht gibt. Eine christliche Theokratie wäre demnach eine Verfassung ohne Gesetz. Dann gälte Gones Wille für alle Menschen, oder aber er wäre an sich trivial - jedenfalls könnte GOtt demnach nicht Souverän einer spezifischen Nation sein. Eine christliche Theokratie wäre somit undenk~ bar.
39 TTP. xvii, Gebhudt 111, S. 218. ~ TTP, xviii, Gebhardt 111, S. 221. 41 TTP, xii, Gebhardt III, S. 162. 42 Spinozas Argument scheint dasselbe zu sein wie Kant.s; cf. Grundltgul/g zur Mttaphyile der Sillen, Akademie-Ausgabe, IV, S. 399; Kdfile der praletiSlhen Vernunft, V, S. 83-84; Religiol/ il/nerhalb der Grel/zen der rtinen Vernunft, VI, S. 182.
Verbeek, ..Göttliche Verwaltung"
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Macht das Christentum auch die Demokratie unmöglich? Vom Standpunkt Spinozas scheint dies allerdings der Fall zu sein, da das Christentum eine theo~ logische und sektarische Religion ist - "theologisch", weil sie nicht aus Handlungsvorschriften, sondern aus theoretischen Sätzen besteht, für die Wahrheit beansprucht wird; "sektarisch", weil ihre "Dokumente" (die Heilige Schrift) unzählige Interpretationen zulassen. Eine demokratische Verfassung würde also gewiß zur Diktatur einer der christlichen Sekten führen. 43
v Spinoza zeigt also das Folgende: Falls es für das Fortbestehen des Staates notwendig ist, daß die Bürger das Gemeinwesen als höchstes Ziel ihres Handeins wählen, dann müßten sie sich entweder einem starken Souverän unterwerfen, oder aber sehr spezifische Handlungsmaximen miteinander teilen. Das letztere konnte Spinoza sich nur in Form einer nationalen Religion vorstellen - der Gedanke Rousseaus, das Gemeinwesen könne als solches Gegenstand leidenschaftl.icher - quasi reljgiöscr - Gefühle sein, ist ihm noch fremd. Eine Demokratie wäre also unmöglich und ein starker Souverän notwendig. Die Tatsache, daß wir heute einerseits demokratisch regiert werden, ohne eine gemeinschaftliche Religion zu haben, während andererseits der Rousseausche Nationalismus seine Glaubwürdigkeit völ.lig eingebüßt hat, könnte der wichtigste Grund sein, dieses Problem bei Spinoza zu studieren.
4}
J\hn möchte an England (Cromwell) oder auch an Florenz (Savonarola) denken.
II Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Ton \'an den Beld
Der Philosoph Masaryk: Zwischen Liberalismus und Kommunitarismus 1. Einleitung Kürzlich stellte der tschechische Präsiden! Väclav Havel einen treffenden Ver· gleich an. Er verglich das Schicksal der intellektuellen Erbschaft des Philosophen und ersten, großen Präsidenten der Tschechoslowakei, Thomas G. MasaTyk (1850-1937), mit dem wechselhaften Schicksal seiner Statuen. I Zu Zeiten von f\lasar}'ks Tod konnte man sie im ganzen Land antreffen. Während der Besetzung dt.!rch die Nazis ab September 1938 versch'vanden dil'" Statuen au!': dem Blickfeld, um einige Jahre später, nach der deutschen Niederlage, wieder zu erscheinen. Die kommunjstische Machtergreifung im Jahre 1948 brachte eine weitere Veränderung. Ich kann mich nicht erinnern, während meines Studiums in Prag (1963--1964) irgendeine Masaryk-Statue gesehen zu haben, weder inncrhalb noch außerhalb der Goldenen Stadt. Das einzige was ich gesehen habe, war ein Sockel in der Stadt meiner Freundin, von dem man sagte, daß er zu besseren Zeiten eine Statuc Masaryks getragen habc. Der Prager Frühling (1968) war zu kurz, um daran viel zu ändern. Erst nach der friedlichen Revolution von 1989 erschien f\'lllsar}'k wieder auf tschechischen Straßen und Plätzen. Die öffentliche Achtung und auch die Zugänglichkeit von Masar)'ks Ideenreichtum unterlag vergleichbaren Schwankungen. Obgleich die Flut seiner eigenen Veröffentlichungen nach seiner Wahl zum Präsidenten (1918) langsam verebbte, entstand eine Vielzahl von Studien über sein imellekrueUes Werk. 2 Je-
2
In sdn~m VON'Ort \"on AI:ain Soubigous großartig~r Biogr:aphie \'00 Masar)'k, Tho· IWas MasaryJ!.. Paris, 2002. Sieh~:t. ß. Masaryks ßibliographi~ in Teil IV von O. A. Funda. TINmfal Garril,lIr Malilryk. Still philolDphiJrhtl, rrligi;m IIl1d PDlitilfhrJ Dtdlll. ßero 1978. Bei der Gdegeoheil von Masar)'ks 80. G~buftstag wurde zum ßeispid ein~ F~slSchfift in z""'ei Bin-
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
doch änderte sich auch dieser Tendenz durch die deutsche Besetzung. Und wiederum wurde die Wiederbelebung von Masaryks Studien nach dem Krieg durch die politischen Ereignisse des Jahres 1948 unterbrochen. Als die Nachfolger von unin an der Macht waren, war es kaum zu erwarten, daß sie die Ideen des Mannes propagieren würden, den Lenin selbst als seinen wichtigsten ideologischen Gegner beschrieben hatte. 3 Zur Zeit der Kommunisten konnte man u'cder an tschechischen Univccsitiit'en noch In anderen öffentlichen BiblJotheken \'(lerke von oder über Masaryk finden," Als ich an meiner Dissertation über die politische und soziale Phjlosophie Masar)'ks arbeitereS, gelang es mir, mit der Direktorin der Pager Universitii.t'sbibljothek in Kontakt zu kommen. Im Vertrauen berichtete sie mir, daß die Masaryk-Kollektion nicht zerstört, sondern "nur" vor der Öffentlichkeit weggesperrt worden sei. All dies wurde anders nach der friedLichen Revolution. Außer dem ständigen Strom neu herausgegebe. ner und übersetzter Werke Masaryks 6 erschienen auch zahlreiche Studien über ihn, entweder Monographien, Sammelbände oder Aufsätze - oft in Folge von Konferenzen oder Kolloquien - oder auch Zeitschriftenartikel. Jetzt werde ich dieser Flut von Veröffentlichungen einen neuen Aufsatz hinzufügen. Ich weiß, daß Willem an meinem "Helden" inreressiert ist. "Ich sollte mehr über diesen Mann wissen", gestand er mir während einer Umerhal· tung nach meiner Rückkehr von einer Masaryk-Konferenz, die kürzlich in Paris stattfand. Es war daher nicht schwer fur mich, ein passendes Thema fur diese Festschrift zu finden. Alle Themen, die die Herausgeber der Festschrift mir antrugen, konnten mit Masaryk in Beziehung gebracht werden. So hat er - was PoHtik und Geschichte angeht - eine wichtige Rolle bei den Versuchen gespielt, Österreich-Ungarn zu reformieren und seit 1914 sogar zu revolutionie· ren. Dabei wirkte er sowohl als Philosoph wie auch als Politiker. Während des Ersten Weltkriegs reiste er von den Vereinigten Staaten nach Rußland - dessen Philosophie und Kultur er besser kannte als jeder andere ausländische Sachyerständige -, um für die Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Staates zu kämpfen. Er war in Moskau, als die bolschewistische Revolution ausbrach, und
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) 6
den veröffentlicht. Herausgeber war B. Jakowenko (Bonn, 1930). Darin erschienen Beiträge unter anderem von L. Brunnschvicg, $. Bulgakov, B. eroce. H. Driesch, J. L. Hromadka und N. Lossky. O. Odlo"filik (Hrsg.), 1: G. MOJoryA:. HiJ Liftmfd WorA:, New York 1960, $. 4. Lenins Ansicht dürfte den Kenner von Muaryks großen Werken nicht überraschen: Dir phiIOJDphiJ(ht1l Il1Id sD'{jolo,giJ(htfl Cnl1ldlo,g," dll MOfXiu1IIIS, Wien, 1899. und RJisslo"d lI11d ENropO. ZNr nl/liuhtll Cmhithts- Nlltl FJli,giollSphilosophit, 2 Bände, Jena 1913. Von ideologisch belasteten regimefreundlichen Autoren einmal abgesehen. wie efWa F. Ne~äseks DoA:N",rllrJ 11 pr"Otilidoti 0 protli1lör"Otl1Ii politiu T. C. A-IoJorylw (Doh",tntr iibtr T. G. MOJoryv PolitiA:l/U" Jos VolA: N1Id di, Notio1l), Prag 1953. M. Macho\'ecs T.",al C. MOJoryA: (Prag, 1968) Vo'at eine Ausnahme und bejubelte den kurzlebigen Prager Frühling im Jahre 1968. Antonie \'an den Beld, H.",o"i!J. Tht Politirol o"J StHiol Philosopb:! Ij TbtI",os C. MOJoryA:. Den Haag und Paris. 1975. Auf tschechisch: SpiV T. C. Mosoryu, Prag, Masaryk Institut.
van den Beld, Der Philosoph Masaryk
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arbeitete am Aufbau einer tschechoslowakischen Legion aus tschechischen und slowakischen Soldaten, die an der Ostfront aus der öSlerreichischen Armee desertiert und zu den Russen übergelaufen waren. Als Präsident der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik benutzte er sein Wissen über Rußland lind den Marxismus, das er ja aus erster Hand besaß, um - hinter den Kulissen - den reformgesinnten sozialdemokratischen Flügel der starken sozialistischen Bewegung in seinem Land im Kampf gegen die revolutionären Bolschewisten zu unterstützen. Zum Schluß sei darauf venviesen, daß Masaryk - als ein ausgesprochener Gegner des tschechischen und slowakischen nationalen Chauvinismus - sehr zufrieden war, als im Jahre 1926 Vertreter der deutschsprachigen Minderheitspaneien an der tschechoslowakischen Regierung teilnahmen. 7 In meinem Beitrag werde ich jedoch nur am Rande auf Geschichte und Polir.ik eingehen. Ich habe vielmehr vor, relativ Außenstehenden - so wie WiIlem van Reijen - ein Bild von Masaryks politischer und sozialer Philosophie zu vermitteln, deren Aktualität, wie wir - vielleicht zu unserer Überraschung sehen werden, nicht bestritten werden kann. Dies werde ich tun, indem ich versuche, die Frage zu beannvorten, wo Masaryk in der Kontroverse zwischen Liberalen und Kommunitaristen eingeordnet werden kann. Der Leser, der mit der Kontroverse vertraut ist, wird hier die Stirn runzeln, denn das Thema scheint anachronistisch und überholt zu sein. Obwohl die Diskussion jedoch erSt Jahre nach Masaryks Tod aktuell wurde, ist sie sehr hilfreich, um seine politischen und sozialen Gedanken zu veranschaulichen. Außerdem gibt es keinen Grund, diese Diskussion als beendet anzusehen. 8 Das Vorgehen, das ich wählen werde, ist einfach und besteht nur aus zwei Schritten. Erst werde ich einige wichtige Themen der Kontoverse zwischen Kommunitaristen und Liberalisten kurz beschreiben. Danach werde ich versuchen, unsere Hauptfrage zu beantworten, wo J\hsar)'k zwischen den konfligierenden Gruppen positioniert werden kann.
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2. Der Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen Um das komplexe Thema kurz, aber doch klar darstellen zu können, werde ich die kommunitaristische Kritik am modernen (anglo-amerikanischen) Liberatis1
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Für DClails über Masaryks Leben siehe die in Anmerkung 1 genanOle Biographie von A. Soubigou. i\bn könnte darauf etwa kommen durch P. Rijpkemas Sltllt J>ujtrfionism and Ptrsona/ FrudolN (Diss. Universität Amsterdam, 1995), wo er das Konzept eines kommuniraristischen Liberalismus einführt, S. 77 ff. Aber SOg,lr Rijpkema häh die Diskussion nicht für abgeschlossen. In bezug auf die Bedeutung dieser Debatte siehe (trotz eini+ ger Vorbehalte) auch D. f\'!ilIer, "Communitarianism: Left, Right and Center", in: ders., CiliZtnJhip {wd Nalion{l/fdenlity, Cambridge, 2001, S. 97-109.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mus in meinen Beitrag auf dessen hervorragenden Vertreter zuspitzen: John Jtawls. Außerdem werde ich mich auf dje Kritiken der Kommunitaristen I-IacInt}'re, Sande! und Taylor beschränken. 1 ur zwei Elemente aus Rawls' opus magnum, Eine Theode der Gerrrhligletit, werde ich auf diese Weise kritisch beleuchten. Das erste bezieht sich auf die anthropologischen Bedjngungen des Begriffs der Gerechtigkeit. Das zweite auf die Frage, ob die zwei Prinzipien der Gerechtigkeü akzeptabel sind. Die Wahl gende dieser heiden Themen Ist nicht zufalljg. Die Kritiken an beiden Punkten hängen miteinander zusammen, und außerdem ist es gerade das Bild, das sich überale (und Rawls) \'on der menschlichen Person machen, das die kommunüarischen Denker in ihrer .ntik an diesem Bild eint. 9
2.1 Kommunimristische Kritik an der liberalen Konzeption des menschlichen Subjekts Die Prinzipien der Gerechtigkeit in John Rawls' Theorie sind - wie wir wissen - Ergebnis eines Vertrags, den Menschen im sogenannten Urzustand hinter ei· nem Schleier des Nichtwissens geschlossen haben. 1o Obwohl diese Personen nicht in einer bestimmten Zeit situiert sind, sollen sie jeden von uns repräsentieren. Sie sind echte menschliche Subjekte, abzüglich einiger Merkmale. Sie sind zum Beispiel unwissend in bezug auf die Gesellschaft, der sie angehören, ihre gesellschaftliche und ökonomische Stellung, ihre Religion, ihr Geschlecht und ihre Hautfarbe. Sie kennen weder ihre besonderen Fähigkeiten und Behinderungen noch ihre Ziele, Werte und Lebenspläne. Einige basale \'('ene werden jedoch geteilt, zum Beispiel basale Freiheiten, Chancen, Einkommen, \,(/ohlstand und Selbstachtung. Außerdem sind sie rational, in dem Sinne, daß sie auf effektive Weise darüber diskutieren können, was sie wollen und wie sie das erreichen können. Sie haben kein besonderes Interesse aneinander, was jedoch nicht bedeutet, daß sie keinen Gerechtigkeitssinn besitzen, Die Informationen, über welche die Menschen im Urzustand \ferfügen, sind von allgemeiner Art. Sie kennen alle allgemeinen Tatsachen, die für die Wahl eines Prinzips der Gerechtigkeit von Bedeutung sind. Sie sind also vertraut mit allgemeinen Gesetzen und mit den Anwendungsverhältnissen, das bedeutet - kurz gesagt - die menschlichen Nöte unter Bedingungen von Knappheit und mangelndem AItruismus. 11 John Rawls macht sehr deutlich, daß seine Beschreibung des Urzu·
9 Siehe Miller, "Communilarianism", S. 101, .. Insofar as we clin describe (... ) communitarians liIS a group, whlilt uniles them are their 1••. 1 philosophical lIOIhropologies:' 10 Diese Prinzipien sind, um nur die wichtigslen zu nennen: Erstens sollte es gleiche Blisisfreiheiten für lilie geben, und zweitens sind nur die sozialen und ökonomischen ngleichheilen lIkzeplabel, die denjenigen GesellschaflSmilgliedern zugute kommen. die am schlechtesten geslellt sind. (D:u zweite iSI du sogenllnnte Differenzprinzip.) Siehe J. Kawis, Ei"t ThttJrit Jtr Ctrubtij,ktit. Frankfufl 2. M. 1975. S. 336-337. 11 Ibid., S. 14S-152, 159-174.
•
van den Beld, Der Philosoph Masaryk
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stanCls als eine Interpretation des Menschen als freies und rationales Wesen zu verstehen ist. "Diese unsere Natur kommt zur Geltung, wenn wir gemäß den Grundsätzen handeln, die wir wählen würden, wenn djese unsere Nawr sich in den Bedingungen der Entscheidung ausdrückt."12 Eine wichtige Kritik der Kommunitaristen richtet sich auf genau diese Beschreibung der Charakteristika der menschlichen Person hinter dem Schleier des Nichtwissens. Sie halten diese Beschreibung für eine Konstruktion, die essentielle Eigenschaften des echten menschlichen Subjekts ignoriert. Wenn die4 se essentiellen Eigenschaften nicht berücksichtigt werden, dann verlieren die Gerechtigkeitsprinzipien, die im Urzustand gewählt würden, viel von ihrer Glaubwürdigkeit. Es geht nicht so sehr darum, welche essentiellen Eigenschaften das repräsentative menschliche Subjekt hat, sondern welche ihm fehlen. Demnach ist es - gemäß Maclntyre - essentiell für ein menschliches Wesen, daß es am sozialen Leben teilnimmt und somit eine soziale Identität aufbaut; daß es Teil einer Gemeinschaft ist und somit in sich entwickelnden Traditionen eingebunden ist. Die Identität des Menschen wird im Grunde konstituien durch seine Lebensgeschichte, das heißt durch eine historische Erzählung, worin auch andere als die Person selbst - der Autor der Erzählung - auftreten. Diese Erzählung soll zur Einheit gebracht werden, welche den höchsten Wen im menschlichen Leben darstelh. 13 Sande I erachtet Rawls' sogenanntes "ungebundenes Selbst" für unrealistisch. Die menschl,iche Person ist gebunden, das heißt, sie hat Bindungen, die für sie bestimmend sind. Niemand kann sich selbst begreifen, ohne die eigenen Beziehungen und Bindungen an andere Personen und Institutionen zu berücksichtigen. 14 CharIes Taylor ist nicht weniger kritisch gegenüber der liberalen, "atqmistischen" Konzeption der menschlichen Person als Macintyre und San4 del. ls Aber für seine Kritik ist es typisch zu betonen, daß Güter und Werte für =in richtiges Versteh<;:n der menschlichen Person wichtig sind. Es ist irreführend, die Mcnschen im Urzustand als neutralc Indjvidllcn zu beschreiben, dercn ökonomische Rationalität sic in die Lage versctzt, aus cinem nicht besonders reichhaltigen Angebot von Werten zu wählen. Das Leben von echten Menschen ist von ihren grundsätzlichen Ansichten über die Werte des menschlichen Lebens stark beeinnußt. Die sogenannten Wette des Lebens können nicht einfach auf schlichte Vorlieben beschränkt werden. Es ist eher so, daß die Lebenswene sich erst vor dem Hintergrund einer Horizont konstitutiver Werte zeigen. Ein konstitutiver Wert - wie die Idee des Guten im PlatOnismus, GOtt im christlichen Denken oder (als eine mehr immanente Version) die Ver 4
11
IJ 14
IS
Ibid., S. 288. Siehe A. Maclntyre, Du Vtrlust du Tugtnd, Frankfurt a. t-.t 1987. insb. Kap. 15.
J.
SandeI, Lib,ralis!ll and tbt Limits oJ Justiet, Cambridge 1982, S. 177-183. C. Taylor. "Atomismus", in: B. van den Brink, W. van Reijen (Hrsg.), ßÜ'1,t'1,m/lschqft, Ruht lind Dt!llokmlit. Frankfurt a. M., 1995. S. 73-106. Siehe M.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
pflichtung durch fundamentale Menschenrechte - stellt eine QueUe der Moralität dar, deren Liebe es Menschen ermöglicht, gut zu sein und gm zu handein. 16 So erweist es sich, daß das gemeinsame Thema der kommunit3ristischen Kritik auf die liberale, Rawlssche Anthropologie und deren mangelhafte Beschreibung der menschlichen Person konzentriert ist. Diese Person - so die Kritik - werde ihrer essentiellen Eigenschaften beraubt. Wir werden gleich sehen, daß der Inhalt der Gerechtigkeitsprinzipien gefahrdet ist, sofern diese Kritik zutrifft.
2.2 Rawls' Gerechtigkeitsprinzipien: Kommunitaristische Kritik Wie schon im vorigen Abschnitt gesagt, verlieren die Gerechtigkeitsprinzipien viel von ihrer Glaubwürdigkeit, wenn die Personen hinter dem SchleIer des Nichtwissens so mangelhaft konzipiert werden, wie es bei Rawls geschieht. Diese Kritik wird im folgenden noch verstärkt werden. SandeI zufolge ist das Differenzprinzip (Rawls' zweites Prinzip) ein Prinzip des Teilens. Als ein solches muß es von einem moralischen Band zwischen denjenigen ausgehen, deren Besitz es verteilen und deren Anstrengungen es auf ein gemeinsames Vorhaben richten will. Ein solches, von vornherein bestehendes moralisches Band hat in der Theorie jedoch keinen Platz. Diejenigen, deren Schicksal ich teilen soU, sind - Rawls zufolge - scheinbar lediglich andere Menschen an Stelle von Mitmenschen, mit denen ich eine Lebensart teile und mit denen meine Identität verbunden ist. (Man erinnere sich daran, daß die Personen hinter dem Schleier des Nichtwissens kein besonderes Interesse aneinander haben.) Sandels Schlußfolgerung ist, daß das Differenzprinzip die gleiche Kritik hervorruft wie der Utilüarismus: "Sein mir gegenüber erhobener Anspruch ist [... J der. Anspruch eines zusammengeketteten KolJektivs, dessen Verwicklungen ich mich gegeniibersehe."17 Eine ,-weitere Kritik besteht darin, daß Gerechtigkeit eTWas mit Verdienst zu tun hat; wenn nicht der allgemeinen Auffassung nach dann jedenfalls einiger starker Denkrichtungen zu folge, wie zum Beispiel der des (Neo-)Aristotelismus. Rawls jedoch ersetzt diese grundlegende moralische Einsicht durch die moralisch schwächeren "legitimen Erwartungen". Dieses Ersetzen ist eine weitere Folge von Rawls' Verständnis der menschlichen Person als einem im Grunde ungebundenen Individuum. Eine Person kann allein aufgrund ihrer (moralischen) Eigenschaften keinen Anspruch auf besonderen Verdienst erheben. Diese Eigenschaften sind nämlich lediglich eine Folge von Glück oder
16 Siehe C. Taylor,QNel/tn duSelbn., Frankfurt a. t-.L, 1999, insb. Kap. 4. 17
M. J. SandeI, "Die \'crfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst", in: A. Honneth (Hrsg.), Ko",mNnilariJHlIu. Eine Veballt Nber dit moroliuhtn Grundlagen modtr-
ntr Cmlluhajlen, Frankfurt a. M. 1993. S. 29.
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Unglück. 18 Schließljch haben die Kommunitaristen auch Kritik an den Ansprüchen auf universelle Gültigkeit der liberalen Gerechtigkeitstheorien, von denen Rawls das hervorragende Beispiel abgibt. An diesem Punkt ist die Kritik nicht nur auf die Konzeption der Personen gerichtet, die nämlich in Wirklichkeit in bestimmte Gemeinschaften mit ihrer jeweils besonderen Geschichte eingebettet sind, sondern auch datauf, daß der liberalismus nicht mehr als eine intellektuelle Tradition neben vielen anderen darstellt. Es war Maclntyre, der darauf hingewiesen hat, daß Verständnisse von Gerechtigkeit an besondere Traditionen praktischer Rationalüät gebunden sind. 19 Soweit diese kurze Übersicht über die wichtigsten kommunitaristischen Kritikpunkte am Liberalismus (von Rawls). Bevor wir uns der Frage zuwenden, welche Position Masaryk zwischen den streitenden Parteien eingcnommen hätte, möchte ich kurz darauf hinweisen, daß Rawls in späteren Veröffentlichungen einige komm unitaristische Kritikpunkte berücksichtigt hat. Er hat zum Beispiel behaupter, daß die Gerechtigkeitsthcorie nicht von einer bestimmten Beschreibung der wesentlichen Natur der menschlichen Person abhängig ist. Er hat auch bestritten, von einer universalen Gültigkeit seiner Theorie ausgegangen zu sein. Sie ist von poHtischer und nicht von mctaphysischer Art. Und sie solle nur in westlichen, konstirutionelJen Demokratien zur Anwendung kommen. 20
3. Masaryk - eIn kommunitarischer Denker? Als ich in den frühen siebziger Jahren meine Dissertation über die soziale und politische Philosophie Masaryks geschrieben habe, waren Begriffe wie "nationale Identität", "Tradition", " Gemeinscha ft", "Patriotismus", "Brüderschaft", "Religion" und "Gou" in normativen, politischen Diskursen nicht geläufig. \'(fenn sie gebraucht wurden, hanen sie meistens einen negativen UntertOn. Seitdem hat sich viel verändert. Kommunitarische Denker haben viel zu diesen Veränderungen beigetragen. 21 Bedeutet dies, daß Masaryk, in dessen moralischen und politischen Überlegungen diese Begriffe eine wichtige Rolle spielten, als ein Kommunitarist avant la leure beschrieben werden kann?
Siehe Maclmyre, Vtr/usJ der Tugtrld; Sandcl, Libtrillism, S. 82-95. 19 Siehe A. Maclnt)'re, IPhoJt jus/iet, l17hich RiJ/iona!i(y, Landon 1988, S. 334-348. 20 Siehe J. Rawls, "Justice as Fairness: Political NO! J\lethaph)'sical", in: Philosophy and Puhlic rlffairs 14 (1985) S. 223-251. Cf. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfun a. M. 18
1998. 21
.
Außer der bereits angefühnen allgemeinen Literatur gibt es auch noch spezifischere Studien, zum Beispiel Mac1ntyres positive Diskussion über den Patriotismus (siehe ,.Ist Patriotismus eine Tugend?" in: Honneth, Kommuni/llr7smus) als Beleg für den komm unitaristischen Einnuß auf die Veränderungen.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
Wenn wir djese Frage beantwonen, müssen wir darauf achten, nicht einem ebenso schlichten wie falschen und völlig irreführenden Argument auf den Leim zu gehen. Es lautet; Masar)'k war kritisch gegenüber dem Liberalismus seiner Zeit. Darum kann cr nicht als Liberaler angesehen werden. Aus djesem Grund wird er eher ein Kommunitarist sein. Diese Argumentation ist allein schon deshalb unzutreffend, weil der tschechische politische Liberalismus des späten neunzehnten Jahrhunderts nicht dasselbe ist wie der anglo-amerikanisehe soziale Liberaljsmus des späten zwanzigsten JahrhundertS. Aber selbst wenn es Ähnlichkeiten zwischen beiden Formen des Liberalismus gäbe, kann n:iän daraus noch nichts über J\hsaryks Neigung zum Kommunitarismus schließen. Um dieser Schlußfolgerung auch nur den Schein von Gültigkeit zu geben, muß erst gekJärt werden, welche Kritik Masaryk an dem Liberalismus seiner Zeit übte. Masaryks wichtigster Kritikpunkt am Liberalismus seiner Zeit war dessen Gleichgültigkeit gegenüber den religiösen Dimensionen des Lebens im allgemeinen und der Politik im besonderen. Dies war ein wiederkehrendes Thema in einer Reihe von Veröffentlichungen im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, in welchen Masaryk ein politisches Programm aufgrund seiner besonderen Ansichten bezüglich der tschechischen Geschichte seit der Hussitenbewegung entfaltete. 22 Masaryk hatte ein tiefgehendes Interesse an bestimmten Sinn fragen, wie zum Beispiel der Bedeutung der (tschechischen) Geschichte und des menschlichen Lebens und - allgemeiner - an umfassenden Theorien über das Leben und die Welt. Für ihn spielten Begriffe wie "Gott", "Vorbestimmung" und "Ewigkeit" in diesem Forschungsgebiet eine wichtige RoUe, welches das Interesse von allen Menschen verdient, die doch "sub specie aeternitatis" leben. 23 Nun wäre es ein großer Fehler zu behaupten, daß heutige liberale Philosophen an religiös beladenen Fragen, wie etwa der nach der Bedeutung und dem Sinn des menschlichen Lebens und der Geschichte, kein Interesse hätten. Die·, ser Vorwurf würde eher für den Neopositivismus zutreffen, der behauptet, daß religiöse - und auch moralische - Äußerungen bedeutungslos seien. Anhänger dieser Denkrichtung gehören jedoch zu einer früheren Generation. Diese Mode ist in der Philosophie mittlerweile beinahe ausgestOrben, wenn sie nicht sogar schon begraben ist. Jedenfalls ist ein Liberaler wie Rawls weder ein Neopositivist noch in rdjgiöser Hinsicht desinteressiert. Insofern scheint Masar ks Kritik am tschechjschen Liberalismus nicht auf das moderne anglo':"artl~--nk:ani sehe liberale Denken zuzutreffen, jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit.. Liberale haben jedoch - im Gegensatz zu Kommunitaristen - eine starke Neigung, politische Philosophie von religiösen und metaph)'sischen Themen
22
23
Siehe z. B. T. G. Masar}'k, jan Hlis. Nase ObroZtni a Nase ~formoce, Oan I-Ius. Unsere Renaissance und unsere Reformation) Prag 1923, S. 42 f., ders., CtJ!eo OMZleo/No5t Nynejs; Krise, (Die tschechische Frage - Unsere hcudge Krise) Prag 1948, S. 118, 148. Siehe für mehr Delails und Verweise: Van den ßeld, HHmonitJ, S. 29-37.
van den Beld, Der Philosoph Masaryk
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frei zu halten. Rawls ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. 24 Eine zentrale normative politische Frage - wie etwa: wie sollten die Grundzüge der Gesellschaft aussehen - geht jeden an. Es handelt sich dabei um eine öffentliche Angelegenheit und keine private. Aus diesem Grunde sollten diverse Themen, die mit religiösen oder anderen umfassenden Anschauungen des Lebens zu tun haben, bei der Behandlung von Fragen der politischen Philosophie keine Rolle spielen. Sie gehören zum privaten, nicht zum öffentlichen Lebensbereich. Um dies in der richtigen Perspektive zu sehen, sollte man natürlich beachten, daß die liberale politische Philosophie aus den Zeiten der europäischen Religionskriege stammt. Das größte Problem war damals, wie Menschen mit verschiedenen religiösen Ansichten friedlich in einer Gesellschaft zusammenleben können; oder - mit anderen \'(lonen - wie das Übel des Bürgerkrieges überwunden werden könne. Masaryks wichtigster Einwand gegen den Liberalismus seiner Zeit richtet sich gegen den grundsätzlichen Ausschluß des religiösen Glaubens aus der normativen, politischen Diskussion. Dieser Einwand würde durchaus auch auf den heutigen politischen Liberalismus zutreffen. Normative politische Überlegungen sollten nicht unter Ausschluß von Antworten auf fundamentale Fragen bezüglich der Bedeutung des menschlichen Lebens und der Welt angestellt werden. Religiöse unclandere umfassende Weltanschauungen sind von direkter politisch-philosophjscher Bedeurung. Bringr diese Sicht der Dinge Masaryk den Kommunitaristen näher? Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, daß einer der Gründe, weshalb die Kommunitaristen die Grundzüge von Rawls' Gerechtigkeitskonzeption als unzulänglich ansehen, seine wenig gehaltvolJe Beschreibung der menschlichen Person ist. Essentielle Eigcnschaften werden nicht berücksichtigt. Jetzt ist die entscheidende Frage, ob für die Kommunitaristen Religiosität cine der wichtigen Eigenschaften der menschlichen Person ist, die in normativcn politischen Dis4 kussionen nicht übersehen werden darf. Die Antwort auf unsere Frage hängt davon ab, was Religiosität bedeuten soll. Wenn sie als eine mehr oder wen.iger umfassende Lcbens- und Weltanschauung angesehen wird, die dem menschlichen Leben Richtung gibt, anstan als eine spezielle Religion, dann iSLeine bejahende Amwon nicht zu weit hergeholt. Man muß hier beachten, daß Taylors konsfimtiven Werte so viel faltig sind wie PJatOns Idee des Guten, der Gott des Christentums und - mehr immanent - die Verpflichtung durch die j\'lenschenrechte. Und auch MacJmyre gesteht ein, daß das TeloJ, das Gute eines menschlichen Lebens, das in seiner narrativen Einheit besteht, für verschiedene Menschen recht unterschiedlich ausfallen kann. Wenn wir Religion und Religiosität also in diesem weiten Sinne verstehen, kann wohl kaum geleugnet werden, daß - zumindest für manche Kommunitaristen - Religiosität ein essentielles Merkmal der menschlichen Person ist. Religion in diesem Sinne sollte in normativen
24
Siehe Rawls, PolitiJfher LiberaliJmNJ.
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Diskussion(:o des zwanzigsten Jahrhunderls
politischen Diskussionen eine Rolle spielen. Vor einigen Jahren verteidigte f\'li· chael Sande! diese Position ausdrücklich, während eines l-Iarvard-S)'TIlposiums (an dem auch Rawls teilnahm) in einem Plädoyer für die Einbeziebung moralischer und religiöser Gesichtspunkte in politischen Diskussionen. 25 Es scheint in diesem Punkt also einen Konsens zu geben zwischen den Kommunitarislcn und r.·fasal)'k. Es ist jedoch noch eine offene Frage. ob sie über die geeignete Rolle und Funktion sowie den geeigneten Inhalt der Religiosität in einer politischen Diskussion ebenfaUs einer Meinung wären. Trotz der Umerschiedlichkeit der Ansichten, die es in dieser Hinsicht unter Kommunitaristen gibt, kann man wohl sagen, daß sie an Masar)'ks Seite stehen würden bei dessen starker Ablehnung des Gebrauches von Religion in politischen Diskussionen als M.inel zu unabhängig davon bestimmten Zwecken. 26 Auf der anderen Seite ist es, vorsichtig ausgedrückt, zweifelhaft, ob sie ihm in seinem - natürlich nicht seinem • einzigen - Argument für soziale Gerechtigkeit zustimmen würden. Dieses besagt, daß menschlkhe, unsterbliche Seelen einander nicht gleichgültig gegenüberstehen können: Sie sind Gleiche. 27 Es gibt noch ein anderes Gebiet, auf dem Masaryk und die Kommunitaristen übercinstimmen. Es iSt einer der Grundsätze des Kommunitarismus, daß das menschliche Leben cssentiell in Gemeinschaften eingebettet ist und an ihnen teilnimmt; nicht zuletzt an der politischen Gcmeinschaft (dem Staat) mit seiner besonderen Geschichte und Sprache. 28 Masaryk hätte keine Probleme, diese grundlegende Ansicht zu tcilen. Tatsächlich hat er sie bereits sehr viel früher vertreten. Seine Trilogie der neunziger Jahre - Culeß O/aZIuI (die Tschcchische Frage), fale nynljli KriJe (Unsere heutige Krise) und Jan HMJ - können gut als eine Ausarbeitung dieser Ansicht in bezug auf die Situation der Donaumonarchie angesehen werden. Masaryk zufolge ist die tschechische nationale Identität ein Produkt der Hussitcn-Bewegung des funfzehmen und sechzehnten Jahrhunderts, also das Werk von religiösen Leitcrn wie Jan Hus, Petr Chelcicky und Jan Amos Komensk)' (Comenius). Sie ist eher mit der populären tschechischcn protestantischen Reformation als mit der von Habsburg erzwungenen römisch-katholischen Gegenreformation verbunden. Masaryks Kampf für eine Dcmokratisierung des Staates und der Gesellschaft und - demzufolge - für die Reform der Donaumonarchie kann am besten vor diesem Hintergrund verstanden werden. 29
25 Siehe: RLliti.on & Vablts iw PI/blir Uft, 3/4 (1995), S. 3, 9. 26 ~bsaryk, Uska ot.itka/NaIr ".l,,'.Jfi krise, S. 194. 27 Siehe T. G. Masaryk, Utalt dir H"",awittil, Prag 1935, S. 126. Und: Masaryl:. t"{iblt sm Lebt". CnpratlN ",it Ks,rrl Cllptl:., Berlin S. 243. 2i Siehe zu diesem Aspekt des Kommunitarismus außer den bereits genannten Werken; C. Taylor, ..Language and Human ature", Pbi/osopbüal Paptrs, Vol. 1, Cambridge, 1985, S. 215-247. 29 Zu den Dela.ils siehe: Van den Beld, H"",a"ig. Kapitel 3 und 5.
van den Bdd, Der Philosoph Masaryk
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Es gibt jedoch ejnen wichtigen Punkt, in dem Masaryk sich von den Kommunitaristen unterscheidet. In den Reihen der letzteren kann ein unmißverständlicher Hang zum Relativismus festgestellt werden. Dieser Anti-Un.iversalismus ist oft mit ihrer Kritik am Gedankengut der Aufklärung verbunden worden, wonach dje Vernunft dje Menschheit in ihrem Streben nach dem Wahren und Guten vereinigen würde. Dieses Vorhaben erwies sich als eine U1usion. Den Kommunitaristen zu folge härte es kaum anders sein können. da menschliche Personen unvermeidlich in verschiedene Gemeinschaften und Traditionen eingebertet sind. Masaryk hingegen ist ein Universalisc. Obwohl er die Verbundenheit der Menschen mit ihren Institutionen und Traditionen erkanme, zog er daraus keine relativistischen Schlüsse. Als er zum Beispiel in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der sozialen Frage beschäftigt war. sprach sich ;"'lasaryk für eine Lösung "im Sinne unserer histOrischen, nationalen Ideale. also im Sinne der Ideale der Menschheit" aus. Und in einer Veröffentlichung für tschechische Arbeiter betOme er erneut, daß "ldJie Menschheit das Ziel von uns allen ist: das Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geht nicht nur uns, sondern aUe Menschen an [... ] Wir sind nur insofern besonders als unsere Geschichte uns dies gelehet hat und wenn wir diesem Ideal am nächsten kamen."30 Also sollten Normen und Werte - ~hsaryk zufolge - universelle Gültigkeit haben. In dieser Hinsicht ist er zweifellos, zu einem gewissen Grad, ein Vertreter des Gedankenguts der Aufklärung; und er steht Kam und Ra:.vls Gedenfalls dem Rawls der Theorie der Gerechtigkeit) näher als den Kommunitaristen. Es gibt jedoch mehr über t\hsaf)'ks Universalismus zu sagen. Seine religiöse Fun- /, dierung sollte hervorgehoben werden. Was letztendlich vom Postmodernisten und Atheisten Nietzsche als eine platonische und christliche Illusion abgewie. sen wutde,}1 akzeptierte dagegen sein Zeitgenosse Masaryk: daß Wahrheit sowohl in der Wissenschaft als auch in der Moral und der Religion gefunden werden kann und daß diese Wahrheit in Gott fundiert ist. Moralnormen soUten, Masaryk zu folge, nicht nur als menschlkhe Konventionen verstanden werden, gebunden an eine Zeit und einen Ort und erfunden, um die menschliche Zusammenarbeit zu erleichtern. Moralische Werte übersteigen die vergängliche, empirische Welt. Moralische Normen und Werte sind in einer transzendenten Realität verwurzele, die Masaryk ..GOtt" oder .. Ewigkeit" nenm.:n Mit dieser Überzeugung übersteigt Masaryk die Antithese zwischen Liberalismus und Kommunitarismus und schwimmt gegen den Strom des Modernismus und des ..!'ostmodernismus. Darum ist er mir jedoch nicht weniger lieb.
Masarrk, CeIl:.a olazko/ Nafe '!Jnljfi kn·Je. S. 219, 626. 31 Siehe z. B. F. Nietzsehe. Die friihlühe IY/imnuhaft. Abschnin 344. 32 Zu weileren Informationen über Masaryks Auffassung \'on Gon und der Ewigkeit siehe: Van den Bcld, Hlimanity, S. 29-35. JO
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
4. Schlußfolgerung So kommen wir zu einer Schlußfolgerung. Unsere leitende Frage war: Wo zwischen den Liberalen und den Kommunitaristen sollte Masaryk eingeordnet werden? Die Antwort ist: auf keiner Seite. Unsere spezifischere Frage war: Inwiefern können wir Masaryk als einen kommunitarischen Denker ansehen? Hier lautet die Antwort: Es hängt davon ab. Wenn es um grundlegende normative politische Fragen geht, sollte man nicht von emscheidenclen Eigensch!1fren der Menschen abstrahieren, wie zum Beispiel ihrer nationale Identität (Sprache und Geschjchte) und Religiosität. Auf der anderen Seite unterscheidet sich Masaryk von den Kommunitaristen durch seinen Universaljsmus. Hierin kommt er dem Liberalismus näher, jedenfalls dem des jüngeren Rawls, wenn wir über die religiöse Basis von Masaryks Universalismus hinwegsehen.
Bernd Stiegler
Profane Erleuchtung als photographische Belichtung Bildordnungen in der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert
"Geschichte zerf.illt in Bilder, nicht in Geschichten.'" Diese Formulierung Walter Benjamins im POSJogenwerk bestimmt zugleich das Programm der Berliner Killdbeit. Die erzählte Geschichte zerfallt in erzählre Bilder, die ihrerseits wiederum erzählte Geschichten zitieren. Die in Bilder zerfallene Geschichte erscheint in ihnen in vet\vandelter Form wieder. Geschichte wird erkennbar und lesbar im Zusammenhang von Bildordnungen. BiJder übersetzen die Ordnung der Zeit in die des Raumes. Die Topologik der Berliner Kindheit entwirft eine Theorie der Geschichte in den Kategorien des Raumes. "An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes."2 Und, so könnte man umgekehrt formulieren, an solchen Orten scheim cs, als sci alles, was bereits der Vergangenheit angehört, ein Zukünftiges. Diese Assoziation und Überblendung von Vergangenheir und Zukunft folgt einer Logik der Bilder als Formen der Übersetzung. So schrcibr Bcnjamin im VorwOrt zur Fassung lctzter Hand: Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten isl. Ihrer harren noch keine geprägten Formen, wie sie im Naturgefühl seit Jahrhunderten den Erinnerungen an eine auf dem Lande verbrachten Kindheit zu Gebote stehen. 3
Die Berliner Kindbeil kann - auch in ihrer beharrlichen Umschreibung und Neubestimmung - als ein Vcrsuch gelesen werden, solche Formen herauszubilden. Meine Überlegungen zielen auf eine Bestimmung der Beziehungen zwischen Texr und Bild im Zusammenhang der Thcorie des Gedächtnisses und der Geschichte. In einem ersten Teil konzentriere ich mich auf erkenntnistheorcti-
2 3
\X'aher Benjamin, CtJ(lHll1ltlte Srhrijitn, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972 H. Im folgenden werden jeweils nur der Titel des z.itierten Textes, der Band der Guanln/tlltn Srhrijitn und die Seite angegeben, z. B. hier: DlIs PassagtnlJ1erk, GS V, S. 596. Btrlintr Kindhtit um NtunZthnhundtrt, GS IV, S. 256. Berlintr Kindhtilul1l NtunZthnhundtrt. Fawmg Itlzltr Hllnd, GS VII, S. 385.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
sehe und poetologische Überlegungen in den verschiedenen Fassungen des Textes. Ocr Schwerpunkt wird dabei auf der Berliner Chronik liegen. Im zweiten Teil beschränke ich mich auf einen kJcincn Abschnitt der zweiten Fassung, der Die MUHJffJerehle überschrieben ist.
1. Bilder des Gedächtnisses in Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert "Das Gedächtnis". schreibt Waltet Benjamin in der Berliner Chronik, "ist nicht ein Instrument zur Erkundung der Verg
• S 6
8erlinu Chronik, GS Vl, S. 486. Gershom Scholem, zitien nach: GS VI, S. 797. Buliner Chronik, GS VI, S. 486.
Stiegler, Profane Erleuchtung als phorographische Belichtung
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barkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späteren Einsicht wie Ttümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers - stehen.,,7 Das Gedächtnis ist ein Sammler von Bildern. Die Fundstücke der Recherche der Berliner Kindheit sind aus dem Zusammenhang der Vergangenheit herausgelöste Bilder, die als Fragmente überdauern. Sie sind die Torsi in der Sammlung des Archäologen des Gedächtnisses, Bruchstücke der Vergangenheit, die einen neuen Zusammenhang herstellen soUen. Mit diesen Bildern wollte Benjamin sich in der Situation des sich abzeichnenden Exils, so das VorvlOrt zur Ausgabe letzt,er Hand, gegen das Gefühl der Sehnsucht impfen. \'(las in djesen Bildern erscheint, ist die biographische und notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen. Die Bilder der Berliner Kindheit sind Bilder des Exils, des Exils der eigenen Vergangenheit in der Situation des histOrischen Exils. Sie sind gepdgt durch diese doppelte Grenzziehung: einerseits erscheint die Vergangenheit als notwendig geschichtlich von der Gegenwart abgetrennte, andererseits kündigt sich auch eine zukünftige Trennung von den Räumen und ürten der Kindheit an. Die Bilder der Berliner Kindheit zeichnen eine Topologik und Chronologik des Exils auf. Zugleich aber soll ihnen eine andere Möglichkeit zu eigen sein: Sie sollen befahigt sein, "in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren".8 Die Fundstücke der Grabungsarbeiten im Inneren der eigenen verschütteten Vergangenheit saUen Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen und sind daher auf eine Überserzung von Vergangenheit und Zukunft angewiesen. Der nüchternen Feststellung der histOrischen Unwiederbringlichkeit steht die Konzeption einer Herausbildung von Formen späterer Erfahrung entgegen. Die Unwiederbringlichkeit geht in eine Wiederkehr der Bilder über. Was aufgezeigt werden soll, könnte man formulieren, sind Bilder, die als Formen der Erfahrung historischer Unwiederbringlichkeit diese übersetzbar machen und eine Form bereitstellen, die dann wieder neu gefüllt werden kann. Bilder sind Übertr:\gungsmedien, die als Formen die Transformation ihrer Elemente gestatten. Die Dekontexrualisierung der Bilder und ihre Übertragung in den Zusammenhang eines Textes erfordert und ermöglicht eine andere Lesbarkeit geschichtlicher Erfahrung. Textbilder gestatlen die Dechiffrierung gelesener Zukunft. Welche Funktion können solche Bilder aber haben, wenn sie sich nicht mit der Bereitstellung von Formen geschichtlicher Erfahrung als die ihrer historischen Unwiederbringlichkeit begnügen? Warum spricht Benjamin an entscheidenden und besonders hervorgehobenen Stellen der Berliner Kindheit von Bildern? Was ist die Logik dieser Bilder? Welche Medjentheorie entwickelt die Berliner Kindheit? Dem Gedächtnis als .Medium des Erlebten wird an anderen Stelle der Berliner CbroniJe die "Gegenwart des Schreibenden"?, ,,10 dem diese Bilder allein
, , ,
Ebd.
Berlin,r Nlfdhtit 11m Numz,h"hlmdtft. FawUll, le/Zler Hand, GS V1I, S. 385. Ebd.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
sich darstellen und eine Transparenz annehmen, in welcher, wenn auch noch so schleierhaft, die Linien des Kommenden wie Gipfelzüge sich abzeichnen"lO, als Entsprechung zur Seite gestelJt. Das Gedächtnis zeichnet die Bilder der Vergangenheit auf, die der Schreibende in die Ordnung der Schrift überträgt. Auch er wird bestimmt als Medium der Aufzeichnung und Übertragung der Bilder. Dem Gedächtnis und der Gegenwart des Schreibenden kommt es zu, als Medien zugleich das Verlorene und das sich abzeichnende Kommende erscheinen zu lassen. Beide sind als Medien durch ihre Transparenz gekennzeichnet. Die Dichte und das Erscheinen der Bilder der Vergangenheit und des Kommenden sind bedingt durch die Transparenz dieser Medien, die, um den Bildern Gestalt verleihen zu können, ihre eigene Gestalt verlieren müssen. Die Übersetzung der unwiederbringlichen Vergangenheit und des erscheinenden Kommenden erforden ein Zurückrreten der Formen des Gedächtnisses und des Schreibenden, der somit seine Individualität zugunsten einer Übertragungsform verliert. Zugleich ergibt sich eine weitere Übersetzungsaufgabe: Das Gedächtnis und die Gegenwan des Schreibenden müssen eine individuelle Erfahrung in eine allgemeine übersetzen. Nur so kann sich spätere geschichtliche Erfahrung prä~ formieren, nur so können ihre Formen prä figuriert werden. Gedächtnis und Gegenwan des Schreibenden sind Übertragungsmedien im doppehen WOrtsinn: Sie vollziehen komplexe Übersetzungsoperationen (so z. B. von der Vergangenheit in die Zukunft, der individuellen Erfahrung zur allgemeinen) in der Übertragung von Bildern. Das Gedächtnis und die Gegenwart des Schreibenden werden beide als Me~ dien bestimmt und stellen die beiden entscheidenden Elemente der Theorie der Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit dar. Als technisches Medium entspricht dem Gedächtnis die Phowgraphie, während der Schreibende die Ordnung der Bilder in die der Schrift überträgt. Die Theorie der Erinnerung wird in der Berliner Kindbeil nicht nur in Analogie zur Phowgraphie entwickelt, sondern kann auch als Interpretation der Photographie gelesen werden. Somit ergibt sich ein unmittelbarer Zusammenhang mit anderen Texten, wie z. B. dem Kunstwerk-Aufsatz, dem Passngenu1erk oder der Kleinen Guchicble der Pholograpbie. Wenn Benjamin im Kunstwerk-Aufsat:t. feststelh, daß die technische Reproduktion "um neunzehnhundert einen Standard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen eroberte"l1, so gilt djes auch für die Berliner Kindheil Ud! Ntunzebnbunderl. Die von Benjamin konstatierte Rückwirkung der Reproduktionstechnik auf die Kunstwerke und der zunehmende "Sinn für das Gleicharti~
10 Berliner Chro"ile, GS VI, S. 471. 11
Berliner Ki"dhtit N/11 NeNnzehnhN"dert. FauNn!, litzler Hand, GS VII, S. 351 f.
Stiegler, Profane Erleuchtung als photographische Belichtung
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ge"12 prägt die Konstruktion des Textes und seine zentralen erkenntnistheoretischen und poetologischen Kategorien. Es gilt, die Erinnerung als photographische Belichtung mitsamt ihten InStrumenten und Gesetzen noch genauer zu bestimmen. Benjamin bezeichnet in der Berliner Chronik das Gedächtnis als "Platte des Erinnerns"13 und vergleicht die Zeit des Lebens mit der Belichtungsdauer. Die Bilder des Gedächtnisses gleichen Photographien, welche die "Platte des Erinnerns" festgehalten hat. Das Gedächtnis als "Schauplatz der Erkundung der Vergangenheit" ist nicht nur eine Art Phoroalbum, das die Bilder der Vergangenheit sammelt, sondern auch der Apparat, der sie aufzeichnet. Das Ich bzw. die Gegenwart des Schreibenden als zweites Element der Mediemheorie der Erinnerung weist ebenfalls diese Doppelstruktur auf. Das Ich des Schreibenden ist nicht nur für die Belichtung der Bilder erforderlich, sondern leistet zudem ihre Übertragung und wechselseitige Übersetzung in die Ordnung der Schrift. Das Gedächtnis und die Gegenwart des Schreibenden sind die beiden korrespondierenden Momente in der Erinnerungsmaschine als Photographie. Das Gedächtnis ist die Platte, die durch das Ich des Schreibenden in der Verschriftlichung der Bilder in spezifischer Weise belichtet wird. Für die Belichtung der Platten des Erinnerns ist allerdings nicht die Dauer, sondern die Intensität des Lichts entschei~ dend. Die Bilder sind wie Photographien notwendig aus ihrem Zusammenhang gerissen, sind Momentaufnahmen, festgehaltene Augenblicke, die ihre Bedeutung gerade durch die Fragmentarisierung und Zerstörung des Kontextes der Gewohnheit gewinnen. Benjamin beschreibt die Fälle, wo die Dämmerung der Gewohnheit der Plane jahrelang das nötige Licht versagt, bis dieses eines Tages aus fremden Quellen wie aus entzündetem Magnesiumpulver aufschießt und nun im Bilde einer Momentaufnahme den Raum auf die Plane bannt. 14
Die Photographien der Erinnerung stehen der Gewohnheit entgegen, durchbrechen das Dämmerlicht des Erlebten in der Belichtung einzelner Bilder und überführen die Ordnung der Zeit in die des Raumes. Diese Bilder sind aber nicht nur selber j\'1edien, sondern bedürfen Übertragungs. und Speichermedi~ en, die ihre EnrwickJung und Aufzeichnung ermöglichen. Das Gedächtnis und die Gegenwan des Schreibenden sind diese Medien. Sie sind zugleich die Ap+ parate, die diese Bilder belichten und somit dauerhaft machen, und ihre Sammler. Die Punktualität und Momemhaftigkeit der einzelnen Aufnahmen wird be~ gleitet von ihrer Übertragung in den Zusammenhang einer SammJung dieser Trümmer und Torsi. Das Gedächtnis zeichnet die Lichtbilder der Erinnerung auf, die Gegenwart des Schreibenden übersetzt die Lichtschrift der Photographie in die Ordnung der Schrift der Erzählung. In der Berlintr Chronik präzisiert Benjamin diese Theorie der dauerhaften Gedächtnisbilder: 11 Ebd., GS VII, S. 355. 13 ßtr/intr Chronik, GS V-I, S. 516. 14 Ebe!.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunclerrs Im Mittelpunkte dieser seltnen Bilder aber slehen stets wir selbst. Und das ist nicht so rätselhaft, weil solche Augenblicke plötzlicher Belichtung gleichzeitig Augenblikke des Außer-Uns-Seins sind und während unser waches, gewohntes, taggerechtcs Ich sich handelnd oder leidend ins Geschehen mischt, ruht unser tieferes an anderer Stelle und wird vom Chock betroffen wie das Häufchen ~hgnesiumpulver von der Slreichholzflamme. IS
Die Bilder werden 50 In doppelter Hinsicht entwickelt: Durch das Opfer des Ich in seiner aufglühenden Erscheinung werden die Bilder aufgezeichnet, in der Schriftordnung der Erzählung werden sie entfaltet. Die Belichtung der photographischen Gedächtnisplaue bedarf der Suspendierung des gewohnten Ichs und der Belichtung durch das tiefere verborgene. Dieses tiefere Ich wird abe,r zugleich durch bestimmte Eindrücke überhaupt erSt wahrnehmbar und aktiv, allerdings nur, um sich in der Belichtung des Erinnerungsbildes zugleich aufzulösen und in ihnen zu verschwinden. Es ist nur in diesem flüchtigen Moment. Das blitzhafte Erscheinen des tieferen Ichs oder, um eine Formulierung des Surrealismus-Aufsatzes aufzunehmen, diese "Lockerung des Ich"16 belichtet wie ein Magnesiumblitz dje Bilder des Gedächtnisses, die dann, gleich Photographien, in der Betrachtung der Sammlung wieder erscheinen. Die Theorie des Gedächtnisses bestimmt die ..profane Erleuchtung"l7 als photographische Belichtung. Gedächtnisbilder haben dank dieses Eingehens des Ich ins Bild im Akt der Belichtung die Fähigkeit, die Wahrnehmung zu verändern. Die Ekstase des Ich im Chock belichtet in ihrer radikalen Punktualität, der blitzhaften Erkenntnis des erscheinend verschwindenden tieferen Ich dauerhafte Bilder des Gedächtnjsses, in denen das Ich, das im Moment der Belichtung sich von einem Subjekt in ein aufgezeichnetes Objekt verwandelt, wie ein Gespenst den Dingen anverwandelt erscheint. Auch das tiefere Ich ist nur im blitzhaften f..'toment dieser verwandelnden Beljchtung festwhahen. "So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten",lB heißt es im
Possogenwerk. Die Bilder der Btrlintr Kindhtit zeichnen das Verschwinden des Ich in den Bildern auf, sie sind Bilder des Verschwindens im Bild. Die Geschichte des chinesischen Malers, der in seinem Bild verschwindet, ist ihr Sinnbild. Ein Park war darauf dargesldh, ein schmaler Weg am \'(fasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bol. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr srill, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spah. 19
15 16
17
t8 19
Ebd. DtrSiima/isHulJ, GS 11, S. 297. Ebd. Das POJJogmwtrk, es v, 592. Berlintr Kindhtit Nm NtNnzehnhNlldtrt,
es
IV, S. 262 f.
Sliegler, Profane Erleuchtung als photographische Belichtung
Im
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Kunstwcrk~Aufsatz
wird diese Geschichte mit der Theorie der Sammlung in Verbindung gebracht. Der chinesische Maler ist Sinnbild der Betrachtung als Sammlung: Der vor dem Kunsl\.verk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt.2(I Die Brr/inrr Kindheit Nm NrNnzrbnhNndtrt ist eine Sammlung von Gedächrnisbildern, die eine Sammlung in der Situation der Zerstreuung ermöglichen sollen. Der Augenblick der Belichtung, der Zerstörung der Gewohnheit und der Ent~ deckung des tieferen Ich stiftet einen Zusammenhang, der nicht in der Form einer Dauer oder Linearität, sondern in der Eröffnung eines Raumes der Korrespondenzen und Ähnlichkeiten gedacht wird. Das Gedächtnis ist ein Sammler der Bilder, die ihrerseits die Erinnerungen versammeJn. Der im Lesen oder Betrachten sich Sammelnde geht in die Bilder ein und vollzieht eben jene Bewegung, die der BeUchtung zugrunde gelegen hatte. Erinnerungsbilder konzentrieren Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen und ermöglichen rückblickend die Übersetzung von Zeit und Raum. "Im Sosein jener längstvergangnen Minute", schreibt Benjamin in der Kltinrn Curhichte der Pbotographir über die Daguerrotypien, "nistet das Künftige noch heut und so beredt, daß wir, rückblickend, es entdecken können.,,21 Die Erinnerung und das Gedächtnis werden in Kategorien der Wahrnehmung bestimmt. Erinnerung und Gedächtnis sind Wahrnehmungsphänomene, Erscheinungen einer besonderen Wahrnehmung, die das Ich in das "Universum der Verschränkung"22 übersetzt. Die blitzhafte Erkenntnis des tieferen Ich und sein magnesiumgleiches Verglühen in der chockhaften Wahrnehmung, die allein dauerhafte Gedächtnisbilder zu produzieren vermag, führt zu seinem bildgewordenen Verschwinden. Dies Opfer unseres tiefsten Ichs im Chock ist es, dem unsere Erinnerung ihre unzerstörbarsten Bilder zu verdanken hat. 23 Die Erinnerung wandelt durch das Schattenreich des Vergangcnen, um ein~ zeine Bilder festzuhalten, in denen sich eine Erfahrung konzentr:iert, die, obwohl sie sich von der Zeit als Ablauf und Fluß des Lebens radikal absetzt, ge~ schiehrlich ist. Phowgraphien suspendieren die lineare Ordnung der Geschichte, eröffnen aber dennoch eine geschichrliche Beziehung, die sich der Ordnung der Bilder verdankt und durch sie gestiftet wird. An die Stelle des Ablaufes der Zeit oder desjenigen, "was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht",24 tritt die Ordnung des Raumes, der Augenblicke und des Unstetigen. An die Stelle der Berliner Kindhtit 11", NtNnzehnhNndtrl. Fallltng letzter Hand, 21 Kleine Gmhi(hle dir Pbolographit. 11, S. 371. 22 ZN", Bilde ProNIII, 11, S. 320. 20
23 24
es Ebd. Berlintr Chronik, es VI, S.
es
488.
es VII, S. 380.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Aurobiographie, der Schrift des eigenen Lebens, treten die Übertragungen der Lichtschrift der Bilder. Roland Barthes versucht in seinem Buch Die helle Kaf!"l/tr die Geschichdich~ keit der PhotOgraphie durch einen Epikurä..ismus des Erinnerungsbildes und der Wahrnehmung zu bestimmen. Dort heißt es: Die Pholographie ist wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von ei· nem realen Objekt, das einmal war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die PholOgraphie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine An Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mil meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ic.h mit diesen, oder jenen teile, die einmal photOgraphiert worden sind. 2!>
Die Photographie stellt für den Blick durch das Licht eine körperliche Beziehung ohne Körper und einen Zusammenhang ohne geschichtliche Kontinuität her. Sie bildet eine An technische Lichthaut des Dargestellten, die auch der Betrachter wahrnehmen kann und die so zu seiner eigenen wird. Die Abwesenheit des Referenten und seine historische Unwiederbringlichkeit werden cr~ setzt durch sein körperloses körperliches Bild. Die Phorographie ist das Medium eines Übersetzungsvorganges: Die phorographische Plane wird belichtet durch das vom Dargestellten ausgehende Licht, das der Betrachter nun seinerseits empfangt. Benjamin notiert im PaS.fagmu1erk eine Bemerkung aus dem COJIsin Pons von Balzac, die diese Übertragung der Phorographie mit der Übersetzung der Ideen assoziert: Ainsi, de meme que les corps se projeucnt reellemcnt dans l'atmosphere cn y laissant subsister ce speclrc saisi par le dagucrri:otype qui I'arrete au passage; de meme, !es idees [... 1 s'impriment dans ce qu'il faUl nommer I'atmosphere du monde spirituel [... ], y vivent spectralemenl [... ), CI des lors cenaines creatures douees de facuhes rares peuvent parfaitement apercevoir ces formes ou ces traces d'idees. 26
Benjamin macht in der Berliner Chronik entwickelten Theorie der Erinnerung Anleihen bei Epikur und Balzac. wobei er allerdings den Akzent nicht auf den einzelnen konkreten Referenten, sondern auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche legt. Für ihn eröffnet das festgehalrene .,kurze, schattenhafle Dasein,,27 des Erinnerten Bildräume, die notwendig nicht nur über eine individuelle Existenz hinausgehen, sondern ihr Aufgehen im Schattenreich der Lichtbilder fordern. Die ErinnerungsbiJder der Berliner Kindbeit sind geprägt durch eine Grenze; aber wo immer diese Grenze auch verlaufen mag: die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts liegt gewiß diesseits von ihr und sie iSI es, der die folgenden Bilder an-
25
26 21
Roland Banhes, Die belle Kammer, Frankfurl a. M. 1981, S. 90 f. Das Passagen1l!trk, GS V, S. 840 f. Vgl. auch den Kommentar zu dieser Bemerkung in: Malmi Imd Pholographie, GS VII, S. 816. Berliner Cbronik, GS VI, ebd., S. 488.
Stiegler, Profane Erleuchtung als photographische Belichtung
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gchören, nicht in der An genereller sondern jener, die nach der Lehre des Epikur aus den Dingen ständig sich absondern und unsere Wahrnehmung von ihnen bedingen. 28
Die Bilder der Berliner Kindheit gehören dem 19. Jahrhundert in einer besonderen Weise an: Sie gehen aus ihm hervor und bedingen gleichzeitig seine Wahrnehmung oder, anders formuliert, sie stehen auf der SchwelJe zu einem Raum, aus dem sie stammen und den sie zugleich eröffnen. In der Berliner ClJroniA? vergleicht Benjamin PholOgraphien mit Bahnhöfen. Beide sind bereits technisch überholt: An die StelJe des Bahnhofs sind die Straßen und dje Autos, an die der Photographien der Film getreten. Die Photographien sind ein überkommenes technisches Medium, deren Wahrnehmungsmöglichkeiten nur noch einige wenige Dinge entsprechen. Der Film, so Benjamin, trägt dem "heutigen, fließenden, funktionalen Dasein,,29 eher Rechnung, verfehh jedoch die historische und räumliche Schwellensituation zu Beginn des Jahrhunderts, die die der Berliner KindlJeit ist. Phowgraphien und Bahnhöfe sind Eingänge in die Stadt und die Topologik des Textes; sie stehen auf der SchweBe, wo das Weichbild der Außenviertel 30 in den Stadtraum übergeht, wo sich Außenbild in Innenbild verwandelt. Das Motiv der Schwelle konzentriert in der Berliner Chronik die verschiedenen Dimensionen der gefordenen Übersetzungsleistung: die Schwelle des Jahrhunderts, zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Weichbild und Stadtraum, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen histOrischer Unwiederbringlichkeit und Prä figuration späterer geschichtlicher Erfahrung. Die bei den der Ponrätphowgraphie gewidmeten Passagen in der zweiten Fassung der Berliner Kindheit und im Kafka4Aufsatz bzw. in leicht abgewandelter Form in der Kleinen Geschichte der Photographie verbinden diese historische und wahrnehmungstheoretische Schwellensituation mit einer Bestimmung des Bildes als Medium der Übersetzung.
2. Ein Bild Walter Benjamins in der Berliner Kindheit Iml Nellnzehnhllndert Es gibt ein Kinderbild Walter Benjamins. Benjamin beschreibt es im Abschnitt Die MIIHlHlereblen der Berliner Kindheit: Es stammt aus einem jener Ateliers, wel 4 che mit ihren Schemeln und Stativen, Gobelins und Staffeleien etwas vom Boudoir und von der Folterkammer haben. Ich stehe barhaupt da; in meiner Linken einen gewaltigen Sombrero, den ich mit einstudierter Grazie hängen lasse. Die Rechte ist mit einem Stock befaßt, dessen ge-
Ebd .• S. 489. 19 Ebd., S. 470. 30 Vgl. auch Braunschweig-Myslowitz-r\'larseille. 28
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts senktet Knauf im Vordergrund zu sehen ist, indessen sich sein Ende in einem Büschel von Pleureusen birgt, die sich in einem Gartentisch ergießen. Ganz abseits, neben der Portiere, srand die ~Iutler Starr, in einer engen Taille. Wie eine Schneiderfigurine blickt sie auf meinen Samtanwg, der seinerseits mit Posamenten überladen und von einem Modeblatt zu stammen scheint. Ich aber bin emstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich isl. Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. leh halte sie ans Ohr. 31
Die Ähnlichkeit mit den Dingen steht der Ähnlichkeit mit dem eigenen Bild entgegen. Die Ral..1osigkeit, "wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst verlangte"32, ist das Gegenstück zu der in der Sprache aufblitzenden Ähnlichkeit, die "die Wege, die in (das) Innere [der Welt] fühnen"33, aufweist. Durch das Mißverstehen des Kinderliedes und die Gespensrwerdung der Muhme Rählen in die überall erscheinende Mummerehlen werden für das Kind und den Erinnernden unter der Bedeuwngsoberfläche- der Sprache liegende Ähnlichkeiten zwiscben den Dingen wahrnehmbar und - in der verschrifdichenden Erinnerung - auch die Assoziation von Texten möglich. Der Text nimmt die Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe, der wir in der Bestimmung des Gedächtnisses als photOgraphisches Verfahren bereits begegnet sind, wieder auf. Um in die Tiefe zu gelangen, muß nicht nur die Gewohnheit durchbrachen, sondern auch die Bedeutung zerbrochen werden. Die Muhme wird zur Mumme, zur Maske oder Verkleidung, in die sich der Betrachtende mummeln kann. Die Mumme wird ihrerseits zum Mummeln, das heißt zum undeutlichen Reden, das seinerseits das Mummeln als das Sich-in-etwas-Einhüllen gestattet. Die Mummerehlen kann als Gespenst immer neue Erscheinungen annehmen, im "Affen, welcher auf dem Tellergrund im Dunst von Graupen oder Sago schwamm,,]4 oder im Mummelsee erscheinen oder zumindest vermutet werden. Die Mummerehlen als Sinnbild der Erscheinung der Ähnlichkeiten vermummt den Wahrnehmenden und übersetzt ihn in die Übertragungen dieser Medien. Das Verschwinden im Bild im opfernden Aufblitzen des tieferen Ich und das Sich-in-die-Dinge-Hüllen dank der in der Sprache auf4 blitzenden Ähnlichkeiten sind miteinander verbunden. Auch das Kinderbild verhüllt den Dargestellten, der zugleich Betrachter ist, und eröffnet ein Feld von Ähnlichkeiten und Übersetzungen. Die Zusammenhänge, die hier als Erscheinungen der gespenstischen Gestalt der Mummerehlen beschrieben werden, erscheinen, wie der in Fortführung des Abschnütes Die MU"'"ltreMtn entstandene Aufsatz Ober daJ ",j",etiJrbe Ver"'iigen formuliert, blitzartig. Text und Schrift der Berliner Kindbtit als Beschriftung der photOgraphischen Erinnerungsbilder werden zum 31 32 33
J4
Berliner Kindheit um NeunzehnhHndert, GS IV, S. 261. Vgl. auch die frühere Fassung der Beschreibung der Photographie, die den Titel "Die Lampe" trägt. Ebd. Ebd. Ebd., S. 262.
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Fundus, in dem [... , sich das Vexierbild formen kann. So ist der Sinnzusammenhang, der in den Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann. 3S
Die Bilder des Gedächtnisses sind nicht nur wesentlich doppeldeutig, sondern gest:luen zudem die Verbindung und den Austausch einzelner Elemente. Die vom Gedächtnis aufgezeichneten Bilder erweisen sich als abkünftig von einer fundamentalen Verschränkung von Bild und Sprache, von wahrnehmendem Ich und wahrgenommenen Dingen. Die Bilder des Eingehens des Ich in die wahrgenommene Weh sind die Bedingung der ?'Iöglichkeit des Erscheinens und Belichtens der Gedächmisbilder. Der Abschniu über das Kinderbild Benjamins hat das mit dem Gedächtnis verbundene technische Medium selber zum Gegenstand. Die photographische Erinnerungsmaschine zeichnet ihrerseits eine Photographie auf. Die Beschreibung der Photographie, ihre Beschriftung vollzieht eine doppelte Bewegung; einerseits rückt sie das eigene Bild des tieferen Ich, das nicht in die Erscheinung eingehen kann, da es nicht mit sich selbst ähnlich werden kann, von der vermeintlich norwendigen Ähnljchkeit mir der PhotOgraphie ab, andererseits macht sie das "Hineinwachsen ins Bild", die Entstellung durch Ähnlichkeit wahrnehmbar. Die Beschreibung vollzieht die Rekonstruktion von Blickräumen: des Blikkes auf das bereits fertige Bild, das aus dem Boudoir oder der Folterkammer hervorgegangen ist; den Blick zur Muuer am Rande der Tür, auf der Schwelle zum Raum, die ihrerseits auf den Posierenden schaut; den Blick auf die historische SchweUensiruation und die nun leere, unbewohnte, verlassene Muschel des neunzehnten Jahrhunderts. All diese Blickräume sind njcht nur durch das Exil der histOrischen Unwiederbringlichkeit gezeichnet, sondern auch geprägt durch das bereits vollzogene Verschwinden des Ich, das nun, in den Erinnerungsbildern, verwandelt in die Erscheinung triu. Das Bild des neunzehnten Jahrhunderts und die PhotOgraphie bleiben als Lccrbilder zurück, als Weichbilder, die ihrerseits einen anderen Zugang erfordern. Die Porträtphorographie zeichnet das Bild des gewohnren, taggerechtcn Ich auf; die Beschriftung der Phorographie durch die Erzählung, das heißt die Übersetzung der durch das Opfer des tieferen Ich beljchteten Bilder in den Zusammenhang eines Textes, zeichnet das Verschwinden im Bildraum nach. Auch in der Erinnerung an das Kinderbild erscheint das Motiv des Opfers. Das Schattenreich des Photographen, der nach dem Bild giert, wird zu den mythologischen "Scharren des Hades, (die] nach dem Blut des Opfertieres"36 dürsten. Die Unterlcgung der Erinnerungsbilder durch zahlreiche Mythologeme, die vor allem in den späteren Fassungen des Textes deutlicher ans Licht treten, ist auch für die Phorographic zentral. Die Photographie steht in der Tradition
JS 3(,
Lthn '10m Ahnlirhm, GS 11, S. 209. ßtrlintr Kindhrit MtH NtMnzthnhMndrrt, GS IV, S. 261.
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mythischer Bilder, und ihre Beschriftung, das heißt Vcrschrifdichung in der Ordnung der Erzählung. soU ihre Übersetzung, ihre Übertragung aus dem Schattenreich in das der Lichtschrift leisten, so wie Benjamin dies auch für die Texte Kafkas konstatiert: Bei Kalka lösen die Lebensbilder, die vielleicht weniger auf Grund der ralio als alter Mythoiogemc sich gebildet haLeIl, sich auf und C5 cn:stehen, :r.l.nsitorisch, neue. Aber gerade dieses Flüchtige im Sich-Bilden der Mythologeme, die in ihnen schon angelegte Auflösung ist hier entscheidend. Es ist gUl und gern das Gegenteil vom ,neuen Mythos', von dem hier die Rede istY
Diese Beschreibung entspricht in nuce dem Verfahren der Berliner Kindbeit. Die Auflösung der Lebensbilder und das Entstehen neuer gehorchr einer Logik der Übersetzung der verschiedenen Bildebenen, die auf eine Sprachtheorie zurückgeht. Bilder, und zu ihnen gehön auch das der PholOgraphie, gehen nicht der Sprache voran, sondern gehen aus ihr hervor. Das Gedächtnis der Platte des Erinnerns zeichner Bilder auf, die den Austausch des Dargestellten ermöglichen. Die Medien der Übenragung sind f>.'ledien der Übersetzung ihrer Inhalte. Das Kinderbild von Kafka, das Benjamin im Kafka-Aufsatz beschreibt, wird auch lesbar als Transformation des Kinderbildes Benjamins. Benjamin als Kafka und Kafka als Benjamin erscheinen als Vexierbild der Photographie des Gedächtnisses in der Berliner Kindbeil I,", NeHnzehnbHndert. Theodor W. Adorno bemerkte, ohne um die Doppelbelichtung des Bildes zu wissen, in einem Brief vom Dezember 1934, den Benjamin in seinen Notizen zur Überarbeitung des Kafka-Aufsatzes kopiene, daß es ..kein Zufall lsei], daß von den Anekdoten eine: nämlich Kafkas Kinderbild ohne Auslegung bleibt. Dessen Auslegung wäre aber einer Neutralisierung des Weltalters im Blitzlicht äquivalenr."38 Der Text der Berliner Kindheit versucht diese Neutralisierung im Blitzlicht des Gedächtnisses. Auch in ihm fehlt dem Kinderbild der entscheidende Kommcntar, der erst in der Übersctzung in Gestalt des Bildes Kafkas crscheint. Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die "arme kurze Kindheit" ergreifender Bild geworden. Es Stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. rDie Fassung der .,Kleinen Geschichte der Photographie" fügt hinzu: "zwischen Exekution und Repräsentation",}9 ß. S.I Da Stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefahr sechsjährige Knabe in einer Art von Winterlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen übermäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich
}7
Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Benjamin iiher Kaflea, Frankfurt a. M. 1992, S. 117 f.
38 Ebd., S. 103. 39
Kleine GmhichJt der Pholographie, GS 11, S. 375.
Stiegler. Profane Erleuchtung als photOgraphische Belichtung
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traurige Augen beherrschen die ihnen vorbeslimmle Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht. 40
Die leere Muschel des neunzehmen Jahrhunderts wird zur Ohrmuschel KafKas, in die Benjamin hineinhorch(. um seine eigene Stimme zu vernehmen.
4()
Fronz K4jlea, GS 11, S. 416.
Rob van Gerwen
Hauch auf dem Spiegel
Repräsentationen, so stipuliere ich, sind Dinge, die durch ihre eigene Anwesenheit das Abwesende anwesend machen. Für die politische Philosophie haben sie die Funktion eines Scharniers. Und dabei brauchen wir nicht nur an demokratische Repräsentation zu denken. Frank Ankersmit zu folge ist das Thema der Repräsentation primär. l Es geht ihm jedoch nicht um die epistemologische Frage nach der Richtigkeit der Repräsentationen, sondern um das "ästhetische" Argument, dem zu folge die Repräsentation den Willen des Volkes nicht nur spiegelt, sondern vor allem auch formt. Anne Phillips unterscheidet die politische Repräsentation mittels Ideen von der mittels Anwesenheit. 2 Können die Imeressen der Gruppen mit Propositionen ausgedrückt, paraphrasiert werden, oder sind sie so einmalig, daß sie von tvlenschen, die diese Interessen teilen, vertreten werden müssen? Can white men play (he blues? Die Frage, ob die Philosophie Maßstäbe für die praktische Politik geben kann, wird möglicherweise ein wenig zu früh gestellt. Dieser Frage müßte eine ästhetische Erläuterung der Repräsentation vorangehen, die die Phänomenologie unserer Erfahrung der Repräsemation berücksichtigt. Eine Repräsemation steht in Beziehung zum repräsentierten Abwesenden, aber in erSter Linie auch immer - durch ihre eigene Präsenz, ihren Stil - zum Beobachter, für den sie anwesend ist. Diese Phänomenologie wurde im vorigen Jahrhundert mit zwei brauchbaren Metaphern beschrieben; mit Metaphern, die in der analytischen Tradition keine promineme Rolle gespielt haben. Ich ziele hier auf den Aura-Begriff von Walter Benjamin und auf Jacques Lacans Konzept vom Spiegelstadium. Beide Metaphern beziehen sich auf die An- und Abwesenheit des Wahrgenommenen, und von beiden werde ich zeigen, daß sie versuchen, etwas über die Grenzen unseres Begriffs der Repräsentation zu sagen. Dies werde ich mit I-lilfe der analytischen Ästhetik tun. Ich werde Gregory Curries Reaktion auf Roger Scrutons These verwenden, die besagt, daß Phows sich wie Spiegel verhalten und daß sie sogar mit Pornographie vergljchen werden können, da sie unser Verlangen nach direktem Kontakt mit dem Repräsentierten befriedigen. Ich beginne bei Scruton.
2
F. Ankersmil, Antht/;( Poli/ia: Poli/i((/I Philosophy ßqond F(/t/ ,md V (/hu, Stanford 1996. A. Phillips... Dealing with Differencc: A Politics of Ideas or a Politics of Prcsencc?", in: Goodin und Peni, (ed.), Confrmpomry Po/i/im/ Phi/osophy. An An/h%gy, Oxford 1997, S. 174-184.
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
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Scrutons Spiegel Roger Scruton meint, daß ideale Photos - Photos als Photos - keine Kunst sind, da sie in der Behandlung ihres Materials keine Ansicht bezüglich des Re· präsentierten zeigen können.) Das können sie nicht, da sie - im Gegensatz zu Gemälden - nicht Schritt für Schritt aufgebaut werden. Bei einem Gemälde, so Scruton, muß der Künstler immer wieder Abwägungen machen beim Aufbau seines Gemäldes, und darin wird sich seine Sicht des Dargestellten offenbaren GedenfaUs wenn er "gut" ist).4 Dieses Argument ist in der heutigen Situation entscheidend und daher auch für Benjamins Aufsatz über das Kunstwerk. 5 Im Gegensatz zu Gemälden werden Photos mit einem einzigen Druck auf den Knopf gemacht und dann mittels eines streng kausalen chemischen Prozesses entwickelt und abgezogen bis zum Endresultal. Das gibt den PhotOS ihre Beweiskraft: was wir auf einem Photo sehen, hat es gegeben (ob etwas genau so war, wie es auf dem Photo aussieht, ist eine andere Frage). Außerdem erkJärt dieses Verfahren die genaue Übereinstimmung des Photos mit dem Abgebildeten, was Scruton dazu bringt, Photos eher mit Fenstern oder Spiegeln als mit Gemälden zu vergleichen. Ob man nun an einem Fenster steht oder ein PhotO von der Aussicht aus dem Fenster anschaut, das genauso groß wie das Fenster ist, man sieht - sofern sich vor dem Fenster nichts bewegt - keine Unterschiede. Dies wäre anders, wenn man nicht ein Photo, sondern ein Gemälde anschauen würde. Tatsächlich repräsentiert ein PhotO ein Geschehen tl1 dtloif. die Dinge, die nebeneinander stehen, nebeneinander, die Farben identisch usw. Die Verführung, Scruton zuzustimmen, ist groß. Dieser Verführung muß man jedoch widerstehen, meint Gregory Currie in seinem Buch InJogt ond Mind. 6 PhotOS sind nicht mit Fenstern und Spiegeln zu vergleichen, und dies kann einfach an hand von Scrutons Beispiel gezeigt werden. Man stelle sich das Fenster und das identische PhotO vor und trete einen Schritt nach links. Das Photo wird sich nicht ändern, aber die Aussicht aus dem Fenster um so mehr: Im Blickfeld links verschwindet z. B. ein Baum aus der Sicht, und rechts erscheint ein Fahrrad. Ein Photo ist eine Repräsentation, ein Ding. Ein Ausblick aus dem Fenster ist keine Repräsentation, sondern eine Wahrnehmung. Der Unterschied ist, Currie zufolge, daß Wahrnehmung ego-
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R. Scruton, "Photography and Representation;', in: R. Scruton, Tht Authttir U"tltrIltJ"di"!,, Methuen 1983, S. 102-126. Siehe auch R. Wollheim, "PiclOrial Slyle: Two Views", in: Tht Ah"d tJntl ill DtplhI, Cambridge, Mass. 1993, S. 171-184. \Vl. Benjamin, "Das Kunstwerk im Zeilalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", in: W/. Benjamin, Dal KU1UIUJuk im ZtitallU stintr luhnischtn RJprodu:rjtrbarktit, Frankfurt a. l1.L, 1963, S. 7-64. Beniamin sprach über den Anfang unserer "Fotografie Kultur" - aber diese Kulrur iSI durch die Digitaiisierung des Bildes effektiv beendet. Scrulons ideales Photo gibl es nicht mehr; seine Argumente bleiben jedoch relevant. G. Currie. ImtJgt and Mind. Film, Philosophy, tJnd Cognilit't Sritflct, New York 1995, S. 73-78.
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van Ccrwen, Hauch auf dem Spiegel
zentrisch ist: in einer Wahrnehmung ist der wahrnehmende Körper das - meist nicht reflektierte - Zentrum der Wahrnehmung. Bei einer Abbildung ist der wahrnehmende Körper nicht das Zentrum, was deutlich wird, wenn wir diesen Schritt zur Seite treten und merken, daß sich im Abgebildeten nichts ändere Was wir in einer Abbildung sehen, sehen wir nicht egozcntrisch. 7 Das Photo ist hier und jetzt anwesend, aber was es abbildet, ist an einem anderen Platz zu einer anderen Zeit: abwesend. Was wir durch ein Fenster sehen, ist verbunden mit dem Hier und Jetzt des Wahrnehmenden, und so ist es auch mit Spiegeln. Auch Spiegel haben eine andere (phänomeno-)Logik als Repräsentationen. Aber bei Spiegeln passiert erwas Merkwürdiges: man sieht darin etwas, das man auch schon auf eine andere Art kennt.
Lacans Spiegel Jacques Lacan hielt am 17.Juli 1949 in Zürich seinen klassischen Vortrag über das sogenannte Spiegclsradium. 8 Ein Kind von einem halben Jahr kann im Spiegel sein eigenes Bild erkennen. Bei einem Affen würde es bei diesem Erkennen bleiben, aber das Kind begreift, daß das Bild manipuliert werden kann, weil es leer ist, und fangt an, Gebärden zu machen. Dadurch bekommt es Einsicht in die Beziehung zwischen sich selbst und dem Bild und zwischen seinem Körper und den Objekten und Körpern, mit denen es sich durch den Spiegel umgeben weiß. Das Kind kann noch nicht laufen, aber bewegt den Kopf nach vorne und bemerkt den vergänglichen Aspekt des Bildes. Abgesehen von der Frage, ob diese spiegelbildliche Identifizierung die Schablone für spätere soziale Identifizierungen bildet, will Lacan vor allem festhahen, daß das Ego hier eine fiktive Richtung einschlägt, wie sehr wir später auch vor allem mittels sozialer Prozesse mit unserer eigenen Wirklichkeit ins reine kommen. Lacan erklärt: "Die tOtale Form des Körpers l... J ist ihm nur als ,Gestalt' gegeben, in einem Außerhalb [... 1 wo sie ihm aber als Relief in Lebensgröße erscheint, das sie erStarren läßt, und einer Symmetrie unterworfen wird, die ihre Seiten verkehrt - und dies im Gegensatz zu der Bewegungsfülle, mit der es sie auszustatren meint." OL, 64). Aber was will uns Lacan damit eigentlich genau sagen? Was ist eine Gestalt
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Benjamin nennt das, was in einer nicht-egozentrischen Wahrnehmung wegfallt, das "Optisch Unbewusste". Siehe "Kleine Geschichte der Photographie", in: Gtsammtltt S(hn'jit1l, 1978, li/I, S. 371. Ich zitiere (mi! J L, Seitennummer) die Deutsche Übersetzung: Jacques Lacan: "Das Spiegelstadium als Bildner der IchfunkLion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint". In: 5(hrifttn, übers. von Peter StehIin, Frankfurt 3. M. 1975, $. 61-70.
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
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(in diesem oder einem anderen Zusammenhang)? Was bedeutet "als Relief in lebensgröße" ("relief de stawre'')? Und vor alJem: Warum bringt der Spiegel das Ego auf eine fiktive Spur? Ein Spiegelbild suggeriert tatsächlich eine eigentümljcbe Imitation des Ichs. Eine Abbildung, die anderen Menschen zwar äh· nelt - die "ein Mensch da draußen" ist -, die aber nicht wie wirkJjche Menschen einen eigenen Willen besitzt und diesen entsprechend auch nicht durch die WiUkürlichkeit ihrer Reaktionen unter Beweis Stelle. Das Kind muß die Geistigkeit seines eigenen Spiegelbildes darum analogisch "konstruieren". Es erlebt sich selbst nämlich nicht "dort", sondern "hier". Ich glaube, daß das Kind bei dieser Konsr.ruktionsleistung keinen Erfolg haben wird, wenn es nichr bereits imstande ist, eine Empathie mit wirklichen Personen zu erfahren. Daß das Kind diese Konstruktion über Analogien entwickeln muß, macht das Spiegelstadium so merkwürdig. Lacans Gedanke, daß der Spiegel das Bild fixiert, überzeugt iedoch nicht. Daß das Spiegelbild das Bild des Subjekts symmetrisch umdreht, ist evident und nur in einem schwachen Sinn eine Verfremdung. Wer einem Kind deutlich machen will, daß es Essensreste auf seiner linken Wange hat, kann am beseen auf seine eigene rech tC Wange weisen - so geräuschlos verdiskontiert das Kind die horizontale symmetrische Umkehrung. Bei einem Spiegel tut es dies, indem es gestikuliert und sein Spiegelbild synchron genau die gleichen Bewegungen machen sicht: diese Bewegungen sind es, die das Erleben des Spiegelstadiums erst ermöglichen. Bewegung und Fixierung widersprechen einander jedoch siehe Sermons Photo neben dem Fenster. Der Theoretiker könnte nach Wahl das Fixieren des Spiegels mit der Art und Weise vergleichen, in der ein Film Bilder auf dem Bildschirm fixiert. Dann würde er aber falschlicherweise einen Anachronismus verwenden, denn das Kind versteht das Konzept des Filmbildes sicherlich noch nicht - genausowenig wie die ersten Kinobesucher, die in L'Arrivte d'lIn train J La Ciotat (Auguste und Louis Lumiere, 1895) aus Angst, von dem Zug überfahren zu werden, aus dem Saal ranmen. Auch sie konmen sich noch keine Vorstellung von dem Begriff "Film" machen. Kann man viel· leicht vom Spiegelbild sagen, daß es das Original fixjert, wie es auch drej Dimensionen auf zwei zu reduzieren scheim? Wer dies jedoch tut und dje Reduktion der Dimensionen als eine Fixierung des Bildes ansieht, sieht sich mit dem Argument von Currie konfrontiert. Der tiefste Unterschied zwischen dem Subjekt und seinem Spiegelbild ist die Anwesenheit des Geistes. Das Subjekt weiß, daß es selbst einen hat (wenn dieses Wissen auch unreOektien ist), es sicht jedoch keinen Anlaß, davon auszugehen, daß sein Spiegelbild auch einen hat. Sein Geist ist nämlich "hier", und die anderen Wesen, die das Kind um sich herum sicht, beweisen das Bestehen ihres Geistes (in den Augen des Kindes) vermutlich ständig, indem sie nicht dasselbe wie das Kind tun - lind schon gar nicht simultan - sondern auf das Kind reagieren. Das Kind weint, und die liebe, sanfte Mutter präsentiert ihre Brust, oder tut dies gerade nicht, usw. Ich spekuljere nicht über die Frage, ob ein so junges Kind sich schon eine Vorstellung von anderen geistigen We-
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van Gerwen. Hauch auf dem Spiegel
sen machen kann, sondern nur über das Kriterium mittels welchem sich das Kind vermutlich davon überzeugen wird, daß es sie gibt. Das Kind könnte verwirrt sein, wenn es den Begriff "Geist" mitreis des Spiegels lernen würde, in dem es ein Wesen sieht, von dem es sicher weiß, daß es einen Geist hat, obwohl es nicht über den sozialen Weg des willkürliche Reaktionen, sondern mit Hilfe. der AutOrität der ersten Person zu diesem Wissen gekommen ist. Und nun muß das Kind auf einmal mittels des Spiegels lernen, daß man auch aufgrund des Äußeren eines Menschen herausfinden kann, ob jemand einen Geist hat. Dies ist tatsächlich ein problematischer \'(leg, da das Spiegelbild, wie gesagt, dem Subjekt seinen Geist nicht durch Reaktionen, sondern durch eine äußerliche Ähnlichkeit zeigt: indem es genauso aussieht und genau dasselbe tut. In diesem Sinne, so könnte man Scruton recht geben, ist das SpiegelblId gut mit einem Photo zu vergleichen, sogar besser als mit dem Ausblick ails einem Fenster. Die Geister, die mit Körpern assoziiert werden, sind weder in einem Spiegel, noch auf einem Photo ..da", Genau dies gilt für Abbildungen, jedoch nicht für Menschen, die man draußen laufen sieht. So können wir bei diesen Bildern also drei Stufen des Egozentrismus unterscheiden: das Wahrnehmungsbild ist völlig egozentrisch; das Fensterbild ist - obwohl es eingerahmt ist - genauso vollkommen egozentrisch; das Spiegelbild, auch eingerahmt, ist egozentrisch, aber nicht völlig: nichr, wenn es um das Bild des Wahrnehmenden selbst geht. Wenn wir andere egozentrisch sehen, dann sehen wir ihr Äußeres und Inneres auf demselben Platz: da. So lehrt uns der Spiegel ein fundamentales Gesetz über Abbildungen (und Phoros): daß sie nur das visuelle Äußere zeigen und bezüglich ihrer "Durchsichtigkeit" zum geistigen Inneren der abgebildeten Personen mit mehr oder weniger mangelhaften Suggestionen auskommen müssen, Aber warum reagiert Lacan hierauf mit der Behauptung, daß die Entwicklung des Kindes durch das Spiegelstadium eine fiktive Rkhtung einschlägt? Das Bild im Spiegel ist nämlich selbst keine Einbildung, es existiert wirklich. Genausowenig ist es Einbildung, daß es um das Spiegelbild des Kindes selbst geht - durch seine Gebärden Stellt das Kind dies fest. Daß das im Spiegel reflektierte Wesen einen Geist hat, ist keine Einbildung - das Kind weiß dies aus eigener Erfahrung, wenn auch unreflektiert. Der einzige - wenn man es so nennen möchte - fiktive Aspekt ist die Annahme, daß das Bild "dorr" im Spiegel einen Geist hat, aber warum solhe man dies fiktiv nennen? Sollte man nicht besser sagen: Was das Subjekt hier tut, besteht darin, etwas, das die Eigenschaften einer Repräsentation hat (plattheit, "Dortheit'J, als eine Abbildung zu verstehen, das heißt als etwas mit einer visuellen Oberfläche, in dem wir etwas anderes (als diese Oberfläche) sehen können, wo wir mittels gebräuchlicher emphatischer Erfahrungen, geleitet durch Eigenschaften von dem in der Abbildung gezeigten, einen Geist hinein projektieren, obwohl er dort in Wirklichkeit nicht ist. Dieser in einen abgebildeten Körper hineinprojektierte Geist basiert zwar auf Eigenschaften der ..Abbildung", aber das allein macht den
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Geist noch nicht fiktiv. Dieses ist essentiell für unser Verständnis davon, wie Abbildungen etwas Abwesendes anwesend machen. 9 Lacans Ausarbeitung der fiktiven Richtung ist übrigens interessant, da sie uns Einsicht in das präsentierende ElemeOl von Abbildungen gewährt, in ihre eigene Anwesenheit. So vergleicht er das SpiegelbiJd mit dem späteren Image von jemandem. Lacan sieht verschiedene Analogien mit der Biologie: Kann man sagen, daß das Imago einer Raupe vergleichbar vorgeht, als ein Bild eines zukünftigen Selbst, das weder begriffen noch wirklich vorhergesehen ist und schon gar nicht reflektiert und selbslbewußt gewählt wird? Die weibliche Taube wird erst reifen, nachdem sie eine andere Taube gesehen hat; eine Heuschrecke wird sich erst zu einer Zugheuschrecke entwickeln, nachdem sie das Bild von Zugbewegungen gesehen hat: bei Artgenossen in einem passenden Stil (eine Analogie mit der Rolle von Schönheit im Erogenen). Aber nun genug über die Psychologie des Spiegels. ~'lir geht es hier um die Abwesenheit des Anwesenden, so nahe es auch ist, um das, was \"'alter Benjamin ..Aura" nennt.
Benjamins Aura Benjamin meint, daß technische Reproduktion die Aura des Repräsentierten zerStört. Intuitiv sehe im mir jedoch, daß jede Abbildung dies tut: jede Abbildung entfernt das Repräsentierte vom egozentrischen Hier und Jetzt. Es ist aber genauso sehr kennzeichnend für Repräsentationen (und Kunstwerke), daß sie selbst für ihre Zuschauer, Zuhörer, Leser usw. anwesend sind. Obwohl Gemälde manchmal etwas abbilden und Gedichte etwas beschreiben, beschränkt sich ihre Bedeutung nur selten darauf, dies in Wone zu kleiden. In der Kunst ist das Paraphrasieren "verboten". "Man muß es selbst sehen, um darüber urteilen zu können."10 Wenn eine Abbildung in eigener Anwesenheit das Abwe-
':I
10
Siehe meinen Beitrag "De oOlologische drogreden in de analytische esthelica", in: AIge/llun Nearr/anas Tijasrbn]t voor If'1ijsbrgmtr, 94 (2002), S. 109-123. Siehe auch: D. 1\12lravers, ..The Paradox of Ficlion: Thc Rep()rt versus the Perceptual Model", in: Hjort und Laver (Hrsg.), Emotion ana ,hr Arls, Oxford 1997, S. 78-94. Darin wird das Argument enfaltet, daß unsere normalen emotionalen und moralischen Reaktionen auf Abbildungen nicht angepaßt sind weil das Abgebildete fiktiv ist (in den Fällen, in denen dies tatsichlich so ist), aber weil es nicht "hier und jetzt", sondern abgebildet ist. Rich:ud \'(loJlheim nennt dies das "principle of acquaintance" (Venraulheitsprinzip). \,\lollhcim, .,Art and Evalualion", in: Ar/ lI"a in Ob/erls, zweite Ausgabe, Cambridgc 1980, S. 227-240. Hans-Georg Gadamer sieht hierin den Grund für die Gleichzeitigkeit aller Belr.l.chtungen eines Werkes. Siehe H.·G. Gadamer, "Ästhetik und Herme· neutik", in: K!einrSchriftrn H. Inttrpnlationtn, Tübingen 1967, S. 1-8. Siehe R. van Gerwen, .,Gadamer o\'cr gelijktijdigheid", in: Ftir & rlr/ir, V/2,2001, S. 120-128. Barthes spricht über das "puncfum" \'on Photos, eine realistische Beweiskraft, die man erfahren muß. Siehe R. ßarthes, /.A Cbaml"., Clai,." Paris 1980. Feied bezeichnet minimalistische Kunst (und Instalhl.lionen) als den Versuch, alle Kunst auf Anwesenheit zu beschränken. Siehe M. Fried ...Art and Objecthood", in: ArtJof'Nm, Califomia 1967.
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"an Gerwen, Hauch auf dem Spiegel
sende anwesend macht und die Frage entsteht, wie abwesend das Abwesende eigentlich ist oder wie die Anwesenheit des Zuschauers in der Abbildung berücksichtigt ist, dann fragen wir auch, welchen moralischen Anspruch das Abgebildete möglicherweise auf das Eingreifen des Zuschauers erhebt. Die Abbildung ist hier und jetzt, genau wie der Spiegel. Das Abgebildete ist nach dem gleichen Maßstab (es geht hier nicht um "Meter') jedoch noch weiter weg als das Spiegelbild: nicht aUein das mentale Leben der abgebildeten Personen, sondern der ganze Zusammenhang muß bei einer Abbildung in der Wahrnehmung des Beschauers aktiv durch dessen Phantasie konstituiert werden. (Der Gespiegelte kennt die Umgebung um den Spiegel hcrum - das ist nämlich die Welt. in der er sich befindet.) Wir machen uns das Abgebildete zu eigcn, aber wie "eigen" genau? \X'ie dicht müssen wir es an uns hetankommen lassen? Viele Unternchmungen der gegenwärtigen Kunst gehen auf diese Fragen ein. Performances und InstaUationen wollen den Zuschauer so dicht in das Kunstwerk hineinziehen, daß das Kunstwcrk zu einem Wahrnehmungsobiekt wird, in dcm es überhaupt keine Abwcsenheit mehr gibt: das ist cher ein Ritual als eine Repräsentation. Bei einer Repräsentation wird im Wahrgcnommenen nicht-egozentrisch etwas andcrcs gcsehen, während man sich in einem Ritual die wahrgenommene Entität oder das wahrgenommenc Gcschehen selbst fils etwas andcres vorstcllt. In unserem Kunsterleben gibt es einige unverkennbar rituelle Aspekte, aber es ist die Frage, ob Kunst im Rahmen unseres Kunstverständnisses völl.ig riwalisiert werdcn kann. Setzt Kunst nicht voraus, daß ein Abwesendcr im Spiel bleibt? Marina Abramowicz hat einmal eine Performance aufgeführt, in der sic sich mitten in einem Stern aus Feuer befand. Das Publikum fühlte, daß der Geist der Künstlcrin den vcrletzlichcn Körper zer4 störerischem Feuer aussetzte, und erfuhr die Spannung, wie die eines wirkungsvollen Kunstwerkes. Niemand merkte allerdings, daß das Feuer den Sauerstoff aus dcm Stern wegsaugte und daß Abramowicz das Bewußtsein verlor. Ein Arzt im Publikum sah dies jcdoch; er sah, daß sie ihren Fuß, der ins Feuer geraten war, nicht zurückzog, und schleppte sie aus dem Feuer. Sein Eingriff war direkt moralisch gefordert, durchbrach jedoch die Performance. Es ist entweder das Eine oder das Andere. Einc Ptrsol/a und nicht-egozentrische Imerpretation sind zwei Seiten der gleichen Medaille der Kunstbetrachrung. 11 Sobald sich jemand als vollständige Pcrson - cgozentrisch - von eincm Kunstwerk ansprechen läßt odcr - umgekehrt - sobald jemand als vollständigc Person das Kunstwcrk ist, kann es nicht um Kunst gehen. Die Definition von
11
M. Abramowicz, .,Rhythm 5" (performance), Yugoslavien 1974. Für eine Diskussion über die Persona Theorie. siehe B. Vermazen, .. Expression as Expression". in: Parift( PlJi/osoplJko/ QNarttr!J. 67 (1986). S. 196-224. J. Levinson. "r..·lusical Exprcssiveness'\ in: Tht P/taSliffI oj AtsJbtfiu, hhaca und London 1996, S. 90-128. M. ßudd. VO/NU oj Art. Piffllns, Porfry ,md /Hflsif, London 1995. S. 87-89. R. van Gerwen, .. Expression as Represemation", in: R. van Gerwen (H rsg.) Rkhord Il70llhti", on fbe Art oJ Poinfing. A rf OJ RtprtJtnfafion and E:'Cpnssion, New York S. 135-150.
Diskussionen des
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Kunst iSI hier nicht meine Sorge. Es geht darum, daß die Person des Performers ferne sein kann, so nahe sie auch ist. ISI das Ich, das ich im Spiegel sehe, so eine Persona rur mich? Schwierige Frage. Es wird schon \'on mir erwartet, direkl moralisch auf das zu reagieren, was ich im Spiegel (und somit in meiner Nähe) sehe: ich nehme keine kunstgerechte Einstellung ein. Aber andererseits sehe ich mich selbst schon so, wie andere mich sehen, als ein Äußeres, auf dessen Basis man auf ein Inneres schließen kann. Ich sehe mein Äußeres und werde das daran anpassen, wie ich von anderen gesehen werden will, usw. (Hierzu passen Lacans biologische Beispiele). Es ist kein Zufall, daß wir, in einer ntersuchung der Weise, in der Repräsenlationen wahrgenommen werden, immer wieder auf psychologische Fragen stoßen. Auch \'('illem van Reijen geht es - in einem neueren Beitrag über messianische Tendenzen in Benjamins Aura-Begriff - um die Eifahrung der Aura, und das gilt auch für Benjamin selbst. I2 Benjamin bezeichnet die photOgraphische Reproduktion als das Ende der Aura der Kunst. Tatsiichlich siehl, wer die Reproduktion eines Gemäldes anschaut, nicht das Gemälde selbst - und dies ist keine akademische, sondern eine ästhetische oder phänomenologische Frage: die Anwesenheit des Gemäldes, die Farbe auf der Leinwand ist hier reduziert auf seine Abbildung. Empirisch gesehen ist das nicht bei allen Gemälden gleich schlimm - ein Magritte, Willink oder Escher leiden darunter weniger als ein Rembrandt oder Freud. Es ist jedoch ein logischer Angriff auf das Konzept von Kunst - in diesem Fall auf die Kunstform der Malerei. Man kann die These auch so lesen: dass Photographie im all~meinen die Aura des PhotOgnphienen (was das auch sein möge) zerstört und daß sie versäumt, diese durch eine neue Aura (die des Photos) zu ersetzen. Solche Ersatzauras gibt es auch schon bei Gemälden. Das Photo ist flach und scheinbar durchsichtig, sogar wesentlich pornographisch (ScrutOn). In der Theorie der Photographie wurden genügend Versuche unternommen, auch bei Photos eine Aura zu identifizieren: Roland Barthes nennt dies "Punctum", und Benjamin selbsl versuch I es auch in seiner "Kleine Geschichte der PhotOgraphic".u Er ruft in Erinnerung, wie die "exakteste Technik [die der Photographie; RvGI einen magischen Wert geben rkannJ, wie ihn für uns ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann" (KGP, 371). (Ich ignoriere das !\'lystische "nie mehr".) Am Anfang beschuldigte man Daguerre einer "teunisehen" Verleugnung der "Unmöglichkeit, die flüchtigen Spiegelbilder fest zu halten" (KGP, 369). Tatsächlich kann man ein flüchtiges Spiegelbild nicht festhahen, denn das ist "mein" Bild, das in einer dialeklischen Beziehung zu meinem Selbstbewußtsein steht. Das Festhahen eines Spiegelbildes würde diese Aura sicher zerstören. In jedem anderen Zusammenhang wissen wir es mittlerweile aber besser: PhotoII 13
van Reilen ..• Bre:athing the Aura - The Hol)'. ,he Sobt:r Bre:ath'·. in: TlNtllJ, CI,lllirr o"d SMitlJ. 18/6 (2001). S. 31-50. \'('. Benjamin, Guommtllt S,hrijt,,,. li/I. 1978. $. 368-385. Von jetzt an: KGP. \'(I.
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van C(:rwen, Hauch auf dem Spiegel
graphie kann ungefahr alles feslhahen. Die erSten reproduzierten Menschen verhjelten sich jedoch. als ob ihr Spiegelbild wirklich festgelegt worden sei. Benjamin zitiert Dauthende)': "man geuaul sich zuerst nicht [... } die ersten Bilder 1... llaoge anzuschauen" (KGP, 372). Als ob man die Menschen selbst zu lange anschaute. Menschen kann man nämlich nUf eine beschränkte Zeit anschauen (oder aber es wird zu einem ..Anstarren"), es sei denn, man ist verliebt oder der Vater oder die Mutter eines Kindes. Die Faszination und das Vertrauen, die zu den letzten heiden Fällen gehören, sind in sozialer Hinsicht von besonderer Art. (Auch das macht das eigene Spiegelbild besonders: man kann sich selbst ungeniert lange anstarren). Der Gedanke. daß ein Photo ein Spiegelbild festlegt, trifft nicht den Kern der Sache. Es kann nicht wirklich schaden, ein Spiegelbild zu phorographieren, genau wie es sozial auch weniger schwerfallt, jemanden über einen Spiegel anzuschauen. Der kürzlich von David Hockney verteidigte Gedanke, daß Maler bereits im 15. Jahrhundert ein Bild kopierten, das sie mittels (und in) einer Call1era ObSCNnl erhielten, macht dies deutlich. Das ModelJ ist in diesem Fall nicht auf dem laufenden über das, was der Künstler in seiner Dunkelkammer mit ihm oder ihr tut. Das gemalte Modell wird die Verfremdung weniger schändlich finden als das pholOgraphierte Modell. das - Benjamin zu folge - in einen Apparat schaut, ein nicht erwiderter Blick. 14 Hockney zufolge könnte man sagen, daß man mit der Linse (oder dem Hohlspiegel) das Bild stiehlt und dann auf dem Tuch festlegt. Das "Teuflische" kommt durch den optischen Diebstahl, mit dem die Perspektive der ersten oder zweiten Person auf das Modell rückgängig gemacht wird. Hiermit wird der sozial beschränkte Blick auf den Anderen durch einen unbegrenzten Blick ersetzt. 15 Diesen Gedanken finden wir auch in Benjamins Beschreibung der Aura: \"1;las ist eigentlich AUr2? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige
Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommermiuag ruhend einem Gebirgszug 20m Horizont oder einem Zweig folgen. der einen Schatten auf den Betrachter wirft, bis drr ANgrnblidc odrr dir SfNndr Tril an ihnr ErsrhtinNng hal - das heisst die Aura dieser Berge. dieses Zweiges atmen.(KGP, 378. ;"'Ic:ine Kursivierung)
Sobald in der Erfahrung der "Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat", ist der Wahrnehmende "dabei": das Wahrgenommene ist dann in das Bewußtsein seiner egozentrischen Wahrnehmung integriert. Während Currie eine beinahe objektive Beschreibung der Wahrnehmung gibt. finden wir bei Benjamin eine eher subjektive. Wenn wir Aura wahrnehmen (atmen), dann begreifen wir unsere Beziehung zum Wahrgenommenen. Genau wie beim •• Übrigens hat Hockm~)'s These ein erschreckendes Corrolarium: Die ~rfektionisli sehen Gemilde, oft POrtr2fS. sind aUe ..auf dem Kopf" gemalt. Malten diese M:t1er 2US pS}'chologischen Prinzipien heraus oder eher mechanisch. wie SC2nne.r? 15 Siehe meinen Beitr2g ..Oe representatie V2n bev,'lIstzijn. Oe drie sU'2tegiec=n van kunsl", in: F,it & Firtir, V/2 (2001), S. 65-81. Es geht hier um Konsequenzen aus diesem Ged2nken für unsere Auffassung von der Aufgabe der Kunsl.
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
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Spiegel begreifen wir, daß der Kontext des Wahrgenommenen unsere eigene Welt ist, hier und jetzt. Die Sache hat also einen doppehe Slruktur: Es ist nicht nur so, daß das Modell sich der Kamera hingibt, der Beschauer des Photos muß sich auch sei· nem eigenen Voyeurismus fügen. Die soziale Gegenseitigkeit, die den egozentrischen Blick auf den Andern kennzeichnet und die - Benjamin zufolge - eine Erfahrung der Aura im besten Sinne des Wones ist. 16 ist auch der Ausgangspunkt von Lacans Analyse des Spiegelstadiums und von Curries Kritik an Sc ruIOn. Daß Benjamin unsere Erfahrung der Aura als einen Atem beschreibt, sagt viel. icht - wie van Reijen behauptet - weil Atmen eine Wahrnehmung des Tastsinnes ist (Atmen ist keine Wahrnehmung), sondern weil Atmen und das Egozentrische der Wahrnehmung immer zusammen auftrelen: nichts ist normaler als zu atmen, wenn man, egozentrisch, die Aura eines Blickwechsels erfahn. Das Prinzip des Wohlwollens gebietet uns die Schlußfolgerung, daß Ben· jamin dies auch gemeint haben muß. Denn sobald wir uns des Atmens als Wahrnehmung bewußt werden, ist es aus mit der Ruhe und Offenheit, die notwendig sind, um eine Aura zu genießen. \X'enn der Atem sich aufdrängt, gerät das Subjekt in Panik über das eigene Fortbestehen. Das Atmen ist ein integraler Aspekt der egozentrischen Wahrnehmung. Es ist beinahe genauso selbstverständlich wie unsere körperliche Anwesenheit selbst; die Anwesenheit, die wir da vor uns widergespiegelt sehen. Es sei denn, daß unser Hauch den Spiegel beschlägt und aU es Anwesende. wie nahe es auch sein möge, in Nebel auflösL"
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Gesammelte Schriften, 11/2. 1978. S. 646. Zitien in: V:an Reijen, ..Aur:l", S. 42. Ich d:anke vor :allem meinem Kollegen Willem \':ln Reijen für seinen inspirierende An- und Ab.....esenheit während des Komponierens dieses Artikels.
Uwe Steiner
Philosophische Um- und Abwege Aus dem Schwarzwald über Heidelberg nach Paris: Heidegger, Max Weber, Benjamin
Nicht erst Heidegger hat rur das von ihm emphatisch so genannte Denken die tvletapher des Weges gefunden. Bereits in Benjamins Trauerspielbuch wird Methode als Umweg definiert. Als ein solcher Umweg erwies sich ihm die DarsteUung. Die überzeugung, daß die Darstellung der Wahrheit sich in Gestalt von Konfigurationen vollziehe und zu voUziehen habe, gehört zu den weitreichenden philosophischen Einsichten Benjamins, die in der Rezeption seines Werkes nicht ohne Wirkung geblieben sind. In seinen eigenen methodologisehen berlegungen ist sie mit einer von ihm gelegentlich so genannten alten ?.'ia.xime der Dialektik verbunden, derzufolge eine "Überwindung von Schwie· rigem durch Häufung desselben" zu erwarten sei. Demnach wäre also davon auszugehen, daß in einer Konfiguration eine Steigerung von Komplexität das Bild nicht trüben, sondern klaren würde. Der Gedanke ist zu verflihrerisch, um ihn nicht auf Benjamin selbst anzuwenden. Die folgenden Überlegungen unternehmen einen solchen Versuch. Indem sie in die Diskussion um Benjamin und Heidegger den Namen Max Webers einbringen, schlagen sie einen Umweg vor, von dem sie hoffen, daß er hinreicht, um eine historische Konstellation wenigstens in mrissen deutlich werden zu lassen.
I "Links hatte noch alles sich zu enträtseln 1... 1" lautete der programmatisch zu verstehende Titel eines Sammelbandes, der Ende der siebziger Jahre eine Zwischenbilanz der Benjamin-Forschung zog. Zwar gehörte die von aktuellen po· litischen Interessen geleitete \Xliederentdeckung Benjamins durch die Studentenbewegung im Erscheinungsjahr 1978 bereits der Vergangenheit an. Den· noch schien auch das differenziertere Bild, das die mit dem Erscheinen der Grlammtllrn Srhrifttn einsetzende akademisch-philologische Rezeption zu zeichnen begann, dem Herausgeber eine unparteiliche Beschäftigung mit dem Autor nicht zu erlauben. Das titelgebende Zitat war einem Denkbild entnommen, in dem Benjamin sich die Optionen vergegenwärtigte, die dem bürgerlichen Intel· lektuelIen im Wehbürgerkrieg zu Beginn der dreißiger Jahre noch verblieben
Steiner, Philosophische Um- und Abwege
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waren. l\'!.it dem Unternehmen, Benjamin in den Kontext seiner Zeit zurückzustellen, war für die von Burkhardt Lindner eingeladenen Beiträger die Ein4 schä[Zung verbunden, "daß sich aus der Rekonstruktion der Auseinandersetzungen der Vorkriegsintelligenz nachhaltige Anstöße für gegenwärtige Probleme ergeben".] Inzwischen haben sich die Anzeichen verdichtet, daß in Sachen Benjamin, um in seinem eigenen Bild zu bleiben, auch "rechts" so manches der Enträtselung harre. Nach einer Reihe von Aufsätzen liegen mittlerweile zwei l\olonogra4 phien über Benjamin und Heidegger vor, deren Nähe zu behaupten noch unlängst als skandalös empfunden wurde. Noch Willem van Reijens Studie rechnet mit Lesern, denen die "trotz grundsätzlicher Differenzen" konstatierten "Parallelen und Konvergenzen zwischen den Philosophien Heideggers und Benjamins" anstößig erscheinen könnten. 2 Vor diesem Hintergrund geht er der grundsätzlichen Frage nach, ob es eine "innere Beziehung zwischen der Methodologie einer Phjlosophie und der mit ihr verknüpften politischen Option gibt".) Um den womöglich als noch skandalöser aJs seine Ausgangsfragestellung empfundenen Preis einer Rettung der be,iden Philosophen als Metaphysiker, die neben der Metaphysik noch das Selbstmißverständnis ihrer Umsetzung in politische Praxis ejnt, meint er Heidegger und Benjamin einander und zugleich den politisch Korrekten unter seinen Lesern näherbringen zu können. Demgegenüber wirft Stefan Knoche in seiner Studie die Frage nach Sinn und Grenzen der Vergleichbarkeit zweier Autoren auf, die "sich nicht gesucht haben".4 Gegenüber van Reijen insistiert er darauf, daß die metaphysische Distanz zur \X/elt der diskursiven Aussagen, in der für van Reijen der Unterschied zwischen rechts und links zur tjllQfJtiti nigligtablt schwindet, für Heidegger und Benjamin nicht im glcichen M,aße gehe. Ohne die Verdienste der älteren Studie zu leugnen, die die viel faltigen Überschneidungen des Benjaminsehen und des Hcidcggerschen Denkens vorzüglich zugänglkh mache, erscheint Knoche die Vergleichbarkeit doch erSt unter der Voraussetzung eines "fundamentalen Unterschiedfsj der Geschichtlichkeits-ßegriffe" sinnvol1. 5 Einem bei Benjamin um den Begriff der Gegenwart zentrierten, diskontinuierlichen Begriff der Geschichte stehe die "PriviJegierung der Zukunft" bej Heidegger entgegen, die auch durch dic nach Sein lind Zeit vollzogene Kehre zum seinsgeschichtlichen Denken nicht grundsätzlich revidiert werde. 6
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ßurkhardl Undner (Hrsg.), "Links baJte 1l0fh fIt/ti sifh ZII mlriitstln f...}" Il7atttr Bmjamifl im Konllxt, Frankfurt a. M. 1978, S. 10. Wiltem van Reijen, Dtr Sfhu'fl'ZU'r:'/d 111111 Pan·s. Htidtgger lind Benjamin, München 1998, S. 8. Ebd., S. 18. 51efan Knoche. Bnl)dmifl - Htidtggtr. Ober Grll'all. Dit PotiliJimmg dtr Kllnst, Wien 2000, S. 11. Ebd., S. 179. Ebd., S. 28 f. und S. 47.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
II Unter vergleichsweise entspannten Zeitumsländen absolviert demnach \'(/alter Benjamin heute ein Pensum, das Georg Lukacs und Theodor W. Adorno bereits zu bestehen hatten. Womöglich ist es kein Zufall, daß die entsprechenden Studien in einem Zeitraum erschienen, in dem der Benjamin gewidmete Sammelband die Zeit für reif befand, ihn in den historischen, keineswegs ausschließlich philosophischen Kontext zu stellen. Denn zeitbedingt provokativ gerieten mit Lukacs und Adorno zwei bedeutende Repräsentanten der Vorkriegsintelligenz in den Blick, von denen man sich im Rückgriff auf die Debatten der zwanziger Jahre nachhaltige Anstöße für gegenwärtige, nicht zuletzt politische Probleme versprach. Damit aber provozierte man zugleich die Wiederkehr des im linken Diskurs der Gegenwart Verdrängten. Zu Luden Goldmanns fragmentarischer Studie über Lukdcs und Heidegger haue vermeintlich Heidegger selbst an prominenter Stelle das entscheidende Stichwort gegeben. An zwei Stellen von Sein und Zeil nämlich ist, zudem in Anführungszeichen, von der "Verdinglichung des Bewußtseins" die Rede, dem Schlüsselbegriff von Georg Lubcs' vier Jahre vor Heideggers Abhandlung erschienener Aufsatzsammlung Geschichte und KlauenbewußlIein. Lukacs selbst hat Goldmanns Lektüre von Sein Imd Zeit als Replik auf sein eigenes, nicht zuletzt für Benjamins Zuwendung zum Marxismus bahnbrechendes Werk mit der Bemerkung abgetan, das Thema habe eben in der Luft gelegen. 7 Wie Goldmann zeigte, werden die unbestreitbaren Antagonismen gerade im Nachweis ihrer gemeinsamen philosophischen Grundlage zwar nicht unversöhnlicher, aber in ihrer Genese verständlicher. Wie Heideggers Fundamentalanalyse des Daseins läßt sich auch Lukacs' neomarxisusche Konzeption eines Subjekts der Geschichte vor dem Hintergrund einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem neukanuanischen Transzendentalismus verstehen. Der Weg, der von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt zur Konzeption eines revolutionären Subjekt-Objekts der Geschichte einerseits und zum ,eigentlichen Dasein' andererseits führt, zeichnete für Goldmann zugleich auch den Weg einer "analogen Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der politischen Stellungnahmen der beiden Denker [vorl, das heißt der Beziehungen Heideggers zum Nationalsozialjsmus und der Lukacs' zum Stalinismus".8 Wie gegenüber Lukäcs, der ihm gelegentlich den maljziösen Vorwurf machte, seinen eigenen Bekundungen zu folge den "Hitlerismus nur in einem Kier-
7
Georg Lukacs, ..VorwOrt" (1967) in: G. L., CmhidJlt und KlaJJtnbeu'lißtuin. Sludim iibtr ",aoollü(bt Dialtlelile (1923), Neuwied 1976, S. 23. Die von Goldmann auf Lukacs bezogenen Stellen sind in Stin lind Ztil, §§ 10 bzw. 83, nachzulesen (Martin Heidegger: Stin und ltil, 12. AuO. Tübingen 1972, S. 46 bzw. S. 437). 8 Lueien Goldnlann, l..JIko(J und Htidtggtr. Na(hgtlmunt Frag"'tnlt. Texleinrichtung und Einleitung von Youssef Ishaghpour. Neuwied 1975, S. 102.
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kegaardschen Inkognito mitgcmacht zu habcn",9 hat Heidegger auch Theodor W. Adorno gegenüber zeitlebens Stillschwcigen bewahrt. Dabei ist für den Heidegger-Schüler Hermann Mörchcn die von ihm in zwei Studien untersuchte Kommunikationsverweigerung zwischen den beiden Phi.losophen, deren Denken die deutsche Nachkriegszeit dominierte, die Kehrseite ciner akribisch nachgewiesenen Präsenz Heideggers im Werk des vierzehn Jahre jüngeren Adorno. Auch für j\'1örchen verbirgt sich unter der Oberfläche von Adornos häufig unsachlicher, jedenfalls aber unversöhnlicher Polemik eine "verschwiegene Nähe" des philosophischen Gedankens. 1O Der in bei den philosophischen Lagern zu erwartenden Skepsis, mit der sein Hinweis auf sachliche Konvergenzen rechnete, hielt Mörchen die doppelte Norwendigkeü entgegen, in einer nachgeholten Auseinandersetzung mit Adorno zum einen Heideggers poliu. sches Engagement nach 1933, zum anderen aber die Ambivalenzen seines Denkansatzes näher zu untersuchen, der nicht zuletzt in seinen eigenen philosophischen Wandlungen zum Ausdruck gekommen sei. 1l Jedoch sind der Visi· on herrschaftsfreier Kommunikation auch posthum und erst recht in pbilofophicis Grenzen gesetze. Hans Ebcling zu folge "läßt sich weder der gesellschaftlichen Konmkt in Heideggers Seinsdenken integrieren, ohne beide zu verraten, noch die Seinsgeschichte mit einer Portion wcltlkherer Weltgeschichte anreichern, noch gar das Prinzip der Aufklärung mit dem Prinzip der Seinsvergessenheit vermittcln".12
III Mit Blick auf die historischen Debatten könnte es sich als sinnvol,1 erweisen, den in ihrer Erörrerung konstatierten Konflikt von metaphysischem Anspruch und politischem Selbstmißverständnis nicht als abschljeßende Auskunft, sondern vielmehr als Ausdruck einer - ihrerseits - historischen Konstellation zu betrachten. Denn der beobachtete Konflikt zwischen Phjlosophie und Politik setzt implizit die Unvereinbarkeit beider voraus. In diesem Sinne, nämlich als einen mit zunehmender Rationalisierung irreversiblen Prozeß der Ausdifferenzierung der Wertsphären, der in deren intransigenter Eigensinnigkeit mündet, hatte Max Weber die Moderne verstanden. Mit großer Überzeugungskraft
9 10
II
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Georg Lukacs: Von Nirl!{Ifhr biJ Hillrr odrr Drr frro!ionolÜI1I1U lind dir drllmht Polilik, Frankfurt a. M. 1966, S. 25. Hermann Mörchen, Adorno ulld Hridt!J!,tr. Unlrnufhung tintr philoJophiJrhm K011ll1ll1l1ika· lionJ/ltnJftigtrlllll,. SlUugart 1981, S. 588. Dieser Studie hatte Mörchen eine kürzere Betrachtung der l>.'\acht- und Herrscha(tskonzcptionen vorausgeschickt: H. M., MOfhl Jif/d HtrruhaJt im DtJlkm I/()n Htidrggtr lilld Adorno, Srungart 1980. Ebd., S. 24. I-{ans Ebe1ing, "Adornos Heidegger und die Zeit der Schuldlosen", in: PhiltJJOphiuht RlindJfholl 29 (1982), S. 194.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
konnte deshalb Narben Bolz Webers Rede von der Entzauberung der Welt als Kontrastfolie evozieren, um den philosophischen Diskurs der zwanziger Jahre als einen "Auszug aus der entzauberten Welt" zu begreifen, in dessen Sog die politisch-philosophischen Extreme sich berühren. 13 Hier lohnt es sich jedoch, die Ausgangslage ein wenig näher ins Auge zu fassen. Als Marun Heidegger in einem Fernsehinterview aus Anlaß seines 80. Geburtstages um Stellungnahme zum zum al an den Universitäten laul werdenden Wunsch nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnjsse gebeten wurde, antwortete er mit einem Selbstzitat. Offenbar schien es ihm im studentenbewegren Jahr 1969 den Zeitgeist ebenso treffend auszudrücken, wie schon vor vierzig Jahren: "Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die BehandJungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Vielfaltigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakultäten zusammen- und durch die praktische Zwecksetzung der Fächer in einer Bedeutung gehahcn. Dagegen ist die Verwurze!ung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abgeslOrben.,,14 Auf diese Passage hatte er bereits in dem drei Jahre zuvor gewährten, jedoch erst posthum zur Veröffentlichung bestimmten Spitgtl-Interview verwiesen. Das Zitat entstammt der Antrittsvorlesung, die er 1929 unter dem Titel: "Was ist Metaphysik?" bei der Übernahme des Husserl-Lehrstuhls in Freiburg gehalten hatte. Im Kontext des Spiegel-Gesprächs sollte das Zitat das Grundmotiv erhellcn, das ihn im Jahre 1933 bestimmt hatte, in ebenfalls politisch bcwegten Zeiten das Rektorat der Universität Freiburg zu übernehmen. 15 Die Wurzeln des in dem Zitat ausgedrückten Gedankens lassen sich bis auf die Vorbetrachtung zur "Wisscnschaft und Universitätsreform" zurückvcrfolgen, mit denen der Privatdozent 1919 seine Vorlesung über die "Idee der Phi· losophie und das Weltanschauungsproblem" eröffnete. Mit Max Weber, dessen Münchner Rede im selben Jahr im Druck erschien, teilt Heidegger, wie Stcven Crowcll gezeigt hat,16 die Einsicht, daß die zunehmende Spezialisierung in den \'I?issenschaften den Charakter der Universitäten grundsätzlich geändert habe und dementsprechend das Selbstverständnis derjenigen, die die Wissenschaft als Beruf betreiben, einer Neubestimmung bedürfe. Man kann jedoch durchaus Webers Diagnose zustimmen, ohne sich dessen Folgerungen zu eigen zu machen.
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Norben Bolz, AUJzug aUJ der mtzaubertm IFe/t. PhiloJophmher ExtremiJ1IluJ
~iJ(:ht1l dtn
IVtltlt.ritgen, t-,'Iünchen 1989. "Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser", in: Martin Htidtggtr im GtJprärh. Hrsg. von Günther Neske und Ernil Kenering. Tübingen 1988, S. 21. "Spiegel-Gespräch mit Marcin Heidegger", in: Marfin Htidtgger illl Gupriich, S. 83. Vgl. Martin Heidegger, "Was ist Metaphysik?" in: M. H., IVtgmnrktn, Frankfurt :10. M.
1967.5.2. 16
Vgl. Steven Gah Crowell: ..Philosophy as a Vocation: Heidegger and Universit}· Reform in the E:Iorly Interwar Years", in: S. G. c., HUJJerl, Htidtggtr, and fhtSpoct ojMtoning. PafhJ tou'ard TranJctndtnfa/ Phtnomtn%gy, Evanston, IL 2001, S. 152-166.
Steiner,
P~ülosophische
Um- und Abwc=ge
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\'leber zufolge kann die Fachdisziplin Philosophie in der ~'Ioderne einzig dazu dienen. dem Einzelnen dabei zu helfen, "sich selbst Ruhtn1thafl Zu gtbtn iibtr dtn Itfi/tn Sinn dtr tigtntn Tuns". Dabei aber hat sie den Grundsachverhah in Rechnung zu stellen, .,daß das Leben, solange es in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander kennt, - unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeir des Kampfes der letzten überhaupt 1/Jöglichtn Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also zwischen ihnen sich zu tnlJ(htidm".17 Demgegenüber eröffnet für Heidegger die von der Philosophie gefordene Besinnung auf .,innere Wahrhaftigkeit" den Weg zur Idee der Philosophie als "Urwissenschaft", letztlich also zu einer transzendentalen Phänomenologie des faktischen Lebens, die in der Fundamentalomologie des Daseins dann ihre \'orläufig abschließende Formulierung finden wird. Mag das Pathos der .,inneren Berufung", wie Heidegger es beschwön. 18 auch noch so sehr an \X/ebers nicht weniger pathetischen Appell erinnern, das Schicksal der Zeit männlich zu ertragen - die "Forderung des Tages", der es gerecht zu werden gilt, wird von beiden doch höchst unterschiedlich ausgelegt. Während Weber die Frage nach einem abschließenden Sinn des Lebens dem ewigen Streit der Werte überantwortet, gewinnt Heidegger sie affirmativ der Philosophie zurück. Als erneut zu stellende und konkret auszuarbeitende "Fragt nach dUlI Sinn Ilon Stift" hat er sie seinem philosophischen Hauptwerk ostentativ vorangestclh. 19 Die Webers Befund grosso lIIodo bestätigende Analyse der Welt des "Man" beschreibt denn auch weniger das Schicksal der Moderne, sondern vielmehr eine Welt, die ihr Schicksal noch nicht ergriffen hat. Niclu zuletzt die vorsätzliche Vermischung des individuellen mit dem kollektiven Geschick, auf die Heidegger in der Analyse der "Grundverfassung der Geschichtlichkeü" in Stin und Ztit zusteuen. liefen ihm sodann das Formular fur die retrospektive Selbstdeutung seines Frühwerkes, deren Spannweite von der Rektoratsrede bis zur Spätphilosophie reicht. 20 In jedem Fall gilt es gegen den Polytheismus der \X'ene, der im disparaten Apparat der modernen Universität unmittelbar greifbar wird, dem "abgestOrbenen Wesensgrund" der Wissenschaften philosophisch die Treue zu halten.
Max \X'eber, ..Wissc=nschaft als Bcruf", in: f\'I. W., Guommtlle AllfltilZt ZIiT Il7illt1lf(h4I1!thn, hrsg. \'on Johannes Winckelmann, Tübingc=n. 7. Aufl. 1988, S. 608 (I-Iervorhebung im Original). 18 Marun Heideggc=r, Vit lJu dtr Phil()lophit lI11d das lWtllallsthoNN1IgsprtJbltm. In: M. H., Gt· samlaNsgobt. Bd. 56/57, hrsg. "on Brend Hc=imbüchel, Frankfurt a. M. 1987, S. 5. 19 Heidc=ggc=r, Still Nlld 2til, unpag. eS. 1) (Hervorhebung im Original). 20 Heideggcr, Stin lind 2til, § 74, S. 382-387. Hierzu Jürgen Habermas: Der philosophisdN ViskoliTS dtr Modtnu. 211'iilJ Vorlmmgm, Frankfurt a. J\L 1985, S. 184-190. sowie Ders., .,Hc=idegger - Werk und Wdtanschauung, in: Viclor Farias, Htidrggtr u"d fitr Noli01l01IOZitllislfllll. Mit einem Vorwon von Jürgen J-1abermas, Frankfurt a. M. 1987, bc=s. S. \'7
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Das Bild der Universität, wie es sich Weber und Hcidcggcr unmittelbar nach dem Krieg darstellt, entspricht weitgehend dem, das der junge Benjamin kurz VOf dem Krieg in seiner Rede als neu gewählter Präsident der Berliner Freien Studentenschaft zeichnet. 1m Spannungs feld von Universität und Staat. Studium und Beruf, ist fUf das LLbtn du S/I/dtnltn, will sagen rur ein von der Idee der Wissenschaft und nicht von Amt und Beruf bescimmtes Leben, kein PI:HZ. Ähnlich wie Heidegger scheint 2uch fUf Benjamin alJein mctaph)'sische Besinnung der rilligen Erneuerung den Weg weisen zu können. In seinen berJegungen bestimmt die Metaphysik jedoch nicht die Substanz, sondern die Struktur des Gedankens. Er versteht seine Aufgabe als eine kritische. Nur als Ab· bild, als Gleichnis eines höchsten metaphysischen Standes der Geschichte sei die jetzt gegebene Form studentischen Lebens wert, beschrieben zu werden. Aufgabe der Kritik sei es, "das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien". 2\ Auf den ersten Blick überraschend und sicher nicht ohne provokativen Hintersinn rückt Benjamin dem Leben der Studenten dasjenige der Cafehausliteraten an die Seite. Die Literaten als Repräsentanten des modernen Großstadtle· bens, des von Heidegger verachteten .. 1an", werden ihm zu Trägern einer neuen geistigen, religiöse Züge tragenden Kultur. Nicht anders als in Georg Lukacs' 1910 erschienener Essaysammlung Die Sede und die Formtn hat auch in Benjamins frühen Schriften die Kulturphilosophie Georg Simmels deutliche Spuren hinterlassen. In seinem Dialog iibtr die Rtligiositiil der Gtgenll1arl Stellt er die Literaten als r,.'{ärT)'rer der neuen KultuneLigion dar, weil sie die ..Werte ins Leben, in die Konvention umsetzen woUen".12 Indem sie in der Unbedingtheit ihrer Kunstliebe zu gesellschaftlichen Außenseitern werden, führen sie gerade im Widerspruch gegen die Gesellschaft deren religiöse Bedürftigkeit vor Augen, demonstrieren sie, wie fern die Gegenwart von einer Kultur ist, in der der Dualismus von Sein und Sollen letztlich überwunden wäre. In TolstOi, Nietzsehe und Strindberg, so Benjamin, habe diese Religion und der in ihr verhieße· ne neue Mensch, mit dem die Zeit schwanger gehe, bereits ihre Propheten gehabt. Mit den Großstadtiiteralen als philosophischem Gegenstand und der Überzeugung, daß der Philosophie einzig die Kritik als gangbarer Weg offenstehe, bewegt sich Benjamin in einem Rahmen, den Webers Theorie der Moderne nachgezeichnet hat. Unter Berufung auf die praktische Philosophie Kants be· kennt er sich in seinen frühen Schriften und zahlreichen Briefen zu einer "streng dualistischen Lebcnsauffassung".23 Im Dialog trifft diese Überzeugung
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W:aher Benj:amin, ,.D:as Ldxn der Srudenu:n", in; W. B., Gua","'tlft S(hrijttll. 7 Bde. und Supp!., unter M-itwirkung '·on Theodor W. Adorna und Gershom Schalem, hrsg. von RolfTiedemann, Frankfurt a. M. 1972-1999, Bd. li/I, S. 75. W:aher Benj:amin, "Di:aJog tiber die Rdigiosit2r der Gegenw:art;;, Gua",,,,tlte S(hrijttll.
Bd. 11/1. 5.29. lJ
An Ludwig Strauss vom 10. Oktober 1912, in: Walter Benjamin: Guamlltllte 6ritJt,
Steiner, Philosophische Um- und Abwege
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auf einen Anhänger des Monismus. Die auf die Lehren Gustav Theodor Fechners sich gründende pantheistische \X1eltanschauung des Monismus übte um die Jahrhundertwende einen nicht zu umerschätzenden Einfluß auf das geistige Leben im wilhelminischen Deutschland aus. Als eine Ersatzreligion, deren Credo die unbegrenzte Perfektibilität der Welt preist, ersetzt der Monismus die traditionelle Religion und Metaphysik durch den Glauben an Wissenschaft und technischen Fortschritt. Dieser Religion des Kapitalismus setzt Benjamin in seinem Dialog die "Ehrlichkeit des Dualismus" entgegen. 24
IV Von dem Dialog über die Religiosiliit der Gegenwart von 1912/13 führt ein direkter Weg zu dem vermutlich 1921 niedergeschriebenen Fragment über Kapitalismus als Religion, in dem Benjamin Mal' Webers Rede von der "schicksalsvoUsten Macht unsres modernen Lebens: dem KapitalüllI1u"25 in den religiösen Klartext zurückübersetzt. Weber beim Wort nehmend, will Benjamin den Kapitalismus seiner Struktur nach als eine essentiell religiöse Erscheinung beschreiben. In dem Fragment wird der Kapitaljsmus als eine Religion beschrieben, in der der doppelsinnige Begriff der Schuld die Stelle vertritt, die in Webers Theorie der Moderne der Begriff der Rationalüät eingenommen hatte. Wenn Benjamin ausdrücklich erklärt, den "Abweg einer maßlosen Universalpolemik" vermeiden zu wollen,26 macht er sich eine wichtige Prämisse der Religionssoziologie Webers zu eigen: Das Fragment wender das Verfahren der beschreibenden, sich jeder Wertung enthaltenden Soziologie auf Webers eigene Gegenwarrsdiagnose an. Die Rechtmäßigkeit, den Kapitalismus als "eine" Religion zu betrachten, hatte das Fragment aus der Beobachtung abgeleitet, daß er sich derselben Be· dürfnisstruktur verdanke wie die "sogenannten Religionen". Demnach würde eine Religion, die sich als Religion vom Kapitalismus provoziert sicht, nur diese fundamentale Gemeinsamkeit bekräftigen und damit letztljch im Bann dessen verbleiben, wogegen sie sich polemisch abzugrenzen trachtet. Die unaufhaltsame Dynamik, die der Kapitalismus entfaltet, finder in den Unrergangsvisionen der Apokalypse reiches Anschauungsmaterial, aber keinen religiösen Sinn. Deshalb macht es auch keinen Sinn, ihm theologisch entgegenzutreten. Nicht mit religiöser Polemik, sondern einzig mit revolutionärer Politik iSt dem Kapitalismus auf seinem eigenen Terrain zu begegnen.
2. 2S 26
hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, 6 Bde., hrsg. von Christoph Gödde und I-Ienri Lonitz, Frankfurt a. M. 1995-2000, Bd. I, S. 71. Walter Benjamin... Dialog über die Religiosität der Gegenwart", CutllHINtlle Schriften. ßd. 11 /1, S. 32. ~hx \X/eber: ..Vorbemerkung". in: M. W., GuaflllHtlft AJljiiit!{t !{Jlr RtiigioIlSlo!(jologit, hrsg. von Johannes \Vinckelmann, 3 Bdc., Tübingen, 9. Aufl. 1988, Bd. I, S. 4. Walter Benjamin, .,Kapitalismus als Religion". GuaINmtllt Schriften, Bd. VI, 100.
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Es ist ein hier sich abzeichnender, spezifischer Begriff des PoLitischen, der Benjamin eine Alternative zum Abweg der Universalpolemik eröffnet. In seinen Bemühungen um ein Verständnis dessen, was das Politische philosophisch sei, bezeugt sich in seinen frühen Schriften ein grundsätzliches Bemühen, durch eine Abgrenzung unterschiedlicher ,Ordnungen' die Geltung tradierter Begriffe und die in ihnen nicht zuletzt sprachlich kodifizierten Bereiche des Denkens und der Wirklichkeü zu überprüfen. Dies, und nicht etwa etymologisches Interesse, Liegt dem Versuch zugrunde, "die alten Worte Schicksal und Charakter aus der terminologischen Fron zu befreien und ihres ursprünglichen Lebens im deutschen Sprachgeiste aktual habhaft zu werden", 27 den Benjamin in einem diesen heiden ,Worten' gewidmeten Aufsatz unternahm. Wenn denn nach Webers resignierter Einsicht der Kapitalismus das ,Schicksal' unsrer Epoche ist, dann erkundet Benjamins Aufsatz, welches sprachliche Leben unter der verkrusteten Oberfläche des Schicksalsbegriffs sich philosophischer Einsicht eröffnet. Eine Ordnung, so lautet sein Befund in dem ungefahr gleichzeüig mit dem Fragment entstandenen Essay, "deren einzige konstitutive Begriffe Unglück und Schuld sind und innerhalb deren es keine denkbare Straße der Be~ freiung gibt (denn soweit etwas Schicksal ist, ist es Unglück und Schuld), eine solche Ordnung kann nkht religiös sein". Sie bezeuge vielmehr cine "dämonische Existenzstufe der Menschen", die im Recht Gestalt angenommen habe. 28 Die Ordnung des Rechts, in der die Menschen ihre Beziehungen untereinander und zu den Göttcrn regeln, ist in einem Akt sich fortzeugender Gewalt gegründet. Diesen Gedanken verfolgt Benjamin in der um die Jahreswende 1920/21, also ebenfalls in zeitlicher Nähe zu dem Fragment über den KapitalisnIli! 011 Religion niedergeschriebenen Kn'tik der Gewalt, die in dem zu Lebzeitcn von Max Weber mitherausgegebenen Archiv für S0i!aluJiJJemchajJ und Sozialpolitik crschjen. Einmal mehr geht es Benjamin auch in diesem Aufsatz darum, den Geltungsbereich bestimmter ,Ordnungen': des Rechts und der Politik, der Moral und der Religion, voneinander abzugrenzen. Ganz ähnlich wie die Wertsphären bei Weber einander ausschljeßen, sind auch die Konturen dieser Ordnungen allein durch den Akt der Grenzziehung, durch wechselseitigen AusschJuß, bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser nur schemenhaft sich abzeichnenden Lehre von den Ordnungen ist das Theologisch-PolitiJCbe Fragfnent als einer ihrer Grundtexte zu lesen. In Scbicklal und Charakter hatte es geheißen, daß "Glück und Seligkeit" ebenso aus der dämonischen Sphäre des Rechts und des Schicksals herausführen "wie die Unschuld".29 Im TheologilCb-Polititchen Fragment wird die "ldee des Glücks" zur zentralen Koordinate der "Ordnung des Profanen" und damit einer Ordnung, deren Geltungsbereich sich aus ihrer Abgrenzung gegen
An Hugo VOll Hofmannsthai vom 13. Januar 1924, GtJommelle Brieft, Bd. 11, S. 409. 28 Walter Benjamin, "Schicksal und Charakter", GtJomme!le Schriften, Bd. 11/1, S. 174. 29 Ebd. 21
Steiner, Philosophische Um- und Abwege
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"das Messianische" erschließt. Das Profane an der Idee des Glücks auszurichten aber heißt für Benjamin zugleich den Gedanken des Gottesreiches aus dieser Ordnung auszugrenzen. Deshalb hat die Theokratie für ihn "keinen politischen sondern allein einen reHgiösen Sinn". Als von der Theologie abgegrenzter Bereich aber bleibt die Politik gleichwohl auf die Theologie bezogen. Eben deshalb nennr Benjamin ihren Geltungsbereich ,profan'. Im Gedankengefüge der "mystischen Geschichtsauffassung", die das Theologisch-Politiuhe Fragment darlegt, ist alles Irdische letztlich allein um den Preis seines Untergangs mit dem Gonesreich verbunden. Das Ziel der Politik ist Glück; ihre Methode aber, wie es abschließend heißt: "Nihilismus·'.30 Sofern sich Politik Ziele setzt, hat sie diese auf die Ordnung des Profanen zu beschränken. Indem sich Politik auf das Profane beschränkt, sind ihre Zielsetzungen, jenseits des ihren Geltungsbereich begrenzenden Horizonts, letztlich nichtig.
v Unter der Voraussetzung einer Limitierung religiöser Ansprüche wird das Glück Benjamin zur zentralen Kategorie der irdischen, profanen Bestimmung des Menschen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sich seine Bestimmung darin erschöpft. Vielmehr ist das Profane per definitioneni auf das Heilige bezogen. Die wie immer spannungsgeladene Abgrenzung einer von unbedingten moralischen und reljgiösen Ansprüchen freien, im spezifischen Sinne politischen Ordnung ist keineswegs gering zu schätzen. Immerhin gehörte es zu den Kernstücken von Webers Theorie der Moderne, die Politik als Beruf von den POStulaten religiös überanstrengter ethischer Postulate zu befreien. Das zentrale Argument seiner überlegungen, daß nämlich "das spezifische Minel der legitifllen Geulall!afllkeil rein als solches" es sei, was die Besonderheit aUer ethischen Probleme der Politik bedinge,31 dürfte in Benjamin einen aufmerksamen Leser gefunden haben. Es ist nicht auszuschließen, daß der veriorengegangene, großangelegte Aufsatz über den "wahren Politiker", als dessen Bruchstück sich die Kn'lik der Geulalt erhalten hat, seine entscheidende Inspiration ebenso einer inversen Lektüre von Webers Politik aIJ Beruf verdankte, wie das Fragmenr über Kapilamom! aIJ Religion eine enrsprechende Lektüre der ReligionJJo~jologiuhen Au/Iiitze zur Voraussetzung hatte. In beiden Fällen macht sich Benjamin die Prämissen Webers zu eigen, um sie radikal weiterzudenken. Das Gradnetz der Ordnungen, das Benjamins seinem philosophischen Nachdenken zugrunde legt, beschreibt eine irreduzible Komplexität, wie sie Max Weber als entscheidendes Kennzeichen der Moderne erkannt hatte. Erst
30
Walter Benjamin: "Theologisch-Politisches Fragment", Gesal1Jl1Jelte Schriften, Bd. li/I,
S. 203-204. 31
Max \X'eber; "Politik als ßerur', in: M. \'(I., Gesal1Jl1Itlte Politiuhe Schn'ften, hrsg. von )0hannes Winckelmann, Tübingen, 5. Aufl. 1988, S. 556.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
vor diesem Hintergrund ist Heideggers Verteidigung der Provinz ebenso vielsagend wie Benjamins Exil in Paris, der von ihm sogenannten Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. Gleichsam auf dem Umweg über Heidc1berg gelangt Benjamin in das Herz der Moderne, in die Stadt Baudelaires, der die ~'Io derne in seiner Dichtung zur Anschauung brachte und in seiner Poecik zum
Begriff erhob.
Rolf Wiggershaus
Was ist deutsch? Was ist normal? Antwortversuche der Frankfurter Schule l
"Wer wird denn die Deutschen für die Nazis verantwortlich machen: wir wissen doch ganz genau, daß sie mit der gleichen Begeisterung zu Stalin oder den General Motors übergehen!" So im November 1944 Max Horkheimer in einem Brief an Theodor \VI. Adorno. Das war eine sarkastische Anspielung njcht etwa auf eine deutsche Strategie der Exkulpierung, wie sie ja erSt nach Kriegsende auftreten konnte und dann tatsächlich auftrat. Es war vielmehr eine sarkastische Anspielung auf eine Sicht der Vorgänge in Europa, wie Horkheimer sie im Exilland USA als Konsequenz der don herrschenden Mentalität erlebte. Mjt selbstbestimmten und verantwortlichen Individuen wurde gar nicht mehr gerechnet - weder in der Realität noch in der Wissenschaft. So jedenfalls sah es Horkheimer, der sich um diese Zeir als Wissenschaftlicher Leiter eines großangelegten Projekts zur Erforschung des Antisemitismus in New York aufhielt. Dabei kooperierte das emigrierte Institut für SoziaJforschung mit dem American Jewish Committee. Das Ziel war, in Amerika zur Verhinderung dessen beizutragen, was sich in Europa ereignete. In einem nach Kriegsende in den USA entstandenen Aufsatz über "Freudian Theory aod the pattern of Fascist propaganda" meinte Adorno: "lt may weil be the secret of fascist propaganda that it siropl)' takes men for wh at they are: the true children of today's srandardized mass culture, largely robbed of autonomy and spontaneity, instead of setting goals the reaJization of which would transcend the psychological slaJlu quo no less than the sodal one 1... 1 Fascist propaganda has only to reproduct the existent mentality for its own purpose 1... 1"2 Nicht zufallig standen in der Dialtklik der Aufkliimng die Verarbeitung der amerikanischen und die der deutschen Erfahrung, das Fragment über "Kulrurindustrie" und das über "Elemente des Antisemitismus", und zwar in dieser Reihenfolge, in direkter Nachbarschaft. Die empirischen Untersuchungen, für die die "Elemente des Antisemitismus" den philosophischtheoretischen Interprerationsrahmen abgaben, fanden ihren Niederschlag vor allem in der AUlhon'lnn'an Persof/alily, an der Adorno leitend mitwirkte. Die Per-
Gekürzte und überarbeiteie Fassung eines 1997 im AmSlerdamer "Duitsland lnstilUut" gehaltenen Vortrags. 2 Theodor W. Adorno, GrMmllldu 5(brijltfl (GS), Frankfurt a. M. 1970-1986, Bd. 8, S. 429.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
sonen, die dabei auf ihr faschistisches Potential hin untersucht wurden, waren also US-Amerikaner. Die Resultate erinnerten an die Ergebnisse einer ersten empirischen Untersuchung des Instituts im Europa der frühen dreißiger Jahre. So wie man seinerzeit wenig entschiedene Sozialjsten entdeckt hatte, so in den USA wenig entschiedene Demokraten. Dieser Kontext macht noch einmal deutlich, wie Horkheimers Sarkasmus zu verstehen ist. Es war schwierig, hart über Deutsche zu urteilen, wo doch ohne eine weitverbreilete gesellschaftliche und ökonomische Konstellation und ohne Duldung, ja Zustimmung und sogar Unterstützung von außen nicht hätte geschehen können, was das nationalsozialistische Deutschland in Europa an Ungeheurlkhem anrichtete. Horkheimer und Adorno erlebten als emigrierte jüdische LinksinteUektueUe ..Auschwirz" von den USA aus und sahen darin einen Tiefpunkt westlicher Kultur. Weil sie die Dialektik und die Desrruktivität des westlichen Modernisierungsprozesses fur gravierend und umfassend hielten, war die Bedeutung von "Auschwitz" als deutschem Verbrechen in ihren Augen relativiert. Für den eine Generation später geborenen Jürgen Habermas, der 1956 ans nach Deutschland zurückgekehrte Institut für Sozial forschung kam und Adornos Assistent wurde, fielen nach Kriegsende Befreiung vom Nationalsozialismus und Information über "Auschwitz" ungefahr zusammen. Er entwickelte eine Theorie des westljchen Modernisierungsprozesses, in der dessen Pathologien relativ leicht genommen wurden, "Auschwitz" aber als von Deutschen verschuldetes und von Deutschen zu bewältigendes Verbrechen um so schwerer wog. Damit sind zugleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von älterer Frankfuner Schule und Habermas angedeutet. In beiden Fällen spielt Auschwitz als Signatur des 20. Jahrhunderts die entscheidende Rolle. Aber für die älteren Emigranten Horkheimer und Adorno bedeutet es die Katastrophe der europäischen Zivilisation. Für Habermas, der sich einmal selbst aJs Produkt der reeducation bezeichnete, ist es im wesentlichen ein deutsches Problem, das das europäische Projekt der ["loderne nicht in Frage stellt. Ein nach Auschwitz proble. matisiertes deutsches Geschichtsbewußtsein könnte in seinen Augen sogar die Tendenz des westlichen Modernisierungsprozesses hin zu postnationalen Identitäten fördern.
Horkheimer: "Nationale Aufbrüche sind der erlaubte Ersatz für die Revolution" Als Horkheimer, seit Anfang der dreißiger Jahre Philosophieprofessor und DirektOr des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, sich 1933 aus Deutschland zurückzog, tat er es unter offiziellem Protest. "Ob die gegen mich gerichteten Maßnahmen mehr im Hinblick auf meine Gesinnung oder auf mein
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
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Judentum getroffen werden, weiß ich nicht. Beide Beweggründe widersprächen jedenfalls den besten Traditionen der deutschen Philosophie", schrieb er im April 1933 von Genf aus an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin. Bis zum Zweiten Weltkrieg erschien das Organ des Instituts, die Z~iluhrijtfür SoiJa!fOruhllng, auf deutsch...\Y/ir sind heute die einzige SteHe, in der die Tradition der klassischen deutschen Philosophie und Soziologie in deutscher Sprache gepflegt wird", beschied Horkheimer 1934 einen Mitarbeiter in der Genfer ZweigsteUe des Instituts, der davor gewarnt hatte, die Zeitschrift könnte den Stempel der Emigration bekommen. Dies Risiko sei in Kauf zu nehmen, so Horkheimer, angesichts der Verpflichtung, ..beste deutsche Kulturwerte zu bewahren."3 Daß er Deutschland nicht unter traumatischen Bedingungen verlassen mußte und als Leiter eines finanziell unabhängigen Instituts in den USA freundliche Aufnahme fand, erlaubte es Horkheimer, Deut'schland und die USA gleichsam von einem archimedischen Punkt aus zu sehen - nicht unter dem Blickwinkel ihrer Rolle fürs eigene Überleben, sondern unter dem Blickwinkel ihrer Bedeutung für eine "freiere l'vlenschheit". Bei aller Dankbarkeit für das Exilland USA, dessen Bürger Horkheimer und Adorno während des Zweiten Weltkriegs wurden, bewahrten sie sich gegenüber Deutschland eine erstaunliche Ambiguititstoleranz. Beispielsweise meinte Horkheimer 1946 in einem Brief im Anschluß an einige Zitate des Romantikers ovalis, in denen dieser von einer Art totalitärer Bürokratie schwärmte: .. Die Deutschen w:uen doch ein merkwürdiges Volk. Beethoven und Hitler sind untrennbar."4 Das klang nicht nach Abscheu, nach Verwerfung, sondern nachdenklich. Zum Bild nationalsozialistischer Deutscher gehört der Topos vom folternden Bildungsbürger, der tags seine Pflicht tut und Menschen quält und mordet und nach Feierabend Hausmusik pflegt oder sich an Kant und Beethoven erbaut. Horkheimer suchte das zu begreifen mittels der These von der split personality, der gespaltenen Persönlichkeit, die zum Dauer-, zum 'ormalzustand, zur in Regie genommenen Form der Anpassung an paradoxe, unbegreiflich scheinende Verhältnisse werden konnte. In der Auseinandersetzung mit Franz Neumann und dessen in dem einflußreichen Buch Bthelllolh entwickelter marxistisch-strukturalistischer Theorie des nationalsozialistischen Staafes bzw. Unstaates vertrat Horkheimer die Auffassung: I suppose the optimistic idea of the break dOIJm of the "split personality" :lIS promoted b)' the mechanisms of ational SociaJism does nOi quite reflect what you realJ)' think. As a mauer of faci the split of Ihe ego wh ich, as )"ou know, is one of the main theses of the anicle on the End of Reason, has a long pre-histOry. What happe.ns tOda)' is on!)" the consumation of a trend which permeates the whole modern eT2. It has made itself feit nOI onl)' within the old juxtaposition of theological und scientific
, •
Brief\1;echsel Horkheimer-Slernheim. 8. Oktober 1934, in; Max Horkheimer, CUQ",mtllt Sthn'flttr (GS), FT2nkfun a. M. 1985-1996, Bd. 15, 5.239. Brief Horkheimer-Hirsch, 31. Augusl 1946, in: Horkhcimer, GS, Bd. 17, S. 752.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
lruth, but much more draSlically within the division of labor and leisuTe, of private morals and business principles, of private and public life, and in innumerable other aspects of the existing order. Whar Facism docs with respecl tO the personaliry is only tO manipulatc consciously and skillfully a break which irself is based on the most fundamental mechanisms of this socicry . [... 1 I cannot see any reason why this anempl of the Nazis should collapse from within, fOt intrinsic reasans. 5
Die Pointe dieses InterpretationsmodeUs bestand darin, daß das, was auf den erSten Blick als ..Sprengstoff', als Zersetzungs- und Verfallssymptom erschien, bei genauerem Hinsehen als erfolgreiche Herrschaftsform, als dynamische dauerhafte Struktur begriffen werden konnte. Auch dabei lief die Sicht der deutschen Verhältnisse wieder darauf hinaus, daß es sich dabei teils um eine extre· me Ausformung, teils um einen radikalen Schub kapitalistisch-bürokratischer Modernisierung handle. Man kann in der Tat sagen: Was der Erste Weltkrieg gewissermaßen nebenbei bewirkt hatte, nämlich die Enteignung der Erfahrung und der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Zusammenhängen, wurde im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg zu einer ständig gezielter verfolgten Strategie, nämlich zur Heran züchtung bzw. Forcierung eines gespaltenen Bewußtseins mittels Konsum· kultur und l\hssenmedien, Volksgemeinschaftsideologie und rassistischer Propaganda. Untersuchungen wie die unter dem Titel Das gespaltene Bewußtseill vereinigten Aufsätze Hans Dieter Schäfers über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit von 1933 bis 1945 haben deutlich gemacht, wie gut die Strategie der nationalsozialistischen Diktatur funktionierte, die Verbindung zu den Werten der Vorkriegszeit und des künftigen Friedens nicht abreißen zu lassen und Hand in Hand mit der Aufrüstung eine Konsumkultur nach US-amerikanischem Muster und mit US-amerikanischen Waren zu fördern. Wollte man Horkheimers Bild von Deutschland knapp formulieren, dann könnte man sagen: an Deutschland mit seiner KJassik- und Idealismus·Tradition, seinen linkshegelianischen Radikalismen und seiner Arbeiterbewegung knüpfte ein Outsider des Bürgertums wie Horkheimer besonders hohe Erwartungen, die in besonderem Maße enttäuscht wurden, Statt die bürgerliche Welt mit ihrer Unterwerfung unter die AutOrität des Marktes, ihrer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und ihrer Unfahigkeil zu einem wirklich kultivierten Lebensstil, mit dem "Nebeneinander zar· tester Rücksichtnahme, harmloser Gutmütigkeit und zynischer Härte"6 hinter sich zu lassen, bOl Deutschland das e,rschreckende Schauspiel einer beschleunigten und äußersten Zuspitzung des glücks verneinenden und Erkenntnis verachtenden Ethos der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, eines antidemokratischen nationalen Aufbruchs.
5 Brief Horkheimer-Neumann, 2, Juni 1942. in; Horkheimer es, Bd, 17, S, 292. 6 Max Horkheimer, .. Egoismus und FreiheilSbewegung". in; Zeitsrhrijt ftir Sotf'olforsrhNng (Zl'S) 1936. S. 227.
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Adorno: Künstlerische Mündigkeit als wesentliches Element von Demokratie Ein intimer Kenner und Kritiker der Frankfurter Schule wie Herben SchnädeJbach hat bis hin zu Habermas' Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System bei Vertretern der Frankfurter Schule ein Weiterwirken des als spezifisch deutsch gehenden Gegensatzes von Kultur und Zivilisation festgestellt - von Kultur als Zentrum einer dem Geistigen, Innerlichen, Tiefen, Eigentlichen verpOichteten Lebensform und Zivilisation als einer auf daS Materielle und Äußerliche, auf Wirtschaft und Technik, Nützlichkcit und Amusement fixierten Lebensform. Manches spricht für Schnädelbachs Sicht. Könnte es denn sonst beispielsweise in einem Memorandum des Instituts für ein Projekt über "DeUt'schlands Erneuerung nach dem Krieg und die Funktion der Kultur" hei~ ßen, daß Nietzsehe recht gehabt habe, als er den Sieg Deutschlands über Frankreich beklagte als "die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes wgunsten des ,deutschen Reiches.. '?7 Und zeugte es nicht von ungebrochenem Festhalten an jener spezifisch deutschen Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, wenn es in dem er\vähnten Memorandum in elitär-kulturpessimistisehern Sinne hieß: "Die bekannten, mit dem Deutschtum einhergehenden Züge, wie etwa der Hurra-Patriotismus, der Untertanengeist, dje seibstgefaUige Sentimentalüät und der Eigensinn, sind nur die deursche Spielart eines Musters, das universell geworden ist: aggressive Mittelmäßigkeü, der selbstgerechte Glaube an die durchschnittliche, billige Unterhaltung als Ersatz für Freude, pseudoaufgekläne Fonschrin.lichkeit, die konformistische VorsteIJung, aUes im eigenen Lande und Volk sei grundsätzlich gesund. I... J Sollte dieser Typus die unverblümtere und offenkundigere Barbarei Hitler-Deutschlands ersetzen, dann wird dessen Geist durch die Umwandlung der ganzen Welt in eine große, breite Autobahn überleben. Gerade bei der Abwehr dieser Gefahr, und nicht so sehr der Gefahr einer deutschen Weltherrschaft, deren Gespenst schon sichtbar zu schwinden beginnt, müßten die oppositionellen deutschen Kräfte, die kulturellen nämlkh, erneut aufgerufen werden, auch wenn sie heute als teils altmodisch, teils utopisch erscheinen mögen. ,,8 Berücksichtigt man aber das Ganze und die letztliehe Intention der Texte, in denen solche Passagen vorkommen, dann wird deutlich, daß es nicht um konservative Kulturkritik, um die elitäre Spiritualisierung von Kultur und die Ignoranz gegenüber den materiellen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Verhältnissen ging, sondern um die Rettung kritischer Potentiale. "Aber", so heißt es in dem erwähnten Memorandum, "indem die Idealisten die engen und oft zwanghaften Grenzen des ,Praktischen' innerhalb des gegebe-
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Horkheimer, GS, Bd. 12, S. 190. Deutsche Überselzung des englisenen Originals, ebd., S. 190 f.
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neo sozialen Gefüges durchbrachen, hjehcn sie auch gewisse Grundmocivc des Kampfs um politische Emanzipation am Leben, die in der geschäftigen Atmosphäre der in den westlichen Ländern herrschenden politischen Realitäten vergessen worden waren. [...] Die Tatsache, daß die große deutsche Philosophie weniger und mehr war als nur politische Philosophie, bringt eine Ambiguität der Deutschen selbst zum Ausdruck. Wenn sie niemals wirkliche Citoyen wur~ den und so teilweise unzivilhiert blieben, wurden sie doch auch niemals völlige Bourgeois, söhnten sich also nicht selbstgefallig mit dem intellektuellen und poLitischen starus qua aU5,,,9 Bei eben dieser Ambiguität der Deutschen setzten Horkheimer und Adorno an. Vor allem gilt das für Adorno, der darin eine erstaunliche Kontinuität bewies und darin seit den Zeiten der Weimarer Republjk einig war mit der Frankfurter Schule mehr oder weniger nahestehenden Linksintellektuellen wie Wal· ter Benjamin und Ernst Bloch. Es ging um ein Ansetzen bei der Ambiguität der Deutschen auf dreifache Weise: es galt, diese Ambiguität klar darzulegen; es galt, ohne Berührungsängste nach dialektisch brauchbaren Erbschaften Ausschau zu halten; es galt schließlich, die Deutschen zum renektierten Umgnng mit ihrer eigenen Ambiguität zu bringen, so daß an die Stelle einer split personaliry Ambiguitätstoleranz trat. 1n seiner Antwort "Auf die Frage: Was ist deutsch" führt Adorno vorsichtig als spezifisch deutsch an "dies Ineinander des Großartigen, in keiner konventionell gesetzten Grenze sich Bescheidenden, mit dem Monströsen".10 Aber was heißt das? Adorno gibt eine dreifache Antwort darauf. Die eine heißt: "Drang zu unendlicher Herrschaft [im politischen Bereich, R. W.] begleitete die Unendlichkeit der Idee, das eine war nicht ohne das andere."l1 Damit ist offenbar gemeint, daß ein alle Grenzen mißachtender großartiger Radikalismus des Geistes untrennbar verknüpft ist mit einem alle Grenzen mißachtenden monStrösen Radikalismus imperialistischer Politik. Andererseits heißt es bei Adorno auch, daß "die idealistischen Philosophien und Kunstwerke nichts tolerierten, was nicht in dem gebietenden Bannkreis ihrer Identität aufging".12 Damit wäre bereits jegliches Grenzüberschreiten, gleich in welchem Bereich, dem geistigen oder dem politischen, monstrÖS, weil es kein Grenzüberschrejten mit offenem Sinn für das jenseits der Grenze liegende Andere war, sondern ein Ausweiten des Herrschaftsbereichs und eine ignorante Integration des Anderen. Eine dritte Antwort besagt, daß das Großartige grenzüberschreitenden Geistes unter geeigneten Bedingungen zum Wegbereiter der Monströsität einer grenzüberschreitenden Politik werden kann.
, Ebd., S. 192 f. 10 Theodor W. Adorno, "Auf die Frage; Was ist deutsch", in: ders., a. M. 1969, S. 105. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 105 f.
SlidJ}JIOrlt,
Frankfurt
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
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Die drei Antworten bezeichnen kaum voneinander trennbare Aspekte und wollen letztlich das Bewußt.sein dafür schärfen, daß es darauf ankommt, sich durch das Monströse nicht den Blkk für das Großartige verstellen zu lassen, ohne aber das Monströse durch das Großartige zu rechtfertigen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Gedanke, daß nur durch großartige Kunst die Relevanz der Kultur gewahrt oder regeneriert werden kann. Wegen des Ineinanders von Großartigem und lv[onströsem etwas gänzlich zu verwerfen oder aus Furcht vor dem Monströsen das Großartige an der Entstehung zu hindern könnte monströse Folgen haben. Die vor allem von Adorno vertretene These war: Neutralisierung der Kultur lahmte die Widerstandskraft gegen autoritäre Regime und lag in deren Interesse. "Der Kulrurbegrifr', so heißt es am Ende des erwähnten ]\'lemorandums über "Deutschlands Erneuerung nach dem Krieg", "widersetzt sich seinem Wesen nach der administrativen Manjpulation und Reglementiemng. Das kommt nicht nur in der Entstellung der Kultur im Wege ihrer Aneignung durch die westliche Geschäftswelt zum Vorsche,in, sondern viel mehr noch im Nazi-Deutschland. Dort führt die Eingliederung aller kulturellen Aktivitäten in den imperialistischen Machtapparat zut völligen Sterilität aller Bereiche der Künste und der Geisteswissenschaften."13 Daß im nationalsozialistischen Deutschland die Kultur regredierte und die Kulturindustrie funktionierte und ein gespaltenes Bewußtsein stabilisierte, bestärkte Adorno in der Überzeugung, daß es darum ging, gegen die Neutralisierung der Kultur anzukämpfen, indem man zum Kulturgut Geschrumpft.es oder Aufgeblähtes auf seine in der Gegenwart verbindlichen Gehalte hin untersuchte. Ein besonders brisantes Beispiel für Adornos "Rettung" eines deutschen Extremismus für die westliche j"loderne stellte sein Umgang mit Wagner und dessen Musik dar. "Die eigentümliche Transzendenz Wagners zur Kultur - er ist immer über der Kultur und unter der Kultur zugleich - ist an ihm eminent deutsch", meinte Adorno 1963 in einem Vortrag über "Wagners Aktualiliü".14 Wo Wagner ins Extrem gehe, habe das aber immer seine genaue ästhetische Funktion. Dabei werde das Chaotische objektiviert, das Barbarische distanziert. Dem Zwiespältigen von Wagners Werk suchte Adorno Rechnung zu tra· gen durch die Enrschlüsselung des Doppelcharakters seiner Musik. Kennzeichnend für Adornos Verfahren war dabei der Zugang gerade von den am wenigsten oder nur einseitig rezipierten Teilen, Schichten, Momenten des Werkes aus. Gemessen an der herrschenden Rezeption Wagners suchle Adorno ihn also gegen den Suich zu bürsten, und er kam dabei zu dem Resümee: "Gewiß ist sein Gestus, das, wofür seine Musik plädiert - und Wagners Musik, nichr nur die Texre, plädiert unenrwegt -, ein Gesrus zugunsten der Mythologie. Er wird, könnte man sagen, zum Advokaten der Gewalt, so wie das Hauprwerk den Gewaltmenschen Siegfried verherrljchr. Aber indem die Gewalt in seinem
13 Horkheimer, es, ßd. 12, S. 194. l~ Adorno, GS, ßd. 16, S. 556.
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Werk rein, ohne aUes Verdeckende in ihrem Furchtbaren und Verstrickten laut wird, ist es trotz seiner mythologisierenclen Neigung doch, es mag wollen oder nicht, AnkJage gegen den Mythos."15 Die stets argumemative, vor dem Hintergrund der Überzeugung von der Vielschichtigkeit und dem Bedeutungswandel der Werke auf konkrete ästhetische Sachverhalte eingehende Adornosche Art des emphatischen Umgangs mit Kunst praktizierte beispielhaft Offenheit für AmbivaJemes und Eindringen in die Komplexität von Gegenständen. Was Adorno anzustoßen suchte, war nicht weniger als die Bildung der deutschen Hörer. Betrachter, Leser zu künstlerischer Mündigkeit. Verdächtiger war da das Harmlose als das mit Monsuösität Behaftete. "Today". so Adorno in dem oben erwähnten Entwurf für eine Umersuchung dar· über...Wh at National Socialjsm Has Done to the Ans". "we find the heritage of this denunciatory notion [of Kulturbolschewismus, R. W.) among some of the sincerest foes of the Hiderian system. The world has become so ugly and terrifying. so runs the argumem. that an should no longer dweil upon distorted forms. discords and everything branded as being destructive, but should return to the realm of beauty and harmony. The world of destruction. terror and sadism is the world of Hit.ler. And art should show its opposition to it by going back to its tradition al ideals."16 Wenn Habermas unter anderem in einem umer dem Titel "Die Hypotheken der Adenauerschen Restauration" 1994 veröffentlichten Interview daran erinnerte. daß die kulturelle Öffnung der Bundesrepublik nach Westen gegen die restaurative Dumpfheit der Adenauer-Periode mühsam genug durchgesetzt werden mußte, dann hatte er dabei vor allem Adorno als herausragende Schlüsselfigur im Sinn. Adorno war nach dem Zweiten Weltkrieg und seiner endgültigen Rückkehr nach Westdeutschland Anfang der fünfziger Jahte vielleicht der einzige, der eine Verbindung herstelhe, ja verkörperte zwischen deutscher, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichender ambivalenter kultureller Tradition und westlicher Moderne.
Habermas: "Man kann mit spezifisch deutschen Erfahrungen reflektiert umgehen, ohne sich eine Sonderrolle zuzuschreiben" Horkheimer und Adorno benachteten die im nationalsozialistischen Deutschland praktizierte Kombination von gewaltsamem partikularem Fortschritt auf technischem, wirtschaftlichem und sozialpoljtischem Gebiet und komplementärer rassistischer Volksgemeinschafts- und Ursprünglichkeits-Ideologie als
15 16
Ebd., S. 549 f. Adorno, es, Bd. 20.2, S. 422.
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Extremform des westlichen l'vlodernisierungsprozesses. Die Rückkehr nach Deutschland nach dem Krieg hatte für sie vor allem den Sinn, don, wo sich die historische Tendenz zur verwalteten Gesellschaft am explosivsten manifestiert hatte, zur Entschleunigung und Verzögerung mit den vor Ort gegebenen und ihnen am ehesten vertrauten und zugänglichen Mineln beizutragen. Für Habermas, wesentlich geprägt durch dje reeducation, war Auschwitz eher eine Mahnung, den deutschen Sonderweg aufzugeben und sich in den westlichen Entwicklungspfad als Garanten einer wie immer auch ambivalenten Normalität zu integrieren. Die These eines deutschen Sonderwegs, seit der Französischen Revolution aktuell, haue wechselnde Bedeutungen. Im Zeüalter der preußischen Reformen und in den Regionen eines rheinischen Kapitalismus vor 1848 stand sie für die Überzeugung, daß Deutschland durch politische Reformen bzw. einen sozial verantwortlichen Kapitalismus auf friedliche, gemäßigte, konfliktlose Weise erreichen könne, was westliche Länder wie Frankreich und England in krisenhafter und gewaltsamer Form erreichten. Später war die Sonderwegsthese autoritär-konservativ geprägt und diente zur Rechtfertigung eines deutschen Wegs, der gekennzeichnet war durch einen starken Staat und ein schwaches Parlament, eine starke Wirtschaft und eine nationalj· stische Kultur. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der Adenauer-Ära wurde die Sonderwegsthese in einer kritischen Variante aktuell. Nun wurden die Schwäche des Bürgertums und des Parlaments, der Überhang konservativer Elüen und die Staatsideologie als Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der Weimarer Republik mit all seinen Folgen zum Beleg für einen deutschen Sonderweg mit negativem Vorzeichen. Dabei wurde allerdings eine kritisch gesehene deutsche Realüät an einem unkritisch gesehenen Amalgam von französischem und englischem Ideal gemessen. Nach dem Ende der sozialliberalen Phase der Bundesrepublik wurde immer ausgeprägter erneut eine konservative positive Variante der Sonderwegsthese vertreten, die durch die deutsche Wiedervereinigung Stärkung erfuhr. Sie besagt, daß Deutschland dann endlich wieder eine normale Rolle spiele, wenn es im Bewußtsein seiner besonderen Funktion als mitteleuropäische Macht zwischen West und OSt die Balance halte und auf der weltpolitischen Bühne so selbstbewußt und im stolzen Bewußtsein einer zustimmungsfahigen Vergangenheit auftrete wie andere starke Nationen. Wohl keiner hat so beharrlich und entschieden jedem ungeduldigen Normalisierungsverlangen durch den Hinweis auf den deutschen Zivilisationsbl"Uch und eine spezifisch deutsche Dialektik der Normalisierung widersprochen wie Habermas. Für ihn sind mit dem spezifisch Deutschen nicht wie für Horkheimer und Adorno auch besondere Chancen für einen erträglichen westlichen Fonschritt verbunden, sondern einzig besondere Bedingungen für eine Anglei. chung Deutschlands an den Westen. "Nach Auschwitz", so Habermas 1986 im Rahmen des sogenannten HistOrikerstreits in einem Zeitungsartikel "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie", "können wir nationales Sclbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen, sondern kritisch
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angeeigneten Geschichte schöpfen. Wir können einen nationalen Lebens· zusammenhang, der einmal eine unvergleichliche Versehrung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit zugelassen hat, einzig im Lichte von solchen Traditionen fortbilden, die einem durch die moralische Katastrophe be· lehrten, ja argwöhnischen Blick standhalten. Sonst können wir uns selbst nicht achten und von anderen Achtung nicht erwarten,"I' Es gehr dabe,i um historische Interpunktionen, um Akzentsetzungen beim Blick auf historische Tradi· oonen, letztlich darum, ob Deutsche ohne Verharmlosung von Auschwitz und unter Betonung von deutschen Traditionen, in deren Licht Auschwitz erschrecken läßt, eine schwierige Normalität wählen, oder ob sie um den Preis einer Verharmlosung von Auschwitz und unter Betonung von deutschen Traditionen, in deren Licht Auschwitz nichts nachhaltig Erschreckendes hat, eine unkomplizierte Normalität wählen, in der eine homogene Gemeinschaft Selbstbestätigung findet und durch ihren kollektiven Narzißmus eine ständige Bedrohung für die übrige Welt darstellt. Schwierige Normalität würde bedeuten, die Opfer, tote wie überlebende, ins deutsche Gedächtnis, in die deutsche historische Identität aufzunehmen und die starke wirtschaftliche und zuneh+ mend auch politische Position auszubalancieren durch das Bewußtsein der erfahrenen eigenen Schwäche im moralisch-ethischen Bereich - kurz: durch den wachen Sinn für die in Deutschland in extremer Form zutage getretene und weiterhin deutliche Dialektik des Fortschritts. Nahe daran, eine solche Vorstellung von schwieriger deutscher Normalität öffentlich zur Diskussion zu stellen, war in den sechziger Jahren einmal Hork+ heimer. In der Frankfurter Allgemeinen Zeit/mg hatte er gelesen, der damalige langjährige Präsident des deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier, habe erklärt, es gebe in der Bundesrepublik keinen Antisemitismus mehr. Daraufhin verfaßte Horkheimer einen Brief, in dem er prägnant umriß, was Habermas später Dialektik der NormaUsierung nannte. "Die gemeinschaftliche Sclbstbezichtigung war unrecht und unwahr, denn sie bezog nicht nur die Anständigen, sondern die zahllosen Helden und Märtyrer ins falsche Wir der Hitlerzeit mit ein. Schuld betrifft die Einzelnen und sei· en es noch so viele; aUes andere ist verhängnisvoller Mythos. Wäre jenes falsche Bekenntnis wahr und aufrichtig gewesen, dann würde das deutsche Volk jedem ins Won fallen, der heute davon spräche, Antisemitismus, Haß, Gewalttat könne in ihm nicht mehr sich ausbreiten, [... 1 und nur die draußen oder die möglichen Opfer dürften, von sich aus, darauf beharren, die Gefahr des Hasses sei in Deutschland vorbei."18 Horkheimer wollte keinen Aufruf zur Buße. Die Jugend sollte die eigene Geschichte kennenlernen ohne das Gefühl der t'vlindecwcrtigkeit, des Neids
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Jürgen Habermas, "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie", in: ders., Eint Arl S(hadtnJab.ridehutg, Frankfurt a. M. 1987, S. 142. Brief Horkheimer-Gerslenm2ier, 10. Juni 1963, in: Horkheimer, GS, Bd. 18, S. 549.
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
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und des geheimen Grolls. "Mit dem Hitlerreich, als es noch groß und mächtig war, dje Arbeitslosigkeit durch Diktatur kurierte und fast den Krieg gewann, ebenso wie mü der Niederlage, haben die Deutschen eine Erfahrung gemacht, die andere Völker, etwa Frankreich, durch ältere, umjubelte Diktaturen und deren Niederlagen, einmal gewon.nen und fast schon wieder vergessen haben. Die Gewaltherrschaft war in Deutschland krasser, weil sie in der Entwicklung später kam, wirksamerer Techniken sich bedienen konnte und ein schlechteres Gewissen übertönen mußte als frühere Tyranneien anderswo. Einmal haben die Alliierten Frankreich von Bonaparte befreit, der sonst Europa erobert hätte. Wenn die Jugend in Zukunft für ihre demokratische Verfassung einstehen und dje Verächter der Menschenrechte im Osten oder Westen selbst verachten soll, so muß sie in einem schwierigen inneren Prozeß die Unverletzlichkeit der Person erst als Idee sich zu eigen machen und an der deutschen Geschichte die unendliche Bedeutung individueller wie kolJektiver Freiheit einsehen lernen. I... J Die Nazi-Episode darf nicht bloß ein dunkler Fleck in der eigenen Geschichte blejben, sie kann als eines der schmerzlichen historischen Erlebnisse des eigenen Volks erinnert werden, durch die es mündig wird. [... 1Um ihre gefährdete Kultur zu bewahren, müssen die Völker dieses Kontinents [... J daran denken, daß sie jeden Augenblick in Frage steht. Sie bedürfen der Fähigkeit, auf die Illusion zu verzichten, die in ihrem Innern lauernde Barbarei sei tot."19 Horkheimer schickte den Brief dann nicht dem Präsidenten des deutschen Bundestags, sondern einen Durchschlag dem hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung als Anregung für den Unterricht. Worauf HOtkheimer resigniert verzichtete und was ja in der Tat ohne entsprechende Partner auf seiten der Vertreter einer postfaschistischen deutschen Identität nicht von einem Überlebenden getan werden konnte, hat Jürgen Habermas sich zur Aufgabe gemacht: das Gespür dafür wachzuhalten, daß "nur die schmerzhafte Vermeidung eines doch nur zudeckenden Bewußtseins von ,Normalität'" auch in Deutschland nach der Adenauerzeit einigermaßen normale Verhältnisse ermöglichte, daß Normalität in Deutschland nur eine schwierige sein kann. Spezifisch deutsch wäre dann nicht mehr das Ineinander von Großartigem und Monströsem, sondern eine besonders verständigungs bereite und weitgehende Akzeptierung des Anderen, Abweichenden dank einem besonders ausgeprägten Bewußtsein fur die Zerbrechlichkeit und Gefährdetheit der eigenen Identitat. In der von Habermas entwickelten Variante kritischer Gesellschaftstheorie liegt der Akzent auf einer Kritik der Verständigungsverhältnisse. Im Licht seiner Teilnahme als Intellektueller an der öffentlichen Erörterung deutschen Selbstverständnisses zeigt sich, daß das eng zusammenhängt mit einer generationsspezifischen Erfahrung. Eine traumatische Vergangenheit verlangt nach der Auflösung scheinhafter Akzeptanzen und der Herausbildung einer poljti-
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Ebd., S. 551 f.
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sehen Kultur, in der die öffentliche und argumentative Auseinandersetzung als selbsrverständlkh gilt. Wird eine traumatische Vergangenheit verdrängt gehaltcn - sei es durch Beschweigcn, sei es durch bloß entlastende Rituale und Denkmäler - hat das fatale Folgen, die in der zeitlichen Distanz eher noch an· wachsen. Zu solchen Folgen gehören eine dauernde Dumpfheit des gesdJschaftliehen Klimas und die Fortsetzung einer einseitigen Modemisierung, die die moralische und zivilgeseUschaftliche Dimension vernachlässigt.
Wolfgang Eßbach
Subversion, Kritik und Korrektur als Theorie-Praxis-Modelle
I Wissen soll anwendbar sein. Prax..isferne Bildung, Grundlagenforschung, wissenschaftliches Liebhabertum, v3!folbunclierencle Renexion - sie sind vielleicht dann noch eine gewisse Zeit an Universitäten geduldet, wenn sie glauben machen können, daß in ihrem Bereich auf wundersame Weise demnächst etwas entsteht, das irgendwo zum Wohle eines kJcineren oder größeren Teils der Menschheit angewandt werden kann. In dieser rarendrangvoUen Atmosphäre von WissensgeseLlschaft haben Disziplinen, die zur Erfindung, Herstellung verkaufbarer Güter oder der AusbiJdung von Fachpersonal mit unersetzbaren Fähigkeiten beitragen können, massenkommunikative Vorteile vor den Fächern, deren Identität an große Theorie gebunden islo Es ist das Glück der Soziologie, daß sie zumindest in Europa die spannungsvolle Nähe zu der Art von Philosophie gewahrt hat, die nicht als historische oder kognitivistische Spezialdisziplin abgedankt halo Wer heute in Sozial- und Kulrurwissenschaften nach anspruchsvollen Modellen für Theorie-Praxis-Verhiltnisse Ausschau hält, in denen nicht praxisorientiert theoretisiert, sondern theorieorientiert Praxisformen thematisiert werden, wird bald auf drei Theorietraditionen und DenkSchulen stoßen, deren umerschjedliche Auffassungen über Jahrzehnte Gegenstand von zum Teil sehr unfruchtbaren Abgrenzungsdebanen gewesen sind: "Poststrukturalismus", "Kritische Theorie" und "Philosophische Anthropolo· gie". Die intellektuellen Grabenkämpfe von "Struktur" versus "Geschichte", "Geschichtlichkeit" versus "Anthropologie", "Subjektverendung" versus "Authentizität", "Vernunft" versus "biologistischer Irrationalismus" und andere mehr haben dabei aHzuoft verdeckt, daß mit diesen Richtungen drei Themen im 20. Jahrhundert aufgebrochen sind, die für das sehr alte Iheona Cilltl praxi einen neuen Zugang versprechen. Nimmt man zum Beispiel Michel Foucauh, Theodor W. Adorno und Helrnuth Plessner als Repräsentanten, so ließe sich sagen: Bei Foucault geht es neben vielem anderen um das Verhältnis von Surrealismus und Strukturaljsmus, um dje Beziehungen zwischen Kunstpraxis und Wissenschaftspraxis, zwischen Poesie und Präzision, zwischen Suggestion und Rationalität. - Bei Adorno geht es um das Risiko der Fortsetzung des Marxismus aJs einer Fortsetzung der revolutionären Tradition Europas, ob man sie nun in der alten Welt, im
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Mittelalter oder in der Neuzeit beginnen läßt. - Bei Plcssncr geht es um das Verhältnis von Biologie und Kultur des Menschen, das sich mit den dramatischen Fortschritten der Humanwissenschaften und ihrer technischen Anwendungen neu stellt. - Foucault, Adorno und Plcssner sind insofern beliebige Namen, sie dienen als Abkürzung von Problem beschreibungen, die sich im 20. Jahrhundert bei zahlreichen InteilekrueUcn wiederfinden lassen. Man könnte auch sagen, es geht um die drei Antinomien von Lebenskunst und Wissen schaft, von Glücksversprechen und Herrschaft, von Würde und Vercinseiti4
gung. Subversion, Kritik und Korrektur sind drei Thcorie-Praxis·Modclle, die ich an die genannten Theorietraditionen anschließen möchte und die ich auch diesen Theorietraditionen entnommen habe. Ich werde in einem erSten Schritt eine grobe s)'stematische Skizze von Theorie-Praxis-Rahl1lUngen versuchen und dann in einem zweiten Schritt ein Stück weit in die theoriegeschichtlichen Verwicklungen einsteigen. Schließlich werde ich einige Elemente für eine Beschreibung der heutigen Situation herausstellen.
II Das Verhältnis von Theorie und Praxis stellt sich je nach Wahl des Rahmens etwas anders dar. Die wichtigsten bekannten Rahmungen seien hier provisorisch gegliedert. Dabei werden die Differenzen überbetont. In der Denkge~ schichte des Theorie-Praxis-Problems sind vermutlich Mehrfachnutzungen der Rahmenbestimmungen das eigentlich Interessante. Den historisch frühesten Rahmen bildet vielleicht der Rahmen des Heiligen und des Profanen. Die TheoriesteIle nimmt hier eine Prophetie oder ejne Vision ein, oftmals handelt es sich um Erscheinungen des Traumes. Es ist eine besondere Qualität spiritueller Erfahrung, die sich dann einstellen kann, wenn der Druck des Alltags ruht und die Tätigkeit der praktischen Lebensgestaltung ausgesetzt ist. Daß das Bereitmachen für die göttliche Inspiration seinerseits zum Teil sehr umständliche rituelle Praktiken erforderlich macht, ist bekannt. Aber diese Praktiken sind Pseudo-Praktiken, sie sind abgehoben von dem, was in unheiligen Handlungsbereichen getan wird. Theorie ist in diesem Rahmen transzendierend, Praxis verbleibt in der Immanenz. Theorie richtet sich auf den Bereich des AußeraUtäglichen, sie soll gerade in Spannung zum gewöhnlichen Tun und Lassen treten und weitabgewandt ein Reich eröffnen, das nicht von dieser Welt ist. Neben die religiöse Rahmung kann diejenige gestellt werden, die in der Formel "Philosophie und Leben" vorljegt. So sei Thales, während er sich mit den Sternen beschäftigte, in einen Brunnen gefallen und habe sich von der lachenden Dienstmagd aus Thrakien sagen lassen müssen, er wolle Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor den Füßen liege, verborgen bleibe. Hans Blumenberg hat die zahlreichen Versionen dieser
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Geschichte von Platon bis Heidegger als eine "Urgeschichte der Theorie" nacherzählt. Das Denken wird hier als eine Abstraktion vorgestellt, die von der RaumzeitstelJe des Körpers wegführt, so daß schon ein kJeiner Schritt zum nfall führt. Diese Theorie kann auch graue Theorie werden, die vom bunten Traum des Lebens Abschied genommen hat. Es ist die unempirische Theorie, die gegen das Pathos des "Wirklichen", sei es als "wirkJichen Menschen" Feu· erbachs, sei es als "Studium der Wirklichkcit" bei Kar! ,fanc in Anschlag ge· bracht wird. Oft ist es eine Art Idealismus, der diese TheoriesteIle einnimmt. eine handlungslose Selbstbesinnung oder Reflexion, in der man Arnold Gehlen zufolge gar keine \'(/irklichkeit erfahrt. Umgekehrt entsteht solche Reflexion als ein Kreisen in sich, wenn Handlungschancen verwehrt sind oder wenn Praxisräume verschlossen erscheinen, weil die Fallhöhe zwischen dem orientierenden Leuchten der Sterne und den banalen Hindernissen einer Wegstrecke zu groß ist. Eine insistente DauerreOexion ist nach Helmut Schelsky bekanntlich nicht institutionalisierbar, und wo sich Reflexionseliten gebildet haben, gilt für ihn buchtitclgebend "Die Arbeit tun die anderen". Sonntägliche Vision und Alltag, die Theorie des Himmelsgewölbes und die praktischen Schritte - in beiden Rahmungen ist die Praxisseite nur umrißhaft als eine Seite, die einen Abstand zur Theorie hat, eingeführt. Wollte man weitere Differenzierungen entwickeln, so ließen sich in idealtypischer und heuri· stischer Hinsicht drei differenziertere Theorie-Praxis-ModeUe bilden: I. Kopfarbeit und Handarbeit, 2. \Xlissen und l'o-lacht sowie 3. Projekt und Experiment. 1. Die Theorie·Praxis· Vermittlung kann in der marxistischen ünie als Unter· schied von Intellektuellen und Proletariern, von Kopfarbeit und Handarbeit profiliert werden. Der junge Mars: hat in Anschluß an Moses Heß' europapolitisches Konzept eines Bündnisses deutscher Theorie und französischer Praxis sein generalisiertes k1assentheoretisches Bündnis von Philosophie und Proletariat entwickelt. Dabei ist die Theorieseite als gründliche Philosophie oder spä. ter häufiger als Kritik bestimmt, während auf der Praxisseite schwankend mal "Herz" und mal "Hand" als Metaphern dienen werden. Beide könnten heute als Solidaritätsfahigkeit des Einzelnen und als Organisation der Arbeit übersetzt werden. Darüber hinaus erscheim die Praxisseite als in verschiedener Weise so .. materialistisch" konnotiert, daß der a.Ite Gegensatz von Geist und Natur weitertransportiert werden kann. Die marxistische Arbeitsteilungslehre ist in den Narrativen \'on der Entstehung der Arbeitsteilung schwankend. Zunächst ist die Arbeitsteilung von Mann und Frau im Geschlechtsakt begründet. dann gilt als größte Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit die Trennung \'on Stadt und Land. In der Kritischen Theorie jedenfalls ist das Motiv hochpräsent. Bei Adorno mit einem besonderen Interesse am Einzelsubjekt. Meine These ist. daß das Theorie·Praxis-ModeU vom Typ Kritik wesent.lkh dieser Tradjtion, Theorie-
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Praxis-Vermittlungen anzulegen, entspringt: Theorie ist Kritik der Praxis; Kritik richtet sich gegen ein Denken, das vom Boden der Praxis als Herz oder Hand oder vom Boden des Landes, später der Industriearbeit, heute vielleicht der Computcrarbeit, als primärer Produktion einer Lebcnswelt abhebt; in jedem Fall gegen ein Denken, das die materiellen Bedingungen seiner Einzelexi· stenz ignoriert. Kritik ist hier eine Doppelwaffe. sie ist einmal Kritik bestehender Praxis und das andere Mal mit Bezug auf die best,ehende Praxis, Kritik des
Denkens. das sich dieses Bezuges enthebt. 2. \'Vissen und Macht profiliert die Theorie.Praxis-Beziehung anders. Das Thema gewinnt mit Bacons "Wissen ist Macht" an Fahrt und ist lange um das Verhältnis neuzeitlicher Wissenschaft zur staatlkhen Macht zentriert. 1n der stilbildenden Vergesellschaftungsform neuzeitlicher Naturwissenschaft geht es um die Kreation harmloser wissenschaftljcher Gegenstände, die so gemacht sind, daß die Risiken kjrchlicher und staatlicher Verfolgung und Verfemung minimiert werden. Zuerst gelingt dies im Bereich des praktischen Umgangs mit Sachobjekten. Der Streit zwischen Boyle und Hobbes über die politischen Konsequenzen oder die Harmlosigkeit etwa der Theorie des Äthers ist hier paradigmatisch. Wissen erscheine als so fachlich sortiert, daß die aneinander angrenzenden Thematiken in ihrem Bestand nicht gefährdet werden, es gibt Zuständigkeiten und Mandate für Aussagengebiete. und diese Institutionen, die Stätten sachhingegebenen Forschens sind, kodieren sich selber als unpolitische Einrichtungen. die gleichwohl eine l\:lehrung des Wohls eines kleinen oder großen Teils der Menschheit versprechen: ungemein praktisch und ungemein unpolitisch. \'Vissen und Macht ist das zentrale Thema der Diskursanalysen Foucaults. l'vleine These iSt, daß das Theorie-Praxis-ModeU vom Typ Subversion wesentlich dieser Thematik entspringt. Das sich selbst neutralisierende und sich selbst verharmlosende Wissen, das seinen letzten Boden in der reinen Wahrheitssuche finden möchte. wird von Foucault einer strukturalistischen Analyse un· terzogen, die die Reinheit und Klarheit des epistcmischen Modells oder Paradigmas redupliziere, um diese dann als eine surreale Welt erscheinen zu lassen, die mit dem Politischen von Gewalt. Eroberung, Ausschluß, Einsperrung, das heißt der Organisation gesellschaftlicher Macht, zutiefst verflochten ist. Die Erschünerung der unpolitischen wisscnschaftlkhen Wahrheit geschieht auf dem Wege der Subversion, und sie bedient sich der poetisch-politischen Prak· tiken des Surrealismus. 3. Schließlich Projekt und Experiment. Diese Profilierung des Theorie-Prax.is· Verhälmjsses nimmt dje krisenhaften Verwerfungen zwischen Philosophie und Naturforschung zum Ausgangspunkt. Auf der Theorieseite wird der Entwurfscharakter des Geistigen, sein utopisches, planerisches und gestalterisches Potential akzentuiert. Es geht nicht um die Subversion einer hinter den Epistemen liegenden ruhigen Wahrheit, auch nicht um die nachträglich kritisch fest-
Eßbach, Subversion, Kritik und Korrektur
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zustellenden Bedingtheiten von Theorie, vielmehr ist mit der Leib-Körperlichkeit des Menschen schon im Ansatz eine Verschränkung von Theorie und Praxis gegeben. Der werdende Mensch als ein Projekt steht im Zentrum der Philosophischen Anthropologie I\lax Schelers. Bei Plessner ist menschliche Existenz von vornherein essa)'istisch, im Sinne eines: Es immer wieder von neuem versuchen. Dies gehört zu seiner Würde. Praxis berührt sich hier mit den Traditionen des amerikanischen Pragmatismus, dem freilich nicht unbedingt eine prädestinierte Garantie des JIInit'ol mügegeben ist, sondern bei dem insgesamt der \'(/agnischarakter mit aU er Tragik und Komik betont wird. Akzentuiert werden dabei gerade die spielerischen und empfindlkhen Seiten, die sowohl Praxis wie Theorie haben können. I n der lebensphilosophischen Grundierung spielt das Motiv der Kreativität eine besondere Rolle. Das Spiel liegt zwischen Revolution und Zerstreuung. Künstlerisches und technisches Handeln haben gleichen Wen. Meine These ist, daß das Theorie-Praxis-Modell vom Typ Korrektur wesentlich dieser Theorie.Praxis-Auffassung entspringt. Die Ausarbeitung der naturalen Seiten menschlicher Existenz korrigiert die Überbetonung des Geistigen, und ebenso wird eine Naturalisierung und Biologisierung menschlkhcr Kultur zurückgewiesen, die den Bruch im Evolutionsgeschehen der atur nicht wahrhaben wilJ. den menschliche Geistigkeit durch ihr Neinsagenkönnen verursacht hat. Es ist ein heterogenes Erbe, das Plessner, Adorno und Foucault hinterlassen haben. Es verführt zum Spiel mit Hegemonien und gegenseitigen Verwerfungen, sei es, das man der Subversion die Kraft zubilligt, Kritik und Korrektur mau zu machen, oder sei es, daß Korrektur und Subversion von Grund auf kritisiert werden oder daß im Gegenzug Kritik und Subversion ihre Korrekturen erfahren. \'he immer auch die Rosse vor der \'\Iagen gespannt werden, anspruchsvolle Theorie-Praxis-Beziehungen heute halten das Disparate zusammen, es sei denn, man nähme in Kauf, alles zu verfehlen.
III Nach dieser systematischen Skizze möchte ich Verflechtungen der drei Modelle ein Stück weit theoriegeschichtlich entwickeln. Subversion, Kritik und Korrektur haben jeweils eine enorme inteJIektuelle Vorgeschichte, bis sie die Gestalt gewonnen haben, die Foucault, Adorno und Plessner ihr gegeben haben. Hilfreich ist es, genauer auf die Urszene um 1900 zurückzugehen, in der in der Grundlagenkrise moderner Wissenschaft die Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften so zerbricht, daß diese Kernspaltung sich innerhalb der einzelnen Domänen fortlaufend fortsetzt. Natur- und Geisteswissenschaften treten in dem Moment auseinander, da sowohl für den Naturbegriff wie fur den Geistbegriff neue wissenschaftliche Rahmungen erforderlich werden. Sowohl Philosophische Anthropologie und das Modell der Korrektur als auch Kriti-
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sehe Theorie und das Modell der Kritik wie auch die Spannung zwischen Sur4 realismus und Strukturalismus, die für den späteren Poslstrukturalismus maßgeblich werden wird, haben in derselben Krise ihren Ursprung. Ich erinnere nur stichwortartig an einige Zusammenhänge. Oie alte VorsteUung einer Gesetzesratio, die der atur immanent ist und die menschlicher Intellekt nach und nach durchsichtig machen kann, weil er selbst de,r narurimmanenten Gesetzlichkeit angehört, muß angesichts biologischer und psychologischer Forschung fallengelassen werden. Die stabile Beziehung physikalischer Naturgesetzlichkeit, die sich im zeitlichen empirischen Geschehen zeigt, zum erkennenden Vernunftsubjekt, das sich seiner zeitlosen Vernunftfunktion sicher ist, wird fraglich, wenn z. B. nach Hirnschädigungen bei Aphasikern oder bei Versuchspersonen nach Einnahme von Rauschmitteln nicht nur Ausfallerscheinungen zu vermelden sind, sondern aus dieser Natur heraus sich relativ geschlossene Sonderwelten einer anderen Wahrnehmung lind eines anderen Denkens bilden. Mit diesen und anderen Forschungen, z. B. mit Uexkülls protokybernetischer Umweltlehre, werden biologische Phänomene vom physikalischen Naturbegriff ein Stück weit distanziert und in eine neue Beziehung zu psychischen Erfahrungs- und Erlebniswelten gebracht, für deren Emschlüsselung nicht zuletZf die Psychoanalyse genutzt werden konnte. Die Aphasiker von Gelb und Goldstein, Freuds Traumdeurung und die Rauschmittelexperimeme, sie kehren als Bezugspunkte bei Plessner und Adorno ebenso wieder wie im Surrealismus und Strukturalismus als den beiden Hauprquellen für das Denken Foucaults. Während biologische und psychologische Forschung sich aus dem allgemeinen Physikalismus des Naturbegriffs herausarbeiten, in dem Zug um Zug Differenzierungen zwischen Anorganischem und Organischem und solchen zwischen Organischem und Psychischem hervortreten, pluralisiert sich mit den Fortschritten von ethnologischer, soziologischer und histOrischer Forschung das, was als menschlicher Geist bislang kohärent und eindeutig vorgestellt wurde. Kunst, Religion und das Wissen selbst stehen nicht mehr niederen Lebensphänomenen absolut entgegen, sondern werden daseinsrclativ. Ausgearbeitet werden Korrelationen von Natürlichkeit lind Künstlichkeit, einmal Marx weiterschreibend - der natürlichen Lebensgrundlagen und der Wirtschaftsweise, dann - Freud weiterschreibend - der biologischen Sexualfunktionen und der Familienformen mit allen Sex-Gendcr-Verhältnissen, sowie schließlich - Nietzsehe weiterschreibend - des vitalen Dominanzstrebens und der Formen von Recht und Politik. Über Wahrheit und Wissen kann man seitdem nicht mehr sprechen, ohne sich mü Fragen von Historizität und Kulturrelativität auseinanderzusetzen. Die GeschichtJichkeit der \'(lehsicht und die topologische Streuung nebeneinanderliegender und ineinander verschachtelter Wehen ist in den Referenzen z. B. Plessners auf Dilthey, Adornos auf Man: und Foucauhs auf den Surrealismus stets präsent. lvlit diesen Entwicklungen erwies sich die philosophische Bastion des Neukantianismus, das heißt der strikten Scheidung ideographischer Wertewissen-
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schaften und nomothetischcr Gesetzeswissenschaften als viel zu sperrig. Dies ist freilich nur die Sicht auf die innerakademische Problemlage. Die Grundlagenkrise der Wissenschaften war zugleich eine allgemeine Kulturkrise, in der um es hier einmal mit luhmannschen Vokabeln zu sagen - die stabilisierenden Interpenetrationen und strukturellen Systemkopplungen so gelockert und außer Betrieb gesetzt waren, daß die Funktion des Wissenschaftssystems und der Universität für andere Systeme und damit eben auch das Denken von TheoriePraxis-Vermittlungen neu bestimmt werden mußten. Exemplarisch Ließe sich dies an der neukamianischen Debatte um die Wert~ freiheit der Wissenschaft zeigen. Die Wertfreiheitsforderung, aus der innerwissenschaftlichen Scheidung von Wer[ und Wissen abgeleitet, ermächtigt die Welt der politischen, technischen und ästhetischen Praxis in ganz neuartiger Weise zu eigenen Werrsetzungen und Sinnstiftungen, die als legitime Interessen-Ideologie, als Selbstbindung in religiöser Überzeugung, als arbiträre Selbstbeschreibung oder als unhintergehbare Weltanschauung dem alten Aufklärungsanspruch der Wissenschaft im Kern entzogen werden. Umgekehrt suchen Wirtschaft, Technik und Politik ihre mehr und mehr entbürgerl.ichten wilden Wensetzungen durch exklusive Beziehungen zu Teilen der Wissenschaft argumentativ aufzubessern. Die Bündnisse Wissenschaft und Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Technik, Wissenschaft und Verwaltung usw. beginnen zu wuchern. Die Scheidung von Wen und Wissen führt so im 20. Jahrhundert zu kontingenten Theorie-Praxis-Kopplungen. Es handelt sich um jeweils an isolierten, speziellen Praxisbereichen orientierte Theoretisierungen von bisweilen sehr kurzer Reichweite, die über irgend einen zusammenhängenden Theorie- oder Wissenschaftsbegriff nicht mehr zu fassen sind. Gegen solch okkasionelle und opponunistische Praxisorientierung von Theorie waren Poststrukruraiismus, Kritische Theorie und Philosophische Anthropologie bei aUen Unterschieden in dem, was sie als wirksames philosophi~ sches Ferment herausstellten, an theorieorientienen Praxis formen interessiert. Es ließe sich gerade an den Schriften von FOllcault, Adorno und Plessner auch zeigen, welche Anstrengungen nötig sind, das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht zum Vorwand werden zu lassen, sich der Theorie-Praxis-Vermittlung überhaupt zu verweigern oder sich nur an die Vorgaben zu halten. Subversion, Kritik und Korrektur können somit auch als drei Versuche gelesen werden, der Zerreißprobe zwischen wenfreier Wissenschaft einerseits und den kontingenten Praxisanschlüssen an politische Ersatzreligionen bzw. technokratische Markrverwertung andererseits zu entkommen. Im Theorie·Praxis-Modell Kritik geschieht dies zum Beispiel in der Formel, daß philosophische Kritik sich am Leben hält, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt wurde. Das theoretisch Wichtigste ist praktisch unabgegohen. Also gilt es mit langem philosophischem Atem zu warten u.nd in gewisser Weise die alt jüdische Figur der Umerschiedslosigkeit von Leben und Lehre, das heißt das Dasein als eine Darstellung des Gesetzes durchzuhalten. Im Theorie~Praxis~Modell Korrektur ist die Formel vom hOlJlo abscolldi/UI das
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Medium, die praktischen Einseitigkeiten von erstelltem und angewandtem Spezialwissen sowie systemischen Verhaltenserwartungen zurechtzubiegen. Der praktische Experimentalismus der Neuzeit wird dabei philosophisch-anthropologisch auf den Menschen als Frage rückbezogen. So sind Korrekturen von VergegenständLichungen und Verfügbarmachungen möglich und sichern menschliche Möglichkeiten in eine menschliche Zukunft hinein. Im Theorie-Praxis·ModeU Subversion fühn die Verfremdung von wissenschaftlichen und denksystematischen Plausibilitäten und Evidenzen zu einer Neutralisierung zweiten Grades und zu einem praktischen ethisch-ästhetisch gebundenem Spiel mit Kontingenz. Der Hauptgegenspieler Kritischer Theorie ist vielleicht die politische ErsatzreLigion gewesen, sei sie nun eine bolschewistische, sozialdemokratische, christlich-soziale oder -liberale Weltanschauung. Im Zentrum steht die Dialektik jeder Aufklärung und Emanzipation. Der Kern bei Adorno ist die Ideologiekritik als eine negative Theorie-Praxis-Identität. - Die Philosophische Anthropologie hat ihren Widerpart in den sich ausdifferenzierenden Wissenschaften vom .Menschen, und zwar insbesondere in den Wissenschaften, die die Erforschung des menschlichen Organismus und dje Erforschung des menschlichen Geistes nicht zum Ausgleich bringen können. Der Kern Philosophischer Anthropologie ist die Korrektur von Biologismus und Kulturalismus, und deren entsprechenden technisch·wirtschaftlichen und technisch-administrativen Anwendungen. - Der Poststrukturalismus Foucaults hat seinen Widerpart in den neutralen Wissenssystemen. Sie werden aber nicht mit Blick auf ihre innere ZerkJüftung wie bei Plessner korrigiert, auch nicht mit Blick auf ihre Ideo10gieHihigkeit für politische Ersarzreligionen der Emanzipation kritisiert wie bei Adorno, vielmehr geht es um die Subversion des Wissens durch Surrealisierung. Die Absurdität, der Wahnsinn und die Verkehnheit der Evidenzen, die wir für wahr halten, enthüllt sich durch die Praxis poetisch-präziser Gesten. Zielpunkt ist dabei eine Ästhetik der Existenz, das heißt - um zu differenzieren - nicht Würde wie bei Plessner, nicht Utopie der Versöhnung wie bei Adorno.
IV Abschließend noch emige Überlegungen zu der Frage: Tragen die drei Theorie·Praxis·Modelle noch heute und für die Zukunft? Die Antwort ist einfach: Solange keine neuen Konzepte erkennbar sind, bleiben uns nur die, die skizziert wurden. Wenn nun keine neuen Konzepte vorliegen, sondern wir auf eine postmoderne Reflexion der Konzepte der Moderne des 20. Jahrhunderts verwiesen sind, so bleibt freilich immer noch die Umwegfrage: wie steht es mit den gesellschaftlkhen Bedingungen, an die Subversion, Kritik und Korrektur, an die ein Denken im Geiste Foucaults, Adoroos und Plessners gebunden waren. Wie haben sie sich verändert und wie werden sie sich vielleicht verändern?
Eßbach, Subversion, Kritik und KorreklUr
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Ich gehe davon aus, daß die drei Theorie-Praxis~Modelle historisch auf verschiedene Weise mit Institutionen und Bewegungen verflochten waren: das Korrekturmodell Philosophischer Anthropologie mit der Idee und Institution der niversität, das Subversionsmodell des PostslrukturaLismus mit dem Avamgardismus in der Kunst und seinen Ansprüchen auf die Gestalt des lebens, das Kritikmodell der Kritischen Theorie mit dem Schicksal des InteUek~ tuelIen in revolutionären Bewegungen. Wenn wir also die Chancen des Modells Korrekrur heute abschätzen wollen, ist der Blick auf den Zustand der Institution Unh'ersität zu werfen. Dabei geht es nicht nur um die innerwissenschaftliche Frage, wie nach der Verwandlung der Philosophie in ein Spezialfach zwischenfachliche Korrekturen kommuniziert werden können, wie Wissenschaft als Lebensform möglich ist. Es geht genauso darum, welche Chance zu an Würde orientierter Korrektur von Staats~ praxis heute noch bestehen. Es ist nämlich fraglich, wie lange sich die Universität als staatliche Anstalt gegen die Korruption des Staates und der staatstragenden Parteien zu verteidigen in der Lage sein wird. Korruption entsteht bekanntlich da, wo es nicht gelingt, Macht und Würde zu verbinden. Wenn wir die Chance des Modells Subversion heute abschätzen wollen, ist das Verhältnis von Künsten und J\'ledien in den Blick zu nehmen. Viele surreale OarsteUungstechniken sind heute integraler Bestandteil der Massen~ kultur geworden, und man ist unsicher, ob es überhaupt noch ästhetische Avantgarde geben kann. Auf l\'fedienwirkung berechneter Terrorismus hat die Schockwirkung der Kunst bei weitem überboten. Wenn wir schließlich die Chance des Modells Kritik heute abschätzen wollen, gilt es als Intellektueller wie eh und je nach revolutionären Bewegungen Ausschau zu halten, die aus ihrer Lage heraus Gerechtigkeit fordern, weil sie ein Glücksversprechen empfangen haben. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob das Molekül aus Revolution und Bewegung zerfallen ist. Denn die derzeit größte und dramatischste Bewegung, die weltweite Migration, hat noch keinen revolutionären Charakter angenommen. Subversion, Kritik und Korrektur als drei Theorie-Praxis-Modelle sind in ihrer historischen Gestalt bei Foucault, Adorno und Plessner an Voraussetzungen gebunden, von denen nicht sicher ist, ob sie noch gegeben sein werden. Es ist ungewiß, ob für die Antinomie von Heilsversprechen und Herrschaft in weltweiten Prozessen der Migrationen ein identifizierbarer Ort sich findet, von dem aus Kritik möglich ist. Es ist nicht minder ungewiß, ob die Antinomie von Lebenskunst und Wissenschaft im Horizont der Ausbreirung massenmedialer Apokal)'psen und Erregungskünsle noch durch subversive Praktik bearbeitet werden kann. Es ist schließlich auch ungewiß, ob in der Antinomie von Würde und Vereinseitigung angesichts der Erosion der Idee einer "unbedingten Uni· versität" und ihrer technischen Umstellung von Institution auf funktionale Organisation noch wesentliche Korrekturmöglichkeiten bestehen. Es sind vielleicht gerade diese drei geschichtlich-praktischen Ungewißheilen, die das Fortleben subversiver, kritischer und korrektiver Philosophie: sichern.
Hermann Schwengel
Von Luhmann zu Hege!. Zum Wandel politischer Konstellationen
Wenn in unserem Zusammenhang vom Wandel polilischer KonsteUacionen die Rede ist, kann es in erster Linie nicht darum gehen, die theoretischen Linien, die von Hege! zu Luhmann und zurück führen - mit Max Weber in der Mitte -, geisresgeschichtlich nachzuziehen. Es gilt vielmehr, die polemische Umkehrung der geistesgeschichtlichen Folge - warum wieder Hege! lesen? - zu verstehen. Für politische Soziologen ist die enrwickelte Luhmannsche Gesellschafrstheorie der interessanteste Ausgangspunkt, um hier Boden unter den Füßen zu bekommen. Wenn ich von politischen Konstellationen spreche, dann wie Jacob Taubes über die Konslellalion NitlZSfhe gesprochen hat: Es gibt einen AUlOr, es gibt Texte, es gibt Diskurse, es gibt Handlungsketten, es gibt Referenzen, die auf sozialnrukturellen Wandel, Modernisierungs- und Globalisierungsschübe, Verschiebung politischer Mentalitäten und Spannungen zwi· sehen Religion und Kultur ven.veisen, ohne daß die Verknüpfung schon zu Erklären und Verstehen reichte. Das Vorbewußte strukturellen \'('andels manifestiert sich in solchen Konstellationen wie der Konslellalion Nitlzscbe, die auf eine Reihe weiterer der krisen haften Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg verweist. Im folgenden will ich eine kleine atmosphärische Skizze der Konstellation Luhmann zeichnen (1), zu der Diedrich Diederichsen vor einjger Zeit angeregt hat.' Danach will ich drei Felder beschreiben, auf denen die Luhmannsche Theorie an kritische Grenzen Stößt, kritisch in dem Sinne, daß sie theoretische t.'laße zur Weiterführung über sich selbst hinaus bereitstellen (2). Danach will ich drei komplementäre Motive bei Hegcl nennen, die eine erneute Lektüre und Rezeption der Debatte unter dem Vorzeichnen politischen Konstellationswandels nahelegen (3). In der Zusammenfassung will ich schließlich die Oberlegung nahelegen, daß die stagnierende politisch-soziologische Globalisierungsdeb:ltte durch die Inversion: von Luhmann zu Hege! in Bewegung gesetzt werden kann.
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Vgl. Diedrich Oiederichsen. FranJeßlrltr RMndscball, 17. Januar 2001.
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Systemischer Optimismus und Pessimismus In der Debatte um die Person des Bundesaußenministers Fischer, einem Exzeß an 68er bl1Ibing, hat Diedrich Diederichsen die These illustriert, "die empirischen 68et in Deutschland [seienJ im Verlauf der 80er Jahre Luhmannianer ge~ worden. Das hält zwar nicht jung, aber cool l...} Nicht vergessen sollte man, dass die 68er nicht nur ein moralisches, sondern durchaus auch ein lebensstilistisches Anliegen hatten. Ihre Eltern waren ja nicht nur alte Nazis oder Nazi~ Verdränger, sie waren auch geschwätzige Spießer, bis zum heimatvertriebenen Rand voller Provinzialität, ängstlich und traumatisiert." Die Trennung davon fühlt sich heute bei einem systemtheoretischen Weltbild gut aufgehoben: "Das iSt angenehm unfanatisch, steht weit über den konkreten Dingen und hat trOtz~ dem kein Verständnis für Leute, die aus einer Position, die nur ein bisschen über oder neben den Dingen lokalisiert, Einschätzungen formuliert, von denen aus ein Eingriffsrecht oder gar eine Eingriffspflicht abgeleitet wird, mithin po~ litisierte oder politisierende Nachwachsende. Denen kann man dann vorhalten, die eigene Beobachterposition nicht reflektiert zu haben. So hält man sich den Nachwuchs vom Leibe. Und diejenigen, die 68 zurecht weitertreiben wollten, ob mit Deleuze oder Jameson, Butler oder Derrida." Der Abkühlungsprozeß hat auffallend viele Ex-Maoisten in Wirtschaft und Verwaltung landen lassen, so Diedetichsen - wo Mobbing, CliGuen und als Sachdiskussion camouflierte lVIachtpolitik nützliche Sozialisation war, er hat in nächtelangen Fraktionskämpfen gestählte Jungsozialisten zu realpolitischem Führungspersonal und die Sprache der Differenz zur Rhetorik von Kulrurmanagern und Kulrurdezernenten gemache. Dieser Normalisierungs- und Abkühlungsprozeß läßt sich in der Tat vielleicht am besten im elastischen Netz der System theorie durchführen und aushalten. Das führt aber auch zu einem system ischen Pessimismus, der bei Luhmann selbst im Laufe des Lebens immer stärker geworden ist. Sy~ stemischer Optimismus dagegen macht sich dann, wie Diederichsen zeigt, nur an einzelnen Figuren aus - Joschka Fischer hat noch etwas VOll Herbert Wehner, der eine sitzt immer noch irgendwie im Hotel Lux und der andere besetzt immet noch irgendwelche Häuser - oder er wanden in die positive politische Ökonomie aus, läßt deren Kritik und ihre alte Arbeitswerttheorie hinter sich, um als voluntaristische Handlungstheorie wieder aufzuerstehen. Wenn Luh· mann und das elastische Netz der Systemtheorie den systemischen Pessimismus repräsentiert, der den Individuen aber eine souveräne Distanzleistung er· möglicht, hat der systemische Optimismus - in der Regel von der gesellschafts~ wissenschaftlichen Linken unbemerkt - ebenfalls ein Gesicht gewonnen, nämlich das Josef Schumpeters. Bei den Beratern Lafontaines standen bereits Keynes und Schumpeter gleichberechtigt nebeneinander im Regal Der zerstörerisch-schöpferische unternehmerische Typus, der die Komplexität der Verhähnisse nicht mehr in souveränem Stil reduziert, sondern durch Risiko- und Aggressionsbereitschaft, aristokratische Attitüde und Management der AI/ellge, funktionale AGuivalente für "Integration" schafft - wogegen sich die Menge
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wiederum aJs Akteur zu behaupten sucht 2 - dringt vor. Integration ist in mancher Hinsicht die Schwundforrn der alten politischen Figur der Aufhebung, der die Widersprüche, die einmal zur Notwendigkeit der Aufhebung führten, gar nicht mehr bewußt sind, der ein trivialisierter Begriff der politischen Gemeinschaft ausreicht. Integration ist in so vieler Hinsicht ein Nicht-Begriff geworden, der der Schärfe des liberalen Denkens der Differenzierung nur ein Gefühl entgegenzusetzen vermag. Atmosphärisch bilden Luhmann und Schumpeter zwei Seiten derselben Medaille, der die politisch-symbolische Welt des Integrationsdenkens - und IdentitälSdenkens - keine eigene Währung entgegenzusetzen vermag. Diesen Zusammenhang gilt es zu durchbrechen.
An den politischen Grenzen der Sysremtheorie Zunächst gilt es, die politische Herausforderung der System theorie, die in der Skizze Diederichsens ankJang, zu beschreiben. Sie besteht in einer klareren Fassung der Problemlagen von Globalisierung, Arbeit und Elite. Luhmanns Ansatz der Weltgesellschaft hat Vorteile, die nicht von der Hand zu weisen sind. J Die \'<'eltsystemtheoric Emanuel Wallersteins arbeitet noch im wesentlichen mit der Zentrum~Peripherie-Unterscheidung,die aber die funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft nicht auszuleuchten vermag. Sie ist zu stark auf Lokalität als Zentrum und Spitze angewiesen, zu sehr auch auf Aufstieg und Fall historischer Nationalstaaten, und vor aUem fehlt ihr der Sinn für die strategische Dynamik semiperipherer Gesellschaften - analog zur Schwäche des klassischen Marxismus bei Verstehen und ErkJären von ",Udlr dosJrs. Die Fortführung des liberalen amerikanischen Parsonsianismus sieht zunächst flexibler aus, weil sie wie bei George Modelski dje Unterscheidung von globaler, regionaler, nationaler und lokaler Systemebene mir der Funktionenunrerscheidung von Ökonomie, Politik, Gemeinschaft und Kultur kreuztabelliert. Stich+ weh weist auf ein interessantes Ergebnis dieses Ansatzes hin, indem Modelski in der Periode zwischen 1480 und 1580 Portugal eine dominante Stellung im Weltsystem zuschreibt, zugleich aber für die europäische Region eher in der Rivalität zwischen Spanien und Frankreich ZentraJjtät entsteht. Auch heute ließe sich, darauf weist Stichweh hin, in Braudels Perspektive die Weltgesellschaft als Vernetzung kleiner Sektoren einiger großer Weltstädte verstehen, die mit der politisch-militärischen Hegemonie der Vereinigten Staaten nicht übereinstimmte. Zugleich ist damit aber auch schon die relative Schwäche dieses An-
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Michael Hardt und Antonio Negri, Empire. Dir ,ulle IlVeilord"lIrJg, Frankfurt a. M./ N~w York, 2000, S. 402. Vgl. zum folgenden Rudolf Stichweh, Die l/YtltgmllJ(haft. SoZi%giJ(be A"o!Jun, Frankfurt a. M. 2000, S. 15 ff.
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satzes offenbar, nämlich daß es keinen Begriff gibt, der Stadt und Staat auf einen Nenner zu bringen vermag, die poljtisch-geographischen und soziolo~ gisch-funktionalen Argumemationslinien laufen nebeneinander her, ohne sich wirklich zu schneiden. Demgegenüber läßt sich mit Luhmann jede Interaktion und jedes Ereignis in den Modi von Interaktion, Organisation und Gesellschaft beschreiben, so daß die Perspektiven vor Ort zusammengefühn werden können. Die imermediäre Systemebene Organisation - die mediale Kommunikation eingeschlossen - ist zemrale Zugangs- und Vermittlungsagemur zwischen lokaler und globaler Weh. Verbunden mü diesem Primat der Organisation sind zwei weitere leitende Hypothesen, die eine nennt Stichweh die "Undsoweiter"-Hypothese, die andere die Dekomextualisierungsthese. Die eine bedeutet, daß in jeder lokalen Interaktion bereits der Keim der nächsten angelegt ist, daß jede Verflechtung die Möglichkeit weiterer globaler Verflechtung einschließt und Macht gegenüber der Verweigerung von Globaljsierung bedeutet. Dekomextualisierung be~ deutet wie bei Anthony Giddens. daß Professionen, kommunikative Medien wie Vertrauen und generalisierte Symbole aus ihren historischen Zusammenhängen entbettet sind, neu zusammengesetzt und verbreitet werden. Diese Trias von Organisation, permanemer Anschlußwahrscheinhchkeit und Embet~ tung drückt die strukturelle Dominanz der Funktionssysteme, monetäre Ökonomie und mediatisierte Kultur aus, während die Engführung von Politik und Gesellschaft - liberal oder marxistisch akzentuiert - demgegenüber zurücktritt. Daran wird die Kritik der Konstellation Luhmann anzusetzen haben. Das Faszinosum der Systemtheorie rührt auch aus der Tatsache, daß hier die Überdetermination von Begriffen wie Arbeit endgültig anerkannt zu sein scheint und damit Raum für - beobachtersensible - Kommunikation geschaffen wird. Systemtheoretiker wissen allerdings, daß damit Begriff und Sache der Arbeit nicht erledigt sind. Jungluhmannianer wie Dirk Baecker sprechen deshalb erneut von der Form der Arbeit, unter Verwendung des Formbegriffs von George Spencer-Brown, ..in dem festgehaJten ist, dass eine Bestimmung 1... 1 von was auch immer (hier: zum einen der Arbeit, zum anderen jedoch auch des Begriffs der Arbeit) eine Unterscheidung l... J voraussetzt. die die bestimmte Seite [... 1 von einer unbestimmten Seite [... 1 unterscheidet. Eine Form enthäh beide Seiten der Umerscheidung lind dje Operation ihrer Unterscheidung. l... J Der imeressante Punkt bei diesem Formbegriff ist, dass diese Bestimmung zum einen auf das hin gelesen werden kann, was sie bezeichnet, zum anderen auch auf den sie begleitenden unbestimmten Raum hin, von dem sie sich ab· setzt, und zum dritten auf die Operation der Unterscheidung selbst hin, die konkret vollzogen werden muss, soll die Umerscheidung zustande kommen und Bestand haben" (Baecker, 2002, S. 207). Wem die Arbeitswelt heute zu kompliziert wird, der mag sich auf den klassischen Arbeitsbegriff zurückziehen, den Baecker zurückweist, nämlich daß Arbeit immer dann stattfindet, wenn körperliche Kraf[ aufgewendet wird. Es gibt immer wieder einmal Reminiszenzen an diesen Arbeitsbegriff, etwa wenn der Hisroriker Paul Nolte die
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regierenden SoziaJdemokraten damit ärgert, daß er an die harre symbolische Grenze, die der "Blaumann", die Arbeirskleidung für körperliche Arbeit, erinnert. Aber dieser Arbeitsbegriff ist ebenso klar wie unfruchtbar, weil von ihm kein Weg mehr zu einem Begriff gesellschaftlicher Arbeit führt. Den Blick auf das Oszillieren von Last und Lust der Arbeit zu richten, auf die mehrdimensionale Verknüpfung von Hierarchie und Tätigkeit, die für jede Stellungnahme die Reflexion der eigenen Beobachrerposition verlangt, reicht nicht. Die Poljtik, "die hinter der Durchserzung der sozialen Ordnung steckt, gibt sich als das Produkt des GeJjngens dieser Ordnung immer wieder zu erkennen, weiJ die Paradoxie von Last und Lust nur aufgelöst werdcn kann, indem den einen die Lust und den anderen die Last zugewiesen wird. Der Zustand ist so wenjg stabiJ wie die Parodoxie es ist" (Baecker, 2002, S. 214). Wenn sich Herren und Knechte unmittelbar gegenüberstehen, ist die Paradoxie am Ende. Um das zu vermeiden, können Herren und Knechte gleichermaßen in die Arena der Anerkennung verwiesen werden, mit dem Resultat, daß Anerkennung paradox wird. Diese Geschichte läßt sich mit Baecker noch sehr lange weitererzählen: Arbeit macht reich und Arbeit macht arm, sie begründet Eigentum, und sie bedroht dasselbe Eigemum mit dem Verlust seines Vermögenswertes. Ist das wieder eine Paradoxie, fragt Baecker. Offenbar stößt die Steuerung durch Paradoxien an Grenzen, die sie selbst immer wieder erzeugt. Dann bricht das Reich der Normen wieder in das Spiel der Paradoxie ein, ohne jemals allerdings endgültig die Oberhand zu gewinncn. Die Dialektik von Normierung der Arbeit und Normicrung durch Arbeit verdichtet sich wieder in einen identifizicrbaren gesellschaftlichen Bereich. Das scheint heute der FaU zu sein, wenn davon die Rede ist, daß die Arbeit der Information - mit dem doppelten Genitiv - den Stoff der Arbeit umwälzt, bis zur Arbeit am menschlichen Genom. Scon Lash gibt seinem neuen Buch den Titel: Kritik der InforllJation und suggeriert, an die Stelle der Kritik der poljtischen Ökonomie träte eben diese Kritik der Information. Das ist gewiß zu früh gesprungen, weil das Politische dieser Arbeit der Information damit keineswegs schon geklärt ist. Nichtsdestoweniger ist die Grenze der system theoretischen Verfassung der Arbeit offenbar, wenn ausgerechnet im Feld von Kommunjkation, Wissen und Information die Dinge umschlagen und die Sequenz, die Luhmann noch mit Habermas geteilt hat, Arbeit-Interaktion-Sprache umgekehrt werden muß. Schon die systemtheoretische Reflexion der Weltgescllschaft legt die Frage nahe, wer die zentralen Prinzipien der Organisation, der Anschlußfahigkeit und der Entbettung eigentlich regiert. Nach der Auseinandersetzung mit der systenuheoretischen Verfassung der Arbeit verschärft sich die Frage, wer der Formgeber gesellschaftlicher Arbeit ist, einer Form, die das Arbeitgeben wie das Arbeirnehmen einschließt, Arbeit wie Nicht-Arbeit, körpedjche wie geistige Arbeit und Produktion wie Dienstleistung. Der schon lange bestehende Verdacht, daß die Luhmannsche Systemtheorie eine heimliche Elitenrheorie cnt· halte, in der die Beobachter aufeinandergehetzt werden, um sich in Schach zu halten, während der elitistische Beobachter aus der Distanz das Spiel verfolgt,
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das er eröffnet hat. Frei nach Mao Tse Tung: Vom Berge aus beobachten, wie sich die Tiger im Tal zerfleischen. Wenn heute von knowledge brokers die Rede ist, von spin doc/ors und Denkfabriken, globalen intellektuellen Zirkeln und strategischen Netzwerken, die an die Stelle der kontroversen Inreraktion von Politik, Wirtschaft und Geist treten, f.'inde die kühle Distanz, die systematische Suche nach funktionalen Äquivalenten für histOrische Problem lösungen und det Übergang von der Soziologie zur Biologie als posthistorischer Leitwissenschaft in der System theorie vieUeicht eine Sprache. Die Elitentheorie funktioniert allerdings nur, wenn in den beiden anderen Bereichen, den der gesellschaftlichen Arbeit und globalen funktionalen Beziehungen Erfolg zu beobachten ist. Daran sind unter dem Zeichen von Terror und Krise Zweifel angebracht.
Von Luhmann zu HegeJ Diesen drei Herausforderungen der System theorie entsprechen drei öffentliche politische Debatten, die mit der theoriegeschichtlkhen kaum vermittelt sind. Da ist zunächst natürlich die Debatte um den Status der GlobaÜsierung. Von dem im Vordergrund stehenden iikollo",üchen Globalisierungsschub, der an eine Reihe vorheriger historischer Schübe ansetzen kann und in mancher Hinsicht als Reifungsprozeß zu verstehen ist, läßt sich kullurelle GlobalJsierung unterscheiden, in der mediatisierte Oberfläche und antagonistisches Wesen aufeinanderstoßen und - obwohl auch dieser Prozeß Vorläufe aufweist - von Vermittlung noch keine Rede sein kann. Die politisch-guellschaftliche Globaljsierung schließlich ist noch mehr am Anfang. Das läßt sich daran ablesen, daß theoretische Konfigurationen wie globale funktionale Differenzierung, Raum-ZeitKompression oder Inklusion bzw. Exklusion unvermittelt im Kontext historisch-empirischer Beschreibungen von National- und Wohlfahrtsstaat auftauchen. Genau hier treffen intellektuelle Konstellationen aufeinander. Über der zweiten Arena, der der gesellschaftlichen Arbeit, könnte Dahrendorfs doppelte Paradoxie stehen. Die eine lautet: Arbeit ohne Kapital und Kapital ohne Arbeit, die andere: Klassen ohne Kampf und Kampf ohne Klassen. ßeide Paradoxien verweisen aufeinander, stiften aber keine Vermittlung. In der Debaue um die Neue Ökonomie hat zwar das Recht auf Arbeit eine gewisse Renaissance erfahren - in dem Maße, in dem die Leitidee industrieller Vollbeschäftigung verblaßt isl. Diese ist in der konventionellen gewerkschaftlichen Ritualisierung von Arbeil und sozialem Konflikt steckengeblieben. Den öffentlich.politischen Untergrund der EÜlenfrage bildet der schwelen· de Tiefenkonfljkt zwischen europäischer und amerikanischer Reflexion des Politischen. Man muß nicht alles für bare Münze nehmen, was amerikanische /hink tanks hervorbringen, aber die Unterscheidung zwischen einem kantianischen europäischen Beobachter lind einem hobbesianischen amerikanjschen, der Beobachrung in Handlung umzusetzen weiß und sich nicht von Anerkennung abhängig macht, silzt liefer als es die Rhetorik unbedingt nahelegt. So
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schnell wie amerikanische ELüen mit Fukuyama die Geschichte für beendet erklärt hahen, nehmen sie die Weltgeschjchte wieder auf und strafen die europäischen Inszenierungen der Differenz mit Verachtung. Auf allen diesen drei Feldern lassen sich HegeIsche Motive mobiljsieren, die für die Vermittlung von Theorie- und öffentlicher Debatte von hohem Interesse wären. Die zentrale Stellung von Organisation, permanenter globaler Anschlußfähigkeit und Entbettung hat in der KonstelJation Luhmann einen Primat der Wirtschaftskulrur begünstigt. Demgegenüber ist das HegeIsche Motiv eines Primats der Beziehung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft interessant, deren Vermjttlung die winschaftskulturellen Wahl prozesse formatiert. Diese Vermittlung verlangt intermediäre Gewalten, die sich gegen ständisch-sozialstrukturelle VerkJumpung wie liberale Verflüssigung der politischen Beziehungen zu definieren haben. Verbunden ist diese Vermittlung mü der Drift der Zentren historischer Entwicklung vom Orient zum Okzident, von Oberitalien nach Großbritannjen, von Europa nach Amerika, vom Atlantik zum Pazifik. Eine gelungene Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staatlichkeit ist mit einer exemplarischen Stellung in der Entwicklung globaler Zivilisation verbunden und umgekehrt. Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte und Rechtsphilosophie sind wieder im Zusammenhang zu lesen. \'(lährend sich in der liberalen Debatte das Motiv der Anerkennung weitgehend aus dem Kontext der Arbeit gelÖSt hat und als wechselseitige Anerkennung politischer und kultureller Bürgerschaft ihr Ziel bestimmt, ist die Grundierung der Anerkennung in der Arbeit das Motiv, das Hegcl für Mau' Kritik des industriellen Kapitalismus wie unsere des Informationskapitalismus so interessant werden läßt. 4 Das unselbständjge Bewußtsein, der Knecht, ist der eigentliche Produzent, weil er sich direkt in produktive Arbeü auf die Natur bezieht. In die Form der Arbeit ist die Machtbeziehung zum Herrn von der erSten Vermittlung an eingelassen. Während Fukuyama in seinem "Ende der Geschichte"S Hegels Aktualität noch außerhalb und gegen die Ökonomie in der Risikobereitschaft des herrschaftswiJligen Akteurs gesehen hat, ist unter den Bedingungen des informationsindustriellen Kapitalismus gerade der Gestaltungs- und VermittiungswiUe in und mit der Ökonomie erneut Ursprung der Aktualität HegeIs. Spielen wir mit HegeIs Motiven. Wenn sich alte und neue Ökonomie durchdringen, steht den nichts als abhängigen Datenknechten die vermittelte Selbständigkeit der Symbolherren zunächst abstrakt gegenüber: im Symbolproduzenten ist dem DatenknedH das Fiir-!ich-Stin ein anderes. Das ist aber nur der Anfang, denn im BiJdungsprozeß des informationsindustrieUen Geistes wird das Für-sieh-Sein als ein eigenes Für-sich reflektiert, das heißt, durch die Informationsarbeit bildet es sich zur reflektierten Subjektivität o11-und-flir-tich heran und wird dem Herrn dadurch gleich. Nach diesem Muster gilt es, die Informationsökonomie und ihre globale Struktur - im Kontexr des Hegclschen
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Dirk Baecker (Hrsg.), Arcbiiologie der Arbeit, Berlin 2002. 5 Frands Fukuyama, Da! Ende der Curbübte. lf/o steben wirr, r-,'fünchen 1992.
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Motivs - zu betrachten. Schließlich und endljch ist das Motiv einer allgemeinen Klasse interessant, die dem Ethos der föderativen und subsidiären WeItrepublik verpflichtet, repräsentative Elitendifferenz - und Elitenkonflikt - öffentljch darstellt, um den Widersprüchen der Globalisierung angemessene Wahl- und Identifikationsprozesse zu ermöglichen. Von der preußischen allgemeinen Klasse führte schon ein geheimer Pfad zur progressivistischen amerikanischen universal clou, die durch Intellektuelle wie Walter Lipman und Lionel Trilling repräsentiert wurde und ein besseres amerikanisches Erbe darstellt als der heutige partikularistische Bellizismus Washingtons. Die widersprüchliche Existenz der allgemeinen Klasse erlaubt es, ansonSten unerträgliche Kontroversen wie zwischen Reljgion und Kultur auszuhaJten, ganz wie die allgemeine preußische Klasse den Protestantismus mediatisierte. Dabei mag die Vernunft intensiver, \'erbindlicher und expressiver werden als in ihrer okzidentalen Verfassung. Alles in allem hat die Anrufung der vergangenen KonsteUation Hege! den polemisch-kritischen Sinn, an den Grenzen der Konstellation Luhmann ein neues Spiel zu eröffnen. Es ist der Zusammenhang der drei skizzierten Motive, der uns nötigt, in dieser vermittelten Weise wieder von Hegcl zu sprechen, obwohl die historische Zeit zweier Jahrhunderte dazwischen liegt. Hegels Motive sind am Vorabend der Durchdringung der europäischen Gesellschaft durch die industrielle Revolution formuljert, am Vorvorabend der Verschjebung der okzidemalen Machtdynamik über den Atlantik und noch ohne Ahnung, welche Arbeit den Geist in der Vermittlung globaler Zivilisationen noch erwartet. Vielleicht bringt es die Globaljsierung aber mit sich, daß diese frühmodernen Motive dazu beitragen, die spätmoderne Abkühlung des Politischen in Europa aufzuheben .
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Gerard Raulet
Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus Zur Problematik der französischen Citoyenneti
In meinem Buch Kan/: His/oire e/ cilrqenneli' habe ich versucht, der herrschenden moralistischen Interpretation von Kants politischer Philosophie entgegenzuarbeiten, indem ich den Akzent auf eine "Teleologie« des Republikanismus gesetzt habe. Implizit war meine Zielscheibe eine bestimmte Form des UltraRepublikanismus, die stark in der Tradition der französischen laizistischen Ideologie verwurzelt ist, sei sie nun von rechts oder von links, und deren Verhängnis darin besteht, die Frage der Rechte du.rch die Frage nach den Pfljchten zu ersetzen. 2 Ebenso verhängnisvoll erweist sich aber auch die umgekehrte Tendenz, die im Zuge der wachsenden Fragmentierung, ja Tribalisierung der Gesellschaft die Grundlage eines gemeinsamen Rechts immer mehr durch partikularistische Rechtsansprüche ersetzt und Staatsbürgerrechte über Gerichtsentscheidungen anerkennen läßt. Diese EntwickJung hat zur Folge, daß die Cilrqenntti zwar nicht mehr nur eine Ordnung der Pflichten ist, dafür aber immer mehr als eine Unordnung der Rechtsansprüche erscheint. Die Gleichung, auf der die republikanische Ideologie beruhte - die Gleichung von den Pflichten und den Rechten, oder besser gesagt von der Pflicht und den Rechten -, scheint sich überlebt zu haben. Immer häufiger werden der Comeil d'Etat oder der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte aufgefordert, über Menschenrechte zu entscheiden. Diese Tatsache macht eine wachsende Spannung zwischen Menschen- und Staatsbürgerrechten manifest, während gerade die Verbindung zwischen Menschen- und Staatsbürgerrechten das Hauptziel der Grundrechte aller rechtsstaatlichen Verfassungen war und folglich in jedem Rechtsstaat prinzipiell gesichert ist. In keinem Rechtsstaat dürfen, zumindest im Prinzip, die Grundrechte eingeschränkt oder beseitigt werden. Ganz offensichtlich sind wir aber in eine Phase der Turbulenz eingetreten, wo auf der einen Seite diese
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Gerard Raulet: KlJnl. Hüloire tl aloytnntli, Paris 1996. Zur republikanischen Ideologie vgl. mein Buch Apologie Je /a tiloyenneli (Paris 1999), dem das Argument dieses Beitrags entnommen ist. Das Scheitern von Jcan-Pierre Chev(:nement bei den Präsidenzialwahlen 2002 ist gleichsam die Probe aufs Exempel gewesen.
Raulet, Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus
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Grundrechte selbst einer höchst zweideutigen Revision - einer zugleich parti~ kularistischen und universalistischen (z. B. die Annahme einer "Internationalen Konvention der Rechte der Frau" im Jahre 1984) - unterworfen werden, und wo auf der anderen Seite - dieses kann vielleicht jenes erklären - die Verknüpfung zwischen Menschen- und Staatsbürgerrechten jedes mal, wenn sich Probleme stellen, wie etwa beim Asylrecht, durch eine besondere gerichtliche Entscheidung sanktioniert werden muß. Wir sind mü einem ständigen Konflikt zwischen einer moralischen und einer juristischen Konzeption der Menschenrechte konfrontiert, während dieser Konflikt im Prinzip durch den ausdrücklichen Bezug der rechtsstaatlichen Verfassungen auf die Grundrechte als ihre Grundlage geregeh worden war. Zugleich erleben wir das Auftauchen von Monstren wie das sogenannte "Recht auf Differenz". Ist doch die Differenz kein "Recht", sondern bloß eine Tatsache - ein Zustand, der geschützt ist durch das allgemeine Recht, dem man freilich beitreten muß, um sein "Recht auf Differenz" einfordern zu können. Die Jurisprudenz wird immer mehr als Instanz normativer Orientierung und nicht mehr lediglich als juristische Entscheidung angesehen. Dies wurde etwa gelegentlich der widersprüchlichen Stellungnahmen und Rechtsprechungen bezüglich des "islamischen Kopftuches" deutlich. Die Entscheidungen des französischen Conseil d'Etat seü November t 996 haben zwar einigermaßen Klarheit geschaffen, insofern als aus ihnen zumindest hervorgeht, daß die Gymnasia. stinnen nicht deshalb ausgeschlossen wurden, weil das Tragen eines Kopftueh es ihre Parteinahme für den Islamismus manifestierte, sondern weiJ sie durch ihr Verhalten, zu dem eben das Tragen des Kopftuchs gehörre, gegen das aU~ gemeine republikanische Gesetz verstoßen hanen und weil dieser Verstoß sie aus dem allgemeinen Unterrichtswesen ausschloß, vor aJJem aus dem Unterricht der Naturwissenschaften und aus dem Sportunterricht. Hier berühren wir zwei entscheidende Punkte: auf der einen Seüe die Überzeugung der laizistischen Ideologie des 19. Jahrhunderts, daß das Wissen der Schlüssel zum Fort· schrin ist; auf der anderen Seite das Menschenrecht des Individuums, über seinen Körper zu verfügen. Beide Punkte sind Ecksteine der Citfijenneti, die auf dem individuellen moralischen Bewußtsein und nicht auf der Macht traditioneller oder gemeinschaftlicher Traditionen beruht. Die Lösung solcher Konflikte besteht sicherlich weder in einer - wie auch immer republikanischen - Moralital, die sowieso von dem "Gang der Dinge" übertroffen ist, noch in dem Rückzug auf die Sittlichkeit traditioneller oder ge· meinschaftlicher Zugehörigkeiten. Es wäre aber auch zu hoffen, daß sie nicht nur in einer Anhäufung von Verfahren und Rechtsprechungen gesucht wird. Aber es wäre sicherlich falsch, einer "vormodernen" Sittlichkeit eine republikanische Sittlichkeit gegenüberzustellen, die sich im Besitz eines Monopols der Modernität wähnen würde. In Wirklichkeit ist heute das ganze Erbe der ratio~ nalen Begründung des Rechts zu überdenken, wenn man den Übergang von der "vormodernen" zur .,republikanischen Sittlichkeit" überhaupt verstehen und fördern will.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Eines muß festgehahen werden: Die Cilqyenneli hat sich als die moderne rationelle Version der gemeinschaftlichen Werte Iierstanden Jwd durcbgeulzl. Sie hat diese in einem Rechtsstaat institutionalisiert, der zugleich Ausdruck der Zivilgesellschaft ist und etwas darstellt, was man in Analogie zur Idee der "zweiten Natur" eine "zweite Gemeinschaft" nennen könnte. Der Historiker Claude Nicolet hat darauf hingewiesen, daß die Ciltryenneti neben den Zi'lilrechten für jedes Individuum auch, wenigstens nach der französischen Auffassung, Biirgerrtthtt impliziert, die die "Zustimmung zu einem Konsens, eine Art ,Glaubensbe· kenntnis' erfordern, das mit bestimmten Einstellungen oder Dogmen unvereinbar ist".3 Dieses Moment der Rationalisierung ist freilich in eben demselben Maße problematisch, wie es im Gegensatz zu den unüberlegten, gleichsam natun.vüchsigen Zugehörigkeiten rational ist. Die Auflösung föderaler Staaten, wie etwa die UdSSR oder Jugoslawien, belegt dies, aber wir würden uns irren, wenn wir meinten, daß diese Problematik nur solche an sich schon prekären Gebilde betrifft. Die Ciloytnne/i impliziert vielmehr immer die Problematik der ..lntegration", und dies um so mehr, als der moderne Staat die Nation erst recht schafft und damit die Nationalität notwendigerweise an zweite Stelle gegenüber der Ci/oymne/i trin: die revolutionären Verfassungen Frankreichs definieren sie ja als Treue zur Verfassung. Die so verstandene Nation ist aus vielen Gründen ein sehr labiler Komplex. Es ist auch kaum zu bestreiten, daß es in der Ci/oyenne/i selber ein Ausschließungsmoment gibt, das vom Begründungsakt von Identität, den sie darstellt, untrennbar ist. So hat während der Französischen Revolution die politische Durchsetzung der Ciloyenne/i die Form eines Feldzugs gegen die Dialekte, vor allem in den Grenzgebieten, angenommen. Dieser Nationalismus entsprang zwar aus den edelsten Absichten, er war kein partikularistischer NationaEsmus, sondern war universalistisch und fortschrittlich gesinnt. Nichtsdestoweniger wurde er mit einigem Recht als imperialistisch abgestempelt, als eine Vereinnahmung des Allgemeinen, als ein Besonderes, das sich für das Allgemeine ausgab. Wie sehr wir sie in der französischen Verfassungstradition auch gleichzusetzen neigen: die Ci/oymne/i ist zugleich national und universalistisch, die No/ionolilii/ ist ihrerseits immer partikularistisch und setzt immer eine Vielzahl von anderen Nationalitäten voraus. Seit der Französischen Revolution haben sich unsere Verfassungen bemüht, diesen Gegensatz zu schlichten: Französischer Staatsbürger sein bedeutet von französischer Nationalität zu sein; Ausländer, die an den mit der französischen Staatsbürgerschaft verbundenen Bürgerrechten teilhaben wollen, müssen sich einbürgern lassen. im Guten wie im Schlechten haben andere Verfassungen den Unterschied aufrechterhalten: so konnte man in der UdSSR sowjetischer Bürger jüdischer Nationalität sein. In der französischen Tradition wie freilich auch in ihrer kolonialen Ver~ngenheit
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Claude Nicolet: L 'idee ripNblicaint tn Franu (1789-1924), Paris 1982, 1994, S. 371. Vg1. hierzu RauJet, Chroniqut dt l'uPO{t puhlte, Paris 1994, S. 227 f.
Raulet, Demokraue, Republikanismus, Multikulruralismus
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gab es hingegen für Mohammedaner, die auf ihren religiösen und bürgerlichen Sonderstarus nicht verzichten wolhen, keinen Zugang zur französischen Staatsbürgerschaft bzw. Nationalüät. Bestenfalls konnten sie innerhalb des französischen Reiches ein arabisches Königreich bilden. Für sie gab es nur eine Alternative: Unterwerfung oder Integration. Unter Integration versteht die französische republikanische Tradjtion die uneingeschränkte Bejahung der bürgerlichen Gesetze und des patriotischen "Glaubensbekenntnjsses". Wiewohl wir heute unsere kolonialistische "Blütezeit" hinter uns haben, bleibt dies ein Stein des Anstoßes in der Debatte um Integration. Inwiefern kann man die französische Staatsbürgerschaft gewähren und dabei eine andere "nationale" Zugehörigkeit dulden? Prinzipiell sollte man bei der Beantwortung dieser Frage wahrscheinJjch zwischen individuellen Wi· derständen einerseits und der ausdrücklichen Ablehnung des republikanischen Vertrags durch konstituierte ethnische oder nationale Gruppen andererseits unterscheiden. In Wirklichkeit ist mittlerweile eine solche Unterscheidung insofern schwierig geworden, als in vielen Fällen die ethnisch-religiösen Identitä· ren künstliche, reaktive Folgeersche,inungen sind, die aus individuellen Integrationsschwierigkeiren resultieren und bloß zum Sinnangebot der ethnischen und religiösen Ideologien greifen. Das aUes wirft das Problem des Umgangs mit den Differenzen auf. Da man sie nicht ignorieren kann, soll man sich bemühen, ihrer Anerkennung ein d}'namisches Modell der Cilqyetmtli abzugewinnen, anstatt einen Ultrarepublikanismus zu vertreten, der der Republik nicht nur ihre Dynamik nimmt, sondern sie in die Sackgasse eines unauflöslichen Konfljkts mit ihren Widersachern zwängt. Ich habe in meinen beiden Büchern über Kant und über die CiIf!YtntUli versucht, eine solche dynamische Konzeption herauszuarbeiten. Dabe,i ist mir aufgefallen, daß gerade das Traktat 2unI ewigen Fn'edert, dessen "Kosmopolitismus" man gemeiniglich übcrstrapaziert4, es vielmehr mit der Schwierigkeit aufnimmt, die "das Andere" fLir die republikanische Verfassung darstellt. Was Kant nämlich schon beim Übergang zur zweiten Ebene, der des Völkerrechts, einführt, ist ein "Recht" auf Andersheir oder zumindest eine Berücksichtigung der Andersheit, die beim Übergang zur dritten Stufe, der Weltbürgerljchkeit, die voreilige Verallgemeinerung der Republik verbietet. Die Verv.'andtschaft dieser Kantschen Position mit den ersten revolutionären französischen Verfassungen, die ganz ausdrücklich die doppelte Sraatsan· gehörigkeit ausschlossen und vor allem die Zugehörigkeit zu einem despotischen Staat und den Status eines französischen Staatsbürgers für unvereinbar hielten, ist unübersehbar. 5 Die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten des Kant.schen Modells impliziert deshalb auch eine Auseinandersetzung mjt 50 Habermas: Konlsltfrt du Eu'igm Fnrdtns _ (JUS dtl11 hiflonsrhen Ahslond Ilon 200 Jahnn, Frankfun a. M. 1996. 5 VgJ. Raulei, "Citoyennete, nationalite, internationalite", in: I'Et'lnemenl eNropitn 11 (1990) sowie Chroniqut de I'uport puh/ir, 3. a. 0., 5. 216-234. 4
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
der französischen Debatte über "Integration", das heißt mit einem politischen ModeU, das sich einerseits als allgemeingültig versteht und sich deshalb anmaßt, im vorläufig beschränkten Rahmen einer Staats nation bzw. eines nationalen Staates das Ziel der Weltrepubtik zu verkörpern, andererseits aber mit inneren und importierten religiösen und nationalen Identitätcn rechnen muß und dabei diese Differenzen respektieren soll, um eben dieses Ziel nicht zu verderben. Aus diesem Grund muß in jedem republikanischen Staat wenn auch kein Recht auf Andcrsheit, so doch die TalJtJfhe des Andersseins anerkannt werden, eine Tatsache, die norwendigerweise mit der vorbehaltlosen Identifikation des republikanischen Bürgers mit dem republikanischen Rechtsstaat in Konflikt gerät. Dieser Konflikt ist ein Widerstreit der Republik mit sich selbst, gleichsam eine "Antinomje der Republik". Dieser Widerstreit stellt für sie insofern eine unumgängliche Herausforderung dar, als die republikanische Denkungsart sich gerade an ihm zu bewähren hat. Zwar beruht das republikanische System auf den drei komplementären und unlöslichen Prinzipien der Freiheit des Menschen als Mensch - als transzendentales !eh denke und moralisches Subjekt -, seiner Abhängigkeit als Untertan einer StaatsgewaJt - das heißt als empirisches Ich - und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die durch das Recht die Freiheit und die Abhängigkeit miteinander vermittele Aber gerade wegen der vermittelnden Funktion, die die Gleichheit der Bürger - die zugleich Untenanen und Menschen sind - in ihr erfüUt, setzt diese Konstruktion der Republik das Modell eines Übergangs voraus. 6 In teleologischer Hinsicht ist aber nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit die Triebfeder der historischen Dynamik. Gerade mit diesem scheinbaren Widerspruch hat es die republikanische Verfassung aufzunehmen. Sie soU, ja sie muß einerseits das schon erreichte Entwicklungsstadium rechtlich kodifizieren und sichern, andererseits soll sie aber diese Kodifizierung so handhaben, daß sie die historische Dynamik nicht zum Stillstand bringr. Es geht hier um die Auffassung der Gleichheit, die Kant im zweiten Abschnitt von Theon'e Imd Praxis darsteUt, wo er zwischen der formalen Gleichheit vor dem Gesetz und der weiterbestehenden natürlichen Ungleichheit unterscheidet. Letzrere kann weiterbestehen, ohne ersterer Abbruch zu wn. Bei aller formalen Gleichheit wird somit im republikanischen System selber eine dynamische Spannung aufrechterhalten, ohne welche diejenigen, die entweder noch nicht zur republikanischen Gesinnung reif sind oder - was gegebenenfalls dasselbe bedeuten kann - von einem nicht republikanischen Land kommen und aufgefordert werden, sich zur Republik zu bekennen, von dem Fonschritt ausgeschlossen und im Stich gelassen würden. Hier soU an den Streit der Fakilltiiten und an die zwei Jahre vorher erschienene Schrift Verkündigung des naben Absthlmus eines Traktates zum ell1igm Frieden in
6
Vgl. Raulet: "Citizenship, otherness and cosmopolitism in Kant", in: Rada Ivekovic, Neda Pagon: OJbtrbood and NaJion, Ljub1iana, Paris 1998.
Raulet, Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus
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dtr Phi/oJophit erinnert werden, die beide die Publizität der Maximen als If/idtrJlnil verstehen - aJs das Recht und die Aufgabe. über Meinungsunterschiede
öffent.lich zu debattieren, weil erst eine solche Debatte die Überwindung des Dogmatismus und Obskurantismus ermöglicht. Aus denselben Gründen verbietet die republikanische Denkungsan das Verschweigen oder gar Unterdrükken der Differenzen. Wo ein Widerstreit besteht, soll er öffentlich zum Ausdruck gebracht werden, selbSt und vor allem dann, wenn seine Auflösung, aus den erwähnten teleologischen Gründen. nicht von heute auf morgen geschehen kann. Darüber hinaus soU aber dieser Konflikt als ein dynamischer und nicht e[Wa bloß als Hindernis und Störung behandelt werden. Konkret gesprochen: Die ungleiche Reife zur republikanischen Gesinnung und die importierte kuhurelle Verschiedenheit der Sprachen und Religionen dürfen nicht bloß normativ vom republikanischen Standpunkt aus be- bzw. verurteilt werden. sondern sie sollen als dynamische Differenzen aufgefaßt werden. Es verhält sich bei Kant so, daß die Republik trotz ihrer lückenlosen formalrechtlichen Konstruktion in teleologischer Hinsicht erst dann am Leben erhalten werden und um sich greifen kann - worum es ja letztlich geht -, wenn sie die inneren und importierten Ungleichheiten und Differenzen nkht gleichzuschalten versucht, sondern innerlich anerkennt und sogar inszeniert. Dazu soU die republikanische Publizität - als eine politische Öffentlichkeit verstanden, die den \'(fiderstreit zur Debatte stellt - dienen. Die Republik ist, wie wir vorhin sagten, die moderne rationeUe Version der gemeinschaftlichen Werte. Als solche steht sie zur bürgerlichen Gesellschaft in keinerlei Widerspruch: ist es doch gerade die bürgerliche Gesellschaft, die sich durch die republikanische Verfassung zugleich als ation und als Rechtsstaat konstituiert. Also kann nach der eigenen Logik des französischen Republikanismus das Moment des Staates, der Verfassung, des Republikanismus von der Rto/iliit der Zivilgesellschaft nicht entkoppelt werden. Zwar scheint es zur Zeit Schwierigkeiten haben, um der Realität einer tark differenzierten, ja zersplitterten bürgerlichen GeseIJschaft angemessen zu begegnen. Doch ist dies noch kein genügender Grund, sich unbedacht der Position der amerikanischen Neokommunitaristen anzuschließen, die bewußt oder unbewußt das Argument Rousseaus wiedenufnehmen, nach dem die demokratische Republik sich nur für die kJeinen Staaten eigne. 7 Gerade in Frankreich - einschließlich seiner Kolonien - hat das republikanische Modell seine Brauchbarkeit für eine "große Nation" bewiesen - wenn auch mit den Grenzen. die ich mich hier bemühe. genauer zu umreißen und ernst zu nehmen.
7
"gI. Michael \"('alzer: .. Republic:lInism is :lIn integrated and unit:lll)' doctrine in which energy and commitment are focused primarii}' on the poLitic:lI1 realm. It is a doctrine adapted (in both its classiC:lI1 and neocl2ssical forms) 10 the needs of smalI, homogeneaus communities, where ei"il soeiety is radicall)' undifferend:llled" ("The Comrnunirarian Critique of Liberalism", in Po/itiro/ Thto'J. 18/1 (1990), S. 20).
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Zugleich erweist sich die amerikanische Erfahrung, wie sie die amerikanischen eokommunitaristen verzeichnen, angesichts der Atomisierung der Zivilgesellschaft als lehrreich. Die Bilanz, die t...Uchael J. Sande! zieht, stimmt in vielerlei Hinsicht mit der heutigen Problematik des französischen Modells überein. Die amerikanische Auffassung der "nationalen Republik" mit ihrem Patriotismus und ihrem Kult der bürgerlichen Tugenden hat der zunehmenden Heterogenität der bürgerlichen Gesellschaft nicht standhalten können und wurde abgelöst von der liberalistischen Auffassung einer ..prozeduraJen Republik". in der die gerechte Prozedur an die Stelle des Bekenntnisses zu gemeinsa.men \'(Ierten und Zielen getreten ist. 8 Es ist in diesem Kontext nicht das geringste Verdienst des amerikanischen eokommunitarismus, verstanden zu haben, daß die Zersplitterung der Gesellschaft nicht als ein Verhängnis gesehen werden muß, dem man unbedingt das Festhalten an einer idealen gemeinschaftlichen Kohäsion entgegensetzen solle, sondern auch als die Realität und als die unumgängliche Bedingung der Demokratie. Während Habermas die Rettung der Demokratie von einer argumentativen Verständigung abhängig macht, die gleichsam die Öffentlichkeit der Aufklärung rekonstiruieren soll, muß man viel eher bei den wirklichen Erscheinungsformen der .,Demokratie" ansetzen - also von unten, und das heißt, daß man von dem ausgehen muß, was sich etwa tagtäglich in unseren Vororten ereignet: auch von jenem verzerrten "Dialog", den die Konflikte zwischen den "Banden" bzw. zwischen ihnen und .,der Gesellschaft" (repräsentiert etwa in Übergriffen auf Stadtbusse) trotz al/tm darstellen. 9 Was sich da regt, ist das Streben nach einer toralen Umwälzung des etablierten "kommunikativen HandeIns". Daß man die solcherart gewaltsam geltend gemachten, unter der Ebene sprachlicher Kommunikation liegenden, aber durchaus "expressiven" und auf ihre Weise "performativen" "Sprachspiele" nicht akzeptieren muß, versteht sich von selbst. Es ist sogar die Aufgabe des Citoytn, sie n;tht zu akzeptieren. Damit ist aber das Problem nicht erledigt. Es steht vielmehr an, unsere normativen Antworten auf die Probe zu stellen. IO Mit Recht bemerkt Albrecht Wellmer: Es gibt ja keine Instanz außerhalb des demokratischen Diskurses - weder Philosophen noch Verfassungsgerichte -, die hier unanfechtbare und der Kritik entzogene Entscheidungen treffen könnten. Also können nur im Mtdium des demokratischen Diskurses dessen eigene Grundlagen gesichert und auf Dauer gestellt werden. Den·
, Michael J. SandeI, "The Procedural Republic and the Unencumbered Sdf", in: Po/i/üa/ Thto'J 12/1 (1984), S. 81-96; d!. Olxrsetzung: "Die vetfahrensrechdiche RepubHk und das ungebundene Selbst", in: Axel Honneth (Hrsg.): KDllfllfMnitansmlls. Ei"t Dtbattt ibtr dit IIfDralistbt" Cnmdlall" .oJmur GmllsthDjft", Frankfurt, ew York
1993, S. 18-35. 9
10
Vgl. hierzu Raulet: "Zur gesellschaftlichen Re:l1.itit der Postmoderne", in: HeinzHermann Krüger, Absthitd ,.'()" dtr AMfJeI,;",,,!,. Opladen 1990. Vgl. zu den hier folgenden überlegungen Raulet: Apolol,it dt /0 NfD.Jt1lntfi, a. a. O.
Raulet, Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus
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km läßt sich dies nur dann, wenn man den demokratischen Diskurs nkht nur als ein Netzwerk von Institutionen und Assoziationen sieht, sondern zugleich als ein Netzwerk von ÖjJentlithktiten. I1
Wellmers Bemerkung zielt auf eine Vorstellung, die Habermas und Michael Walzer gemeinsam istY Für beide ist die bürgerliche Gesellschaft ein Netz von Assoziationen, die das politische System "belagern"l3, aber auf keinen Fall bereit sind, auf seine Vermittlung zu verzichten. 14 Walzer nennt dieses Verhältnis "demokratischen Sozialismus" und sieht in ihm die größtmögliche Behauptung echter Volkssouveränität. Was die Bürger vereinigt, ist weniger eine Ethik, sei sie das Produkt der gemeinsamen Geschichte oder eine republikanische Moral, sondern lediglich die Politik. 15 Und das heißt, daß das eigentliche "Vehikel der Demokratie" die Differcnz ist l6 , also daß der Widerstreit zum "normalen" Modus der Integration geworden ist: "Je stärker die partikuJaristisehen Identitäten der einzelnen Männer und Frauen sind, desto stärker müssen sie als Staatsbürger auftreten."17 Deshalb muß dje Öffentlichkeit "bedeutend erbitterter und streitsüchtiger, intoleranter und fanatischer"18 sein, als es für unser aus dem 18. Jahrhundert stammenden Modell denkbar ist. Daß auch das französische IntegrationsmodeU, das sich insofern für verbindlich hält, als es sich zugleich als Recht und als Moral versteht, als Verfassungspatriotismus und als republ.ikanische Moral, keittt Ausnahme bildet und sich von diesen Debatten wedcr ausnehmcn kann noch darf, steht völlig außer Zweifel. Das bedeutet freilich ci ne tiefgreifende Infragestellung unserer Vorstellung sozialer und politischer Integration - eine Infragestellung, die auf jeden Fall ehcr teleologisch denn moralisch ansetzen sollte 19 und dem Widerstreit sein Recht einräumen müßte - das heißt: längerfristige, ja noch ungesehene, innovative Integrationsprozesse dulden muß, ohne deshalb auf das
Albrecht Wellmer: "Bedingungen einer demokratischen Kultur", in Micha Brumlik, Hauke Brunkhorsl (Hrsg.), GtnltinJthflj't ,md GU"tthtigkeit, Frankfurt am Main 1993, 5.1801. 12 Siehe Habermas: "Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff von Öffentlichkeit", in Merkur 484 (1989), S. 465-477. über Walzer vgl. Hauke Brunkhorst, Demokratie und Diffinni.J Frankfurt a. rvl. 1994, S. 130. 13 Die J\'!etapher der "Schleuse", durch welche Habermas in Fakti'{jtiit und Geltung diese Vorstellung variiert, ändert grundsätzlich nichts. Hierzu Habermas: "Faktizität und Geltung. Ein Gespräch über Fragen der politischen Theorie", in: Die Normalitiit einer Berliner Republik, Frankfurt a. M. 1995, S. 138 f. l~ Vgl. Michael \X/alzer, Zil'ile GmllJthoflllnd alpen'konisthe Demokratie, ßerlin 1992, S. 89: "Zivile Gesellschaft" ist ein Netzwerk von Assoziationen, das "die staatlichen Machunstanzen [... ) einschließt", aber in dem kollektiven Bewußtsein, das es ..nicht auf sie verzichten" kann. IS Ebd., S. 192. 16 Vgl. ebd., S. 233. 17 Ebd., S. 236. 18 Ebd. 19 Vgl. Raulet, Kant. HiItoin et titoyrnnrti, Paris 1996, insb. den Schluß, S. 248 f. 11
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Grundkonzepr der Republik verzichten zu müssen, nach dem es nur ein l\'lenschenrecht gibt und deshalb auch nur ein Bürgerrecht geben kann, soweit die republikanische Verfassung dem Menschenrecht genügt und einen Ruh/JJ/aal
begründet.
Ben van den Brink
Politische Philosophie und Geschichte Plädoyer für eine aspektivische Flexibilität des politischen Denkens
I Politische Philosophie wird oft - als ginge es dabei um eine Selbstve,rständlichkeit - als normativ-theoretische Disziplin aufgefaßt. Diese Disziplin ziele auf eine aUgemein verbindliche Theorie, aus der sich normativ verbindliche Antwonen auf praktisch-politische Fragen ableiten ließen. Beispiele dafür sind normative Theorien der Gerechtigkeit, der Gleichheit und des demokratischen Rechtsstaates. Zu den großen zeitgenössischen Vertretern dieser Zugangsweise gehören ohne Zweifel John Rawls und Jürgen Habermas; ihre KJassiker sind Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kam und G. W. F. Hege!. Trotz der vielen Unterschiede zwischen den polhisehen Theorien dieser Denker ist es bei doch jeder dieser Theorien möglich, bestimmte, recht allgemein gehaltene normative Aussagen über Begriffe wie "Staat", "Geseilschaft", "Recht" oder "Demokratie" zu machen. Das läßt sich wohl am besten dadurch erklären, daß diese Begriffe eigentlich immer aufgrund von vorhergehenden, mit wissenschaftlicher Strenge und Systematik aufgestellten, gesetzmäßig verfaßten Theorien über Rationalität, Vernunft, Moral usw. entwikkelt wurden. Die normativen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Recht, Demokratie usw. ergeben sich somit recht eindeutig aus dem größeren, gesetzmäßig verfaßten philosophischen System. Mit vor-theoretischen, in der politischen Praxis vorfindlichen Auffassungen haben sie nur insofern zu tun, als diese sich implizit an genau den Regeln und Gcsetzmäßigkeiten der praktischen Rationalität orientieren, die sich nach einer möglichst umfassenden philosophischen Analyse als für die politische Praxis grundlegend erweisen. Die größte Schwäche dieser normativ-theoretischen Zugangsweise ist von alters her nicht ihre Konzentration auf Regeln, Gesetze und Prozeduren des richtigen Denkens und Handeins gewesen, sondern vielmehr ihr Hang diese sobald sie einmal aufgedeckt worden sind - in einen Stand von Zeit- und Ortlosigkeit zu erheben. Kritiker dieser Neigung zum Denken I1Ib spuie oelemilnliJ heben seit eh und je hervor, daß das philosophische Denken durch das Streben nach einem solchen Gesichtspunkt seinen kritischen Bezug zur Praxis verliert, anstatl ihn - wie besonders von philosophischen Letztbegründern angenom-
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mco - zu gewinnen, I Die hier zur Debatte stehende Frage stellt für jedes politisch-philosophische Denken mir systematischem Anspruch ein fundamemales Problem dar. Einerseits sucht die poljrjsche Philosophie nach einem möglichst wahren und allgemeinen Begriff von z. B. politischer Subjektivität, Souveränität, sozialer und politischer Kooperation, Voraussetzungen wirksamer und gerechter institutioneller Ordnungen usw. Andererseits kann die politische Philosophie immer nur konkrete Gestalten von politischer Subjektivität, Souveränität, Kooperation und institutioneller Ordung wahrnehmen. Wer annimmt und ohne unbegründbare Annahmen kommt man in dieser Diskussion nicht weit -. daß sich hinter der Kulisse der im Laufe der Zeit wandelnden, konkreten Gestalten des Politischen keine eigentlichen, zeit- und ortlosen Regeln, Gesetze und Prozeduren des richtigen Denken und Handelns verbergen, wird den Versuch, aus einer Vielheit von konkreten Erscheinungen einen zeit- und ortlosen normativen Kern des Richtigen abzuleiten, nicht verstehen. Nun muß gleich betont werden, daß normativ-theoretische, systematische politische Philosophie nicht per dljiniliontn, nach einer zeit· und ortlosen, unjverseUen Geltung strebt. Sie kann sich der Gefahren des Denkens sub specie oelernilali! durchaus bewußt sein. Davon zeugen z. B. die späteren, explizit politisch-philosophischen Werke von sowohl John Rawls wie Jürgen Habermas. 2 Es ist durchaus verteidigbar, wenn eine normative politische Theorie nur für einen bestimmten - z. B. modernen und westlichen - Kontext eine zwingende Geltung beansprucht und sich in anderen Kontexten eher als ein bescheidenes Gesprächsangebot versteht. Wo Autoren wie Rawls und Habermas selbst beto· nen, daß der normative Gehalt ihrer politischen Theorien an erster Stelle an die modernen, westlichen, posttraditionellen Gesellschaften adressiert ist, deren historische Existenz und konfliktreiche Entwicklung selbst eine Voraussetzung der Entwicklung ihrer Theorien ist, halten sie entschlossen die dialektische Spannung zwischen stets wandelnden konkreten politischen Formen einerseits und aufs AIIgemeine - aber nicht auf naive Zeit- und Ortlosigkeit zielende Theoriebildung andererseits aufrecht. Wenn eine politische Theorie Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Prozeduren artikuliert und systematisiert, die implizit in einer gewissen Praxis gegeben
2
Siehe dazu Willem van Reiien, "Die Beweislast der politischen Philosophie", in: Ben van den Brink, Willem van Reijen (Hrsg.), Biirgtrgmll!rhoft, Ruh/ und Dtmokrotit, Frankfurt a. M. 1995, S. 466-489. John Rawls, PoliliJ(htrUbtraliJmuJ, Frankfurt a. M. 1998; Jürgen Hllbermas, Faktizität und Gtllung: Bti/riigt zur DiJkJlrJthtorit du Ruh/J und du dtmo!erotiJrhen R1rhtJJtlUltJ, Frankfurt a. M. 1992. Beide Autoren heben hervor, daß die Regeln, Gesetze und Prozeduren poliliJrhtr Kooperation komextllbhängiger gedacht werden müssen als aus ihren früheren Arbeiten zu Grundvoraussetzungen moralischer und sozialer Kooperation herausgelesen werden kann. Vgl. John Rawls, Eint Thtorit dtr Ctmhtigluil, Frankfurt a. M. 1975; Jürgen Habermas, Theon't dtJ !eomflluni!eotil/tn HondtlnJ, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981; ders., Morolbtll1ußtJtin und !eommuni!eatives Handtln, Frankfurt a. M. 1983.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
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sind, dann stellt sich die Frage, inwiefern eine an Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Prozeduren sich orientierende politische Philosophie nicht immer einen spezifischen freiheitverbürgenden Aspekt des politischen Handelns aus dem Auge verlieren muß, nämlich die Kreoliviliil des Handeln!. Selbst wenn es möglich wäre, transzendentale Kriterien des richtigen Gebrauchs der praktischen Vernunft aufzustellen und aus ihnen Regeln und Prozeduren für das praktische Handeln abzuleiten, würde die praktische Philosophie mü dieser Annäherungsweise nicht imstande sein, das Moment des Neuen, die das "Normale" sprengende Kreativität des Handeins zu erfassen.) Und Gleiches gilt für jede eher pragmatisch eingestellte politische Theorie, die politisches Handeln letztlich doch in Regeln und Prozeduren fassen will. Einer spezifischen politischen Praxis wird immer unrecht getan, wenn ihre theoretische Erfassung das Moment der Kreativität des menschlichen Handelns und Utteilens verfehlt. Die Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Prozeduren, die wir heute aus der Praxis ableiten, können im Prinzip morgen schon überholt erscheinen, weil das Handeln eines einzigen Individuums oder einer Gruppe von Menschen sie in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen könnte. Auf diese Problematik haben auch die besten normativ-theoretischen Theorien keine gute Antwort. Auch wenn solche Theorien auf eine noch so gewis~ senhaften Studie konkreter politischer Formen und Praktiken zurückgehen, werden sie nicht vermeiden können, im Lichte neuer politischer Handlungen, Strategien und Entwicklungen in vielen Aspekten schnell überholt zu wirken. Es ist kein ZufalJ, daß Theoretiker wie Rawls und Habcrmas ihr CEuvrc immer wicder neuen Tatbcständen in dcr Gcsellschaft, wie z. B. dem Feminismus, dem Multikulruralismus oder der Globalisierung, angepaßt haben. Eine norma· tive politische Philosophie, die sich der Gcfahrcn ihrer Zeit- und OrtSgebundenhcit und ihrer Ohnmacht gegenüber der Kreativität des Handelns nicht bewußt bleibt, wird rasch anachronistisch wirken.
II Dies ist meines Erachtens der wichtigste Grund, warum es immer eine sich nicht auf normativ-theoretische Ratschläge konzentrierende politische Philosophie geben wird. Eine bestimmte, genealogische Version einer solchen antisystematischen politischen Philosophie interessiert mich hier besonders. Sie
3
Vgl. Hannah Arendt, Vita ArJiJ'fl, München, 61989, S. 183: "Die Zerbrechlichkeit der Einrichtungen und Gesetze, mit denen wir immer wieder versuchen, den Bereich der menschlichen Angelegenheiten halbwegs zu stabilisieren, hat mir der Gebrechlichkeit oder Sündhaftigkeit der menschlichen Narur nichts zu tun; sie ist einzig dem geschuldet, daß immer neue Menschen in diesen Bereich fluten und in ihm ihren Neuanfang durch Tat und Wort zur Geltung bringen." Allgemein zu dieser Problematik, siehe Hans Joas, Die Krtallz,jliir du HOlldtlnI, Frankfurt a. M. 1992.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
versucht primär nachzuvollziehen, wie spezifische, kontingente politische Formen entstehen und welche Folgen sie für das Selbsrvcrhältnis, die Identität und die Freiheit von poLitischen Subjekten haben. Die Konzentration auf das Spezifische anstatt des AUgemeinen, auf das vorher Nicht-Wahrgenommene aostatt des systematisch ErkJärbaren, auf die Genese politischer Probleme anstarr ihrer Lösung, verhindert nicht, daß auch diese Annäherungswcise normativ reichhaltig sein kann. Es geht ihr aber weniger um direkte politische Empfehlungen oder gar Prinzipien des richtigen Handeins, sondern um eine befreien· de Beschreibung politischer Machtkonstellationen. In den Worten James TulIys: "it seeks tO characterise the conditions of possibility of [al problematic form of governance in a redescription (often in a new vocabulary) that transforms the self-understandings of those subject to and struggljng with [a power constellationJ, enabLing them to see its contingent conditions and the possibilities of governing themselves differently."4 Das vielleicht bekannteste Beispiel dieser Annäherungsweise ist Nietzsches Studie Zur Genea/ogie der Moral. Aber auch Foucaults Überwachen {(nd Straftn, James Tullys Strange MJdJip/icity und - obwohl nicht im strikten Sinne genealogisch - Quentin Skinners Liberty be/ore Libera/ism müssen hier erwähnt werden. 5 Was diese Studien verbindet ist, daß sie jeweils eine Neubeschrcibung bekannter EnNlicklungsprozesse - der Moral, des Strafrechts und der Strafanstalten, des liberalen Konstitutionalismus, des modernen Freiheitsbegriffs - vornehmen, die diese Prozesse in einem anderen, unerwarteten Licht erscheinen Jassen. Wer sich diesen Neubeschreibungen öffnet, wird Aspekte von EnNlicklungsprozesscn wahrzunehmen lernen, die unreflektiert für wahr gehaltene Überzeugungen ins Wanken bringen. Wie die systematische, kommt auch diese genealogische Annäherungsweise nicht ohne die Dialektik zwischen aufs Allgemeine zielenden politischen Begriffen wie Subjektivität, Souveränität und politischer Kooperation einerseits und konkreten Instanzen poHtischer Subjektivität, Souveränität und Kooperation andererseits aus. Von der normativ-theoretischen politischen Theorie wird djese Dialektik häufig als eine zwischen konkreten historischen Instanzen einerseits und historische Kontingenz sprengenden allgemeinen Begriffen andererseits verstanden. Dagegen nimmt die genealogische Zugangsweise die Dialektik als eine zwischen konkreten histOrischen Instanzen einerseits und spezifischen, in einer bestimmten Periode dominanten Begriffen legitimierten Praktiken andererseits wahr. Begriffe - wie Subjekt, das moralisch Richtige, die liberale Freiheitsauffassung -, die in einer gewissen hi·
4
James Tully, "Political Philosophy as a Critical Activity", in: Po/iH(al Theory 30/4 (2002), S. 534.
~
Friedrich Nietzsche, Zur Gmtalogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke. Kn'tiStbe 5111dienauJrbe, Band 6, hrsg. von G. CoHi und t>.L Montinari, München, Beflin, New York 1988; Michel Foucault, ObtTIJ1achen lind Strafen, Frankfurt a. M. 1977; James Tully, Slrange Mulliplicity: ConJJilulionaliJf11 in an Age of Dit'trJity, Cambridge 1995; Quentin Skinner, Libtrty bifore UbtraliJm, Cambridge 1998.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
159
storischen Periode scheinbar auf allgemeine Verbindlichkeit zielen, werden als normativ gehaltvolle, ja identitiitskonstiwierende Renexionen historisch situierter Praktiken gesehen. 6 Damit verliert die genealogische l\'lethode - die auch den eigenen Standpunkt als einen situierten versteht - einerseits per definifionem die Möglichkeit, einen archimedischen Punkt zu finden, von dem aus eine möglichst zeit- und ordose Kritik an politischen Praktiken der Gegenwart oder Vergangenheit geübt werden kann. Sie gewinnt aber andererseits die Möglichkeit, im Laufe der Geschichte entwickelte Praktiken und Begriffe zu beschreiben, ohne sie entweder auf einen allgemeinen Begriff solcher Praktiken, der jede hjstorische Situiertheit übersteigt, zurückführen oder aber sie nur aus den eigenen normativen Deuwngsmuslern wahrnehmen zu müssen. Die Relevanz dieser Zugangsweise für dje politische Philosophie besteht meines Erachtens darin, daß sie eine große Pluralität politischer Formen zunächst einmal be+ schreibt und bestehen läßt, um gerade dadurch politischen Subjekten einen Freiheitssinn vermitteln zu können, der aus der Perspektive einer nur aufs AUgemeine zielenden Theorie verborgen bleiben muß. Dazu werden in jüngster Zeit häufig folgende Worte des Historikers Quentin Skinners zitiert: ..The history of philosophy, and perhaps especially of moral, sodal and political philosophy, is there co prevcnt us from bccoming tOO readily bewitched. Thc intellectual hisrorian can help us co appreciate how far the values embodied in our present way of Me, and our present wa)'s of thinking about those values, renect aseeies of choices made at different times between different possible worlds. This awareness can help to liberate us from the grip of any one hege+ monal account of those values and how they should be interpreted and und erstOod. Equipped with a broadcr sense of possibility, we can stand back from the inteLlecwal commitmenrs we have inherited and ask ourselves in a new spi. rit of enquiry what we should think of thern."7
III leh habe bereits festgestellt, daß die genealogische Zu~ngsweise eine große Pluralität politischer Formen zunächst beschreibt und bestehen läßt, um gerade dadurch politischen Subjekten einen ganz spezifischen Freiheitssinn vermitteln zu können, der aus der Perspektive einer aufs Allgemeine zielende Theorie verborgen bleiben muß. Das Problem dieses letzteren Theorietypus ist es, daß er fast zwangsläufig der Suche nach einem normativen Kern, nach Quellen der Legitimität verhaftet bleiben muß. Die Geschichte ist für die normativ-theoretische, systematische Philosophie eben sehr oft ejn Sich-Entfalten eines ganz bestimmten - ehen des nebligen - Denk- und Handlungsrypus. Vielleicht muß
(, 7
Siehe Tully, .,CriticaJ Activity," S. 544. Quentin Sk.inm:r, Ube'!), 116-117.
160
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
die normative politische Philosophie in diesem Sinne rechthaberisch sein. Wenn etwas richtig ist, ist es schließlich gut zu wissen, woher dieses Richtige stammt. Problem ist dabei allerdings, daß eine Konzentration auf jene Denker, soziale EntwickJungen, soziale Bewegungen und soziale Formen, die dieses Richtige bereits im voraus geahnt haben, in ein eindimensionales Bild des Politischen münden kann. Dies können wir uns an Jürgen Haberrnas' Umgang mü der politischen Geschichte klarmachen, der Geschjchte bekanntlich in einem normativen Sinne im Lichte einer Entfaltung der kommunikativen Vernunft interpretiert. Habermas' Konzentration auf die kommunikative Vernunft als wichtigste Garantie politischer LegitimitätS führt in den historisch-rekonstruie~ renden Teilen seiner Arbeiten zu einem durchaus fragwürdigen Poljtikverständnjs. Ein gutes Beispiel ist der Essay "Volkssouveränität als Verfahrcn".9 in dem Habermas fragt, ob ..die Ideen-Revolution von 1789" - die Französische Revolution - ..eine Lesart [erlaubtl, die für den eigenen Orientierungsbedarf noch informativ ist".10 Einer der zentralen Ausgangspunkte des Essays besteht in folgender Feststellung: "Das Revolutionsbewußtsein ist die Geburtsstätte einer neuen Menta~ lität, dje geprägt wird durch ein neues Zeitbewußtsein, einen neuen Begriff der politischen Praxis und eine neue Legitimationsvorstellung. Spezifisch modern ist das historische Bewußtsein, das mit dem Traditionaljsmus naturwüchsiger Kominuitäten bricht; das Verständnis von politischer Praxis, welches im Zeichen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung steht; und das Vertrauen auf den vernünftigen Diskurs, an dem sich jede politische Herrschaft legiti~ mieren soll. Unter diesen drei Aspekten dringt ein radikal innerweldicher, nach metaphysischer Begriff des Politischen ins Bewußtsein der mobil gewordenen Bevölkerung ein. ,,11 Nach einer Diskussion dieser sehr substantiellen Definition (man muß sich vor allem fragen, wie "innerwc1dich" und "nachmetaphysisch" das Revolutionsbewußtsein am Ende des 18. Jahrhunderts wirklich warl~ wird dann festgestellt, daß Spuren des "Revolutionsbcwußtseins" in der demokratischen Öffentlichkeit und in der Massenkultur als Zeugen einer im besten Fall ambivalencen Mentalität verstanden werden können, mit deren Hilfe die Ausgangsfrage nicht beantwortet werden kann. 1J Wohl um dieses Problem der vieldeutigen, alles andere als vollends aufgeklärten kulturellen
8 Siehe für eine ausführliche Diskussion und Kritik, van den Brink, Tbe Trager!Y oj Ube+ ralism, Albany, NY, 2000, S. 85-125. Siehe auch Michael Walzer, VmJHnjt, Politik Hltd Ltidmsrhafl. De.fitite liheraler Theon·e, Frankfurt a. M. 1999. 9 Jürgen Habermas, "Volkssouveränität als Verfahren", in: Habermas, Faktizitöt Hltd CeltHltg: ZNr Dis!r.Jlrstheone du Ruhts Nnd du demo!r.ratiJrhtJt Ruhtsstaats, Frankfurt :l. M. 10 11 12
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1992, S. 600-631. Ebd., S. 601. Ebd., S. 604-605. Siehe dazu Dale K. Van Kley, The ReligiONS Ongim oj the Frtnrb RevolNtion: Fro'" Colt-in 10 the eh·il ConstiJHtion, New Haven 1999. Habermas, "Volkssouveränität", S. 608-609.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
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Praxis zu entfliehen, stellt Habermas sodann fest, daß aus "der Sicht politischer Theorie [...] Geschichte zum Laboratorium rur Argumente [wird]."I" Was folgt, ist nicht so sehr eine politisch theoretische Reflexion auf historische EntwickJungen, sondern eine konzeptuelle Analyse ideologischer Interpretationskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Demokraten und Liberalen, zwischen Sozialisten und Anarchisten sowie zwischen Konservativen und Progressiven. Die Analyse endet in Habermas' bekannter prozeduraler Auffassung des demokratischen Rechtsstaats. Habermas muß am Ende der konzeptuellen bung feststellen, daß eine .,prozeduralisierte ,Volkssouveränität' nicht ohne die Ruckendeckung einer entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gitllOön/in Bevölkerung [wird] operieren können: keine vernünftige poljtische Willensbildung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt."IS Wahrscheinlich um diese auf individuell-dispositioneller Ebene stark unterbelichtete Lebenswclt als "radikal" innerwe!tlich und nach metaphysisch denken zu können, weist Habermas tugendethische und neo-aristotelische Verständnisse ziviler Verantwortung (die auch schon am Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts aufgrund des Einflusses des Kommunitarismus gewiß nicht uneinflußreich waren) kurzerhand zurück. ,."(fenn das normativ angesonnene politische Verhalten zumutbar sein soll, muß die moralische Substanz der Selbstgesetzgebung, die bei Rousseau kompakt zu einem einzigen Akt zusammengezogen war, über viele Stufen des prozeduralisierten Meinungs- und WiUensbildungsprozesses auseinandergezogen werden und in \'iele kleine Partikel zerfallen. Es muß gezeigt werden, daß die politische Moral nur noch in kleiner Münze erhoben wird. ,,16 Habermas meint hier wohl, daß es in einer indi\,jdualistisehen, pluralistischen, privatistischen und systemisch immer komplexer gewordenen Kultur weder weise noch wünschenswert wäre, das Funktionieren der verfahrensrechtlichen Republik in ethisch anspruchsvollen, perfektionistischen zivilen Attituden zu gründen. Und es ist gewiß auch besser, die dezentrierte Bürgerschaft mit Hilfe sorgfaltig gestalteter Prozeduren der Meinungs- und Willensbildung und des Rechtsstaates in stabile Institutionen einzubinden. Das heißt nun aber nicht, wie vor allem die jüngere libuo!t Literarur zeigt, daß eine verfahrensrecht.liche Republik ohne einen gewissen an Tugenden sich orientierenden zivilen Perfektionismus auskommen kann. 17 Habermas' schlecht verhüllte Wut auf den politischen Aristorclismus und auf den durch Edmund Burke inspirierten politischen Konservatismus - Traditionen, die sich bekanntlich
H
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,16
Ebd.. S. 610. Ebd., S. 626-627. Ebd.. S. 62 . Sithc= z. B. Peler Btrkowitz, VirlNt o"J rM Moki"l ~ MtNiu." Libtro/islft, Princc=ton: PrincC=t'On Universiry Press 1999; John Tom2lsi. Ubtro/islll h!JrnuJ flurin, PrinCC=lOn: PrinCC=lOn niversit)' PrtSS 2001.
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mit Fragen der zivilen Tugend ernsthaft auseinandergesetzt haben - kann nicht verhindern, daß sein eigenes Plädoyer für eine radikal inncrweltliche, nachmetaph)fSiSche, egalitäre "emgegenkommende" Lebenswelt unverständlich bleibt, solange wir uns darunter keine substantiellen, zivil-ethischen Dispositionen vorstellen,t8 Zudem wäre es nicht nur unmöglich. sondern auch intolerant, Bürger dazu zu verurteilen, allein "nach metaphysische" Motivationen für ziviles Handeln zu haben. Das dem demokratischen Rechtsstaat ,,[E]ntgegenkommen" von Lebenswelten ist in westlichen Demokratien gewiß nkht immer nldikal innerweltlich und nachmetaphysisch motiviert gewesen und ist es auch heute nicht immer. Davon zeugen nicht nur die ernstzunehmende Demokratieauffassungen vieler Kirchen, religiös inspirierter sozialcr Bewcgungen und christdemokratischer Parteien, sondern auch die lebhaften philosophischen Debatten der Gegenwart über dje moralische Begründung der Menschenwürde. 19 Habermas' Essay illustriert eine gewisse Inflexibilüät des normativ+theoretisehen politischen Denkens, die darin besteht, im Umgang mit der politischen Geschichte Aspekte politischen Handels nicht ernst nehmen zu können, die nicht in den Rahmen der eigenen normativ-theoretischen Perspektive passen. Die Zugangsweise leidet sozusagen unter einer großen aspektivischen Inflexibilität. 2O Noch vor kurzem hat Michael Walzer mit wünschenswerter KJarheit gezeigt, wie nicht primär deliberative Kernphänomene der Demokratie wie die soziale Organisation von Solidarität, Loyalüät, Mitgliedschaft und das Aushalten von kommunikativ vorcrst unlösbaren Spannungen des Pluralismus aus der Sicht des deliberativen Paradigmas nicht ausreichend beschriebcn, geschweige denn verstanden werden können. 21 Die Ausblendung solcher nicht diskursiver Aspekte der PoUtik führt allzu häufig in ein recht eindimensionales und idealjsierendes Verständnis der Politik als eine Arena der reinen Argumcntation zwischen völlig aufgeklärten Bürgern, in der die Komplexüäten der nur zum TeiJ wirkJich diskursiv strukturierten alhägljchen politischen Praxis fast vollständig ausgeblendet werden. Aspektivische Inflexibilität im normativ-theoretischen Denken führt zu einem verarmten theoretischen Politikbegriff, mit dessen Hilfe die Kluft zwischen Idealtheorie und politischer Praxis gerade deshalb so
Siehe van den Brink, Tragedy oJ UberaliJfn, S. 95-106. 19 Siehe dazu z. B. Michael J. Perry, Tbe ldea rif Human RightJ: Four Inquin'u, Oxford 1998; Leroy S. Rouner (I-Irsg.), HJlnlan Righu and Ihe lf/orld'J ReligiOllJ, Notre Dame 1994; Charles Taylor, Die FOmJm du Religiiiun in der Cegenu.'art, Frankfurt a. M. 2002. Zugegebenermaßen wird Habermas' Position diesbezüglich in den neunziger Jahren milder. Siehe z. B. "Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch" und "Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat", heide in: Habermas, Die Einbeziehung du Anderen, Frankfurt a. M. 1996. 20 Siehe zu der Idee aspektivischen politischen Denkens: James TuUy, Jtrange MlIltiplici(y: ConstitutionaliJm in an Age oJ Dillmity, Cambridge 1995, pauim, und David Owen, "Wiugenstein and Genealogy", in; SAT5: Nordi{ jOllrnal oJ Philosophy 2 (2001) 1-28. 21 Walzer, J/enlllnJt, Politik Nlld l.....eidenJ(hajt. 18
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
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schwer zu überbrücken ist. weil die eindimensionale Theoriekonstruktion sie unnötig breit hat werden lassen.
IV Bekanntlich hat Michel Foucauh in Auseinandersetzung mit Kants Aufsatz .. Beann.\'orrung der Frage: Was ist Aufklärung?"12 die kritische. aufkJärerische Halrung definiert als ..die Kunst, nicht regien zu werden bzw. die Kunst, nicht auf diese Weise und um djesen Preis regiert zu werden".23 Foucault zufolge hängt diese kritische Haltung nicht so sehr mit dem re\'olutionären Bewußtsein des späten 18. Jahrhunderts zusammen, sondern vielmehr mit der christlichen Operation der "Lenkung zum Heil", der ..Menschenregierungskunst", die sich von der frühen Neuzeit an über immer mehr soziale Bereiche, also nicht nur innerhalb des religiösen Bereichs, verbreitct. 24 Diese Entwicklung der religiösen, sozialen, moralischen, iuridischen und wissenschaftlichen Regierungstech. nik rief nun aber Foucault zufolge des öfteren eine Haltung hervor, die sich dem Regierrwerden nicht fügen will, die er - wie oben zitiert - als eine kritische Halrung beschreibt. In der für Foucauit so wichtigen Konstellation von Macht, Wahrheit und Subjekt bedeutet dies folgendes: "Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen - und zwar durch i\lachtmechanismen, die sich auf \'(Iahr· heit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt. die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die lacht auf ihre Wahrheüsdjskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen nknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem SpieJ, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Enrunterwerfung."25 Aus normativ-theoretischer Sicht ist diese Sichrweise in komplett, wenn überhaupt verständlich. In einer legitimen politischen Ordnung wäre das Ziel der Regierungsimensivierung nicht die Unterwerfung, sondern die Befreiung der Subjekte. In einer solchen Ordnung wäre Kritik nicht bloß zur "Entunterwerfung" der Subjekte da, sondern zur (\Xlieder-)Herstcllung der Legitimität der politischen Ordnung. Die Konstellation "Macht, Wahrheit, Subjekt" wäre in einer solchen legitimen Ordnung des "Spielens" mit Macht, Wahrheit und den Subjekten enthoben. Macht wäre legitime Macht, Wahrheit gründete in ei-
Imm.anuel K:lnt, "ße.ant\1.·ortung der Fr.ag~; \'(/28 ist Auf'kJirung?'\ in; Imm.anuel K.ant. ll?t'rka.lfSgaM ßd. XI (Schrifl~n zur Anthropologi~, G~schichlSphilosophi~, Po· lilik und Pid.agogik). hrsg. \"On Wilhdm Weisch~del, Ff1lnkfurt a. M. 1977, S. 53-61 (A 481-494). II Michel FOUC1Uh, U71lJ ;J/ Krifild B~rhn 1992. S. 12. 24 Ebd.. S. 10. II Ebd. S. 15. !2
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
nern genuinen Verständnis der Grenzen unserer Erkenntnisvermögen, das Subjekt wäre der autOnome Amor des eigenen Schicksals. Diese Sichrweise ist an erster Stelle mit .,kritischen". epistemologischen Kriterien verbunden, nicht mit einer "aufklärerischen" regierungskr-itischen Disposition, die von Foucauh als Tugend verstanden wird. Foucaulr formuliert dies so: .. Die Kritik also wird sagen: um unsere Freiheit geht es weniger in dem, was wir mit mehr oder wcni· ger Mut unternehmen als vielmehr in der Idee, die wir uns von unserer Er· kenntnis und ihrer Grenzen machen, und folglich braucht man sich nicht von einem anderen ,Gthor(htl' sagen lassen, um das Prinzip der Autonomie zu ent· decken, vielmehr hat man sich von seiner eigenen Erkenntnis eine richtige Idee zu machen. Dann wird das ,Gehorrh/I' auf der Autonomie selbst gegründet sein... 26 Damit ist natürlich gemeint, daß, wenn man nur die Grenzen der eigenen Erkenntnis anerkennt (hier: die der praktischen Vernunft), man auch im· stande sein wird, die unvernünftigen Seiten der ..Spiele" von Macht, Wahrheit und Subjektivität zu transzendieren, um ideal theoretisch zu der Formulierung einer kritischen normativen Theorie des praktischen, politischen Handclns zu gelangen. Hier prallen zwei phiJosophische \Veltsichtcn aufeinander. Wir haben oben bereits gesehen, welche Kosten die Habermassche Sichtweise, die mit ihrer Suche nach Legitimität dem Foucaultschen Kritikverständnis diametral gegen· übersteht, fUr den idealtheoretischen Purismus zahlen muß: nämlich ein bezüglich dispositioneller und nicht-diskursiver Phänomene verarmtes Politikverständnis. Man könnte nun natürlich leicht zeigen, daß mit Foucaults ent-ideali· siertem Politikverständnis die wichtige Frage nach der Legitimität institutioneller Ordnungen nicht ausreichend beantwortet werden kann. Mich interessiert hier aber eine andere Frage: Wie könnte die von Foucault verteidigte, genealo· gische Sichtweise einem philosophischen Geschichtsverständnis aspekti\fische Flexibilität verleihen? Foucault kennzeichnet seine historisch.philosophische Vorgehensweise als archäologisch, genealogisch und strategisch. Archäologisch ist sie, weil sie sich nicht um Gesetze der Legitimation kümmert, sondern ..den Zyklus der Positi· vität ldurchläuft]. indem es vom Faktum der Akzeptiertheit zum System der Akzeptabilität übergeht".27 Dabei versteht sie historische Fakten und Systeme nicht als notwendig, nicht als durch ein "Aprioi vorgeschrieben".28 Sie verweilt "im Immanzenzfcld der reinen ingularitäten"29 und nimmt Erscheinungsfor. men von Macht, Wissen und Subjektivität wahr. Dies tut sie auf genealogische Weise, indem sie ..die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in viclfaltigen bestimmenden Elememen ausfindig Imachtl und sie nicht als deren Pro·
26 Ebd., 27 Ebd., 28 Ebd., " Ebd.,
S. 17-18. S. 34. S. 35. S. 36.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
165
dukt sondern als deren Effekt erscheinen päßtJ".30 Ein Produkt wäre ein zwin· gendes Resultat einer Konstellation von sozialen Einnüssen und Intentionen. Foucault spricht von einem Effekt, weil das Resultat anders hätte sein können: "Subjekte. Verhahenstypen, Entscheidungen, Optionen" spielen beim In·Er· scheinung.Treten einer Singularität eine so große RoUe. daß der Eindruck historischer Determinierung vermieden werden muß. 31 Auch wird dem Eindruck entgegengewirkt, daß das Entstehen von Instanzen und Systemen der Akzep. tabilität Resuhat eines - im wesentlichen stets gleichförmigen - 1 etzes von Beziehungen verstanden werden kann. Er spricht von strategischen, gegenseitigen Einwirkungen verschiedener Macht-. Wissens- und Subjektivitätsfaktoren. Gerade in dieser antideterministischen, antagonistischen Sichrweise ver· birgt sich die aspektivische Flexibilität eines Denkens, das vor allem in Foucaults späteren Schriften zu erkennen ist. Nicht nur in der Offenheit angesichts verschiedener Hintergründe spezifischer Verständnisse von Wahrheit, Subjektivität, Wahnsinn, Sexualität und politischer Freiheit, sondern auch und gerade in dem Aufklärungsgedanken, "nicht regiert zu werden, jenes entschiedenen Willens - einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus seiner Unmündigkeit herauszutreten".32 Die genealogische Umgangsweise mit der Geschichte wird hier zu einem philosophischen tlbOl, das dem Ziel des Verstehens der Bedingungen politischer Freiheit in einer nicht ideal(theoretisch)en Welt gewidmet ist. 33 Wo das idul· und normativ-theoretische Denken bezüglich der kontingenten. nichtidealen Welt immer wieder - an sich richtig - deren Nichtlegitimität feststellt, versucht die genealogisch inspirierte Sicht zu erkunden, wie ein Leben unter noch so nicht-idealen Bedingungen doch mit einem Sinn für politische Freiheit verbunden werden kann. Politische Freiheit ist nicht nur gegeben, wenn die Gesellschaft gerecht und wohlgeordnet ist. Sie ist auch und gerade dort gege· ben, wo Subjekte sich mit mehr oder weniger Erfolg organisieren, um Teilaspekte ihrer Unterworfenheü, ihrer nmündigkeit zu bekämpfen. Die Organisation kann Kommunik:uionsverhälrnisse oder gerechte sozial·ökonomische Veneilungsmechanismen betreffen, sie kann Formen der Anerkennung und der M.ißachtung betreffen, der Organisation von Solidarität und Loyalität, Prinzipien oder auch Anwendungsprobleme der demokratischen Repräsentation, symbolische Formen des Widerstands, des Verständnisses und der histori· sehen Bedeurung beStimmter ziviler Tugenden usw. Eine politische Philosophie, die versucht, in ihren historischen und s)'stematischen Aspekten die Vid· falt politischer Probleme und poLitischer Praktiken nirhl auf einen wesentlichen normativen Kern der einen praktischen Vernunft zurückzuführen, schildert
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Ebd., . 37. Ebd., S. 38. Ebd .. S. 41.
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Eine gUie allgemeine Beschreibung \"on diesem tfhol gibt J2mes Tull}' in .,Critic21 Ac-
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Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
keine ideale Weh, sondern vermittelt einen Freiheitssinn, der in der um'cr· söhnten Welt vielleicht fundamentaler ist als die Suche nach politischer Legitimität: den Sinn, anders denken und handeln zu können aJs vorgegeben. M.it diesem Sinn fangt Freiheit an, und zu ihm muß die politische Philosophie, wenn sie ihren Hang nach grolkr. aber allzu idealistischer Theorie zügeln will, immer wieder zurückkehren. Damit überlasse ich die vorgestellten Aspekte dem Freiheitssinn des Lesers.
III Aktuelle Debatten
Wilhelm BergeT
Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation?
I Wer nur mit einer gewissen Verkrampfung an Diskussionen teilnimmt, in denen die Probleme der Welt zur Debatte stehen, wird auch in eine Stimmung des Unbehagens geraten, wenn die Frage nach der Relevanz der eigenen philosophischen Arbeit für die polhisehe Praxis aufgeworfen wird. Es wäre ein Kurzschluß, diese Stimmung auf den alten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zu projizieren: Eine Philosophie formu!jert Konzepte. von denen sie meint, sie könnten von der politischen Praxis vernünftigerweise nicht zurückgewiesen werden. Die Praxis aber verweigert nicht erst die Annahme der Ansprüche, die an sie adressiert sind, sie nimmt schon den Zustellversuch gar nicht oder allenfalls nur als Emertainment wahr. Der Widerspruch wurde vom deutschen Karikaturisten Seifried zumindest zeichnerisch schon vor Jahren aufgehoben: Da steht ein Philosoph vor einer großen Menge von Leuten und ruft: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Und die Proleta~ rier antworten im Chor: Gute Idee, gebongt, machen wir! Die Stimmung des Unbehagens wird also eher mit einem anderen Problem zu tun haben. Die Vermutung liegt nahe: Es handelt sich um das Problem der Selbstda rstell ung. Jeder kennt die Szene: Ein Philosoph referiert, zum Beispiel vor einem Publikum von Politikern zum Beispiel über das Thema Ethik und Medizin. Kaum iSI der Vortrag zu Ende, kommt die Frage: Schön und gut, aber was sagen Sie denn jetzt konkret: Ist Sterbehilfe ethisch vertretbar, ja oder nein? Der Referem ist weder Utilitarist noch Theologe. Die daraus folgende Verweigerung ei~ ner definitiven Antwort provoziert sogleich die Feststellung: Mit Ihrem Gerede können wir politisch nichts anfangen, das hat keinerlei praktische Relevanz! Das ist für den Philosophen unangenehm, denn immerhin wurden seine Reise und sein Aufenthah, sogar ein kleines Honorar gezahlt, und da möchte er am
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Aktuelle Debatten
liebsten rufen: Sie irren sich, meine Damen und Herren, meine Rede ist ebenso vorausserzungsvoll wie reich an Konsequenzen, es folgen daraus Imperative für das politische Handeln und sogar eine politische Ethik in der technologischen Zi\·ilisation! Und wenn Sie es bis jetzt nicht verstanden haben, werde ich es eben noch einmal in einfachen Worten wiederholen. Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die haben Schwierigkeiten mit einem bestimmten Gestus der Selbstdarstellung, der weit verbreitet ist, mit einem Gestus, der immer schon weiß, was Sache ist, und mit einer Form der Selbstdarstellung, die oft das Wort "wir" gebraucht: "Wir" stehen VOf der Herausforderung, und daher sollen "wir" und daher müssen "wir" l... J Und wer diese Schwierigkeiten hat, will am liebsten gleich zugeben: Ja, Sie haben recht, was ich gesagt habe, hat keinerlei praktische Konsequenzen und soll auch keine haben, es folgt daraus insbesondere keine politische Ethik in der technolo+ gisehen Zivilisation. Was also tun in dieser Ambivalenz? Ein alter Trick liegt nahe, den schon Aristoteles empfohlen hat: Man wende seine persönliche Ambivalenz ins Objektive, indem man sage: Diese Ambivalenz hat nichts mit meinen persönlichen Defekten, sondern mit den Problemen des Themas selbst zu tun. Zunächst ist damit folgendes erreicht: Das persönliche Problem der Selbstdarstellung wird zum philosophischen Problem der Darstellung, und dieses Problem ist tatsächlich eines der wichtigsten Probleme insbesondere der gegenwärtigen Philosophie. Denn schon prinzipiell gilt: Vielleicht im Gegensatz zu anderen Formen des Wissens kann kein Denken, das den Namen Philoso+ phie für sich in Anspruch nehmen will, sein Gedachtes einfach als gegeben voraussetzen und ihm dann Begriffe zuordnen oder Ansprüche zustellen. Clemens-Carl Härle hat das auf die Formel gebracht: "Zwischen dem Denken und dem Gedachten waltet ein Intervall, dergestalt, dass die Darstellung des Gedachten für die Philosophie zu einer Aufgabe sui generis wird.'" Dieses Imer+ vall ist letztlich eine unaufhebbare Differenz, und die Philosophie ist nicht ihre Leidtragende, sondern ihre Sachwalterin. Darstellung heißt dann nicht das didaktische, sondern das theoretische Problem einer Über-setzung, eines Setzens über dieses Intervall, das Problem einer Über-setzung, die zugleich die Differenz nicht kurzschließt. Also steckt in diesem Inrervall zweierlei: einerseits "die Möglichkeit der Philosophie" und andererseits die Gefahr, daß die Philosophie zu einem "Jargon" oder zur "Etikette" wird, das sind wieder zwei Wone von Clemens-Carl Härle. Jargon wiederum heißt wörtlich: Sprache der jeweils Eingeweihten, allgemeiner also: Darstellung, die um die jeweilige Sache immer schon weiß. Und Etikette ist eine erstarrte, offizielle Umgangsform, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich gilt, Etikett ist zugleich ein Klebeschild, somit kann über+
Clemens-Carl Härle, "Karte des Unendlichen", in: ders. (Hrsg.). Karten Zu "Tauund Plo/ea/u", Berlin 1993, S. 104.
Berger, Gibt
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(:in(: politisch(: Ethik?
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setzt werden: Darstellung, die ein jeweils schon existierendes "Wir" repräsentieren, also gleichsam mit sich selber bekleben, somit etikettieren will. ach diesen Vorkehrungen kann dem Thema nahegetreten werden: Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation? Die Frage scheim unsinnig: Gibt es nicht eine Inflation ethischer Diskurse? Die Frage lautet jetzt aber präziser: Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikette? Wenn so gefragt wird, dann wird nach den Bedingungen der Möglichkeit gefragt, jenseits von Jargon und Etikeue zu gelangen.
II Zwei Diskurse. mit denen Philosophen in jüngerer Zeit entweder öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben oder sich von dieser Aufmerksamkeit erregen ließen. fuhren die Denkfiguren des Jargons und der Etikette genauer vor Augen: die Debatte über Humangenetik und die Diskussionen zu den Ereignissen am 11. Septem ber 200 I. Wenn der Vortrag Rrgtln flir dtn Mtnsrbtnparlr.. Ein Anlll-'Orlscbrtibtn Zl/nI Bntl iibtr drn HIIHJOflÜ",,,S2, den Peter Sloterdijk 1999 gehalten hat, als Beispiel fü.r den Jargon herangezogen wird, ist die Bemerkung wichtig: Damit steht nicht ein "gegenaufklärerisches Raunen" zur Kritik, und das Motiv kann auch nicht jene Eifersucht sein, die ein Autol'" der Wochenzeitung DIE ZEIT empfunden hat, als er auf deI'" Fahrt zum 18. Deutschen Kongreß für Philosophie in Konstanz vom Taxifahrer gefragt wurde: Ah, Sie fahren zum Sioterdijk? Es geht viel mehl'" um eine ernst zu nehmende Konsequenz. Es ist bekannt, daß rur Sioterdijk die Enn.vicklungen der Gentechnologie zu einer " mstelJung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pdinatalen Selektion" führen. Das ist richtig: Selektion geschieht, indem sich beStimmte. zum Beispiel von KnnkeO\'ersicherungen definierte Normen durchsetzen. was dazu fühn, daß für eine pränatal diagnostiziene Krankheitswahrscheinlichkeit kein Risiko übernommen und der Fötus abgetrieben wird. Also fordert Siotcrdijk eine bewußte genetische "Merkmalsplanung". Diese braucht Kriterien. Die Herausforderung wäre nun nicht die Korrektur schon vorhandener Eigenschaften, sondern die Denkmäglichkeit ihrer aktiven Züchtung. Deshalb fordert Sioterdijk eine "gattungspolitische Entscheidung", eine Entscheidung gegen ein Progl'"amm von "KJeinzüchtern" und fül'" ein Programm von ..G1'"Oßzüchtern des Menschen (... ) Superhumanisten 1... 1 und Übermenschenfreunden". Die Frage: wer sind diese G1'"Oßzüchter? ist nicht einfach abzuweisen. Die Mehrheit will ihre Kinder ja vielleicht wirklich nul'" als
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Peter Sloierdijk, "Rrgrln fLir den Menschenpark. Ein Am\vorlSchr(:iben zum Brief über den Humanismus", Vortrag im Schloß Elmau 1999. (Die folgenden Zitate stammen aus der vom Verlag Suhrkamp über Inlernet verbreiteten Texlversion.)
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Akruelle Debatten
Kopien ihrer selbst, oder, wenn es hoch kommt. als Klone von Arnold Schwarzenegger oder Pamela Anderson. Sioterdijk lobt Platon, und bei Platon ist es der philosophische Staarshine, der über ein "züchterisches Königswissen" verfugt. der diejenigen .. auskämmt", deren "Eigenschaften" verhin+ dem, daß "der Menschenpark zur optimalen Homöostase gelangt". Das philosophische Königswissen steht in Differenz zum Ganzen, weil es dieses Ganze noch einmal darstellt: Wo die Gattung sich längst kleingezüchtet hat, wissen dje Philosophen um die Bedingungen der Möglichkeit des "Höherzüchrens", sie wissen um eine gauungsgeschichtliche Differenz, die zugleich aus sich heraus inhaltlich über den augenblicklichen Zustand hinausweist: Das ist die allgemeine Denkfigur des Jargons. Eine Distanzierung von Sloterdijk ist möglich, aber die Denkfigur trin in vielen Kontexten auf: Wer zum Beispiel im Namen des ökologischen Fortschritts spricht, nimmt ein Königswissen in Anspruch, über das die Masse nicht verfugt: Ich weiß, was war, was jetzt ist, und was sein wird oder zu sein hätte, und während dje Leute ihre überschwemmten Keller auspumpen, rede ich davon, daß ich mich schon vor zehn Jahren bei den Grünen engagiert habe. Damit geschieht gleichzeitig eine Entpolitisierung im klassischen Sinne, nämlich die Distanzierung des Problems aus seinem Kontext heraus und in eine schon fertige Lösung hinein. In den Diskussionen zu den Ereignissen am 11. September 2001 sind viele Beispiele für die Denkfigur des Jargons zu finden, aber mehr noch für die Denkfigur der Etikette. Eine Illustration ist nur scheinbar leichter, weil die plakative Formel vom Kampf der Kulturen zum Ausgangspunkt genommen werden kann, die Samuel P. Huntington ausgearbeilet hat. J Auch hjer ist eine billige Distanzierung nicht möglich. Der eigentlich problematische Gehalt dieser Formel ist kein prognostischer, sondern ein erkenntnistheoretischer: Die kulturelle Differenz wird als absolute dargestellt, aber dabei muß die Existenz der Kulturen ihrer Praxis, zum Beispiel der Praxis der Konfrontation oder der Begegnung, vorausgesetzt werden. Selbst im Zustand der globalen Durchmischung existieren Kulturen primär, um sekundär in Konflikt zu treten. Sie sind Entitäten, denen das Merkmal der Präexistenz zukommt: Sie laufen ihrem gegenwärtigen Sein immer vor4 aus. Huntingwn liefen damit ein Modell des kJassischen Kulturbegriffs. Denn wie auch immer man Kultur definiert., ob mü Johann Gonfried Herder als Lebensgestalt und Lebensform von 1 ationen, Völkern und Gemeinschaften, oder mit Ernst Cassirer aJs "symbolisches ni versum", stets ist mit diesem Begriff das Faktum einer je schon existierenden und damit jeder konkreten Begegnung und Konfrontation histOrisch vorauslaufenden Einheit angesprochen. Das ist offensichtljch, wenn von westlichen Werten gesprochen wird. Aber auch ein positiver Begriff der Multikulturalität, die Aufforderung, Differenzen
)
VgJ. Samuel P. Huntington, Kamp! Jt, KNll1mn, München 1997.
Berger. Gibt es eine politische Ethik?
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zu respektieren, setzt je schon existierende Kulturen voraus, deren Unterschie• denheit eben zu respektieren wäre. Slavoj Ziiek zögert daher nicht, den Multi~ kulturaLismus als "verleugnete, verkehrte, selbstreferentielle Form des Rassis4 mus" zu bezeichnen. als .. Rassismus, der Abstand hält", indem er ..das andere aJs eine in sich geschlossene ,authentische' GeseLischaft,,4 wahrnimmt. Hier heißt Entpolitisierung, daß PoLitik in einem Kampf um die Anerkennung eines Anderen verwandelt wird, der "nicht der reale Andere ist, sondern der aseptische Andere"s ist, ein Anderer, dem ich von mir aus bereits den Wert des Unterschieds und damit eine bestimmte Gestalt zugeschrieben habe, ehe ich ihm begegne.
III Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikene? Es wurde behauptet, daß Jargon und Etikene zugleich andeuten, worin "die Möglichkeit der Philosophie" bestehen könnte. Zunächst repräsentieren Jargon und Etikene zwei Bedingungen der Möglichkeit \'on Ethik: die Bedingung der Denkbarkeit einer gattungsgeschichtlichen Perspektive und die Bedingung der Denkbarkeit einer ihrer Praxis je schon vorauslaufenden Kultur. Zwei der wichtigsten Ethikenrwürfe in der gegenwärtigen Philosophie zeigen das auf. Sie zeigen gleichzeitig auf, daß diese heiden Bedingungen nur gesetzle Bedingungen sein können, rur die man sich zu entscheiden hat. Das Modell rur den erSten Enrwurf ist jene Ethik, die Hans Jonas schon 1989 vorgestellt hat. 6 Jonas kjppt den kategorischen Imperativ Immanuel Kanrs aus der Kritik du Prakliuhtfl I/trnllnft von 1788: .. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein aUgemeines Gesetz werde", in eine geschichtliche Dimension: Handle so, daß du auch die zukünftige j\'lenschheit in deine Überlegung einbeziehst. Diesem Kunstgriff ist die Kontinuitäl der Gattungsgeschichte als Bedingung der Möglichkeit von Ethik vorausgesetzt: Geschiclne ist ein Werden, das durch eine kohärente Dynamik vorangetrieben wird, eine Kette von Gründen, die sich über die Zeit und daher auch in die Zukunft hinein fortpflanzen. Nur so ist ein wirkliches Erbe der Gegenwärtigen denkbar, das die Künftigen betreffen wird. Aber zugleich weiß Jonas zweierlei: Erstens, daß, anders als bei Kam, im Imperativ nicht das eigene Interesse und das Allgemeine zusammenfallen: \,\'ährend es vernünftig ist, die Zeitgenossen so zu behandeln, wie man es von ihnen auch in bezug auf sich selber erwartet, kann den Heutigen die zukünftige ~
Slavoj Zilek, Ein Pllit/(!Jtr fir dit Inloltra"v "'lien 1998, S. 73.
S
Ebd., S. 77. Vgl. Hans Jonas, DaJ Pn'"tfp I 'ml1lBVJl111"1.. Vtmub tin" ElbiJeftir dir Irrh"ologüdn Zi,;·
6
Iilalion, Frankfurt
:11.
M. 1989.
172
Aktuelle Debatten
Menschheit auch völlig egal sein. ncl zweitens, daß man heute, vor allem we· gen der Komplexität technologischer Konstruktionen von Wirklichkeit, eben nicht wissen kann, welche Auswirkung ein bestimmtes Tun oder Umerlassen fut die Künftigen haben wird: Eine bestimmte Erfindung kann eine andere Erfindung ermöglichen, die heute noch undenkbar ist. und diese Erfindung kann segensreiche oder katastrophale Folgen haben. Daher muß man sich im vollen Sinne des Wortes dafür entscheiden. die Kontinuität der Gattungsge. schichte zu wollen. Und wenn man sie will, muß man immer wieder neu Fra· gen beantworten, die nicht beantwonbar sind. Für die Figur der Diskursethik kann die Thtorit du leoltmllmiJealiL'tn HondtlnI von Jürgen Habermas zum Beispiel genommen werden. 7 Hier gilt der Dissens als Bedingung der Möglkhkeit von ethischer Kommunikation. Konsens muß unterstellt werden im Hinblick auf Regeln, die den kommunikativen Streit möglich machen: Im Prinzip ist das die doppelte Übereinkunft, daß man nicht ein letztes, gewalttätiges WOrt sprechen wird und daß man immer auf eine Metaebene ausweichen wird, um den Dissens zu managen. Damit ist aber ein Wille vorausgesetzt: In das "Haus der Verständigung" erhält nur Eintritt, wer fa· hig oder willens ist, diese Regeln zu befolgen, nur jemand, für den der Wille zur Verständigung der Praxis der Verständigung schon vorausläuft, also jemand, der im Sinne der bisherigen Argumentation "Kultur" hat. Habermas ist davon überzeugt, daß dieser \'(lille vernünftig ist. Sein ganzes Projekt einer Rekonstruktion des historischen Materialismus im Geiste der Kritischen Theorie ist auf diesen achweis ausgerichtet. Aber er weiß gleich. zeitig, daß man sich fur diesen Willen entscheiden muß, oder präziser: daß seine Möglichkeit politische, soziale und auch individuelle Voraussetzungen hat.
IV Mkhcl Foucault diskutiert die Frage, warum die Vererbungsgesetze des Gregor Mendcl im 19. Jahrhundert von den Wissenschaften nicht wahrgenommen werden konnten: "Ein Satz muß komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um der Gesamtheit einer Disziplin angehören zu können. Bevor er als ,wahr' oder ,falsch' bezeichnet werden kann, muß er [... ) ,im Wahren sein'."s Das kann paraphrasiert werden: Eine Handlung oder ein Denken muß komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um überhaupt Gedachtes einer bestimmten Ethik sein zu können: Es muß bereits "im Guten sein", ehe der ethische Diskurs anheben kann, oder es selber bleibt dem ethischen Diskurs unzugänglich. In diesem Sinne markiert das Wissen um die Voraussetzungen von Habermas und Jonas gewisse Grenzen: Weil sie die Denk•
,
Vgl. Jürgen Habermas. Thtorit JtJ 1eD",,,,NnileD,iI'tn HOllJtlns, 2 Bände. Ftankfun a. M. 1981. Michel Foucault, Di, OrJ"M"1. JtJ DisleMrm, München 1974, S. 24.
Berger, Gibt es eine politische Ethik?
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möglichkeit einer vorauslaufenden Kultur und die Denkmöglichkeit einer gat+ cungsgeschichtlichen Perspektive reaJ dementieren, müssen die Ereignisse des 11. September 2001 und die Entwicklungen in der Humangenetik jeweils der Diskursethik und der Veranrwortungsethik inkommensurabel sein. Denn was zeigt sich am 11. September? Sichtbar wird eine Praxis der Rclationierung und Differenzierung. In vielleicht gleichgültige, vielleicht interessierte, vielleicht freundschaftliche, vielleicht feindschaftliehe, vielleicht produktive, vielleicht destruktive Relationen und Differenzen, die im Inneren der Türme des World Trade Center genauso existieren wie zum Beispiel im Gewühl von Kairo, bricht ein Gewaltakt ein, als dessen Resultat wieder Relatio+ nen und Differenzen entstehen. Schon empirisch ist klar, daß nicht zwei je schon existierende Kulturen aufeinandertreffen: lto'lenschen aus allen Teilen der Erde, Arme und Reiche, BörsenmakJer und PU[zkräfte haJten sich in den Türmen auf. Die Attentäter vereint jedenfalls nicht eine gemeinsame soziale Herkunf!. Dem Rückgriff in den inkohärenten religiösen Fundus des Islam, der sie ideologisch motiviert, entspricht ein von sehr unterschiedlichen Akteuren bewohnter politischer Echoraum, aber keine Klasse oder Schicht, die das Han+ dein der Artentäter in einem konkreten sozialen Sein fundiert. Weil dieses Poliversum keinen sicheren Kern, keine tragende Ebene hat, besteht es nur aus der prozessualen Praxis der Relationicrungen und Differenzierungen. Eine Dis+ kursethik kann diese Praxis nur von außen, also aus der Position von verstän+ digungswilligen Dritten reflektieren, die selbst vom Anlaß der gewollten Verständigung nicht direkt tangiert sind. Und es existieren in djeser Praxis keine Adressaten, denen erwaige iaßstäbe zugestellt werden könnten. Auch die technologischen Emwicklungen, von denen die Züchtungsphamasien eines Sioterdijk erregt worden sind, markieren eine Grenze. Durch die Möglichkeit zum verändernden genetischen Eingriff wird die atur in radikaler Weise zu einem Moment der Geschichte. Jenseits des klassischen Dualismus von arur und Geschichte kann der verändernde genetische Eingriff nicht mehr als Intervention in einen eindimensionalen deterministischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung gedacht werden. Wer über "Gene" spricht, ist vielmehr mit einer \'(lirklichkeit konfrontiert, für die HansJörg Rhejnberger den Begriff "epislemische Dinge" verwendet 9: Das sind Mischgebilde zwischen Objekten und Zeichen, die das, was sie sind, immer nur sein können im Rahmen der Kontextc, in denen sie existieren, und djcsc Kontexte wiederum sind selbst hybride Konstruktionen, immer zugleich lokale, soziale, technische, institutionelle, instrumcntelle, ökonomische Schauplätze. Das "Gen" ist. was es konkret ist, nur in den Komex[en, die: es objekti,tieren. Eben weil diese: Kontexte und ihr Verhälmis vieldeutig sind, kann ihrer Praxis keine g.littungsgeschichtliche: Kontinuitä[ vorausgesetzt werden, in der aus dem, was war und was jetzt ist, in irgend einer konkreten Weise folgt, was sein wird oder zu sein häue.
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I-Ians-Jörg
Rheinb~rger.
r:... .ptriI1Unlll/{}/Itl1lt Jlnd tpislt",ürht Dintt, Göt[ing~n 2001.
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Aktuelle Debanen
Gcnau dieses Königswissen um sein strukturelles lichtwissen, um die Unmöglichkeit der Voraussetzung einer ganungsgeschichtlichen Kontinuität, hat schon Plaron, allerdings nicht SIOtcrdijk. Und genau wegen der Unmöglichkeit einer Voraussetzung von Kulturen muß George W. Bush den ältesten Feuerwehrmann New Yorks auf den Trümmern des World-Trade-Centers umarmt haben: Die Unmöglichkeit wird zugleich dargestellt und noch einmal etikettiert. gleichsam mit einem "wir" verklebt, und dieses "wir" auf Zeit und in verschiedenster Weise in verschiedensten gesellschaftlichen Wirklichkeiten etabliert: Ein New Yorker Taxifahrer läßt seine arabische Kleidung lieber im Kasten. Auf einem amerikanischen Kriegsschiff formieren sich Matrosen zu ei· nem lebenden Tableau, das vom Flugzeug aus als Darstellung patriotischer Gefühle lesbar wird.
v Gibt es eine poLitische Ethjk jenseits auch der Bedingungen, die eine Ethik der Verantwortung und eine Diskursethik annehmen? Es ist bekannt, daß der Begriff Ethik sich wortgeschichtlich herleitet vom griechischen WaTt ttbor. eigentlich der Ort des Wohnens, erst abgeleitet: Sitte, Gewohnheit, was auch vom Wohnen kommt, also: der Ort des gemeinsamen Wohnens. AristoteIes sagt: .. Das Edle und Gerechte ([ ... J) zeigt solche Unterschiede und solche Unbeständigkeit, daß man vermuten könnte, es beruhe nur auf dem Herkommen und nicht auf der Natur."lo Damir ist das Problem einer politischen Ethik präzise umschrieben: Was das Konkreteste regelt, beruht in radikalster Weise auf einer politischen Übereinkunft. Weil diese Spannung nje aufzuheben ist, bedeutet Ethik bei Aristoteles kein System \'on fertigen lösungen, sondern die ständige Aufgabe, den ethos zu gestalten: Ethik ist im Gegensatz zur l\'loral, wie sie schon Cicero als System von morts, als System von Regeln definiert hat, im radikalen Sinne prozessual. Unter den Bedingungen der technologischen Zivilisation ist der präexistierende Boden dieses Prozesses, sind die vorausgesetzte gattungsgeschichtliche Kontinuität und die vorausgesetzte Kultur nicht denkbar. Gibt es eine politische Ethik in der technologischcn Zivilisation? Zwci zentrale Bedingungen ih· rer Möglichkeit wurden suspendiert. Es bleibt als Ausgangspunkt nur die These: Der prozessierende ethos kann aus dem Ereignis gestaltet werden. Die Verwendung dieses Begriffs ist mißverständlich, weil der Begriff in ein Lab)'rimh philosophischer Traditionen hineinweist. und schwierig, weil die geistige Grundmöblierung so beschaffen ist. daß in der Konfrontation mit dem Ereignis sofort ejn metaphysischer Kurzschluß eintritt. Friedrich Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einer tiefen ps)'chologischen nmög-
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ArislOteles, Nikolf/(1{hiuh, Ethik, I094b 14 f.
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lichkeit. die nterbrechung einer Kausalit2t zu akzepcieren. Man springt also vom Geschehen auf die Ebene der sicheren Koncinuit2ten und Einheiten, um von dort aus deduktive Kausalüäten zu konstruieren. Das gilt im Alltag genauso wie in extremen Situacionen. Jemand tut etwas Unverständliches: Ein Sohn tötet seine Mutter, schneidet ihr den Kopf ab und stellt ihn im Schaufenster eines Geschäftes aus. Das ist in Wien vor einigen Jahren geschehen. Das erSte, was getan wird, ist: i\hn springt auf eine Metaebene, zum Beispiel auf eine ps)'· chologische i\letaebene, man sucht ein Modell oder einen Begriff, und von dort aus strahlt die Kausalität hinab bis zum konkreten Ereignis, das durch ihre Konstruktion erklärt werden soll: Er wurde so und so erzogen, er hatte Probleme mit Frauen, er hat seine Mutter dafür gehaßt. Eine Konstruktion des prozessierenden etbos aus dem Ereignis muß zu allererst gegen diese Deduktion plädieren und für die Vermeidung des metaphysischen Kurzschlusses eintreten. Dagegen wäre die Induktion methodisch zu stärken. Der Einwand ist zu beachten, daß die Induktion immer schon in konstruierten Allgemeinheiten stattfindet: Ich sehe etwas, aber während ich meine, vom Ereignis ausgehen zu können, hat eine Kamera längst den Gesichtspunkt besetzt und eine Metaebene gebaut. Umgekehrt aber kennt die Philosophiegeschichte, vom Begriff der Gegenwart bei Walter Benjamin bis zu den von Manin Heidegger beschriebenen Stimmungen, eine Vielzahl konkurrierender Methoden, diesseits dieser Metaebenen zu gelangen. Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikette? Flugzeuge schlagen in das World Trade Ceorer und in das Pentagon. Das KJonschaf Dolly tritt in einer TaJkshow auf. \'(/as ist? Kein höherer oder tieferer Sinn ist sichtbar, keine Möglichkeit, zu sagen, jemand wäre für dies oder jenes, den Islam oder für Amerika gestorben, oder im Schaf komme der wissenschaftliche Fortschritt zu seiner Vollendung. All das wird erst später gesagt werden, wenn der vielstimmige Diskurs der Prediger und Politiker schon begonnen hat. Aber das Ereignis selbst drängt zu einem lodelI. \'(las ist, wenn diesem Drängen zumindest rur kurze Zeit nicht nachgegeben wird? In einem ähnlichen Sinne geht es Slavoj Zizek darum, "den abstrakten moralischen Rahmen zu suspendieren oder [... 1 um eine Art politiJtbe Aussetzung du EtbiJtlmt". Ausgangspunkt ist dann nicht die allgemeine Symmetrie eines wie auch immer geteilten Geschicks, sondern die konkrete Situation. In dieser Situation will sich Slavoj Zizek "auf ein Universales [beziehenJ, das nur in einem partikularen Element zu existieren beginnt i... 1, das strukturell deplazien ist, ,aus den Fugen' ... \I Ein wenig einfacher als bei Zizek iSI ein solches Universales gemeint, das nur in einem partikularen Element zu existieren beginnt, wenn gesagt wird: Das Faktum der Entblößthcit von allen Metaebenen wirft das Geschehen von seinem Platz, und es fallt heraus aus allen Gemeinschaften, die durch diese
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Slavoj Zifek. InIOkrtJ1r~ S. 85, S. 88.
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Aktuelle Debanen
Metaebenen erzeugt werden: Amerika. und die islamische Welt. die Gemein· schaft der Gesunden und die Gemeinschaft der Kranken [... 1Was ist, ist singuläres Ereignis. Aber es ist gerade nicht außerhalb jeder Wirklichkeir. Es ist doch, es exiscien, und zwar aJs Deplazienes, als völlige Abwesenheit eines zu· reichenden Grundes und eines tragenden Bodens, und gerade daher kann es, was es ist, nur sein einzig als Exponienheit in Relationen und Differenzen.
VI Damü sind zwei Bezugspunkte fUf ein ethisches ·foddl gewonnen: ein Ausgangspunkt: Ereignis, und ein Horizont: Relationen und Differenzen. Aber heide Pole blieben starr, wären sie nicht für ein Denken und für ein Sein problematisch. Das sich selbst problematische Ereignis trägt den Namen Existenz oder Dasein: ein Sein, dem sein Da zum Problem wird, eben weil es nicht in sich ruht, sondern nichts anderes ist als Exponiertheit in die Relationen und Differenzen. Es gibt eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation: Sie ist eine Praxis in dem durch diese beiden Pole bestimmten Spannungsfeld. \'\las ist dieses Spannungsfeld konkret? achdem alles mögliche suspendiert wurde, kann nur mehr gesagt werden: Die Existenzen sind, was sie sind, als Exponiertheit in die Relationen und Differenzen, und die Relationen und Differenzen sind die Relationen und Differenzen der Existenzen. Aber das heißt positiv und konkret: Der tlhoJ ist die Ko-existenz: nicht Amerika oder Europa, nicht die Kultur oder die Natur, sondern die Relationen und Differenzen, als die sich die singulären Existenzen exponieren. Jean-Luc Nancy hat einen Begriff für diese extreme Spannung erfunden: "undarsl'ellbare Gemeinschaft". .,Die singulären Seienden erscheinen zusammen: Dieses Zusammen-Erscheinen macht ihr Sein aus." Und weiter: ..[...] das Sein der Gemeinschaft iJll ... 1 die Exposition der Singularitäten. "12 Was für eine Praxis kann in einem solchen Spannungsfeld geschehen? Aus den zwei Polen ergeben sich zwei Werte: Soll das weitgehend reduzierte Modell funktionieren, impliziert es die Entscheidung, Existenz und Ko-cxistenz aJs unhintergchbare Werte anzusetzen. Es handelt sich tatsächlich um eine Entscheidung, die inhaltlich nicht weiter begründet werden k2nn. Ist das zugegeben, wird das Eingeständnis leichter, daß ein Denken und ein Handeln, das die beiden genannten Werte nicht annehmen kann, dem r-.·Iodell ebenso inkommensurabel bleibt. Diese Grenze resultiert nicht aus den schon komplexeren Voraussetzungen einer Diskurs- oder Veranrwortungsethik, sondern aus dem Gedanken, daß die Akzeptanz des bloßen Daseins eines anderen und die Annahme, daß dieses Dasein zugleich ein Mitsein mit Anderen ist, Minimalbedingungen von Ethik überhaupt darstellen. 12
Jean-Luc Nancy, Dit N1IJorsltllbarr Gtltlti,mbaft, Sluttgart 1988, S. 129, S. 68.
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Es ist daher wichtig, auf beiden Minimalbedingungen zu beharren. Die Entscheidung für die Wene der Existenz und der Ko-existenz wäre eine doppelte: zuerst eine Entscheidung für die Unterscheidung, für die extreme Spannung der bei den Pole, dann eine Entscheidung für zwei ethische Kriterien, die unverzichtbar sind. Das Problem der ersten Entscheidung wird don evident, wo Existenz und Ko-existenz ineinanderfaUen und der Bindestrich verschwindet. Die Konsequenzen daraus hat am schmerzlichsten Martin Heidegger deutlich gemacht. Eine Frage, aus der sich die Rtkloralsrede von 1933 motiviert, lautet: Ist kollektive Existenz, also Koexistenz mögljch? Anders als Nancy, bei dem sich die Existenzen in ihrer Singularität als Gemeinschaft exponieren, denkt Heidegger das Volk selbst als Existenz, als Dasein: "So ausgesetzt in die äußerste Fragwürdigkeit des eigenen Daseins, wiII dies Volk ein geistiges Volk sein." Das in seine Fragwürdigkeit exponierte Volk hat seine geschichtliche Kontinuüät widerrufen, weil das Vergangene als gewesene Fraglichkeil eben keine Antworten gibt. Also versammelt es sich im Augenblick. "Wir fragen, hier und jetzl, für uns." Aber im Hier und Jetzt kann nicht ausgeharrt werden: "Der Anfang ist als das Größte im voraus über alles Kommende und so auch schon über uns hinweggegangen," Das Volk begibt sich auf den Marsch, folgt einem Führer, der die "Kraft zum AUeingehenkönnen" hat, und gewinnt im Vorrücken .. in den äußersten Posten der Gefahr der ständigen WeItungewißheit" seine konkrete kollektive Existenz als "wissender Kampf der Fragenden".13 Die Entscheidung, eine Verschmelzung der Werte Existenz und Ko-existenz zu vermeiden, hält das Feld jener Spannung offen, in dem sich der ethos als Prozeß entfaltet. Die Entscheidung wird durch eine Transformation der Werte in Imperative konkret. Eine weitere Formulierung des kategorischen Imperativs von Kant lautet: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Minel brauchst." Das kann übersetzt werden: Erstens: Respektiere einen Anderen und ein Anderes wie dich selbst in radikaler \X'eise als Selbstzweck, und eben nicht als J\1.inel für ein Allgemeines, für eine Geschichte oder Kultur. Damit wird dazu aufgerufen, die singuläre Existenz im Sinne der bisherigen Ableitung zu respektieren, denn was ist eine singuläre Existenz anderes als Zweck in sich selbst? Und zweitens: Respektiere die Welt in radikaler Weise als Selbstzweck, also nicht als ein MÜtel für etwas anderes, für den Fonschritt, den Umweltschutz oder die Gelüste eines Gottes. Damit wird dazu aufgerufen, die reine Relation zu respektieren, denn was wäre die Welt als Selbstzweck anderes als ihre Relationen und Differenzen.
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~hrtin
l-lcidegger, Die StlbsthrbauplJutg dry dtufsrhtn Un;/Itrlitiil. Dos Rektorat 19))/34, Frankfurt 3. M. 1990, S. 15, S. 21, S. 12, S. 14, S. 18.
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Aktuelle Debatten
Und wieder AristoteIes: In der von ihm intendierten ethischen Praxis geht es um die rechte Mitte. Das ist nicht der faule Kompromiß oder das Mittelmaß, sondern der ständig neue Ausgleich zwischen im Grunde nicht auszugleichenden Positionen. Im hier skizzierten Modell heißen die Positionen Existenz und Relationen und Differenzen. Ebenfalls von AristoteIes stammt der Satz: "Die Extreme scheinen einander gegenüberzustehen, weil die Mitte keinen Namen har."14 Der ständig neue Ausgleich zwischen nicht auszugleichenden Positionen ist die konkrete Praxis der Politik. Die Aufrechrerhaltung der Spannung zwischen den Positionen und die Verteidigung einer Namenlosigkeit im aristotelischen Sinne ist ihre Voraussetzung. Die Praxis und dje Voraussetzung darzustellen ist die Aufgabe einer politischen Ethik: An diesem Punkt kommuniziert sie mit einer Institutionstheorie: Institutionen wären dann dynamische Wirklichkeiten, in denen Widersprüche prozessiert werden. 15 Was folgt für das Problem der Selbstdarstellung? Die Ambivalenz bleibt bestehen. Aber ihren beiden Seiten können jetzt zwei würdigere Selbstdarstellungcn zugeordnet werdcn: der einen Seite, der Verweigerung von Praxis, die Selbstdarstellung des Heraklit. Über ihn schrieb Friedrich Nietzsehe: "Er brauchte die Menschen nicht."16 Das heißt positiv: Sein Denken verweigert sich dem Apriori der Praxis und der Verständigung, dem Apriori der Geschichte und der Kultur. Seine Schriften, die er auf den Stufen des Tempels der Artemis niederlegt, gewinnen den Sinn aus der hermetischen Abgeschlossenheit ihrer Sätze. Damit aber halten sie die Möglichkeit eines Außen fcst, dic Möglichkeit eines Werdens, das sich keiner geschichtljchen Gewordenheit, kei· ner vorausgedachten Geschichte oder Kultur unterwirft. Diese Abwendung macht es leichter, die zweite Seite der AmbivaJenz zu entfalten: die Hinwendung zur Praxis, zu den Relationen und Differcnzen. Das ist dic Haltung des Sokrates. Aber nicht des platonischen, didaktischen Sokrates, der unter der Maske der Bescheidenheit um seine Wirkung besorgt ist, sondern die eincr Figur, die ununterbrochen schwätzt, und die nicht aufhören kann zu schwätzen, einer Figur, von der Sören Kierkegaard anerkennend schreibt: "Er hat nichts hinterlassen, darnach eine spätere Zeit ihn beurteilen könnte."17
AristoteIes, Nikoma(hiuhe Ethik, 1126 b. IS Vgl. Perer Heime! und Wilhelm Berger, Die Organisation der Philosophen, Frankfurt a. M. 1998. 16 Fricdrich Nietzsche, .. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", Kn'h'Jehe Stlldienallsgabe, Band I, München, Berlin, New York 1980, S. 834. 17 Sören Kierkegaard, Ober den Begriff dtr Ironie, Frankfurt a. M. 1976, S. 16. 1.(
i\hrcus Düwell
aturbeherrschung und Versöhnung Probleme einer philosophischen Reflexion auf das Verhältnis von Natur, Technik und Politik
1. Einlei tung Das Verhältnis des 1enschen zur Narur isr heute in unterschiedlichen Kontexten Gegenstand von Diskussionen. eue technologische Möglichkeiten erleichtern das Leben der Menschen, haben jedoch auch einen gravierenden Ver~ brauch an Rohstoffen mit sich gebracht. Das quantirative Wachsrum der Welr~ bevölkerung sowie veränderte Ansprüche an die Lebensqualität in den reicheren Ländern geben der Erfahrung von Knappheit eine neue Qualität. Naturveränderungen von teils bedrohlichem Ausmaß sind aJs Ergebnis von Umweltverschmutzung zu beobachten. Immer gezieltere Eingriffe in die Natur werden technisch möglich und scheinen auch ökonomisch erforderlich, wobei viele Langzeitauswirkungen kaum absehbar sind. Schließlich verändert sich das Narurverhälmis dadurch, daß auch die biologische atur des Menschen in neuer \X'eise zum Gegenstand gezieher Gestaltung gemacht werden kann. Nuur bzw. unser Umgang mü atur ist für dje Philosophie insofern nicht mehr allein zentraler Gegenstand von Erkenntnistheorie und aturphilosophie, sondern wird vielmehr zu einem Thema der praktischen Philosophie. NalurbthtrrHhung iSI zugleich mit den philosophischen Selbstinterpretationen der Moderne tief verbunden. Das gilt für die Spekulationen des Deutschen Idealismus ebenso wie für Marx und Nierzsche. Lange Zeit bewegte sich die aufkommende technik philosophische Diskussion in den Bahnen jener Deutung von Naturbeherrschung sowie vom Verhältnjs von Technik und Narur, die durch die frühe kritische Theorie, durch Martin Heidegger oder die kulrurphilosophischen und anthropologischen berlegungen Arnold Gehlens und anderer vorgegeben waren. 1 Im Hinblick auf das Phänomen der arurbeherrschung verlieren die philosophischen Differenzen dabei zum Teil ihr Gewicht. aturbeherrschung wird nicht allein im Komext der Moderne siru-
Vgl. etwa Hans Achterhuis (Hrsg.), Vi milo! van Je !uhnitk., Bllarn 1992.
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Aktuelle Debatten
ien, sondern vielmehr in einem breiteren Horizont von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und politischer Philosophie "erortet. Naturbeherrschung ist in diesem Kontext aus dem Gmndverhii..ltnis des r.,'lenschen zur Welt zu verstehen und mit den Möglichkeiten seiner Geschichte zutiefst verbunden. Die Geschichte von Naturheherrschung und der Stand der Technik geben in die· sem Sinne zugleich Auskunft über den Stand der Entfremdung des Menschen und über die Möglichkeiten von Versöhnung. Mit den angedeuteten mweltproblemen und philosophischen Interprctationsbemühungen sind Diskussionszusammenhinge angedeutet. die heute vielfach unverbunden nebeneinanderstehen. Die politische Philosophie der Ge· genwart versucht sich von anthropologischen und geschichtsphi1osophischen Voraussetzungen möglichst frei zu halten. Die Umweltprobleme erscheinen häufig als Herausforderungen, die weitere technische Lösungen erfordern und somit geradezu eine Spirale weiterer Naturbeherrschung hervorbringen. Oder aber sie sind Gegenstand umweltethischer Erörterungen, die nicht von geschichtsphilosophischen Voran nahmen abhängig sein möchten. Eine an Naturbeherrschung und Versöhnung orientierte Deutung von Geschichte und Politik wurde entweder verabschiedet oder hat mit den genannten konkreten Entwicklungen allein dahingehend eine Berührung, daß der Stand von Technik und aturbeherrschung zur IlJustration der unheilvollen historischen Situation herhalten muß. Wenn zwischen beiden Diskursen eine Berührung zustande kommt, so ist sie teilweise geradezu gespenstisch, wie die Debatte um Peter Sioterdijk zeigt.2 Impressionen von Entwicklungen in aturwissenschaft und Technik werden dort zu einem Szenario extrapoliert, in dem die Technik zur weitgehenden KonrroUe der biologischen Grundlage des 'Ienschen genutzt wird. Das Szenario einer Menschenzüchtung wird dabei in einen an Heidegger angelehnten Diskussionskonrext gerückt. der jedoch auch recht ungezwungen mit theoretischen Versatzstücken aus bisweilen totalitären Zusammenhängen assoziativ verflochten wird. Das Problem der Menschenzüchtung scheint in Zukunft vornehmlich darin zu bestehen, daß die für den Menschenpark Verantwortlichen mit den Möglichkeiten auch sorgsam umgehen müssen. Trotz spätcrcr Erläuterungen des Autors bleibt im Text undeutlich, ob hier Enrwick· lungen extrapoliert oder Handlungsempfehlungen abgegeben werden. Allein schon der Gestus des unentschiedenen Flirrens mit totalitären Theoremen weckt nicht ebcn Vertrauen. Zudem macht sich die Distanz des Autors gegcn~ über den konkreten gen- und biotechnologischen Diskussionen durchaus ne· gativ bemerkbar. Man wird nämlich bezweifeln können, ob das Steuerungspotential der Technologien eine so gezielte Manipulation ermöglichen wird, daß nur noch ein verantwortungsbewußter Zoodirektor gesucht werden muß. Wahrscheinlicher erscheint es vielmehr, daß die technologischen Möglichkei-
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Peter Sioterdijk. ~,gtl" pr JM MtlmM"parl!. Ei" A""YlrtSfh,.,iM,, ZN HtiJrggm Bn,! iMr Je" HII",O"isJltIlS, Frankfurt a. M. 1999.
DüwelJ, Naturbeherrschung und Versöhnung
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ten gerade nicht so zielgerichtet zur Anwendung kommen. Die moralische und soziale Problematik ist vielmehr darin zu suchen, daß diese Techniken mit allen Möglichkeiten und Begrenzungen in komplexen Gesellschaften zur An· wendung kommen und die Rückwirkungen und unkontrollierbaren Effekte, die daraus entstehen, kaum absehbar sind. Gendiagnostik und Selektion fUhren nicht zwangsläufig zur Menschenzüchrung, sondern erzeugen soziale Dynami. ken, deren soziales PotentiaJ wir gar nicht überschauen. Dabei ist nicht nur an die weitere EmwickJung der l\·Jedizin zu denken, sondern auch an die Erwartungen gegenüber der 1I.·ledizin, an den mgang mit Behinderungen oder die Wahrnehmung und Erfahrung von Schwangerschaft. Die Extrapolation von Sioterdijk vereindeutigt ein komplexes Szenario in einer Weise, daß die moralischen, politischen und philosophischen Herausforderungen überhaupt njcht in den Blick geraten. Aufklärung und Handlungsorientierung werden auf diese Weise wohl kaum erreicht. Die Diskussion wird eher zu einem Beispiel dafür, wie eine Diskussion über konkrete Probleme des Umgangs mit Natur umer den Begriffen von Naturbeherrschung und Versöhnung besser nicht geführt werden sollte. Aus Anlaß der Festschrift für Willem van Reijen sollen die genannten Diskurse aufeinander bezogen werden. Dabei geht es mir zunächst einmal um eine Verortung der gegenwärtigen Situation des 1 aturverhältnisses, in einem weite· ren Schritt um eine Beschreibung des klassischen Diskurses von t aturbeherrschung, um anschließend einige Perspektiven für die weitere Diskussion zu skizzieren. Die gegenwärtigen Umweltdiskurse tauchen dabei in philosophi. sehen Konstellationen auf, die viel faltige Berührungen mit dem Denken Willern van Reijens aufweisen.
2. Natur - Technik - Politik Die gegenwärtige Dramatik im Verhältnis des Menschen zur Natur spielt sich in sehr verschiedenen Dimensionen ab. Zum einen erwächst aus dem Natur· verbrauch einer technologischen Zivilisation eine zunehmende Dramatik im Hinblick auf internationale KonOikte. Die Knappheit natürlicher Ressourcen und der durch technologische ]\'Iöglichkeiten gesteigerte Bedarf an Ressour. cenverbrauch entfaltet eine Dynamik, die für internationale Machtpositionen von entscheidender Bedeutung ist. Internationale Konflikte konzemrieren sich daher auf den Zugang zu zentralen Energiequellen, werden aber langfristig auch mit dem ungehinderten Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Luft und Wasser zu tun haben. Zudem ist zu erwarten, daß Emigrantenströme in Zu· kunft auch mit ökologischen Engpässen zusammenhängen werden. Darüber hinaus werden bedrohliche Phänomene, wie et\\'a der Klimawandel durch die Folgen unseres Narurverbrauchs, zumindest verscharft, wenn nicht gar verursacht. \X'enn man sich vor Augen fUhrt, was fur Auswirkungen mit dem Unfall eines Itankers oder mit Katastrophen wie einem Hochwasser, das durch Fla-
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Aktuelle Debatten
chenversiegelungen in seiner Wirkung zumindest massiv verstärkt wird, verbunden sind, dann wird deutlich, in welchem Ausmaß politische Gestaltungsmöglichkeiten vom Umgang mit der uns umgebenden Natur verbunden sind. Auch die vorauslaufenden Planungen im Blick auf internationale Machtpositioneo und die damit verbundenen politischen Handlungsmöglichkeitcn sind im wesentlichen darauf bezogen, sich auf den Feldern der technischen Nawrbeherrschung zukunftsträchtige Optionen zu sichern. Politische Konflikte scheinen weitgehend mit dem Verhältnjs der Politik zu Technik und Narurbeherrschung zusammenzuhängen; Tendenz steigend. Darüber hinaus erlebt der Mensch die eigene Natur in zunehmendem Maße als Gegenstand technologischer Eingriffe. Dabei handelt es sich teils lediglich um Vertiefungen humanbiologischen Wissens und Verfeinerungen medizini· scher Eingriffe. Teils entwickelt sich ein verändertes Verständnis der eigenen biologischen Konstitution, wie es etwa im Kontext des Humangenomprojekts zu beobachten ist. Die Selbstdeutung verändert sich durch den Einblick in eine der phänotypisch wahrnehmbaren Natur zugrunde liegenden gcnotypischcn Ebcne. Auch wenn die faktischen Erklärungsmöglichkeiten der molekularen Humangenetik noch sehr begrenzt sind und ihre Aussagekraft häufig unklar, beginnt der Mensch sich von genetischen Dispositionen her zu interpretieren. Diese neuen Forschungen an den biologischen Grundlagen der menschlichen Existenz haben zudem nicht allein Auswirkungen auf sein Selbstverständnis, sondern auch auf die medizinischen Möglichkeiten. Diese liegen etwa in der Eröffnung pränataler Diagnose. und Selektionsmöglichkeiten, aber auch teilweise in der Veränderung therapeutischer Optionen. Dabei entsteht nicht sei· ten die Frage, was denn eigentlich das Ziel medizinischen Handelns ist und wO die Grenzen zwischen medizinischen Therapien im klassischen Sinne und gezielten Eingriffen zur Verbesserung des Menschen genau verlaufen. Von min· destens ebenso einschneidendcr Bedeutung sind die Entwicklungen der Neurobiologie, mit denen Erklärungsmodelle für die Wirk weise des menschlichen Gehirns und teilweise auch therapeutische Eingriffsmöglichkeiten verbunden sind. Der zunehmenden Dichte technischer Ausgriffe auf die Natur steht nun ein vielfach artikuliertes Bedürfnis nach einem anders gearteten Naturverhältnis gegenüber, das die Dynamik zivilisatorischer Naturbeherrschung hinter sich läßt oder aber zumindest andere Formen der Naturerfahrung ergänzend, korrigierend oder kompensierend ermöglicht.) Angesichts immer stärkerer Steuerungs· und Gestaltungsmöglichkeiten der Natur erwächst der Wunsch nach der Begegnung mit Elementen in der atur, die nicht vollständig vom Menschen bestimmt und beabsichtigt sind. Sosehr der Kampf gegen die Übermacht
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Besonders die Debatte um die dup u%g] ist hier zu nennen. Vgl. etwa die Beiträge von Arne Naess und Holmes Roiston in dem Band von Angelika Krebs (Hrsg.), Nallirtihile, Frankfurt a. M. 1997.
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung
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der Natur als Triebfeder hinter technologischen Unternehmungen stand, so bedrohlich erscheint eine Zivilisation, die keine Kontingenz mehr aufweist oder bei der das Zurückschlagen der Natur als Bedrohung der gesamten Zivilisation erscheint. Aber es geht auch um das Selbsrverhähnis des Menschen als eines naturhaften Wesens. Wenn wir davon ausgehen, daß auch das Selbstbewußtsein des Menschen mit den Strukturen seiner Leiblichkeit zusammenhängt 4 ; wenn das menschl.iche Selbstbewußtsein sich nur von der prä-reflexiven Einheit her interpretieren kann, die im menschlichen Leib gegeben ist, dann benötigen wir auch einen anderen Zugang zu unserem Leib als einen allein technischen, um dieses Selbstbewußtsein noch verstehen zu können. Damit der .Mensch sich selbst nicht allein in technischen Begriffen interpretiert, bedarf er scheinbar der Möglichkeit, eine zumindest nicht vollständig inrendjerte, hergestellte Natur zu erfahren. In einer Welt, in der der Mensch "draußen" überall mit eigenen Sinn konstruktion und Weltentwürfen konfrontiert ist, fehlen ihm die Begriffe, Metaphern und Deutungsressourcen, die es ihm ermöglichen, sich selbst als nicht-artifiziell zu deuten. Im Naturverhältnis artikuljert sich ein zentraJes Moment des eigenen Selbstverständnisses, wie auch immer das philosophjsch zu interpretieren ist. Der technische Umgang mit der Natur hat Konsequenzen für die Möglichkeiten, unser Lebensumfeld und teilweise auch unser SeJbstverhältnis zu gestalten, für die Art unserer politischen Konfliktsituationen und für das Verständnis von uns selbst und der sub-humanen Natur. Nun steht diese skizzierte politische und philosophische Bedeutung des Naturverhältnisses in krassen Gegensalz zur Bedeutung, die dieses Thema in der politischen Philosophie und der politischen Praxis erfahrt. Trotz der Bedeutung des Naturverhältnisses für unser Selbstverständnis und für alle politischen und sozialen Dimensionen gibt es keinen herausgehobenen Ort djeser Dimension im Sclbstbild einer liberalen Demokratie, die es von anderen materialen Themen, die es poliLisch zu regeln gilt, unterscheiden würde. Zu den essentiellen Momenten einer rechtsstaatlichen Demokratie zählen bestimmte Verfahren zur Partizipation an Institutionen und Beschlußfassungen, zur Ermöglichung eines Interessenausgleichs und zur Sicherung zentraler Grundrechte. Nun taucht in diesem Zusammenhang Natur weitgehend als Randbedingung gesellschaftlichen Handelns auf, der bei politischen Regelungen Rechnung zu tragen ist. Die benannten Probleme und Konflikte sind in diesem Kontext also vornehmlich Knappheirsgesichtspunkte, die einer gerechten Verteilung zugeführt werden müssen oder aber Herausforderungen im Hinblick auf die Spätfolgen technischen Handeins, die es durch erneute technische Anstrengungen zu verarbeiten gilt.
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Etwa: i\hnfred Frank, "Ist Selbstbewußtsein ein propositionales Wissen?" In: ders., SdbJlbeullWlsein lind SelbJltrlemnlniJ. EJJf!JJ ZNr analyHJrhtn Phi/ofoph;e der Subjele/;v;liil,
Stullgan 1991, S. 206-251.
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Aktuelle Debatten
Ein weitergehender Schutz der Natur scheint im Widerspruch mit den Fundamenten einer liberalen Fre,iheitsordnung. Eine Beschränkung von Freiheitsrechten im Hinblick auf den Schutz der Natur bedarf einer eigenen Rechtfertigung, die in einer liberalen Rechtsordnung schon deshalb problematisch ist, weil die Natur oder Teile derselben nicht selbst als Rechtsträger auftreten können und die Erhebung von Natur zu einem KolJektivgut, das Freiheitsrechte be~ schränkt. den Bereich vertretbarer Freiheitsbeschränkungen problematisch erweitern würde. Alle Versuche, den Kreis der Rechtsträger seinerseits auf natürliche Einheiten auszudehnen, scheinen aber die Struktur von Rechtsverhältnissen in problematischer Weise zu gefährden. In weitgehend anthropozentrisch kon struierten Rechtsverhältnissen sind Belange des Naturschutzes allein dann zu berücksichtigen, wenn (nachweisbar) zentrale Belange des Menschen berührt werden, also seine Lebensgrundlage bedroht ist. Das klingt alles recht einfach, ruft jedoch eine ganze Reihe von wichtigen Debatten in der Umweltethik hervor. 4
3. Naturbeherrschung in geschichtsphilosophischer Perspektive Nun bietet sich in der Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Deutungszusammenhängen an, die Naturbeherrschung weit zentraler mit Grundelementen der praktischen Philosophie, Geschichte, Politik und dem Selbstverhältnis des Menschen vermitteln. Naturbeherrschung scheint für die Dialeklik der Alljkliirung mit fundamentalen Momenten der menschlichen Existenz zusammenzuhängen. Die Emanzipationsgeschichte des Menschen ist als Widerstand gegen die Übermacht der Natur zu begreifen. Naturbeherr schung mithin in der Sprachenrwicklung gegeben, im Versuch des Menschen, der Übermacht der Natur ein Fratzenbild entgegenzuhalten, den Schrecken der Natur durch Benennung zu bannen und schließlich sprachlich eine eigene Ordnung der Dinge zu erschaffen. Naturbeherrschung gibt das Vorbild für jenes Ausgreifen von Herrschaft ab, das dann als Totalität von Herrschaft auch in allen Sozialverhältnissen und dem Selbstverhältnis des Menschen zur Anwendung kommt. Auch wenn die Herrschaft über Natur nicht als von anderen Herrschaftsformen isoliertes Thema in Erscheinung tritt, wird das Drama der Naturbeherrschung anschaulich benannt: Der Mensch muß sich von der Übermacht der Natur emanzipieren und wird gleichzeitig durch die Konsequenzen der Totalisierung von Herrschaft gefa'.hrdet. Naturbeherrschung wird in Sprachentwicklung, Subjekt-Objekt-Spaltung und Rationalitätskonstruktion verankert gleichsam in der conditio humana. 5 Der Mensch schwingt sich zum Herrscher über die Natur 4
s Mall: Horkheimer und Theodor W. Adorno, "Begriff der AufkJärung", in: dies., Diulektik der AMfkliirung. Philosophüche Fragl1lente, Frankfurt
2.
M. 1969, S. 7-41.
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Düwdl, Nalurbeherrschung und Versöhnung
auf, und aus dieser Grundbewegung und den daraus erwachsenden, wenngleich nicht beabsichtigten dialektischen Gegenbewegungen sind Geschichte und Po· litik zu verstehen. In der Lokalisierung von Narurbeherrschung in der mensch· lichen Sprachlichkeit gibt es zudem einen breiten Konsens. Wenn Adorno und Horkheimer Sprache als Abwehrbewegung gegen Narurübermacht ausmachen, Benjamin in der Sprache eine "totalitäre Nützlichkeitsideologie"6 am Werke sieht und Heidegger den Verlust an Gelassenheit - "als Möglichkeit, das Sein· zu·lassen'" -, so wird deutlich, daß die TOtalität von Herrschaft fundamental in die Sprachlichkeit eingelassen ist. un isr diese Interpretationsfolie einer TOtalität von Herrschaft, die aturbeherrschung und gesellschaftlkhe Zusammenhänge in einen gemeinsamen In· terpretationshorizont rückt, durchaus aus einer Reflexion auf Sozialverhältnis· se erwachsen. In Frankfurt wurden Studien zu sozialen, politischen und kultu· rellen Phänomenen durchgeführt, in Utrechr Modernisierung als Projekt mit allen Paradoxien untersucht. 8 Kritische Sozialwissenschaft war in erster In· stanz Betrachtung des Sozialen und legte die Totalität von Herrschaft und somit auch von Naturbeherrschung als tieferliegende Interpretationsebene hinter der Betrachtung deformierter Sozialverhältnisse frei. Dieser Schritt wird je· doch im Hinblick auf die Veränderungen im Umgang mit der atur bedeut· sam. Der Stand \'on Technik und Naturbeherrschung hat dann etwas zu tun mit den Grundlagen von Humanität und Gesellschaftsformung. In Zeiten, in denen Natürlichkeit bedroht ist und zugleich die Reaktionen von Natur auf technische Enrwicklungen als Bedrohung erlebt werclen, bekommt diese Tiefenhermeneutik der Abgründe der Moderne eine besondere Dramatik. Zukünftigen Frankfurter Generationen wollte es nicht mehr so recht ein· leuchten, das Drama des historischen und sozialen Geschehens im Horizont eines Natur und Geschichte übergreifenden Herrschaftsgeschehens zu inter· pretieren. Stau Geschichte und Politik als Ausfluß einer Dramatik des Subjekts hinsichtlich des aturverhältnisses zu sehen, sollte die Sphäre des Historisch· Politischen in ihr eigenes Recht gesetzt werden. Das Drama instrumenteller Rationalität wurde im Rahmen vorgängig kommunikativer Verhältnisse inter· pretien und Anerkennungsrelat.ionen als Interpretationsfolie von histOrischen Zusammenhängen gewählt. Das Drama der Naturbeherrschung verschwand so weitgehend aus dem Blick, erschien als Relikt einer sprach philosophisch noch unerleuchreten Subjekt-Objekt.Metaph)'sik. licht allein in Frankfurt. sondern auch an vielen anderen Orten erfuhren seit den siebziger Jahren praktische Philosophie, politische Philosophie und Ethik eine Renaissance. In diesem Zu·
6 Willem van Reijen, Dtr S{hu:(J'Z"'ald "nd Pan·i. Htidtggtr untl Benjamin, München 1998, 157.
s.
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Ebd., S. 145.
8
Hans van dn 1..00 und Willem van Reijen. Modmrüitnllll.' Projtlu ehen 1992.
,,"t1 PariJtlox,
Mun-
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Aktuelle Deb2uen
sammenhang wurden Kategorien des Politischen, des Sozialen, des Handeins und der lormauvitih in vielfacher Hinsicht weiterentwickelt, so daß auch differenzierte Lageeinschätzungen und -bewertungen möglich werden. Einzelne politische Phänomene. konkrete Entwicklungen von Kultur und Technik wer· den nicht mehr nur als Symptom oder als Vorboten einer (un-)heilsgeschichtlichen Großwetterlage interpretiert, sondern sind Phänomene mit individueller Signatur. Es werden Kriterien für gute oder veranrwortbare Politik diskutiert. Es werden Unterscheidungen möglich. Geschichte ist nicht mehr Unheilsgeschichte, das Ganze nicht eo ipso das Unwahre. Für geschichtliche Veränderungen kann weder von Fonschrittsgarantie noch von apokalyptischen Erwartungen selbstverständlich ausgegangen werden. Nun scheim es so zu sein, daß .. aturbeherrschung" als 'Iotiv ihren zentralen Platz bei der Konstituierung von Politik, Kultur und Geschichte eingebüßt hat. Allenfalls am Rande diskutiert Habermas neuerlich Probleme des Eingriffs in die menschliche Nacur. 9 Im Zuge neuer gen- und bio technologischer Möglichkeiten ergibt sich für Habermas die Frage, ob nicht Fundameme sozialer Anerkennungsverhältnisse problematisch werden, sobald das biologische So-Sein von Menschen zum Gegenstand von Emscheidungen gemacht wird. Auch J\'lichel Foucault, der in der hier angedeuteten Theorienfamilie vielleicht als französischer Kousin in Erscheinung treten mag, emdeckt Naturbeherrschung als Randphänomen sozialer Machtrelationen. Nach Analysen von Machtkonstellationen in Klinik, GeHingnis, Wissenschaft und Sexualität erscheint ihm die sich formierende "BioMacht" als radikale Strategie der ße-mächtigung der menschlichen Natur. Radikale Naturbeherrschung ist insofern nicht mehr Konstituens von Kultur, Politik und Geschichte, sondern vielmehr ein Grenzphänomen und zugleich eine Bedrohung derselben. Aber es wird als Phänomen von anderen Projekten des Menschen umerscheidbar und ist nicht mehr notwendig in die conditio humana eingelassen. Jndem die aturbeherrschung ihren geschichl'sphilosophischen Ort einbüßt, verändert sich allerdings auch der Ort der damit verbundenen Versöhnungsperspektiven. 1O Vor allem wird das Ästhetische nicht mehr in gleicher Weise der Ort von Versöhnungserw:\rtungen. In verschiedenen theoretischen Kontexten wurde erwartet, daß im Kontext ästhetischer Bemühungen Spuren anderer Welt- und SeJbstverhältnisse aufscheinen. Laut Heidegger entreißt das Kunstwerk die Elemente der Lebenswelt ihren alltäglichen Zusammenhängen und rückt sie in einen anderen Horizont, der als Auf-riß der Wahrheit des Seins gesehen werden kann und wodurch auch außerhalb des Ästhetischen
9
10
Jürgen I-Iabermas, Die ZlilelinJi dtr mtnJthlirhtn Na/llr. Allf dtl1/ W'tg ZII ti,ur libtralm Eil· gmile? Ff2nkfurt 2. 1\-1. 2001. Albrecht \l'e11mer, ..Wahrheit. Schein. Versöhnung. Adornos 2sthetische Renung der Modernität", in: ders., ZNr Dif1lt1eJi!e JYJ" Modmlt lI"d POJ/",odmlt. Vtnullljikritile nf1rb Adomo, Fra.nkfurt 3.. M. 1985, S. 9-47.
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung
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Wahrheit ge-stiftet wird. 11 Benjamin erwartet eine neue Perspektive auf die Geschichte von einer ästhetischen Radikalisierung der Moderne. In Adornos Ästhetik, die so stark auf abstrakte Kunsrwerke konzentriert ist, erhäh das Narurschöne geradezu eine Schlüsselposition. Das Naturschöne ist für Adorno nicht ein Residuum von ästhetischer nmittelbarkeit vor aUer kultureUen Ord4 nung. Es ist auch nicht - wie rur Hegel - allein ein Element, das in die Vorgeschichte der Ästhetik eingeordnet werden muß. Noch weniger ist es als ästhetische Kompensation für technische Naturbeherrschung zu begreifen l2 . Adorno erhofft vielmehr Rettung des Nicht-Identischen in künstlerischen Konfigurationen. Technik, also Narurbeherrschung, wird im Medium des ästhetischen Scheins radikalisiert, und in diesem Vorgang läßt das Kunstwerk Versöhnung aufblitzen. Dabei denkt sich Adorno das Naturschöne als die Zielvorstellung des Kunstwe,rks. Das Kunstwerk strebt dem 1 aturschönen nach, um in der Weh technischer Artefakte den Schein von Versöhnung auf-scheinen zu lassen, den das Naturschöne bewußtlos antizipiert. 1J Nicht Natur als solche, aber das Naturschöne scheint ein Versprechen abzugeben auf Versöhnung jenseits des Banns von Herrschaft!4. Die Einlösung dieses Versprechens ist geschichtsphilosophisch weder garantiert, noch hat das Versprechen selbst irgendeine andere Basis als das Erleben des Menschen, darüber kann Adornos objektivi 4 stische Schreibweise nicht wirklich hinwegtäuschen. Und gleichwohl wird hier ein Moment von Versöhnung faßbar, ohne das wir vielleicht nicht einmal eine Vorstellung hätten, wie ein versöhntes Verhältnis zur Natur überhaupt vorstellbar wäre. Zugleich ist diese Idee des Narurschönen auf eine Realisierung im Kunstwerk angewiesen, um zur Anschaulichkeit zu gelangen. In der neueren Diskussion ist diese Entdeckung des Naturschönen vielfach wieder aufgegriffen worden.!5 Charakteristisch für diese Diskussion ist jedoch die Ablösung von geschichtsphilosophischen Perspektiven. Das alurschöne
Die KunSI iSI Geschichle in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichle gründel." Martin Heidegger, Dtr UrSpTH"1, dn KunsllNTkJ, Slullgart 1982, S. 80. 12 joachim Riller, "Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft;', in: ders., SNbjeklit:iliil, Frankfurt a. M. 1974, S. 141-163. 13 "Kunst fislj, anstalt achahmung der Nalur, Nachahmung des Naturschönen." Theodor w. Adorno, AJlhrliJ{he Theorir, Frankfun a. ~1. 1970, S. 111." atur hat ihre Schön heil daran, daß sie mehr zu s:agen scheint, als sie iSI. Dies Mehr seiner Kontingenz zu entreißen. seines Scheins mächlig zu werden, als Schein ihn selbsl zu bestimmen, :als unwirklich :auch zu negieren, ist die Idee von Kunst:' Ebd., S. 122. Jot "D:as alUrschöne ist der in die Im:aginalion tr:lnsponiene, d:adurch vielleicht :abgegoltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang de.r Vögel; kein Fühlender. in dem e[w:as von europäischer Tradition überlebl, der nicht vom Laut e.iner Amsel nach dem Regen geruhrt würde. Dennoch lauen im Ges:ang der Vögel d:as Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorchl, der sie befangt." Ebd., S. 104 f. 15 Martin Seel, E;,tt AJIIHtik drr NalNr, Frankfurt a. M. 1991. Marcus Dü",,'e1I. ASlhrlü{hr Erjahf'1inl, Nnd Moral ZNr BedeMlunl, dn ASlbtlisrhm Jiir dir HanJlNngupielräMme du Mmuhrn, Freiburg, 2. AuO. 2000. Anne Kemper, Unt!erftigbare NatNr. /iJlbelik. A"lhropologit M"d Elhik du UmlJ'el/JlhNlzu, Frankfurt a. M.. New York 2000. 11
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Aktut:llt: Debatten
wird nicht aufgrund seines utopischen Poremials geschätzt. Die ästhetische Erfahrungsmöglichkeit von Natur ist vielmehr eine wesentliche Dimension des menschlichen Lebens, die Wertschätzung verdient, da uns hier ästhetische Formationen begegnen, ohne von r...lenschenhand mit der Absicht geschaffen zu sein, eine ästhetische Wirkung zu enrfaJten. Das aturäSlheusche ist auch deshalb wertvoll, weil es uns eine bestimmte Distanz zur Kultur eröffnet, ohne damit eine Sphäre vor-kultureller Unschuld zu eröffnen. Angesichts der Bedrohung von Landschaften und natürlichen Räumen hat das Offenhahen dieser Erfahrungsmöglichkeir auch eine moralische Dimension. Aber ist damit auch eine Perspektive auf Versöhnung verbunden?
4. Natur als Thema der praktischen Philosophie Die Interpretation des Verhältnisses von Geschichte und Natur in der Perspektive von Entfremdung, Herrschaft und Versöhnung scheint dem Drama des Menschen mit der ihn umgebenden arur und seiner eigenen biologischen atur Rechnung zu tragen. Die EntwickJung von Technik und Politik sind nicht zu verstehen, ohne die Dynamik, die aus dem Kampf um Narurressourcen und die Beherrschung der Natur erwächst. aturbeherrschung und soziale und politische Herrschaft hängen intern zusammen. ~:Gt der wachsenden Beherrschbarkeit der Natur des J\·fenschen wird dieses Herrschaftsverhältnis qualitativ noch einmal gesteigert. Nun ist diese Dimension jedoch in den Ansätzen liberaler politischer Philosophie sowie den an Anerkennung von AutOnomie orientierten modernen Moralphilosophien kaum zu erfassen. Natur erscheint hier als Ressource, die allenfalls unter Aspekten der Veneilungsgerechtigkeit wichtig erscheint; atur wird unter Begriffen von Nutzungsrechten und Besitzansprüchen reflektiert. Liberale politische Philosophie konzentriert sich darauf, wie die Freiheit des Einzelnen zu der aller anderen in einem Verhältnis steht (oder stehen sollte) und ob bzw. wie Ungleichheiten an Besitz und EntwickJungschancen ausgeglichen werden können oder sollen. Dabei können diese Verhältnisse als Verfahren des Interessenausgleichs im gleichförmigen Interesse aUer, als Selbsterhaltung bestimmter Gruppen, als Anerkennungsverhältnisse oder als Respekt:ierung moralischer Rechte konzipiert werden. Wir müssen uns an dieser Stelle nicht auf ein spezielles Konzept \'on ·foralphilosophie oder politischer Philosophie festlegen. In der Moderne scheint das aturverhältnis den sozialen, moralischen oder rechtlichen Verhältnissen äußerlich, als Besitzverhältnis nur in Verlängerung der individuellen Freiheit interpretierbar. Die Diskussion ist in der Umweltethik natürlich weit differenzierter, als es meine schematischen Überlegungen erscheinen lassen. So wird versucht, die auf Menschen bezogenen Rechtsverhältnisse durch Einbeziehung künftiger Generationen und durch einen Schutz von Landschaften, als Lebensraum des Menschen, weiter und differenzierter zu fassen. Von anderen Umweltethikern
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung
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wird dafür plädiert, die bisherigen ganz auf den Menschen orientierten Konzeptionen von Moral und Politik hinter sich zu lassen und auch nicht-menschliche Naturentitäten jcne moraljsche Rücksicht zukommen zu lassen, die wir uns gegenseitig schulden. Dieser leuere Schrin stellt jedoch einen weitgehend inflationären Gebrauch sozialer, moralischer und poLitischer Begriffe und Kategorien dar, der im Hinblick auf die Konsequenzen für den Schutz von Individualrechten extrem fragwürdig iSt. 16 Ohne das hier im einzelnen begründen zu können, scheim es zumindest plausibel, die kJassischen Schutz konzepte in Moral, Recht und Politik um Aspekte des Umwelt- und Naturschutzes zu erweilern und zugleich die Begriffs- und Kategorienbildung, die aus menschlichen Sozialverhältnissen emstammen, zu belassen. Für diese Operation ist eine philosophische Reflexion, die auf Versöhnung jenseits von Herrschaftsverhältnissen orientiert ist, wohl kaum erforderlich. un ist auch in anderer Hinsicht der Erklärungs- und Orientierungswert eines Geschichts- und Politikkonzepts fraglich, das aus der Beherrschung von Natur seine Dynamik gewinm. In einem Versöhnungskonzept sind im Grunde alle Fragen auf das Verhältnis von Geschichte zu einem ihm transzendemen Zustand gerichtet. Angesichts des stetcn Rückbezugs zur Transzendenz bleibt die D).namik innerhalb der Geschichte gleichsam stabil. Die konkreten historischen Phänomene sind allesamt nur ein Verweis auf ein Jenseitiges. Wenn Naturbchcrrschung und ihre fatale Dynamik in das Wesen von Technik und Poljtik eingelassen ist, steht alle geschichtsinterne Entwicklung untcr dem steten Vorzeichen der fatalen Entwicklung, ohne das weitere Differenzierungen möglich und sinnvoU sind. Die Erläuterung histOrischer Enrwicklungszusammenhänge steht unter diesem abstrakten Vorzeichen, und die Möglichkeit, konkrete Entwicklungen von aturbeherrschung und Technjkenrwicklungen normativ zu beurteiJen, emfallt. Die geschichtsphilosophische Rückbindung des Mensch-Natur- Verhältnisses scheint also aus vielerlei Gründen problematisch, wenn es um das Verständnis und die moralische und politische Beurteilung unseres praktischen Umgangs mit Natur gehl. Zugleich ist das Naturverhältnis jedoch von zemra· ler Bedeutung für unsere politischen Gestaltungsräume und das eigene Selbstverhältnis. Insofern ist die Auseinandersetzung mit Narurbeherrschung oder aIlgemciner dem Umgang mit atur nicht ein materiales Thema neben andercn, sondern eine unvermeidliche Herausforderung für unser moralisches und politisches Selbstverständnis. Wenn wir aber Natur jenseits totaler aturbeherrschung denken, setzen wir den Standpunkt der Versöhnung zwar nicht als
16
Dazu: ta Eser. "Einschluss St2tt Ausgrenzung _ Menschen und ':uur in der Umwehethik". in: Marcus Düwell und Kbus Sleigleder (Hrsg.), BitNthik. Ehre Ei".flihnmg, Fnnkurt 3. M. 2003. S. 344-353. l\hrcus Dü",'ell. "Zum Verhältnis von Elhik und Recht - umweltelhische Perspektiven", in: Monik3 Bobben, l\hrcus Düwell und Kurt Jax (Hrsg.), UmM,tlt- Ethik - Ruht. Tübingen 2002, S. 8-28.
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Aktuelle Debatten
utopisches Telos voraus, aber doch als Bezugspunkt der Reflexion; zumindest transzendieren wir die Bahnen unserer jetzigen kulrucellen und zivilisaroci· sehen Möglichkeiten. Das Verhältnis zur arur, die Begrenzung technischer Verftigba.rkeir und die Möglichkeit, das eigene Selbsrverhälrnis anders als in technischer Selbstverfügung zu denken, sind von zentraler Bedeutung für die Konstüuierung moralischer und poLitischer Subjektivität. Naturressourcen sind nicht allein Gegenstände des Besitzes, die allein unter Vertcilungsgesichtspunkten bedeutsam sind. Die Existenz freiheitlicher Gesellschaften, die Möglichkeiten von eigenverantwortlichem Handeln und die Selbstwahrnehmung als moralische Subjekte sind mit der philosophjschcn Antwort auf das Verhältnis des Menschen zur Natur in der fortgeschrittenen Moderne intern verbunden. Dabei ist es keine verantwortbare Möglkhkeit. den Differenzierungsgewinn von Demokratie, Menschenrechten und geregelten Machtverhältnissen mit eschatologischen Versöhnungsperspektiven einzuebnen. Für Ethik und politische Phjlosophie ist es jedoch eine zentrale Aufgabe, ihre Kategorien, Begriffe und materialen Gegenstände unter der Perspektive zu reflektieren, ob ein Verhältnis zur Tarur gedacht werden kann, das nicht auf Naturbeherrschung reduzien bleibt, und seinen Stellenwert zu bestimmen.
Gunzelin Schmid
1
oerr
Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? Zur Legitimität der moralischen Fragen nach dem Allgemeinwohl
1. Technikethische Argumentation: ein Beispiel Ethik der Technik ist der Versuch, philosophische Grundsätze für den Umgang mit der Technik zu formulieren. Dieser Ansatz geht über die ..Ingenieurethik" und die entsprechenden "codes of ethics", wie sie lange Zeit bestimmend waren, weit hinaus. Abgesehen davon, daß diese Form der Technikethik überwiegend als Erbauungsrhethorik gefragt war, können die Möglichkeiten und Folgen des technjschen Handelns nicht einzelnen Entwicklern allein zugeschrieben werden. Start dessen geht es bei der Ethik der Technik heute um nicht weniger als um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welches Verständnis vom Menschsein wir haben. Wie zweifelhaft die Einschätzung der Technik fortwährend ist, wird beispielsweise in bezug auf die Gentechnologie deutlich, eine der neuen Biotechnologien, bei der auf der Basis der Molekularbiologie an der Veränderung von Erbinformationen gearbeitet wird. Zur alltäglichen Realität gehört, trotz entsprechender Ankündigungen, bislang zwar noch nicht der geklonte Mensch, wohl aber die gentechnologische Veränderung von Pflanzen im Interesse ihrer effizienteren ökonomischen Verwertung bei der Erzeugung von Lebensmitteln. Die Rjsiken und Nebenwirkungen werden in diesem Fall in der Packungsbeilage nicht aufgelistet, sie sind teilweise immer noch ungeklärt. Für die Politik ergab sich daraus die über mehrere Jahre hinweg erörterte Frage, ob gemechnisch veränderte Lebensmitt.e1 im Verkauf entsprechend gekennzeichnet sein müßten. In der Diskussion darüber vertrat ein Genforscher die Ansicht. ein solches Gesetz sei abzulehnen, da es in sich unlogisch sei. Emweder nehme man ein gesundheitliches Risiko genmanipulierter Lebensmittel an, dann müsse man deren Herstellung umersagcn, oder man sei von ihrer Unschädlichkeit überzeugt, dann bedürfe es keiner Kennzeichnungen und entsprechender Oberwachungsregelungen. Welcher gesetzgeberische mgang bezügljch dieser Frage war also erforderlich, Verbot oder Kennzeichnungsverzicht? Diese Frage ist inzwischen durch einen formeIJen Beschluß zugunsten der
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Aktuelle Debatten
Kennzeichnungspflicht politisch entschieden. 1 Gerade weil der Fall (wenigstens vorläufig) abgeschlossen ist. erlaubt er start ungewisser Vermutungen in Richtung Zukunft eine Fallstudie am überschaubaren Objekt. Gegenstand der Ethik ist dabei weder die Beurteilung des tatsächlich vorhandenen gesundheitlichen Risikopotentials noch die Analyse politischer Enrscheidungsverfahren, sondern die kritische Sichtung von Argumenten und die Bewertung der Entscheidung unter Kriterien des Allgemeinwohls, d2S heißt der moralischen Ausgewogenheit konfligierender Interessen. Was ist von der Argumentation jenes Genfofschers zu halten? Er selbst gab keine direkte Empfehlung, sondern wollte die politische Entscheidung nur eindeutig an die Einschätzung des Gefahrdungspotentials dieser Lebensmittel gekoppeh wissen. Das Mißliche daran war und ist allerdings - und das scheint typisch für alle komplexen technologischen Projekte in der .,RisikogesellschaÜ" zu sein -, daß keine Einigkeit hinsichtlich der Abschätzung der Folgen besteht. Die Experten sind oft nicht weniger uneins als die Laien. Und was als wissenschaftlich objekti\'e FeststelJung präsentiert wird, ist dem Verdacht ausgesetzt, durch politische. ökonomische oder persönliche Interessen mit bestimmt zu sein. Das läßt ein eindeutiges und alJseits überzeugendes rteil über die nschädlichkeit gentechnisch veränderter Lebensmjttel bis auf weiteres kaum zu. Würde wenigstens umgekehrt, aus einer erwiesenen Schädlkhkeit solcher Lebensmittel, zwingend folgen, daß sie zu verbieten seien? Ein logisch gültiger Schluß wäre dies nicht unbedingt. Denn eine normative Schlußfolgerung ("Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind zu verbieten") kann nur dann gezogen werden, wenn auch unter den Prämissen schon ein normativer Satz ist. wenn also die Prämissen nicht nur aus TatsachenfeststelJungen (..Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind schädlich'') bestehen. Allerdings scheint der Genforscher impli~t genau eine solche normative Voraussetzung gemacht zu haben, nämlich die Annahme: "Schädliche Lebensmittel dürfen nicht produziert werden". Dies leuchtet aber als Regel nur dann ein, wenn keinerlei Vorteile mit diesen ahrungsmitteln verbunden wären. Daß ansonsten auf negative Folgen eines Produkts nicht unbedingt mit dessem Verbot reagiert wird, zeigen Beispiele wie strahlenbelastete Pilze, Zigaretten, Automobile oder AtOmkraftwerke. Deren Schadensporentiale gelten als Risiken, die entweder von den einzelnen nach ihrem eigenen Ermessen in Kauf genommen werden oder von einer f\'lehrheit der politischen Repräsentanten allen Gesellschaftsmitgljedern zugemutet werden. Die Unbutimmthtil der tatsächlichen negativen Folgen erlaubt es, daß die Risiken trotz allem akzeptiert werden.
Ende November 2Q02 einigten sich die EU-Agrumi ni ster auf Regeln zur Kennzeichnung technisch \'erindener Ld)(:nsnUuel. Demnach müssen ubensmiuel dann zwingend ~kennzeichnet werden. u'enn sie mindestens zu 0,9-/. gentechnisch veriindene Organismen beinh:ahen. Diese Prozentzahl ist weile:r umstriuen. Immerhin bezeichnete ein Sprecher der Umweltorganis:ation Greenpeace die Regelung 1lIis weltweit beispielhaft.
Schmid Noerr,
W20S
hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
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Wir kommen so zu einem erSten Ergebnis, daß die bei den alternativen Annahmen einerseits zu unsicher. andererseits in sich unstimmig sind. Das bedeu· tet a~r auch. daß die AI/erna/it't selbst JalSfh kons/f7/ierl ist. Tatsächlich beging unser Genforscher den - wiederum typischen - Fehler, einen Teilbereich sei· nes eigenen, engeren Tätigkeitsfeldes als maßgeblich für das Problem im gan· zen auszugeben. Dieser Teilbereich ist die Verträglichkeit der Lebensmittel in bezug auf die körperliche Gesundheit, wobei er offenbar auch annahm, daß dies hier und jetzt feststellbar sei, also von der Unbestimmtheit langfristiger Folgen absah. Nun gibt es jedoch offensichtlich auch andere wichtige Bereiche, die von technologischen Eingriffen betroffen sein können, z. B. die natürliche Umwelt oder die persönliche Autonomie. Diese dürfen bei einer solchen Entscheidungsfindung nicht unberücksichtigt bleiben. Hinsichtlich der na/iirlichen UmnIl blendete der Experte die Folgen aus, die dadurch eintreten können, daß die genmanipulierte Pflanze unter Freilandbedingungen teils weiter mutieren, teils auf andere Bios)'steme einwirken kann. Damit können. so wird gelegentlich behauptet, gefahrliehe Kettenreaktionen ausgelöst werden. die schlechthin unüberschaubar sind. Allerdings betrifft diese Frage tatsächlich nicht erst die Kennzeichnung der Waren für den Verkauf, sondern schon die Zu lässigkeit der Produktion der Ausgangsorganismen. Ein anderer zu beachtender Bezugspunkt ist die Autonomie der Konsumenten. Er ist hier von maßgeblicher Bedeutung. Selbst wenn die Mehrzahl der Experten von der Unschädlichkeit der neuen Technologieprodukte überzeugt wäre, dürfte diese Ansicht den KOnJNmenten nicht oktroyiert werden, solange es bei einem quantitativ relevanten Anteil der Bevölkerung Vorbehalte gegenüber genmanipuliert'en Lc:bensmitteln gibt. Ein gesetzlicher Verzicht auf Kennzeichnung genmanipulierter Lebensmittel, der vorrangig den Verkaufsinteressen folgte. würde die Autonomie der Konsumenten unangemessen beeinträchtigen, zu der, im Rahmen der eigenen Belange, auch die Freiheit des Nichtwissens und der persönlichen EOlscheidung aufgrund von Irrtum gehört. Unter Einbeziehung vor allem der Respektierung der persönlicher Entscheidungsfreiheit kommen wir also zu dem Ergebnis, daß eine Kennzeichnung der Lebensmittel moralisch geboten ist, und zwar selbst dann, wenn die Mehrzahl der Experten von ihrer Unschädlichkeit überzeugt wäre. Das unter diesem Aspekt erfreuliche Resultat der tatsächlich so erfolgten politischen Entscheidung demonsuien die ethische Folgerichtigkeit wenigstens einer EinzeIentscheidung. Das besagt allerdings noch wenig über ethisch geforderte Steuerungs. möglichkeiten in anderen Bereichen technischer Entwicklungen und ihrer Auswirkungen. Charakteristisch für die politische Entscheidungsfmdung ist, daß ethisc.he Argumente niemals in der hier angeführten Reinform vorkommen, sondern immer in einer komplexen Gemengelage von Meinungen, Interessen, Kompetenzen und Betroffenheiten. Deshalb ist im nächst.en Schrift zu überle· gen: Wie bewerten wir Technik?
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Akruelle Debatten
2. Bewenungsweisen der Technik In der gegenwärtigen Technjk-Philosophie wird die Technik zu Recht nicht mehr als Inbegriff von Maschinen aufgefaßt, sondern als HandJungss)'stem, das angemessen nur als komplexe, sich geschichtlich wandelnde Konstellation von Nawf, Apparatur, technologischem Wissen, Gesellschaft und Kultur verstanden werden kann. "Technik" ist nicht nur die Gesamtheit der Verfahren und Geräte zur Bearbeitung der Nawr. sondern um faßt auch deren Erzeugung, Gebrauch, Beseitigung und Wirkungen. Damit ist sie als sozin/tI JjslenJ zu verstehen. "Sozial" bestimmt sind Techniken, insofern ihre Einführung und ihr Gebrauch von gesellschaftLichen (ökonomischen, politischen, kulturellen) Fak4 [Oren maßgeblich mitbestimmt werden und wiederum auf die Gesellschaft zurückwirken. "System" ist die Technik in ihren am weitesten entwickelten GeHalten, insofern wir sie nicht mehr, wie Werkzeuge btnNfZtn oder wie Maschinen btditntn. sondern in ihr Itbtn. 2 Das heißt, wir können uns ihren Auswirkungen oft auch dann nicht entziehen, wenn wir von ihr selbst keinen Gebrauch machen wollen. Die Technik Stellt ein Mtdium dar, in dem wir leben, in dem der geselJschaftliche Austausch vor sich geht und das selbst eine Art sozialer Ordnungsmacht wird. Aber die rechnische Enrwicklung ist, so übermächtig und eigendynamisch sie sich auch vollzieht, doch niemals ahernativlos. Technik iSt keineswegs wert neutral, sondern in sich normativ determiniert und determinierend. Unabdingbar wird sie von den Beteiligten und Betroffenen btJJltrltf. Die Bewertung geschieht implizit oder explizit, auf Grund von scheinbar selbstverständlichen Voran nahmen, Wunschbildern oder in Form von Argumentation. Für deren Rationalität gibt es verschiedene Kriterien. Die nächstliegende Form der Bewertung iSt die insl17ilfltnltllt, die die Frage beantwortet: Ist das technische Mittel tauglich zur Erreichung des damit verbundenen Zwecks? Sodann wird iikonollliscb bewertet: Lohnt sich der Aufwand angesichts des Ertrags? Des weiteren stellen sich polifiscb-slroltgüc!Jt Fragen: Schadet oder nützt das Produkt dem Image des HerstelJers? Lassen sich Produktion und Verkauf politisch durchsetzen? Alle solche instrumentellen. öko nomischen und politisch stratcgischen Bewertungen stellen Nlltzm-Kolkiile dar, wobei sich der Nutzen auf einen einzelnen, eine Gruppe, eine Institution oder die Gesellschaft als ganze beziehen kann. Bewertet wird Technik hjer unter Regeln der Klughtit: .. Es ist klug, A zu tun. um B zu erreichen." Betrachtet man die Technjk nach KJugheitsregeln unter einem übergeordneten, möglichst objektiven Gesichtspunkt, dann betreibt man dtsknplillt Technikfolgenabuhiitzung. Diese zeigt die faktischen oder zu erwartenden Resultate und damit das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten unter gegebenen Bedingungen und Zielvorstellungen auf. 4
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2
Vgl. Christoph Hubig, Eva Jelden, "Werkzeug, Maschine, System", in: Christoph Hubig,Jürgen Albers (Hrsg.), TuhniJebunrlung, \Xleinheim 1995, S. 13 fr.
Schmid Noerr, \,\'as hilft die Ethik bei der Einschät2ung der Technik?
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Dieses Spektrum wird nun eingegrenzt durch die normotivt Technikfolgenbtll,trlung. ..Tue A, wenn du B erreichen willst" bleibt eine bloße ModeUreeh· nung, solange nicht entschieden ist, ob tatsächlich B oder vieUeicht besser C erreicht werden soll. Die Kriterien der Technikbewertung, der Abwägung positiver und negativer Wirkungen, sind in der Gesellschaft heute vielfach kodifi· ziert. Solche Regelungen reichen von berufsspezifischen Verhaltensnormen über die politischen Grundrechte bis hin zu speziellen Gesetzen (zum Beispiel der Gefahrdungshaftung) und technischen Normen (zum Beispiel Sicherheits· vorsch ri ften). Darüber hinaus gibt es aber auch ein breites Spektrum von ungeschriebenen, im geschichtlichen Fluß befindlichen moralischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Sie betreffen beispielsweise das, was wir uns unter Begrif. fen wie Menschenwürde oder Freiheit inhaldich vorstellen. \'(lelche moralischen Normen Geltung beanspruchen können und welche nicht, dies ist nun die Fragestellung der Ethik. Implizit kommt sie mit jeder moralischen Ausein· andersetzung ins Spiel. In expliziter Form ist sie eine Theorie der moralischen ormen und \'(/erte und der Prüfung ihrer Geltungsansprüche. So geht es bei der Ethik der Technik unter den Bedingungen einer technologisch bestimmten Gesellschaft darum, die unerläßlichen Entscheidungen darüber, wie wir leben wollen, auf die ihnen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien hin zu klären und der Überprüfung zugänglich zu machen. Die verschiedenen Bewertungsweisen der Technik lassen sich folgendermaßen zusammenfassend darstellen: Kriterien der Bewertung
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KJugheitsregeln
lOstru· ökonomcnleU misch
ethische Prinzipien
politisch Wene
individuelle \'(/ette
Grundrechte
soziale Werte
Gesetze
Normen
soziale Normen
moralische Normen
Standesregeln
Poscul:He der Technikfolgenabschätzung
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Akluell~
Debatten
Nun ist mit dieser formalen Aufgliederung noch nicht gesagt, welche Bedeurung den einzelnen Bewerrungsinstanzen tatsächlich zufallt. So könnte die Annahme. daß wir heute üben.viegend nicht mit, sondern in der Technik leben, auch bedeuten, daß ethische Erörterungen kaum mehr liefern als nachträgliche Rechtfertigungen im Kampf widerstreitender Interessen. Die neuere Diskussi· on um die Möglichkeiten der Technikethik schließt dabei fast nahtlos an die Auseinandersetzungen um das Verhälmis von Politik und Philosophie an, die ihrerseits so alt wie diese selbst sind.
3. Distanz der Philosophie von der Politik Seit jeher hat die Philosophie Maßstäbe für Vernunft und Gerechtigkeit formul.iert, die für das soziale Leben und so auch für die politische Praxis gehen sollten. Doch die Erwartung, mit ihren Theoremen auf dje politische Praxis einzuwirken, wäre heute mehr denn je naiv. Auch muß der plamnische Gedanke, poljtische Macht und Philosophie sollten in einer Hand zusammenfallen, der Philosophie heute zutiefst suspekt sein. Als Strukturmerkmal demokratischer Herrschaft gih die Gewaltenteilung. Nicht nur die poljtischen und recht· lichen Institutionen sollen unabhängig voneinander agieren und sich wechselseitig kontrollieren, auch die öffentliche Meinung und die sie beeinflussenden Kräfte der Publizistik, der Wissenschaften - und gegebenenfalls auch der Phi· losophie - übernehmen im Idealfall autonome Funktionen. Durch die Pluraljtät aller gesellschaftlichen Beobachtungsinstanzen sollen die negativen Folgen von hchtballungen möglichst eingegrenzt werden. Dabei lebt die Fruchtbar· keit der philosophiuhtn Beobachtung nicht zuletzt von der gedanklichen Risikobereitschaft und Radikalität, während die f"tthllidu und dtmoleroliJtht Zähmung der politischen Macht eher auf die Minimierung von Lebensrisiken zieh. Die gesellschaftlichen Teilsysteme, auch und gerade das der Technik, haben gegenüber moralischen Einwänden eine uneinholbare Eigendynamik ange· nommen. In dieser Perspektive erscheint die Ethik dann weniger als Mittel zur Krisenbewältigung denn selbst als ein Krisensympmm. Diese Ethikskepsis bezieht sich nicht auf die mangelnde Stichhaltigkeit dieses oder jenes ethischen Arguments oder auch eines bestimmten ethischen Ansatzes, sondern grundsätzlich auf die Möglichkeit einer moralisch motivierten Beeinflussung gesell. schaftlieher Systeme. Einer entsprechenden Illusion gilt Ulrich Becks Spott, der im technik philosophischen Diskurs fast schon zu einem geflügelten Wort geworden ist: "Die Ethik spielt im Modell der verselbständigten Wissenschaften die RoUe einer Fahrradhremse am Interkontinental flugzeug."] Der Grund damr liegt in der Erfahrung der Omnipräsenz der Technik und den damit zusammenhängenden Steuerungsproblemen. Die heute erreichte
)
UIrich Beck. Gege"giftt. Die orgnnisitrle UfII'trn"lWorllühluil, Fnnkfurt a. l'.1. 1988, S. 194.
Schmiel Noerr, Was hilfl die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
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Stufe der TechnikenrwickJung ist durch die Dominanz der wissenschaftlichen Technologie bestimmt. Mit ihrer Hilfe durchdringt die Technik die Welt als ganze, beherrscht und vereinheitlicht sie zunehmend. Selbst aUtägJjche Gebrauchsgüter werden zunehmend zu technologischen Produkten, deren Konzeption, Design, Herstellung, Verteilung und Restebeseitigung mit wissenschaftlichen Methoden berechnet werden. Da der mögliche Gebrauch der Technik nicht durch ejnen einmal vorgesteUten Zweck determiniert ist, ist sie in ihrer Funktion und in ihren Folgen unbestimmbar. Das wird an Risiken von Folgewirkungen deutlich, dje die natürlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie auftauchen, nachhaltig verändern. Diese sogenannten "evolutionären Risiken"4 (neben denen des gemechnischen Eingriffs in die biologischen Erbsubstanzen zum Beispiel die der Klimaveränderung durch Abgase) sind erst in dem Maße in ihren ökologischen, ökonomischen, gesundheitlichen oder sozialen Folgen bestimmbar, in dem sie eimreten. Die Reichweite der Wirkungen technischer Handlungen hat extrem zugenommen, und je abstrakter die Ursache-\XIirkungs-Zusammenhänge werden, desto weniger individuell verantwortbar wird Technik. Durch die Vorherrschaft der technologischen Rationalität wird die Moral in die ische privat-exjstentieller Wertemscheidungen zurückgedrängt, und dadurch moralische Vernunft rur unmöglich und das Bedürfnis danach für uneinlösbar erklärt. Daß auf die ethische Diagnose hin die politische Intervention erfolgt, ist höchst unwahrscheinlich. So hat sich das Mißverhältnis zwischen instrumenteller Rationalität und moralischer Kultur zur Identitätskrise unserer Zivilisation ausgewachsen. Die Feststellung, die Möglichkeiten moralischer Einsprüche stünden in einem krassen J\'lißverhältnis zur Dynamik der technologischen Ent\.\'ickJung, ist selbst eine ethische Diagnose. Angesichts der unmittelbaren Ohnmacht ethischer Reflexion gibt es immerhin tintn Grund, an dieser festzuhalten, einen Grund, der sich aus dem Zweifel an ihrer Wirksamkeit selbst ableiten läßt: Solange wir ihre Wirkungslosigkeit beklagen, setzen wir voraus, daß das Richtige oder Bessere doch erkennbar bleibt. Aber noch dieser mögliche Haltepunkt ethischer Reflexion wird jedoch von s}'stemtheoretisch-soziologischen Einwänden gegenüber der Ethik für unmöglich erklärt.
4. Zu Luhmanns Kritik der Ethik Niklas Luhmann hat seine Kritik der Ethik auf die Formel gebracht, die Ethik könne sich selbst nicht unter das subsumieren, was sie zum Gegenstand habe, nämlich das moralisch Gute. nler "Ethik" versteht Luhmann zunächst allge-
•
Vgl. Wolfg.lIng Krohn, Gerh2rd Krücken (Hrsg.), RisluJ"fe Tubnoltlgü,,: &jk:o..·ion lind Rq,ltlo/;on. Fnnkfurt a. M. 1983.
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Aktuelle Deballcn
mein die theoretische Reflexion dessen, was moralisch für richtig oder gUI gehalten wird, wobei er dann allerdings die deskripLive Ethik (als soziologische Beschreibung und Deutung des Moralischen) gegenüber der normativen Ethik (als philosophische Begründung und Rechtfertigung des moralischen Sollens) privilegien. Als empirisch faßbare Entsprechungen rur moralische Werte sieht Luhmann Achtung und Mißachtung an. Entsprechend bestimmt er Moral als "eine besondere An von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung und ~'Iiß achtung mitführr",5 Luhmann hält die - sei es deontischen, sei es konsequentialistischen - Begründungen der normativen Ethik zwar nicht von vornherein für falsch, aber angesichts des heutigen Stands der Moral und des ethischen Problem bewußtseins für unangemessen. "ivtoraJ" erscheint so in einer soziologisch-externen Perspektive und nicht, wie in der philosophischen Ethik vorrangig, in der internen Perspektive der moralisch Urteilenden selbst. Luhmann konzeptualisien die moderne Gesellschaft (etwa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) als System, das nicht mehr hierarchisch, sondern funktional gegliedert ist. Auf diese \'(leise differenziert sich die Gesellschaft in jeweils autonome Teilsysteme, zum Beispiel \'(lissenschaft, Politik, Recht, Kultur, Schule, Liebesbeziehungen (und eben auch Technik). Diese funktionieren entsprechend einer je besonderen binären Codierung. In der Wissenschaft gilt vorwiegend das Kriterium "wahr/unwahr", in der demokratischen Politik die Entgegensetzung "Regierungs macht/Opposition" usw. Das Neuartige dieser Codierungen gegenüber vormodernen Gesellschaften besteht nun nicht zuletzt darin, daß sie sich von der Codierung "moralisch gut/schlecht" abgekoppelt haben. Während die vormodernen Gesellschaften durch weitgehend statische Rollenzuweisungen und moralische Normierungen integriert waren, existiert in der ~Ioderne kein normatives Zentrum mehr, das den Anspruch erheben könnte, die Entfaltung der djsparaten Handlungssysteme zu steuern. Auch d:as moderne Leitbild individueller Autonomie taugt nicht zu einem solchen Zen trum, weil es bloß formaler Art ist und die einzelnen in ihren Handlungspräferenzen inhaltlich gerade nicht festlegt. Jedes gesellschaftliche Handlungssystem hat also seine eigenen Funktionskriterien, die mit dem moralisch Guten und Schlechten nichts zu tun haben, ja mit diesen Bewertungen im Interesse ihres Funktionierens nicht vermischt werden dürftn. Die moralische Kommunikation ist nun aber auch kein Funktionssystem unter anderen, denn sie bezieht sich nicht auf jeweils systemspezifische Leistungen, sondern eben :auf die Achrung oder Mjßachrung einer Person als ganzer. Das bedeutet, daß sie soziologisch gesehen orllos und adress:atenlos geworden ist, über:all und nirgends zugleich, fast immer störend. Keineswegs, so Luhmann, fördert die moralische Kommunikation die ihr zumeist zugesprochene Bereitschaft zu Gewaltlosigkeit, vielmehr ist ihr die Tendenz zum pole4
,
Niklas Luhm:mn. l'aradigm 10$1: Ober dit elhiJrh, PJPt:x·io" dtr ,oHoral, Frankfurt 1989, S. 17 f.
t. 1\'1.
Schmid Nocrr, Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
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mischen Überengagement inhärent. Keineswegs haben dje besten Absichten immer die besten Folgen, wie ja auch umgekehrt verwerfliches Handeln auch gute Folgen haben kann. Das macht es grundsätzlich zweifelhaft, nach moralischen Gesichtspunkten zu entscheiden. Keineswegs lassen sich Risiken, die von Großtechnologien wie der atomaren oder biochemischen Industrie ausgehen, mit Aussicht auf Konsens moralisch bewerten, da die damit zusammenhängenden Präferenzen bei den verschiedenen Handelnden und Betroffenen ganz unterschiedlich verteilt sind. Kurz, die I"loral ist grundsätzlich zu schwach, um den einzelnen Funktionssystemen Imperative aufzuzwingen und so deren Pluralität noch in eine Einheit zu integrieren, aber stark genug, um andere Personen mit Eifer und Aufdringlichkeit aus dem Bereich des vorgeblich Guten auszuschließen. Moral ist, so eine von Luhmanns feinsinnigen, eher entlarvungspsychologischen Beobachtungen, eine Kompensation des latent gehaltenen Willens zum Totschlag. 6 Vor diesem Hintergrund gesehen, bestand die den verschiedenen philosophischen Ethikentwürfen der Moderne gemeinsame Hauptaufgabe darin, die Moral durch vernünftige Begründungen gleichsam zu zivilisieren. Luhmann bestreitet nun aber, daß ihnen dies gelungen sei. Während sie immer weiter nach der vernünftigen Begründung moralischer Urteile fahndeten, geriet ihnen die wirkliche moralische Kommunikation in der Gesellschaft aus dem Blick. Der Einwand richtet sich gegen das Herzstück dieser Ethiken, den Praxisbezug ihrer Theorie. Die ethische Reflexion der Moral sollte rationale Begriindtmg des richtigen HandeIns und zugleich anleitende Motivation zu diesem Handeln sein. Dieser Spagat zwischen Theorie und Praxis mußte, so Luhmann, mit dem Ausschluß des moralisches Codes aus den autOnomen Funktionssystemen mißlingen. Wodurch die moralische Praxis tatsächlich geleitet wurde, dies waren nicht vernünftige Begründungen, sondern Restbestände hierarchischer Sozialstrukturen und Sozialisationsleistungen. Indem die herkömmliche Ethik dies und die schwerwiegenden Ambivalenzen des r-,'loralischen ausblendet, schreibt sie sich selbst eben das fraglos zu, wovon sie handelt, nämlich moralischen Wert. Kurzschlüssig unterstellt sie, daß die moralische Unterscheidung "gut/ schlecht" und die ethische Empfehlung der ;"Ioral selbst immer schon moralisch gut seien. Luhmann zufolge steckt die normative Ethik also in einer doppelten Schwierigkeit. Sie ist blind gegenüber den Ambivalenzen und Grenzen der Moral, und sie begeht den logischen Fehler der Anwendung eines Codes auf sich selbst, die, analog zu einer Aussage wie der: "Dieser Satz isr falsch", unweigerlich zu Selbstwidersprüchlichkeitcn führe. 7 Die Frage, ob die Ethik 010-
, 7
Luhmann, "Ethik als Rcnexionstbeorie eier Moral", in: ders., GtJt/luhaflJJtntlUNr Hnd StouUJlik. Studien !{Hr lf/iJJtnssOiio1ogit dtr modtrntn Gtstlluhajt, Bd. 3, Frankfurt a. 1\'1. 1989, S. 367. Aber iSI die Analogie wirklich zwingend? Die AUloren des Glossars zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer SYSleme (Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Espo-
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Aktuelle Debauen
raUsch gut ist, erweist sich, im Sinne Luhmanns, damit als unentscheidbar. Sie ist Ausdruck seiner Infrageste1lung des moralischen Selbstverständnisses der Ethik. Luhmann zieht daraus den Schluß, daß es "die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik [heute istJ, vor Moral zu warnen"a, oder, weniger appellativ formuliert, den Anwendungsbereich der moralischen Kommunikation gesellschaftsrheorctisch zu limitieren und "sinnvolle Anwendungsbereiche von I\'[o~ Tal zu spezifizieren"9. Das klingt immerhin vernünftig. 1O Gerade im Fall des besonderen Gegenstands unserer Überlegungen, der Ethik der Technik, gibt es genug ernst zu nehmende Gründe, sich vor IUusionen zu hüten. Appelle an das Gute im Menschen haben zumeist keine Chance auf Gehör, vor allem wenn machtvolle interessen ihnen entgegenstehen. Und bloßes Moralisieren hilft nicht nur nichts, sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit von den entscheidenden Problemen ab. Aber muß nicht gerade auch eine ambivalenzbewußte und morallimitierende Ethik ihren Differenzierungen und Warnungen einen moralischen Wert zuschreiben? Ist der Zirkel der Selbstreferentialität überhaupt vermeidbar? Luhmann betont selbst, daß dies unmöglich ist, daß also "jede Begründung von Aussagen über Ethik und Moral selbstreferentiell angelegl sein muß"ll. Jedoch bleibt bei ihm unklar, was dies für die Ethik bedeuten soll. Einerseits will er den engen Zirkel der tIIoralischtIJ Selbstreferentialität durch den weiteren und unverfanglicheren Zirkel der so':(jologisdJen Selbstreferentialität (nach der auch Ethiker als Beschreiber moralischer Kommunikation gesellschaftlich kommunizieren) ersetzen. Andererseits gesteht er zu, daß die Ethik als Selbstreflexion der Moral in ei.nem strikten Sinn gar nicht anders kann, als sich selbst als etwas Gutes (und nicht erwas Schlechtes) zu wollen. Wenn es
SilO, Frankfurl a. r-,,1. 1997), das von einem souveränen überblick über die weitläufige Luhmannsche Theorielandschaft zeugt, paraphrasieren ausführlich das klassische Lügnerparadoxon, während sie dessen logische übertragung auf die funktionalen Systeme (5. 133) oder die Moral (5. 120) nur behaupten, nicht aber begründen. Die gesamte Lehre von den unvermeidlichen Paradoxien und ihrer "kreativen Asymmeuisierung" scheint vor allem dazu notwendig zu sein, um den theoretischen GebUrisfehler zu kompensieren, der in der sachlich unangemessenen Starrheit der ,.binären Codes" liegt. Wie ließe sich im Ernst Demokratie auf die Alternative Regierung-Opposition, wie die der Wissenschaft auf wahr-falsch, und wie die Moral auf die alternative Zuschreibung gut-böse reduzieren? 8 Luhmann, Paradigm 10$1, S. 41. - Warum aber sollte das Warnen und Mahnen des deskriptiven Ethikers grundsätzlich weniger steril sein als das von Moralisten, wie Luhmann es an Theologen des 17. Jahrhunderts <"gI. ebd., S. 11 f.) oder an sozialen Protestbewegungen der Gegenwart ("Ethik als ReOexionstheorie der Moral", S. 436) bemängelt? 9 Luhmann. "Ethik als ReOexionstheorie der Moral", S. 436. 10 Tatsächlich ist Luhmann ja nicht der erste Ethiker, der in moralischer Absicht die dunklen Seilen des Moralischen thematisiert. II Luhmann. Paradigf11 10$1, S. 35.
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aber grundsätzlich unmöglich ist, die Selbstreferentialjtät zu vermeiden, dann verliert Luhmanns Hinweis auf die Paradoxie einer sich selbst für gut hahenden Ethik ihr Gewicht und reduziert sich auf die Kritik an moralisch-ethischen Vorurteilen und die Abgrenzung einer empirischen Soziologie der Moral von der philosophischen Ethik. Zugleich zeigt sich, daß seine Ausblendung der nonnativen zugunsten der deskriptiven Dimension der Ethik etwas von einem dogmatischen Denkverbot an sich hat. Sie ist eine Konsequenz seiner empiristischen Perspektive. in der die menschliche Praxis als Resultat beobachtbarer Sysremsuukruren erfaBt wird. Normen und Werte, die doch im allgemeinen Verständnis zu moralischen Äußerungen motivieren, lassen sich nicht direkt beobachten. und deshalb ersetzt Luhmann die eigentlich moralischen Kriterien des Urteilens und Handelns durch äußere moralische Sanktionen, nämlich Achtung und l\'1ißachtung. Das Grundproblem aller empiristischen Ethikentwürfe (schon seit der englischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. etwa bei David Hume) besteht nun aber in ihrem Reduktionismus. Indem sie die Moral auf empirische Wirkungszusammenhänge reduzieren, verfehlen sie Grundelernente der alltäglichen moralischen Kommunikation wie Freiwilligkeit, Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit der Handlung sowie Unbedingtheit und Universalität der Verpflichtung. Das wird deutlich, wenn Luhmann Freiheit, die traditionell als unabdingbare VortJlIIJtIZIIIJg jeder moralischen Beurteilung angesehen wurde, als .. Nebenprodukt der Imoralischen] Kommunikation" erkJärt, nämlich als Möglichkeit, zu Geboten ja oder nein zu sagen. Freiheit ist aber im Selbsrverständnis der moralisch Handelnden kein empirischer Wirkungs zusammenhang. sondern die Voraussetzung, überhaupt Ja/Nein-Stellungnahmen abgeben zu können. Sie um faßt deshalb grundsätzlich mehr ab die Entscheidung innerhalb einer vorgegebenen Alternative, nämlich auch die J\·löglichkeit. sich der Alternative selbst zu verweigern und die Situation zu verändern, anStalt diese durch eine vorgegebene Wahl zu bestätigen. Luhmanns empiriStische Moraltheorie verfehh also letztlich genau das, was ihr Gegenstand sein soll, nämlich die gewöhnliche moralische Kommunikation in der Gcsellschafl. Ist Reflexion, in seiner Konzeptualisierung, die Selbstbeobachtung eines Systems als Gesamtheit, dann dürfte sein eigener Begriff von Ethik gar nicht den Titel einer "Reflexion der Moral" beanspruchen. Als externe Begründung geht es ihr um die Bewertung von Mond im Hinblick auf Alltrnalit'tn tllr Moral. Demgegenüber werden sowohl in der moralischen Kommunikation selbst als auch in der ethischen Kommunikation der Philosophie in internen Begründungen Allrntalit'tn ZU'iIfhrn ",oraliIrhtn Ein51tlhmgtn bewertet. Moralische GefUhle und rteile sind in der Tat soziologisch ..orllos", insofern sie kein eigenes gesellschaftliches Teils)'stem bilden, aber dies ist bloß ein Aspekt ihres Anspruchs auf universelle Geltung. Sie betreffen die Person als ganze, aber auch nichl nur deren individuelle Besonderheit, sondern diese in ihrem Verhältnis zum Begriff und zur ""löglichkeit des Personseins. Mit anderen Wonen, nämlich mit denen des Aufklärers Hurne, sie stellen eine ..Sympa-
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Aktuelle Debatten
thie mit dem Glück der lenschheit und eine Empörung über ihr Elend"12 dar. Sie haben ihren On und ihren Adressaten in den (bei Luhmann nicht mehr vorkommenden) Subjekten, insofern deren ReflexionspOtcnciale über ihre soziale Fungibilität überschießen.
5. Notwendigkeit und Chance der Technikethik Die Notwendigkeit der Technikcthik besteht darin, daß die gesellschaftlichen Probleme, die sich aus den neuen Technologien ergeben, im Kern moralische Probleme sind. Die Anwendungen dieser Technologien untergraben das mora+ lisch vordem Selbstverständliche, schaffen neue Unsicherheiten. Dadurch gewinnen elhische Argumente ein viel stärkeres Gewicht, als es innerhalb eines traditionell verläßlichen Horizonts moralischer Gewißheiten je hatte und zu haben brauchte. Diese Argumente können aber nur dann wirksam werden, wenn sie nicht in akademisch-sparten mäßiger Isolation ausgetragen werden, sondern wenn sie das kulturelle Selbstverständnis der Menschen, die die Technik produzieren und gebrauchen, aufgreifen. Darüber h.inaus müssen sie fortlaufend mit den Erfordernissen und Möglichkeiten in Verbindung gesetzt werden, die Regeln der instrumentellen, ökonomischen und politischen Klugheit abgesteckt werden. So fragt die Ethik der Technik nach den allgemeinen Voraussetzungen, unter denen die Technikbewertung nach Klugheitsregeln und ethischen Prinzipien implizit oder explizit vollzogen wird oder werden kann. Dabei kritisiert sie zwei entgegengesetzte Ansichten über die Technikentwicklung jeweils als Vereinseitigungen: Terhnik pis "Sa{'hzwpng'~ Diese Auffassung besagt, Technik verlaufe derart eigend)'namisch, daß sie sich nicht steuern lasse. Daß bloßes Moralisieren nichts hilft, ist sicher richtig. Der Auffassung von der Technik als "Sachzwang" liegt jedoch oft auch die unbefragte Hinnahme bestimmter normativer Determinanten (z. ß. hinsichtJich des Begriffs der Natur, des Fortschritts, der Gerechtigkeit, des ökonomischen Wachstums) zugrunde. Mit der Kritik an solchen technokratischen Auffassungen erweitert die Ethik der Technik den Frcihcitsspie1raum. Wenn sie überhaupt wirkt, dann nicht auf derselben Ebene wie die Technik. Becks Metapher von der Fahrradbremse am Interkontinemalflugzeug ist schief, weil sie suggeriert, den Wertewandel selbst als technischen Prozeß aufzufassen bzw. weil sie die Differenzen beider nivelliert. Situtnmg dtr Terhniletnf»!idehmg: Andererseits lassen sich auch falsche Erwartungen kritisieren, die sich an die Vorstellung einer ..Steuerung" der Technikentwicklung heften...Steuerung" ist nämlich selbst ein technischer Begriff und
12 David Hurne, Eine UnltrsJlCb'lng iibtr die Pri"t?pim der Mornl (1777), SlUttgart 1984, S.
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Schmid Noerr, \X'as hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
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nur anwendbar auf objektivierbare Sachzusammenhänge. MoraJische Verpflichtungen und Werte sind aber keine solchen verfügbaren Objekte, sondern Bestandteile unserer Identität. Sie wirken gleichsam hinter unserem Rücken und lassen sich nicht durch beliebige Verfügung verändern. Würden humane Leitbilder autoritär verordnet, dann gerieten sie schon dadurch mit sich selbst in Widerstreit. Eines der traditionellen ethischen Kriterien ist das des "größtmöglichen Nutzens für die größtmögliche Zahl", wie es der englische AufkJärer Francis Hut· chenson schon 1725 formulierte. Gerade im Zusammenhang der Technikbewertung spielt es eine wichtige RoUe. Jedoch wird durch die Folgeprobleme der zeitgenössischen Technologien auch die Grenze der Anwendung dieses Prinzips aufgewiesen. Im erwähnten Beispiel der politischen Regulation der Gentechnologie wären die Bürgerrechte auch nur Faktoren in der Nutzenbilanz, die gegen eine Verbesserung der Erträge verrechnet werden können. Darüber hinaus macht die Unbestimmbarkeit vieler Technologiefolgen eine zuverlässige Nutzenbilanz zumeist illusorisch. Die Ethik der Technik mu? die Achtung von Personenrechten in besonderer \X!eise auszeichnen. Personenrechte sind immer individuelle Rechte, mit denen die eigenen Enrwicklungsmöglichkeiten in der Abwehr gegenüber Ein· schränkungen seitens anderer Personenrechte geschützt werden sollen. Aus der Wechselseitigkeit dieser Perspektiven ergibt sich der Vorrang der negativen (Abwehr-)Rechte vor den positiven (Entfaltungs-)Rechten. Ein wichtiges Verfahrensprinzip hinsichtlich des Umgangs mit Technik ist öffentliche Transparenz, eine demokratische Kultur der Aufmerksamkeit und Information. Transparenz ist eine zentrale Forderung der Ethik der Entscheidungen. Schon bei Kam findet sich eine entsprechende Formulierung, dje geradezu auf den Umgang mit riskanten Technologien (wie die eingangs analy. sierte Gentechnologie) gemünzt sein könnte: "Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht".l) Publizität vertragen nur solche Verfahren, die seitens der Betroffenen auch zustimmungsf.ihig sind. Demnach ist eine Technik dann illegitim, wenn ihre handlungsleitende Moral nicht allgemein akzeptabel ist. Al· lerdings: Auch Transparenz ist nicht alles. Die Legitimation von Entscheidungen durch demokratischen Konsens beruht darauf, daß Entscheidungen prinzi. piell auch durch neue lll1ehrheiten rcvidierbar sind. Technik hat aber zunehmend unrevidierhare Folgen. Das iSI eine entscheidende Grenze des ethischen Dis ku rspri nzi ps.
13 Immanuel Kam, ZUIN rll!igm Frirdrn (1795), In: ders., SiiHllli,hr IlYrrkr, hrsg. von G. Hartenstein. Bd. 6, Leipzig 1868, S. 449.
Jan Bergstra und Alben Visser
Heilserwartung in der Informatik
1. Einleitende Bemerkungen Wir kennen \Villem van Reijen als einen pragmatischen Dekan. Gegensätze überbrückt er offenkundig mühelos, und Konflikte werden abgebaut, da er sehr unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander stehen lassen kann. Auch in seinem philosophischen Werk spielt es eine wichtige Rolle, scheinbar kaum miteinander verträgliche Autoren und Standpunkte zusammenzuführen. Willem wirft in seiner Antrittsvorlesung, die er kürzlich in Freiburg gehalten hat, die Frage auf: "Kann Philosophie politisch sein?" Er beantwortet diese Frage mit einem zweifachen Ja: Die eindeutig politisch ausgerichtete Philosophie von z. B. Habermas ist politisch, aber auch die Distanz zum politischen Alltag von Heidegger und Benjamin stuft er als politisch ein. Wir reformulieren van Reijens Frage im "orliegenden Beitrag folgendermaßen: .,Kann Informatik politisch sein?" nsere Frage ist mindestens ebenso sinnvoll wie die von van Reijen, da zwischen der Philosophit, von der in van Reijens Frage die Rede ist, und der Informatik in unserer Frage eine Reihe von Verbindungslinien bestehen - wie gezeigt werden soll. Auch wir kommen zu einer zustimmenden Antwort. Als Teil der Antwort benennen wir eine Reihe moralisch I gehaltvoller Ziele der Informatik, die wir als eine politische Agenda für die Informalik auffassen. Genau wie van Reijen sehen wir den politischen Aspekt sowohl auf einer expliziten als auch auf einer impliziten Ebene: Es gibt explizite politische Elemente auf der Agenda - aufgefachen in Bekämpfung von J\'lonopolbildun. gen über die Forderung nach offenen Regeln und offenen Quellen (open sources) bis hin zur Ermöglichung von IP-Adressen für jeden - und es gibt weniger explizite politische Elemente, wie etwa bestimmte Ansprüche an Computerprogramme und ihre Überprüfung mit Hilfe der Instrumente der Logik. Das letztere hat auch eine moralische und - auf der Ebene systemischer Zusammenhänge - eine poljtische Dimension. Unsere politische Informatik steht weit stärker .,auf den Barrikaden" als van Reijens Politische Philosophie, die
In diesem Beitrag hai das Ethürw Bezug zur Frage nach dem gulen Leben (Optionen) und du Morali$r/H Bezug zu dem, was ".jr uns als Menschen gegenseitig an Respekt schuldig sind (pnichten). Die philosophische Beschiftigung mit sowohl dem Ethischen als auch dem Moralischen nennen wir Ethik. NormatilJ werden wir in ei· nem weiten Vernindnis gebrauchen, so daß auch Vorschläge fUr die Gestaltung \'on Compulerprogrammen normativ sein können.
Bergstr-a/Visser, Heilserwarrung in der Informatik
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einen etwas beschaulicheren Charakter zu haben scheine Das hat seinen Grund vielleicht in einem i\'langc:l an Lebenserfahrung unsererseits.
2. In formatik und Philosophie Informatik ist die Beschäftigung mit dem Gebrauch und der Verarbeitung von Information, besonders im Zusammenhang mit dem Einsatz von Computern. Informatik ist zu einem großen Teil darauf gerichtet, wie Information verarbeitet werden "'''ß, und darauf, wie wir Computer einsetzen sol/m. Informatik hat daher sowohl einen - im weiten Sinne - normativen als auch einen technischen Aspekt. Wir werden in diesem Beitrag Inf0rmalik in einem weiten Sinne auffassen, so daß auch das Nachdenken über mehr praktische - im aLltäglichen Sprachgebrauch würden wir sagen: nicht-wissenschaftljche - Fragen bezüglich des Gebrauchs von Computern darunter fallt. In diesem Abschnitt werden wir - gewissermaßen als Prolegomenon - zuerSt dje Position der Informatik gegenüber der Philosophie etwas näher beleuchten. Informatik hat mit Philosophje und Mathematik gemeinsam, daß es sich dabei um eine apriorische Wissenschaft handelt. Das bedeutet nicht, daß Fakten in der Informatik keine Rolle spielen. Im Gegenteil kann die moderne Informatik nicht unabhängig von der Jakliuhtn Entwicklung der Computertechnologie gedacht werden. Es bedeutet \'ieimehr, daß Einsichten in der Informatik nicht den Charakter von Propositionen haben, die beanspruchen, eine unabhängig beStehende Wirklichkeit genau zu repräsentieren. Die Einsichten der Informatik beziehen sich vielmehr darauf, wie etwas besser sein kann. Buser ist hier ein sehr facenenreicher Begriff. Zum Beispiel kann ein Programm besser sein, wenn es schneller ist, wenn seine korrekte Funktionsweise gut zu erkennen ist, wenn es aufgrund seiner modulhaften Struktur leichter an neue Aufgaben angepaßt werden kann, usw. Informatik hat insofern durchaus einen praktischen Charakter. Informatik fUgt sich bruchlos in die philosophische Tradition von Leibniz, Lullus, Frege, Russcll, Lcsniewski, Tarsk.i und Quine. Diese Tradition beschäftigte sich mit der Entwicklung künstlicher Sprachen, die in bestimmter Hinsicht besser sein mußlen als natürliche Sprachen. 2 Wir können das Verhältnis der Informatik zur Apriorizität noch etwas besser formulieren. Schauen wir zuerst nach der klassischen Methode der Künstlichen Intelligenz (in ihrer naivsten Lcesart). Die zentrale Idee lautet: Vers/ehen d"rrh Htrs/tl/en. Diese Idee basiert auf folgendem Vergleich:
,
Mensch
object lrouve
das Rätsel
~Iaschine
objecl COnStrue
das im vorhinein Verstandene
Auch Heidegger kann als jemand gesehen ",,'erden, der eine neue Spnche entwickelte, um die Einsichl in d-as Sein besser ausdrücken zu können.
206
Aktuelle Debanen
Die Informatik beginnt mit der Einsicht, daß die zweite Gleichung unwahr ist oder - besser ausgedrückt - nicht ro ipso wahr ist. Aus der Tatsache, daß etwas - in der einen oder anderen Weise - menschliches Produkt ist, folgt noch nicht, daß wir dieses Erwas auch verstanden haben (in irgendeinem Sinne \"on Verstehen). Es gibt verschiedene Faktoren, die zu dem Nicht-Verstehen oder
der 1 icht·Verstehbarkeit beitragen. Da ist z. B. die Rolle des Ausprobierens, oder da ist das Faktum, daß ein kleines Stück Technologie das Produkt der Zusammenarbeit einer großen Anzahl Menschen mit sehr spezialisierten Tätigkeiten darstellt. Die Informatik stellt sich nun die konstruktive Aufgabe, mensch. liehe Produkte in den Bereich dessen zu bringen, was im vorhinein verstanden ist. Das Verstehen kann dabei gesehen \\'erden als Zweck in sich selbst, aber es hat noch eine Reihe weiterer Vorteile. So wissen wir von empirisch getesteten Programmen z. B, nicht sicher, wie diese sich in völlig neuen Kontexten verhalten werden. So ist es z,B, sehr schwierig ein unvollständig verstandenes Programm an neue Aufgaben anzupassen. Wir werden das übliche Verständnis von Infor1lJatik in diesem Artikel noch dadurch erweitern, daß wir auch mehr oder weniger moralische Überlegungen in ihren Aufgabenbereich einbeziehen. Wir denken, daß der Übergang \'om normativen Charakter der Informatik, wie sie in Abteilungen für Computer4 wissenschaften betrieben wird, zu den stärker moralischen Überlegungen dieses Artikc:ls ein weni~r großer Schritt ist, als man naiver Weise anzunehmen geneigt ISt. Worin unterscheidet sich nun die Infonnatik von der Philosophie? Es gibt keine Gründe anzunehmen, daß eine solche Grenze sauber gezogen werden kann. Die Informatik ist formaler, als es die Philosophie im allgemeinen ist, wenngleich z. B. die Logik als philosophische Disziplin auch nicht weniger formal ist als die Informatik. Die Informatik greift im allgemeinen nicht explizit auf die philosophische Tradition zurück, doch das gilt auch für manche analytische Philosophen. Darüber hinaus spielt die Logik, wie sie in der Philosophie verankert ist, in der Informatik eine wichtige Rolle. In der kognitiven Robotik - die von manchen übrigens mehr zur Künstlichen Intelligenz als zur Informatik gezählt wird - spielen philosophische Theorien zur Intentionalität eine wichtige RoUe. Die Informatik ist vor allem auf den Computer konzentriert. Aber warum sollte es nicht auch eine Aufgabe der Philosophie sein kön 4 nen, sich mit dem Compucer zu beschäftigen? Die starke Beschäftigung der Informatik mit Korrektheit scheint direkt an philosophische Anal)'sen anzu 4 schließen, wie etwa die Anal)'se des Wahrheitsproblems durch Tarski. Wenn wir nun die Blickrichtung verändern und von der Philosophie aus nach der Informatik schauen, dann \\'ird deutlich, daß es viele philosophische Fragen im Zusammenhang mit der Entwicklung \'on Computern gibt. Es gibt natürlich die Mensch 4Compurer4Analogie. Sie wird in der Künstlichen Imelli4 genz untersucht. Darüber hinaus macht die Entwicklung des Computers deutlich, daß unsere Umgebung abstrakter ist, als frühere Philosophen dachten. Typische Fragen in diesem Komext lauten etwa: IWas sthtn u,ir, .'tnn u,;r in tintn
Bergstra/Visser, Heilserwartung in der Informatik
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BildJfhirm schaNtn? 1l7as sind Gtgtnsföndt in tintnt COHlpNftr? Menschen können mit solchen Objekten in einem intentionalen Verhältnis stehen. Peter kann glücklich sein, wenn er den ersten Tyrannosaurus im Spiel Nanosaur erlegt halo Peter kann bereits auf der Suche nach dem zweiten sein. Ein besseres Verstindnjs der menschlichen Umgebung wird ipso factO ein besseres Verständnis vom Menschen darstellen. Der Computer ist eine Ausbreirung der menschlichen mgebung, eine AJlsbrrifNng du MtlIschtn. Die Mensch-Maschine-Imeraktion wird auch in der kognitiven Ergonomie untersucht. Ferner ist da der rätselhafte Erfolg der Apriori-Analyse vom Begriff des Algorithmus durch Turing. Diese Analyse beansprucht, den Begriff Algorithmus erschöpfend zu beschreiben. Wenn wir diesen Anspruch als überzeugend ansehen, dann fUhrt das unmittelbar zu Fragen nach den Strukturen von Einsicht und den Möglichkeiten der Wesensschau. Wenn wir den Anspruch hingegen nicht als überzeugend ansehen, dann benötigen wir eine ausgearbeitete Widerlegung von Turings Überlegungen. Die moderne Entwicklung der Quamencomputertechnologie scheim für diese Problematik unmittelbar relevam zu sem. Schließlich ruft die Entwicklung der Informatik moralische Fragen hervor, wie sie in Abschnin 4 unseres Beitrags veranschaulicht werden sollen; Fragen, die mehr in das Gebiet der Ethik fallen. Zusammenfassend können wir sagen, daß die Informatik - inklusive der akademischen Informatik - eine deutlich normative Seite hat. Sie ist sowohl auf Apriorizität gerichtet als auch auf einen kontingenten historischen Prozeß bezogen. In dieser Spannung gleicht sie der Philosophie. Und noch ein weiterer Bezugspunkt zur Philosophie ist hier zu ergänzen: Viele philosophische Probleme haben mil Gegenständen der Informatik zu tun.
3. Zweckoffene Technologie und Utopie Eine Technologie ist - grob gesagt - der Prozeß einer Enrwicklung und einer Anwendung von einem zusammenhängenden Ganzen von Ideen, Techniken und Apparaten. Wir zählen zu einer Technologie auch die Gesamtheit von Vereinbarungen, Prozeduren und Protokollen, die gemacht werden und gemacht werden sollen, um die Anwendung und die Entwicklung dieser Technologie zu regeln. Kurzum: Eine Technologie ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Diese Umschreibung läßt erkennen, daß auch moraljsche Überlegungen Teil einer als Prozeß verstandenen Technologie ausmachen. Die Ethik einer solchen Technologie kann nicht unabhängig gesehen werden von dieser Technologie selbst. Man könnte denken, daß eine Technologie vollständig in das Gebiet der Instrunlcmalität fallt. Die Rationalität, die den Gebrauch von Technologien bestimmt, wäre dann ausschließlich Zweck rationalität. Dies möglicherweise, weil eine Technologie selbst als ein ("litte! gesehen wird, das für ein bestimmtes Ziel
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Aktuelle Debatten
eingesetzt wird.) Wir geben im folgenden zwei Gründe an, warum diese Idee irreführend iSl. Zum Ersten ist eine Technologie selbst kein Instrument, sondern vielmehr Gener:uor einer Vielzahl von Instrumemen. Technologien sind oft zweckoffen (open ended). Das bedeutet. daß eine Technologie nicht einen vorgegebenen, in ihr Wesen eingebauten Zweck oder eine übergreifende Anwendung hat, sondern daß dje Entfaltung dessen, was wir mit der Technologie tun woHen und können, selbst Teil des EnrwickJungsprozesses dieser Technologie ist; Informations- und Kommunikationstechnologie (lnformacion- and Communication Technology = 1Cl) - der GegenWind dieses Essays - ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine solche zweckoffene Technologie. 4 Die Entfaltung von Zwecken einet Technologie ist selbst nicht notwendig zweckrational. Unser erster Grund, warum es irreführend ist. eine Technologie als ganze unter dem Label Jnstrumentalität zu sehen, besteht also in der Tatsache, daß die mit einer Technologie verbundenen Zwecke nicht einzigartig sind und auch nicht feststehen. Ein zweiter Grund besteht darin, daß die Entwicklung von Technologien zu einem Teil über uns kommt. Die Initiative und Entwicklung einer Technologie ist längst nicht immer als Wahl oder gar als wohlüberlegte Wahl zu verstehen. So behandelt z. B. Jared Diamond in seinem sehr unterhaltsam geschriebenen Buch den Aufstieg des Landbaus. achdem er darauf verwiesen hat, daß das Leben der frühen Bauern in vider Hinsicht unol/raJr.h"t'tr war als das Leben der Jäger und Sammler, schreibt er: (... 1 Wh:n actuall)' hapJXned was not 20 discovery of food production, nor 2n invention, as we might first assume. There was often not even 20 conseious choice between food produnion :and hunting.g:athering. I...) food production evolved as :a b)'-product of decisions m:ade \/o.ithout awareness of their consequences. 5 Neue Technologien werden oft überhaupt nicht als Fortschritt angesehen. Wohlbekannt ist der anfangliche Widerstand gegen das Auto. Jahrhunderte zuvor wurde die positive Wirkung der Schrift von verschiedenen Seiten durchaus skeptisch eingeschätzt. Wir erinnern an die wohlbekannte Passage im Phädrus,
)
Instrumentalitiü hat manchmal einen negativen Beiklang. Das Instrumentelle sei das Uneigentliche. Diese Bewertung scheint uns nicht berechtigt zu sein. Der wohlerwo· gene Einsatz eines Mittels, unl ein Ziel zu erreichen, ist :ausgesprochen menschlkh. Natürlich ist es f2lsch. wenn :alles um uns herum lediglich als Mittel angesehen wird, um Ziele zu erreichen. Jedoch aus der Tatsache, daß es falsch iSt, allein Pudding zu essen, folgt doch auch nicht, d:llß mit dem Pudding etw:llS nicht stimmt. .. Man könnte vielleicht denken. daß das Ziel von leT in der ErmägLichung eines weltweiten etzwerks von Informations- und Kommunikationsversorgung besteht. Selbst wenn dies zutrife, muß angemerkt werden. d:aß dieses so gesch:affene Netzwerk selbst ein ~[jttel fUr vielfältige weitere Zwecke d:arstellen würde. Ferner scheint es zweifelh:aft, ob z. B. Gruppenspiele via \"('eh sinnvoll als Information oder als Kommunikation bezeichnet werden können. 5 Jared Di:amond, GMffJ, Uf1llJ UffJ Jtul A JlMrl hi/tory oJ tL'trybod.J /or tht IMt I J,OOO JturJ. Vintage 1998, S. lOS f.
Bergstra/Visser, Hcilserwarrung in der InformlUik
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in der Pharao Thamus gegen den GOtt TQ(h - nach dieser Erzählung der Er· finder der Schrift - argumentiert, daß die Schrift zum achlassen des Ge· dächtnisses führen werde. Bisweilen treten Zukunftserwartungen in Verbindung mit Technologien dergestalt auf, daß eine Technologie verspricht, ein unmittelbar einleuchtendes Ziel volJständig zu realisieren. Der Erfolg der medizinischen Wissenschaft ehva soll dazu fuhren, daß ansteckende Krankheiten vollständig ausgerottet werden. Der Erfolg des L:lndbaus verspricht, dem Hunger in der Weh ein Ende zu bereiten. Je "offener" eine Technologie jedoch ist, desto djffuser sind solche Erwartungen. Im Fall von ICT wird die Zukunftserwartung durch dje Hypothese widergegeben, eine qualitativ gute und frei zugängliche ICT sei auch fur uns alle gut. Diese Zukunftserwartung geht davon aus, daß die Ent· wicklung und Ausbreitung von ICT erfolgen wird. Allein in welcher Richtung dies geschehen wird, ist nicht deutlich. Die Heilserwartungen in bezug auf ICT beziehen sich eher auf eine Situation idealer Entwicklung, in der eine angemes· sene Balance zwischen Freiheit und Kontrolle besteht und in der hinreichende demokratische Einnußmöglichkeiten auf diesen Prozeß gegeben sind. Die Utopie von leT kann wie folgt umschrieben werden: Man hofft :wf eine Welt, in der jeder mitdenken k2nn über und mit:lrbeiten bnn :In den ICT·Strukturen; eine Weh, in der im Grundutz rur jeden ein vergleichb:lrer Zugang zu diesen Strukturen besteht. so wie das jetzt bereits Hir Luft und Wasser angestrebt wird; eine \'(relt, in der wichtige lCT·Beschlüsse demokratisch und aufgrund von wissenschaftlichen Einsichten zustande kommen. In so einer Weh hai ein jeder das Recht. detaiUierte Einsicht in Struktur und Gegenstand von Computen)'. sternen zu erhalten, von denen seine/ihre Existenz abhängig ist sowie das Recht, daran - faUs gewünschl und auf Basis demokratischer Prozesse - Verinderungen vorzunehmen. Das ist eine \'I':'eh. in der jeder Zugriff hat auf die ihn selbst betreffende Information, die per Computer gesammelt, verarbeitet und \'erbreitet wird. Man beachte, daß diese topie sich nicht auf die Frage bezieht, welcher Gebrauch von dieser Technologie gemacht wird. Es ist kompatibel mit der Uto· pie, daß einige Anwendungen weniger wünschenswert sind. Es gibt verschiedene Hindernisse für eine gelingende Entwicklung einer Technologie. Wir nennen hier allein das Erbschaf[s·Problem (Iegacy problem). Frühere Investitionen in Gegenstand A verhindern, wegen Kompatibili[ätsproblemcn, weüere Investitionen in Gegenstand B. obwohl B - wenn es in ent· sprechendem Maßs[ab eingefUhrt wird - unter den heutigen ms[ändcn deut· lieh besser ist als A. Ein weiteres Problem ist die Bildung von Monopolen. Es kann z. B. ein ;"'Ionopol auf den Gebrauch einer Technologie geben. Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung der Schrift. Sowohl der Gebrauch von Kon· sonanten als auch der Gebrauch von Spatien (Zwischenräume zwischen den einzelnen Wörtern) sind Techniken, die das Lesen effizienter machen. Sel[sam ist nun, daß vor der EinfUhrung von Buchstaben in das phönizische Alphabet aUe mediterranen Sprachen mit Spatien geschrieben wurden. Mit der Einfuh· rung von Buchstaben verschwand das Spatium, und man ging über zur scriptu-
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Aktuelle Debatten
ra continua. Es gibt ausführliche Belege dafür, daß die Verbindung von Buch4 staben mit Spatien ein viel effizienteres Lesen möglich macht als die Ve""cndung von Buchstaben ohne Spatien. Das Fehlen eines Zwischenraums zwischen den Wörtern macht lautes Lesen beinah unvermeidlich. Warum ging je. doch eine werrvoUe Technik einfach so verloren? Paul Saenger nennt in seinem Buch eine Reihe möglicher Gründe. 6 Einer davon hat mit der Tatsache zu tun, daß der Gebrauch der Schrift einer Elite vorbehalten war. FinalJ)'. the notion thai the greater portion of the population should k autonomous and sdf-motivated readers ,,'as entirdy foreign [0 thc ditist literate mentaliry cf the andent ",orld. For thc litcrau:, the rc:action 10 thc difficulties of lexic:l1 :lccess uising from scriptur:l cominu:l did not sp:lrk tbe desire tO m:lke SCripl e:lsier [0 decipber, but resulted instead in tbe deleg:ltion of mucb of tbe labour of reading and writing to ski lied slaves, who acted as professional readers and scribes. It is in tbe context of a society with an abundant supply of cheap, intellec[u:llly skilIed bOOr tbat andent attitudes toward reading must be comprehended and the ready and pervasive acceptance of the suppression of ward separation throughout the Roman Empire undcrstood.
Angenommen, daß Saengers Hypothese zutrifft, ist es interessant zu sehen, daß die Tatsache, daß das Lesen einer Elite vorbehalten war, bremsende Wirkung auf die Entwicklung der "Lesetechnologie" hatte und daß die Auswirkun· gen dieser bremsenden Wirkungen mithalfen, das "Leseprivileg" bestehen zu lassen. In diesem Beispiel h:u ein 'Ionopol auf einen Gebrauch automatisch ein Monopol auf die Entwicklung zur Folge. Im Fall von ICT haben wir häufiger mit f\'lonopolen zu tun, die aIJein auf die Entwicklung der Technologie bezogen sind. In Abschnin 4 werden wir auf die Rolle von Monopolen in ICT näher eingehen. Gegenüber der oben beschriebenen Heilserwartung - die teilweise technologieintern ist - steht. so wie wir es bei einer zweckoffenen Technologie erwarten können, auch eine Unheilserwartung, Fluch und Schrecken. Diese ist durch George Orwell und Aldous Huxley bereits treffend zum Ausdruck gebracht worden. Der schnelle Aufstieg von ICT hat in wenigen Jahren (allerdings doch etwas langsamer als Orwell unterstellt hat) die technischen Voraussetzungen für solche - durch diese Autoren beschriebenen - unheilvollen Zustände geschaffen. Die heute denkbaren Unheilsszenarien erhalten jedoch durch Zufügung einer Portion Biotechnologie an die ICT einen noch viel unangenehmeren Charakter.
4. Ethik und Computer Fünf aktuelle Anknüpfungspunkte von Moral bzw. Ethik an die Entwicklung der Informatik \\'erden im folgenden behandelt. Dabei wird unter ..Informatik"
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P:lul S:lcnger, Space bt/nm .·vmls. Tbt orig;,r
0/ sik", rtoJi"/,, $t:lnford
1997, S. 9-14.
B~rgstra/Viss~r. H~ils~r.l.'arlung
in
d~r
Informatik
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hier eher der aktuelle Stand der Umsetzung des Fachgebiets verstanden als die Wissenschaft selbst. Es ist allerdings im Falle der Informatik schwierig - wenn nicht unmöglich -, die Entwicklung der Wissenschaft unabhängig vo~ der technischen Entwicklung zu sehen. Die fUnf Punkte werden in Gestah von Zielsetzungen formulien, die uns moralisch vorzugswürdig erscheinen.
4.1 Das Vermeiden technischer Monopolpositionen Monopole sind seit Marx ein Thema der Philosophie. Allerdings dachte Marx dabei in erster Linie an Monopolkapital. Wir sind bereits auf Monopoltechnologien eingegangen. Eine technische Monopolposition von einem oder mehreren Lieferanten und/oder Produzenten setzt die Öffentlichkeit dem Druck aus, entweder mit unzureichenden Systemen zu arbeiten oder aber sich der Gefahr auszusetzen, von der ICT-Technologie gänzlich ausgeschlossen zu werden. Ein technisches Monopol kann verhindern, daß Neuerungen, die man aus ethischen Gründen durchführen sollte, auch wirkljch durchgesetzt werden. (Beispiel: Wenn alle Verbrennungsmotoren der Welt aus einer Fabrik kommen, wird es schwierig, eine Verschärfung der Emmissionsnorm durchzusetzen.) Monopole können auf dem Niveau von Systemen oder auf dem Niveau einzelner Komponenten bestehen. Bei der Bekämpfung von Monopolen wird die Priorität bei der Bekämpfung auf Systemniveau gesetzt. Dabei wird das Gesamt der Software auf einem Computer (oder einem Audio.Video·System oder einem mobiJen Telefon) als ein Systemni\'eau angesehen, während verschiedene Software-Komponenten (wie etwa ein Web-Browser oder ein Textverarbeitungss)'stem) auf Komponentenniveau anzusiedeln sind. Die Bekämpfung von technischen Monopolpositionen geschieht gewöhnlich dadurch, daß Betriebe, die zu groß geworden sind, aufgeteilt werden, um eine Konkurrenzsituauon zu erzwingen. Innerhalb der Informatik ist das auch möglich. Allerdings ist dabei wichtig, darauf zu achten, daß innerhalb der Informatik System- und Komponentenniveau strikt unterschieden werden müs· sen. Die historisch problematischen Monopole befanden sich auf Produktruveau, während die Informatik auch von Monopolen auf Systemniveau ausge· hen muß. Um gegen diese anzugehen, ist das Erzwingen von Angleichungen an offene technische Standards eine vielversprechende Handlungsopcion; so \'ielversprechend, daß der Gebrauch von offenen technischen lormen selbst als etwas aufgefaßt werden kann, das unmittelbar
4.2 Das Arbeiten mit technischen
ormen: offene 5[andards
Technische Normen umschreiben Anforderungen an Produkte. Innerhalb der Informatik beziehen sich Normen oft auf die Art und Weise, in der Produkte
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Aktuelle Debanen
:lnein2nder anschließen. Technische 1 ormen sind offen, wenn jeder von ihnen Kenntnis erlangen kann. Offene technische armen geben jedem Produzen~ ren die Möglichkeit, TeiJelememe herzustellen, die in ein Ganzes eingepaßt werden können, das möglicherweise auch aus Teile1cmenren besteht, die von anderen Produzenten hergestellt worden sind. Das Durchsetzen von techni+ sehen Normen wird als der aussichtsreichste Weg angesehen, MonopolbiJdungen auf System niveau zu verhindern. Auf Komponentenniveau können n::l.{ÜClieh stets Monopole bestehen oder entstehen, aber mit diesen kann man einfacher umgehen. Die moralische Vorzugswürdigkeit des Arhcirens mit offenen technischen Normen gegenüber geschlossenen technischen Normen folgt aus dem AntiMonopol-Prinzip.7 Diese Überlegungen hinsichtlich offener technischer Tormen und die folgenden berlegungen über offene bzw. freie Quellen sind weitgehend von der nterscheidung zwischen Software und Hardware abhängig. Diese Unterscheidung erscheint zur Zeit als eine Errungenschaft, die sich dauerhaft durchgesetzt hat. Es ist allerdings möglich, daß Entwicklungen in der Hardware diese Unterscheidung unterlaufen. Man beachte, daß eine Software-Komponente in einem System eine auswechselbare Komponente ist. Vollständig integrierte Hardware hat keine auswechselbaren Komponenten, genausowenig wie das Gehirn eine präzise zu lokalisierende oder gar abtrennbare Komponeme "Niederländische Sprachkompetenz" aufweist. Neben dem öffentlichen Charakter von offenen Standards (demokratisches Eigentum) ist auch eine offene Art der Entwicklung dieser Standards wichtig. Innerhalb der Internetgemeinschaft ist bereits seit zwanzig Jahren ein systematischer und überall 2..Is ehrlich und demokratisch angesehener EntwickJungsprozeß im Gange. Dieser Entwicklungsprozeß selbst ist seinerseits wieder ein offener faktischer Standard. l\·h.n möchte denken, daß offene technische Normen lediglich ein Instrument darstellen, um Monopole zu durchbrechen. Aber der Besitz von solchen Normen ist auch in Zeiten von Bedeutung, in denen Monopole erwünscht sind, weil diese Normen die Bedingungen schaffen, unter denen ein Monopol zu allen Zeiten wieder aufgebrochen werden kann, sofern dafür eine Notwendigkeit besteht. Aus diesen Gründen ist das Streben nach offenen technischen ormen ein geeignetes, eigenständiges Element auf der Tagesordnung einer politischen Informatik, unabhängig von den konkreten Effekten bei der Zerschlagung von Monopolen.
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Ein ~merkenswertes Beispiel findet man in einem Intef\'jew mit Klus undsman in: Monique Kooijmans, .. 11 vragen over de computer \':I.n prof. dr. Klus Landsman". UvA·Unk, 35, S. 14-15, ovember 2002. Er macht don in :lußergwöhnlich scharfen Formulierungen einen Lieferanten rur den Mangel an einheitlichen, offenen Standards an der Universitäl von Amsterdam veranrwort.lich.
Bergstr2/Visser, HeiJscrwanung in der Informatik
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4.3 Offene Quellen Wenn man nun auf das Komponenten·Niveau hinabsteigt, so gibt es neben offenen Standards auch offene Quellen. Offene Quellen haben Bezug zum Quellentext einer Softwarekomponente. Bei einer offenen Quellen-Komponente hat jeder kostenlos oder gegen minimale Vergütung Einsicht in den Programmtexl. Die Politik von offenen Quellen gibt der Öffendichkeit die Mög. lichkeit, Einsicht in die Arbeitsweise der Komponenten zu erhalten. Das ist besonders wichtig, wenn diese Komponenten sicherheits relevant sind. Diese Überlegungen sind auch dann von eminenter Bedeutung, wenn es keine problematischen Monopole gibt. Diese Präferenz von offenen Quellen ist sicher unmittelbar überzeugend, aber es ist umstritten, ob eine strikte Realisierung dieser Politik der offenen Quellen notwendig ist. Immerhin will der Konsument dem Softwareproduzen. ten in manchen Fällen gerne die Gelegenheit geben, einen Gewinn zu erzielen und diesen Gewinn via .,geschlossene Quellen" abzusichern. Geschlossene Quellen können zumindest einen Anreiz rur bessere Produktqualität schaffen. (I n der Arzneimiuelbranche spielen Patente eine vergleichbare Rolle.) Offene Quellen stellen also lediglich eine bevorzugte Handlungsoption dar. Geschlossene QueUen setzen eine eigene Rechtfertigung voraus, die jedoch durchaus denkbar ist. Abgeleitet von der offenen Quelle ist die freie Quelle. Eine Extremposition besagt. daß alle vitale Software frei zugänglich sein muß. Dahinter steht die Idee, daß es rur freie Software keine Privilegien zur Weiterentwicklung von Komponenten oder deren Anpassung an neue bzw. veränderte Zie.lsetzungen geben kann, die auf Patenten oder kommerziell zu erwerbende Rechten basieren. Bei offenen Quellen ist es jederzeit denkbar, daß ein Fehler der Software für jeden sichtbar ist, aber daß ein Lieferant sich weigert, sie zu verbessern. Freie Software gibt anderen das Recht (unter bestimmten Bedingungen), diese offene Sofrware auf die gewünschte Weise anzupassen. Eine sehr interessante Bedingung ist. daß der Status als freie Software dabei beibehalten wird. Der Status der freien Software, wie er in der GPL·Lizenz geregelt ist, hat einen vi· ralen Charakter, was bedeutet, daß dieser Status sich auch auf Nachfolgeprodukte erstreckt. Besonders aus diesem Grund sind große Softwarebetriebe nicht sehr begeistert von diesem Konzept. Zusammengefasst: Offene Software und freie Software sind beide wünschenswert. Auch für geschlossene Soft\.vare gibt es eine begrenzte Legitimati. on. Essentiell ist jedoch das Recht, Produktionsprozesse, die auf offener und freier Software beruhen, in Stand zu hahen. Der Dualismus von geschlossen versus offen kann man als eine Spezifikation der Opposition von "Verbergen" und "Entbergen" ansehen, so wie wir sie im Werk Martin Heideggers finden. Geschlossene Quellen sind Verbergen in einem Kontext instrumenteller Funktionalität. Offene Quellen sind Entbergen um eines politischen Ideals willen.
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Aktuc=lle Debatten
Die Gegenüberstellung offene QueUen/ freie Quellen hat mit der technischen Reproduzierbarkeit - einem Kernthema von Benjamin - von Software zu tun und mit der Aufhebung von Begrenzungen solcher Reproduzierbarkeit. Weil Software eigentlich auf einem höheren Abst.raktionsniveau lebt, entworfen und durchdacht wird als die Hardware, auf der sie arbeitet, ist es unangemessen, die Software mit spezifisch für die Hardware hergestellten Kompilationen davon zu identifizieren. Eine Kompilation ist einfach zu reproduzieren, aber der wirkliche Reproduktionsprozeß ist die erneute Kompilation in eine andere Hardwarcarchitektur. Dafür ist Zugang zu (eine Kopie von) der Quelle notwendig.
4.4 Logisch verifizierte Software-Komponenten Eine Hochzeit zwischen der wissenschaftlichen Mathematik und Logik einer· seits und der Informatik-Industrie andererseits entsteht dann, wenn man darauf insistiert, daß mü harten logischen Methoden bewiesen wird, daß So[[ware-Komponenten den geforderten Besonderheiten genügen. Auch hier ist eine moralische orm denkbar, weil man zumindest die Möglichkeit schaffen muß, eventueUen lebensbedrohlichen Fehlern vorzubeugen. In der alltäglichen Ökonomie ist diese Norm zwar schwer umzusetzen, weil damit eine unkJare Abwägung von Einnahmen und Ausgaben verbunden ist. Ferner wird das genannte moralische Prinzip dadurch eingeschränkt, daß man im allgemeinen alle iiblirhtn Maßnahmen ergreifen sollte, um Fehler zu vermeiden. Im allgemeinen muß man aber keine Beweise anbringen, daß man dies auch wirklich getan hat. Einen solchen Verweis auf eine fehlende Beweislast kann man noch recht häufig hören. Es scheint, daß weder die Androhung von Katastrophen bei möglichen Fehlern noch die moralische Forderung, solche Fehler mit äußerster Kraftanstrengung zu vermeiden, hinreichend sind, um eine aIJgemeine Einführung der logischen Verifikation wirklich durchzusetzen. Der zentrale Faktor ist die Standardisierung von Produktionsprozessen für die Software. In technischen Normen für (gewöhnlich offene) Produktionsprozesse kann die Verifikation im allgemeinen realisiert werden. Dieser Trend ist deudich erkennbar.
4.5 IP-Adressen für jeden Das Internet hat sich zur der ICT.Basisausstanung rur jeden entwickelt. Eine Schlüssel rolle spielt darin die IP-Adresse. In einer idealen AusgestaJtung haben alle Benuner gleiche Rechte auf IP-Adressenraum. Durch das erstaunliche Wachstum des Internets in den letzten zehn Jahren steht dieses Recht in Frage. Das heutige Internet-Protokoll (lPv4) hat Raum für 4 Milliarden (23~ Adres· sen. Die Verteilung dieser Adressen auf die Weh gleicht im Augenblick der Verteilung von Reichtum oder Energieverbrauchj abgesehen von wenigen reichen nicht-wesdichen Ländern. Man kann sagen, daß das alte Konzept des
Bergstra/Visser, Heilserwartung in der Informatik
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Interncts nicht damit gerechnet hat, daß Computer so billig werden könnten, daß jeder davon einige besitzt. Die Lösung dafür lautet IPv6 (Internet Proto· koll Version 6) mit 2 132 möglichen Adressen. Wenn wir einen Computer pro Kubikmeter einräumen, dann stehen für einen Kubus mit einer Kante von einer Milliarde Kilometer Adressen zur Verftigung, das entspricht sechmal dem Abstand zur Sonne. Ein Szenario, in dem IPv6-Adressen erschöpft sein könnten, ist daher auch im Augenblick nicht vorhanden. Aus moralischer Perspektive gesehen ist IPv6 eine offene technische Norm von der I ETF (lnternet En· gineering Task Force), die zum ersten auf eine adäquate demokratisch-merito· kratische Weise durch eine Reihe sogenannter RFCs (das heißt Requests for Comment) eingerichtet wurde, die zum zweiten technisch durchführbar ist und die zum dritten den Mangel an IP-Adressen gemäß jeder Einschätzung auf vie· le Jahre hinaus beheben kann. IPv6 hat natürlich in technischem Sinne einen willkürlichen Charakter. Wenn man z. B. eine repräsentative Demokratie einrichten will, dann steht man auch vor Entscheidungen, etwa über den zahlenmäßigen Umfang der Volksvertretung und die minimale Frequenz von Wahlen. Die Präferenz von IPv6 rühn von der Norwendigkeit her, über die technische Seite der ReguJie· rung von IP-Adressenraum einen breiten Konsens zu erzielen. Alternativen für IPv6 sind allein dann vernünftig, wenn so ein Konsens im Hinblick auf diese Alternativen genausogut erreichbar iS[o \Venn man daher in die Richrung eines adäquaten Prozesses von Konzepten und Konsensbildung denkt, mit dem Ziel, jedem genügend Adressenraum zu gar-antieren, dann entsteht in der Tat ein starkes und nicht primär ökonomisches Argument rur I Pv6. Das gibt I Pv6 eine kulturelle und politische Bedeutung. Das Internet auf der Basis VOn IPv6 besitzt die Möglichkeit, sich zu der größten und meist verbreiteten, durch Menschen geschaffenen Infrastruktur zu entwickeln. Dies Infrastruktur wird zunehmend der Träger von allen Wahr· nehmungen und Informationsprozessen und Informationsgehalten außerhalb der biologischen Substanz. Mit IPv6 bietet sich vielleicht eine dritte Technik an. Benjamin und Heidegger bilden beide einen Gegensatz zwischen erster und zweiter Tcchnik. 8 Erste Technik ist Herrschaft über die Na/ur, zweite Technik ist ZusllllllllellspitlllJi/ der No/ur. Nun müßle dann eine dritte Technik ZIiSaUlHltflJpiel {mischefl MenJ(h lind l\rItflJch sein, ulobei fjelle Modolilii/en sich durchse/zen (lPv6).
5.
achwort
\'('ir haben in unserem Beitrag das Bild einer Informatik mit moralischem Amlitz entworfen. Diese Informatik richtet sich auf die Veränderung der \'(felt.
8
\l;'i1I~m
van Reij~n. Dff Sfh.·a"Z"·alJ lind Paris. RnVlh,Ho"tirt AltlaphoriA: hti Htid'u.er "nd 8'''1a",i". München 1998.
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Aktuelle: Debatten
Auf diese Weise stellt sie ein treffendes Gleichnis für dje Philosophie dar, ",i( Kar! Marx sie sich vorstellte. Das Verstehen der Welt verschwindet in unserer Perspektive allerdings nicht auS dem Blickfeld. Veränderung sollte sich - soweit möglich - in verständlichen Schritten vollziehen. Darüber hinaus ist der utopische Endzustand, auf den sich unsere HeilsCN'3rtung bezieht, ein Zustand. in dem wie in keinem anderen Verstehen möglich ist.
Jan Hein Hoogstad
The revolution should be televised
In einem Zeüalter, in dem das Fernsehen eine immer größere Rolle zu spielen begann, die Politik hingegen an den Rand des öffentlichen Interesses gedrängt wurde, war Gil Scott-Heron unzeitgemäß. l\'Üt seinem Song .,The revolution will not be televised" wollte er eine mkehr beider Tendenzen bewirken. Der Song war zum einen eine Kritik am Medium selbst und rief zum anderen zur Revolution auf. .. YON »Iill nol hat:e 10 JIIorry abONI a dove inYONr bedroom, a tigtr inYONr lank, or Iht gianl inYONr loiltl bOllll. Tht rtI'OINlion will nol go btlltr ",.ilh Cokt. .. SconHeran zitierte Klischees aus dem Fernsehen und deckte so die h}'pnotisierende Wirkung auf, die dieses 1edium auf Menschen hat. Zugleich erlöste er damit die H}'pnotisienen von ihrem Bann. Obwohl der Song unleugbar Wirkung erzielte, genügte er doch nie seinen ursprünglichen Ansprüchen. "The revolution will not be televised" versagte darin, sein beabsichtigtes Publikum zu erreichen; die Menschen hörten sich nicht Scou-Herons Platten an, sie sahen fern. Politische Philosophen heute sollten sich in acht nehmen, nicht in die gleiche Sackgasse zu geraten wie Gil Scott·Heron. Sie müssen anerkennen, daß Politik nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihr Medium geändert hat. Die zeitgenössische politische Landschaft setzt sich aus Logos und Slogans zusammen und nicht aus Manifesten und tiefschürfenden Interviews. Vilem Flussers Essa}' .,The political in the age of technical images" zeigt, daß die rumänische Re· volurion \'on 1989 ein politisches Ereignis war, das nicht nur einfach im Fernsehen gezeigt wurde, sondern ausschließlich im Fernsehen stattfand. In dieser Revolution waren Journalisten und Reporter keine externen Beobachter, sondern sie waren die eigentlichen Revolutionäre. Indem sie auf die strategischen Möglichkeiten des telegenen l\'lediums setzten, bestimmten sie aktiv den Lauf der Ereignisse. Im Gegensatz zu den meisten politischen Philosophen haben sie verstanden, daß Politik sich nicht mehr in erster Linie in Texten, sondern in Tönen und Bildern manifestiert. In Vi/a ArJivo behauptet Hannah Arendt, daß die Distanz zwischen Philosophie und Politik nicht erst für dieses Zeitalter kennzeichnend ist, sondern das Ergebnis eines historischen Prozesses ist. Laut Hannah Arendt war Sokrates der erste Philosoph, der den sogenannten "bias theoretikos" und den "bias polirikos" nicht mehr erfolgreich \'ereinen konnte. Seinen Blick von den beständig wechselnden politischen Phänomenen ins Reich der ewigen Ideen wen· dend, geriet er zwar in Konflikt mit der Polis. Doch weder sein Gerichtsverfahren noch seine anschließende Verurteilung konnten die Bewegung, die er initiiert hatte, aufhalten. Nach Sakrales' Tod wurde die Philosophie von den
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Aktuelle Debatten
Straßen und Marktplätzen in die Schulen und Akademien geholt. Der ..bios theOrelikos" und der .,bios politikos" drifteten immer weiter auseinander. Dies lag vor allem claran. daß Sokrales' achfolger es gar nicht versuchten, die Differenz zwischen heiden Berekhen zu verringern, sondern diese vielmehr institutionalisierten. Durch dje Abgrenzung von der politischen Sphäre wurde der Philosophie eine Aura von Objektivität verliehen, die sie versrändlicherweise nicht verlieren wollte. Philosophen können leicht bestimmte Praktiken kritisieren oder über sie urteilen, ohne selbst Schaden davonzutragen, weil sie sich vornehm aus ihnen heraushalten. Jedoch hat die Philosophie, weil sie sich immer stärker vom .,bios politikos" zurückzog, jede Macht, überhaupt einzugreifen, verloren. Sie verwandelte sich von einem aktiven Teilnehmer in einen externen Beobachter, ein Resultat, das durch die historisch verwurzelte Treue zur Gutenberg-GaJaxie noch verstärkt wurde. Philosophische, externe Kritik hat ihren Einnuß verloren und das nicht allein aufgrund ihres lnha.ltes, sondern auch weil sie ihr gesuchtes Publikum verfehlt. Selten reflektieren Philosophen den eigenen Gebrauch ihrer Medien, und so verpassen sie den Anschluß an die modernen Kommunikationsformen. Politische Philosophie sollte keinen sicheren Abstand wahren, sondern muß seine aktive Rolle im "bios politikos" wiederfinden. Die immanenten i\'löglichkeiten der neuen Medien zu erforschen, statt sie einfach abzulehnen, wäre ein erster Schritt, dies zustande zu bringen . ..The revolution will not be televiscd", sondern sie hat in den Ghettos von New York stattgefunden. Gil Scon-Heron sprach nicht von irgendeiner Revolution in seinem Song; er bezog sich explizit auf den Kampf des schwarzen Mannes um Anerkennung. Scon-Heron unterstützte die Politik der Black Panthers aktiv und verschrieb sich ihrer Idee, Kunst direkt auf die Straße zu tragen. Sein Song kritisierte die Haltung einiger Hauptakteure der Black-PowerBewegung, die diese Strategie aufgeben und sich statt dessen lieber darauf konzemrieren wollten, die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen. Er warnte davor, daß die weiße, verantwortliche Führung die schwarzen Bürger nicht für wichtig genug erachten würde, um über sie zu berichten. "Tbe revolution lI,ill not be right back after
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IIIeuoge about
°
ut/)ite tomado, ut/lite lightning, or ut/)ite people. "
Nicht nur war das Fernsehen das dominante Medium seiner Zeit, es war auch jenes Medium, das die schwarzen Bürger 'Im radikalsten ausschloß und deshalb das erklärte Ziel von Scou-Herons Kritik war. Solange die schwarzen Bürger fernsähen, würde ihnen die Revolution entgehen. In ihrem Buch On Rtt:ollition zeigt Hannah Arendt, daß Medienaufmerksamkeit auch immer schon einen entscheidenden Einfluß auf das Revolutionsverständnis selbst gehabt hat. Das erste Kapitel, "The Meaning of Revolution", beinhaltet eine Rekonstruktion der Geschichte des modernen Revolutionsbegriffes. Nach Ansicht Hannah Arendts wurde die heutige Bedeurung dieses Begriffes bedauerlicherweise von der erfolglosen Französischen Revolution geformt und nicht von ihrem erfolgreichen amerikanischen Gegenüber. Im Gegensatz zur einigermaßen unspekrakulären amerikanischen Revolution zog die
Hoogslad. The revolution should be televised
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dramatische Berichterstattung über die tragischen Ereignisse der Französischen Revolution die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Dadurch konnte die medialisierte Revolution zum Modell späterer Revolutionen werden. Seit der Französischen Re\'olution meinte der Revolutionsbegriff einen radikalen, meist gewalnätigen Umsturz; als das Ende der alten und der Beginn einer neuen Geschichte. Aber es war nicht der Geist der Revolution, der die Bedeutung des Begriffes umdefinierte. Denn dieser wurde noch im Sinne der ursprünglichen, astrologischen Bedeutung des Begriffes Revolution als Zyklus verstanden. Für die Revolutionäre selbst war dieser Geist als Wiederherstellung der Freiheit bestimmt und nkht als absolute Neuerung. Diese Restauration war das Ziel ihrer Revolte. Erst die Beobachter versahen das Won mit seiner neuen Bedeutung. Sie aIJein nahmen die Revolution als einen radikalen und gewaltsamen Bruch mit der Tradition wahr. Revolution als radikaler Bruch wird immer nur aus der Perspektive eines externen Beobachters verfochten. Ohne selbst Teil der alten Geschichte gewesen zu sein, rufl er den Beginn einer neuen Geschichte aus. Es ist die Kluft zwischen dem "bios theoretikos" und dem "bios politikos", die ihn irreführt. Nur solange er nicht an der politischen Sphäre teilnimmt, kann er darauf bestehen, daß die Revolution einen radikal neuen Anfang schaffen werde. Hannah Arendt fühn dieses Prinzip mit Bezug auf den Sturz ihres früheren Mentors und Liebhabers Martin Heidegger ein. Indem er die Stelle als Rektor der Universität Freiburg annahm, stieg Heidegger buchstäblich von seinem Berg herunter und beirat den Marktplatz. Er versuchte, seine Revolution zu materialisieren, und verlor dabei a1l seine Illusionen. Die nationalsozialistische Bewegung, die er unterstützte, erwies sich als reaktionäre Welle und nicht als der revolutionäre Sturm, als den er sie eingeschätzt haue. Er mußte einsehen, daß ein gesellschaftlicher Umsturz nicht norv.'endigerweise .Meinungen und Machtsrrukruren änderl. Die Revolution - der Beginn einer neuen Geschichte -, die er von dieser Bewegung erwartet hatte, hat nichl stattgefunden und konnte es auch nie. Infolgedessen verlor Heidegger jeglichen Glauben in die Möglichkeit menschlichen Eingreifens. Er schlußfolgerte: "Nur noch tin COlt kann uns rellen"1 und beschloß, den "bias theorctikos" nie wieder zu verlassen. Obwohl nachvollziehbar, war Heideggers Reaktion auf sein Versagen ein Fehler. Das wirkliche Problem war nicht sein Eingreifen in die politische Sphäre als solches, sondern die Tatsache, daß es zu spät geschah. Da er bereits jeden Kon· takt zum "bios politikos" verloren haue, war er voller falscher Erwartungen, als er ihn betrat. Hcidegger konnte nur enttäuscht werden, weil sein Revolu tionsbegriff verzerrt war. 4
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Manin Heidegger, Interview in Der Spitgel (1976), Nr. 23, S. 214. Obwohl d2S Interview 2m 23. September t 966 sultf2nd, bestand Heidegger darauf, daß es erst POSthum verÖffent..licht würde.
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Aktuelle Debatten
"Thc: revolution will not be televised". sondern sie ist auf eine Schallplatte gepreßt worden. Gil Scott·Heron legte sein Gedicht über einen Jazzrhythmus und schuf damit die Formel, auf die sich Hip-hop gründen würde. Diese Entdeckung brachte ihm den Spitznamen Godfather of Hip-hop ein. Seon-Heran teilte sich diesen Titel mit DJ Afrika Bambaataa, der einer der ersten war, die die musikalischen fo,,'löglichkeiten von Plattenspielern Mine der siebziger Jahre ausloteten. Diese heiden Pioniere stehen zusammen rur die zwei fundamem2len Elemente des Rap: 171-'0 lurn/ab/tl and a milTOphont. 2 Der Anfang des Hip-hop verbindet sich mit der EinfUhrung der Mischpulte in den Clubs. Zunächst wurde dieses Gerät benutzt, um fließende Übergänge beim Plattenwechseln zu erreichen. Hip-hop DJs jedoch taten sich darin hervor, daß sie ihre Plattenspieler in vollwertige Instrumente umwandelten. Anstatt die tatsächlichen Songs zu spielen, konzentrierten sie sich auf die Beats verschiedener Schallplatten. Sie bevof7.ugten besonders die Stücke zwischen Refrain und Strophe, in denen Melodie und Gesang aufhören und allein Baß und Perkussion weiterspielen. Mit zwei Plattenspielern und einem Mischpult konnte der DJ diese sogenannten break beats verlängern und kombinieren; eine Tätigkeit, die später mit der Erfindung des Sampiers vereinfacht wurde. Der Hip-hop DJ initialisiene eine Revolution in der Musik, indem er die Tradition wiederverwenete, anstatl sie zu entsorgen. Weder einen radikalen Bruch mit der Tradition heraufbeschwörend noch sie einfach wiederherstellend, verbindet Hip-hop heide genannten Revolutionsbegriffe. Schon seine Abhängigkeit von schon bestehenden Tonaufnahmen schafft eine unverbrüchliche Verbindung zur Verg.mgenheit. Die BetOnung der Idee des Respekts im Hip-hop übernimmt, ist also keinesfalls akkzidental, sondern wird durch das Medium selbst garantien. J Hip-hop könnte also nie einen radikalen Bruch mit der Geschichte erzwingen, denn ohne sie könnte er gar nicht existieren. Und dennoch handelt es sich hier auch nicht um eine schlichte Wiederholung der Vergangenheit. Die bestehenden Beats werden zu ganz neuen amalgamiert. Darüber hinaus werden rhythmisierte Strophen über die Beats geschichtet, und somit wird eine völlig andere Musik geschaffen. Beats und Raps kombinierend, verwandeln DJs und MCs alte Arrangements in vielschichtige neue. Sie enrwickehen einen alternativen Revolutionsbegriff, nicht indem sie theoretische Texte ver faßten, sondern indem sie die immanenten Möglichkeiten eines alten und eines neuen Mediums verwendeten, um dem Begriff Form zu geben. Hip-hop schuf eine Revolution, die sich nicht gewahsam zur Tradition verhielt, sondern sie mit Respekt behandelte. Neuerung und Tradition werden in
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m genau zu sein, setzt sich Hip-hop 21s ~n2nOle Trinit21 ZU$2mmen; R2p Musik (auf den sich informell auch als Hip-hop be:zo~n wird), Graffiti und Breakdance. Auch wenn der Respekl \'or der Tradition zuerst vom Hip-hop institutionalisiert worden W2r, so char2kterisiert er alle Formen schwaner Musik vom Jazz bis zum R&B.
Hoogslad, The revolution should be lelevised
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Ergänzung zueinander begriffen und nicht in Opposition. Das Neue bereichert das Alte und hängt eher von ihm ab, als es auszuschließen oder zu ersetzen. Geschichte ist kein linearer Fortschritt und wiederholt sich auch nicht, sondern füllt sich beständig mit neuen Elementen. Fortschritt und Wiederholung werden ersetzt durch die Idee der Füllung. Geschichte wird zunehmend dichter, ohne dabei so sehr fortzuschreiten. Innerhalb dieses Geschichtsbegriffes steht Respekt für einen aktiven Dialog mit der Tradition und nicht deren Kon· servierung. Eine Revolution ereignet sich, wenn djeser Dialog eine Reimerpretation der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit sich bringt. Revolutionen brechen nicht mit der Geschichte, sondern verwandeln ihre gesamte Konstellation. Um aber ihr ganzes Potential entfalten zu können, muß diese Reinterpretation anerkannt. das heißt aufbewahrt und übertragen werden. Begrenzt sich eine Revolution auf ihren individuellen oder lokalen Einflußbereich, so widerspricht sie damit ihrem allumfassenden Anspruch. Eine Revolution muß nach universaler Anerkennung sueben. weil sie beansprucht. eine neue Auslegung der gesamten Geschichte anzubieten. Medienaufmerksamkeit zu erhalten ist deshalb nicht nebensächlich, sondern essentiell für jede Revolution . ..The revolution will not be televised", sondern sie wurde in den Kinos alJer Welt gezeigt. Die Revolution des schwarzen Amerikas ist das zentrale Thema von Spike Lees Do the fight thillg, ein Spielfilm über einen RassenkrawaU in Brooklyn am Ende eines heißen Sommertages. Genau wie Gil Scou-Heron hebt Lee den Konflikt zwischen der Straßenverbundenheit und dem Kampf um Medienaufmerksamkeit hervor. Er übersetzt die komplexe Problematik und ihre Geschichte in eine konkrete Situation. Im Film werden die J\'ledien von der sogenannten u'illl tif filme in Sal's Pizzeria. einem kleinen italienischen Familienbetrieb, der in einer von Schwarzen dominierten achbarschaft Liegt, repräsentiert. Aufruhr entsteht, als Sal sich weigert, Photos von schwarzen Berühmtheiten - oder, wie er es selber darstdh, von nicht-amerikanisch-italienisehen Leuten - an seiner Wand aufzuhängen. Im Laufe des Tages heizt sich die Spannung zwischen den schwarzen und den italienischen ach ba rn so weit auf, daß die Schwarzen die Pizzeria schließlich niederbrennen. Gegen Ende des Filmes hängt ein geistig zurückgebliebener Mann, der den Spitznamen Smiley trägt, ein Photo von Martin Luther King und Ma1com X an die brennende Wand der Stars. Das Ziel ist erreicht worden, jedoch nur gegen einen unglaublich hohen Preis: die vollständige Zerstörung des Systems, dessen Anerkennung man sich in erSter Unie hatte erkämpfen wollen. Hip.hop spielt eine zentrale Rolle in Do IM right thing. .. Fight the power" \'on Public Enem)' ist der Leitsong des Films. Dieser Aufruf zur Revolution ist unablässig aus Radio Raheems Gheno Blastcr zu hören und verärgert auf diese \X'eise die älteren und nicht-schwarzcn Einwohner der achbarschaft. Radio Raheem trägt zwei riesige Ringe: der eine an seincr linken Hand besagt Haß, der an seiner rechten Hand Liebc. Licbe steht für die friedliche Strategie, mit der ;\'lartin Luther King die Rassenungerechtigkeit bekämpfte; Haß symboli-
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Aktuelle Debatten
siert den gewaltsamen Weg von Ma1com X und den Black Panthers. Ohne über die heiden Möglichkeiren zu uncilen. zeigt Spike Lee, daß es zwei Arten der Revolution gibt: die gewaltsame und die nicht gewaltsame. Seiner Meinung nach sind heide Srr3tcgien unlösbar miteinander verknüpft, die linke Hand kann nicht ohne die rechte existieren. Der Tag ist lang, und die Bereitschaft, eine friedliche Lösung zu finden, groß, aber nicht unendlich. Wenn d.ie Ziele am Ende des Tages nicht erreicht worden sind, wird Gewalt zur legitimen, wenn auch unbefriedigenden Option. Do Iht righllhing beschreibt das AufeinanderpralJen zweier grundlegender Werte des Hip-hop: Respekt vor der Tradition und das Recht, diesen Respekt zu zeigen. Der erste \'('ert stellt den revolutionären Aspekt des Hip-hop dar und ist keineswegs notwendig mit Gewalt verbunden. Ohne die Möglichkeit jedoch, die Botschaft unter die r.,·lenschen zu bringen, ist jede Revolution sinnlos, und an diesem Punkt schließlich kommt Gewalt ins Spiel. Gewalt ist kein notwendiger Teil von Revolutionen; sie ist ein Versuch, Medienaufmerksamkeit zu erhalten. Spike Lee schlägt genau die Umkehrung von Gil Scott-Herons Erklärung vor. Thc revolution should bc telcvised, denn ohne Medien kann sie ihr Zielpublikum nicht erreichen. Wie die rumänische Revolution bewies, sind nicht länger die Straßen und M,arkrplätze die einflußreichsten Plätze, an denen geschichtsrelevame Information aufbewahrt und übertragen wird - das Fernsehen ist es. Jeder, der seine Revolution auch anerkannt wissen will, muß nach Medienaufmerksamkeit streben. "The revolution will not be tclevised", und sie war es auch nicht, bis sie gewalttätig wurde. Wie sich herausstellte, hatte Seott-Heron mit seinem Song das Schicksal des musikalischen Genres und dessen kulturelle Bewegung beschwört. The revolution was not televised; Tatsache ist, daß der Hip-hop kaum erwähnenswerte Medienaufmerksamkeit bis Ende der 1980er erhielt, obwohl er den Lebensstil in den Großstädten Amerikas während dieser Dekade bestimmte. Erst mit dem Gangster Rap geriet Hip-hop in den vollen Blick des Fernsehers. Um ihrer Ausgrenzung ein Ende zu setzen, hatten sich die Hiphop Künstler die kJassische Strategie des Trojanischen Pferdes zu eigen gemacht; unter dem Deckmantel einer neuen Revolution schoben sie den Medien eine Neuauflage der alten unter. Sie nutzten die Entstehung des Musikvideos und verwandelten die bisher mangelnde Anwesenheit der Schwarzen im Fernsehen in deren Omnipräsenz." Die selbsterklärten Gangster umgaben sich mit einem grotesken Maß an Gewalt. Die Medien aber waren nicht in der Lage, diese Übertreibungen, wie man sie sonst aus dem Zeichemrick kennt, zu erkennen, und behandelten die Gangster Rapper wie eine ernst zu nehmende
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Zu Beginn war das Sendenetz MTV e.ine Festung 'Il'eißer Rockmusik, die es :ablehnte, Hip-hop zu spie.len. ~it kleinere, un:lbhiingige Kanile wie BET und BOX Zusch:au· er von MT\' :lbwuben, indem sie Hip-hop Videos sendeten, h:lt r.·(TV seine Politik geändert_
Hoogst:ad, The revolution should be televised
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Gefahr für die Gesellschaft, die daher ihre Aufmerksamkeit verdiente. D:as Tragische war. daß die Gangster Rapper auch bald selbst ihre Rolle ernst zu nehmen begannen. Der zunehmenden Gewalt fielen schließlich sogar mehrere prominente Hip-hop Stars zum Opfer. s So viel Erregung um den Gangster Rap steigerte jedoch dessen kommerzielle Attrakti"ität. Seit Anfang der Neunziger erschienen Hip.hop Künstler oft in der Werbung. Sogar Scou-Herons kritische Feststellung wurde in einen Werbeslogan umgewandelt. "Tbe rtf,.'Oluh"on is basketball BasJwball iJ Ihe trulh skandierte der Rapper KRS-One 1995. um Nike-Schuhe zu promoten. 6 Als er beschuldigt wurde. sich verkauft zu haben, antwortete "the teacher": "Nike don 'I OU/tI lJiggO!, niggas OU/tI Nike. .. Seiner Meinung nach hatte der Hip-hop die Revolution erfolgreich vollendet. Schwarze 1änner beuteten nun das System finanziell aus, statt andersherum. In jedem Fall war mit KRS·Ones Neuinterpretation Gil Scott·Herons ursprüngliche Aussage obsolet geworden. Seide Revolutionen, die der schwarzen Bürger und die des Hip-hop. waren nun medialisiert worden. Der kommerzielJe Erfolg des Hip-hop fand nicht bei jedem Beifall. Die Bewegung lenkte zwar die Aufmerksamkeit auf junge Afro-Amerikaner. jedoch war rur viele von ihnen diese Identifizierung mit Gangstern und Zuhältern nicht die An von Anerkennung, nach dcr sie suchten. Für die ältere Generation und Frauen war die Situation sogar noch schlimmer. Die herabwürdigenden Worte, mit denen sie in den Songs heschrieben wurden, hauen zur Folgc, daß sie nun selbst bei den eigenen jungen !\Hnnern keine Beachtung mehr fanden. Auf seinem Album Spinls von 1995 gab Gil Scott·Heron seiner Generation noch einmal eine Stimme. Sein Song ..Message to the Messengers" wandte sich direkt an die Gangster Rapper. Er wies darauf hin, daß der Gangster Rap die Black Power Bewegung nicht stärktc. sondern schwächte. Laut Scou-Heron wurden die Gangster Rapper von dem System. gegen das sie sich auflehnen wollten, in perfider Weise ausgebeutet. Sie ermordeten sich gegenseitig. um ihre sogenannte Srraßenglaubwürdigkeit zu bewahren. Damit aber zerstörten sie das Potential ihrer eigenen Bewegung und nicht das System. Obwohl der Inhah dieses Songs zutraf, versagte er erneut in seiner Wirksamkeit. Das Album wurde unabhängig herausgebracht, kaum heworben und so ein kommerzieller Mißerfolg. In ..!\·fessage [0 the Messengers" diskutiert Scou-Heron auch die zweideutige Haltung der Gangster Rapper gegenüber Frauen. "On one song she'!Jour Afriit •
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Tupac Shakur, Biggie SmalJs and Big L, neben weiteren, aber Gerüchte, daß einige dieser Morde inszeniert worden waren und daß diese Künstler noch am Leben seien, halten sich. Um ihn zu verteidigen, sei gesagt daß KRS-One eigentlich bekannt ist rur seinen politisch und sozial engagienen Rap" Duiiber hinaus waren Gil Sc.ott-Heron selbst, Rapper Chuck D und der Produzent Hank Schocklee - heide Mitglieder von Public Enemy, die wahrscheinlich politisch revolutionärste Band des Hip-hop - an der Produktion dieses Werbespots beteiligt.
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Aktuelle Debauen
(an Quun and on Iht nrxl ont, she's a jolet. .. Diese Heuchelei wurde weiterhin von Sarah Jones und DJ Vadim in ihrem Song ..Vour revolution" herausgestellt, einer leuinterpretation von Scott-Herons Klassiker von 1970. ,,)'our revolution will nol happen be/wttfl thrIt thighs" singt 5amh Jones in ihrem Versuch, der weiblichen Perspektive auf den Gangster Rap eine Stimme zu geben. Es liegt Ironie darin, daß gerade dieser Song in den Vereinigten Staaten wegen des explizit sexuellen Songtextes verboten wurde. während die meisten der gewaltsamen Gangster Songs nicht zensiert wurden. Als Reaktion auf dieses Verbot nutzte Sarah Jones die Möglichkeiten eines aufkommenden ~'fediums, um mehr Auf· merksamkeit auf ihre Botschaft zu lenken. Sie leitete eine Medienoffensive im Internet in die Wege, um sich gegen die Zensur zu wehren. "Your Revolution" konnte gratis von einer Webseite7 heruntergeladen werden, und die große Auf. regung um die Zensur sorgte für die nötige Werbung für den Song. Ober ..Your Revolution" wurde nun wahrscheinlich mehr berichtet. als wenn er nicht auf den Index gesetzt worden wäre. Im Gegensatz zum ,Jritnd,litin,g Itgtnd ond proto-ropptr" Gil Scon-Heron mied Sarah Jones die 'Iedien nicht. sondern machte sie sich fur ihre Sache zunutze. Ihr Erfolg beweist, daß es für jede Revolution essentiell ist, Medienaufmerksamkeit zu erhalten.
Philosophie, genauso wie Hip-hop, nahm ihren Anfang auf der Straße. Beide Bewegungen wurzeln ursprünglich in einem Dialog mit dem alltäglichen Leben und der damit verbundenen Tradition. Die Philosophie jedoch tauschte bald ihre aktive RaUe im ..bias politikos·' gegen eine isolierte Existenz im "bios theoretikos" ein. Hip-hop aber kann sich unmöglich von seinen Wurzeln tren· nen, denn der Respekt ihnen gegenüber ist notwendig in ihrem Medium defi· niert. .,Block people utill be in tbe streets lookingfor 0 brighttr d'!J." Gil Scou-Heron haue recht damit, die Bedeutung des ..bios politikos" zu betonen, aber er irrte sich darin, anzunehmen, daß dieser sich ausschließlich in den Straßen zutrüge. Heute hat das Fernsehen als dominierendes Informationsmedium den Marktplatz ersetzt. Scon·Herons Rat, auf die Aufmerksamkeit der Medien zu ver· zichten, würde bedeuten, daß Revolutionen sich selbst zu einer Existenz im Untergrund verurteilten. Indem sich die Philosophie aus dem "bias politikos" zurückzog und sich auf das Medium Text beschränkte, nahm sie Scott-Herons Rat vorweg und schloß sich selbst dadurch von jedem praktischen Einfluß aus. Philosophen sollten wieder ein aktives politisches Leben führen - und dabei nicht nur die Themen der Politik diskutieren, sondern auch ihre Medien nutzen. The re\'olution should be televised, denn sonst wird sie unbemerkt blei· ben.
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www.yourre\.olutionisbanned.com
orbert Bolz
Warum es intelligent ist, nett zu sein
Je größer eine Gruppe ist, desto rationaler ist es für den einzelnen, das Verhalten der anderen als "natürliche Umwelt" zu behandeln - etwa statistisch. Man geht vernünftigerweise davon aus, daß das eigene Verhalten keinen Einfluß auf das Verhalten anderer hat. l\'lan nimmt eine Zeitung aus dem Kasten oder eine Kerze in der Kirche ohne zu zahlen; man schleicht sich in eine Veranstaltung ein; man springt über die Absperrung der Haupnribüne - und es entsteht kein sichtbarer Schaden. Soziologen diskutieren dieses Problem unter dem Titel Free·Rider. Unser Steuersystem etwa ist so komplex, daß es chaotisch wirkt. Deshalb gibt es keinen Anreiz fur Kooperation. Und deshalb ist die natürliche Reaktion unsoLidarisches Verhalten, aJso Steuerhinterziehung - oder doch zumindest die Anwendung der 1000 legalen Tricks. Man kann es auch so sagen: Je größer eine Gruppe ist, desto geringer sind die Realisationschancen für gemeinsame Interessen, weil der Beitrag des einzelnen kaum wahrnehmbar ist. Und öffentliche Ressourcen werden rasch von allen ausgebeutet, weil jeder der Mäßigung des anderen mißuaut. Das ist die Tragödie der öffendichen Güter, die gel1lde die moderne Gesellschaft kennzeichnet. Dem entspricht präzise das soziologische Grundphänomen der "immunüy in numbers.. l : Ich parke in der zweiten Reihe oder gehe bei Rot über die Ampel, wenn genügend andere es tun. Der Schaden, den das egoistische Verhalten des einzelnen anrichtet, ist in den meisten Fallen tatsächlich kaum meßbar; das gih ja selbst fur das Reinigen eines Schiffstanks auf hoher See. "Aber wenn jeder so handeln würde 1... 1" Deshalb ruft alle Welt nach Ethik. Von Groucho Marx stammt die Formel: Tbe kt.} 1o sliuess in blisiness is honesry ond fair dealing. lfYOIi (an fake I/JoI, YOIi 'tJt goI il made. Isr Moral in der Wirtschaft tatsächlich bloßer Schein? Ich werde im folgenden versuchen, eine BusinessEthik zu konturieren, die sich vom Egoismus des bürgerlichen Besitzindividualismus genausoweit entfernt häh \vie von den überspannten Forderungen einer universalistischen foral. Mir geht es dabei um eine quasi mathematische Begründung des moralischen Minimums und damit die Beantwortung der Fra~ ge ,,\\?ie überlebt die Freundlichkeit in der \'('eh?" Die brauchbarsten Überlegungen zur ModelIierung unseres Problems bietet nach wie \'or die Spiehheorie. Ihre Simplifikationsgewinne sind zunachst beträchtlich, denn wenn man eine Situation als Spiel betrachtet, weiß man, was zu
Thomas Schelling, Mirromolim a"d Marrob,ha/iior, New York 1978, S. 96.
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Aktuelle Debatten
tun ist. Angemessene Komplexität wird dann dadurch aufgebaut, daß jeder sich zugleich auch als eine Figur im Spiel des anderen konstruiert. "Players are
embedded in the game." 2 un gibt es zwei Möglichkciten, zu spielen (was man im Englischen besser verdeutlichen kann als im Deutschen). Entweder man spieh, um zu spielen, oder man spielt, um Probleme zu lösen: playing games versus so/ring games/problems. Spielen um des Spie1ens willen ist ein lokales Handeln; dagegen verfolgt das problemlösende Spielen globale Ziele. Wer Lust am Spiel hat, muß also anderes im Auge behalten als die Frage nach dem Gewinnen. Man kann es auch so sagen: Wer weitcrspielen will, muß an der Gleichheit des Gegners interessiert sein. Bayern 1ünchen kann selbst nicht wünschen, jedes Jahr Deutscher Meister zu werden. Das Playing Games hat also ein primäres Interesse an organisierter Gleichheit. Das Solving Games wird dagegen beherrscht von der Frage, wer gewinnt. In der Kooperation der gegeneinander Spielenden bewä.hrt sich eine lokale Geschicklichkeit; dagegen zielt die spiel theoretische Rationali· tät immer schon aufs Endspiel. Skills, Geschicklichkeiten als lokale Rationalitäten werden eigentlich unabhängig von Ergebnissen und Lösungen bewertet. Und nur mittelmäßige Spieler folgen einer Strategie im spieltheorctischen Sinn. Gute Spieler lasscn sich nicht von ihren eigenen Strategien versklaven. Deshalb sehen sie auch nicht weit voraus, sondern begrenzen ihre Visionen. Diesen Unterschied gilt es im Auge zu behalten, wenn wir uns im folgenden auf die Spiele des Problemlösens konzentrlcren. Es gibt ein von Merril Flood vor gut fünfzig Jahren erfundenes Spiel, das uns fragt, ob sich zwischen der Herrenmoral der Z)'niker und der Sklavenmoral der Gutmenschen eine Kooperationsmoral der Egoisten entwickeln kann, ohne daß dabei auf irgendwdche "universaLiscischen" Prinzipien zurückgegriffen werden müßte. Zwei Gangster werden wegen einer gemeinsam verübten Straftat in getrennten ZelJen festgehalten und vom Gefangnisdirekmr mit dem Vorschlag konfrontiert, den jeweils anderen gegen Strafminderung zu verraten. \'(fenn beide dichthalten, können sie nur wegen eines geringeren Vergehens bestraft werden und bekommen jeweils drei Jahre Haft. Wenn einer den anderen verrät, bekommt der Geständige ein Jahr und der andere zehn Jahre. Wenn sich beide gegenseitig verraten, bekommen sie sechs Jahre Haft. Nach einigem Überlegen wird sich jeder der heiden entscheiden, den anderen zu verraten, denn das bringt ihm in jedem Fall das bestmögliche Ergebnis: Hält Alter dicht, so bekommt Ego sdbst nur ein Jahr Gefangnis. Gesteht Alter auch, so bleibt Ego immerhin die Höchststrafe erspart. J 2 Eric l1ifer, Ar/orl al Obltn'trl, New Vork 1991. 3 Das Gc=fangenc:ndilemma läßt sich wie folgt formalisieren. Die Handlungsalternative: C :;: coopenne oder 0 :;: defect (aggressiv). Die \'ier möglichen Ergebnisse: Versuchung (Temptation) T :;: 5; Belohnung (Reward) R :;: J; Strafe (punishment) P :;: 1; Schicksal des Trottels (Suckcr's Payoff) S ;; o.
Bolz, \'(Iarum es intelligent ist, nett zu sein
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Aus der Perspekti\'e des einzelnen ist es also rational, das Gefangenendilemma aggrcssi\' zu spielen. Denn wie auch immer sich der andere verhält: Verrat bringt das beste Ergebnis für den einzelnen. Doch das theoretisch Zwingende ist nicht unbedingt auch klug. Die indi\,idueUe Rationalität führt ja für beide Spieler zu einem schlechten Ergebnis. Zugespitzt lautet das Dilemma: Jeder ist besser dran, wenn er egoistisch ist, aber beide sind besser dran, wenn sie kooperativ sind. Wer meint, dieses Szenario sci einem Mathematikerhirn entsprungen und hätte mit dem wirklichen Leben nichts zu tun, muß nur einmal wieder in die Oper gehen - und zwar in Puccinis Tosca. Die Story ist rasch erzählt. Der korrupte Polizeichef Scarpia verurteilt Toscas Liebhaber Cavaradossi zum Tode. Nun bietet Scarpia Tosca einen Deal an: Sex gegen Leben - wenn sich Tosca ihm hingibt, dann weist er das Erschießungskommando an, nur Platzpatronen zu laden. Logisch eröffnen sich vier Möglichkeiten: 1. Scarpia bekommt Tosca und Cavaradossi bleibt am Leben. 2. Scarpia bekommt Tosca, aber Ca\'aradossi wird doch erschossen. 3. Cavaradossi wird verschont, aber Tosca gewährt keinen Sex. 4. Beide betrügen sich gegenseitig. Es kommt nicht zum Sex, und Ca\'aradossi wird erschossen. Diese letzte Möglichkeit ist bekanntlich die der Story von Puccini. Gegen die Invisible Hond Adam Smiths, die bewirkt, daß der Egoismus eines jeden zum allgemeinen Guren führr, demonstriert das Prisoner's Dilemlllo, wie die Rationalität des Egoismus zum allgemeinen Schlechten führt. Im Gefangenendilemma geht es also immer darum, daß die rationale Wahl des einzelnen nicht zur optimalen Entscheidung führt. Es brennt im Kino, und alle rennen zum Ausgang. Die dadurch entstehende Panik ist unmittelbare Folge: individuell rationalen HandeIns. Natürlich würden olle Kinobesucher besser fahren, wenn sie alle dem Kooperationsgebot "Verhalten Sie sich ruhig!" folgen würden. Aber jeder einzelne handelt völlig rational, wenn er um sein Leben rennt. Das Gefangenendilemma zeigt diesen Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität bzw. zwischen spiellheoretischer Rationalität und erfolgreichem Verhalten in Reinform. 4 Wir haben es hier mit Problemen zu (un, für die es keine technische Lösung gibt. Sie entstehen immer dann, wenn der andere auf meine Wahl anrwortet; und was auch immer nun geschieht - es
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Es w:aren n:uiirlich :luch :lndere Z:lhlenwerte möglich - Bedingung dazu ist nur, daß T> R > P > S ; oder :Inders :lusgedriickt. d:lß D/C > C/C > 0/0 > eiD: \\'o~i gehen muß, daß (T + S): 2 < R. D:lr:lus ergibt sich folgende Payoff.M:urix des Gcf:lngenendilemm:ls: C (kooper:ltiv) D (aggressiv) C (kooperativ) 3,3 0,5 D (:lggrcssiv) 5,0 1,1 Und das wird Philosophen zur Verzweiflung treiben: In komplexen SilUationen bringt "bounded rationality" (Herbert Simon) offenbar bessere Ergebnisse als unboundcd rationalir}'.
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Aktuelle Debatten
wäre auch anders möglich. Auf diese einzige Notwendigkeit der modernen Welt. nämlich Kontingenz, kann man sich nur schlecht einstellen. m mit einer Rationalität jenseits des menschlichen Verstehens operieren zu können, braucht man "Denkprothesen«.5 Im Falle unseres Gefangenendilemmas könnte man etwa an eine An Mehr.\'crcigkeitstra..ining in ComputcrsimuJationen denken. Was verändert sich. wenn die Spieler häufiger aufeinandertreffen? Werden sie sich aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit individueller Rationalität anders entscheiden und kooperativ verhalten? Genau das hat Robert Axelrod in seinen berühmt gewordenen Computerturnieren untersucht. Was geschieht, wenn man das Dilemma iteriert und verschiedene Strate· gien gegeneinander antreten läßt? Mit derartigen Fragestellungen ersetzt eine neue, generative Sozialwissenschaft die Erklärung sozialer Phänomene durch ihre Computersimulation (bouom up). Stau "Can you explain it?" fragt man jetzt "Can you grow it?" Das wichtigste Ergebnis dieser Computerturniere lautet: Der Erfolg eines Programms hängt von seiner Umwelt ab. Es gibt also keine umweltunabhängigen Spielregeln für Sieger. \X'as jeweils die beste Strategie ist, hängt vom Verhalten des Gegenspielers ab. Mit anderen \"(forlen: Wenn man die Zukunft in Betracht ziehen muß, gibt es keine "beste" Strategie. Es kann deshalb nicht darum gehen, ein Programm zu optimieren, sondern nur darum, es robust zu gestalten. Was Robustheit heißt, läßt sich nun sehr genau durch fUnf Eigenschaften definieren, die denn auch den Kernbestand der gesuchten Kooperationsmoral ausmachen. Das robuste Programm ist - IItll, das heißt kooperationsbereit; die einfachste Definition von "neu" lautet, nie mit einer Aggression zu beginnen; - pro,,'o::jtrbar, es läßt sich also nicht ausbeuten; es ist bereit, wenn nötig zurückzuschlagen; - 'JtrsMm/üh, und das heißt im Kern: vergeBlich - es genügt die Erinnerung an den letzten Spielzugi das robuste Programm ist also auch nach einer Aggression noch kooperationsbereit6; - lIidJl tijtrsüchtig - das Geheimnis des Erfolgs liegt d:1rin, den anderen nicht um seinen Erfolg zu beneiden; transparent, während man in Nullsummenspielen die Strategie verheimlichen muß, muß man sie in ichtnuUsummenspielen veröffentlkhen.' )
G. Giimher, Btiträl' ,lIr Cnll,ti/tglllll titur Optrtl/i01lsfähigt" Dia/tlt./ik, Hamburg 1980,
Bd. 11, S. VIII. 6
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Hienn ließe sich vielleicht eine sechste Eigenschaft robuster Stnuegien ablesen: Eine Stl":ltegie ist um so robuster, je weniger ihr Erfolg von Infonnationen ii~r die Strategie des anderen 2bhangt. Form21isiert h21 diese Slr2tegie d2s berühmte Kurzprognmm von An2tol Rapoport: Tit for T2t. Es beginnt kooperllliv und spiegelt dann mit jedem \\'eiteren Zug den jeweils vorhergehenden Zug des Gegners. Das verblüffende Resulrat: TFT unterliegt allen aggressiven Progr2mmen, kann kein einziges Programm besiegen - und schlägt
Bolz, Warum es intelligent ist, nett zu sein
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Das Gefangenendilemma ist die konsequente Binarisierung des Sozialen. Kooperativ oder aggressiv sein - das ist hier die Frage. 8 Der Gutmensch spielt die Jesus-Smnegie der bedingungslosen Koopencion: Schlägt man dir auf die eine \'('ange. dann halte auch noch die andere hin. Das ist zwar nett, aber diesem Programm fehlt die Provozierbarkeit. Der Zyniker spielt bedingungslos aggressiv. Das ist weder nett noch versöhnlich und entspricht der MinimaxStrau~gie, die ein Gleichgewicht des Mißtrauens schafft. Das Bestmögliche besteht hier lediglich in der Vermeidung des Schlechtesten. Und daraus folgt überraschenderweise, daß die beste Reputation. nämlich ein harter Hund zu sein, schwer zu erreichen ist, weil sie in die Logik des Zurückschlagens verstrickt - also wenig einbringt. Dem zu Kooperativen droht also Ausbeutung, dem zu Aggressiven droht EskaJauon. 9 In der goldenen Mitte liegt das robuste Programm, das kooperativ beginm, aber dann den jeweiligen Zug des anderen wiederholt - alneslamema-
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doch alle. Doch wie ges:J.gt: Es gibt keine umweltun:J.bhängig bem: Str:J.tegie. Auch TFT hat seine Schwächen. So ist das Programm der robusten Nettigkeit schwach im Umgang mit nicht-responsiven Strategien wie ALL 0 (immer :J.ggressiv) - aber auch ALL C (immer nell). Denn TFT muß im Umga.ng mit dem Z}'nikerprogr:J.mm einmal den Sucker's Pa}'off einstreichen und kann sich auf der anderen Seite nicht von anderen neHen Strategien unterscheiden. VgJ. hierzu vor allem Robert Axelrod, Tht Et'Dbtlion Df CD-Dptrnlion, London 1990. Die ßinarisierung des Sozialen im Gefllongenendilemma ist natürlich nur eine mögliche i\'lodellierung unseres alltäglichen Erlebens. Dieses Angebot ist :J.ber immerhin lIonspruchsvoller :J.ls das der Politik, die uns Ein""rlit,luiJ einbläuen möchte. TINA lautet das Liebljngsakron}'m der grolkn Politiker: there is no alternative - nämlich zu ihrer Politik. Auch "Commitment", dieser ReLigionsersatz der neueren Managementliteratur. zerstört die Plausibilität von Alternati\'en. Dem ist allerdings nicht mit Phantomen ""'ie •.Objektivität" oder "Um'oreingenommenheit" beizukommen; das macht eine schöne. paradoxe Formel \'on Maf)' Douglas und Aaron Wild:J.\·sk)", RisA: lind Clllllm, tondon 1983, S. 212. deutlich: Wer Varierät und Alternativität kulti"ie~ ren, :J.lso Optionen offen halten möchte. braucht .•a systematic commitment [0 noncommitmem". Mit dem Entweder/Oder von cooperate und defect erreichl die Modellierung des Sozialen die Z,nill·trligluil. Erst die Iterierung des Gefangenendilem. mas bringt dann einen drilltn IIY,rl ins Spiel. Dieser "Rejeklionswert" (C. Günther) zur binären Wahl cooperate/defect ist der Ausstieg aus der Beziehung: exil. Für die nellen Menschen genügt der Kooperationsgewinn im Umgang mil anderen nenen Menschen - und die Möglichkeit des Abbruchs der Beziehung mit unkooperativen. Funktional äqui\'alent zu t>.~il ist die Option DJlrnriJ... die öffentliche Ächtung der Free-rider. Allerdings ist es sehr kostspielig. Trittbrettfahrer auszuschließen. Eine Norm zur Geltung zu bringen. hat ..enforcement COStS", so Roben Axelrod. Tht C••pkxi!] of CtKJptrllliDIf, Princeton NJ 1997, S. 52: die Polizei rufen, eine Aussage machen - d:J.s kostet Zeit und Nerven; das "''Ürde m:J.n sich gerne ersparen. Deshalb braucht man eine Meta.norm: Nicht nur die Rechtsbrecher mussen bestraft ",'erden, sondern auch diejenigen, die RC'chtsbrecher nicht bestrafen. lur so gewinnt der Frevel an dC'n öffentlichen Gutem eine ..artificial noticeability" Oerome Rothenberg). Die Anwendung dieses Schemas auf Politik liegt auf der HlIond: Die Linke ist gutgläubig (q und riskiert, ausgebeutet zu werden. Die Rechte ist mißtrauisch (0) und hat Angst vorm sllcker's pa)"off (5).
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Aktuelle Debatten
risch formuliert: Auge um Auge. Diese Reziprozität erspart Freundschaft und Voraussicht. Die Koordination einer Kooperation setzt also keinen Gemeinschaftssinn voraus; die Kooperierenden müssen sich weder kennen noch miteinander reden. So kommen wir zu dem verblüffenden Z\\,jscheoergebnis, daß Kooperation ohne .,Vernunft", ohne Kommunikation, ohne Vertrauen und ohne Altruismus möglich ist. ncl man kann umgekehrt sagen: Kooperation erzeugt Moral. Kein 'lißverständnis, hirte: Wir schljeßen hier die ?o.löglichkcit, daß jemand altruistisch handelt, nicht aus. Vielmehr geben wir dem Altruismus einen neuen, nämlich evolutionstheoretisch bestimmten Stellenwert. Formelhaft ..darwinistisch" gesagt: Altruismus kann es nur geben, wenn er die Fitness steigert. Und genau das verbirgr sich himer der modernen Tugend der Lernbereitschaft; mit Herbert Si mons Worten: "docility, hence altruism".lo Es handelt sich dabei um den schwachen Altruismus des aufgeklärten Selbstinteresses, der für die temperierte Welt des modernen Kapitalismus so charakteristisch ist. "The grear enforcer of morality in commerce is the continuing rclationship, the belief that one will have to do business again with this customer".11 Die Fairness der Business-Ethik verdankt sich also der Antizipation zukünftiger Transaktionen. Dafür gibt es einen brutalen Beweis ex negativo: Hohes AJter, Krankheit oder Karriere·Ende sind ein starker Anreiz für Verrat - die Wahrscheinlichkeit künftiger Interakt:ion ist nämlich gering. Daß unser moderner Alltag so unspekrakulär verläuft und daß es in der PoLitik heute weder Visionen noch große Reformen gibt, bekommt vor dem Hin· rergrund des gerade Gesagten einen guten Sinn. Denn Kooperation wird durch Dekomposition der Interaktionen geförden: Der Fortschritt zerfallt in viele kleine Schritte! Diese K1einteiligkeit unserer Projekte ist deshalb sinnvoll, weil damit die Kosten des Verrats geringer werden. Ich komme dem anderen einen kleinen Schritt emgegen und gebe ihm die Chance zu kooperieren. \'<'enn er aggressiv reagiert, habe ich nur wenig verloren. Die Kleinteiligkeit des "muddling through" (eh. Lindbiom) steigen also die Reziprozität und Kooperationsbereitschaft. Daß f\'lenschen miteinander kooperieren, weil sie Vertrauen ineinander haben, ist für unser Thema mithin völlig unimcressam. Uns iOlercssiert umgekehrt, wie Kooperationsangebore Vertrauen schaffen und Vertrauen dann die Transaktionskosten reduziert. In dieser Perspektive einer Evolution der Kooperation können wir das Minimum der Moral, die wir für das moderne Leben brauchen, zwar nicht ethisch, aber ökonomisch, ja geradezu mathematisch begründen. Das hat den Vorteil, daß wir uns nicht zu den Glaubensartikeln eines Werteuniversalismus und der ihm zugeordneten Politik des globalen Konsenses bekennen müssen. ns genügt die Erfahrung lokaler, multilateraler Koope.
10 Her\xrt Siman. TIN Sn',,,m of tht Artiftrial. 3. AuO., Cambridge Mass. 1996. S. 45. 11 Martin Mayer. TIN Ba"kt,.s. lew York 1974, S. 280.
Bolz, \'('arum es intelligent ist, nett zu sein
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rationen, daß es intelligent ist, nett zu sein. Allerdings lassen Axelrods Computerturrucre auch keinen Zweifel daran, daß der nette Einzelne in einer Welt von FiesLingen keine Chance hat. Die Netten müssen schon als Gruppe auftreten, und es ist eine strikt mathematische Frage, wie groß die Sekte der Netten sein muß, um der Invasion der Freundlichkeit zum Erfolg zu verhelfen. \'(Jer dagegen Erfolg hat. indem er die Dummheit der anderen ausnutzt, zerstört dlmit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Mit anderen Worten: Wer nicht nett ist, hat kurzfristig Erfolg, zerStÖrt aber langfristig die Bedingungen seines Erfolgs. Räuberische Strategien zerstören also ihre eigenen Erfolgsbedingungen. Und genau umgekehrt ist das Programm der robusten ettigkeit eines, das gewinnt, ohne andere zu besiegen. Es begreift den Erfolg des anderen als Bedingung des eigenen. Erfolg habe ich demnach nicht durch Schwächung des anderen, sondern durch Stärkung der gegenseitigen Interessen. Erfolg hat, wer mit Erfolgreichen interagiert. Damit sind wir in einer Nicht-Nullsummen-Welt. Und hier muß man nicht besser sein als der andere, um erfolgreich zu sein. Für Fußball- und PokerSpieler ist das schwer zu begreifen. 12 Prinzipiell gilt, daß gute Null-SummenSpieler schlechte Win-Win-Spieler sind. Denn gerade das Gewinnenwollen blockiert die Muimierung des eigenen Gewinns. Wir lernen schon als Kinder das Spielen in luUsummenspielen, die nur eine Belohnung kennen: das Gewinnen als solches, das impliziert, daß der andere verliert. Es gehört ausdrücklich zur Fairness der 1 uUsummenspiele, daß jeder Spieler gewinnen will Es ist also wichtiger, den Gegner zu schlagen, als die eigene Punktezahl zu steigerndie drei geschossenen Tore sind wenJos, wenn der Gegner vier schießt. Es gehl hier nicht darum, die absoll/le eigene Punktezahl zu steigern, sondern die rtlalil-'t. Thorstein \febien hat in diesem Zusammenhang von "invidious camparison" gesprochen. eiderfülh vergleichen wir uns mit anderen - und genau das blockiert die \'(/in-Win-Perspektive. Für den NulJsummenspieier ist "mehr" wichtiger als "viel". Der Wettbewerbsimpuls fördert diese aggressive Strategie, die jederzeil eine Eskalation riskien. EIß unbeliebiges Beispiel. Im "Rosenkrieg" der Scheidungen spielen Ehegarten ein Endspiel im Nullsummenstil. Die Leiden und Verlustc, die das mit sich bringt, ließen sich vermeiden, wenn man die Ehe von vornherein als locol g01/lt betrachten würde, in dem es nicht ums Gewinnen, sondern um die Aufrechierhalrung der wechselseitigen Anteilnahme geht. Das schließt Streit nicht aus, im Gegenteil! Das ständig streitende Ehepaar inszeniert exemplarisch das Fa01llienleben als kooperativen Konflikt und dokumcntiert die einigende Kraft des ..conflict imerest".1J
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Flßb:l1l ist ein klassisches 'ullsummenspiel - heute verschirft durch die Dreipunk((regel, die den, der unentschieden spieh, bestraft. Es gilt also: R == P; Sieg == 3; ederlage (S) == 0; Unentschieden (R/P):: 1; und d:lnn folgt: + S): 2 > R/P. F~nk Knighl, Es/UJ/, Bd. 11, Chic:lgo 1999, S. 41.
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Aktuelle Debatten
Jeder Streit beweist Kooperation - z. B. der politische Streit um das beste Bildungssystem. Deshalb ist Streit kein Krisenzeichen, sondern ein Symptom dafür. daß eine Gruppe heterogene Präferenzen hat, die für unterschiedliche Situationen Anpassungsvonc:ilc: haben können. Insofern funktioniert der Streit für soziale KoUekcive ähnlich wie die Ambivalenz der Gefühle ruf den einzel· nen. Derart den Antagonismus als Kooperuion zu denken ist der erste Schritt zum Verständnis der gesuchten emergemen Moral, die keine Gebote braucht, sondern aus sich selbst verstärkenden wechselseitigen Verhaltensmustern er· wächst. l • Diese Denkfigur besetzt die neue re Managementlitcratur mit dem Neologismus Coopetition. Er bestätigt durch Inversion, was Richard Alexander auf die einfache Formel brachte: human being! {ooperalt 10 {M/pele. Das verträgt sich sehr gut mit der Logik des I\'!arktes, der ja soziale Koordination durch wechselseitige Anpassung erreicht. Der moderne Markt ist nämlich ein Netz von Transaktionen - und damit dem Internet ähnlicher als dem miuelalterl.ichen Marktplatz: "cvcry participam in the market system links cooperatively with millions of others while competing with relatively few."ls Deshalb reden heute alle von strategischer Allianz, s)'mbiotischer Konkurrenz, gegenseitiger Koadaption, aber auch Koevolution von Unternehmen und Kunden. Seit Ferdinand Tönnies die Soziologie mit der Grundunterscheidung Gemeinschaft/Gesellschaft neu orientierte, siruieren wir alle unsere sozialen Erfahrungen zwischen zwei Polen: hier die Freundsch2ft, don die formale Organisation; hier die Stallwärme des Intimen, dort die bürgerliche Kälte der funktion21 ausdifferenzierten Gesellschaft. Dieses Schema ist zwar sehr grob - und sich von Tönnies' Unterscheidung zu distanzieren ist ein Grundgestus jedes aufgeklärten Soziologen -, aber für unsere Fragestellung doch gut brauchbar, wenn wir (mit Begriffen von Mark Granovetter) noch eine Binnendifferenzierung anbringen: Intimität - streng ties (Freunde) - weak ries (Bekannte) - Anonymität. Die Intelligenz der elligkeit bewährt sich weder in der Intimität der Gemeinschaft noch in der Anonymität der Gesellschaft, sondern in der Selbst-
U
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Hier muß man sich hüten. Kooperation als unbedingten Positivwen zu verkliiren. Auch Korruption ist Kooperation. Selbst echte Feindschaft setzt Kooperation voraus. Feinde arbeiten gemeinsam d:uan. die öffentliche Meinung zu polarisieren. Erfolg besteht deshalb gerade nicht in der Vernichtung des Feindes. Der besiegte Ftind wird niimlich zur Hypothek. Den Carl-Schmitt-Freunden muß man also im Blick auf unser Thema sagen: Wichtigtr als dit Unterscheidung Freund/Feind ist die Dauerhaftigkeit der Interaktion. Charles ündblom, TIN Markt! SpIrIlI. lew Havtn & London 2001. S. 40. - Wie viele .,few" sind. ist dabei \'on alltrgrößttr Wichtigktit. Das numtrische Problem dtr Coopetition hat Reinhard Sthen auf die magische Formel gebracht: 4 on ft., o"J 6 on ",01f.J. 5 ist dtmnach die Grenze z\lo~schen großen und kleinen Gruppen. Bei Gruppen > 5 ist der Anteil am Kanellgtwinn k1eintr als der Profit des Outsiders. Daraus folgt: Jr größer die Zahl der Wettbewerber. desto allrakti\ter die Position des Außenstntrs.
Bolz, Warum es intelligent ist, nett zu sein
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organisation von Nerzwerken. Oie ideale Betriebstemperatur sozialer Systeme liegt verblüffend nahe am Kältepol. Während die lationalsraaten zunehmend an Einfluß verlieren, formiert sich heute ein ..neues Minelaher" der erzwerke und multiplen Autoritaten. Ein neues ,Mittelalter der Netzwerke wohlgemerkt, nicht der Märkte. Von der "Anarchie" des Marktes unterscheidet sich das etzwerk durch gemeinsame Wer· te, und von der formalen Hierarchie unterscheidet sich das Netzwerk durch seinen informellen Charakter. Netzwerke lösen Probleme, die der einzelne noch nicht einmal formulieren kann. Man nennt das auch Social Computation. ~'Iit anderen Worten: In Netzwerken zeigen r.,'lenschen Eigenschaften, die sie nicht mit Wölfen, sondern mit Insekten vergleichbar machen; hier zeigen sich die Überlebensvorteile extremer Interdependenz. Wenn uns also die biologische E\'olution den Vergleich des Menschen mit einem Wolf nahelegt, modelliert uns die soziale E\'olution den Menschen als Insekr. Damit Netzwerke funktionieren, muß ausreichend großes soziales Kapital vorhanden sein. Und hier ist es nun wichtig, mit Pumam zwischen bonding und bridging sodo/,opiI0/ 16 bzw. mit Mark Granovener zwischen slrong und ,nok lies zu unterscheiden. Oie starken Bindungen sind exklusiv. Sie knüpfen dichte etzwerke ethnischer Enklaven; Verwandte und intime Freunde finden sich in derselben soziologischen Nische. Das stärkt die Ich-Identität und die InGroup-Loyalität, also den Zusammenhalt der eigenen Gruppe. Starke Bindungen fördern die Cliquen bildung und verkapseln ins Vertraute. Hier herrscht "thick trust" (Bernard Williams): blindes Vertrauen. Dagegen sind die schwa· ehen Bindungen inklusiv. Sie verknüpfen entfernte Bekannte und bilden Informationsnetzwerke. Die Diffusion von Informationen wird nämlich nicht durch "strong ries", sondern gerade durch "weak ties" gesteigert. Schwache Bindun· gen machen neue Informationen zugänglich und verbinden verschiedene Gruppen. Das ethische Zauberwort unserer Zeit, Commitment, meint genau diese überbrückende Kraft sozialen Kapitals. Handfeste Aktualität und eine neue, überr:l.schende Dynamik gewinnt diese soziologische Begriffsakrobatik durch die neue Kommunikationswirklichkeit des Internet. In seinen virtuellen Gemeinschaften wirken bridging und bOllding nämlich gleichzeitig: "Internet chat groups may bridge ac ross geograph)', gender, age, and religion, while being tight.ly homogeneous in education and ideology."17 Das Spektrum dieser virtuellen Gemeinschaften umfaßt die Wehen des Konsums (communities of choice), der Produktion (communities of practice) und der Sorge (communities of interest). Für alle ist ein positives Feedback zwischen Ähnlichkeit und Interaktion charakteristisch. Damit wächst aber das Ausmaß der Exklusion eben so wie das der InkJusion. Das ist die Schattenseite der schönen neuen Kommunikationsweh des Inrernet: "Local convergence can
16
I~
Rob~rt
Putnam. Bour/ing Alont,
A. a. 0., S. 23.
N~w
York 2000, S. 22 f.
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AklUelle Debanen
lead 10 global polarization."18 Gerade die neuen Medien selektion der Interaktionen Oikemindedness) - und damit on mit "Ähnlichen"; das fuhn zu lokaler Konvergenz bei ler Polarisierung (culrural gap). Ta be linked or not (0 be
ermöglichen Selbstverstärkte Interaktigleichzeitiger globalinked.
" nplugged" hieß die Ars Electronica 2002 in Linz. Hinter diesem lapidaren Titel verbirgt sich das Schicksal der Ausgeschlossenen. Für sie gibt es von uns! - weder eine Politik noch eine Ethik; allenfalls den Respekt, der sich darin ausdrückt, auf sentimentale One-World-Appelle zu verzichten. Die Ausgeschlossenen können uns nur überraschen. Die Eingeschlossenen, in Kommunikationsnetzwerken Verstrickten dagegen genießen die "sociopleasure of morality"19 - ohne die Droge f..'loralin. Wie gesagt: Diese neue Weh der Netzwerke ist recht kühl temperiert, von der Stallwärme der Gemeinschaft noch weiter entfernt als von der bürgerlichen Kälte der anonymen Gesellschaft. Bekannte können hier wichtiger sein als Freunde. Und es ist offenbar intelligenter, nett zu sein, als dem anderen zu mißtrauen - oder ihn zu lieben.
18
Roben Axe!rod, TIN COl1lpl/xity oJ CooprrafiOfT, S. 172; genauso formuliert auch Mark Granovetter, "The Strength of \YIeak Ties", in: Am/rifa" JONn/al of S Molo!) 78 (1973), S. 1378: "strong lies, brceding loca1 cohesion, lead 10 overall fragmenr:nion." Wenn man die strategische Alternative des Gefangenendilemmas (Aggression/Kooperation) mit dieser Grundunterscheidung der \YIehgesellschaft (Inklusion/Exklusion) korreliert, ergibt sich eine interessante Möglichkeit der Kreulotabe!lierung: Aggression Terror Exklusion
Inklusion
Internat. Politik
Organisation Kooperation 19
Lione! Tiger, Thr PNr/Nil
oJ PI/tlll/n,
New Brunswick NJ 2000, $. 55.
Raimar Zons
Ruby Tuesday Sht M10UIJ ne~'tr stIJ ulhert sht (amt jmm YtsJertlay tlon ~ malltr if it's gone lJ?hilt the sun is bright Or in Ihe dorktsl nighl NfI ont kno»'s. She (omts ond lfHs
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GoodltJt, Tlltsdf9 II7IH (Oll!d hOIl/, 0 name Oll JOII? When JON (holl/,t /I'ilh el't'J nt/l' day Still 1'", /,onna missJOII Gaggtr/ Richords)
Nur daß ein singendes Ich namens Mick Jagger sie vermissen wird, gibt einer Dauer, die es heute noch Rubinrot und Dienstag und morgen schon vielleicht Smaragdgrün und l\litrwoch nennen wird - und die da kommt wie der Dieb in der acht oder wenn die Sonne 3m höchsten steht. Um die Gegenstände, Tiere und Menschen idemifizierbar zu machen, schlug Wütgenstein im Trar/alus logito philosopbj~us eine Schulmeistervariante des adamitischen Verfahrens vor. l\hn solle ihnen, so der wegen besonderer Grobheit gegen begriffsstutzige Schülerinnen entlassene Pädagoge, kleine Namensschildchen anheften, um das bunte, geschwätzige und wandelbare Leben in den schriftlichen S)'mbolen der Welt dauerhaft zu fixieren. Daß die kleinen Nomolheten dabei nach Herzenslust poetische Namen erfinden sollten, darf man freilich im Schulraum des Phi· losophen nicht erwarten. Vielmehr waren ihrem Domesday die Archive, Tabellen und Wörterbücher immer schon vorgegeben, und rur den rirhligm Ge· brauch der so vorgefundenen Wörter sorgte zur Not die Schlagkraft des sie anleitenden Lehrers. Die Bedeutung eines Wortes ergibt sich aus dem richtigen Gebrauch in der Sprache. also aus Schlägen auf den Hinterkopf. Was aber kann der singende Schüler Wittgensteins tun, wenn sich ihm das Objekt seiner Benennung, wenn nicht das seines Begehrens, immer wieder so entzieht, daß es sich an jedem neuen Tag von Kopf bis Fuß verwandelt? Auf Ruby, so scheint es, ist kein Verlaß, sie ist - allemal zu jener Zeit, als die Stones den Song aufnehmen, ein "böses Mädchen", wie es nur Jagger oder Richards liehen konnten: Marianne Faithful, Anüa Pallenberg. Wie steht es also mit den Namen, die wir nichl anderen "anhängen", sondern die uns selbst gegeben sind und die unsere Individualität ausmachen?
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Aklul::lle Deb:uten
"Wie sah ein Mensch aus, der kein Individuum war?" hat üonell Trilling gefragt' und danach das, was der Mensch immer schon als ihm eigen empfand, wie sein "Körperbild"• seine "Se1bSfvertrautheit". seine Sinneswahrnehmungen, GefOhle und Leidenschaften von dem unterschieden, was er nicht besaß oder rat, bevor er ein Individuum war: "Er harte kein Bewußtsein von dem 1...1 inneren Raum. (... ) Er dachte sich selbst nicht (... ) in mehr als einer Rolle, so als stünde er außerhalb oder über seiner eigenen Person." TriUing verknüpft also Individualität mil einer bestimmten Form von Selbslrenexion, wie wir sie seit der Achsenzeit im 18. Jahrhunden kennen, der wir das "individuum ineffabilc" verdanken; er verknüpft es nicht mil der machtvolJen Zu schreibung eines Anderen, von der das angeheftete Namensschildchen nur einen schwachen Begriff gibt. Diese zweite Geschichte begänne, wenn nicht mit ietzsches Brandeisen zum Heranzüchten eines Tiers, das versprechen kann, im letzten Drirrel des 13. Jahrhunderts, als die Inquisitoren der Bettelorden die amen bekannter und gesuchter Ketzer zusammenstellten und zu Fahndungszwecken verbreiteten. ETWa zur selben Zeit entstehen auch in den Städten Listen der Verbrecher und Geächteten, so etwa das Florentiner libro dtl chiodo, jenes von 1269 bis 1313 geführte "Nagelbuch", das auch den amen Dame Alighieris "zum ewigen Angedenken" enthielt. 2 Sehr bald sammelten diese Listen auch Identifikationsmerkmale, KJeider zunächsl, dann bestimmte Zeichen oder ..Signaturen" wie Narben oder fehlende Zähne, Geschwüre oder besonders lange Fingernägel, schließlich Porträts, SieckbriefZeichnungen, Pholographien, natürliche und genetische Fingerprints. Ihr zur Seite stehen jene (von Foucault) so genanmen ..Technologien des Selbst", die nach dem Verfall ständischer Zuschreibungen Individuen zur Selbstähnlichkeit zwingen, bessern oder "erziehen" sollen oder ihre Individualität gerade durch ihre ichrunterscheidbarkeit von allgemeinen Normen erweisen. Auch das in· dividuelle Allgemeine ist ja ein Allgemeines. Alles, auch der gegenwärtige Streit, den wir gleich führen wollen, läuft also darauf hinaus, ob wir individuelle Identitätskonzepte vorwiegend autonom oder heteronom verStehen, als Selbst-Reflexion, Selbst-Entwurf und Selbst-Gesetzgebung oder als soziale Zuschreibung, Verknappung, Identifikation, Zähmung lind Züchtung. Zu der Zeit, als Jagger und Richards ihren Song von Rub)' Tuesda)' schrieben, jenem Mädchen, das nicht zu fassen oder zu benennen ist, gah in deutschen Schulen als oberstes Lernziel ganz zweifellos der Aufbau einer verläßlichen,
DaJ E"d, drr AIIJrithliglt,til, Frankfurt :lo. M. 1983, S. 31; ich folge kune Z(it Hans Ro· ~rt Jauß, .. Vom Plurale lamum der Charaktere zum Singulare lamum des Individuums", in: Indi,.idllalilal, hrsg. von Manfred Frank und Ansdm Haverkamp (Poetik und Hermeneutik XIII), München 1988, S. 237. 2 Siehe dazu und zum Folgenden: Valentin Groebner, .. Der Schein der Person. Bescheinigung und Evid(nz", in: QMtl CorpJ? Eint Frage der Rtpriim,'a,ion. hrsg. von Hans Behing, Dielmar Kamper und i\hrtin Schulz, München 2002. S. 309-323.
Zons, Ruby Tuesday
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dauerhaften und belastbaren Ich-Identität. Für Jürgen Habermas, den ihre Didaktike!" abkupferten, bedeutete ..gelungene Ich-Identität" etwa .. jene eigentümliche Fähigkeit sprach- und handlungsfahiger Subjekte, auch noch in tiefgreifende!" Veränderung der Pe!"sönlichkeitsstruktur, mit denen sie auf wide!"sprüchlkhe Situationen anr\\,orten. mit sich identisch zu bleiben".) Dazu verhilft weder seine sogenannte ..narürliche" Identität, kraft deren das Kind zwischen sich und seiner Umwelt unte!"scheidet und ein integrales, homogenes Kö!"perbild imaginiert, noch seine "Rollenidentität", die sich ausschljeßlich sozialer Zuschreibung und Anerkennung verdankt, sondern nur eine "personale Identirät", in der Individuen ihre Selbstgleichheir unabhängig von besonde!"en No!"mcnsystemen und gesellschaftlichen Konstellationen behaupten. Sie wiederum zeigt sich in der Fähjgkeit, die eigene Biographie jederzeit lückenlos aJs wahrhaft "eigene" referieren und dadurch als individuellen homogenen Bil· dungsroman ausweisen zu können. icht nur die Traditionen pietistischer Seelenbefragungen sind hinter einer solchen Konzeption leicht identifizierbar, sondern (als ihr Erbe) auch eine auf die Rekonstruktion verschüneter biographischer Anteile reduzierte Psychoanalyse. Gerade in Zeiten raschen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels scheint aber der kompensatorische Gedanke, das Individuum sei mehr als die Summe seiner Rollen, unabweisbar. ticht nur verspricht er den Subjekten jenseits wechselnder Zu schreibungen einen Bezugspunkt, von dem aus es den Anforderungen der Rollen Widerstand entgegensetzen kann, er bewahrt auch den Gedanken an eine Gesellschaft bürgerlicher Verbindlichkeiten inmitten ..pOStmoderner" Gleichgültigkejr und Vielstimmjgkeir. Daß freilich Einstimmigkeit, älteste Voraussetzung jeder ..personalen Identität" und Auronomje, einfach ••gegeben" ist und daß wirklich Irh es bin, der die Stimme und die Rede haI, das scheint so selbstverständlich, wie es Habermas und die didaktischen Lernzielerfinder meinen, wohl doch nicht zu sein. Wir brauchen ja nur die Adressaten von Kants berühmter Polemik in seiner AufkJärungsschrift zu Rate zu ziehen, um festzustellen, daß die "Iche", die er in seinem nicht aufgeklärten, sondern Zeitalter der Aufklärung vorfindet, nicht eben Herren ihrer Rede sind. Hier nämlich spricht durch ihren Mund ein Buch, dort ein Seelsorger, hier ein Arzt, dort ein Offizier, hier ein despotischer Fürst, dort ein anonymes ..man", hier wieder ein aller Brauch oder eine längst überfalJige arm. Während die Ohren nicht zu verschließen sind, haben die Hörigen also offenbar keinen eigenen l\lund (ich verkneife mir alle Kalauer von Mund zur Mündigkeit), sie sprechen mit vielen anderen Mündern, ihren Vor-Mündern. Start auf ihren eigenen Verstand hören sie auf die Einflüsterungen ihrer verfUhrerischen Begierden, von
) Jürgen Habermas... Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?" In: ZNr RtkonsJrulr.Jion du bistorisrhen MaterialiunNJ, Frankfurt :10, M. 1976, S. 92-126, hier S. 93.
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Aktuelle Debatten
angemaßten Autoritäten oder betrügerischen Pfaffen; aber nicht auch auf die ihrer Ahnen, ihrer Genien und Dämonen, der Musen und ..Socii", kurz all je+ oer guten Geister, die im neuzeitliche Selbst offenbar versrummt sind? Ist es also der Preis des Selbstdenkcns. der Autonomie und personalen Idencitiit nicht nur von den bösen, sondern auch von ..allen guten Geistern verlassen zu sein? Und wäre nicht mit Picrre Klossowski jene Seele wahrhaft "tot" zu nennen, die nicht mehr bewohnt ist? Wäre, nachdem Lucher die Geisfcrstimmen schon auf den einsamen Gewissensruf verknappt haue, der schalltote Raum der Preis für Kants .. Ich denke, das aUe meine Vorstellungen muß begleiten können"? Und könnte es sein, daß die Verdrängten nun wiederkehren, daß also die Zeit des seIhstidentischen Ich nur Episode blieb? So sieht es etwa Kenneth Gergen 4 , wenn er dem Einfluß der neuen Kommunikationstechnologien auf das kulrurelle Leben nachgeht. Schon die ersten Radiohörer hanen Geisterstimmen gehört, die schiere Masse an synchron sprechenden Stimmen, denen wir durch das TV, das Telephon, den Discman, durch das Kino, den PC, das Internet usw. permanent ausgesetzt sind, konfrontiert uns mü derart vielen Ereignissen, Stimmen, heterogenen Standpunk. ten, Perspektiven und Ansichten, daß aUe Wissens- und Glaubenssysteme, die bislang objektive und subjektive Gewißheiten und praktische Orientierungen gewährt und Identitätsbildungen ermöglicht hanen, einer schleichenden Auflösung und Zersetzung ausgesetzt sind. Umgekehrt werden Sie nicht gerade als Subjekt mit einer individuellen Lebensgeschichte angesprochen sein, wenn die anonyme Stimme eines Computers Sie am Telephon nach Ihrer Wahl einer politischen Partei oder eines Waschmittels befragt. Solchen auf Ziihlbarkeit und Statistiken angelegten Individualitiitskonzepten entspriiche schon eher der in den sechziger und siebziger Jahren heftig kritisierte Rollenbegriff eines Helmut Plessner, der freilich aus dem heutigen sozialwissenschaftlichen Diskurs fast völlig verschwunden ist. Dessen Theorie geht niimlich von einer elementaren und unhintergehbaren Rollenhaftigkeit, von Masken ohne Gesicht, aus und wurde folglich in der kommunikativen Wiirme linker Beanuenmilieus kapitalistischer Kälte und Unmenschlichkeit geziehen. Wer kann aber leugnen, daß jenseits sozialer Zuschreibungen und Zwänge etwa in den Internel Chatrooms von heute gerade auch der Rollengtmp> und die Freude am Maskenspicl wiederkehrt, die das vorbürgerliche Rokoko bis hin zu letzten. erotischen Verfeine· rungen kultiviert hatte? Keiner weiß in diesen Liaisons Oangereues, ob sich hinter "Ruh)' Tuesday" nicht vielleicht ein 65jährigcr Philosophieprofessor versteck[~ keiner, ob die Maske "Willem" nicht ein junges Miidchen triigt. Jeder und jede entwirft oder fingiert eigene "Lebensgeschichten", bis sie wieder durch andere ersetzt werden. Und diese Form des Se1f-Designing ist ja längst aus den etzen in die sogenannte Wirklichkeit emergiert, dahin freiljch zuerSt,
•
Kcnneth Gergen, 00; Obtrsöfliglt Sr/bJI. IdtnliliilJproblnllt illl htuligen Ltbm, I-Ieidelberg 1996.
Zoos, Ruby Tuesday
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wo sie am unwirklichsten ist: in die GLitzerwelt und in die "dark rooms". Fragte man sich eben noch, welches geheimnisvolle "Selbst" akademische Diätmar· garine.Konsumenten verwirklichen sollten oder wollten, ist das Bildarchiv zur Se1f-Fashioning heute fast unerschöpflich. Könnte darüber hinaus die neue, mediale Vic1stimmigkeit, weit davon entfernt Subjekte in Motivationskrisen zu verstricken, nicht zu der schönen und demütigen Einsicht verführen, daß wir in diesem Geisterreiche, in dem nicht nur Tiere oder Engel, sondern auch Programme mit uns sprechen, nicht die Einzigen, aber auch nicht einsam, daß un· sere Seelen also bewohnt sind? Während hierzulande die Theorie des Kommunikativen Handelns bürgerli. eher Subjektivität gegen die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft einen großar. tigen letzten Ausdruck gegeben hat, wurde jenseits des Rheins freilich längst schon die Gegenrechnung aufgemacht. Zur sei ben Zeit als gegen das schleichende Ohrengift von Rub}' Tuesda}'. das da über den Äther kam, das "Lernziel Identität" ausgegeben wurde, untersuchte und benannte '[iche! Foucault die Institutionen und Technologien des Selbst, die es überhaupt erst" hervorbringen konnten: die panoptischen Appararuren der Menschenvermessung und der Befragung der Leiber und der Seelen, der Heilung und der Verbesse· rung, der Erziehung und der Disziplinierung, der ormierung und der Mobili· sierung; die Schule, die Klinik, das Asyl, das Gefangnis, die Kaserne. All diese Disziplinarmächte sind aufeinander bezogen und bilden ein homogenes Medium der Norm. Vielleicht blieben sie in Deutschland so lange unbemerkt, weil es dieser gar nicht so .. verspäteten Nation" gelungen war, aUe diese von außen kommenden Praktiken und Techniken so ins Innere der Individuen zu verlegen, daß sie sie als "Freiheit", wenn nicht als "Natur" fingieren konnten. Dazu. man weiß es, bedurfte es einer langen und gefahrlichen Bildungsgeschichte, die sie von der ~inm Pflicht der Philosophie über die ~ine Liebe der Dichtung zur einen nationa· Jen Gemeinschaft und zum tinm immerwährenden Befreiungskrieg geführt hat. Aber die oft erzählte Geschichte des "Individuellen AlJgemeinen" wird in der globalisierten Weh enrweder zur Lachnummer oder zur gentechnologischen Horrorvision, wie sie uns das Schlußkapitel von Houcllebecqs Elmlt1llt1rttikhm in den "neuen Göuern" vorstelIr. \'{fir kommen gleich wieder darauf zurück. Wäre Ruby Tuesda}', 1967 in FIOJJ.'trs besungen, erwa zwanzig Jahre alt gewesen und häue sie Sex, Drugs und Rock'n Roll überlebt. müßte sie heute Fünf· undfUnfzig sein, in meinem Aher also, und nicht viel jünger als der, dem dieser Text gewidmet" ist. Vielleicht wäre sie, start ihre Träume einzufangen und ihren Verstand zu verlieren, Philosophieprofessorin geworden. Vielleicht fanden wir sie, in New York oder in Utrecht, in London oder Freiburg im Gespräch mit ein paar Gleichgesinnten, und vielleicht würde diese Radioshow moderiert von keinem anderen als von WiJlem. dessen liebenswürdiger Einladung wieder einmaJ niemand widerstehen konnre.
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Aktuelle Debatten
WiJJem "an Reijen: Meine Damen und Herren, bitte begrußen Sie mit mir Laune Anderson, Sadie Plant, Ruhy Tuesday. Jean BaudrilJard. Michel Houe!lebec,! und Richard Senneu5 ; Jean Baudrilla.rd, Sie haben das \'(lo("[: 1, Boudn'llard: In dtm SysltlJl ~'Ofl VerntliJlngen, Dalenflulen, Verbindungm, KOff/nmnilealionen und InltifoftJ, mil denen lI,ir el ZN 11m haben, brginnl dal Jrb, die Individuoli/iil, beginnl das gutt, olle Subjekt ZN vtrsfhll';ndtn. Es lösl sirh auf. tJ zen/rtlll sich.
RNIry T.: Das Subjekt, von dem du sprichst, guter Hans, ist ja gar nicht so alt und gut, wie du sagS(. Zweihundertfünfzig Jahre vielleicht. ErSt die Zeit Kams hat überhaupt unterschieden zwischen Substanz und Subjekt als zwei Formen eines Zugrunde1jegens (Hypokeimenon). Ein Ich als Mjne einer Weltkonstrukrion, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können, ein Ich aber auch als imaginärer Ursprung von Handlungen, für die ich veranrwortlich gemacht werden kann, ein Ich schließlich als Integration eines Körperbildes und als Sehepunkt verdankt sich einer neuen Schreib- und Lesepraxis: der pietistischen Seelenbefragung, der Autobiographie und einem leisen Lesen sozusagen von Geist zu GeiSt, das heißt von M,ann zu Mann. Foucault hat von den Technologien des Selbst gesprochen, von denen die deutsche Erfindung eines nicht mehr äußerlich, sondern innerlich zwingenden Souveräns die erfolgreichste war. Sie domestiziert ja nicht nur das Ich, sondern auch den Souverän, der in Hobbes' Leviathan der letzte der menschlichen Wölfe geblieben war. So werden Menschen von hard copies selber zu Programmen, aber mit dem großen weißen Mann ist es nicht mehr weit her. Subjekt bedeutet also immer eine Verknappung und Zuspitzung dieses männlichen Selbstkonstrukts: Was wir im Prozeß der westlichen Zivilisation erfahren, ist ja eine unendliche Verarmung des Ich von Luthers Gewissen über Descanes' Cogito bis hin zum schalltoten Raum des .. Ich denke" bei Kant. Es ist buchstäblich von allen guten und bösen Geistern verlassen, mit denen sich erwa l\hni auf seinen einsamen Wüstenritten noch unterhalten hatte. Erst in jüngster Zeit und namentlich seit Freud und Heidegger ist ein Gedanke wieder offen, der der Dichtung immer vertraut war, daß unser Sprechen von zahlreichen Stimmen durchschossen, ja daß im eigentlichen Sinne nicht wir es sind, die das Wort haben (zoon logon echon). Willem hat ja schon einiges dazu gesagt. Diesseits seiner Pachologisierung und jenseits der Rollensoziologie kehren Vielstimmigkeit und icht-Determinierbarkeit in der etzkommunikation wieder, deren Anonymität nicht nur RolJen- und Maskenspic:le wie im vorsub-
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Die Beiträge gehen tatsächlich zurück auf eine Radioshow von HR 2. Ba}'ern 2, WDR 3. 0 1, DRS 2 im Zusammenhang von Intermedium 2 in der zkm: Straltgir" titr AJlj1iIJl"Z. Ei"e Guprärbsi"llaI1a6o" jiir AltfUfht" N"J Alo"ilOrt, Moderation Peter Kernper mit Narben Bolz und Raimar Zons, Karlsruhe 22. März 2002. 21.45 Uhr. R. T. ist nariirlich. wie sollte es anders sein. eine reine Fiktion.
Zoos, Rub)' Tuesdll)'
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jektiven Rokoko ermöglicht, sondern neben sogenannten Menschen auch Frauen, Programme oder Avatare gleichberechtigt zuläßt. Das eröffnet ganz neue Spielzüge, also auch, wenn du so willst, "Freiheiten". Freiheit heißt ja bei Luhmann nichts anderes als Alternativen zu fingieren. 2. Lo1ln·e Anderson: /eh fiir meinen Teillübe tJ, als Person weniger eindeutig und zllsammenhiingend, als vielmehr "ieldeu/ig und Iltiflüssigt Zu R!irken. So daß ich mich Imgezwllngener beRlegell ,md a1lch leirhter Dinge prüfen kann. Aber ist der Men5(h den Möglichkeitell, die htute die lnformotions/ubnologitfl, die Gm/echllik, die NOllo/ech"ik entwerftn, überhaupt noch gewachsell, oder ist er zutlehl"e" überfordert?
fVlby T.: Die eigentliche überforderung, Liebe Laurie, ist, wie ich meine, Der Mensch selber, der Mensch als Singuluetantum, der Mensch als handelnder, als Geschjchtssubjekt, diese prometheische Metapher des Mannes, die das wirkliche Problem nicht erhellt, sondem verdeckt. An der Kartierung des Gehims etwa, der Eneschlüssdung des Genoms, den Erfolgen der Nanoelektronik oder Robotik waren ja nicht nur die Forscher und Ingenieure, sondem auch Maschinen, Roboter, Programme, Computer - ich möchte fast sagen gleichberechtigt betejligt. Ray Kurzweil und BilJ Joy vom MJT haben darauf hingewiesen, wie sehr sich diese Arbeitsteilung mehr und mehr zugunsten der Maschinen verschiebt, Der Mensch ist also immer schon ein Phantasma in einer Geschichte von Strukturen - aber ein sehr wirkungsmächtiges, ja terroristisches. Er setzt genau jenes allgemeine Wesen voraus, das sich im Augenblick möglicherweise mehr in der Technik als in den Menschen selbst verwirklicht. Ja, es scheine so, daß mehr und mehr von ihnen jenem eingeschlossen/ausgeschlossenen Typus angehören werden, den der italienische Philosoph Giorgo Agamben als "homo sacer" anspricht. Dieser Verruchre der Erde, der Migrane, der Habenichts, der Palästinenser - und oft genug eben "die Frau" - f:ilh durch alle Raster und Strukturen der symboljschen Ordnungen hindurch, wird zum Objekt einer Biopolitik, zum potentiellen Lagerinsassen, wenn nicht gleich zum Menschenmaterial. Es stellt sich dann nicht mehr die klassische Philosophenfrage, ]J'as der f\'lensch ist, eine Frage, die zur Verwirklichung seines Wesens in der Technik geführt hat, sondern die, Rler überhaupt noch Menschen sind. Diese Frage umerscheidet nicht poljtisch zwischen Mensch und Unmensch, zwischen Freund und Feind, sondern zwischen geformtem und ungeformtem Leben. Lustigerweise \\'ird übrigens diese Frage heute weniger in philosophischen Seminaren oder Kolloquien gestellt als in Hollywood·Filmen wie Bladerunner oder Matrix. du solltest das wissen. 3. Sadie Plant: Irh bin optimistischer; lI'as "üle dieser Entllfiddungen angehl. Nirht 1I..~il ith lI!irklith glaub~, daß der Mensch in Zukllnft Z. B, dllrth künstlithe uhensjornJen er· setzt Jl'erden kiinn/e. Aher ich denke, daß die Entstehu"g IIOtI sich selbst organisierenden künstlichen Lebensjormell "nd "nser Verstehen ihrer Moglithkeiten - lilas diese Dinger 01-
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Aktuelle Debatten
tu kiinnen - J daß diese BtJlJIiß/ll!tTdung einen sebr guten E./ftkl o,,! unsert wut/iche Kultur hoben Ieonn. Dtnn 1llahrsrhtinlith leiden 111;" stil Jahrhunderlen doran, daß uns de,. Sinn jiir DtfllJ/1 l/trlortngtgongtn isl. uun", Anderson: /rh gIOl,be, l/iele MtnJtben J:erguStn, ude Ilngloublith dumm Maschinen sind. Das bule Beispiel, dos mir dozu tinfiilll, ist dOl Srhll1tigtn. Du machst zum Btifpitl
folgendt/: 20 Stkundtll S(hweigen Schweigen kann unglflliblicb "bertdt" !ein. IJVtnl1 das 111m tl11tr Maschine possiert Srhll1ügtn im Computtr - srholltl sie sich ab. Es gibl kein "digitales SchJJltigen ", lJltii darin wirklich nichts passiert. Moubintn sind eben dumm. IJVtnn Masrhintn einmalftinflihlig und genall werden, dann in/trtuitrtn sie mirh. RNI!J T.: Wenn wir die Geschichte der f,,'lensch-Maschinen-Vergleiche rekapituLieren, schöne La.urie. Sexy Sadie, machen wir die Erfahrung, daß die Entwicklung der Kybernetik und Robotik schon manchen Computerphilosophen wie Weizenbaum tatSächlich gründlich gedemütigt hat. Was denkbar und möglich erscheint, spielen uns heute verläßlicher SF-Filme wie AI von Spielberg vor, auf die die nämlichen Theoretiker oft merkwürdig verärgen und besserwisserisch reagieren. Natürlich kann man auch Synästhesien, ja auch bestimmee Gefühle, sogar, wie Luhmann gezeigt hat, Ironie kybernetisch beschreiben. Wo die Grenze ist, wird keiner sagen können. Tatsächlich scheint mir aber, Laurie, deine Antwon genau die richtige zu sein: Wann fangen Maschinen an, uns menschlich zu interessieren? Wann beginnen wir, mit ihnen menschlich umzugehen? Das kann projektiv schon sehr früh geschehen, etwa wenn wir unseren PC animistisch mit "Er" ansprechen. Aber irgendwann spricht "er" so zurück, wie ihm selbst der Schnabel gewachsen ist. Dann spricht er nicht nur als Programm, sondern als "Person". Heute können wir das mit den Androiden in Star-Trek-Filmen erleben, aber es bewegt sich aus dem Imaginären der Kinoräume auf uns zu. Etwa in Gestalt der Cyborgs, deren Manifest She,rry Turkle geschrieben hai und die längst unter uns sind. Ich finde das problematisch eigentlich nur in bezug auf die, die von diesen Prozessen kategorisch ausgeschlossen sind oder ihm allenfalls als Material dienen. Und wir selbst, gerade wir Frauen, müssen unsere User-Position verlassen, denn, um orbert Bolz zu zitieren, die User sind nun mal die Loser.
4. Sadie Plont: [th dtnJu nicht, daJ Tuhnologie irgtndein Ceuh/echt huitzt. Aber ich bin iihtrzeNgt - lind das mllj gerade billte huonders hetont 1I1erdtn - daß sie ganz hestimmt nichl miinnlich ist. Das gilt natiirlirh auch flir die Medien.
RNI:1 T.: Ein alter Bekannter, der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler hat einmal den Begriff "Medienanthropologie" deshalb verworfen, weil zwischen Medien und Menschen nichts laufe. Was zähle, sei einzig die Ge-
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schichte des Seyns. Ihr hört nicht nur Heidegger, sondern auch Lacans Rede über das Geschlechten'erhältnis hindurchtönen. Die ,·ielen Geschichten vom Ende Des Menschen - Du Mmsr!}(n groß geschrieben - markieren hier, glaube ich, eine denkwürdige Zäsur. Die Techni· ken des Selbst, die Paideia der Griechen, der Humanitas der Römer, die Subjektdisziplinierung der westlichen Moderne, sie alle sind eingebunden in eine technische WeltkonstTuktion, in eine prometheische, männliche Selbstermäch· tigung, die jetzt reflexiv wird. "Der Mensch" also ist nicht "AutOr", sondern ein Effekt von Techniken und Medien. Während das Denken emigriert, ist die weStliche Welt - in Hege1s Worten selber zur Schädelstätte geworden. Das zeigt sich schon in unseren intelligenten Autos, Wohnungen, Häusern, Städten und Kriegsschauplätzen. Oie Geschichte des objektiven Geistes ist also eine Technik- und Mediengeschichte. lü Menschlichem hat sie nichts zu tun. lun stehen dieser westlich-urbanen, .,unmenschlichen" Technik, unserer griechischen Erbschaft, plötzlich die langst vergessenen "männlichen" Tugenden aus dem Osten gegenüber. Wüsten- und omadentugenden: Mut bis zur Todesbereitschaft, Ehre, List. Sie hebeln das GefUge der Technik mit den kleinsten Mitteln aus: dem schwachen menschlichen Leib, den religiösen Träumen, den Nagelscheren. Aber sie hacken sich partisanenhaft auch in die weltweiten elektronischen Netze ein, leiten Kapitalströme um, kapern Informatio· nen und kappen Befehlsstränge. Sie verwirren also das nach außen gestülpte westliche superbrain. Was "menschlich" heißen kann, muß sich vielJeicht von dieser Schwelle aus neu definieren. So auch das Geschlechterverhältnis. 5. Michtl Houtlltbtcq: Am Endt IIItinu Rolllons "Eltllltn/orttikhm" bobt icb t'ersuch/, mir tin 117tstn nach dtm Mmschtn t'O'tusltlltn. Mtin Portriit bltibl ~tmlith ungtnau. leb »itiß nichlwirleJich, 1I,,'t u aussith/.
Rulry T.: vielleicht wie das eines neuen Christen, lieber Michel? Der ganze Technologiediskurs steht ja im Horizont einer Kultur, die der McLuhan Schüler Oerrick der Kcrckhove LJ Ci"ilisn/iofl VidioChri/itn, also die videochristliche nennt. Und am Anfang dieser Kultur steht eine gnostische Leibfeindlichkeit - oder doch zumindest die Aufspaltung in verschiedene Hy. postasen des Leibes: etwa den natürlichen und den vergeistigten oder verklärten. Jesus Christus selbst, nach seiner Auferstehung, war vielJeicht der erste Antar. Aber im Ernst: Für den Jesuitenschüler Descanes wird der Leib zum Fremdkörper, zur von der res cogitans gesteuerten Maschine, und Günrer Ande:rs hat daran anknüpfend den puritanischen Leibhaß für jenes human engi. ne:ering verantwortlich gemacht, mit dem \\fir es heute zu tun haben. Enrsprechend sind die Technologien des Selbst an die Körper adressiert und benutzen die Seele aJs Kommandozentrale. Disziplin und Schönheitskult vergeistigen und formen die Körper so, daß sie ihre Leiblichkeit, ihre Gebürtigkeit und Sterblichkeit, ihre Sexualität und Schmerzempfindlichkeit rnög·
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Aktuelle Deballen
liehst weitgehend abstreifen. \'(fas den Körper vom Leib trennt, erscheint uns als Ekel. ncl der ekelhafte Typos schlechthin ist die vates. die alre Vettel, die aus jeder Runzel ihres Leibes Unzucht und Verwesung ausdünstet. Dagegen hat das Winckelmannsche Zeitalter den M.armorkörper des jungfräulichen Mädchens gesetzt: Nm a girl, not )'cr a woman, wie Srirney Spears singt, also ein reines Medium. In diesem Schönheitsideal sind nicht nur die FiJm~ göttinnen, sondern auch die Cyborgs und Avatare schon antizipiert. Es bleibt
aber Lyotards WOrt, daß nichts so schmutzige Folgen hat wie der reine Geist, das Denken ohne Leib: Menschenmaterial, \'Verware sind einjge davon. Das ist die neue Form von Frauenfeindschaft. 6. Rithard Smnell: Der Kopilalismlls Iltrhinderl, daß die ullle, FralIen und Miinner, ihre eigtne Geschühte enlwükeln hinnen. Der moderne Kapitali.smlls isl allsuhlirßlich an der flexiblen, flüchtigtn, fOrllallfindtn leit inlerusiert. Für müb kann deshalb die Lösllng allch nüht darin beItthen, zllm allen Kohiirtnzmodell tVJn "IdtnliMI" ZllrNckZllkehrtn, sondern tielmtbr die Möglühkeil I/On Verlenüpfllng I/On Etfahnmg Zll fordern.
RJiIry T.: Oie Rückkehr zum biographischen r.,·(odell, das wir dem Pietismus (oder Augustinus, Rousseau, Goethe) verdanken, jenen Seelenmitschriften zur Ehre des höheren Gottes oder des Staats, ist uns - Frauen wie Männern - wenigstens verschlossen. Beim späten Foucault deutet sich aber, wie ich meine, eine Altemative an, die von einigen als Rückkehr zur Subjekrphilosophie mißverstanden worden ist. In der Fortschreibung vom Gebrauch der Lüste in die griechische Antike ist er auf eine Sorge um sich selbst und auf einen Selbstgcnuß gestoßen, die weder wahrheits- und veraJlgemeinerungsfahig noch zu disziplinieren sind. In ihnen findet sich vielleicht eine Alterna.tive zur Idenutäts- und Subjekrphilosophie da.rin, daß sie auf den einzelnen Leib und nicht auf den gesellschaftlichen Körper bezogen sind, also auch auf seine Gebürtigkeit, seine sexuelle Lust und seine Sterblichkeit - all das, was Houellebecqs neuer Mensch überwunden hat. Der Zeitgon solchen Selbstgenusses wäre nicht Kronos, sondern Kairas, der richtige und geglückte Augenblick. Heute greifen einige, Wilhe1m Schmid etwa oder WiJlcms alter Lehrer Rai~ ner Marten, diesen Gedanken auf, um den alten philosophischen Topos von der Lebens-Kunst zu revitalisieren. Ich hätte überhaupt kein Problem damit, deren Schauplatz auch in die gegenwärtige Konsum- und Medienweh zu verlegen. Gende wenn man kein eigenes \'(Iehbild hat und selbst nicht im Bilde ist, kann man Bilder machen und genießen, gerade auch Bilder von sich selbst, also SeJf-Fashioning betreiben. Kunstfiguren wie ich selbst oder iadonna können dafUr gewisse Muster ge~ ben. Menschen sind nun einmal bildermachende und bilderkonsumierende Tiere - und nicht jedes Bild ist gleich ein Kultbild oder vera icon. Hier in den Sclbstentwürfen ohne Selbstverwirklichung, in den Verkleidungen und M.askenspielcn ohne Original öffnet sich, glaube ich, ein neues Feld der Lust.
Zoos, Ruby Tuesday
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Kairos hieße: Das richtige Bild zur richtigen Zeit. Die Gewalt der Bilder, das Verschlingen des Imaginären, der perfekte .Mord am ReaJen, was immer das sein mag, all dje großen und düsteren Metaphern Baudrillards wären dann arbeitslos. Willem van Reijen: Meine Damen und Herren, soviel zum Thema ich-Identität. Sie sehen, es kann efWas Lebensbedingung und trotzdem falsch sein; so sagt es ietzsche; liebe Ruby T., ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Herman van Doorn
Philosophie und Photographie oder Triumph des Bildes? Als ehemaliger Philosophiestudent von Willem van Reijen entwickelte ich ein besonderes Interesse an der deutschen, kontinentalen Philosophie. Später während meiner phmographischen und künstlerischen Wanderungen orientierte sich dieses Interesse an den literarischen und philosophischen Arbeiten \'(/alter Benjamins. Indem ich meine photOgraphischen Tätigkeiten mit der philosophischen Neigung kombinierte, wurde ich zunehmend fasziniert durch die Reisen Benjamins und seine verschiedenen kurzen Aufenthalte an sehr unterschiedlichen Orten. PhotOgraphierend und lesend versuchte ich meine Neugier also auf doppelte \X/eise zu befriedigen. Schließlich mündete diese Suche in Zusammenarbeit mit Wille m in einem Buch, einer Art Chronik von Leben und Denken Walter Benjamins. Einige der Widerfahrnisse dieser Suche kommen im rol~ genden in Text und Bild zum Ausdruck. Am Anfang war das Wort, und dann war da auch noch das Bild. Die Frage drängt sich auf, ob das Bild sein Bestehen allein der Möglichkeit verdankt, daß es zur Erläuterung des Wortes in der Lage ist. Es ist nicht einfach, diese Frage mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Auch bei mir stand bisweilen am Anfang das Wort, z. 6., weil ich "Marseille"l schon gelesen hatte, bevor ich abreiste, um Benjamins Aufenthalte und Passagen don zu lokalisieren und zu photographieren. Meine Arbeit stand in unmittelbarem Kontakt mit Benjamins "naturalistischer" - oder vielleicht besser "barocker" - und hinreißender Prosa. "Denn die Kindheit ist der Quellenfinder der Trübsal, und um die Trauer so ruhmreich strahlender Städte zu kennen, muß man in ihnen Kind gewesen sein 1... 1. Den Reisenden werden [... } die Fenslerg~mer des Court Pugel 1...1 nicht verraten, wenn ihn nicht ein Zufall in die Totenkammer der Stadt, den Passagen de Larette führt 1... ]"2. Und dann war da der Zufall, als ein Kind in den Passagen de I..orette in der dunklen Unterwelt verschwand und der Phot'Ograph. der im entscheidenden ~foment blitzartig die KamerataSIC berührte, alles. was der Fall ist. einer Fraktion der Zeit abschwindelte und ein Bild gestaltete.
\Vah~r B~njamin, .,MarsciIl~". 2
in: GtJa",,,ulte S(hriJtm (GS), hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt::t. M. 1972 H. IV/I, S. 359-364. Ebd .• S. 362.
van Doorn, Philosophie und Photographie
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P:usag~ d~ lor~II~. Marse.iIl~
Wenn man sich auf den Lebenswandel und die Philosophie Walter Benjamins einläßt, wird man mit vielen Überraschungen konfrontiert. nd weil Benjamins Bilder durch Wörter beschrieben werden, ereignet sich in der Photographie gerade die Isolierung eines Moments. Da Benjamin einen Unterschied zwischen den Städtebildern Fremder und Einheimischer machte), tritt noch ein Überraschungsmoment hinzu, namentlich für denjenigen, der die Schilderungen Benjamins gelesen und sich ein Bild gemacht hat, noch ehe er tatsächlich dem Geschilderten begegnet. Dann handelt es sich um eine vermittelte Erfahrung. Bei meinen Reisen auf den Spuren der Aufenthalte und Passagen Benjamins bin ich manchmal auf diese Schwierigkeit gestoßen. Die Überraschung stellt dann beinahe ein Wiedererkennen dar. Aber ist das ein weniger bildhafter Eindruck als ohne dieses vorhergehende Wissen? Ich weiß es nicht, weil die Erfahrung des Gelesenen nicht zurückgenommen werden kann. Doch war der Reiz nicht geringer als ohne irgendein Vorwissen. Jedoch lag der Reiz auf einer anderen Ebene, namentlich im Hinblick auf die Texte Benjamins. Und jetzt beim Schreiben für diese Festschrift kommt die Vermischung des Fernen und des Einheimischen hinzu. \'(fenn die Erinnerungen auf solche Weise fünffach (Lesen, Ferne, Erinnerung an den Text, Fremderlebnis und erneute Erinnerung) vermittelt sind, wie zuverlässig )
..Die Wiederkehr des Flaneurs", in: GS. 111, S. 194; mit einem Nachwort von Peter Szondi in: SlöJltbilJtr, Frankfurt a. M. 1963, S. 79 (r.
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AklUclle Debatten
kann das Resultat dann sein? Zum Glück gibt es die technische Reproduzier. barkeit der Bilder, die uns - wiewohl in einer subjektiven Handlung begründet - einen objektiven Eintritt in die Vergangenheit ermöglicht. Dadurch wird die Photographic: Schlusse! zur Vergangenheit. Die technische Reproduzierbarkeit weist als Charakteristikum die dauerhafte Erfahrung einer Realität auf (oder ist es eine Illusion?), auch wenn diese Realität als solche nicht mehr exiscien. Auf meiner Suche harte ich des öfteren ähnliche Erfahrungen, weil beim Antreffen eines Ortes das Konkrete, das Fühlbare verschwunden war. So gab es an der Stelle des Ehernhauses in der Delbrückstraße in BerJin nur noch die Hundehütte hinter einem Gitter, und in Lourdes war der letzte Aufenthah von Benjamins Leben in einen Parkplatz verwandelt worden. Was mich anbelangt. gibt es jedoch beim Verfolgen der Geschichte Benja. mins nur Gewinnsiruationen. Die tatsächliche, taktil anwesende Erinnerung ruft eine Rührung hervor, nicht zuletzt aufgrund des modellhaften Charakters seiner Irrfahrten als verbannter deutscher Jude während der Zeit des Nationalsozialismus; und beim Zerstörten kommt es auf das Melancholische an. Jeden. faUs sind es therapeutische Erfahrungen, da endlich sich selbst begegnend.
22. DtJbrikkstnJk 23, Ikrlin
van Doorn, Phjlosophic= und Photographic=
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2b. rue Noue Dime 8, Lourdes. EinSI Benj:lmins letzter Aufenthalt, jelzt Eing:lng zu einem Parkplnz
Die Suche nach den Aufenthalten und Passagen war manchmal einer Detektivarbeit vergleichbar, diesmal jedoch nicht geleitet von der kriminalistischen Frage ..\Vler hat es getan?", sondern vielmehr vom ..Wo war es?" Also führte das Suchen auch nach dem zuvor unbekannten Aufenthahsort Benjamins zur Zeit der Gründung der ..\'irruellen Universität Muri", gemeinsam mit Gershom Scholem. ur der ame Bonanomi war bekanm und natürlich jetzt in Mun nicht mehr vorzufinden. Glücklkherweise gab das Telefonbuch von Bem Auskunft, und von einem Großneffen der Enkelin Bonanomis in Luzern bekam ich ein fast unleserliches Facsimile ins Hotel gebracht mit einer Abbildung der Wohnung in Muri. Mit diesem Facsimile, aber ohne Adresse, reiste ich nach dem Gemeindehaus in "'Iuri, wo man bei der fur Wasserleitungen zuständigen Behörde scheinbar seit Jahren auf solch einen Antrag gewartet haue, so jedenfaUs konnte man aus der Hilfsbereitschaft der Beamten vermuten. Es wurde unmiuelba.r in den Archiven gesucht und ein pensionierter, Postkarten sammelnder Kollege angerufen. Mit Hilfe alter Pläne und alter Ansichtskarten wurde die Adresse gefunden und das Haus tatsächlich photographiert. Szondi bringt treffend zum Ausdruck, daß .,es keine Schilderung ohne Distanz gibt, es sei denn die Reportage"4. Zugleich aber ist diese childerung Zeugnis der Vergangenheit und Aufhebung der Distanz, weil sie eine erneute
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Nachwort von Pc=tc=r Szondi in; Sfiitlltbildtr, Frankfurt a. M. 1963, S. 80.
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AklUelle Deb:men
3. Thorackersluße 19, Mud bei ßern.
symbolische, metaphorische Reise ins Vergangene ermöglicht. Photographien zeigen eine Realität ohne irgendcine Ableitung, das Objekt ist vollkommen isoliert von seiner Umgebung und Geschichte. Das Photographierte zeigt sich direkt, zwar vermittelt, doch diese Vermittlung entspringt dem Kopf des Betrachters. Szondis Zitat im Gedächtnis behaltend ist auch die photographische Suche ein Versuch gewesen, diese Distanz aufzuheben. Die Photographie soll uns wie Alicc instand setzen, diese Distanz zu übcrn'inden und in das Bild zu kriechen. Ich glaube, das wird nicht möglich sein, ohne die Schilderung. die objektivierenei wirkt, weil zugleich die phorographische Report~ge das Fremde, Unheimische in Nähe verw~ndeh. Die l\'letapher für diese Suche n~ch einem existierenden lachl~ß stellt das Lab}'rinth dar. Wie Roland Barthes es sagte, "formen alle PhotOgt"aphien der Welt ein Lab}'rinth"s. Das Labyrinth ist nicht beschränkt auf PholOgraphien, die einen Teil des ganzen Labyrinths ausmachen, das wir als das Leben in der W"e!t bezeichnen. So war es auch mit der Nachforschung und Erfindung mancher Benjaminscher Aufenthalte und Passagen, die selber auch wieder metaphorisch als Labyrinth gehen können.
,
Roland ßarthes, LI' rhfll11brt dairt, Gallimard 1980.
van Doorn, Philosophie und Pholographie
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411. SIr2ße in .der Ahsllldl. M:useille. "Die Slrllßc. die ich so ofl uh, ist wic cin Schnitt, den cin ~Ies· ser gelOgen n:11II." (Waller Benjamin, .,Huchisch in Marseille", in: ßenjllmin, es. IV/!. S. 410)
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Aktuelle Debatten
4b. Pauage du Caire, Paris. Die Verlockung iSI von der Außenseite abzulesen, die Fassade i51 mll ägyptischen Motiven ddtoricn.
\'an Doorn, Philosophie und PhOlographie
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5. Gnnds Magasin Ic Samantaine. Paris. Treppenhaus und Atrium ...Mögen die Pauagen ihre pnkusehen Bedeutung eingebüßt haben, so hat doch der Waren fetischismus, den sie inu.cnierten, ungebrochen überlcbt". (\'trillem van Reijen, Herman van Doorn, Alifr1llhallf lI11d PilulIgr1l, Frankfun a. M. 2001, S. 192)
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Aktuelle Debatten
Vielleicht liegt in ,Metaphern im allgemeinen und dem Labyrinth als Metapher im besonderen der Schlüssel für meine Anstrengungen, die Welt phomgraphisch zu fixieren. Benjamins Texte mach(t)en es mir einfach. die Welt auf diese Weise zu interpretieren: in ,der Flaneur,6 deutet er die Stadt als Labyrinth. Dann folgen wie von selbst die Teile der Stadt., die Passagen und die großen Warenhäuser; kurz das Pariser t 9. Jahrhundert. Und schließlich erscheinen die Gedanken Benjamins im Passagenwerk als Labyrinth. Es war nicht ohne Grund, daß schon Bocthius in der Gefangenschaft die metaphorische Kraft des Labyrinths entdeckte und wir in seinem ,Trost der Philosophie'7 einen fast Benjaminsehen Text lesen können: "Spielst du mit mir, sagte ich, und webst ein unentwi.rrbares Labyrinth von Begründungen, indem du bald eingehst, wo du ausgehen soHtest, bald ausgehst, wo du härtest eingehen sollen, oder fliehst du einen wunderbaren Kreis götdicher Einfachheit... 8 Zum Schluß bleibr noch die F~ge, ob die Phorogrnphje eN'as der Phi.losophie, den Wörtern hinzufUgr. Die Antwort ist, wie wir gesehen haben, nicht so einfach zu geben, wenn wir uns den doppelten Chankter der PhotOgraphie vor Augen führen: einerseits als autonome, kreative Disziplin und andererseits zumeist zur lUustration eines Textes verwender. Wie ich darlegte, kann das eine zwar ohne das andere, aber sie ergänzen einander.
6
"Die Su.dt ist die Realisierung des ahen Menschemraumes vom l...2b)'rinth" in:
es.
V/I,S.54!. 7
,
Boethius (480-524), Oe cOllsoliltiolle philoJophiile 111, 12,96. Hier zitiert n:!.ch der Obersetzung von Gegensch:!.tz-Gogen; in: Herrn:!.nn Kern: lßftyn'nthe, München 1982. Ebd.
Kurzbiographie und Bibliographie Willem van Reijens, 1967-2003 WilJem van Reijcn (1938) studierte Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Gcrmanjstik in Löwen (Belgien) und Freiburg im Breisgau. Er promovierte 1967 in Freiburg im Breisgau mit einer Arbeit über K2.nt und Heidegger. Von 1968 bis 1975 arbcüctc er als Wissenschaftlicher Assistent an den Universitä· ren Sruttgarr und Heidelberg. 1975 habilitierte er sich in Stuttgart mit einer Untersuchung der Idenrüärskonzcprc in den Sozialwissenschaften. Ab 1975 Obernahme einer Dozentur, ab 1985 des Lehrsruhls für SozialphiJosophie und polj. tische Philosophie an der Philosophjschen Fakultät und an der Sozialwissen· iederlande). Er ist Honorarschaftlichen Fakultät der "Universiteit Utrechr« professor an der Alberr-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau.
Bibliographie Vtrsttht" dtr E"JlkhkLit. Historisrhe IIIId 9stt«atü.he U"ttmuh""gt" t" tlllt« Probit« dtr Trans~nd",talphil(}sophit, PhiJ. Diss., Frdburg/Br. 1967. .. Di~ Wahrheitsfnge in d~r Tr2nsz~nd~n1alen Deduktion d~r r~inen Verstandes·B~gt"if. r~", in: KflntStudien 6 t /3 (1970), S. 339-356. .. Freih~it und f1.·foral in der Philosophie Descartes", in: Ztitsthrijt ßir Philosophisrhe For· uh"ng 29/1 (1979), S. 125-137. 8t.'''ßtstin, Identitöt ""d Sinn, Stungan 1975 (Habilitationsschrift) . •,Pow~r and Legitimation", in: C. van Dam, L Stallaert (~ds.), T ""ds i" 8"si"tsS Ethi(J: Impliratio"sjor Duisionmakinf" Lc:jd~n 1978, S. 6J-72. Mit D. Horster, B~sprechung von J. Habermas, Z"r RLkonstntktion du historisdN" Materialisl1l"s (Frankfurt 3. f1.f. 1976), in: Arrhiv ßir RLthts- "nd So!{!alphilosophie64/2 (t978), S.
281-282. Mit O. Horster,
B~spr~chung
von M. Kriel~, Ltgililflfltionsprohltme in dtr B""dtJnp"blik Dtl/tuhland. Münch~n 1977, in: Arrhivflir RLthlJ- ""d Sot!alphilosophit 64/4 (1978), S.
598-600. lA: ttl Anden", Ass~n 1979_ Mit O. Horst~r, ,Jiirgen Habermas als burg~r1iik int~lI~ctu~d" (Imen'i~w mit J. Habermas), in: Inttrmtdiair 15/26 (1979), S. 1-7. "Oe dial~ktiek van d~ Verlichting", in: Wijsgtrig Persptktiej19/5 (1979), S. 118-124. "Hobbcs en zijn rweelingzusje", in: lf/yigerig Pmpektiif20/1 (1979), S. 23-29. .. Die Funktion d~s Sinnbegriffs in der Phänomenologie und in der Syslemtheorie von N. Luhmann", in: IvmtStlldie" 70/3 (1979) S. 312-323.
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Kurzbiognphir und Bibliognphie
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Die Autoren Keirnpe Aigra. Professor \'c:rsitilt uechL
ruf
Geschichte der antiken Philosophie an der
nl·
Ton van den Bdd. Hauptdozem für philosophische: Ethik an der Universität uecht. Wilhe1m Berget. Professor für Philosophie an der
niversität KJagenfurt.
Ja" Bc:rgsrra. Professor für angewandte Logik an der Universität Uuecht und an der Universität von Amsterdam. Narbert Bolz. Professor flir Medienwissenschaft und Medienberatung an der Technischen Universität Berlin.
Bett van den Brink. Dozent für praktische Philosophie an der Universität Utrecht. Hetman van Ooarn. Photograph zu Unecht. Marcus Düwell. Professor für philosophische Ethik an der Universität Utrecht. Wolfgang Eßbach. Professor fUf KulrursozioJogie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Rob van Gerwen. Dozent rur praktische Philosophie an der Universität Utrecht. Jan Hein Hoogstad. Doktorand in der praktischen Philosophie an der Universität Unecht. Ria van der Lecq. Dozentin für Geschichte der Philosophie des j\{jttelalters an der Universität Urrecht. Ludwig Nagl. Professor für Philosophie an der Universität Wien. Hena Nagl.Docekal. Professorin für Philosophie an der Universität Wien. Henning Onmann. Professor für politische Theorie und Philosophie am Geschwister·Scholl·lnstitut der Universität München. Gerard Raulet. Professor an der Ecole ormale Superieure de Lettres et Sciences humaines und Direktor des Forschungszentrums ..Ze,itgenössische politische Philosophie" am Cemre ational de Ja Recherche Scientifique in Lyon. Uwe Steiner. Associ:ne Professor of German a.n der Rice Universiry in Houston (fexas).
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Die Autoren
Bernd Stiegler. Lektor beim Suhrkamp Verlag und Privatdozent rur Neuere Deutsche Literatur und Medienwissenschaft an der niversität Mannheim. Gunzelin Schmid acrf. Professor für Sozialphilosophie und Sozialethik an der Hochschule Niederrhein ·Iönchengladbach. HeTman Schwengel. Professor für Soziologie an der Albert-Ludwigstät Freihurg.
.
. n1vcrSI-
Theo Verbeck. Professor für Geschichte der ncueren Philosophie an der versität Utrecht.
.
m·
Albert Visser. Professor fUf philosophische Logik an der Universität Utrecht.
Rolf Wiggershaus. Philosoph und Publizist. Raimar Zons. Professor für Literaturwissenschaften an der Universität Paderborn und Leiter des Lektorats des Wilhelm-Fink.Veriags.
Personenregister Abramowicz, 1\'1. 102 Accius 52 Achtcrhuis, H. 179 Adeimantos 50 Adenauer, K. 124,125 Adorno, Th. W. 94, 108, 112. 117, 118, 121-125.129-137,184,185,187 Albers,j. 194 Alexander, R. 232
Algra, K. 11-23 Anders, G. 243 Anderson, L. 240-245 Ankersmit, F. 96
Antiochus von Ascalon 13, 17 Arendt, H. 24-30,157,217 Arisloteles 44,45,48.51,52,168,174,178 Augustinus 11, 24-38 Auruncululeius Cotta, L. 21
Axelrod, R. 228,229, 231, 234 Baecker, D. 141-143 Balzac. H. de 90 Baraldi, C. 199 Barket, E. 51 Barnes, J. 17
Barthes, R. 90.101,103.250 ßaudrillard, J. 240-245 ßeck, U. 196 Becthovcn, L. van 119 Beiner, R. 26 Beld, T. van den 71-82 l3ehing, H. 236 Bcnhahib. S. 30 Benjamin, W. 7,8,83-95,97,98.101, 103-105,106-116,122,215,246-254 BergeT, \VI. 167-178 B~rgstta, J. 204--216 B~rkowitz, P. 161 Big L 223 Biggj~ Smalls 223 Bliittl~r, S. 30 Bloch, E. 122 Blum~nb~rg, H. 130 Bobben, M. 189 Bo~thius 254 Bolz. N. 7.8, 110.225-234,240,242
Bot~ro,
G. 52, 55 Boyle, R. 132 Bradl~y, D. J. M. 43 Bringmann, K. 11 Brink, B. van d~n, 8,75.155-166 Brunkhorst, H. 25,29, 153 Brunnschvig, L. 72 Budd, M. 102 Bulgagov, $. 72 Burk~, P. 55 BurtSch~r,
s.
Butl~r,J.
139
8
Caelius Rufus 15 Canovan, M. 25 Chelcicky, P~tr 80 Chrysipp 19 Chuck D. 223 Cic~ro, M. T. 11-23, 50, 52, 54, 174 Cornelius Nepos 55 Corsi, G. 199 Croce, B. 72 Cromwell, O. 69 Crowell, $. G. 110 Curri~, G. 96, 97, 105 Curtius Rufus 55 Dauthendey, M. 104 Deleuze, G. 139 Derrida, J. 30, 139 Diamond,J. 208 Diedrichsen, D. 138, 139 Dillhcy. W. 134 Diodor 55 Diodotus 13 DJ Afriklt Sambaataa 220 DJ Vadim 224 Driesch, H. 72 Diogcnes Laerdus 49 Donner, W. 8 Doorn. H. van 246-254 Douglas, M. 229 Ducci, L. 55 Düwell, J\t 179-190 Ebcling, H. 109 Enden, F. van den 66
268
Personrnregislcr
D'Entrcvcs, A. P. 45 Eschcr. M. C. 103 Escr,U.189 Esposito, E. 199 Eßbuh. W. 129-137 Epikuf 90 Faithful, ;\1. 235 Farfu, V. 11\
Fechner, G. T. 113 Ferrary, J.-L. 17
Flood, M. 226 Foucault, M. 129-137,158. 16:l--166, 171, 186,239,240 Frank, M. 183,236 Frcgc, G. 205 Frcud, L 103 Frcud. S. 134 Fried, M. 101 Fruin. R. 60 Fuchs, H. 13 Fukuyam2, F. 144 Funda, O. A. 71 Gawlic:k, G. 11, 14
Gcbhard!, C. G. 60 Gehlen, A. 131,179 Gelb, A. 134 Gergen, K. 238 GcrSlcnmaicr, E. 126 Gerwcn. R. van 96-105 Giddcns, A. 141 Gi1son, E. 39,40,41 Glaukon 50 Göddc, C. 113 Goldmann, L. 108 Goldsu~in, K. 134 Goodin. R. 96 GÖrlcr,\'iI. 11,14,17
Granovwcr, M. 232,233,234 Griffin, M. 14,17,19 Gr~bnu. v.
236 Gumhcr. G. 228. 229 H:abt:rmas,J. 111,118.121,124-128,142.
149,152-156, 16G-163. 172, 186.237 Hudt. M. 140 Hirl~, 168 Han~n5Idn. G. 203 Havc.l, V. 71 Hav~rkamp, A. 236 H~gc.l, G. W. F. 31.138.144,145.155 H~idegg~r, M. 7.8.106-116,131,177, 179.185,186,187.205.215.219.243
c..c.
H~intc.l.
P. 178 Hitl~r. A. 119.121.124,126 Hob~s, T. 63, 64. 132. 155. 240 Hocknty. D. 104 Höff~, O. 29 HofmansthaI. H. von 114 Honig. B. 30 Honn~lh, A. 30,76,152 Hoogstad.J. H. 217-224 Horkheim~r, M. 117-121.123,124.125, 184,185 Houll~b~cq. M. 239, 240--245 Hromida, J. L. 72 Hubig, C. 194 Huizinga.,J. 39,40 Humington. S. P. 170 Hum~. D. 12,201,202 Hus, J. 80 Hutehenson. F. 203 Ishaghpour, Y. 108 Israc.l. J. 60 Jagger. ~t 235 Jakowenko. B. 71 James, W. 35 Jam~son. F. 139 Jauß. H. R. 236 Jax. K. 189 Jc.lden, E. 194 Joas, H. 157 Jonas.H.171 Jones. S. 224 Jor, B. 241 Kafka. F. 94. 95 Kant, I. 36.68.81,119,146,149. ISO, 151. 155.163,171.203.237.240 Kamper. D. 8. 236 Kemper, A. 187 Kemptr, P. 29.240 Kern. H. 254 Ktnering, E. 110 Kc:)'nc:s.J.M. 139 Kierkc:ga..ard. S. 108. 178 KJossowsk.i, P. 237 Knight. F. 231 Knoche, S. 107 Kochin, M. 20 Kohn. J. 26 Komc:nsk)', J. A. 80 Kooijmans. M. 212 Krebs. A. 182
Personenregister Kremer, K. 4 I Kriste,'a, J. 27 Krohn, \'Cl. 197 KR$·One 223 Krücken, G. 197 Krüger, H.·H. 152 Kumaniecky, K. 13 Kurzwdl, R. 241 Lacan,J. 96,98,99,100.101,103,243 Laktanz 50 Landsman, K. 212 Lee,!, R. van der 39-47 Lee. $. 221 Leibniz. G. \'f. 205 Leifer, E. 226 Lenin. V. J. 72 L.conard, J. 11 Lesniewski, S. 205 Undbiom. C. 230, 232 Lindner. B. t07 Lipman. \Xl. 145 Livius 49.54 Locke,J. 155 Long, A. 15.17 Lonitz. H. 113 Loo. H. van der 185 Lossky, N. 72 Luhmann. N. 138--145. 197-202,242 LuHes, G. t08 Lullus, R. 205 Lumiere. A. und L 99 Luther, M. 240 Lromd. D. 31 L)'omd. J.-F. 24. 30-38, 244 Machia\ldli, N. 48-59,65 Macho\'ec, M. 72 i\hclruyrc, A. 75,77 Magriue. R. 103 Marsiljus von Padua 47 Marten, R. 244 Man, K. 131,134.144,211,216 i\hlsaryk. T. G. 71-82 Matheron, A. 60 Matraver'S, D. 101 Ma)'. L. 26 Marer, M. 230 Mehmd, F. 52 Michel, K. 12 MiIler, D. 73,74 Moldenhauer. E. 12 MÖrchen. H. 109
269
aess, A. 182 agl, L. 24-38 lagl-Docekal, H. 24-38 Nancy, J.-L. 176, 177 letisek. F. 72 legri, A. 140 eschke-Henlschke, A. 13 Neske.G.ll0 Neumann, F. 119.120 Nicolel, C. 148 Nietzsche, F. 81,112,121,158,174,178, 236. 245 Nohe. P. 141 Novalis 119
0' eilJ. O. 36 Oumann, H. 48-59 O"..eo, D. 162 Pallenberg, A. 235 Panaiuos 50 Perry. M.J. 162 Pelut, P. 96 Phiion \Ion Larissa 13, 17 Phillips, A. 96 PlalDn 15.16.48,50, SI, 131 Plant, S. 240-245 Plessner. H. 129-137 Plutarch 53 Porcius Cato, M. 14 Polybios 49. 53, 54 Posidonius 13 Pumam, R. 233 Quine, W. V. O. 205 Raulet, G. 146-154 Rawls, J. 74-82, 155. 156 Rawson, E. 11 Rcfuge, E. du 55 Reijen, \'Cl. L. van 7-10,73,75, 103, 105, 107.156.181,185,204,215,238,240245, 246-254, 255-263 Reinhardl, K. 51 Rembrandt van Rijn 103 Rheinberger, H.-J. 173 Ribadene)'ra, P. de 55 Rijpkema. P. 73 Rilter, J. 187 Ro!ston, H. 182 Rothenberg, J. 229 Rouner, L. S. 162 Rousseau, J .•J. 155 Russdl, B. 205
270 Saengcr. P. 210 Sallust 55 52ndel, M.J. 75-77,80,152 Sasso, G. 49 Savonarob, G. 69 Schifcr, H. D. 120 Schdksy, H. 131 Schdlhase, K. C. 55 Schelling. T. 225 Schmid, \Vi. 244 Schmid ()(:rr. G. 8,191-203 Schmitl, C. 232 Schmolz, F.-M. 48 Schnädelbuh. H. 121 Schocklee, H. 223 Schofidd, M. 17. 20 Schalem, G. 84, 112 Schulz, M. 236 Schumperet, J. 139 Schwengel, H. 138--145 Schwcppcnhäuser. H. 83,246 SCOtl,j.V.26,29 Sean-Heran. G. 217-224 Seruton, R. 96,97, 100. 105 Seckler, M. 42
Stel, M. 187 Selten, R. 232 Senec3 52, 55 Sennw. R. 240--245 Simmel, G. 112 Siman, H. 230 Skinner, Q. IS8,159 Siotcrdijk. P. 169. IBO Smith, A. 227 SoknHC:$ 178, 217 Soubigou, A. 71 Spears, B. 244 Spcncer·Brown, G. 141 Spielberg, S. 242 Spinon, B. dc 60-69 Stammen, T. 49 St2.rk. J. C. 26, 29 Su~iglcdc:r, K. 189 Steiner, U. 106--116 SIC~rnberger, D. 52 Stichweh, R. 140 Sticglcr, B. 83--95 Stollc.is, M. 54 Str:uburgc.r, H. 20,21,5\
Personenregister Str2USS, L 48, 49 Sltindbcrg, A. 112 Sucron 52 Szondi, P. 247,249 T2Citus 49,55,56 T2rski, A. 205 T2Ubcs, J. 138 T2ylor, C. 75,76,79,80, 162 Th2tcS 130 Thom2S von Aquin 39-47 Thnls)"m2chos 50 Thuk)"didcs 50, 51 Ticdcm2nn, R. 83, 112,246 Toff2nin, G. 55 Toistoi, L 112 Tom2si,j. 161 Tönnies, F. 232 Trilling, L 145,236 Tully,j. 158,159,162,165 Tupac Shakur 223 Turklc, S. 242 V2n K1cy, D. K_ 160 Veblen, T. 231 Verbeek, T. 60-69 Vermazen, B. 102 Villari, P. 52 Visscr, A. 204-216 Vollr:uh, E. 25 W2gncr, R. 123 Walzer, r-.1. 151,153,160.162 Weber, M. 106,109-115 Wdlmer, A. 29, 153, 186 Wiggershaus, R. 117-128 Wildavski, A. 229 Williams, 8. 233 Willink. C. 103 Wittgcnslein, L. 30,31,35,235 WoUhc.im. R. 97, 101 Xcnophon 48,49,52,53 Young-Bruehl. E. 25 Zecchini. Zifck, S. Znoi, M. Zons, R.
G. 20. 21 171,175 30 235-245